Das uti possidetis-Prinzip: Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten [1 ed.] 9783428495665, 9783428095667

Die Autorin geht der Frage nach, ob ein Satz des Völkerrechts existiert, der nach dem Zerfall einer völkerrechtlichen Ei

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German Pages 332 Year 1999

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Das uti possidetis-Prinzip: Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten [1 ed.]
 9783428495665, 9783428095667

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Christiane Simmler· Das uti possidetis-Prinzip

Schriften zum Völkerrecht

Band 134

Das uti possidetis-Prinzip Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten

Von Christiane Simmler

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Simmler, Christiane:

Das Uti-possidetis-Prinzip : zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten / von Christiane Simmler. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 134) Zug!.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09566-9

D 188 Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-09566-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Meinen Eltern

" ... por eloigner tout sujet de discorde, toute occassion de querelle, on doit marquer avec clarte et precision les limites des territoires." (Vattel, 11 (1758), § 92)

Vorwort Diese Arbeit reichte ich dem Fachbereich Rechtswissenschaften der Freien Universität Berlin im Sommersemester 1997 als Dissertation ein. Das Manuskript war im März 1997 abgeschlossen. Die Darstellung eines aktuellen Themas kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Die fortschreitende Zeit hat inzwischen zu folgenden sachlichen Veränderungen gefilhrt: Im Westsahara-Fall besteht nunmehr wieder Einigkeit beider Seiten darUber, daß ein Referendum abgehalten werden soll (Terminstand: 1999), ohne daß die Frage der Abstimungsberechtigten bislang zur Zufriedenheit aller geklärt wäre (vgl. FAZ v. 30.5.1998). Hongkong fiel 1997 verabredungsgemäß an China zurück. Rußland und China unterzeichneten am 10. November 1997 eine gemeinsame Erklärung über die Demarkation der gemeinsamen Grenze, womit alle Grenzstreitigkeiten erledigt sein sollen (vgl. FAZ vom 11.11.1997). Last not least ist die Vienna Convention on Succession 01 States nach langer Zeit doch noch in Kraft getreten (am 9.11.1996). Die Aktualität des Themas zeigt sich auch daran, daß fortlaufend neue wissenschaftliche Beiträge zu ihm erscheinen. Der Leser sei insbesondere hingewiesen auf die Aufsätze von Malcolm N. Shaw, "Peoples, Territorialism and Boundaries", EJIL 3 (1997), 478, und "The Heritage of States: The Principle of Uti Possidetis Juris Today", BYIL 67 (1996), 75, sowie von Steven R. Ratner, "Drawing A Better Line: Uti Possidetis and the Boundaries of New States", AJIL 90 (1996),590. Aufmerksamkeit verdient auch der fast monographisch zu nennende Aufsatz von Luis Ignacio Sanchez Rodriguez, "L'Uti Possidetis et les Effectivites dans les Contentieux Territoriaux et Frontaliers", RdC 263 (1997), 152. Für eine ausfiihrlichere Beschäftigung mit dem Verhältnis von uti possidetis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker werden dem Leser insbesondere die ersten drei genannten Aufsätze ans Herz gelegt, während Sanchez Rodriguez sich unter anderem damit beschäftigt, wie das uti possidetis von internationalen Gerichten und Schiedsgerichten angewendet wird. Mein Dank gilt Prof. Dr. Philip Kunig, der die Entstehung dieser Arbeit über die Jahre sehr hilfreich und geduldig betreute, sowie Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer für die Erstellung des Zweitgutachtens. Berlin, im Juni 1998

Christiane Simmler

Inhaltsverzeichnis· A. Einleitung ................................................................................................................ 29

I.

Das Problem ...................................................................................................... 29

11. Entwicklung des Grenzbegriffes ........................................................................ 30 III. Methoden der Gebietsgewinnung ...................................................................... 31 IV. Der rechtliche Hintergrund der Figur uti possidetis .......................................... 34

I. Bedeutung im Römischen Recht ................................................................. 34 2. Bedeutung im frühen Kriegsvölkerrecht... ................................................... 35 V. Dogmatische Vorüberlegungen ......................................................................... 36 I. Definition von "Prinzip" ........................... ................................................... 36 a) Art. 38 I c IGH-Statut.. .......................................................................... 37 b) General principles ofintemationallaw ................................................. 39 2. Völkergewohnheitsrecht. ............................................................................. 40 a) Voraussetzungen filr die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht.. .... 41 aa) Staatenpraxis ................................................................................... 41 bb) Rechtsüberzeugung ......................................................................... 42 b) Partikuläres Völkergewohnheitsrecht... ................................................. 43

B. uti possidetis in Lateinamerika .............................................................................. 46 I.

Historischer Hintergrund ................................................................................... 46

I. Entwicklung bis zu den Befreiungskriegen im 19. Jahrhundert .................. 46 2. Entstehung neuer Staaten im 19. Jahrhundert ............................................. 47 a) Portugiesisches Kolonialgebiet ............................................................. 47 b) Spanisches Kolonialgebiet in Südamerika ............................................ 48 c) Spanisches Kolonialgebiet in Mittelamerika ......................................... 48 11. Einfilhrung von uti possidetis zur GrenzregeIung.............................................. 49

I. Inhalt des lateinamerikanischen uti possidetis ............................................. 49

12

Inhaltsverzeichnis 2. Ziele des lateinamerikanischen uti possidetis .............................................. 50 3. Probleme bei der Anwendung von uti possidetis ........................................ 51 4. Anwendung von uti possidetis in lateinamerikanischer opinio iuris und Staatenpraxis ........................................................................................ 53 a) "uti possidetis iuris" contra "uti possidetis de facto" ............................ 53 b) Grenzfragen zwischen den Nachfolgestaaten des Spanischen Kolonialreichs in Lateinamerika ................................................................... 54 aa) opinio iuris ...................................................................................... 54 (a) Aussagen zu Grenzfragen in den Staatsverfassungen ............... 54 (b) Regelung der Grenzfragen in zwischenstaatlichen Verträgen ... 55 (aa) Schiedgerichtsvereinbarungen ......................................... 56 (bb) Freundschaftsverträge und ähnliche ................................ 59 bb) Staatenpraxis ................................................................................... 61 (a) Argentinien ............................................................................... 61 (b) Bolivien .................................................................................... 62 (c) Chile ......................................................................................... 63 (d) Ecuador ..................................................................................... 63 (e) Kolumbien ................................................................................ 64 (f) Nicaragua .................................................................................. 65 (g) Honduras .................................................................................. 66 (h) Mexiko ...................................................................................... 68 (i) Haiti .......................................................................................... 68

cc) Rechtliche Wertung ........................................................................ 68 c) Grenzfragen zwischen den Nachfolgestaaten des Spanischen Kolonialreichs und Brasilien ......................................................................... 70 aa) Die einzelnen Streitfälle ......................... :........................................ 70 bb) Rechtliche Wertung ........................................................................ 72 d) Grenzfragen mit außer-lateinamerikanischen Mächten ......................... 72 aa) Die einzelnen Streitfälle .................................................................. 73 bb) Rechtliche Wertung ........................................................................ 75 III. Ergebnis: Das lateinamerikanische uti possidetis .............................................. 76

Inhaltsverzeichnis

13

C. uti possidetis in Afrika .... ........................................................................................ 79 I.

Historischer Hintergrund ................................................... ................ ................ 79 I. Grenzkonzeptionen im präkoloniaJen Afrika............................................... 79

2. Kolonisierung Afrikas ..................................... :........................................... 80 a) Mittel zum Gebietsgewinn .................................................................... 80 b) Grenzziehung durch die Kolonialmächte .............................................. 82 11. Phase der Dekolonisierung ................................................................................ 83

I. Theorien zur Grenzziehung im unabhängigen Afrika .................................. 83 a) Pan-Afrikanismus .................................................................................. 83 b) Erhalt des status quo ... ............................................................. ............. 84 c) Umformung auf ethnischer Grundlage .................................................. 85

2. Staatenpraxis in der Dekolonisierung ........................................ .................. 85

a) Grenzkonflikte im nördlichen Afrika .................................................... 86 aa) Ägypten ................................................. .......................................... 86 bb) Aigerien .......................................................................................... 86 (a) Aigerien-Marokko ...................................................... .............. 86 (b) Aigerien-Tunesien .................................................................... 87 cc) Libyen ................................................ ................................. 87 dd) Marokko ............................................................................. 88 (a) Marokko-Mauretanien .................................................. 88

(b) Marokko-Westsahara......................................... ........... 89 ee) Mauretanien .................................................................................... 90 b) Grenzkonflikte im westlichen Afrika .................................................... 91 aa) Benin ............................................................................................... 91 bb) Burkina Faso ................................................... ................................ 91 cc) Elfenbeinküste ................................................................................ 92 dd) Gambia ............................................................................................ 92 ee) Ghana .................................................. ............................................ 92 ft) Guinea ............................................................................................. 93 gg) Guinea-Bissau ........... ...................................................................... 93 hh) Mali. ................................................................................................ 94

14

Inhaltsverzeichnis c) Grenzkonflikte in Zentralafrika ............................................................. 94 aa) Äquatorial-Guinea........................................................................... 94 bb) Kamerun ......................................................................................... 95 cc) Zaire (Kongo) ................................................................................. 95 d) Grenzkonflikte im östlichen Afrika ....................................................... 96 aa) Äthiopien ........................................................................................ 96 bb) Burundi ........................................................................................... 96 cc) Djibouti ........................................................................................... 96 dd) Kenia ............................................................................................... 97 (a) Kenia-Äthiopien ....................................................................... 97 (b) Kenia-Sudan ............................................................................. 97 (c) Kenia-Tansania ......................................................................... 98 ee) Somalia .............................................................................. ............. 98 (a) Somalia-Äthiopien .................................................................... 98 (b) Somalia-Kenia ........................................................................... 99

ff) Tansania ........................................................................................ 100 gg) Uganda .......................................................................................... 100 e) Grenzkonflikte im südlichen Afrika .................................................... 100 aa) Lesotho ......................................................................................... 101 bb) Malawi .......................................................................................... 101 cc) Namibia......................................................................................... 101 dd) Swaziland ...................................................................................... 102 3. Auswertung der Staatenpraxis ................................................................... 102

4. opinio iuris zur afrikanischen Grenzregelung ........................................... 103 5. Zwischenergebnis: uti possidetis als afrikanisches Völkergewohnheitsrecht ............................................................................................................ 108 III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker - Verhältnis des afrikanischen uti possidetis zum universellen Völkerrecht.. .................................................. 109 1. Entwicklungsstufen des Selbstbestimmungsrechts bis zur Dekolonisierung ........................................................................................................... 110 2. Träger des Selbstbestimmungsrechts ......................................................... 116 IV. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit... ..................................................... 117

Inhaltsverzeichnis

15

1. Staatenpraxis ............................................................................................. 117 a) Äthiopien .............. .............................................. .. .............. ................ 118 aa) Eritrea ........................................................................................... 118 bb) Oromo ........................................................................................... 119 b) Elfenbeinküste (Sanwi) ....................................................................... 120 c) Kongo [Zaire] (Katanga) ..................................................................... 120 d) Mali (Tuareg) ...................................................................................... 122 e) Nigeria (Biafra) ................................................................................... 122 f)

Somalia (Somaliland) .......................................................................... 124

g) Sudan (Südsudan) ............................................................................... 125 h) Uganda (Buganda, Ruwenzuru) .......................................................... 125 i)

Sambia (Lozi) ................................ ........................ .............................. 126

k) Senegal (Casamance) .......................................................................... 126 2. Rechtliche Wertung ................................................................................... 126 V. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis (im Vergleich zum lateinamerikanischen uti possidetis) .................................................................................. 129 1. Gemeinsamkeiten beider Konzepte ........................................................... 129 2. Unterschiede zwischen beiden Konzepten ............ .................................... 130 a) Anwendungsbereich ................................ ............ .... ............................ 130 b) Rechtscharakter ...................................... ....... ...... .......... .. .................... 132

D. uti possidetis in Asien ........................................................................................... 136 I.

Historischer Hintergrund ................................................................................. 136 1. Grenzen im präkolonialen Asien ............................................................... 137

a) Zentrale Zone ...................................................................................... 137 b) Südliche Zone ..................................................................................... 137 2. Grenzziehung durch die europäischen Kolonialmächte ............................ 138 3. Besonderheiten der Situation in Asien ...................................................... 139 II. Grenzziehung in der Dekolonisierung ............................................................. 141 1. Südliche Zone ........................................................................................... 141 a) Nordwestliche Seite ............................................................................ 141 aa) Afghanistan ................................................................................... 141

16

Inhaltsverzeichnis (a) Afghanistan-China .................................................................. 141

(b) Afghanistan-Iran .......................................... ...... ........ ............. 142 (c) Afghanistan-Pakistan ......................................... ..................... 142

(d) Afghanistan-ehemalige Sowjetunion ...................................... 143 bb) Indien ............................................................................................ 144 (a) Indien-Pakistan ....................................................................... 144 (aa) Kashmir ......................................................................... 144 (bb) Rann ofKutch ............................................................... 145 (cc) Weitere Konflikte .......................................................... 145 (b) Indien-China .......................................... ................................. 146 (aa) Westliche Grenze ........................................................... 146 (bb) Östliche Grenze ............................................................. 146 cc) Iran ................................................................................................ 147 (a) Iran-ehemalige Sowjetunion ................................................... 147 (b) Iran-Pakistan ........................................................................... 147

(c) Iran-Irak .................................................................................. 148

dd) Pakistan ......................................................................................... 148 b) Mittlerer Teil .................................................. ..................................... 149 aa) Bangladesh .................................................................................... 149 (a) Bangladesh-Indien ....................................... ........................... 149 (b) Bangladesh-Burma ................................................................. 150

bb) Bhutan ........................................................................................... 150 (a) Bhutan-Indien ........................................... .............................. 150

(b) Bhutan-China............................................ .............................. 151 cc) Indien ................................................................ ............................ 151 (a) Indien-China .......................................... ................................. 151

(b) Indien-Burma ........................................... ............................... 152

(c) Indien-Nepal .......................................... ................................. 152

dd) NepaL ........................................................................................... 153 c) Südlicher Teil .................................................. .................................... 153 aa) Burma ........................................................................................... 153

Inhaltsverzeichnis

17

(a) Burma-China ...................................................... .................... 153 (b) Burma-Laos ............................................................................ 154 (c) Burma-Thailand .................................... .................. ................ 154

bb) Kambodscha.................................................................................. 155 (a) Kambodscha-Laos .................................................................. 155 (b) Kambodscha-Thailand ............................................................ 155 (c) Kambodscha-Vietnam ..................... ....................................... 156 cc) Laos .................................................. ............................................. 156

(a) Laos-China ............................................................................. 157 (b ) Laos-Thailand ......................................................................... 157 (c) Laos-Vietnam ......................................................................... 157 dd) Malaysia ........................................................................................ 158 (a) Malaysia-Thailand .................................................................. 158 (b) Malaysia-Indonesien ............................................................... 158 (c) Malaysia-Philippinen .............................................................. 158

(d) Malaysia-Brunei ..................................................................... 159 ee) Thailand ................................................ ........................................ 159 dd) Vietnam ......................................................................................... 159 d) Inse1staaten der südlichen Zone .......................................................... 160' aa) Indonesien ....... ............. .............. ........ ........................................... 160 bb) Philippinen .................................................................................... 161 cc) Singapore ...................................................................................... 162 dd) Sri Lanka ...... ................................................................................. 162

2. Chinesische (zentrale) Zone ...................................................................... 163 a) China-ehemalige Sowjetunion ............................................................ 163 b) China-Mongolei .................................................................................. 163 c) China-Hongkong .................................................................... ............. 164 d) China-Macao ............................................................................ ........... 164

e) China-Taiwan ...................................................................................... 164 f)

Die Korea-Frage .................................................................................. 164

3. Rechtliche Wertung ................................................................................... 165 2 Simmler

Inhaltsverzeichnis

18

a) Grenzen der während der Kolonialzeit unabhängig gebliebenen Staaten ................................................................................................. 165 b) Grenzen der früheren Kolonien ........................................................... 166 aa) Grenzen zwischen Gebieten verschiedener Kolonialmächte und zu den durchgehend unabhängigen Staaten ........................... 166 bb) Grenzen zwischen ehemaligen Kolonien eines Kolonialherrn ...... 167 III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit ........................ ........... ........ ............. 169 1. Sezessionsbestrebungen ............................................................................ 170 a) Bangladesh (Pakistan) ......................................................................... 170 b) Naga(lndien)

................................................................................... 170

c) Mizo (Indien) ................................................................................... 171 d) Sikhs (Indien) ................................................................................... 171 e) Tamilen (Sri Lanka) ............................................................................ 172 f)

Karen (Burma) ................................................................................... 172

g) Moro (Philippinen) ............................................................................. 173 h) Irian Jaya (Indonesien) ........................................................................ 173 i)

West Papua (lndonesien) .................................................................... 173

k) Südmolukken (lndonesien) ................................................................. 174 I) Bougainville (Papua-Neuguinea) ........................................................ 174 m) Mongolen (China) ............................................................................... 174 n) Tibet (China) ....................................................................................... 174 2. Annexion und Okkupation ........................................................................ 176 a) Kambodscha (Vietnam) ......... ........... ...................................... ... .......... 176 b) Goa (Indien) ........................................................................................ 176 3. Rechtliche Wertung ................................................................................... 177 IV. Ergebnis: uti possidetis in Deko1onisierungssituationen ................................. 178

E. uti possidetis im Nahen Osten .............................................................................. 183 I.

HistOrischer Hintergrund ............................................... ........... ........... ..... ....... 183

II. Theorien zur Staatenbildung im arabischen Raum .......................................... 185 III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft ................................................ 186 1. Staaten praxis ............................................................................................. 186

Inhaltsverzeichnis

19

a) Türkei .................................................................................................. 186 b) Irak ......................................................................... ............................. 187 aa) Irak-Syrien ................................................................................... 187 bb) Irak-Türkei ................................................................................... 187 cc) Irak-Saudi-Arabien ....................................................................... 187 dd) Irak-Kuweit ................................................................................... 188 ee) Irak-Jordanien ............................................................................... 189 c) Israel .................................................................................................... 189 aa) Bildung des Staates Israel ............................................................. 189 bb) Israel-Ägypten ............................................................................... 191 cc) Israel-Syrien .................................................................................. 192 dd) Israel-Libanon ............................................................................... 192 ee) Israel-Jordanien ............................................................................. 193 d) Syrien .................................................................................................. 194 aa) Syrien-Türkei ................................................................................ 194 bb) Syrien-Libanon ............................................................................. 195 cc) Syrien-Jordanien ........................................................................... 195 e) Libanon ............................................................................................... 195 f) Jordanien ............................................................................................. 196

g) Saudi-Arabien ..................................................................................... 196 aa) Saudi-Arabien-Kuweit .................................................................. 197 bb) Saudi-Arabien-Oman .................................................................... 197 cc) Saudi-Arabien-Vereinigte Arabische Emirate ............................... 197 dd) Saudi-Arabien-Jemen .................................................................... 197 ee) Saudi-Arabien-Qatar ..................................................................... 198 h) Kuweit ................................................................................................. 198 i) Jemen .................................................................................................. 198 aa) Jemen-Oman ................................................................................. 199 bb) Jemen-Eritrea ................................................................................ 199 k) Oman ................................................................................................... 200 I) 2'

VAE .................................................................................................... 200

Inhaltsverzeichnis

20

m) Qatar ............................................................ ........... ........ ..................... 201

n) Bahrein ................................................................................................ 201 0) Die Kurdenfrage .................................................................................. 202

2. Rechtliche Wertung ................................................................................... 203 a) Grenzen der durchgehend unabhängigen Staaten ................................ 203 b) Grenzen der ehemals abhängigen Gebiete ........................................... 204 aa) Grenzen zwischen den Gebieten Großbritanniens und Frankreichs sowie Grenzen zu den durchgehend unabhängigen Staaten ........................................................................................... 204 bb) Grenzen zwischen Gebieten einer europäischen Macht.. .............. 206 IV. Ergebnis: uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen .................................. 209 F. uti possidetis in Europa ........................................................................................ 212 1.

Grenzen in Europa bis 1989 ............................................................................ 212

11. Situation seit 1989 ........................................................................................... 215 1. Einleitung .................................................................................................. 215 2. Besonderheiten der Situation in Europa .................................................... 215 a) Kolonialherrschaft ............................................................................... 216 aa) UdSSR als Kolonialreich .............................................................. 216 bb) Definition einer Kolonie ............................................................... 216 cc) Einstufung des "Ostblocks" ........................................................... 217 dd) Einstufung der UdSSR .................................................................. 218 (a) Die europäischen Republiken ................................................. 218 (b) Die asiatischen Republiken ..................................................... 220 ee) Zwischenergebnis ......................................................................... 222 b) Interne diskriminierende Herrschaft .................................................... 222 c) Zusammenfassung ............................................................................... 227 3. Grenzziehung nach 1989 ........................................................................... 229 a) Grenzkonflikte im früheren Jugoslawien ........................................... 230 aa) Hintergrund des Zerfalls Jugoslawiens ......................................... 230 bb) Slowenien ..................................................................................... 231 cc) Kroatien ........................................................................................ 232

Inhaltsverzeichnis

21

dd) Serbien und Montenegro ............................. .................................. 233 ee) Bosnien-Herzegowina ................................................. .................. 234

ft) Makedonien .................................................................................. 235 b) Grenzkontlikte in der früheren UdSSR ........... ..... ........ ....................... 236 aa) Hintergrund des Zerfalls der UdSSR .. .. .... ..... ........ ....................... 237 bb) Die baltischen Staaten .............................................................. ..... 238 (a) Belorus-Litauen ............................. ........ ............. .................... 239 (b) Estland-Rußland ............................................................ .... ..... 239 (c) Lettland-Rußland ....................................................... ......... .... 239 (d) Litauen-Polen .............................................................. ........... 240 cc) Slawische und westliche Republiken ................................... ......... 240 (a) Ukraine-Rußland ...................... .... .. ........ .... ........... ................. 240 (b) Ukraine-Moldawien ............. ............................. ...................... 241 (c) Ukraine-Rumänien ............................... ................................... 242 (d) Moldawien-Rumänien ............................................................ 242 (e) Belorus-Rußland ................................................... .................. 242 (f) Rußland-China .......... ................................... ............. .... .......... 243

dd) Transkaukasische Republiken .......... ........... .................................. 243 (a) Aserbaidshan-Iran ................................................................... 243 (b) Aserbaidshan-Rußland ........................... ..................... ......... ... 244 (c) Aserbaidshan-Georgien .................... .... ..................... ............. 244 (d) Armenien-Aserbaidshan ............... ...... ............... ........... .......... 244 (e) Armenien-Georgien ........................... ........ ............... .............. 245 ee) Zentralasiatische Republiken ........................................................ 245 (a) Kyrgysstan-Tadshikistan ......................................................... 246 (b) Kyrgysstan-Kasachstan ......... ....................... .. ........... ........ ...... 246 (c) Kyrgysstan-Usbekistan ....... .................. ................. .... .. ... ........ 247 (d) Kyrgysstan-Rußland ............................................................... 247 (e) Usbekistan-Tadshikistan .......... ............... ............................ .... 247 (f) Tadshikistan-China ............................................ .. ................... 248

(g) Tadshikistan-Mghanistan ........... ....................... ..................... 248

22

Inhaltsverzeichnis (h) Kasachstan-Rußland ............................................................... 248 (i) Kasachstan-Usbekistan ............................................... ............ 249 (k) Kasachstan-Turkmenistan .... ................................................... 249 (I) Turkmenistan-Usbekistan ....................................................... 249

fl) Sezessionsbestrebungen aus den Republiken ................................ 250

(a) Adsharen (Georgien) ............................................ ................... 250 (b) Abchasen (Georgien) .............................................................. 250 (c) Osseten (Georgien) ................................................................. 251 (d) Gagausen (Moldawien) ........................................... ................ 251 (e) Transdnjestr (Moldawien) ........................................... ............ 252 (f) Inguschen (Russische Föderation) .......................................... 252

(g) Tschetschenen (Russische Föderation) ................................... 253 (h) Lesgier (Aserbaidshan, Dagestan) .......................................... 254 (i) Nogai (Dagestan) ............................................. ....................... 254

(k) Tataren (Russische Föderation) .............................................. 254 (I) Bashkiren (Russische Föderation) ....... ,.................................. 254

(m) Karakalpakistan (Usbekistan) ................................................. 255 (n) Berg-Badachshan (Tadshikistan) ............................................ 255 (0) Russen (Estland) ..................................................................... 255

c) Zerfall der Tschechoslowakei ....................................... ....................... 255 4. opinio iuris ................................................................................................ 256

a) Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens .. .............................................. 256 aa) Frühzeit des Konflikts ................................................................... 256 bb) Zuspitzung des Konflikts .............................................................. 258 cc) Anerkennung von Einzelrepubliken ....................................... ....... 261 dd) Ausweitung des Konflikts ............................................................. 266 b) Reaktion auf den Zerfall der UdSSR ................................................... 268 aa) Rechtsakte der unabhängigen Republiken .................................... 268 (a) Multilaterale Verträge ................................................ ............. 268 (b) Bilaterale Verträge .................................................................. 269 (c) Unilaterale Rechtsakte ............................................................ 270

Inhaltsverzeichnis

23

bb) Anerkennung der baltischen Staaten ............................................. 270 cc) Anerkennungspolitik gegenüber den restlichen Republi~en ......... 271 dd) Reaktion auf Grenzkonflikte und Sezessionsbestrebungen ........... 273 c) Reaktion auf den Zerfall der Tschechoslowakei .................................. 275 5. Rechtliche Wertung ................................................................................... 275 a) Außengrenzen der Neustaaten zu den bereits bestehenden Staaten ..... 275 b) Grenzen der Neustaaten untereinander. ............................................... 276 III. Ergebnis: uti possidetis bei unabhängig werdenden Territorialnationen ......... 280

G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts ................... 285 I.

Wandel von partikulärem zu universellem Völkergewohnheitsrecht... ............ 285

11. Wandel des liti possidetis zu universellem Völkergewohnheitsrecht... ............ 288 1. uti possidetis im Gutachten der Badinter-Kommission ......... .................... 288

2. opinio iuris und Praxis der europäischen Staaten ...................................... 290 111. Ausblick ........................................................................................................... 294

H. Zusammenfassung ................................................................................................ 296 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 298 Quellen und Zeitungs berichte ..................................................................................... 323 Entscheidungen Internationaler Gerichte ..................................................................... 326 Register ........................................................................................................................ 327

Abkürzungsverzeichnis AAA

a. A.

anderer Ansicht Association des Auditeurs et Anciens Auditeurs de I' Academie de Droit International de La Haye

AEHRYB

All European Human Rights Yearbook

AFDl

Annuaire Fran~ais de Droit International

AfrJIL

African Journal ofInternational Law

AJIL

American Journal of International Law

ARB

Africa Research Bulletin

Art.

Artikel Archiv des Völkerrechts

AVR BBOIS

Berichte des Bundesinstituts rur ostwissenschaftliche und internationale Studien

BDGV

Berichte der deutschen Gesellschaft rur Völkerrecht

bes.

besonders

BUILJ

Boston University International Law Journal

BYIL

British Yearbook of International Law

BzK

Beiträge zur Konfliktforschung

CaseWRJIL

Case Western Reserve Journal ofInternational Law

CJTL

Columbia Journal ofTransnational Law

CSCE

Conference on Security and Cooperation in Europe

Doc.

Document

EA

Europa Archiv

EC

European Communities

ed.

editor

EG

Europäische Gemeinschaften

EJIL

European Journal ofInternational Law

eng!.

englisch

EPC

European Political Cooperation

EPIL

Encyclopedia ofPublic International Law, Bernhardt, Rudolf(Hrsg.); Amsterdam, New York, Oxford

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

EU

Europäische Union

f.

folgende

Abkürzungsverzeichnis ff.

fortfolgende

FA

Foreign Affairs

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Fn.

Fußnote

frz.

französisch

FS

Festschrift

FSR

Föderative Sozialistische Republik

GJICL

Georgia Journal ofInternational and Comparative Law

GUS

Gemeinschaft unabhängiger Staaten

GYIL

German Yearbook ofInternational Law

HRG

Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte

HRLJ

Human Rights Law Journal

Hrsg.

Herausgeber

HumV

Humanitäres Völkerrecht

ICJ

International Court of Justice

ICLQ

International and Comparative Law Quarteriy

i. e.

id est/das heißt

IGH

Internationaler Gerichtshof

ILM

International Legal Materials

ILR

International Law Reports

InJIL

Indian Journal of International Law

IntPol

Internationale Politik

IP

Internationale Politik (vormals: Europa-Archiv)

IpB

Informationen zur politischen Bildung

i. S.

im Sinne

IsYHR

Israel Yearbook ofHuman Rights

Jhdt.

Jahrhundert

JPR

Journal ofPeace Research

Jura

Juristische Ausbildung

JVA

Jugoslawische Volksarmee

KRWE

Keesing's Record ofWorld Events (vormals: Keesing's Contemporary Archives)

KSZE

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

LS

Law and State

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NedTIR

Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht

NILR

Netherlands International Law Review

No.

NumberINummer

Nr.

Nummer

25

26

Abkürzungsverzeichnis

OAU

Organisation for African Unity

OSZE

Organisation rur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

para.

Paragraph, Abschnitt

RBDI

Revue Beige de Droit International

RDI

Revue de Droit International

RFSR

Russische Föderative Sozialistische Republik

RGDIP

Revue Generale de Droit International Public

RIA

Review of International Affairs

RIAA

Reports of International Arbitral Awards

RivDI

Rivista di Diritto Internazionale

Rn.

Randnummer

RSFSR

Russische Sowjetische Föderative Sozialistische Republik

S.

Seite

s.

siehe

SBR

Selbstbestimmungsrecht

SFRY

Socialist Federal Republic ofYugoslavia

SFSR

Sowjetische Föderative Sozialistische Republik

sog.

sogenannt/elr

SSR

Sowjetische Sozialistische Republik

SZ

Süddeutsche Zeitung

tdn

turkish daily news

Tsp.

Der Tagesspiegel (Tageszeitung)

a.

unter anderem

u. ä.

und ähnliches

UdSSR

Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken

UN

United Nations

U.

UNCRO

United Nations Confidence Restauration Operation in Croatia

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

UNO

United Nations Organisation

UNPROFOR United Nations Protection Force USSR

Union of Soviet Socialist Republics

u. U.

unter Umständen

VAE

Vereinigte Arabische Emirate

vgl.

vergleiche

VN

Vereinte Nationen (Zeitschrift)

VRÜ

Verfassung und Recht in Übersee

YBES

Yearbook of European Studies

YBWA

The Year Book ofWorld Affairs

Abkürzungsverzeichnis ZaöR

Zeitschrift rur ausländisches öffentliches Recht

ZaöRV

Zeitschrift rur ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z. B.

zum Beispiel

zit.

zitiert

27

"... Tennine sancte, ... tu populos urbesque et regna ingentia finis.

"I

A. Einleitung I. Das Problem Die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 fUhren vor Augen, daß die mit territorialen Konflikten und Grenzstreitigkeiten verbundenen rechtlichen Probleme in Europa noch nicht der Vergangenheit angehören. Nach der ersten Hilflosigkeit vor dem Ausbruch der Gewalt und vor dem Bestreben aller Streitparteien, sich möglichst viel Gebiet als Staatsterritorium zu sichern, greifen die europäischen Staaten zu anscheinend gesicherten Rechtsprinzipien und erklären die früheren inneren Republikgrenzen Jugoslawiens und der Sowjetunion zu den unverletzlichen internationalen Grenzen der neu entstehenden Staaten. Dies wird von der BadinterKommission, einern Komitee europäischer Juristen2 , das die völkerrechtlichen Streitfragen im Zusammenhang mit der Jugoslawien-Krise behandeln soll, als Anwendung des allgemein akzeptierten uti possidetis-Prinzips angesehen3 . Diese apodiktische Feststellung zu einern in den letzten Jahrzehnten der Völkerrechtsentwicklung fast vergessenen Rechtsprinzip erstaunt und regt dazu an, darüber nachzudenken, ob ein solcher Befund in der bisherigen Staatenpraxis Rückhalt findet.

I " ... Heiliger Terminus [i. e. der römische Gott der Grenzen], Du setzt Völkern und Städten und ungeheuren Königreichen Grenzen." Ovid, Fastii, zit. nach Blum, Secure Boundaries, 102. 2 Dazu näher unten in Abschnitt (F.). 3 Auf die Anfrage Lord Carringtons, des Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz: "Can the internal boundaries between Croatia and Serbia and between BosniaHerzegovina and Serbia be regarded as frontiers in terms of public international law?" antwortet die Kommission in ihrer Opinion No. 3: "Except where otherwise agreed, the former boundaries become frontiers protected by international law. This conclusion follows from the principle of respect for the territorial status quo and, in particular, from the principle of uti possidetis. Uti possidetis, though initially applied in settling decolonisation issues in America and Africa, is today recognized as a general principle, as stated by the International Court of Justice in its Judgment of 22 December 1986 in the case between Burkina Faso and Mali ... "; zit. nach EJIL 3 (1992), 184 (185)

30

A. Einleitung

11. Entwicklung des Grenzbegriffes Streitigkeiten über den Verlauf von Grenzen und über. die Zugehörigkeit von Gebieten sind so alt wie das Konzept territorialer Herrschaft. Die Vorstellung von fixierten Grenzlinien entwickelt sich erst relativ spät in der Geschichte. Zu Zeiten starker Reiche, die unangefochten ihre Epoche dominieren, ist eine feste Grenzlinie nicht erforderlich. So hat sich das Römische Reich,nicht durch lineare Grenzen von seinen Nachbarn getrennt, ebensowenig wie das fränkische 4 . Eine vage Grenzzone ist in solchen Fällen ausreichends. Diese Zonen verlaufen zudem häufig durch unwirtliches Gebiet, in dem eine lineare Grenzziehung nur theoretischen Wert hätte. Auch besitzt eine Grenze filr den betroffenen Staat in dieser Zeit oft nur die Bedeutung eines vorläufigen Haltepunktes6, insbesondere soweit es sich um den Vorstoß in nur spärlich oder gar nicht besiedelte Gebiete handelt. Ein Bedarf filr fixierte Grenzlinien ergibt sich mit der Entstehung mehrerer eigenständiger Staaten nebeneinander und mit dem Ausgreifen von Siedlern in fernere Gebiete 7 • Die Einfilhrung linearer Grenzen wird zum einen durch eine neue Blüte der Vermessungswissenschaften in der Renaissance ermöglicht, die eine genaue physische Bestimmung der Grenzlinien gestattet8 • Zum anderen entwickelt sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Lehre von den natürlichen Grenzen eines Landes, die z. B. in Flüssen, Bergketten oder Küsten gesehen werden. Diese Grenzen sind leicht bestimmbar und kommen dem neuen Bedürfnis nach defmitiven Grenzen entgegen9 . Mit dem Aufkommen linearer Grenzen entsteht eine neue Form internationaler Streitigkeiten: der Konflikt um den genauen Grenzverlauf. Hierbei kann es sich ebenso um geringfilgige Änderungen einer Grenzlinie handeln wie um große Territoriumsverschiebungen, die mit der bisherigen Grenzlinie entgegenstehenden Gebietstiteln begründet werden. So wird z. B. 1893 zwischen den USA und Kanada der St. Croix River als Grenze vereinbart, über dessen genauen geographischen Verlauf zu diesem Zeitpunkt Unsicherheit besteht, die später zu Grenzstreitigkeiten fiihrtIO. Ein Beispiel filr einen Grenzstreit über große Gebiete ist der Gran Chaco-Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay, der die Zu-

4 Vgl. Benmassaoud, 2lf.; Boggs, 7; Lapradelle, 25-26; Reeves, AJIL 38 (1944), 533-537. 5 Verhoeven, 315. Vgl. Ziegler, 85, zum Wachstum des Frankenreiches. 6 Benmassaoud, 21-22; Lapradelle, 25-26. Vgl. Ziegler, 56-57, zur Grenzziehung zwischen Rom und dem Parthisehen Reich. 7 Benmassaoud, 22; Boggs, 7; Hili, 23. 8 Black, in: Grundy-Warr, 33; Hili, 23. 9 Hili, 23; Reeves, AJIL 38 (1944),538-539; Ziegler, 181. Ausfilhrlich zu den natürlichen Grenzen Ziegler, HRG I1I, 930-932. 10 HilI,24.

III. Methoden der Gebietsgewinnung

31

gehörigkeit eines 115.000 Quadratmeilen großen Gebietes zum Gegenstand hatlI.

ill. Methoden der Gebietsgewinnung Das Bedürfuis nach der genauen Fixierung von Grenzen entsteht insbesondere, wenn sich durch die Landgewinnung verschiedener Staaten Territorien verschieben. Grenzstreitigkeiten werden durch das Vorbringen unterschiedlicher Gebietstitel geprägt; Prinzipien zur Regelung von Grenzkonflikten müssen diesen Titeln Rechnung tragen. Das Völkerrecht kennt folgende Gebietstitel: Okkupation, Ersitzung, Zession, Akkretion, Annexion und Adjudikation. Zession und Adjudikation sind derivative, nicht originäre Gebietstitel. Bei der Zession tritt ein souveräner Staat vertraglich seine territoriale Souveränität über ein Gebiet an einen anderen Staat ab l2 . Sie ist heute die häufigste Form des Gebietserwerbs 13 • Die Adjudikation bezeichnet die Zuteilung eines bestimmten Gebiets an einen Staat durch eine feststellende oder gestaltende Entscheidung eines internationalen Gerichts, Schiedsgerichts oder einer internationalen Organisation l4 • Die übrigen Formen des Gebietserwerbs sind originärer Art. Als Okkupation wird die effektive und andauernde Inbesitznahme von herrenlosem Land (terra nullius) mit Gebietserwerbswillen (animus domini) bezeichnet ls . Solche Gebiete existieren inzwischen nicht mehr; selbst die Antarktis wird durch ein besonderes Rechtssystem geschützt, das sie vom terra nullius-Status ausnimmt l6 . Dennoch bleibt die Okkupation fiir die Klärung von älteren Gebietsstreitigkeiten von Wichtigkeit. Die Annexion bezeichnet die Einverleibung von gewaltsam erworbenem Gebiet eines anderen Staates in das eigene Staatsterritorium l7 • Sie war lange Zeit die üblichste Form der Landnahme und dadurch der Grenzziehung. Die Annexion ist im modemen Völkerrecht nicht mehr zulässig: Nicht als terra nullius zu qualifizierende Territorien werden vor der Eroberung durch das in Art. 2 (4) der UN-Charta verankerte und inzwischen zu Völkergewohnheitsrecht erstarkte Dazu eingehend unten in Abschnitt (B.) Punkt 11. 4 b bb (b). von G/ahn, 318; Hall, 142; Kelsen, 213; Luard, in: Luard, 19; Verdross/Simma, § 1157. \3 Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 49. 14 Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 64f. 15 von G/ahn, 312; Hall, 125; Verdross/Simma, § 1154. Vgl. auch Kunig, Jura 1996, 161. 16 Dazu Arenas, in: Schofield, 98ff.; Auburn, in: Schofield, I 12ff.; Beck, in: Schofield, 76ff. 17 von G/ahn, 32If.; Hall, 21-22; Kelsen, 214. Zur Entwicklung der Annexion und der "Eroberung" in der Völkerrechtsgeschichte vgl. Fisch, 157-163; Grewe, 148-156. 11

12

A. Einleitung

32

Gewaltverbot geschützt 18. Es verbietet den Einsatz von Gewalt gegen Staaten. In der Aggressionsdefmition der UN-Generalversammlung I9 , die insoweit Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln dürfte 20 , wird die Annexion von fremdem Territorium ausdrücklich als Aggression gebrandmarktl. Das Beispiel der Annexion Kuwaits durch den Irak, der die Staatengemeinschaft energisch entgegengetreten ist, macht diese Position deutlich22 . Die Ersitzung gibt dem Staat, der ein gewisses Territorium auf längere Zeit effektiv besitzt, ohne daß dagegen ein Widerspruch vorgebracht wird, einen Rechtstitel auf dieses Gebier 3 • Im Unterschied zur Okkupation ist in Fällen der Ersitzung das betreffende Gebiet nicht herrenlos gewesen24 • Die Ersitzung verschafft auch dann einen Rechtstitel, wenn die Gebietsherrschaft unter Verstoß gegen die Regeln der UN-Charta zustandegekommen isr 5 • Dies gilt wegen des ius cogens-Charakters des Gewaltverbots jedoch nicht filr gewaltsam errungene Gebietsherrschaft26 . Unter Akkretion wird der eher seltene Fall gefaßt, daß sich das Gebiet eines Staates durch natürliche Vorkommnisse erweitert (z. B. durch Anschwemmung)27.

18 Fisch, 166; von G/ahn, 322-323; Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 46; Kunig, Jura 1996, 161; RandelzhoJer, in: Simma, Art. 2 Ziff. 4, Rn. 13,34, 56ff. 19 Definition of Aggression, Annex zu Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, UNYB 1974,864. 20 V gl. Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 44-46. 21 "Article 3: Any of the following acts, regardless of a declaration of war, shall, subject to and in accordance with the provisions of article 2, qualify as an act of aggression: (a) The invasion or attack by the armed forces of aState ofthe territory of another State, or any military occupation, however temporary, resulting from such invasion or attack, or any annexation by the use of force of the territory of another State or part thereof; ... Article 5: ... 3. No territorial acquisition or special advantage resulting from aggression is or shall be recognized as lawful." 22 Siehe dazu z. B. die erste Resolution des Sicherheitsrates zur Kuwait-Krise: Res. 660 (1990) vom 2. August 1990: "The Security Council, Alarmed by the invasion of Kuwait on 2 August 1990 by the military forces ofIraq,

1. Condemns the Iraqi invasion ofKuwait; 2. Demands that Iraq withdraw immediately and unconditionally all its forces to the positions in which they were located on I August 1990; ... ". 23

24 25 26

27

Hall, 143; Verdross/Simma, § 1162. Hall, 143; Kelsen, 214; Verdross/Simma, § 1162. Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 59; Kelsen, 214. Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 63; Verdross/Simma, § 1163. Hall, 145-146; Verdross/Simma, § 1161.

III. Methoden der Gebietsgewinnung

33

Diese Methoden der Landnahme setzen grundsätzlich bereits bestehende Staaten voraus, können jedoch auch bei der Grenzziehung nach erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen Bedeutung gewinnen. Zerfallt ein Staat in mehrere Staaten oder spaltet sich ein Teil unter einer aufständischen Regierung ab, so liegt es im Interesse der neu entstandenen Einheiten, ihre Grenzen defmitiv festzulegen. Dadurch wird das zukünftig vom völkerrechtlichen Gewaltverbot geschützte Territorium bestimmt. Dabei ist eine friedliche vertragliche Einigung zwar wünschenswert, jedoch nicht immer zu erreichen, wie der Fall Jugoslawien erst kürzlich gezeigt hat. Um nach dem Zerbrechen einer übergeordneten Staatsstruktur Grenzstreitigkeiten und bewaffnete Auseinandersetzungen aufgrund von verschiedenen Gebietstiteln zu vermeiden, besteht die Möglichkeit, auf bereits bestehende (innerstaatliche, administrative) Grenzen zurückzugreifen. In Lateinamerika, wo zum ersten Mal in der neueren Geschichte ein Kolonialreich zerbricht, wird dieser Gedanke in Worte gefaßt und bildet den Grundstock des sog. uti possidetis-Prinzips. Gut anderthalb Jahrhunderte später wird während der Dekolonisierungsphase in Afrika über eine Regel vergleichbaren Inhalts diskutiert. Es entsteht allgemein der Eindruck, dadurch habe sich eine völkerrechtliche Norm gebildet. Diese soll, mit dem Namen uti possidetis versehen, zum Inhalt haben, daß filr die Grenzziehung zwischen den durch den Zerfall eines Staates (im häufigsten Fall: eines überseeischen Kolonialreiches) neu entstehenden Staaten die bereits existierenden Verwaltungsgrenzen entscheidend sind28 • Dabei bleibt dieses uti possidetis in der Völkerrechts lehre seltsam unbestimmt. Die Behauptung seiner allgemeinen Geltung wird aufgestellt; man postuliert, uti possidetis sei "a general principle, which is logically connected with the phenomenon of the obtaining of independence, whenever it occurs. ,,29

Doch fehlt es an einer eingehenden Darlegung, ob das lateinamerikanische uti possidetis mit der afrikanischen Regel identisch ist, ebenso wie an einem Versuch, die Rechtsqualität des uti possidetis-Prinzips zu ermitteln. Gerade im Hinblick auf die Tendenz, den Gedanken des uti possidetis als Streitschlichtungswerkzeug in den neueren europäischen Konflikten zu verwenden, ist es nötig, über diese Fragen Klarheit zu gewinnen.

28 Diese Definition gibt der IGH in ICJ Reports 1986, 554 (565, para. 20) (Frontier Dispute, Judgment). Darin liegt er auf einer Linie mit den Definitionen in den gängigen Lehrbüchern des Völkerrechts, soweit diese sich noch mit dem Problemgebiet befassen. Siehe z. B. Oppenheim's, § 235; Ipsen-Gloria, § 23, Rn. 72; Shaw, International Law, 302. 29 ICJ Reports 1986,554 (565, para. 20) (Frontier Dispute, Judgment) ..

3 Simmler

34

A. Einleitung

Entscheidend ist damit, ob sich das uti possidetis-Prinzip über die letzten knapp zwei Jahrhunderte (oder vielleicht auch nur über die letzten filnfzig Jahre) zu einer universell geltenden Rechtsregel entwickelt hat, die eine Handhabe fiir die nach Ende des Kalten Krieges neu ausbrechenden Grenzkonflikte in Europa bietet. Es ist das Ziel dieser Arbeit, die Ausprägungen der uti possidetisDoktrin auf den verschiedenen Kontinenten zu untersuchen und durch ihren Vergleich zu ennitteln, ob sich eine universelle Rechtsregel nachweisen läßt, die auf die Situation in Europa anwendbar ist.

IV. Der rechtliche Hintergrund der Figur uti possidetis 1. Bedeutung im Römischen Recht Die Rechtsfigur uti possidetis hat ihren Ursprung im römischen Zivilrecht. Dort ist sie eines von vier klassischen possessorischen interdicta, die dem praetor zur Regelung besitz- und eigentumsrechtlicher Streitigkeiten zur Verfugung stehen. Uti possidetis ist die Kurzfonn fiir "Uti possidetis, ita possideatis,,30, der traditionellen Fonnel des interdictum uti possidetis. Ziel des interdictum ist es, bei Streitigkeiten um Immobilien den possessorischen status quo festzuschreiben und zu verhindern, daß dieser während eines laufenden Verfahrens um das Eigentum gewaltsam geändert wird31 • Im Edikt des Kaisers Hadrian wird dies wie folgt fonnuliert: "Uti nunc eas aedes, quibus de agitur, nec vi nec c1am nec precario alter ab altero possidetis, quo minus ita possideatis, vim fieri veto. ,,32

Der in seinem fehlerfreien Besitz vorübergehend Geschützte wird in der nachfolgenden Herausgabeklage, der actio vindicatio, zum Beklagten und genießt damit eine im römischen Recht vorteilhafte Position33 • Uti possidetis im römischen Recht gewährt also nur einen vorläufigen Besitztitel und setzt eine spätere Entscheidung über das Eigentumsrecht im Rahmen einer Verhandlung voraus 34 .

"Wie ihr besitzt, so sollt ihr besitzen." Arechaga, EPIL 6 (1983), 46. 32 "Wie ihr das Haus, um das es hier geht, weder durch Gewalt noch heimlich noch aufgrund (bloßer) Bittleihe der eine vom anderen besitzet, daß [mit dem Erfolg], daß ihr nicht mehr besitzet, Gewalt geschehe, verbiete ich."; lateinischer Text und Übersetzung aus Liebs. Detle/, Römisches Recht, Göttingen, 3. Auflage 1987,40. 33 Wooldridge, EPIL 10 (1987), 519. 34 Arechaga, EPIL 6 (1983), 46. 30 31

IV. Der rechtliche Hintergrund der Figur uti possidetis

35

2. Bedeutung im frühen Kriegsvölkerrecht Seine erste internationalrechtliche Anwendung fmdet das uti possidetis im frühen Kriegsvölkerrecht unter anderem im Zusammenhang mit Territorialfragen. Für den rechtlichen Umgang mit territorialen Veränderungen, die während eines Krieges eintreten, gibt es zwei Ansätze: Zum einen kann zum status quo ante bellum, d. h. zur territorialen Lage vor Kriegsausbruch, zurückgekehrt werden. Zum anderen ist eine Festschreibung des status quo post bellum denkbar35 • Das uti possidetis bezeichnet im frühen Kriegsvölkerrecht die zweite Alternative. Soweit keiner der an den Feindseligkeiten beteiligten Staaten widerspricht, gilt nach dem uti possidetis ihr de facto-Besitzstand an Territorium im Augenblick des Friedensschlusses als de iure konsolidiert: "By the principle commonly called that of uti possidetis it is understood that the simple conclusion of peace, if no express stipulation accompanies it, or in so far as express stipulations do not extend, vests in the two belligerents as absolute property whatever they respectively have under their actual control in the case ofterritory.,,36

Dieses Prinzip hat dabei zwei Ausprägungen erfahren: Es erfaßt einerseits den konkludenten Friedensschluß, d. h. die andauernde Einstellung der Feindseligkeiten ohne Abschluß eines Friedensvertrages37 . Andererseits kommt es bei einem expliziten Friedensschluß durch einen Vertrag zur Anwendung, soweit keine spezielleren Regelungen hinsichtlich der Territorialverteilung getroffen werden38 • Damit hat sich der Inhalt des uti possidetis seit seinem Ursprung im Römischen Recht verändert: Es wird nicht mehr ein vorläufiger Besitzschutz gewährt, der nur bis zu einer endgültigen Regelung anhält, sondern der Besitzschutz trägt den absoluten Titel in sich. Auch die Rechtmäßigkeit bzw. Fehlerlosigkeit des Besitzes (nec vi nec clam nec precario), die Voraussetzung filr die Anwendung des römischrechtlichen uti possidetis ise 9 , spielt keine Rolle mehr.

Arechaga, EPIL 6 (1983), 46; Bernardez, in: FS Zemanek, 421. So Hall, 673 stellvertretend rur die herrschende Meinung noch Anfang des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist auch Grewe, 464, zu verstehen: "Die Anerkennung des niederländischen Kolonialbesitzes, die Spanien in Münster 1648 auszusprechen genötigt war, erfolgte auf der Grundlage des Prinzips uti possidetis: die niederländische Hoheit wurde in denjenigen Gebieten anerkannt, welche die Niederländer tatsächlich in Besitz genommen hatten." Weber, 5, 106, faßt das uti possidetis enger auf und deutet es als "völkerrechtlichen Grundsatz zur Regelung strittiger Territorialfragen in Amerika" zwischen Spanien und anderen europäischen Staaten im 17. und 18. Jahrhundert. Auch dieser Deutung dürfte jedoch die kriegsvölkerrechtliche Variante des uti possidetis mit ihrer Anerkennung effektiven Besitzes zugrundeliegen. 37 Accioly 11,480, § 1963; Benmassaoud, 62; Oppenheim 11, 599, § 263. 38 Accioly 11,484, § 1968; Benmassaoud, 62; Oppenheim 11, 611, § 273. 39 Allerdings nur in Hinblick auf den Gegner; hatte ein Dritter vorher Gewalt o. ä. angewandt, war das rur das interdictum unschädlich, Arechaga, EPIL 6 (1983), 46. 35

36



A. Einleitung

36

Diese uti possidetis genannte Regel des Völkerrechts ist heute gegenstandslos: Mit der Annahme der UN-Charta wird ein umfassendes Gewaltverbot in der Völkerrechtsordnung verankert, so daß Krieg als Mittel der Landgewinnung ausscheidet40 . Durch die Ächtung gewaltsamer Landnahme hat sich das moderne Völkerrecht dem status quo ante als der richtungsweisenden Position zur Regelung territorialer Fragen nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zugewandt41 •

V. Dogmatische Vorüberlegungen Bevor mit der Prüfung der Bedeutung des uti possidetis im modemen Völkerrecht begonnen werden kann, ist es nötig, zunächst einige grundlegende Fragen der Terminologie und der völkerrechtlichen Dogmatik zu klären. Es ist auffallend, daß die Begriftlichkeit im Zusammenhang mit dem Gedanken des uti possidetis uneinheitlich ist. So fmdet sich z. B. die Bezeichnung "uti possidetis-Prinzip"42 ebenso wie "uti possidetis-Doktrin,,43 oder "Theorie des uti possidetis,,44. Die Unklarheit in der Terminologie scheint mit der Unsicherheit über den Rechtscharakter des uti possidetis einherzugehen; vielleicht bedingt sie sie sogar. 1. Definition von "Prinzip" Während weitgehend Einigkeit darüber herrscht, daß eine "Doktrin" keine völkerrechtliche Qualität besitzt4S , ist umstritten, welche rechtliche Bedeutung einem "Prinzip" beizumessen ist. In völkerrechtlichen Verträgen46 , Rechtsprechung47 und Literatur48 wird der Begriff "Prinzip" häufig verwendet; seine V gl. dazu oben die Ausftlhrungen zur Annexion. Bernardez, in: FS Zemanek, 421/422; Wooldridge, EPIL 10 (1987),519. 42 Z. B. Chhak, 16: "Ie principe de l'uti possidetis"; DinhiDaillieriPellet, 460; Klein, Der Staat 32 (1993), 367. 43 Z. B. Gnidil, 322; Ipsen-Gloria, § 23 Rn. 72; Weber, 106; Oppenheim's, § 235, bietet ein gutes Beispiel rur die Begriffsunschärfe: "The doctrine of uti possidetis ... This doctrine in effect conflates boundary and territorial questions by assuming as a governing principle ... ". 44 Z. B. Zuppi, 21. 45 Kunig, Nichteinmischung, 238, insbes. Fn. 155 m.w.N.; Schindler, in: FS Huber, 613. 46 Siehe nur Art. 2 UN-Charta. 47 Für eine Aufzählung der Fälle, in denen der StiGH explizit "general principles of law" anwandte, Oppenheim's, § 12 Fn. 5; weitere Beispiele aus der Judikatur in Verdross, Quellen, 131-134. 48 Dazu gleich im Folgenden. 40 41

V. Dogmatische Vorüberlegungen

37

dogmatische Einordnung in die Völkerrechtsordnung bleibt jedoch meist vage 49 , da das Völkerrecht keine verbindliche Legaldefmition für den Terminus "Prinzip" zur Verfügung stellro.

a) Art. 38 I c IGH-Statut Einer Legaldefmition am nächsten kommt Art. 38 I c lOH-Statut, der "general principles" neben Vertragsrecht und Völkergewohnheitsrecht als dritte Rechtsquelle des Völkerrechts nennt51 . Das lOH-Statut bindet zwar nur den Internationalen Oerichtshof 2 ; Art. 38 lOH-Statut gewinnt jedoch darüber hinausgehend Bedeutung, da er als Ansatzpunkt fi1r alle dogmatischen Überlegungen zur Rechtsqualität eines "Prinzips" im Völkerrecht dient53 . Der Inhalt sowie die Rechtsqualität eines "Prinzips" entsprechend Art. 38 I c lOH-Statut ist umstritten. Dieser Streit läßt sich bereits in die Zeit des StatutEntwurfs zurückverfolgen. Ein naturrechtlicher Ansatz, besonders vertreten durch Baron Descamps, will mit seinem Entwurf des Art. 38 lOH-Statut dem lOH auch Regeln zur Anwendung an die Hand geben, die nicht dem "mutual consent" der Staaten, sondern bereits der "objective justice" entspringen 54 • Dem gegenüber möchte die eher positivistisch eingestellte Oegenmeinung nur Regeln aufnehmen, denen die Staaten zugestimmt haben 55. Als Kompromißvorschlag wird die Fassung von Lord Philimore verabschiedet; letzterer will unter "general principles" solche verstanden wissen, "which were accepted by all nations in foro domestico, such as certain principles of procedure, the principle of good faith, and the principle of res judicata, etc. ,,56 Diese Auslegung des Art. 38 I c lOH-Statut, die "general principles" beschreibt als bestimmte, allen innerstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsame 49 In den Worten von Virally, in: FS Guggenheim, 531: "... 'principes du droit international'! L'expression est commode, mais vague et imprecise."; s. a. Danilenko, 8. 50 Zur Diskussion des Begriffs "Prinzip" im deutschen Recht vgl. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, 293ff. 51 Wortlaut englisch: "The Court, whose function is to decide in accordance with international law such disputes as are submitted to it, shall apply: ... (c) the general principles of law recognized by civilized nations."

französisch: "(c) les principes generaux de droit reconnus par les nations civilisees". 52 Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 767; Mosler, EPIl 7 (1984), 93. 53 Kunig, in: Ginther/Benedek, 228; Mosler, EPIL 7 (1984), 93. 54 Brownlie, Principles, 15f.; Danilenko, 173. 55 56

Danilenko, 174. Danilenko, 174/175; s. a. Blondel, in: FS Guggenheim, 203; Verdross, in: FS

Guggenheim, 524.

38

A. Einleitung

Regeln, soweit sie auf die Beziehungen zwischen Staaten anwendbar sind, wird man wohl noch heute als herrschend bezeichnen könnenS? Die so verstandenen Prinzipien nach Art. 38 I c IGH-Statut werden von der überwiegenden Ansicht als Völkerrechtsquelle sui generis und damit als rechtlich bindend angesehens8 . Von mancher Seite wird der Anwendungsbereich von Art. 38 I c IGH-Statut extensiver gefaßt. Diese Denkrichtung läßt auch Rechtsgrundsätze dem Art. 38 I c IGH-Statut unterfallen, die sich unmittelbar aus der Struktur der Völkerrechtsordnung ableiten lassen, aber keine direkte Wurzel im innerstaatlichen Recht habens9 . Hierbei wird z. B. an "l'egalite des Etats,,60 oder "considerations eIementaires d'humanite,,61 gedacht. Soweit innerhalb dieser erweiternden Auslegung Fallgruppen wie "rechtslogische Grundsätze,,62 oder "principes ... tires directement de l'idee de droit,,63 genannt werden, dürfte es sich um keine wirkliche Erweiterung handeln, sondern nur um Untergruppen der aus dem foro domestico gezogenen Rechtsgrundsätze64 • Gerade Kategorien wie Rechtslogik und Rechtstheorie werden üblicherweise anband des eigenen Rechtsverständnisses entwickelt, das notwendigerweise von der eigenen (nationalen) Rechtsordnung geprägt ist. Von einer Einbeziehung der "Strukturprinzipien" des Völkerrechts der oben angedeuteten Art in den technischen Begriff des Prinzips nach Art. 38 I c IGH-Statut wird hier Abstand genommen. Strukturprinzipien des Völkerrechts werden aus der geltenden Völkerrechtsordnung abgeleitet, sind also von dieser abhängig; sie verdienen daher keine Einstufung als selbständige Quelle des Völkerrechts6s . Als ein "Prinzip" im technischen Sinne des Art. 38 I c IGH-Statut wird man den Gedanken des uti possidetis mit seinem oben kurz skizzierten Inhalt wohl 57 Brownlie, Principles, 16; Danilenko, 177; Henkin, 40; Oppenheim's, § 12; Virally, in: FS Guggenheim, 532. Zur Einstellung der sowjetischen Völkerrechts lehre, die die Ableitung allgemein gültiger Prinzipien aus "bourgeoisen" Rechtsordnungen ablehnte und nur wenige Regelungen als ideologisch neutral anerkannte, Favre, in: FS Guggenheim, 367f.; /psen-Heintschel von Heinegg, § 17 Rn. 5; Schachter, 50; Schweisfurth, VR, 339; Verdross, Quellen, 127; grundlegend zur Theorie des "sozialistischen Völkerrechts" vgl. Schweisfurth, VR, 537ff. 58 Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 770; Kunig, Jura 1989, 670; Mosler, EPIL 7 (1984),95; Oppenheim's, § 12. 59 Dazu z. B. Brownlie, Principles, 19; Favre, in: FS Guggenheim, 373-376 mit weiteren Nachweisen; Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer II1, 77Of.; eine ausführliche Darstellung der einzelnen möglichen Fallgruppen, die hier herangezogen werden, zusammen mit weiterführenden Literaturhinweisen, bietet Mosler, EPIL 7 (1984), 97-105; s. a. Mosler, ZaöR 36 (1976), 42; Schachter, 50-55. 60 Favre, in: FS Guggenheim, 373. 61 Favre, in: FS Guggenheim, 374. 62 Mosler, ZaöR 36 (1976), 46. 63 Blondei, in: FS Guggenheim, 211. 64 So wohl auch Mosler, ZaöR 36 (1976), 46. 65 So auch Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer II1, 771; Verdross/Simma, § 605 m.w.N.

V. Dogmatische Voruberlegungen

39

kaum begreifen können. In seiner römisch-rechtlichen Form mag der uti possidetis-Gedanke noch einen aus der nationalen Rechtsordnung verallgemeinerbaren Kern beinhaltet haben66 . Daß der heute mit dem Schlagwort des uti possidetis verbundenen Idee von der Unveränderbarkeit früherer Binnengrenzen eine entsprechende, allen Staaten gemeinsame, nationalrechtliche Regelung zugrunde liegt, wird wohl niemand vertreten.

b) General principles o[ internationallaw Von den in Art. 38 I c IGH-Statut niedergelegten "general principles of law" müssen die "general principles of international law" unterschieden werden67 . Während die allgemeinen Rechtsprinzipien des Art. 38 I c IGH-Statut ihrem Ursprung nach grundsätzlich völkerrechtsfremd, weil aus nationalen Rechtsordnungen übernommen, sind68 , entwickeln sich die allgemeinen Völkerrechtsprinzipien unmittelbar durch die internationalen Beziehungen69 . Die Existenz völkerrechtlicher Prinzipien ist wohl unbestritten70 ; Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, welche Rechtsqualität ihnen zuzubilligen ist. Zum einen wird vertreten, daß Prinzipien des Völkerrechts keine weit gefaßten (und damit wohl unverbindlichen) Leitbilder, sondern "rules of conduct having all the essential qualities of law" seien71 . Nach diesem Verständnis ist ein Prinzip ebenso rechtlich verbindlich wie ein Rechtssatz ("rule") und unterscheidet sich von diesem lediglich durch seine offenere Fassung72 : Während ein Rechtssatz spezifische Rechtsfolgen nach sich ziehe3 , ist das Prinzip der einem oder mehreren Rechtsgrundsätzen zugrundeliegende Rechtsgedanke 74. Nach anderer Ansicht sind Prinzipien des Völkerrechts lediglich unterschiedlich weitgehende Abstraktionen und Generalisationen von Rechtsregeln ("rules of international law,,)75. Als solche sind sie zunächst nicht verbindlich 66

gung.

Z. B. in der Fonn eines SelbsthilfeverbotsNorrangs der friedlichen Streitbeile-

Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 771; Verdross/Simma, § 605. Ipsen-Heintschel von Heinegg, vor § 16, Rn. 1, § 17, Rn. 1. 69 Ipsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 40. 70 Siehe dazu nur die Verweise der vorangegangenen und folgenden Fußnoten. 71 Danilenko, 8. n Nach Schachter,20, sind Prinzipien "open-textured" und zeichnen sich durch "generality and abstractness" aus. Auch Mosler, EPIL 7 (1984), 92, hält "lack ofprecision" nicht rur einen Grund, Rechtsverbindlichkeit abzulehnen. 73 Danilenko, 8; Schachter, 20. 74 Danilenko, 8. Fitzmaurice, RdC 92 (1957 II), 7, umschreibt dies wie folgt: "A rule answers the question "what": a principle in effect answers the question "why"." Die einer "rule" oder einem "principle" zugrundeliegende (politische) Zielsetzung ("aim", "end") dagegen ist rechtlich unverbindlich, Schachter, 21. 75 Schwarzenberger, RdC 87 (1955 I), 20 I, 204. 67 68

40

A. Einleitung

und gewinnen Rechtsqualität nur, wenn sie über die formalen Quellen76 des Völkerrechts Aufnahme in den Kanon des Völkerrechts fmden 77 • Man wird hier wohl zwischen verschiedenen Arten von Prinzipien unterscheiden müssen. Auf der einen Seite stehen die "Rechtsprinzipien" , die aus geltenden Rechtsregeln abgeleitet sind und damit deren Rechtscharakter besitzen 78 . Auf der anderen Seite fmden sich die noch nicht zu Recht erstarkten "politischen Prinzipien", die den noch unverbindlichen Absichtserklärungen zugerechnet werden können 79 • Diese erlangen erst dann Rechtsverbindlichkeit, wenn sie den Weg in das vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Völkerrecht gefunden haben 80 • Gelegentlich werden die "politischen Prinzipien", wenn ihnen bereits eine übereinstimmende Rechtsüberzeugung 81 zugrunde liegt, als eine Art Vorstufe des Völkergewohnheitsrechts angesehen82 • Die Bezeichnung des uti possidetis als "Prinzip" bedeutet demnach zunächst nur eine Einordnung zwischen den beiden Polen "rechtliches" und "politisches" Prinzip. Erst eine genaue Prüfung des rechtlichen und tatsächlichen Kontextes, in dem auf das uti possidetis Bezug genommen wird, kann Klarheit darüber entstehen lassen, welche Rechtsqualität dem uti possidetis im jeweiligen Zusammenhang zuzuschreiben ist.

2. Völkergewohnheitsrecht Neben einer völkervertraglichen Vereinbarung könnte eine Aufnahme in das Völkergewohnheitsrecht ein möglicher Weg filr den uti possidetis-Satz in das Völkerrecht sein.

76 Hier ist an Vertragsvölkerrecht oder Völkergewohnheitsrecht zu denken, da die allgemeinen Rechtsgrundsätze nach der oben vertretenen Auffassung nur abgeleitete Regeln des foro domestico umfassen. 77 Schwarzenberger, RdC 87 (1955 I), 202, YBWA 30 (1976), 332; ähnlich wohl DahmiDelbrücklWolfrum, 66: "Ein Prinzip aber, das im internationalen Rechtsleben nicht durchweg angewandt wird, ist kein Recht." (Hervorhebung im Original). 78 Viral/y, in: FS Guggenheim, 546; Vira/ly benennt diese Prinzipien "principes juridiques" (535); so wohl auch Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 771. 79 Viral/y, in: FS Guggenheim, 535 "principe 'purement politique"'. 80 Vira/ly, in: FS Guggenheim, 546; hier dürften auch die von Schwarzenberger behandelten abstrahierenden/generalisierenden Prinzipien zu verorten sein, vgl. Schwarzenberger, RdC 87 (1955 I), 204. 8\ In den Worten von Verdross, Quellen, 128, ein "formlose[r] zwischenstaatliche[r] Consensus" . 82 Verdross, Quellen, 128.

V. Dogmatische Vorüberlegungen

41

a) Voraussetzungenjür die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht

Es ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, die verschiedenen theoretischen Erklärungsansätze rur die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht nachzuzeichnen83 . Bei allen Unterschieden im Einzelnen besteht zwischen den Theorien im wesentlichen Einmütigkeit darüber, daß rur die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zwei grundlegende Elemente notwendig sind: die (objektive) Staatenpraxis und die (subjektive) Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis), d.h. die Überzeugung, daß die Staatenpraxis Recht widerspiegelt84 • Während die Staatenpraxis dazu fUhrt, daß sich ein bestimmtes gleichförmiges Verhalten herauskristallisiert, wandelt die die Praxis begleitende Rechtsüberzeugung die Verhaltensregeln in rechtlich bindende Normen des Völkergewohnheitsrechts um 85 • Fraglich ist, welche Anforderungen an den Nachweis der Staatenpraxis sowie der Rechtsüberzeugung zu stellen sind. aa) Staatenpraxis Grundsätzlich sind alle Verhaltensweisen von Staaten86 im rechtlich und/oder faktisch relevanten Bereich zum Nachweis der Praxis geeignet87 . Dabei sind Handlungen und Äußerungen ebenso von Bedeutung wie Unterlassen88 • Welches Gewicht offizielle Statements neben Handlungen haben, ist nicht abschließend geklärt; eine Bildung von Völkergewohnheitsrecht allein auf der Basis von Absichtserklärungen und Deklarationen wird jedoch weitgehend abgelehnt89 • 83 Einen ausführlichen Überblick hierzu bieten Günther, 15-74, Michel, 7-86, Unger, 11-30; siehe auch /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 26-32; insbesondere zur sowjetischen Einstellung zum Völkergewohnheitsrecht siehe Schweisfurth, GYIL 30 (1987),44ff. 84 Bernhardt, EPIL 7 (1984), 62; Danilenko, 81; Henkin, 29; Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 769; Kunig, Jura 1989, 669; Oppenheim 's § 10, 27; Schachter, 12; Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 218; so auch ICJ Reports 1950,266,276 (Asylum Case). 85 Danilenko, 81. 86 Danilenko, 82. Inzwischen ist auch weithin anerkannt, daß die Praxis Internationaler Organisationen zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht beitragen kann, Danilenko, 83; /psen-Heintschel von Heinegg, § 16 Rn. 5. Auch Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte haben ihren Anteil an der Bildung von Völkeregewohnheitsrecht, Danilenko, 83. 87 D'Amato, International Law, 124; /psen-Heintschel von Heinegg, § 16 Rn. 5; Peters, 81. Siehe Bernhardt, EPIL 7 (1984), 62-63, Oppenheim's § 10, S. 26, sowie Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 769, mit einer Aufzählung möglicher Indikatoren filr eine Praxis. 88 Danilenko, 85-87; /psen-Heintschel von Heinegg, § 16 Rn. 5. 89 Danilenko, 91; ICJ Reports 1986, 14,97 (para. 184) (Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits,

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A. Einleitung

Die Staatenpraxis muß zudem von einer gewissen Einheitlichkeit, Dauer und Verbreitung sein90 • Die notwendige Dauer ist dabei einzelfallabhängig zu bestimmen; die früher propagierte Bedingung des jedenfalls "langandauernden" Verhaltens wird nicht mehr aufrechterhalten91 • Einheitlichkeit und Verbreitung bedeuten, daß sich eine repräsentative Anzahl von Völkerrechtssubjekten ohne signiftkante Abweichung an dem Verhalten beteiligt. Universelles Völkergewohnheitsrecht verlangt daher eine generelle (nicht jedoch ausnahmslose!) Beteiligung von Repräsentaten aller geographischer Regionen und soziopolitischen Systemen. bb) Rechtsüberzeugung Unter der die Praxis tragenden Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis) ist die Einsicht zu verstehen, daß ein bestimmtes Verhalten rechtlich geboten ist93 • Diese Einsicht kann sich auch im Wege des "tacit consent" vollziehen94 • Der Nachweis der Rechstüberzeugung gestaltet sich schwieriger als der der Praxis. Grundsätzlich lassen sich bereits aus dem Nachweis der Übung Rückschlüsse auf eine mögliche Rechtsüberzeugung ziehen95 . Neben der Übung ist auf Rechtsbekundungen der Staaten (bzw. anderer Völkerrechtssubjekte) zurückzugreifen, in denen das Bestehen einer entsprechenden Regel behauptet wird96 • Hier sind multilaterale Verträge daraufhin zu untersuchen, ob in ihnen eine solche, über den Vertrags inhalt hinausgehende bzw. unabhängig vom Vertrag bestehende Rechtsüberzeugung ausgesprochen wird97 • Ebenso sind Äußerungen auf internationalen Konferenzen entsprechend zu prüfen; auch in ResoJudgment): "The mere fact that States dec1are their recognition of certain rules is not sufficient for the Court to consider these as being part of customary international law, and applicable as such to those States." 90 Danilenko, 94; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 6. 91 ICJ Reports 1969, 3 (49, para. 74) (North Sea Continental Shelf, Judgment); Bernhardt, EPIL 7 (1984), 64; Danilenko, 97-98; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 7-9; s. auch Oppenheim's § 10, 30f.; Verdross/Simma, § 571. 92 Danilenko, 94-97; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 10-11. 93 Danilenko, 100-101; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 14-15; Peters, 81. Fehlt diese Überzeugung, handelt es sich bei dem beobachteten gleichllirmigen Verhalten nur um "usage", d. h. um einen nicht rechtsverbindlichen Brauch ("Courtoisie"), vgl. Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 770; Oppenheim's, § 10,27. 94 DahmiDelbrückiWolfrum, 60; Danilenko, 101. 95 Danilenko, 119f.; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 42; Oppenheim's, § 10, S. 28; Peters, 82f. 96 Bernhardt, EPIL 7 (1984), 63; Danilenko, 120f.; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 43; Kunig, Jura 1989, 669; im Zusammenhang mit der UNSeerechtskonvention Schweisfurth, ZaöR 43(1983), 581-582. 97 DahmiDelbrückiWolfrum, 52; lpsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 45-46; Danilenko, 123, stimmt dem nur fUr den engen Bereich von Verträgen zu, die explizit Völkergewohnheitsrecht kodifizieren.

V. Dogmatische VOTÜberlegungen

43

lutionen internationaler Organisationen kann sich Rechtsüberzeugung artikulieren98 • Dabei ist besonders auf die Umstände zu achten, die der Resolution vorausgingen; so kann eine zahlreiche Zustimmung zu einer Resolution z. B. der UN-Generalversammlung auch darin begründet liegen, daß diese gerade als unverbindlich angesehen wird99 • Bilaterale Verträge sind filr den Nachweis einer entsprechenden opinio nur dann brauchbar, wenn in ihnen eine über die bilateralen Beziehungen hinausgehende Verpflichtung anerkannt wird JOo.

b) Partikuläres Völkergewohnheitsrecht Ist eine Übung nicht allgemein, sondern auf eine begrenzte Anzahl von Staaten beschränkt, kann dennoch eine Regel des Völkergewohnheitsrechts vorliegen. Es handelt sich dabei nicht mehr um universelles, sondern um "partikuläres"JOI Völkergewohnheitsrecht J02 . Die Terminologie ist nicht einheitlich: Es wird auch von "lokalem"J03, "speziellem"l04 oder "regionalem"J05 Völkergewohnheitsrecht gesprochen. Die Beschreibung als "partikuläres" Völkerrecht scheint hier vorzugsWÜfdig; "lokal" oder "regional" heben zu sehr auf eine örtliche Verbundenheit ab, "speziell" verleiht dieser Art des Völkergewohnheitsrecht eine unangebrachte Aura von Besonderheit. Partikuläres Völkergewohnheitsrecht verlangt ebenso wie universelles Völkergewohnheitsrecht eine von einer Rechtsüberzeugung getragene Staatenpraxis. Da hier nur eine begrenzte Anzahl von Staaten berührt ist, wird man fordern müssen, daß filr jeden betroffenen Staaten nachgewiesen wird, daß er sich dieser partikulären Regel angeschlossen hat 106 • "Tacit consent" wird dabei wie bei der Bildung von universellem Völkergewohnheitsrecht ausreichend sein J07 . 98 Kunig, Jura 1991, 217 für das Abstimmungsverhalten in der UN-Generalversammlung. 99 Dahm/Delbrück/Woljrum, 60-61. 100 Siehe /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 44. 101 "particular custom", so z. B. Oppenheim's, § 10, 30; siehe auch Elias, AfrJICL 8 (1996),67. 102 Dahm/Delbrück/Woljrum, 61; /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 54-55; Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 769. 103 "local custom", Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961), 120. Siehe auch ICJ Reports 1960, 6 (39) (Right of Passage over Indian Territory): "It is difficult to see why the number of States between which a local custom may be established on the basis of long practice must necessarily be larger than two." 104 "special custom", D'Amato, Concept, 233; Fitzmaurice, RdC 92 (1957 11), 97. 105 "regional custom", Verdross/Simma, § 567. 106 Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961), 133; D'Amato, Concept, 234; Danilenko, 94; Elias, AfrJICL 8 (1996), 78; Fitzmaurice, RdC 92 (1957 11), 97; Oppenheim's § 10,30; Verdross/Simma, § 568. Vgl. /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 56; Schindler, EPIL 7 (1984), 406; etwas zweifelnd hierzu Dahm/Delbrück/Woljrum, 61, Fn. 55, wobei sich das hier als problematisch bezeichnete "indifferente" Verhalten von Staaten

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A. Einleitung

Anders dürfte der Kreis der Adressaten schwerlich exakt zu ziehen sein. Eine Geltung der Regel etwa qua regionaler Zugehörigkeit des Staates, ohne daß die individuelle opinio nachgewiesen wird, wird man nicht annehmen können. Die Tatsache allein, daß ein Staat einer Region oder einem bestimmten Kontinent angehört, besondere historische oder soziale Erfahrungen mit anderen Staaten teilt oder einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung anhängt, bedeutet nicht per se eine rechtliche Verpflichtung, partikulären Regeln des Völkergewohnheitsrechts zu gehorchen. Solche regionalen, historischen oder ähnlichen Besonderheiten können zwar die Bereitschaft stärken, zusammen mit anderen Staaten gleicher Voraussetzung partikuläre Rechtsregeln zu schaffen, die - anders als das universelle Völkergewohnheitsrech - den eigenen Gegebenheiten Rechnung tragen 108 • Eine Automation kann hier jedoch nicht vorausgesetzt werden. Partikuläre Bildung von Völkergewohnheitsrecht kann wegen der Herrschaft der Staaten über die Völkerrechtsordnung im Prinzip von jeder Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts abweichen bzw. in Gebieten entstehen, die vom universellen Völkerrecht (noch) nicht erfaßt sind. Das partikuläre Völkergewohnheitsrecht geht innerhalb seines Geltungsbereichs damit dem universellen Völkergewohnheitsrecht vor 109, es kann allerdings keine Geltung gegenüber dritten Staaten verlangen, die sich auf die generellen Regeln berufen 110. Eine Grenze fmdet das partikuläre Völkergewohnheitsrecht jedoch im ius cogens, dem zwingenden Völkerrecht 11 I. Von zwingenden Regeln des allgemeinen Völkerrechts kann auch im partikulären Rahmen nicht abgewichen werden 112. Begründet wird dies damit, daß Regeln des ius cogens erga omnes gelten; ohne die Zustimmung der gesamten Rechtsgemeinschaft kann von ihnen nicht abgegangen werden 113 •

wohl als "tacit consent" wird deuten lassen können. Entsprechend Schachter, 12; siehe auch lCI Reports 1950, 266, 276 (Asylum Case). 107 Fitzmaurice, BYlL 30 (1953), 68-69; Schachter, 12. 108 Ähnlich wohl Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961), 125. Vgl. Verdross/Simma, § 567, /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 54, die partikuläres Völkergewohnheitsrecht als innerhalb einer geographisch, historisch, kulturell, politisch oder ähnlich abgrenzbaren Gruppe von Staaten geltend definieren. 109 Elias, AfrJICL 8 (1996), 84; Kelsen, 305; vgl. Verdross/Simma, § 574. 110 Schachter, 24; Schindler, in: FS Huber, 615; Verdross/Simma, § 567. 111 Bernhardt, EPlL 7 (1984), 65; Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961), 136; Schindler, in: FS Huber, 615; Verdross/Simma, § 567. 112 So etwa durch eine Praxis einer Gruppe von Staaten, Genozid als Mittel für die Lösung ihrer politischen Probleme zu verwenden. 113 Hier soll nicht die grundlegende Frage vertieft werden, ob von Regeln des ius cogens auch bei allgemeiner Zustimmung nicht abgewichen werden darf, etwa weil sie naturrechtlich verankert sind. Daß eine solche Überlegung bei allgemeiner Zustimmung rein theoretischen Charakter haben würde, liegt auf der Hand.

V. Dogmatische Vorüberlegungen

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Die Figur des partikulären Völkergewohnheitsrecht wird fiir die Prüfung der Rechtsqualität des uti possidetis von besonderer Bedeutung sein. Das zunächst regional beschränkte Auftreten des uti possidetis-Gedankens (in Lateinamerika und Afrika) könnte ein Indiz dahingehend liefern, daß sich der uti possidetisSatz in diesen Regionen zu partikulärem Völkergewohnheitsrecht entwickelt. Es ist daher vonnöten zu untersuchen, ob sich eine entsprechende von Staatenpraxis getragene Rechtsüberzeugung nachweisen läßt.

Eine Grenze zu ziehen heisst verworrene Interessen entwirren und verteilen .... Sich WOstenstriche vom Rechtsstandpunkt aus streitig zu machen, ist höchst einflUtig und absurd. I

B. uti possidetis in Lateinamerika I. Historischer Hintergrund 2 1. Entwicklung bis zu den Befreiungskriegen im 19. Jahrhundert Das heute unter dem Begriff "Lateinamerika" verstandene Gebiet umfaßt Süd- und Mittelamerika bis zur Südgrenze der USA. Es zeichnet sich durch einen weitgehend einheitlichen Gebrauch von Spanisch als offizieller Landessprache aus, mit der Ausnahme des portugiesischsprachigen Brasiliens in Südamerika. Dies läßt sich zurückfUhren auf die spanische Kolonisierung der mittel- und südamerikanischen Gebiete nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahre 1492 3 . Die Sonderrolle Brasiliens hat ebenfalls historische Ursachen. In seiner Bulle "Inter Caetera" von 1493 spricht Papst Alexander VI. Spanien das Recht auf alle entdeckten und noch zu entdeckenden Gebieten jenseits einer hundert "Meilen,,4 westlich der Azoren vom Nord- zum Südpol verlaufenden Linie zu, soweit sich dort noch keine christliche Herrschaft konstituiert hat5. Damit versucht er, einen anhaltenden Streit über territoriale Herrschaftsrechte zwischen dem spanischen Königtum und dem sich konkurrierend kolonial betätigenden Portugal zu schlichten. Im Vertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494 kommen die beiden Souveräne überein, die Trennungslinie 370 Meilen westlich der Azoren zu ziehen. Der Papst stimmt dieser Regelung ZU6. Der genaue Verlauf der Linie bleibt auch später im Streit, da verschiedene Ansichten hinsichtlich des Ausgangspunktes "Azoren" vertreten werden: Spanien hält San-Nicolas, eine Insel in Mittellage, für maßgeblich, während Portugal auf die am weitesten westlich gelegene Insel San-Antonio abstellt. Mit dem derart

I

250.

Juan Bautista Alberdi, argentinischer Politiker im 19. Jhdt., zit. nach Sandelmann,

Die Daten folgen, soweit nicht anders angegeben, der Darstellung in Plötz, 1097ff. Zur völkerrechtlichen Ordnung im präkolumbianischen Amerika siehe Preiser, 100-143. 4 Eng!. league, frz. lieue, eigentlich "Wegstunde", entspricht 4,8 km. 5 Bernardez, in: FS Zemanek, 428; Reeves, AJIL 38 (1944), 539-540; Ziegler, 129. Zur juristischen Bedeutung des Edikts siehe Grewe, 277ff. 6 Ayala, Dictionnaire Diplomatique, 1046; Ziegler, 129; vg!. auch Fisch, 53; Grewe, 276. 2

3

I. Historischer Hintergrund

47

markierten portugiesischen Einflußgebiet in Südamerika (es wnfaßt das gesamte östliche Gebiet des Kontinents bis zur Mündung des Amazonas 7) ist das portugiesische Königshaus jedoch nicht zufrieden. In der Folge kommt es durch die indifferente Haltung Spaniens zu portugiesischen Eroberungen auch jenseits der nie markierten Trennungslinie. Das fUhrt zu einem portugiesischen Territoriwn in Südamerika, das mehr als zweimal so groß ist wie das im Vertrag von Tordesillas zugestandeneS. 1750 schließen Spanien und Portugal einen Grenzvertrag über die südamerikanischen Gebiete, der ebenso wie der Vertrag von San Ildefonso von 1777 nicht wngesetzt wird9. Die Frage der Grenze zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Kolonialreich in Südamerika bleibt bis zum Ausbruch der Unabhängigkeitskriege ungeklärt lO • Spanien teilt seinen amerikanischen Besitz zunächst in Provinzen auf, die als "capitanias generales" bezeichnet werden. Im Zuge der Ausweitung der Besiedlung werden zur Koordinierung "audiencias" geschaffen, übergeordnete Gerichtsbezirke. Die Leitung der Gebietseinheiten liegt in der Hand von Vizekönigen. Zuerst richtet Spanien das Vizekönigreich Neuspanien (geschaffen 1528, es wnfaßt die spanischen Gebiete in Nord- und Mittelamerika, die Westindischen Inseln und Venezuela) und das Vizekönigreich Peru (geschaffen 1543, es beinhaltet bis zur Bildung weiterer Vizekönigreiche alle spanischen Gebiete Südamerikas und Panama) ein. 1739 werden aus Verwaltungsgründen die audiencia de Quito und die capitanfa general Venezuela zum Vizekönigreich Neugranada zusammengeschlossen (es besteht aus den heutigen Staaten Kolwnbien, Ecuador und Venezuela). 1776 entsteht das Vizekönigreich Rio de la Plata aus den Provinzen Buenos Aires, Tucwnan, PotOS!, Santa Cruz de la Sierra und Charcas, anschließend werden die capitanias generales Cuba (1777) und Chile (1778) gebildet. 2. Entstehung neuer Staaten im 19. Jahrhundert a) Portugiesisches Kolonialgebiet

1807 fUhrt der vor Napoleons Truppen geflohene portugiesische König Johann VI. in Brasilien eine Reihe von Reformen durch, die den kolonialen Status des Gebiets beenden. 1815 wird Brasilien gleichberechtigter Teil des "Vereinigten Königreichs von Portugal, Brasilien und Algarve". 1822 erklärt sich Brasilien unter Kaiser Pedro 1., einem Sohn Johanns VI., fiir unabhängig. 1889 wird die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen. Boggs, 78; siehe auch Grewe, 276. Ireland, 324. Dazu mag auch die von 1581-1640 dauernde Personalunion zwischen Spanien und Portugal beigetragen haben, Ziegler, 146. 9 Ireland, 323f. 10 Alvarez, 66; Ayala, RDI VIII (1931), 441. 7

8

48

B. uti possidetis in Lateinamerika

b) Spanisches Kolonialgebiet in Südamerika

1810 erklärt sich die capitania general Venezuela fiir unabhängig. Nach längeren Kämpfen mit den spanischen Truppen kann die Unabhängigkeit mit dem Sieg bei Carabobo 1821 gesichert werden. Die Vizekönigreiche Rio de la Plata und Neugranada sowie die capitania general Chile schließen sich der venezulanischen Erklärung an. Chile erreicht 1818 durch den Sieg über die spanischen Truppen seine Unabhängigkeit als Republik. Nach der Vertreibung der spanischen und royalistischen Truppen erklären sich die "Vereinigten Staaten am Rio de la Plata" 1816 fiir unabhängig. Bereits zuvor, während des Befreiungskampfes, setzen Bürgerkriege ein, die nach der Unabhängigkeitserklärung Paraguays 1811 zu dessen Sezession fUhren. Die Sezession Uruguays fmdet mit dem Frieden von Montevideo 1828 ein erfolgreiches Ende. Die übrigen Provinzen der Vereinigten Staaten am Rio de la Plata vereinigen sich 1825 zu einer Konföderation, die in einen argentinischen Einheitsstaat mündet. Die Sezession der Provinz Buenos Aires von 1853 wird ein Jahr später beendet. Kolumbien als Teil Neugranadas wird 1819 durch Bolivar von der spanischen Herrschaft befreit und schließt sich im gleichen Jahr mit Venezuela zur Republik Großkolumbien zusammen. Dieser tritt Ecuador, die frühere audiencia de Quito, 1822 bei. 1830 zerfiillt Großkolumbien in die Staaten Neugranada, Venezuela und Ecuador. 1861 gibt sich Neugranada als "Vereinigte Staaten von Kolumbien" eine föderale Verfassung, die 1886 der Verfassung des Einheitsstaates Kolumbien weicht. Unter dem Druck der USA verliert Kolumbien 1903 die separatistische Provinz Panama, die sich als selbständiger Staat konstituiert. Das Vizekönigreich Peru erlangt nach schweren Kämpfen 1821 die Unabhängigkeit, auch wenn die letzten spanischen Truppen erst 1826 vertrieben werden können. 1825 erklärt sich das Hochland (Alto Peru) zur Republik Bolivien. Peru wird 1827 mit Bolivien zu einer kurzlebigen Föderation, die 1839 wieder zerbricht, vereinigt.

c) Spanisches Kolonialgebiet in Mittelamerika

1821 erreicht Mexiko als Teil des ehemaligen Vizekönigreiches Neuspanien seine Unabhängigkeit. Das geplante Königreich kann wegen innerer Unruhen nicht realisiert werden, 1823 wird die Republik ausgerufen. Mexiko verkauft 1830 den Südteil von Arizona an die USA. Nach einem Grenzkrieg mit den USA verliert es 1848 endgültig Texas, Oberkalifomien und New Mexico. 1823 trennt sich die capitania general Guatemala von Mexiko und bildet die Zentralamerikanische Föderation, die bereits 1839 infolge innerer Unruhen in

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11. Einfilhrung von uti possidetis zur Grenzregelung

die tUnf selbständigen Staaten Guatemala, EI Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica zerfällt. Die capitania general Cuba bleibt auch nach der Unabhängigkeit der spanischen Gebiete auf dem Festland spanische Kolonie, wird 1898 an die USA abgetreten und erlangt 1901 den Status einer Republik. Die westindischen Inseln hat Spanien im Laufe der Jahrhunderte an Großbritannien, Frankreich und die USA verloren.

11. Einf'ührung von uti possidetis zur Grenzregelung Der Kampf um die Freiheit gegen den gemeinsamen Feind Spanien kann die neuen Staaten Süd- und Mittelamerikas nur kurzfristig von den Problemen, die die Unabhängigkeit rur ihre gemeinsamen Grenzen mit sich bringt, ablenken. Nach der Vertreibung der spanischen Truppen wird das Thema der Grenzziehung zwischen den jungen Staaten akut. Zu seiner Bewältigung wird ein uti possidetis genannter Gedanke in die Überlegungen eingebracht. 1. Inhalt des lateinamerikanischen uti possidetis Das lateinamerikanische uti possidetis beruht auf einer rechtlichen Fiktion 11. Es besagt, daß das Territorium der neu entstandenen Staaten "etait fixe et limite par les anciennes divisions administratives en vigeur I'emancipation .. .'01 .

a I'epoche de

Damit werden die ehemaligen administrativen kolonialen Grenzen in ihrem Bestand zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit fiir unverletzlich und zu den neuen internationalen Grenzen dieser Staaten erklärt 13 . Als "critical date", d.h. als maßgeblichen Zeitpunkt fiir die Unabhängigkeit, wird allgemein das Jahr 1810 tUr die südamerikanischen und das Jahr 1821 filr die mittelamerikanischen Kolonien Spaniens genanne 4 . Einige Staaten berufen sich stattdessen auf das Datum ihrer tatsächlichen Unabhängigkeie s. Zur Bestimmung der Grenzen greift man hauptsächlich auf Dokumente zurück, die Anordnungen des spanischen Königs hinsichtlich der Gerichtsbarkeit Fauchille, I/l, 61. Fauchille, I/I, 61. I3 Bernardez, in: FS Zemanek, 425; Boggs, 79. 14 Cukwurah, 113; Hummer, EPIL 6 (1983), 60; Schaumann, in: Strupp/Schlochauer III, 483. 15 Accioly, 12; Sanchez de Bustamante y Sirven, 31; so z. B. Paraguay, das sich vehement gegen die FestIegung auf 1810 wendet und jedem Staat sein eigenes uti possidetis zugestehen will, siehe Sandelmann, 247. II

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4 Simmler

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B. uti possidetis in Lateinamerika

oder der territorialen Zuordnung von Gebieten zu bestimmten Vizekönigreichen o. ä. enthalten l6 .

2. Ziele des lateinamerikanischen uti possidetis Mit der Anwendung des uti possidetis-Prinzips verfolgen die lateinamerikanischen Staaten drei Zwecke: Primär sollen zwischen den neu konstituierten Staaten Grenzstreitigkeiten bis hin zu Grenzkriegen vermieden werden 17 • Damit wird versucht, die Einheit der kolonialen Gebilde zu erhalten und einer Zersplitterung entgegenzuwirken l8 . Gleichzeitig wird durch die Fiktion des uti possidetis die Existenz von terra nullius in Mittel- oder Südamerika geleugnee 9• Da diese Gebiete als der spanischen Monarchie direkt zugeordnet gegolten haben, sind die neuen Staaten als Rechtsnachfolger des spanischen Königs rechtlich Herr auf jedem Territorium des Kontinents, auch soweit es sich um noch nicht erforschtes und effektiv verwaltetes Gebiet handelfo. Damit kann dem Interesse anderer europäischer Mächte, sich auf süd- oder mittelamerikanischem Gebiet Kolonien zu erobern, auf rechtlicher Ebene begegnet werden21 • Schließlich erlaubt die Fiktion des uti possidetis die Annahme von territorialer Souveränität, ohne daß diese explizit übergeben werden müßte 22 • Im Schiedsspruch des Schweizerischen Bundesrates von 1922 zur Grenzziehung zwischen Kolumbien und Venezuela kommen diese Zielsetzungen deutlich zum Ausdruck: "Lorsque les Colonies espagnoles de I'Amerique centrale et meridionale se procIamerent independantes, dans la seconde decade du dix-neuvieme siecIe, e1les adopterent un principe de droit constitutionnel et international auquel elles donnerent le nom d'uti possidetis juris [sic!] de 1810, a I'effet de constater que les limites des Republiques nouvellement constituees seraient les frontieres des provinces espagnoles auxquelles e1les se substituaient. Ce principe general offrait I'advantage de poser en regle absolue qu'il n'y a pas, en droit, dans I'ancienne Amerique espagnole, de ter16 "Gesetze der Recopilaci6n de Indias; königliche Cedulas und Verordnungen; Ordonnanzen der Intendanten; diplomatische Urkunden Ober Grenzdemarkationen; amtliche Landkarten und Beschreibungen; im allgemeinen alle Dokumente amtlichen Charakters, die zur Auslegung und Durchfilhrung der besagten königlichen Verfilgungen verfasst [sic!] worden sind.", so die Aufzählung bei Sande/mann, 245, in Anlehnung an einen Schiedsgerichtsvertrag zwischen Bolivien und Peru vom 21. November 1901. 17 "Du point de vue des relations entre Etats, un long proces vaut mieux qu'une courte guerre", Lapradelle, 87; Aya/a, Dictionnaire Diplomatique, 1048; Cukwurah, 114. 18 Aya/a, RDI VIII (1931), 448. 19 ICI Reports 1992, 351 (387) (Land, Island and Maritime Frontier Dispute (EI Salvador/Honduras: Nicaragua intervening, ludgment); Bernardez, in: FS Zemanek, 425; Shaw, ICLQ 42 (1993), 933. 20 Arechaga, EPIL 6 (1983), 46; Cukwurah, I 13f.; Fauchille, 1/1, 61. 21 Arechaga, EPIL 6 (1983),46; Lapradelle, 78. 22 Arechaga, EPIL 6 (1983), 47; ebenso der Schiedsspruch des Schweizer Bundesrates zur Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela, RlAA Vol. 1,279.

11. Einführung von uti possidetis zur Grenzregelung

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ritoire sans maHre; bien qu'i1 existät de nombreuses regions qui n'avaient pas ete occupees par les Espagnoles et de nombreuses regions inexplorees ou habitees par des indigenes non civilises, ces regions etaient reputees appartenir, en droit, a chacune des Republiques qui avaient succede a la Province Espagnole a laquelle ces territoires etaient rattaches en vertu des anciennes ordonnances royales de la mere patrie espagnole. Ces territoires, bien que non occupes en fait, etaient d'un commun accord consideres comme occupes en droit, des la premiere heure, par la nouvelle Republique. Des empietements et des tentatives de colonisation intempestives de l'autre cöte de la frontiere, comme aussi les occupations de fait, devenaient sans portee ou sans consequences en droit. Ce principe avait aussi l'advantage de supprimer, on l'esperait, les contestations de limites entre les nouveaux Etats. Enfin, ce principe excluait les tentatives d'Etats colonisateurs europeens sur des territoires qu'i1s auraient pu chercher a proclamer res nullius. La situation internationale de I'Amerique espagnole etait, des le debut, entierement differente de celle de I'Afrique, par example. Ce principe a refi:u plus tard une consecration generale sous le nom de doctrine de Monroe, mais etait depuis longternps la base du droit public sud-americain. ,,23

3. Probleme bei der Anwendung von uti possidetis Bei dem Versuch, diese Ziele über die Anwendung des uti possidetis zu erreichen, stellen sich mehrere Probleme. Das größte Hindernis fiir eine gleichmäßige Anwendung des uti possidetis in ganz Lateinamerika besteht in der Tatsache, daß Brasilien als Nachfolger des portugiesischen Kolonialreiches in Südamerika nicht an die Rechtsakte der spanischen Monarchen, anband derer die Grenzen bestimmt werden sollen, gebunden isr4 . Dies fUhrt zu einer gesonderten Anwendung von uti possidetis durch Brasilien, auf die unten näher einzugehen ist. Ebensowenig fiihlen sich die europäischen Staaten, die Besitzungen in Mittel- oder Südamerika unterhalten (Großbritannien, Frankreich und die Niederlande), in der Grenzziehung an den Willen des spanischen Königshauses gebunden25 • Zudem erhebt sich die Frage, welche kolonialen Verwaltungsgrenzen als internationale Grenzen zu betrachten sind. In Betracht kommen die Grenzen der Vizekönigreiche, der capitanias generales oder der audiencias 26 ebenso wie die Untereinheiten der audiencia, die gobernaciones/gobiernos, alcaldias mayores, corregimientes und alcaldias ordinarias oder die kirchlichen Verwaltungseinheiten 27 . In der Praxis steht dem Zerfall der drei großen spanischen Vizekönigreiche in Südamerika (Neugranada, Peru, Rio de la Plata) in acht unabhängige RlAA, Vol. 1,225 (228). Cukwurah, 115; Hummer, EPIL 6 (1983),60; Hyde, 502; Sanchez de Bustamante y Sirven, 30; Vallado, in: Thesaurus Acroasium XIV, 143. 25 Arechaga, EPIL 6 (1983), 49; Kohen, RGDIP 97 (1993/94),943; Nelson, NedTIR 20 (1973),271; vgl. dazu unten unten Punkt 11.4 d. 26 Cukwurah, 114; Sanchez de Bustamante y Sirven, 30. 27 Maier, AJIL 63 (1969), 30. 23

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4'

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Staaten (Bolivien, Peru, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Argentinien, Paraguay, Uruguay) der Erhalt der capitania general Chile gegenübers. In MitteIamerika zerfällt das Vizekönigreich Neuspanien in sechs unabhängige Staaten (Mexiko, Guatemala, EI Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica). Brasilien dagegen kann seinen territorialen Bestand halten und bricht nicht entlang seiner Provinzgrenzen auseinander9 . Daneben treten Probleme bei der Bestimmung des tatsächlichen Verlaufs der Verwaltungsgrenzen auf. Wegen der Unwirtlichkeit des Geländes sind viele Grenzen nicht vermessen J O; die königlichen Ordern ergehen oft genug in völliger Unkenntnis der geographischen Lage und widersprechen sich daher nicht seltenJ1 . Außerdem existieren wegen der mangelnden Gebietskenntnis Territorien, die gar keiner Verwaltungseinheit zugeschlagen worden sind, weil man von ihrer Existenz nicht wußte 32 • Über diese mehr praktischen Punkte hinaus steht man vor der Schwierigkeit, daß in einem einheitlichen Kolonialreich feste Verwaltungsgrenzen nicht überall als nötig angesehen werden, solche also an einigen Stellen nur vage oder gar nicht definiert sindJJ . Auch kann sich die tatsächliche Verwaltungstätigkeit einer Gebietseinheit mit oder ohne Billigung des Souveräns in andere Verwaltungseinheiten ausdehnen, so daß faktische und rechtliche Grenzen nicht mehr übereinstimmenJ4 . Dadurch ergeben sich vier mögliche Typen von Grenzstreitigkeiten: Der Streit um eine gar nicht markierte Grenze, der Streit um die Rechtrnäßigkeit einer de facto existierenden Grenze, der Streit um die richtige von zwei vorgelegten Grenzmarkierungen sowie der Streit um die aktuelle physische Markierung einer in der Theorie akzeptierten GrenzeJ5 .

Ayala, RDI VIII (1931), 419. Ayala, RDI VIII (1931), 442. 30 Brownlie, Principles, 135; Hyde, 503; Ireland, 325. 31 Accioly, 12; Alvarez, RGDIP 10 (1903),651; Aya/a, Dictionnaire Diplomatique, 1048; Boggs, 80; Cukwurah, 115; Ire/and, 325; Ne/son, NedTIR 20 (1973), 269. 32 Aya/a, RDI VIII (1931), 441; Ire/and, 325; Sande/mann, 238. 33 Maier, AJIL 63 (1969), 36; Sande/mann, 233. 34 Boggs, 80; Cukwurah, 114; Hyde, 500. 35 Hummer, EPIL 6 (1983), 61. 28

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11. Einführung von uti possidetis zur Grenzregelung

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4. Anwendung von uti possidetis in lateinamerikanischer opinio iuris und Staatenpraxis a) "uti possidetis iuris" contra "uti possidetis de facto"

Anknüpfungspunkt fiir die lateinamerikanischen Überlegungen zur Grenzziehung nach Erlangen der Unabhängigkeit ist der Besitz an dem strittigen Gebiet. Die verschiedenen kolonialen Einflußsphären auf dem südamerikanischen Kontinent bringen es mit sich, daß von brasilianischer Seite in Nachfolge des portugiesischen Kolonialreiches eine andere Form von uti possidetis vertreten wird, als dies in den ehemaligen hispano-amerikanischen Kolonien der Fall ist. Brasilien geht zur Bestimmung seiner Grenzen vom Gedanken des uti possidetis de facto aus. Dieses stützt den Gebietsanspruch auf die tatsächliche Besitzausübung36 und stellt sich somit als eine Ausprägung der Gebietstitel der Okkupation, der Ersitzung sowie der Annexion dar37 . Da der Landgewinn Brasiliens auf Kosten der hispano-amerikanischen Gebiete vor der Ächtung der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung erfolgt, ist die Annexion in diesem Zusammenhang vollgültiger Gebietstitel. Angesichts der Tatsache, daß Brasiliens Landgewinne zu Lasten seiner acht hispano-amerikanischen Nachbarstaaten während der Zeit erfolgen, in der letztere mit Spanien um ihre Unabhängigkeit Kriege filhren, kann man die brasilianische Variante des uti possidetis ebenfalls als Ausprägung jenes frühen kriegsvölkerrechtlichen uti possidetis verstehen, das mit dem Schlagwort status quo post bellum bezeichnet wird 38 . Dem gegenüber wird das von den hispano-amerikanischen Staaten angewandte Prinzip als uti possidetis iuris bezeichnet. Es stellt anders als die brasilianische Variante nicht auf den tatsächlichen Besitz ab, sondern rückt das Recht zum Besitz in den Mittelpunkt der Streitschlichtung: "Pour fixer les frontieres, il n'y a pas d'autres titres valides que les actes du Gouvernement espagnol destines a etablir la juridiction politique des vice-royautes ou capitaineries generales qui comprenaient la division du Continent americain.,,39

36 "La possession pacifique et non troublee, independamment d'autres titres", Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 142; Accioly, IIf.; Nelson, NedTiR 20 (1973), 270. 37 Ayala, RDI VIII (1931), 456; Lapradelle, 87; Sandelmann, 242; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 143. 38 So z. B. ArlJchaga, Epil 6 (1983), 48; Ayala, Dictionnaire Diplomatique, 1047; Sandelmann, 241; vgl. dazu auch die Aussage der dominikanischen Regierung im Schlichtungsersuchen an den Papst im Zusammenhang mit dem Grenzstreit zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik: " ... the Dominican Govemment affirming that the uti possidetis of 1874 is not conventionally accepted nor established in the said Art. IV, because, in fact, by actual possessions, nothing else can be meant than what in law should belong to each of the two peoples, that is to say the uti possidetis to which the clause of Art. IV can reasonably refer, concems only the possessions determined by the status quo post bellum of 1856.", zit. nach Hyde, 50lf., Fn. 10. 39 Ayala, Dictionnaire Diplomatique, 1047.

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Diese Form des uti possidetis ist es wohl, die als "das" lateinamerikanische uti possidetis40 Einzug in die Rechtsprechung des IGH und das völkerrechtliche Schrifttum gefunden hat. Vor dem Hintergrund dieser beiden bereits in ihrer dogmatischen Anknüpfung unterschiedlichen Konzepte ist nunmehr zu untersuchen, ob sich die weithin behauptete Existenz einer lateinamerikanischen Sonderregel des Völkergewohnheitsrechts in Form des uti possidetis nachweisen läßt. Dazu ist zu prüfen, ob die zur Streitvermeidung und Streitschlichtung geäußerte opinio iuris der lateinamerikanischen Staaten von einer entsprechenden Staatenpraxis begleitet wird. b) GrenzJragen zwischen den Nachfolgestaaten des Spanischen Kolonialreichs in Lateinamerika

aa) opinio iuris Die opinio iuris der hispano-amerikanischen Staaten Lateinamerikas in Hinblick auf die Regelung ihrer offenen Grenzfragen läßt sich einmal den einzelnen Staatsverfassungen entnehmen, die diesem Kapitel zumeist in einem Artikel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Staatsverfassungen sind zwar nationale Rechtssätze; dennoch kann ihnen eine Aussage des Staates über seine völkerrechtlichen Standpunkte zu entnehmen sein, sofern sich die Verfassung nicht nur mit innerstaatlichen Regelungen befaßt. Einen weiteren Indikator liefern die internationalen bilateralen oder multilateralen Verträge, in denen die betroffenen Staaten ihre Grenzen abstimmen oder in denen sie die Arbeitsbedingungen rur ein mit der Klärung beauftragtes Schiedsgericht festlegen. Bei bilateralen Verträgen ist allerdings darauf zu achten, ob die getroffenen Regelungen als einem übergeordneten Prinzip folgend dargestellt werden. Die staatlichen Äußerungen in den Verfassungen sowie in internationalen Verträgen sind gleichzeitig Teil der Staatenpraxis; der Nachweis einer opinio iuris ist ohne Rückgriff auf den Äußerungen umfassenden Part der Staatenpraxis nicht zu fUhren 41 • (a) Aussagen zu Grenzfragen in den StaatsverJassungen

Der Gedanke des uti possidetis iuris findet besonders in den frühen Verfassungen der hispano-amerikanischen Staaten Ausdruck, auch wenn der Begriff

40 41

Auch "uti possidetis von 1810" (bzw. 1821) genannt. Dazu bereits oben Abschnitt (A.) Punkt V. 2 a.

11. Einführung von uti possidetis zur Grenzregelung

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selbst in kaum einer Verfassung ausdrücklich verwendet wird42 • So erklärt Art. V der venezulanischen Verfassung von 1830: "The territory of Venezuela comprises all that which, previously to the political changes of 1810, was denominated the Captain-Generalship ofVenezuela.... 1143

Auch die Verfassung der kurzlebigen Zentralamerikanischen Republik von 1824 fUhrt in ihrem Art. V aus: "The territory ofthe Republic is that which formerly composed the Ancient Kingdom of Guatemala, with the exception, for the present, of the Province of Chiapas. ,,44

In Art. I der Verfassung Salvadors von 1841 fmdetsich folgende Wendung: "Salvador is composed of the ancient provinces of San Salvador, Tonsonate, San Vincente, and San Miguel. ,,45

Auf ähnliche Formulierungen stößt man in Art. I der mexikanischen Verfassung von 1824, in Art. I der Verfassung von Nicaragua aus dem Jahre 1858, in Art. IV der honduranischen Verfassung von 1839 und in Art. 11 der Verfassung von Ecuador aus dem Jahre 186946 • (b) Regelung der GrenzJragen in zwischenstaatlichen Verträgen

Trotz der Festlegung auf das uti possidetis in vielen Verfassungen stehen bereits kurz nach der Unabhängigkeit der hispano-amerikanischen Kolonien fast alle Grenzen zwischen den neuen Staaten in Streit. Dabei sind alle vier der oben genannten Arten von Grenzkonflikten anzutreffen. Der Wunsch, nach den Befreiungskriegen weitere blutige Auseinandersetzungen zu vermeiden, läßt viele der betroffenen Staaten zum Mittel der Schiedsgerichtsbarkeit greifen, um die Grenzfragen zu lösen. Aus den zu diesem Zweck abgeschlossenen Schiedsgerichtsverträgen sowie aus anderen zwischenstaatlichen Verträgen, die Grenzfragen behandeln, läßt sich ersehen, ob das uti possidetis iuris die Rechtsüberzeugung der Neustaaten im internationalen Bereich widerspiegelt.

42 Hyde, SOl: Eine Ausnahme macht die Verfassung von Costa Rica. Sowohl in der Verfassung von 1848 ("the limits of the territory of the Republic are those of the uti possidetis of 1826") als auch in der von 1871 ("the limits ofthe territory ofthe Republic are as folIows: the Atlantic Ocean on the north, the Pacific on the south, next to the United States of Colombia, those of the uti possidetis of 1826, and next to Nicaragua those fixed by the Treaty of April 15, 1858") wird das Prinzip ausdrücklich erwähnt. 43 Zit. nach Hyde, 499. 44 Zit. nach Hyde, 499. 45 Zit. nach Hyde, 499. 46 V gl. Hyde, 499 Fn. 6.

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B. uti possidetis in Lateinamerika

(aa) Schiedgerichtsvereinbarungen In den Schiedsgerichtsverträgen kommen die streitenden Parteien überein, den Grenzverlauf zur endgültigen Regelung einem Schiedsrichter oder Schiedsgericht anzuvertrauen. Dabei setzen sie vertraglich den Rahmen, innerhalb dessen der Schiedsrichter Entscheidungsfreiheit besitzt. Wenn das uti possidetis iuris die beherrschende Maxime der Grenzregelung in Lateinamerika ist, müßte sich eine Festlegung der jeweiligen Schiedsrichter auf den Willen des spanischen Souveräns, soweit dieser erkennbar ist, aus den Verträgen ergeben. Der Freundschaftsvertrag zwischen Argentinien und Chile von 1855 faßt die Grenzfrage in die Schiedsgerichtsklausel in Art. XXXIX: "Both contracting parties recognize as the limits of their respective territories those which they possessed as such at the time of their separation from the Spanish dominion in 1810, and they agree to reserve the questions which have arisen, or may hereafter arise upon this matter, in order to discuss them pacifically and amicably afterwards, without ever having recourse to violent measures, and in case a complete settlement shall not be arrived at, to submit the decision to the arbitration of a friendly nation.,,47

Diese Grenzbestimmung wird im Grenzvertrag von 1881 zwischen den beiden Staaten in der Präambel wieder aufgenommen48 • Im Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen Bolivien und Chile von 1895 findet sich folgende Schiedsgerichtsklausel (Art. IV): "Should any difference arise with reference to the boundary line between the two countries, there shall be appointed by the high contracting parties a committee of engineers to proceed to the demarcation of the frontier line, determined by the points enumerated in Article I of the present treaty. In a Iike manner they shall proceed to reestablish the landmarks which exist, or to fix those that may be necessary on the traditional boundary between the ancient Department, at present Chilean province of Tarapaca, and the Republic of Bolivia. If unfortunately there should occur between the engineers charged with the demarcation any disagreement wh ich cannot be settled by the direct action of the governments, the question shall be submitted to the decision of a friendly power. ,,49

In Art. II des Zusatzprotokolls zur Grenzkonvention zwischen Bolivien und Peru von 1886 existiert dagegen nur ein indirekter Hinweis auf die uti possidetis iuris-Praxis: " ... Having concluded, with respect to each section of boundaries, the corresponding studies of the titles and proofs of dominion, possession and use .. .',50

47 Zit. nach Hyde, 500 Fn. 7. 48 Hyde, 500 Fn. 7. 49 Zit. nach Manning, 232f. 50 Zit. nach Manning, 162.

11. Einfiihrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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Jedoch wird fiir das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten die Verständigung auf das uti possidetis iuris im Art. I des Schiedsgerichtsvertrags von 1902 ganz deutlich: "The high contracting parties submit to the judgment and decision of the Govemment of the Argentine Republic, in the quality of lawful arbitrator, the question of the limits pending between the two republics, with the object of obtaining adefinite decision admitting of no appeal, according to which aU the territory which in 1810 pertained to the jurisdiction or province of the ancient court of Charcas within the bounds of the Viceroyalty of Buenos Aires by acts of the former sovereign shaU belong to the Bolivian Republic; and aU the territory which at this same time and by similar acts pertained to the Viceroyalty of Lima shaU belong to the Peruvian Republic.,,51

Indirekt wird das uti possidetis iuris auch in der Präambel der "Zusätzlichen Schiedsgerichtskonvention über alle Grenzfragen" von 1886 zwischen Kolumbien und Costa Rice angesprochen: " ... considering

2. That it will be in the interests of both republics to continue there the proposed ar-

bitral proceedings, because of the fact that in the archives of Spain are to be found the greater number of the original documents that will have to be made use of in order to prove effectuaUy, and with fuU knowledge of the causes, the pending question of boundaries; ... ,,52

Einer der wenigen Schiedsgerichtsverträge, in dem das uti possidetis iuris direkt erwähnt wird, ist der "Treaty for arbitration of the boundary according to the principle uti possidetis juris [sie!] of 1810" von 1881 zwischen Kolumbien und Venezuela: "The United States of Colombia and the United States of Venezuela, ... , in order to arrive at an exact legal delimitation of the territory such as existed by the ordinances of their ancient common sovereign, and either party having produced as proof for so long aperiod aU the titles, documents, proofs and authorities existing in their archives in repeated negotiations, without having been able to come to an agreement as to their respective right or uti possidetis juris [sic!] of 1810, ... have agreed on the following articles: Article I The said high contracting parties submit to the judgment and decision ofthe govemment of His Majesty the King of Spain, in the capacity of arbitrator and umpire, the points of difference in the said question of boundaries, in order to obtain adefinite decision, ... , in accordance with which aU the territory appertaining to the jurisdiction of the ancient Captaincy General of Caracas by royal decrees of the ancient sovereign down to 1810, shaU continue to be in the territorial jurisdiction of the Republic of Venezuela, and aU that territory which by similar decrees and at that date belonged to the Vice-Royalty of Santa Fe, shaU continue to be the territory ofthe existing republic caUed the United States ofColombia.,,53

51 Zit. nach Manning, 334f. 52 Zit. nach Manning, 155f. 53 Zit. nach Manning, 127f.

B. uti possidetis in Lateinamerika

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In einem nachfolgenden Vertrag von 1886, der durch den Tod des Schiedsrichters, König Alfonso XII., nötig wird, bestätigen die beiden Staaten diese Positions 4 • Die "Convention for the arbitration of a boundary dispute" von 1895 zwischen HaitiSS und der Dominikanischen Republiks6 ist insofern von besonderem Interesse, als in ihr die konträren Ansichten der beiden Staaten zum Begriff des uti possidetis deutlich werden. Haiti vertritt die Position, daß das uti possidetisPrinzip die tatsächliche Besitzlage im Augenblick des Vertrags schlusses schützt57, während die Dominikanische Republik auf die Besitzungen abstellt, die sich auf eine Rechtsgrundlage stützen können. Als Rechtsgrundlage wird jedoch der status quo post bellum angefilhrt, nicht die Akte des früheren spanischen Souveräns. In Art. VI des Grenzschlichtungsvertrags zwischen Guatemala und Honduras von 1895 dagegen wird auf die klassische Ausprägung des uti possidetis iuris Bezug genommen: "In order to pursue the proper course, the contracting governments, after the mixed commission shall have presented their report, shall give their consideration to the observations and studies of said commission, and the Iines marked in public documents not contradicted by others ofthe same nature and of greater force, giving to each the value corresponding to it according to its antiquity and juridical efficacy; the extent of the territory which formed the ancient provinces of Guatemala and Honduras at the date of their independence; the dispositions of the Royal Ordinance of Intendants which then ruled; and, in general, all documents, maps, plans, ect., which may lead to clearing up the truth, preference being given to those which by their nature should have greater force owing to their antiquity, or being more clear, just, or impartial, or for any other such good reason according to the principles of justice. Possession shall only be considered valid so far as it is just, legal, and weil founded, in conformity with general principles of equity, and with the rules of justice sanctioned by the laws of nations. ,,58

In kürzerer Fassung taucht dieser Gedanke ebenfalls in Art. 11 des Grenzschlichtungsvertrags zwischen Honduras und Nicaragua von 1894 auf: (I) Boundary Iines regarding which the two republics may be in agreement, or with

Vgl. dazu Manning, 157. Haiti als ehemalige französische Kolonie ist zwar kein hispano-amerikanischer Staat, wird hier jedoch in diesem Rahmen behandelt, weil es sich in seinen Grenzkonflikten entsprechend der hispano-amerikanischen (schiedsgerichtsorientierten) Linie verhält. 56 Siehe Fn. 38. 57 " ... affirming that the uti possidetis of 1874 is the principle which has been conventionally accepted and established for the demarcation of our boundary Iines; that, in fact, the term actual possessions means the possessions occupied at the time of the signing ofthe treaty;", zit. nach Manning, 236. 58 Zit. nach Manning, 223f 54

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regard to which neither of them may raise objections, shall constitute the boundary between Honduras and Nicaragua. (2) Boundary Iines traced in public documents which are not contradicted by other public documents of higher authority shaIl Iikewise constitute the boundary between Honduras and Nicaragua. (3) It is understood that each republic has title to the territory which constituted the respective domain ofHonduras and Nicaragua at the date oftheir independence. (4) In determining the boundary line the mixed commission shall be guided by due proof of sovereignty and shall not attribute any le§al value to the fact of actual possession alledged by one or the other ofthe parties." 9

Der Grenzschlichtungsvertrag zwischen Honduras und Salvador von 1895 trifft in gleichem Wortlaut dieselben Anordnungen fiir die Grenzziehung zwischen diesen beiden Staaten60 • Diesen elf Beispielen stehen bis 1910 3761 andere Schiedgerichtsverträge über Grenzfragen gegenüber, in denen weder direkt noch indirekt auf das uti possidetis-Prinzip eingegangen wird62 • Ein abweichungsfrei einheitliches Verhalten aller hispano-amerikanischen Staaten im Hinblick auf Schiedsgerichtsklauseln in Grenzstreitigkeiten ist also nicht nachzuweisen. Es ist jedoch eine Tendenz ersichtlich, dem uti possidetis in seiner Ausprägung als uti possidetis iuris einen gewissen Stellenwert einzuräumen. (bb) Freundschaftsverträge und ähnliche Auch wenn es über den Grenzverlauf nicht zu Streitigkeiten kommt, werden Verträge abgeschlossen, die zu Grenzfragen Stellung beziehen. Besonders in den frühen Freundschafts- und Beistandsverträgen der Neustaaten müßte den Grenzfragen aufgrund ihrer stabilisierenden Wirkung auf die noch jungen Staaten ein bedeutender Platz eingeräumt worden sein. Der Allianzvertrag zwischen Peru und Chile von 1823 beinhaltet z.B. folgenden Art. IX: "For greater security of payment, the Government of Peru pledges in favor of the State of Chile, first the sums received from the cited loans contract of London in favor ofPeru, and subsidiarily all the fiscal income ofthe Peruvian Republic, including all the extent of its territory as it was under the Spanish dominion, comprised in the ancient Viceroyalty ofPeru in January 1810.,,63

Zit. nach Manning, 212. Siehe dazu Manning, 217. 6\ Von denen jedoch neun mit nicht hispano-amerikanischen Staaten (USA, Brasilien) abgeschlossen wurden. 62 Auswertung der Schiedsgerichtsverträge in Manning. 63 Zit. nach Hyde, 499 Fn. 7. 59

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Im "Treaty of Union, League and Perpetual Confederation" zwischen Kolumbien und der Zentralamerikanischen Republik von 1825 fmdet sich eine gegenseitige Grenzgarantie auf der Grundlage des uti possidetis iuris in Art. V: "Both contracting parties mutually guarantee the integrity of their respective territories against the claims and invasions of the subjects of the King of Spain, and his adherents, on the same footing as they existed before the present war of independence.,,64

Ähnlich formuliert Art. VIII des "Treaty of Union, League and Confederation" von 1823 zwischen Kolumbien und Mexico: "Both parties mutually guarantee the integrity of their territories on the footing on which they stood before the present war [ofIndependence], also recognizing as integral parts of either nation, every province which, though forrnerly governed by an authority entirely independent ofthe late Viceroyalties ofMexico and New Granada, may have agreed or shall agree in a lawful manner to become incorporated with it. ,,65

Im Art. V des Friedensvertrages von 1829 zwischen Kolumbien und Peru heißt es: "Both parties recognize as the limits of their respective territories those that the ancient Viceroyalties of New Granada and Peru held before their independence, with only the variations that they judge convenient to accord between themselves, with which object they obligate themselves to make reciprocally those small concessions of territory that will contribute to fixing the dividing line in a manner more natural, more exact, and capable of preventing disputes between the authorities and inhabitants of the frontiers. ,,66

In dem aus von Grenzproblemen unabhängigen Gründen nicht in Kraft getretenen Konföderationsvertrag von 1848 zwischen Neugranada, Chile, Bolivien und Peru besagt Art. VII: "The confederated Republics declare that they have a perfect right to the conservation of the limits of their territories as they existed at the time of the independence from Spain, those of the respective Vicero~alties, captaincies-general or presidencies into which Spanish Arnerica was divided." 7

Auffallig an diesen Beispielen ist, daß zwar der Inhalt des uti possidetis iuris in immer gleichlautenden Formeln wiedergegeben wird, es zu einer Verwendung des terminus technicus jedoch meistens nicht kommt68 . Dies könnte 64 Zit. nach Hyde, 499 Fn. 7. 65 Zit. nach Hyde, 500 Fn. 7. 66 Zit. nach Hyde, 500 Fn. 7. 67 Zit. nach Hyde, 500 Fn. 7. 68 Eine Ausnahme stellt hier der "Treaty of Peace, Friendship and Alliance" von 1860 zwischen Ecuador und Peru dar, der in seinem Art. VI folgenden Satz beinhaltet: "In the meantime they [Ecuador and Peru] accept for such boundaries those which arose from the uti possidetis acknowledged in Art. V of the Treaty of September 22, 1829, between Colombia and Peru, and which were those of the ancient Viceroyalties of Peru and Santa Fe, according to the Royal Cedula of July 15, 1802." (zit. nach Hyde, 501 Fn. 10). Dieser Vertrag wird jedoch vom peruanischen Kongreß abgelehnt und tritt nicht in Kraft.

11. Einfiihrung von uti possidetis zur Grenzregelung

61

daraufhinweisen, daß der Begriff uti possidetis bereits zu dieser Zeit im lateinamerikanischen Raum mit mehreren Bedeutungen belegt ist, so daß eine Umschreibung des Inhalts als besseres Mittel angesehen wird, Mißverständnisse und divergierende Auslegungen einer Vertragsbestimmung zu vermeiden. Den angefiihrten Klauseln der Freundschaftsverträge ist zu entnehmen, daß der Gedanke des uti possidetis als Leitprinzip zur Grenzregelung Rückhalt in der Rechtsüberzeugung vieler lateinamerikanischer Staaten besitzt. bb) Staatenpraxis Die tatsächliche Umsetzung der Schiedsgerichtsverträge respektive die reale Grenzziehung zwischen den hispano-amerikanischen Staaten muß zeigen, ob die in den vertraglichen Äußerungen erkennbare Tendenz, das uti possidetis in der Ausprägung als uti possidetis iuris als entscheidend filr die Grenzbestimmung anzusehen, ihren Niederschlag in einer entsprechenden Staatenpraxis fmdet. (a) Argentinien

Argentinien beruft sich in seinem Grenzstreit mit Bolivien zwar auf die Ausmaße des früheren Vizekönigreiches vom Rio de la Plata69 ; aufgrund der Unmöglichkeit, dessen nördliche Grenzlinie anband der Dokumente entsprechend dem uti possidetis iuris zu bestimmen, kommt es zu einer Grenzregelung, bei der der kleinere Partner Bolivien auch auf Territorium verzichten muß, dessen Zugehörigkeit zu Bolivien vorher nicht umstritten war70 . Vergleichbare Probleme ergeben sich bei der Umsetzung des Freundschaftsvertrages zwischen Argentinien und Chile, so daß in zwei strittigen Grenzgebieten (Los Andes und Patagonia) das uti possidetis iuris einem Rückgriff auf praktisch erkennbare natürliche Grenzen (Wasserscheide durch die höchste Bergkette) weichen muß 7l . Im Grenzstreit um den Beagle Channel ergeht erst 1978 ein Schiedsspruch; in diesem wird weitgehend zugunsten Chiles entschieden. Argentinien erkennt die Entscheidung nicht an; der Streit schwelt weitern. Ein päpstlicher Schiedsspruch aus dem Jahre 1980, der ebenfalls Chile begÜD-

Ireland, 10. Ireland, 5f. 7\ Ayala, Dictionnaire Diplomatique, 1049; Ireland, 17ff., 20ff.; Lapradelle, 84. Siehe auch Oellers-Frahm, EPIL 2 (1981), 24-26, zu den Streitigkeiten in der Zeit zwischen dem Schiedsentscheid von 1902 und dem von 1969. 72 Oellers-Frahm, EPIL 2 (1981), 34-36 m. w. N.; zu dem nicht umgesetzten Invasionsplan Argentiniens aus dem Jahre 1978 siehe Sanfuentes, in: Danchev, 67ff. 69

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B. uti possidetis in Lateinamerika

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stigt, entschärft die Lage nicht73 • Erst 1985 schließen Argentinien und Chile einen Vertrag zur endgültigen Regelung der Grenzfrage; er trägt Kompromißcharakter74 • Die Grenze Argentiniens zu Paraguay, das sich als ehemalige Provinz des Vizekönigreiches vom Rio de la Plata erst nach der Unabhängigkeit des späteren Argentiniens in einem Bürgerkrieg von diesem trennt, ist zum Sezessionszeitpunkt zwar auf dem Papier durch die alte Provinzgrenze bestimmt. Da diese Grenze (ein Fluß, der Rio Pilmacayo) zu dieser Zeit jedoch eine unbekannte Größe in der Geographie Südamerikas ist und sich nicht vermessen läßt, erweist es sich als nötig, durch einen Schiedsrichter einen anderen, in seinem Verlauf bekannten Fluß als Grenze bestimmen zu lassen7S. Auch Uruguay spaltet sich als ehemalige Provinz Montevideo von Argentinien als Nachfolger des Vizekönigreiches vom Rio de la Plata nach der Unabhängigkeit ab. Seine Grenze zu Argentinien wird ohne Rückgriff auf das uti possidelis iuris in der Mitte des Rio de la Plata und des Rio Uruguay als der natürlichen Grenze gezogen 76.

(b) Bolivien

Bolivien regelt seine Grenze zu Chile 1866 zuerst unter Nichtbeachtung des uti possidetis iuris77 • Nachdem es zwischen den beiden Staaten zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen war, betrachtet Chile die (für es bereits positive) Grenzregelung als gegenstandslos und eignet sich weitere Gebiete Boliviens (darunter die gesamte Küste) auf der Basis der Annexion als Gebietstitel an78 • Der Streit um die Grenze mit Paraguay filhrt Bolivien in einen der wenigen internationalen Kriege auf dem südamerikanischen Kontinent nach 1810: Beide Staaten kämpfen um den Besitz des Gran Chaco-Gebiets. Bolivien, das seinen Anspruch auf das 115.000 Quadratmeilen große Territorium über das uti possidetis iuris der früheren audiencia de Charcas begrilndee9 , erleidet eine vernichtende militärische Niederlage. Paraguay erhält im Schiedsgerichtsverfahren vor dem Permanent Court of Arbitration in Den Haag nach dem Friedensschluß

Gamba-Stonehouse, in: Danchev, 116; Lankosz, EPIL 12 (1990),55. Lankosz, EPII 12 (1990),55. 75 Ireland, 34. 16 Hummer, EPIL 6 (1983),63; Ireland, 34ft'. 77 Ireland, 55. 78 Hummer, EPIL 6 (1983), 63; Ireland, 65f. 19 Cukwurah, 115; Hackworth, I, 754; Ireland, 66; Meyer-Lindenberg, EPIL 2 (1981), 120. 13

74

11. Einführung von uti possidetis zur Grenzregelung

63

von 1938 den Großteil des (von ihm inzwischen eroberten) Gebiets zugesprochen80 • Boliviens Grenze mit Peru möchten beide Staaten nach dem uti possidetis iuris bestimmt wissen81 • Der Schiedsrichter (i. e. die argentinische Regierung) sieht sich jedoch mangels Beweisen und nachvollziehbaren Markierungen nicht in der Lage, diese Grenze zwischen der audiencia de Charcas und dem Vizekönigreich Peru von 1810 zu bestimmen82 . Der von ihm daraufhin ausgesprochene Kompromiß erweist sich als so unbrauchbar, daß Peru und Bolivien ihre Grenze in einzelnen Vereinbarungen von ihm abweichend festlegen 83 . (c) Chile

Chile oktroyiert Peru nach dessen Niederlage im Pazifischen Krieg eine nachteilhafte Grenze, durch die Peru die Provinz von Tarapaca auf Dauer verliert84 . Über die auf Zeit besetzten Provinzen Tacna und Arica kommt es nach Ablauf der vereinbarten Besatzungsfrist zum Streit, der durch eine vertragliche Übereinkunft beendet wird: Chile gibt die Provinz Tacna zurück, woraufhin Peru seinen Anspruch auf Arica aufgibt85 • (d) Ecuador

Ecuador und Peru verweisen zur Grenzregelung im strittigen Oriente-Gebiet auf das uti possidetis iuris entsprechend einer königlichen cedula von 180286 • Im Streit ist hier die Zugehörigkeit eines Gebietes von ca. 120.000 Quadratmeilen87 • Ecuador bestreitet, daß mit der cedula eine Gebietsveränderung zugunsten des Vizekönigreiches Peru vorgenommen wurde, während Peru in der Übertragung der Jurisdiktion über das streitige Gebiet an das Vizekönigreich auch eine Gebietsübertragung sieht88 • Im Vertrag von Guayaquil aus dem Jahre 1829 wird eine Grenzlinie festgelegt, die sich zwar an zwei cedulas von 1717 und 1739 orientiert, durch Intervention Perus jedoch eine diesem günstigere

Meyer-Lindenberg, EPIL 2 (1981), 121; Plötz, 1793. Siehe oben Schiedsgerichtsvertrag von 1902 (Fn. 51). 82 Cukwurah, 194; Hackworth, I, 727; Ireland, 105; Sandelmann, 245f. 83 Ayala, Dictionnaire Diplomatique, 1049; Hackworth, I, 728; Ireland, 109; Lapradelle, 86. 84 Hackworth, I, 745. 8S Hackworth, I, 749; Hummer, EPIL 6 (1983), 63; Ireland, I 73ff. 86 Ireland, 221; Woolsey, AJIL 25 (1931), 330. 87 Ireland, 229f. 88 Maier, AJIL 63 (1969), 35. 80 81

B. uti possidetis in Lateinamerika

64

natürliche Linie (den Fluß Maran6n) wählt89 . Diese Linie wird allerdings nicht markiert90 ; es kommt zu weiteren, auch bewaffneten Auseinandersetzungen um den Grenzverlauf. 1942 wird auf Drängen der USA, Brasiliens und Argentiniens der Vertrag von Rio zwischen dem militärisch siegreichen Peru und dem unterlegenen Ecuador abgeschlossen, der Peru zwei Drittel des OrienteGebietes zugesteht91 . Ecuador hält diesen Vertrag filr erzwungen und ist nicht bereit, ihn als abschließende Regelung zu akzeptieren92 . Anfang 1995 flammen die Kämpfe auf einem Abschnitt von ca. 80 km, der aufgrund der ungenauen Angaben im Vertrag nicht hatte markiert werden können93 , wieder auf4 • Bereits in den siebziger und achtziger Jahren war es in diesem Gebiet zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Nach einigen Wochen einigen sich Ecuador und Peru 1995 darauf, in diesem Grenzabschnitt eine entmilitarisierte Zone zu schaffen95 . Die Grenzziehung bleibt damit weiter ungeklärt96 . Kolumbiens Grenzstreit mit Ecuador basiert auf dem von Ecuador mit dem uti possidetis iuris der audiencia de Quito begründeten Territoriumsanspruch97 . Auch diese Grenze erweist sich als nicht bestimmbar, so daß es 1916 zu einer vertraglich ausgehandelten Grenzregelung kommt, die rur das stärkere Kolumbien den größeren Territoriumsgewinn bringt98.

(e) Kolumbien Die strittigen Grenzgebiete zwischen Kolumbien und Peru (Loreto und Leticia) sollen nach dem Willen der Parteien nach dem uti possidetis iuris verteilt werden99 . Es stellt sich jedoch heraus, daß die Grenze zwischen den zwei ältesten südamerikanischen Vizekönigreichen (Peru und Neugranada) wegen der vielen Veränderungen in ihrem Gebiet nicht mehr abzustecken ist 100. Nach dem Ausbruch von Feindseligkeiten gelingt 1922 eine vertragliche Grenzregelung, die nach weiteren Auseinandersetzungen unter den Auspizien des Völkerbundes 1933 durchgesetzt wird lO1 . Maier, AJIL 63 (1969), 38. Maier, AJIL 63 (1969), 40. 91 Maier, AJIL 63 (1969),43. 92 Maier, AJIL 63 (1969),44. 93 Fastenrath, FAZ vom 13. März 1995. 94 Gester, FAZ vom 31. Januar 1995. 9S FAZ vom 18. Februar 1995; FAZ vom 25. Juli 1995. 96 Vgl. KRWE 1996,40995. 97 Ireland, 184. 98 Ireland, 183f. 99 Ire land, 185. 100 Ire land, 206. 101 Hackworth, I, 753; Hummer, EPIL 6 (1983), 61; Ireland, 205f 89

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11. Einfiihrung von uti possidetis zur Grenzregelung

65

Zwischen Kolumbien und Venezuela, die zur Bestimmung ihrer Grenzen ausdrücklich auf das uti possidetis iuris von 1810 abstellen 102, sind zwei Grenzgebiete (Goajira-Guainia, Arauca-Yavita) im Streit. In beiden Fällen zeigt es sich, daß eine Markierung der uti possidetis iuris-Linie praktisch unmöglich ist 103 • Trotz mehrerer Schiedsverfahren, unter denen der Schiedsspruch des Schweizer Bundesrates von 1922 der bekannteste ist 104, können die Grenzfragen nicht als vollständig gelöst betrachtet werden: Insbesondere über die territoriale Zugehörigkeit der Islas Monjes besteht weiterhin Uneinigkeit lO5 • Zwischen Kolumbien und Nicaragua wird die Zugehörigkeit von diversen Inselgruppen (Com Islands, San Andres-Archipelago), die lange Zeit umstritten war, durch einen Vertrag von 1928 festgelegt. Ein Rückgriff auf Gebietstitel aus der Kolonialzeit durch Kolumbien hinsichtlich der Com Islands bleibt ohne Erfolg; Nicaragua erhält die zwei Inseln zugesprochen, erkennt dafllr allerdings Kolumbiens Souveränität über das San Andres-Archipelago an 106. Nach dem Sturz der Somoza-Regierung durch die Sandinisten wird die Frage des Archipels 1979/1980 von Nicaragua wieder aufgeworfen, Kolumbien weist dies unter Hinweis auf den Vertrag und das uti possidetis zurück lO7 • Panama tritt nach seiner Unabhängigkeit 1903 anstelle Kolumbiens in dessen Grenzstreit mit Costa Rica ein. Der Streit zwischen Costa Rica und Kolumbien war bereits 1900 einem Schiedsspruch durch den französischen Präsidenten unterworfen worden lO8 , welchen Costa Rica wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Schiedsmandat nicht akzeptieren wollte 109. 1910 wird der Konflikt dem Chief lustice des US-amerikanischen Supreme-Court vorgelegt, der den Spruch des französischen Präsidenten zugunsten Costa Ricas ändert; dieser Schiedsspruch wird nur aufgrund von massivem Druck der USA praktisch umgesetzt 110.

(f) Nicaragua

Costa Ricas Grenze zu Nicaragua entspricht aufgrund eines Aktes der Zentralamerikanischen Republik von 1825 nicht dem uti possidetis iuris von 1821: Der Distrikt Nicoya, der 1821 im Augenblick der Unabhängigkeit zur Provinz Siehe oben Schiedsgerichtsvertrag von 1881 (Fn. 53); Sande/mann, 238. Cukwurah, 192; Ire/and, 214, 218; Sande/mann, 238; Scott, AJIL 16 (1922), 429. 104 Auszug siehe Fn. 23. 105 Hummer, EPIL 6 (1983), 64. 106 Woo/sey, AJIL 25 (1931), 329. 107 Hummer, EPIL 6 (1983),64. 108 Cukwurah, 209; Hummer, EPIL 6 (1983), 62; Woo/sey, AJIL 25 (1931), 329. 109 Cukwurah, 209; Hackworth, I, 729; Woo/sey, AJIL 25 (1931), 329. 110 Cukwurah, 21Of.; Hackworth, I, 729-732; Hummer, EPIL 6 (1983),62. 102

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5 Simmier

B. uti possidetis in Lateinamerika

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Nicaragua gehört, wird Costa Rica zugeschlagen, wo er auch nach dem Zerbrechen der Zentralamerikanischen Republik verbleibell. Der Streit um diese Provinz wird im Grenzvertrag von 1858 zugunsten Costa Ricas entschieden; Nicaragua bestreitet im folgenden jedoch die Gültigkeit des Vertrages. Der Präsident der USA verfUgt als Schiedsrichter 1888, daß der Grenzvertrag gültig und von Nicaragua zu beachten sei ll2 . Honduras befmdet sich mit Nicaragua im Streit über den Grenzverlauf an der Atlantikseite der Länder. Beide Staaten berufen sich auf das uti possidetis iuris; der Schiedsspruch des spanischen Königs von 1906, der iri eirier auf Billigkeitserwägungen (equity) gestützten Entscheidung den Anspruch Honduras' anerkennt 113 , wird von Nicaragua nicht angenommen 1l4 • 1957 wird der Fall dem IGH zur Entscheidung vorgelegt; dieser weist die Kritik Nicaraguas an dem Schiedsspruch zurück und erklärt Nicaragua fUr an den Spruch gebunden 1l5 •

(g) Honduras Der Grenzkonflikt zwischen Honduras und Guatemala wird nach langem Streit ll6 auf der Basis des uti possidetis iuris von 1821 dem International Central American Tribunal zur Entscheidung vorgelegtll7. Aus den Schriftsätzen der Parteien geht eiri völlig unterschiedliches Verständnis des Begriffes uti possidetis hervor: So stellt Honduras reiri auf die Existenz entsprechender spanischer Dokumente ab, während Guatemala sich auf "the bare factual situation that presented itself in 1821, regardless of any other considerations" bezieht 1l8 . Das Tribunal kommt iri diesen Zusammenhang zu dem Ergebnis, daß keine Eiriigkeit unter den hispano-amerikanischen Staaten über den Inhalt des Begriffes uti possidetis besteht und legt diesen deshalb iri Hiriblick auf die V orgeschichte des Streites aus: "The Treaty of 1930 is a new agreement which makes no mention of the earlier and unsuccessful efforts at settlement and must stand on its own footing. The expression "uti possidetis" undoubtedly refers to possession. It makes possession the test. In deHyde, 507, Fn. 21. Moore, Arbitrations 11, 1965. 113 Cukwurah, 211; Woolsey, AJIL 25 (1931), 327; Wühler, EPIL 2 (1981),131. 114 Cukwurah, 21lf; Wühler, EPIL 2 (1981), 131. 111

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115 ICJ Reports 1960, 191 (213) (Case Conceming the Arbitral Award Made by the King of Spain on 23 December 1906, Judgment). 116 Zum genauen Ablauf der verschiedenen Streitigkeiten und Schlichtungsversuche vgl. Fisher, AJIL 27 (1933), 403ff. 117 Cukwurah, 196; Hummer, EPIL 6 (1983), 63; Woolsey, AJIL 25 (1931), 327. 118 Fisher, AJIL 27 (1933), 417; Hackworth, I, 739; KlabberslLefeber, in: Peoples, 55.

11. Einfiihrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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terrnining in what sense the parties referred to possession, we must have regard to their situation at the moment the colonial regime was terrninated. They were not in the position of warring states terrninating hostilities by accepting the status of the territory on the basis of conquest. Nor had they derived rights from different sovereigns. The territory of each party had belonged to the Crown of Spain. The ownership of the Spanish monarch had been absolute. In fact and law, the Spanish monarch had been in possession of all the territory of each. Prior to independence, each colonial entity being simply a unit of administration in all respects subject to the Spanish King, there was no possession in fact or law, in a political sense, independent ofhis possession. The only possession of either colonial entity before independence was such as could be ascribed to it by virtue of the administrative authority it enjoyed. The concept of "uti possidetis of 1821" thus necessarily refers to an administrative control which rested on the will ofthe Spanish Crown. For the purpose of drawing the line of "uti possidetis of 1821" we must look to the existence of that administrative contro!. Where administrative control was exercised by the colonial entity with the will ofthe Spanish monarch, there can be no doubt that it was ajuridical control, and the line drawn according to the limits ofthat control would be ajuridicalline. If, on the other hand, either colonial entity prior to independence had asserted administrative control contrary to the will of the Spanish Crown, that would have been mere usurpation, and as, ex hypothese, the colonial regime still existed and the only source of authority was the Crown (except during the brief period of the operation of the Constitution of Cadiz), such usurpation could not confer any status of "possession" as against the Crown's possession in fact and law."l\9

Das Schiedsgericht berücksichtigt in seinem Spruch daher nicht ausschließlich die vorgelegten spanischen Dokumente, die sich zudem teilweise widersprechen, sondern auch unwidersprochenen Besitz der einzelnen Parteien und unwidersprochen geltend gemachte Ansprüche, wie z. B. die Grenzdefmition in der guatemaltekischen Verfassung l20 • Damit gelingt ihm die Defmition von ca. der Hälfte der Grenze auf der Grundlage des von ihm mit einer eigenen Bedeutung versehenen uti possidetis von 1821 l2l . Die restliche Grenze setzt es aufgrund einer großzügigen Auslegung der ihm durch den Schiedsvertrag zugesprochenen Kompetenzen nach den Kriterien des aktuellen Besitzes fest I22 . Honduras und Guatemala erklären sich mit diesem Grenzverlauf einverstanden 123 • Der Grenzstreit zwischen Honduras und EI Salvador über ihre Land-, Inselund Seegrenze ist der jOngstentschiedene Konflikt auf dem amerikanischen Kontinent. Erst 1992 urteilt der IGH abschließend über die erhobenen Ansprüche l24 . Beide Staaten berufen sich in ihrem Vorbringen auf das uti possidetis iu-

Zit. nach Fisher, AJIL 27 (1933), 418. Cukwurah, 198; Fisher, AJIL 27 (1933), 418ff.; Hackworth, I, 741ff.; Sande/mann, 239f. 121 Fisher, AJIL 27 (1933), 424. 122 Fisher, AJIL 27 (1933), 425; Hackworth, I, 743f. 123 Cukwurah, 199; Fisher, AJIL 27 (1933), 427. 124 ICI Reports 1992, 351ff. (Land, Island and Maritime Frontier Dispute (EI Salvador/Honduras; Nicaragua intervening), Iudgment). 119

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B. uti possidetis in Lateinamerika

ris, EI Salvador zusätzlich auf effektiven Besitz 12S • Der IGH bezieht in seinem Urteil neben den üblichen offiziellen spanischen Dokumenten auch Landzuweisung an Private und stillschweigend hingenommene Ausübung der Verwaltung in ungeklärten Gebieten in die Grenzbestimmung ein; somit gelingt ihm eine Entscheidung über alle strittigen Grenzbereiche l26 •

(h) Mexiko Zwischen Mexiko und der Zentralamerikanischen Republik besteht nach der Unabhängigkeit der letzteren vom mexikanischen Empire unter lturbide im Jahre 1823 127 Streit um die Provinz Chiapas. Sie war als Teil der capitania generale Guatemala in das mexikanische Empire eingebunden worden und hatte sich nach der Unabhängigkeit der Zentralamerikanischen Republik entschlossen, zu Mexiko zurückzukehren. Die Ansprüche der Zentralamerikanischen Republik werden von Mexiko ignoriert; auch heute ist Chiapas entgegen dem uti possidetis iuris von 1821 Provinz Mexikos und nicht Teil Guatemalas 128.

(i) Haiti

Die Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik ist in diesem Zusammenhang eher untypisch, da sie auf einen Vertrag zwischen Spanien und Frankreich von 1777 zurückzufiIhren ist l29 • Nach 21-jähriger Besetzung der Dominikanischen Republik durch Haiti kommt es 1874 zur vertraglichen Festlegung einer Grenzlinie, die der Linie von 1777 grob entspricht. Nach einem Streit über diesen Grenzverlauf werden 1929 in einem weiteren Vertrag ModifIkationen vorgenommen, die Haiti etwas mehr Territorium zugestehen 130 •

cc) Rechtliche Wertung Die Darstellung der opinio iuris und der Staatenpraxis läßt folgendes erkennen: Wenn auch ein Großteil der hispano-amerikanischen Staaten zur Regelung seiner Grenzfragen auf das uti possidetis iuris verweist, so erweist es sich in den

125ICJ Reports 1992, 351 (386, para. 40) (Land, Island and Maritime Frontier Dispute (EI SalvadorlHonduras; Nicaragua intervening), Judgment). 126ICJ Reports 1992,351 (61Off., para. 425ff.) (Land, Island and Maritime Frontier Dispute (EI SalvadorlHonduras; Nicaragua intervening), Judgment). 127 Fisher, AJIL 27 (1933),403. 128 Hyde, 507 Fn. 21. 129 Woolsey, AJIL 25 (1931), 333. 130 Woolsey, AJIL 25 (1931), 333.

11. Einfilhrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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meisten Anwendungsfiillen filr den Schlichter/Schiedsrichter als unmöglich, die uti possidetis iuris-Linie anband der Angaben der Parteien zu konstruieren. Dies filhrt dazu, daß in den meisten Fällen Grenzen entweder nach dem Billigkeitsprinzip gezogen werden, wobei natürlichen Grenzlinien eine besondere Bedeutung zukommt, oder die Parteien nach dem Grundsatz des "give and take" ihnen genehme Grenzverläufe aushandeln. Zwar sind auch die vertraglichen Bekenntnisse zum uti possidetis iuris als Staatenpraxis zu qualifizieren. Eine Bildung von Völkergewohnheitsrecht allein auf der Grundlage von Äußerungen (auch wenn sie schriftlich niedergelegt sind), ohne daß eine tatsächliche Umsetzung beobachtet werden kann, ist nicht möglich 13l . Es fehlt also aufgrund der Probleme bei der praktischen Umsetzung des uti possidetis-Gedankens eine Staatenpraxis, die die Annahme eines partikulären Völkergewohnheitsrechtssatzes mit dem Inhalt des uti possidetis iuris stützen würde 132 • Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Prinzip des uti possidetis iuris ohne jegliche rechtliche Bedeutung ist. Zwar besitzt es keine völkergewohnheitsrechtliche Bindungswirkung. Die Tatsache, daß eine weitgehend einhellige opinio iuris unter den hispano-amerikanischen Staaten besteht, das uti possidetis iuris anzuwenden, kann aber bei der Beurteilung des Rechtscharakters dieses Prinzips nicht unberücksichtigt bleiben. Hier dürfte es sich bereits nicht mehr um ein rein politisches Prinzip ohne Rechtsbindung handeln. Vielmehr ist das Prinzip des uti possidetis iuris als ein durch "consensus" geschaffenes Rechtsprinzip l33 einzustufen; es handelt sich bei ihm also um eine Vorstufe zum Völkergewohnheitsrecht l34 . Da eine Erstarkung zu Völkergewohnheitsrecht wegen der faktischen Gegebenheiten nicht mehr möglich ist, ist fraglich, welche Bedeutung diese Situation fiir die Bindungswirkung des uti possidetis iuris hat. Eine völkerrechtliche Verpflichtung, die in jedem Fall eine Grenzziehung anband der uti possidetis iurisLinie verlangen würde, kann schon wegen der faktischen Unmöglichkeit, diese Linie zu bestimmen, vom uti possidetis iuris nicht ausgehen. Wegen der (auch) vertraglich festgelegten Überzeugung der meisten hispano-amerikanischen Staaten, das uti possidetis iuris sei ein geeignetes Grenzregelungsprinzip, wird man hier eine "offenere" Geltung formulieren müssen: Das uti possidetis iurisPrinzip gilt daher verpflichtend in den Fällen filr die Grenzregelung, in denen die notwendigen Rechtsakte des spanischen Königs nachweisbar sind. Auch in solchen Fällen ist seine Bindung nicht absolut: Das uti possidetis iuris-Prinzip bedeutete nie, daß nicht im Einvernehmen der an einem Grenzkonflikt beteiligten Staaten von ihm abgewichen werden konnte 13s • Die Betrachtung der einzelSiehe dazu oben Abschnitt (A.) Punkt V. 2 a aa. So auch Weber, 107-109. Wohl ebenso Gnidi/, 239. 133 Vgl. Verdross, Quellen, 128. So wohl auch Fisch, 390, 393. 134 Siehe oben Abschnitt (A.) Punkt V. I b. 135 Brownlie, Principles, 135; DinhiDaillier/Pe/let, Nr. 313, S. 460. 131

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B. uti possidetis in Lateinarnerika

zeinen Grenzregelungen zeigt zudem, daß auch in den rein hispano-amerikanischen Grenzstreitigkeiten zunehmend Gewicht auf die tatsächliche Sachherrschaft ("actual possession") gelegt wird. Treffend hat Charles Hyde dies nach eingehendem Studium verschiedener Streitfltlle und Schlichtungen formuliert: "The significant feature of the use of the Spanish line by the new American Republics was the existence of a condition that was always present - that the Spanish line did no violence to the factual situation that followed on the heels of the revolution.,,136

Das uti possidetis iuris-Prinzip bildet also fiIr die hispano-amerikanischen Staaten, die sich auf seine Geltung verständigt haben, eine Grenzregelungsmaxime, von der bei entsprechenden faktischen Gegebenheiten abgewichen werden muß, während auch bei Vorliegen aller Voraussetzungen im Einvernehmen von ihm abgewichen werden kann. Damit ist es auf der Skala zwischen "politischem" und "rechtlichem" Prinzip in der Nähe des Pols "rechtliches Prinzip" einzuordnen. c) Grenzfragen zwischen den Nachfolgestaaten des

Spanischen Kolonialreichs und Brasilien

Brasilien rühmt sich einer effektiven und friedlichen Regelung aller Grenzkonflikte mit seinen hispano-amerikanischen Nachbarn. Dabei wird ausnehmend häufig auf das uti possidetis Bezug genommen. Trotz der Verwendung des reinen terminus technicus ohne Zusatz eines erläuternden de facta scheint sich Brasilien mit seiner Auffassung des uti possidetis im Rahmen des possessorisch orientierten frühen kriegsvölkerrechtlichen Begriffes zu bewegen. aa) Die einzelnen Streitfltlle Brasilien ftlhrt mit Argentinien zwei Grenzkriege, die schließlich mit der Unabhängigkeit Uruguayas von Argentinien enden 137 • Daneben besteht ein Grenzstreit über die Region Misiones. In einem Grenzvertrag von 1889 wird eine Wasserscheide zwischen zwei Flüssen als Grenze festgesetzt, deren Zuordnung zu einem realen Flußpaar einem Schiedsrichter übertragen wird. Argentinien, das der Anwendung des von Brasilien aufgeworfenen uti possidetis ausdrücklich widerspricht I38 , akzeptiert die Brasilien günstige 139 Deutung des Schieds136 Hyde, 506. Ähnlich Fisch, 492. Hummer, EPIL 6 (1983), 61. 138Ireland, 15: mit der Begrllndung, das uti possidetis-Prinzip sei nur zwischen ehe-

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maligen Kolonien der spanischen Krone anwendbar. 139 Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 141.

11. Einfilhrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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richters 1895 ohne Protest. Der zwischen Spanien und Portugal 1777 geschlossene Vertrag von San Ildefonso, der eine andere Grenzlinie vorgesehen hatte, bleibt unberücksichtigt 140. Brasilien und Bolivien regeln ihre Grenzfrage ebenfalls ohne Rücksicht auf den Vertrag von San Ildefonso; sie orientieren sich maßgeblich an den tatsächlichen Besitzverhältnissen oder verhandeln die Grenzverläufe frei (Tausch von Territorium gegen Abstandszahlungen)141. Die Grenze zwischen Kolumbien und Brasilien entspricht nicht dem Vertrag von San Ildefonso, sondern trägt der tatsächlichen Landnahme im vertraglich Spanien zugestandenen Gebiet durch später eindringende brasilianische Siedler Rechnung 142. Der Grenzstreit Brasiliens mit Ecuador erledigt sich durch den Vertrag zwischen Kolumbien, Peru und Brasilien von 1922, der Ecuador die gemeinsame Grenze mit Brasilien nimme 43 . Brasilien regelt seine Grenze mit Paraguay durch einen Vertrag von 1872, nachdem es einen erfolgreichen Krieg um dessen Unabhängigkeit von Argentinien geftlhrt hae 44 • Abweichend vom San Ildefonso-Vertrag sanktioniert der Grenzvertrag die Vereinnahmung eigentlich spanischen Territoriums durch brasilianische Siedler 14s . Die Grenze zwischen Brasilien und Peru soll nach einem Vertrag von 1841 nach dem uti possidetis von 1821 bestimmt werden 146. Da die geographischen Gegebenheiten der im Streit befmdlichen Region unbekannt sind, kann Peru seine Ansprüche unter dem uti possidetis iuris nicht nachweisen und stimmt schließlich 1913 einem Grenzvertrag zu, der Brasilien den Löwenanteil des fraglichen Gebiets (155.600 von 170.600 Quadratmeilen) überträgt147. Zur Regelung der Grenzfrage mit Uruguay berufen sich beide Staaten im Vertrag von 1851 auf das uti possidetis als Regelungsprinzip; dieses ist aus dem Vertragskontextjedoch als possessorisches uti possidetis (also uti possidetis de facto) zu verstehen 148. Brasilien als der mächtigere Partner setzt so einen auf

14°lreland, 12, 17. 141 Ireland, 40ff.; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 140-141. 142lreland, 115; Lapradelle, 80ff. 143 Ire land, 117; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 140. 144 Ireland, 121f. 145lreland, 123. 146lreland, 125. 147lreland, 130. 148lreland, 133.

B. uti possidetis in Lateinamerika

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Okkupation beruhenden Besitztitel unter Mißachtung des Vertrags von San 11defonso durch 149. In einem Vertrag von 1852 setzen Brasilien und Venezuela auf das uti possidelis als Regelungsgrundlage ihrer Grenze 150. Als Venezuela diesen Vertrag nicht ratifiziert, kommt 1859 ein neuer Vertrag ohne Rückgriff auf das uti possidetis zustande: Er stellt auf die Wasserscheide als klar erkennbare Grenze ab. Hilfreich fiir die Grenzregelung ist, daß die tatsächlichen Besitzungen beider Staaten deutlich voneinander getrennt sind 151. bb) Rechtliche Wertung Brasilien legt Wert darauf, in seinen Grenzverträgen auf das uti possidetisPrinzip abzustellen. Die tatsächlichen Grenzregelungen lassen jedoch erkennen, daß Brasilien das uti possidetis näher an der wörtlichen Bedeutung des lateinischen Ausdrucks orientiert, als das von der hispano-amerikanischen Lehre getan wird 152. Entscheidendes Kriterium der brasilianischen Grenzregelung ist der aktuelle Besitz; darin stützt es sich auf anerkannte Besitztitel wie Okkupation oder Annexion, die mit einem faktisch verstandenen uti possidetis nur neu bezeichnet werden. Das brasilianische uti possidetis de facta hat also mit dem hispano-amerikanischen uti possidetis iuris keine Gemeinsamkeiten; beim uti possidetis iuris handelt es sich um die Fiktion einer vollständigen Rechtsnachfolge in Gebietstitel des spanischen Kolonialherrn, während das uti possidetis de facta unter Negierung solcher Titel nur effektiven Besitz als Gebietstitel gelten läßt. d) Grenzfragen mit außer-lateinamerikanischen Mächten Grenzfragen mit außerregionalen Mächten ergeben sich zum einen fiir Mexiko, das eine Grenze zu den USA aufweist, sowie fiir diejenigen lateinamerikanischen Staaten, die eine Grenze zu einem europäischen Kolonialgebiet besitzen. Über koloniale Territorien in Lateinamerika verfUgen Großbritannien (British Honduras, das heutige Belize, und British Guyana, das heutige Guyana), Frankreich (Französisch Guyana, noch heute französisches Überseedepartment) und die Niederlande (Holländisch Guyana, das heutige Surinam). Die europäischen 149 Ireland, 138. 150Ireland, 139f. 151Ireland, 143f. 152 Es bedeutet jedoch ein Mißverständnis der römischrechtlichen Regelung, wie KlabberslLefeber, in: Peoples, 56, das brasilianische Verständnis des uti possidetis mit dem römischen Prinzip gleichzusetzen. Letzteres ist nur ein vorübergehendes Ordnungsprinzip, dem eine gerichtliche Klärung der Besitzlage nachfolgt.

11. Einfilhrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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Staaten klären ihre dortigen Grenzfragen untereinander immer nach universellem Völkerrecht ohne Rückgriff auf etwaige lateinamerikanische Sonderregelungen l5J •

aa) Die einzelnen Streitfalle Mexiko beendet 1848 einen Grenzkrieg mit den USA durch den Vertrag von Guadalupe Hidalgo, in dem es Arizona, New Mexico, Oberkalifomien und Nevada an die USA abtritt und die Mitte des tiefsten schiffbaren Kanals des Rio Grande als Grenze zu den USA akzeptiert l54 . Als sich der Lauf des Rio Grande verändert, kommt es zum Konflikt über den neuen Grenzverlauf. Eine Schiedskommission entscheidet 1911 unter Anwendung des völkerrechtlichen Gebietstitels der Akkretion, daß das umstrittene Gebiet zwischen den beiden Staaten zu teilen seiISS. Diesen Spruch lehnen die USA zunächst ab; erst 1964 wird die Grenzfrage gütlich im Geiste des Schiedsspruchs von 1911 beigelegtl56. Der Disput zwischen den USA und Panama um den Panama-Kanal beinhaltet zwar auch Gebietsfragen, ist aber wegen des fehlenden Bezugs zu Grenzproblemen hier nicht relevant lS7 . Guatemala steht im Streit mit Belize, dem 1981 unabhängig gewordenen Nachfolger der britischen Kolonie British Honduras, um den Umfang der von Guatemala 1859 vertraglich an Großbritannien abgetretenen Gebiete ls8 . Guatemala hält den Zessionsvertrag (als Großbritanniens angeblich einzigen Gebietstite!) wegen Nichterftillung der britischen Zusagen (Bau einer Straße) fllr nichtig und verlangt eine Wiederherstellung des status quo ante, d.h. einen Rückfall des Territoriums von Belize an Guatemala ls9 . Großbritannien dagegen stützt seinen Gebietstitel auf Okkupation und Ersitzung und entläßt Belize 1981 unter Respekt fllr dessen von mehreren Resolutionen der ON-Generalversammlung bestärktes Selbstbestimmungsrecht in die Unabhängigkeit, die Guatemala zunächst nicht anerkennt l60 . Nach der Aufnahme von Verhandlungen im Jahre

153 Siehe zum Streit Frankreich gegen Holland, der durch einen Schiedsrichter geklärt wurde, Ireland, 243; zum Streit Großbritannien gegen Holland siehe Fisch, 399; lreland, 245. 154 Cukwurah, 203. 155 Cukwurah, 205; Hackworth, I, 777f.; Woolsey, AJIL 25 (1931), 326. 156 Cukwurah, 206f. 157 Zum unklaren rechtlichen Status der Kanalregion siehe Hartwig, EPIL 12 (1990), 285-289. 158 Saul Cohen, 14; Hummer, EPIL 6 (1983),65. 159 Hofmann, EPIL 6 (1983), 34-35. 160 Saul Cohen, 15; Hofmann, EPIL 6 (1983), 35.

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B. uti possidetis in Lateinamerika

1989 161 kommen beide Staaten 1991 vertraglich Oberein, daß Guatemala Belize

als Gegenleistung ftlr einen Zugang zum Karibik anerkenne 62 ; die Frage des Grenzverlaufs soll schiedsgerichtlich entschieden werden 163. Bereits 1993 erklärt Belize, das Abkommen zu suspendieren, da Guatemala zu viele Konzessionen hinsichtlich der Meergrenze im Entgegenkommen ftlr die formale Anerkennung der Souveränität Belizes erhalten habe l64 . Daraufhin wird von Seiten Guatemalas die Anerkennung als "premature" bezeichnee 6s . Welche Folgen dies ftlr das zukünftige Verhältnis der beiden Staaten haben wird, ist noch nicht zu erkennen. Brasilien und Großbritannien unterwerfen ihren Streit um die Grenze zwischen Brasilien und British Guyana der Schlichtung durch den italienischen König, der die Grenze ohne Rückgriff auf uti possidetis "in accordance with the Iines traced by nature"l66

zieht l67 . Brasiliens Grenze mit Französisch Guyana bestimmt sich nach den völkerrechtlichen Verträgen zwischen Frankreich und Portugal über den Grenzverlauf (Vertrag von Utrecht von 1730), in die Brasilien als Rechtsnachfolger Portugals eintritt. Die Identifikation des im Vertrag als Grenze bestimmten Flusses wird einem Schiedsrichter überlassen 168. Die Grenze zwischen Brasilien und Holländisch Guyana wird 1906 vertraglich auf eine Wasserscheide festgesetzt, ohne daß es über diesen Grenzverlauf zu größeren Auseinandersetzungen gekommen wäre l69 • Venezuela streitet mit Guyana, dem 1966 unabhängig gewordenen British Guyana, um ein ca. 50.000 Quadratmeilen großes Gebiet. Dieses hatten britische Siedler unter Verstoß gegen die mit Spanien vereinbarte Grenzlinie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besetzt l7O • In einem Schiedsspruch von 1899 werden Großbritannien ca. 90% des umstrittenen Gebiets zugesprochen, wogegen sich Venezuela nach anflinglicher Akzeptanz wegen der angeblichen Vor-

161 KRWE 1989, 36999: Die Grenzregelung soll mit einer Anerkennung Belizes durch Guatemala verbunden werden. 162 KRWE 1991,38228. 163 KRWE 1991,38432. 164 KRWE 1994, R 34. 165 KRWE 1994, R 44. 166 RIAA Vol. 11,21 (22). 167 Fisch, 403f., Hummer, EPIL 6 (1983), 64-65; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 140. 168 Fisch, 40lf.; Ireland, 151; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 139. 169Ireland, 159; Vallado, Thesaurus Acroasium XIV, 139. 170 Braveboy-Wagner, 98/99; Menon, EPIL 6 (1983), 212.

11. Einfilhrung von uti possidetis zur Grenzregelung

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eingenommenheit des Schiedsgerichts wendet l7l . Versuche einer erneuten Regelung scheitern immer wieder; Venezuela bestreitet weiterhin die Gültigkeit des Schiedsspruches, während Guyana von seiner Fortgeltung ausgeht 172 • Ein Ende des Streits ist nicht in Sicht. Einer der bekanntesten Territorialkonflikte herrscht zwischen Argentinien und Großbritannien. Argentinien behauptet seit seiner Unabhängigkeit, als Rechtsnachfolger Spaniens u. a. wegen des uti possidetis Großbritannien gegenüber einen Gebietstitel auf die Falkland Inseln zu besitzen 173. Großbritannien widersetzt sich dem und stellt seinerseits u.a. (neben effektivem Besitz seit 1833)174 auf einen Gebietstitel durch Entdeckung ab (die erste britische Sichtung der Inselgruppe datiert wohl von 1592)I7S. Bislang kann sich Argentinien gegen den britischen Gebietsanspruch nicht durchsetzen, eine Invasion der Inselgruppe im Jahre 1982 wird vom britischen Militär zurückgeschlagen l76 • bb) Rechtliche Wertung Zwischen den lateinamerikanischen Staaten und außerregionalen Mächten fmdet das Prinzip des uti possidetis bei der Beilegung von Grenzstreitigkeiten keine Anwendung 177 • Zur Regelung der gemeinsamen Grenzen greift man stattdessen auf völkerrechtliche Instrumente wie die Staatennachfolge (z. B. Brasilien als Rechtsnachfolger Portugals) oder auf völkerrechtlich anerkannte Gebietstitel (z. B. Akkretion im Falle der Grenze Mexikos zu den USA) zurück. Soweit sich die europäischen Mächte auf Entdeckung bzw. Okkupation stützen (so in den Fällen der Falklands und British Guyanas), wird dies von Seiten der betroffenen hispano-amerikanischen Staaten nicht anerkannt. Allerdings kann die171 Menon, EPIL 6 (1983), 213; siehe auch Braveboy-Wagner, 106-109; Fisch, 400. Menon, EPIL 6 (1983), 214; Nelson, NedTiR 20 (1973), 288f. 173 Hummer, EPIL 6 (1983), 65; Sinagra, 28; dazu ausfilhrlich Weber, 70ff., der im Ergebnis einen Anspruch Argentiniens ablehnt und einen britischen Rechtstitel annimmt; anderer Ansicht ist Gustafson, 3-37, der Argentinien den besseren historischen Titel zuschreibt; ebenso David, 45; Dolzer, 49. Zuppi, 37, meint, objektive befiinden sich die Titel beide Staaten im Gleichgewicht. Argentinien benutzt jeden Besuch eines britischen Regierungsmitglieds dazu, seine Position zu bekräftigen, vgl. FAZ vom 4. Januar 1996. 174 Beck, in: Danchev, 13; Randelzhofer, EA 38 (1983), 691 175Ireland, 254; Weber, 6; Zuppi, 7. Einen sehr anschaulichen tabellarischen Überblick über die verschiedenen historischen Gebietstitel, die von beiden Seiten vorgebracht werden, bietet Beck, in: Danchev, 20. 176 Zum Verlauf der Auseinandersetzung Zuppi, 77ff., 86ff. Die völkerrechtliche Literatur zum Falkland-Konflikt ist inzwischen zahlreich; vgl. Dolzer, EPIL 12 (1990), 107f.; Randelzhofer, EA 38 (1983), 685; filr weitere Nachweise Zuppi, 1-2, Fn. 1 sowie 272-286; Dolzer, 1-9. 177 Ebenso Randelzhofer, EA 38 (1983), 690 m. w. N.; siehe auch Gnidil, 239; Weber,109. 172

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B. uti possidetis in Lateinamerika

se Haltung keine Änderung des status quo erreichen; der Verlauf der Grenzen zwischen den entsprechenden Staaten wird weiterhin durch die Handlungen der europäischen Mächte zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft bestimmt. Die Befiirchtung der lateinamerikanischen Staaten, europäische Mächte könnten versucht sein, nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft ihren Einfluß in Mittel- und Südamerika durch weitere Kolonienbildung auf dem Gebiet der unabhängig gewordenen Staaten zu erweitern, erweist sich im Nachhinein als unbegründet. Die europäischen Staaten unternehmen - anders als noch zur Zeit der spanischen Herrschaft - nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten keine Anstrengungen, über ihre bereits bestehenden Kolonialgebiete hinauszugreifen l78 •

III. Ergebnis: Das lateinamerikanische uti possidetis Das uti possidetis-Prinzip in Lateinamerika erweist sich bei näherer Untersuchung der Staatenpraxis als weniger bestimmt, als die gängigen Lehrbücher des Völkerrechts oder die Rechtsprechung des IGH es vermuten ließen. Seine angebliche lateinamerikaweite Geltung fmdet ihre Grenzen bereits in den europäischen Kolonialgebieten nichtspanischer Provenienz. Die europäischen Kolonien und ihre in die Unabhängigkeit entlassenen Rechtsnachfolger greifen zur Regelung ihrer Grenzfragen weder in der Theorie, noch in der Paxis auf das uti possidetis-Prinzip zurück. Doch auch unter den lateinamerikanischen Staaten portugiesischer und spanischer Herkunft fmdet sich keine durchgängig einheitliche Interpretation dieses Prinzips. Seine Hauptströmungen lassen sich in das uti possidetis iuris und das uti possidetis de facto unterteilen, wobei sich jeweils noch verschiedene Spielarten dieser beiden Ausprägungen nachweisen lassen 179 • In seiner Ausformung als uti possidetis de facta durch die Grenzpolitik Brasiliens ist das Prinzip nichts anderes als eine neue Bezeichnung fiir im universellen Völkerrecht bereits anerkannte Formen des Gebietsgewinns und dient Brasilien nur dazu, seine faktischen Besitzungen mit einem wohlklingenden Besitztitel zu versehen. Das possessorisch orientierte uti possidetis de facta ist also keine lateinamerikanische Sonderregel des Völkerrechts; es besitzt keine eigene Rechtsqualität. Seine Bedeutung und rechtliche Bindungswirkung entspricht der Rechtsqualität der Regeln des universellen Völkerrechts, die es fiir die Anwendung in den brasilianischen Grenzfragen neu benennt. Mit seiner Anlehnung an das frühe kriegsvölkerrechtliche uti possidetis und der Betonung des effektiven 178 Fisch, 486, folgert daraus, daß die europäischen Staaten das uti passidetis-Prinzip in seiner Ausprägung als Monroe-Doktrin ("Amerika den Amerikanern") anerkennen. 179 Diese Trennung des uti passidetis in eine Spielart de facta und eine mit der Bezeichnung iuris erkennt Benmassaaud, 63f., nicht, wenn er dem uti possidetis vorwirft, Unmögliches (nämlich faktische und rechtliche Positionen) zu vermengen und deshalb ein "non sens" zu sein.

III. Ergebnis: Das lateinamerikanische uti possidetis

77

Besitzes nach Okkupation oder Annexion hat das uti possidetis de facta keinen Platz mehr im modemen Völkerrecht. Es ist eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts, die im modemen Völkerrecht, das ein striktes Gewaltverbot und keine terra nullius mehr kennt, seine Rechtsgrundlage verliert. Mit der Ächtung der Annexion und der Unmöglichkeit der Okkupation im modemen Völkerrecht verschwinden die Positionen, an denen sich das uti possidetis de facto festmacht. Diese Variante des uti possidetis bleibt rechtshistorische Episode, ohne Einflußmöglichkeiten auf Entwicklungen des modemen Völkerrechts. Anders verhält es sich mit dem uti possidetis iuris. Mit seinem Abstellen auf Rechtstitel des früheren Kolonialherm, das zu einer Akzeptanz der durch den Kolonialherm gezogenen Binnengrenzen fUhrt, hat das uti possidetis iuris einen Inhalt, der nicht auf mit dem modemen Völkerrecht unvereinbaren Rechtsinstrurnenten beruht. Es ist daher grundsätzlich zur Weiterentwicklung im Kontext des modemen Völkerrechts geeignet. Seinen Geltungsbereich fmdet der Gedanke des uti possidetis iuris in den Nachfolgestaaten des spanischen Kolonialreichs in Lateinamerika. Das uti possidetis iuris bietet eine Regel zur Ziehung ihrer gemeinsamen Grenzen; auf die Grenzen zu Brasilien und zu den Kolonialgebieten anderer europäischer Mächte fmdet es keine Anwendung. Beim uti possidetis iuris handelt es sich nicht um eine Regel des (partikulären) Völkergewohnheitsrechts. Das Prinzip bzw. der ihm zugrundeliegende Gedanke fmdet zwar Eingang in eine Vielzahl von hispano-amerikanischen Verfassungen und Grenzverträgen, auch wenn auf eine Verwendung des terminus technicus in den meisten Fällen verzichtet wird. Dieser nachweisbaren Rechtsüberzeugung, der auch gelegentlich in Einzelheiten abweichende Interpretationen keinen Abbruch tun, steht jedoch eine völlig uneinheitliche Staatenpraxis bei der faktischen Grenzbestimmung gegenüber l80 . Eine praktische Umsetzung des Gedankens, die Grenzen entsprechend den Akten des früheren Monarchen zu ziehen, scheitert an deren faktischer Unermittelbarkeit oder Unbestimmtheit. Mangels einer von der Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis kann keine Regel des Völkergewohnheitsrecht entstehen l81 . Das Prinzip des uti possidetis iuris hat jedoch eine im consensus der hispano-amerikanischen Staaten begründete rechtliche Bindungswirkung als partikuläres Völkerrechtsprinzip 182. Die Rechtsüberzeugung der Nachfolgestaaten Spaniens in Amerika, daß das uti possidetis iuris in Grenzfragen anzuwenden sei, gibt dem Prinzip folgenden rechtlichen Inhalt: Die Grundsätze des uti possidetis iuris sind zur Grenzregelung zuwischen den Nachfolgestaaten des spani-

180 Dies übersieht z. B. auch Berntirdez, in: FS Zemanek, 422ff., der nur auf die opinio iuris abstellt und ohne Belege behauptet, dem sei in der Praxis gefolgt worden. 181 Ebenso Gnidil, 242. 182 So auch Zuppi, 21.

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B. uti possidetis in Lateinamerika

sehen Kolonialreichs in Amerika anzuwenden, sofern die faktischen Gegebenheiten dies erlauben, und sofern die betroffenen Staaten keine im Einzelfall abweichende Regelung filr angebrachter halten l83 • Außerdem bindet das uti possidetis iuris als Völkervertragsrecht diejenigen lateinamerikanischen Staaten, die es durch "express agreement" in die Grenzverhandlungen aufgenommen haben l84 . Darüber, ob das uti possidetis iuris seine primäre Zielsetzung, die Vermeidung von Grenzkonflikten in Lateinamerika, erreicht hat, gehen die Meinungen auseinander. Die Kritiker des Prinzips werfen ihm vor, durch sein Abstellen auf Rechtsakte des spanischen Monarchen Grenzkonflikte zu schüren, indem es die Regierungen der Neustaaten zur "Titelsuche" veranlaßt 185 • Dagegen wird vorgebracht, das Abstellen auf rechtliche Titel habe zumindest in den meisten Fällen den Weg in die friedliche Streitschlichtung, die Schiedsprozesse, gewiesen und dadurch weitere gewaltsame Auseinandersetzungen verhindert l86 • Dies sind Wertungs fragen, die sich wohl abschließend nicht werden klären lassen, da es nur in den seltensten Fällen möglich ist, das Handeln eines Staates zweifelsfrei auf bestimmte Ursachen ZUTÜckzufUhren. Die Ansicht, das uti possidetis iuris habe nur dafilr gesorgt, daß die Grenzkonflikte zwischen den Neustaaten auf eine Zeit weit nach der Unabhängigkeit verschoben wurden, in der sie innerlich gefestigter waren 187, läßt sich angesichts der hier untersuchten Streitfiille jedenfalls nicht aufrechterhalten.

183 Aus der Tatsache, daß die hispano-amerikanischen Staaten in Einzelflillen im gegenseitigen Einvernehmen vom uti possidetis iuris abweichen, wird man jedoch nicht, wie Gnidil, 243, ableiten können, daß es sich hier nicht um ein Rechtsprinzip handelt. Sofern eine Regelung nicht ius cogens ist, können alle Staaten einvernehmlich von ihr abweichen. Vertragliche Sonderwege einzelner Parteien nehmen einem Prinzip nicht die Rechtsgeltung. Vgl. hierzu im Zusammenhang mit dem uti possidetis Wooldridge, EPIL 10 (1987), 519. 184 Blum, Title, 342. 185 Lapradelle, 86; Schaumann, in: Strupp/Schlochauer III, 483. Ähnlich wohl Chhak,17. 186 Bernardez, in: FS Zemanek, 422f.; KlabberslLefeber, in: Peoples, 55; Lapradelle, 87. 187 So Benmassaoud, 64.

"Nature knows no boundary line. Nature has her frontiers truly, but lines, especially straight lines, are abhorrent to her. "I

C. uti possidetis in Afrika Verglichen mit den restlichen Kontinenten der Welt verfUgt Afrika über die größte Anzahl von Grenzen. Sie erscheinen heute stabil, im Gegensatz zu den Regierungen der afrikanischen Staaten2 • Dieser Abschnitt wird sich damit beschäftigen, die Entstehung der heutigen afrikanischen Grenzen zu beleuchten, und dabei zu fragen, ob sich über die Stabilität des status qua dieser Grenzen die Existenz eines uti passidetis-Rechtssatzes nachweisen läßt.

I. Historischer Hintergrund 1. Grenzkonzeptionen im präkolonialen Afrika Der afrikanische Kontinent kennt vor Beginn der Kolonisierung durch die europäischen Staaten das Konzept der linearen, fixen Grenzen nicht. Die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Einflußgebieten erfolgt, wie dies in Europa vor der frühen Neuzeit ebenfalls üblich ist, durch Grenzzonen3 • In Afrika läßt sich diese Form der Grenzziehung auf die geringe Bevölkerungsdichte4 sowie auf das Vorhandensein einer großen Anzahl natürlicher Trennungszonen wie Wüsten und Steppen zurückfilhrens. Die Grenzzonen sind jedoch nicht fest, sondern dynamisch und fließend 6 • Im 19. Jahrhundert fmden sie sich in drei verschiedenen Ausprägungen: als Grenzen durch Kontake, als Grenzen durch TrennungS und als MischgebietelEnklaven, in denen verschiedene Gruppen sich Sir T.H Ho/dich, Political frontiers and boundary making, London 1916,2. Nach Kunig, Nichteinmischung, 323, kommen Putsche "in afrikanischen Staaten häufiger vor als in jeder anderen Region". 3 Boutros-Ghali, 8; Joffe, in: Boundaries, 234; Prescott, Geography, 134; Shaw, Title, 186; Yakemtchouk, 67. Siehe Benmassaoud, 23ff. zur wissenschaftlichen Diskussion um den "afrikanischen" Grenzbegriff. 4 Boutros-Ghali, 8; Yakemtchouk, 67; vgl. auch Benmassaoud, 26-27; Preiser, 196. 5 Boutros-Ghali, 8; Prescott, Geography, 134; Shaw, Title, 27. Vgl. z. B. rur die Lage zwischen dem alten Königreich Ghana und dem Mali-Reich Elias, EPIL 7 (1984), 208. 6 Benmassaoud, 26; Shaw, Title, 28. 7 "Frontiers of contact", so Shaw, Title, 27; ähnlich McEwan, 3: "zone of pressure"; siehe auch Boyd, 34. 8 "Frontiers ofseparation", Boyd, Shaw und McEwan (wie vorige Fn.). 1

2

80

C. uti possidetis in Afrika

überlappen, wobei Nomadenstämme wie die Tuareg oder Massai zur Bevölkerungsvermischung beitragen9 . Die Zugehörigkeit einer Person zu einer sozialen Einheit (von Staat im modemen Sinne kann man hier nicht sprechen) bestimmt sich zu dieser Zeit personal, nicht territorial IO • Entsprechende Konstruktionen fmden sich im Personenverbandsstaat des europäischen, insbesondere deutschen MittelalterslI. Ein Nationalstaat im europäischen Sinn entwickelt sich im präkolonialen Afrika nicht, die Clan- oder Stammes angehörigkeit steht im Vordergrund.

2. Kolonisierung Afrikas a) Mittel zum Gebietsgewinn

Der "scramble for Africa,,12 der europäischen Mächte setzt mit der Blüte des Imperialismus in den späten 1870em ein. Hatten früher Handelsvorteile und Küstenstützpunkte ausgereicht, die Interessen der europäischen Staaten in Afrika zu befriedigen, so versuchen sie nun, möglichst schnell möglichst viel Territorium zu erwerben. Dazu stehen ihnen im 19. Jahrhundert verschiedene Gebietstitel zur Verfilgung. In der die Kolonisierung begleitenden Völkerrechts literatur wird häufig auf Okkupation abgestellt: Das afrikanische Territorium sei nur faktisch von "Unzivilisierten" bewohnt, die keine rechtliche Bindung zum Gebiet aufwiesen. Daher könne die Kolonisierung durch effektive Okkupation von terra nullius erfolgen 13. Dieser Auffassung steht jedoch die mehrheitliche Staatenpraxis entgegen. In den meisten Fällen werden die afrikanischen Gebiete nicht als terra nullius angesehen l4 ; Okkupation wird nur in jenen Landstrichen als Gebietstitel eingesetzt, die tatsächlich unbewohnt sind oder auf denen sich zwar Bewohner fmden, die aber keine soziale Gruppe bilden l5 • Dies bestätigt der IGH in seinem Western Sahara-Gutachten; er geht davon aus, daß Spanien die Westsahara im Erwerbszeitpunkt nicht als terra nullius angesehen hat:

9 Boyd, 35; Shaw, 27. Einen guten Überblick über diese verschiedenen Grenzformen bietet Prescott, Geography, 49ff., in seiner Beschreibung des Niger-Benue-Gebiets im 19. Jahrhundert. \0 Brownlie, Boundaries, 7; Preiser, 194; Shaw, Title, 28; Yakemtchouk, 68. Zu "Staaten" in Afrika siehe Alexandrowicz, RdC 123 (1968 I), 169-171. 11 V gl. dazu RandelzhoJer, Aspekte, 31-49. 12 Alexandrowicz, Confrontation, 3; Boyd, 13; Shaw, Title, 19. 13 Shaw, Title, 32; Verdross, Quellen, 19/20; siehe Fisch, 297-311 m. w. N. 14 Fisch, 375f.; KapiI, 61; Shaw, Title, 33; a. A. Gnidil, 72-77, für die Westsahara. 15 Shaw, Title, 37.

I. Historischer Hintergrund

81

"Whatever differences of opinion there may have been among jurists, the State practice of the relevant period indicates that territories inhabited by tribes or peoples having a social and political organization were not regarded as terrae nullius .... It also shows that, in colonizing Western Sahara, Spain did not proceed on the basis that it was establishing its sovereignty over terra nullius. In its Royal Order of26 December 1884, far from treating the case as one of occupation of terra nullius, Spain proclaimed that the King was taking the Rio de Oro under his protection on the basis ofagreements which had been entered into with the chiefs ofthe local tribes ... ,,16

In der Praxis ist die bevorzugte Methode der Gebietsgewinnung in Afrika die Zession 17 • Die Zession defmiert sich klassischerweise als der Transfer von territorialer Souveränität durch einen Staat auf einen anderen l8 • Durch den auf der Berlin-Konferenz von 1884-85 institutionalisierten Vorgang der Landnahme in Afrika im Wege der Zession mit "effective occupation,,19 wird daher implizit die Vertragsfiihigkeit der afrikanischen Einheiten anerkannfo. Damit gewinnen die herablassend "Glasperlen-Verträge,,21 genannten Abkommen mit lokalen Stammesftlrsten an völkerrechtlicher Bedeutung: Sie werden zu den zentralen Gebietstiteln, die die Souveränität der europäischen Staaten über diese Territorien begründen22 . Einen weiteren Gebietstitel bietet die Eroberung, die wegen des im 19. Jahrhundert noch fehlenden völkerrechtlichen Gewaltverbots legitimes Mittel zur Gebietsgewinnung isf3. Obwohl sich in Afrika Beispielsflille fmden, so in der Annexion des Orange Free State durch Großbritannien24 , ist die Eroberung im Vergleich zur Zession eher selten. Auch die kolonialen Protektorate, die in der Frühzeit des Kolonialismus eine beliebte Form der Einflußnahme sind, wandeln sich mit der Zeit zu Instrumenten der Kolonialisierung25 .

ICJ Reports 1975, 12 (39, para. 80, 81) (Western Sahara, Advisory Opinion). Al/ot, in: Widstrand, 13f.; A/exandrowicz, Confrontation, 6-7; Boyd, 25; Shaw, TitIe,38. 18 Jennings, 16; vgl. auch Boyd, 19f. 19 Article 35 of the General Act of the Congress of Berlin; A/exandrowicz, Confrontation, 4; Prescott, Geography, 116. 20 Shaw, TitIe, 38; siehe auch Fisch, 43. 21 "Trinket treaties" oder "glass-bead treaties", Shaw, TitIe, 37. 22 A/exandrowicz, Confrontation, 7; Fisch, 43; Shaw, TitIe, 37. Siehe A/exandrowies, Confrontation, 30-41, filr eine eingehende Studie über "The Legal Capacity of African Rulers". 23 A/exandrowicz, Confrontation, 12-13; A/lot, in: Widstrand, 15. 24 A/exandrowicz, Confrontation, 12, Fn. II und Shaw, TitIe, 45f. mit weiteren Beispielen; Fisch, 406. 25 A/exandrowicz, Confrontation, 62; Fisch, 43; Shaw, TitIe, 46ff. AusfilhrIich zum "African protectorate" A/exandrowicz, RdC 123 (1968 I), 189-205. Siehe auch Zemanek, RdC 116 (1965 III), I 95ff. 16 17

6 Simmler

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C. uti possidetis in Afrika

b) Grenzziehung durch die Kolonialmächte

Sobald die europäischen Kolonialmächte große Territorien in Afrika erwerben, stehen sie vor dem Problem der Grenzziehung. Zum einen sind die eigenen Gebiete in Verwaltungsräume aufzuteilen, zum anderen stellt sich die Frage der Abgrenzung zu den Gebieten benachbarter Kolonialmächte. Weil sich die Kolonisierung Afrikas in ihrem Endstadium fast als Wettlauf vollzieht, ist eine schnelle Grenzziehung insbesondere zwischen den Kolonialgebieten rivalisierender Staaten erforderlich. Diese Umstände und die Tatsache, daß die Kolonialmächte häufig von Küstenbasen aus ihre Gebiete vergrößem26 , erklären, daß ein Großteil der Grenzen auf dem Reißbrett entworfen wird27, z. B. als geometrische Linien, die von der Küste ins Landesinnere ausstrahlen28 . Dabei folgen die Grenzlinien zu 44% Längen- und Breitengraden; 30% sind durch die Anwendung geometrischer Mittel wie rechter Winkel und Kreisradien bestimmt. Nur 26% sind sogenannte natürliche Grenzen, die zumeist an Wasserläufen, Seen oder Bergzügen entlangfilhren 29 • Ethnische Gesichtspunkte spielen bei der Grenzziehung filr die europäischen Mächte eine bestenfalls subsidiäre Rolle; die Hast, mit der die Grenzlinien Ende des 19. Jahrhunderts gezogen werden, ist mit ein Grund dafilr, daß rur eine Berücksichtigung lokaler Belange wenig bis keine Zeit bleibeo. Auch wenn die Grenzziehung nach diesen Methoden wegen der verbesserten technischen Vermessungsmöglichkeiten genauer ist als z. B. die Grenzziehung in Lateinamerika, so treten dennoch bei der tatsächlichen Umsetzung und Markierung der astronomischlmeridial bestimmten Grenzen Schwierigkeiten auf, insbesondere wegen der Unwirtlichkeit des Geländes 31 • Zudem ist, wie das Beispiel des spanischen Kolonialreiches in Lateinamerika bereits zeigte, die Neigung der Mutterstaaten nicht immer sehr groß, die einzelnen Verwaltungseinheiten ihrer Kolonialreiche genau voneinander abzugrenzen32 • Betroffen sind hiervon besonders die französischen 33 und britischen Gebiete in Afrika, die in kompakter Form große Teile des Kontinents umfassen34 •

26 Zur Praxis Frankreichs vgl. Bleckmann, 231 f. und 237ff.; einen kurzen Überblick bietet Svendsen, in: Widstrand, 34f.; siehe auch Alexandrowicz, Confrontation, 3; Boyd, 3-4. 27 Boggs, 156; Boyd, 1-2. 28 Shaw, Title, 228. 29 Zahlen nach Boutros-Ghali, 10; entsprechend auch Boyd, 32; Kunig, LS 29 (1984),30. 30 Boggs, 156. 31 Allot, in: Widstrand, 17; Boggs, 157; Yakemtchouk, 75f. 32 Bleckmann, 232; siehe auch Gnidil, 256-257; vgl. Benmassaoud, 91. 33 Insbesondere Französisch-Westafrika, das Dahome, Elfenbeinküste, Guinea, Mauretanien, Niger, Obervolta, Senegal und Sudan umfaßt, sowie Französisch-Äquatorial-

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Die neuen afrikanischen Staaten stehen deswegen nach ihrer Unabhängigkeit in einigen Fällen ebenso vor dem Problem unbestimmter oder nicht ausreichend bestimmter Grenzen wie die lateinamerikanischen Jungstaaten. Im folgenden soll untersucht werden, welche Grenzkonzepte sich im nachkolonialen Afrika in Theorie und Praxis durchzusetzen vermögen.

11. Phase der Dekolonisierung 1. Theorien zur Grenzziehung im unabhängigen Afrika

a) Pan-Afrikanismus

Zu den radikalsten Überlegungen hinsichtlich einer Grenzreform nach Erlangung der Unabhängigkeit fiir alle afrikanischen Staaten gehört der PanAfrikanismus, der die Aufhebung aller Grenzen und die Schaffung eines einheitlichen Afrikas· propagiert. Man geht davon aus, daß die von den Kolonialherren gezogenen Grenzen nicht tragbar sind, zum einen, weil sie den Betroffenen, d. h. der afrikanischen Bevölkerung, bei der Grenzziehung kein Mitspracherecht einräumten35 , zum anderen, weil sie überdies ohne jegliche Rücksichtnahme auf ethnische, geschichtliche oder sonstige lokale Belange erfolgten36 • Die Panafrikanische Konferenz der Völker des Schwarzen Kontinents in Accra im Dezember 1958 formuliert diese Grenzvorstellungen so: "Whereas artificial barriers and frontiers drawn by imperialists to divide African peoples operate to the detriment of Africans and should therefore be abolished or adjusted; Whereas frontiers which cut across ethnic groups or divide peoples ofthe same stock are unnatural and are not conductive to peace and stability; Whereas leaders of neighbouring countries should co-operate towards a pennanent solution ofsuch problems which accords with the best interests ofthe people affected and enhances the prospects of realisation of the ideal of a Pan-African Commonwealth of Free States; Be it resolved and it is hereby resolved by the All-African Peoples Conference that the Conference: a) denounces artificial frontiers drawn by imperialist Powers to divide the peoples of Africa, particularly those which cut across ethnic groups and divide peoples of the same stock;

afrika mit den Teilen Gabun, Kongo, Ubangui und Tschad; Benmassaoud, 96/97; Bleckmann, 231. 34 McEwan, 31, bes. Fn. I. 35 McEwan, 23. 36 KlabberslLefeber, in: Peoples, 57; Touval, Independent, 4; Yakemtchouk,81. 6"

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C. uti possidetis in Afrika b) calls for the abolition or adjustment of such frontiers at an early date; c) calls upon the Independent States of Africa to support a permanent solution to this problem founded upon the true wishes ofthe people; .. .'t37

Damit spiegelt die Accra-Resolution den Traum eines großen afrikanischen Staatsmannes wieder, Präsident Kwame Nkrumah von Ghana, der den Anstoß zu dieser Konferenz gegeben hatte38 • Diese Hoffnung auf ein vereintes, "grenzenloses" Afrika blüht allerdings zu einem Zeitpunkt, in dem noch kaum afrikanische Staaten die Unabhängigkeit erlangt haben39 und muß auch im Zusammenhang mit anti-kolonialer Propaganda gesehen werden. b) Erhalt des status qua

Sobald in den frühen sechziger Jahren eine große Anzahl afrikanischer Staaten die Unabhängigkeit erreicht, wandeln sich die Auffassungen zum Teil. Man betont, daß die Aufhebung aller Grenzen Afrika in ein unübersehbares Chaos stürzen könne40 • So äußert z. B. der Präsident von Mali 1963 auf dem Gründungsgipfel der Organisation for African Unity (OAU): "... we must take Africa as it is, and we must renounce any territorial claims, if we do not wish to introduce what we might caIl black imperialism in Africa ... African unity demands of each of us complete respect for the legacy that we have received from the colonial system, that is to say: maintenance of the present frontiers of our respective states .... Indeed, if we take certain parts of Africa in the pre-colonial period, history teaches us that there existed a myriad kingdoms and empires ... which today have transcended, in the case of certain states, tribai and ethnic differences to constitute a nation, a real nation ... if we desire that our nations should be ethnic entities, speaking the same language and having the same psychology, then we shall find no single veritable nation in Africa.,,41

Damit steht er in der Tradition anderer führender Staatsmänner von nun unabhängigen afrikanischen Staaten42 • Auf der Konferenz Unabhängiger Staaten in Addis Abeba im Juni 1960, an der Algerien, Äthiopien, Ghana, Guinea, libyen, Liberia, Marokko, Nigeria, Somalia, Sudan, Tunesien und die Vereinigte Arabische Republik teilnehmen, faßt der liberische Minister Grimes diese Auffassung in Worte: "lt is quite true that the existing boundaries in Africa were made without ethnic, tribai or economic consideration by the colonial powers. Nevertheless, it is also true Zit. nach Yakemtchouk, 81f. Fn. 45. Zur Rolle Nkrumahs siehe Benmassaoud, 46 m. w. N., Gnidil, 246. 39 Brownlie, Boundaries, 10; KlabberslLefeber, in: Peoples, 57; McEwan, 23. 40 Benmassaoud, 73; Franck, AJIL 70 (1976), 698; McEwan, 24; Yakemtchouk, 82. 41 Zit. nach McEwan, 24. 42 Siehe Benmassaoud, 74-76. 37

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that these boundaries have existed over a long period of time and it would be more difficult to change them without raising more problems than would be solved by such change. In some cases it may not be possible to change them without ill-will, bitterness and perhaps internecine conflicts, which will do us no good in Africa and perhaps cause irreparable harm. The Liberian Government suggests that the African States agree to the principle of generally accepting the present boundaries after the various countries become independent as the boundaries between their respective states.,,43

Diese Grenzkonzeption setzt auf den Erhalt des status quo der Grenzen und Territorien als Mittel, um Streitigkeiten zwischen den Neustaaten zu venneiden. Ihre Zielsetzung entspricht damit teilweise der des hispano-amerikanischen uti possidetis.

c) Umformung auf ethnischer Grundlage

Einen dritten Weg neben dem vereinten Afrika und dem Erhalt des status quo propagieren die Anhänger der Nationalstaatsidee. Sie wünschen die Veränderung der kolonialen Grenzen nach ethnischen Gesichtspunkten, um ethnisch homogene Nationalstaaten europäischer Prägung zu schaffen. Unter den Regierungen der meist ethnisch heterogenen Neustaaten fmdet diese Auffassung wenig Halt44 • Ihre größten Anhänger sind die Vertreter großer nationaler/ethnischer Gruppierungen, die in Afrika zwar selten, aber dennoch vorhanden sind: So sind hier die Somalis sowie die Ewe zu erwähnen4S • Einen Sonderfall bildet Marokko, das nicht auf die ethnische, sondern auf die historische Verbundenheit abstellen will, um einen Einheitsstaat zu schaffen46 • 2. Staatenpraxis in der Dekolonisierung

Erst eine Untersuchung der Praxis der aus der Dekolonisierung hervorgehenden Staaten hinsichtlich ihrer Grenzziehung läßt erkennen, welcher Grenzkonzeption in Afrika der Vorrang eingeräumt wird. Die große Anzahl der Staaten in Afrika macht es nötig, sie getrennt nach Gruppen abzuhandeln. Grenzstreitigkeiten mit Ländern aus einer anderen Gruppe werden am Rande mit einfließen.

43 Zit. nach Touval, Independent, 65. KlabberslLefeber, in: Peoples, 57; Shaw, Title, 195. 45 Shaw, Title, IlOf.; zu beiden weiter unten eingehend. 46 Shaw, Title, 193; siehe dazu unten gleich im folgenden. 44

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a) Grenzkonjlikte im nördlichen Afrika Hierunter werden Ägypten, Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien, Tunesien und die Westsahara gefaßt. aa) Ägypten Zwischen Ägypten und seinem südlichen Nachbarn Sudan bricht nach der Unabhängigkeit des letzteren 1958 ein Grenzstreit über den genauen Grenzverlauf aus. Dies ist nicht auf eine schlecht markierte Grenze zurückzufilhren, sondern auf zwei gut bestimmte, sich aber widersprechende Grenzverläufe; sie resultieren aus einem Grenzvertrag zwischen England und Ägypten aus dem Jahre 1899, der aus administrativen Gründen faktisch anders umgesetzt wird47 . Der Konflikt darüber, ob die vertragliche oder die administrative Linie als Grenze anzusehen sei, wird 1959 durch vertragliche Regelung beigelegt48. Ein kleiner Teil des Gebiets, das Halaib-Dreieck, bleibt unter sudanesischer Verwaltung; Ägypten erkennt dies zunächst stillschweigend an. Seit der Entdeckung von Erdöl im Jahre 1991 will Ägypten die sudanesische Verwaltung nicht mehr hinnehmen, was zu einer Verhärtung der Fronten filhrt. Beide Länder stehen sich im Halaib-Dreieck inzwischen in Waffen gegenüber49 .

bb) Algerien

(a) Algerien-Marokko Algerien filhrt einen langen Streit mit Marokko um den Verlauf der gemeinsamen Grenze. Seine Ursprünge hat dieser Streit im Vertrag von Lalla-Marnia aus dem Jahre 1848 zwischen Frankreich, das seit 1830 in Algerien regiert, und dem marokkanischen SultanSo. Die durch diesen Vertrag bestimmte Grenzlinie wird 1912, als Marokko zum französischen Protektorat herabsinktS I, durch eine neue Linie, die "Varnier Linie", ersetzt, die dem territorialen Zugewinn Frank-

Brownlie, Boundaries, 112; Shaw, Title, 25lf. Boutros-Ghali,27-29. 49 KRWE 1993, R 136; Ulfkotte, FAZ vom l. Juli 1995. Vgl. ARB 1991, 10484, 10528; ARB 1992, 10674; ARB 1993, 10993. 50 Gnidil, 267; loffe, in: Blake/Schofield, 40. 51 Siehe Zemanek, RdC 116 (1965 III), 196-202, zum Status Marokkos als "protectorate". Er kommt zu dem Ergebnis, daß Marokko ab 1912 kein Protektorat im herkömmlichen Sinne darstellt (i. e. "a relation in which one state represents another in foreign relations, leaving the latter's status as a sovereign state in international law unaffected", Zemanek auf 195), sondern bereits so weit abhängig ist, daß es als "non-selfgoverning territory" eingestuft werden kann. 47

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reichs auf Kosten des sharifischen Reiches Rechnung trägf2. Nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 fordert König Mohammed V. eine Rückfiihrung der Grenzlinie auf den Vertrag von Lalla-Marnias3 • Obwohl die revolutionäre provisorische algerische Regierung dies zunächst zugesteht, besteht Algerien nach Erlangung seiner Unabhängigkeit 1962 auf der administrativen Grenze der Varnier Linie s4 und beruft sich dabei auf das Prinzip des uti possidetis iurisss . 1963 kommt es zwischen den Parteien zu massiven Kriegshandlungen. Nach vergeblichen Schlichtungsversuchen durch die Arabische Liga ebenso wie durch die OAU und andere Organisationen gelingt erst 1972 eine vertragliche Regelung des Grenzverlaufes, der ganz der administrativen Grenze der Varnier Linie entsprichtS6 •

(b) Algerien-Tunesien Der Konflikt zwischen Algerien und Tunesien um den genauen Grenzverlauf geht von Tunesien aus, das - 1959 unabhängig geworden - die Grenze zu seinen Gunsten verschieben möchte. Nach längeren Disputen, die zum Teil auch in Kampfhandlungen ausarten, ftlr Algerien aber neben dem Konflikt mit Marokko eher untergeordnete Bedeutung haben, kommt es 1968 zu einer vertraglichen RegelungS7, die die ursprüngliche Grenze zur Zeit der Unabhängigkeit Algeriens enthältS8 . Inzwischen ist die gesamte Genze markiertS9 •

cc) Libyen Libyens Grenzen zu Tunesien, Ägypten, Sudan, Algerien und Niger sind durch koloniale Verträge markiert und stehen weitestgehend nicht im Streit60 • Dagegen filhrt Libyen einen Konflikt mit dem Tschad über den gemeinsamen Grenzverlauf. 1973 besetzt Libyen einseitig den Aozou-Streifen; als Gebietstitel beruft es sich auf einen unratifizierten Vertrag zwischen Frankreich und Italien Boutros-Ghali, 34. Boutros-Ghali, 34; Shaw, Title, 239. 54 Boutros-Ghali, 35; JojJe, in: Blake/Schofield, 43. Siehe auch Gnidil, 267. 55 JojJe, in: Boundaries, 224; Yalremtchouk, 85; Shaw, Title, 197. 56 Boutros-Ghali, 37-45; Brownlie, Boundaries, 57; JojJe, in: Blake/Schofield, 44; Shaw, Title, 197. A. A. ist Gnidil, 269, der dem Vertrag den grenzregelnden Charakter abspricht, da es sich nur um einen Kompromiß zur gemeinsamen Ausbeutung der Bodenschätze handele. 1989 erklärt Marokko, diesen Vertrag auch ratifizieren zu wollen, KRWE 1990,37220. 57 Boutros-Ghali, 17-20; Brownlie, Boundaries, 91. 58 Brownlie, Boundaries, 91; JojJe, in: Blake/Schofield, 36. Siehe auch Gnidil, 269. 59 ARB 1993, 10917. 60 Brownlie, Boundaries, 27, 104, 127, 133, 141; JojJe, in: Blake/Schofield, 31-33. 52 53

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von 1935, in dem Frankreich Teile des Tschad an Italien abtreten sollte61 • Dieser Vertrag war wegen Italiens Unterstützung von Hitlerdeutschland nicht in Kraft getreten62 • Während sich zunächst ein libyenfreundliches Regime im Tschad bis 1982 nicht gegen die Annexion wehrt, fUhrt die Machtübernahme von Hissene Habn~ im Jahre 1982 dazu, daß der Konflikt mit Waffengewalt wieder auflebt63 und der Tschad die Kontrolle über einen Großteil des Streifens zurückgewinnt64 . 1990 wird der Streit zwischen Libyen und dem Tschad vor dem IGH anhängig gemacht65 • Im Februar 1994 entscheidet dieser auf der Grundlage eines Vertrags zwischen Libyen und Frankreich aus dem Jahre 1955 zugunsten des Tschad66 . Darauf beginnt Libyen unter Aufsicht der Vereinten Nationen mit dem Truppenrückzug, der am 30. Mai 1994 offiziell abgeschlossen ist67 • dd) Marokko Neben dem Krieg mit Algerien fUhrt Marokko einen Streit mit Mauretanien, zum einen um dessen Gebietszugehörigkeit, obwohl Marokko keine Grenze mit Mauretanien hat, zum anderen um den Gebietstitel auf die Westsahara. (a) Marokko-Mauretanien

Marokko wendet 1958 gegen das Vorhaben Frankreichs, Mauretanien in die Unabhängigkeit zu entlassen, ein, daß das Gebiet Mauretaniens aufgrund eines präkolonialen Gebietstitels zu Marokko gehöre68 . Das Territorium sei früher Teil des marokkanischen Reiches gewesen und müsse daher an Marokko zurückfallen; Frankreich versuche auf dem Gebiet einen Marionettenstaat einzu61 Benmassaoud, 165; Gnidil, 263; Joffe, in: Blake/Schofield, 33; Keesing 11, 114; Lanne, 150. 62 Benmassaoud, 165; Guilhaudis, AFDI 25 (1979), 229; Joffe, in: Blake/Schofield, 34; Lanne, I 57ff.; Shaw, Title, 253. 63 Benmassaoud, I 66f.; Keesing 11, 1l3. 64 Benmassaoud, 167; Keesing 11, 116. 65 " ... by that Application the Republic of Chad respectfully requests the Court to detennine the course of the frontier between the Republic of Chad and the Libyan Arab Jamahiriya, in accordance with the principles and mies ofintemationallaw applicable in the matter as between the Parties ... ", ICJ Reports 1990, 149 (150) (Territorial Dispute (Libyan Arab JamahiriyalChad), Order of 26 October 1990). 66 Oellers-Frahm, VN 1994, 68. 67 KRWE 1995, R 9; FAZ vom 31. Mai 1994. 68 Brownlie, Boundaries, 147; Gnidil, 37; Shaw, Title, 121; Zarfman, in: Widstand, 80f.

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richten69 • Der Protest kann jedoch nicht verhindern, daß Mauretanien im November 1960 unabhängig wird. Bei der Suche nach internationaler Unterstützung gelingt es Marokko 1960, die Arabische Liga zur Annahme einer Resolution zu bewegen, die die arabischen Staaten verpflichten soll "to support Moroccan efforts to recover Mauritania, which is an integral part of its national territory,,70.

Die afrikanischen Staaten stehen Marokkos Anspruch jedoch ablehnend gegenüber, wie z. B. folgende Äußerung des Senegal vor der UN-Generalversammlung deutlich macht: "[T]he independence ofthe African countries had righdy been established on the basis of the existing frontiers; if old political entities had to be reconstituted, independence would not have been achieved in the conditions ofpeace and hannony.'m

Ein erster Versuch Mauretaniens, in die UNO aufgenommen zu werden, scheitert 1960 am Veto der Sowjetunion72 • Erst 1961 wird es zugelassen. Nach dem Tode von Mohammed V. im selben Jahr beginnt eine Phase der Entspannung, die 1969 zur Aufgabe des marokkanischen Anspruchs auf Mauretanien durch Hassan 11. führt73.

(b) Marokko-Westsahara

Gegner im Streit um die Zugehörigkeit der Westsahara ist neben der Bevölkerung dieser (auch Spanisch Sahara oder Rio de Oro genannten) Kolonie wiederum Mauretanien, das ebenso wie Marokko Ansprüche auf das spanische Gebiet anmeldee4 • 1975 zieht sich Spanien aufgrund eines dreiseitigen Abkommens, das die Westsahara zwischen Marokko und Mauretanien aufteilt, aus dem Gebiet zurück. Dagegen beginnt ein Guerilla-Krieg der Polisario Front, einer Befreiungsbewegung der Bevölkerung der Kolonie, die sich zum größten Teil aus Sahrauis zusammensetzes. 1976 ruft die Polisario die Saharan Arab Democratic Republic (SADR) aus. 1979 schließt Mauretanien Frieden mit der Polisario und zieht sich aus seinem Gebietsteil zurück, worauf Marokko diesen sofort besetzt76 . Touval, Independent, 34, 67. Touval, Independent, 127. 71 Zit. nach Shaw, Tide, 122. 72 Touval, Independent, 68. 73 Brownlie, Boundaries, 147; Elias, 25 Fn. 75; Shaw, Title, 123; Touval, Independent, 264-265. 74 Brownlie, Boundaries, 148; Damis, 14-44; Fisch, 461f.; Franck, AJIL 70 (1976), 702; Shaw, Tide, 124. Zur Geschichte des Westsahara-Gebietes siehe Damis, 9-13, Gnidil, 3-33, Mercer, 49-122, 196-247. 75 Franck, AJII70 (1976), 715-717. 76 Historischer Ablauf nach Keesing 11, 172; siehe auch Damis, 45-103; Gnidil, 50f. 69

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Marokko beruft sich auf einen historischen Gebietstitel, da die nomadische Bevölkerung dieses Gebiets in vorigen Jahrhunderten dem marokkanischen Sultan Gefolgschaft geschworen habe77 • Seit 1965 fordert die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Abhaltung eines Referendums in der Westsahara, damit die dortige Bevölkerung ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben könne78 • Der IGH, dem diese Frage 1974 von der Generalversammlung im Rahmen einer Bitte um eine Advisory Opinion vorgelegt wird, stellt fest, daß "[t]he materials and information presented to the Court show the existence at the time of Spanish colonization of legal ties of allegiance between the Sultan of Morocco and some of the tribes living in the territory of Western Sahara. They equally show the existence ofrights, including some rights relating to the land, which constituted legal ties between the Mauritanian entity ... and the territory of Western Sahara. On the other hand, the Court's conclusion is that the materials and information presented to it do not establish any tie of territorial sovereignty between the territory of Western Sahara and the Kingdom ofMorocco or the Mauretanian entity... 79.

Marokko erklärt sich zwar 1981 auf dem Treffen der OAU in Nairobi grundsätzlich zur Abhaltung eines Referendums in der Westsahara bereit, weigert sich aber, direkten Kontakt mit der Polisario aufzunehmen, so daß alle Bemühungen um ein Referendum im Sande verlaufen80 • Marokko verbietet auch jede politische Betätigung der Sahrauis zur Vorbereitung des filr 1996 vorgesehenen Referendums unter UN-Aufsicht81 • Da sich die Beteiligten nicht über die Gruppe der Abstimmungsberechtigten einigen können, fmdet das Referendum nicht statt82 • Die SADR ist zwar bereits von über 70 Staaten anerkannt83 und seit 1982 als 51. Mitglied in die OAU aufgenommen84, sie übt jedoch keine effektive Regierungsgewalt auf dem Territorium der Westsahara aus8S • Eine Lösung des Konflikts steht noch aus. ee) Mauretanien Mauretanien löst seinen Konflikt mit Mali über den Grenzverlauf durch einen Vertrag, der eine neue, politisch ausgehandelte Grenzlinie zieht. Die exakte Fisch, 461; Gnidil, 276; Keesing 11, 172/73; Show, Title, 123. Damis, 46; Keesing 11, 174. 79 ICJ Reports 1975, 12 (68, para. 162) (Western Sahara, Advisory Opinion). 80 Damis, 146; Shaw, Title, 129. 81 FAZ vom 24. Juni 1995. 82 FAZ vom 29. Februar 1996. 83 KRWE 1989,36671-36672. 84 Kunig, LS 29 (1984), 34. Marokko tritt als Reaktion darauf 1984 aus der OAU aus, Gnidil, 38. 85 Keesing 11, 183; Shaw, Title, 157f. Vgl. den Bericht in KRWE 1989,36671 über das Treffen der SADR-Regierung in einem algerischen Flüchtlingslager. 77 78

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Lage der Grenze zur Zeit der Unabhängigkeit war wegen der Mischung von nomadischer und halbseßhafter Bevölkerung im umstrittenen Gebiet nicht eindeutig zu bestimmen86 . b) Grenzkonjlikte im westlichen Afrika Unter "westliches Afrika" werden hier folgende Staaten gefaßt: Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Togo.

aa) Benin Der Streit, der zwischen Benin, dem früheren Dahomey oder Dahome, und Niger über die Zugehörigkeit einer Insel im gemeinsamen Grenzstrom Niger 1963 aufflammt, wird kurze Zeit später einverständlich ohne Änderung der territorialen Verhältnisse beigelegt87.

bb) Burkina Faso Ein Grenzkonflikt Burkina Fasos, des früheren Obervolta, mit Ghana, der 1963 aufgrund der fehlenden Grenzmarkierung der Burkinaber Grenze ausbricht, wird 1966 durch eine genaue Bestimmung der Grenze auf der Grundlage eines Abkommens von 1893 zwischen Frankreich und Großbritannien beigelegt88. Der Grenzstreit von Burkina Faso mit Mali wird 1986 durch ein Urteil des IGH entschieden. Der IGH stellt dabei auf das uti possidetis-Prinzip als den entscheidenden Faktor ab 89 : "It is a general principle, which is logically connected with the phenomenon of the obtaining of independence, whereever it occurs. Its obvious purpose is to prevent the independence and stability of new States being endangered by fratricidal struggles provoked by the challenging of frontiers following the withdrawal of the administering power."

86 Brownlie, Boundaries, 407; Shaw, Title, 263. Siehe auch Gnidil, 259f. 1987 wird das Festhalten an dem Grenzvertrag ausdrücklich bestätigt, ARB 1987, 8591; ARB 1988,8907. 87 Brownlie, Boundaries, 1662f.; Boutros-Ghali, 25f.; Gnidil, 266; Shaw, Title, 256f. 88 Brownlie, Boundaries, 281; Boutros-Ghali, 23; Shaw, Title, 257. 89 leJ Reports 1986, 554 (565, para. 20) (Frontier Dispute, Judgment).

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Nach seiner Auffassung friert das Prinzip die kolonialen Grenzen zur Zeit der Unabhängigkeit als internationale Grenzen ein: "The principle of uti possidetis freezes the territorial title; it stops the dock, but does not put back the hand. ,,90

Das Gericht sieht sich aufgrund der vorgelegten Infonnationen in der Lage, den Grenzverlauf zum Unabhängigkeitszeitpunkt zu bestimmen91 . Die Parteien akzeptieren das Urteil92 • cc) Elfenbeinküste Die Elfenbeinküste sieht sich filr eine kurze Zeit Gebietsansprüchen durch Ghana aufgrund von ethnischen Argumenten, i. e. Vereinigung des SanwiVolkes, ausgesetzt, bevor Ghana diesen Anspruch fallenläßt93 .

dd) Gambia Gambia, eine kleine englischsprachige Enklave im frankophonen Westafrika, hat keine Grenzkonflikte mit seinen Nachbam94 . Die siebenjährige KonfMeration mit Senegal, Senegambia, wird 1989 wieder gelöst95 . ee) Ghana Ghana streitet mit Togo über die Zugehörigkeit der von dem Volk der Ewe bewohnten Gebiete. Die Ewe siedeln sowohl in Ghana, auf dem Gebiet des ehemaligen Britisch Togoland, das Großbritannien zum Zwecke der Entlassung in die Unabhängigkeit 1957 nach einem Referendum mit der Goldküste vereinigt96, als auch in Togo, dem ehemaligen Französisch Togoland97 . Beide Togoland-Territorien sind das Ergebnis der Teilung der deutschen Kolonie Togoland durch Frankreich und Großbritannien im Jahre 191998 . Ghana fordert Togo ICJ Reports 1986, 554 (568, para. 30) (Frontier Dispute, Judgment). ICJ Reports 1986, 554 (649ff.) (Frontier Dispute, Judgment). 92 Keesing 11, 110. 93 Brownlie, Boundaries, 248; Shaw, Title, 201; Touval, Independent, 37f. KRWE 1989, 36545, berichtet von den Bemühungen einer Grenzkommission Uoint border redemarcation commission) um die genaue Markierung der Grenze. 94 Günther, FAZ vom 27. Juli 1994. 95 Obst, FAZ vom 5. Juni 1996; KRWE 1989,36840,37062. 96 Benmassaoud, 55; Shaw, 112. 97 Prescott, Geography, 135f.; Touval, Independent, 36. 98 Dazu ausfilhrIich Benmassaoud, 155f. 90

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1959 im Zeitpunkt von dessen Unabhängigkeit auf, sich friedlich an Ghana anzuschließen99 . Nach der Weigerung Togos kommt es zu sezessionistischen Bestrebungen der Ewe-Minderheit in Ghana in den Jahren bis 1963, die zu Spannungen zwischen beiden Staaten filhren, aber nicht von Erfolg gekrönt sind 100. 1977 macht Togo in einem offiziellen Statement Vereinigungsansprüche mit dem früheren Britisch Togoland geltend: "... Many arguments are advanced in favour of maintaining the status quo, both in the Organization of African Unity and at the international level. The principle that the frontiers inherited from colonialism are sacrosanct undoubtedly prevents Africa from tearing itself apart, but general principles have never ruled out consideration of individual cases. Togo existed as an entity before and during colonization. In view of British and French Cameroons, the Togolese wonder why there should be one law for one nation and another for the other. They are inclined to place the responsibility for dismemberment upon the British ... The Gold Coast of the time -nor Ghana- never formulated territorial claims against its neighbour; it was merely caught up in the manoeuvres ofthe European nations.... 101". Togo verfolgt diesen Anspruch aber seitdem nicht mehr offensiv lO2 •

ff) Guinea Guinea streitet sich mit Guinea-Bissau um den Verlauf der gemeinsamen maritimen Grenze. Das mit der Schlichtung beauftragte Schiedsgericht spricht zwar das uti possidetis an 103, erkennt aber zuletzt darauf, daß die früheren Kolonialmächte Frankreich und Portugal über die Seegrenze keine Bestimmungen getroffen hätten lO4 • Dies macht das uti possidetis auf diesen Fall unanwendbar; das Gericht entscheidet daher auf anderer Grundlage.

gg) Guinea-Bissau Neben dem Konflikt mit Guinea streitet sich Guinea-Bissau auch mit Senegal über den Verlauf der maritimen Grenze. Dieser Streit wird in einem Schiedsgerichtsverfahren 1989 dahingehend gelöst, daß ein französisch-portugiesischer Briefwechsel von 1960 als Grenzbestimmung angesehen wird:

Boutros-Ghali, 21; Touval, Independent, 36f. Boyd, 47; Keesing 11, 140f; Shaw, TitIe, 202; Touval, Independent, 36. 101 Keesing 11, 143; voller Wortlaut in Brownlie, Boundaries, 278. 102 Keesing 11, 144; Shaw, TitIe, 202; dazu auch Benmassaoud, 157-159; vgl. KRWE

99

100

1991, 38520 zu einem Kooperationsvertrag zwischen beiden Staaten; KRWE 1994, 40266. 103 Guinea - Guinea-Bissau Maritime Delimitation Case, lLR 77 (1988), 635 (657, para. 40). 104 ILR 77 (1988),635 (691, para. 130).

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C. uti possidetis in Afrika "... The Agreement concluded by an exchange of letters on 26 April 1960, and relating to the maritime boundary, has the force of law in the relations between the Republic of Guinea-Bissau and the Republic of Senegal with regard solely to the areas mentioned in the Areement, namely the territorial sea, the contiguous zone and the continental shelf." 10

Die dagegen vor dem IGH erhobene Klage von Guinea-Bissau weist das Gericht unter Aufrechterhaltung des Schiedsspruchs ab lO6 • hh) Mali Die Föderation Mali, bestehend aus Senegal und Soudan (dem späteren Mali), erlangt im Juni 1960 die Unabhängigkeit von Frankreich 107 • Bereits im August 1960 sezediert Senegal aus der Föderation 108 • Soudan versucht zuerst die Anerkennung des Senegal als eigenständiger Staat zu verhindern, indem es droht, die diplomatischen Beziehungen zu allen anerkennenden Staaten abzubrechen. Als diese Strategie erfolglos bleibt, benennt sich Soudan am 23. September 1960 in Mali um und erkennt die Sezession Senegals an 109 •

c) Grenzkonj1ikte in Zentralafrika

Zu Zentralafrika werden hier Äquatorial-Guinea, Gabun, Kamerun, Kongo, Tschad, Zaire und die Zentralafrikanische Republik gezählt. aa) Äquatorial-Guinea Äquatorial-Guineas Streit mit Gabun um die Zugehörigkeit einiger der Küste vorgelagerte Inseln bricht 1972 aus und wird 1974 durch den Präsidenten Äquatorial-Guineas, der die augenblickliche Grenze, die Gabun gegenüber dem früheren Stand begünstigt, anerkennt, beigelegtllo.

105 ARB 1989, 9370f.; auch zit. in lCJ Reports 1991,53 (66) (Arbitral Award of31 July 1989, Judgment). 106 lCJ Reports 1991, 53 (75-76) (Arbitral Award oBI July 1989, Judgment). 107 Show, Title, 213; Zemanek, RdC 116 (1965 III), 216. 108 Shaw, Title, 213; Yakemtchouk, 40f. 109 Shaw, Title, 213; Yakemtchouk, 40f. Die gegenseitigen Beziehungen sind freundlich, ARB 1986, 8034. 110 Brownlie, Boundaries, 673; Shaw, Title, 259.

11. Phase der Dekolonisierung

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bb) Kamerun Nach einem Referendum in den zwei separaten Kolonien British Cameroons wird nur die südliche Kolonie dem unabhängigen Kamerun (früher French Cameroons) angeschlossen, während das nördliche Gebiet sich fUr einen Verbleib bei Nigeria ausspricheIl. Bei Zählung der gesamten abgegebenen Stimmen hätte sich eine Mehrheit fiir Kamerun ergeben ll2 . Eine wegen der Unregelmäßigkeiten der Abstimmung im nigerianisch verwalteten nördlichen Gebiet angesetzte Wiederholung des Referendums fmdet nicht statt. Kamerun macht deswegen und wegen des Gesamtergebnisses zunächst Ansprüche auf diesen Teil Nigerias geltend, erkennt schließlich jedoch den status qua an ll3 . 1994 kommt es zu einem Grenzdisput zwischen Kamerun und Nigeria über die Bakassi Halbinsel, die von Nigeria besetzt wird. Ein zwischen Großbritannien und Deutschland im Jahre 1913 abgeschlossener Grenzvertrag hatte die Insel dem Gebiet Kameruns zugeschlagen ll4 . Kamerun erhebt Klage vor dem IGH, über diese ist bislang nicht entschieden lls • cc) Zaire (Kongo) Zwischen Zaire (seit 1997 wieder: Kongo) und Sambia kommt es zu Beginn der achtziger Jahre zu mehreren Grenzzwischenflillen, die auch zur Besetzung von Territorium fiihren. Grund dafUr sind jedoch keine Gebietsansprüche, sondern Nahrungsmittelknappheit sowie der Versuch einer Begrenzung des Schmuggels durch schärfere Kontrollen ll6 . 1989 erzielen beide Staaten eine Übereinkunft über die Markierung der gemeinsamen Grenze 117.

Benmassaoud, 94f.; Ndam Njoya, 148. Shaw, Tide, 1l3. 113 Benmassaoud, 95, zitiert den ehemaligen Präsidenten Kameruns Ahmed Ahidjo mit einer Äußerung aus dem Jahre 1976: "Tout en contestant ... la regularite du scrutin de 1961, qui a entraine le rattachement de I'ancien Cameroun septentrienal au Nigeria par voie rt!ferendaire, nous nous sommes incIines devant les faits. Nous avons tente sans succes de faire appel a I'O.N.U., a la C.I.J. de La Haye. Aussi, ayant epuise les recours aux juridictions internationales competentes, preferons-nous nous abstenir de toute revendication territoriale."; siehe auch Ndam Njoya, 187-190. Vgl. ARB 1987,8660. 114 KRWE 1994,39896. Vgl. auch ARB 1994, 1l318f., 11602, 11671. 115 KRWE 1995, R 7. 116 Keesing 11, 194, vgl. ARB 1986, 8079. 117 KRWE 1989,36920. 111

112

C. uti possidetis in Afrika

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d) Grenzkonjlikte im östlichen Afrika

Ostafrika umfaßt hier Äthiopien, Burundi, Djibouti, Kenia, Ruanda, Somalia, Sudan, Tansania und Uganda.

aa) Äthiopien Äthiopiens Grenze zum Sudan steht nach der Unabhängigkeit des Sudan insoweit in Zweifel, als der Grenzverlauf einseitig von britischer Seite markiert worden war. Jedoch einigen sich die Regierungen beider Staaten 1972 endgültig auf diese Markierung als die filr beide Seiten gültige, so daß die Unsicherheiten beseitigt werden 118. Weitaus streitiger verläuft der Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Somalia. Dieser wird aufgrund seiner engen Verbindung mit anderen somalischen Grenzansprüchen mit diesen gemeinsam weiter unten behandelt. Die im Zusammenhang mit Äthiopien wichtige Eritrea-Frage wird unten (Gliederungspunkt IV. 1 a aa) dargestellt. bb) Burundi Burundi ist ein Teil der früheren belgischen Kolonie Ruanda-Urundi. Entgegen der sonst üblichen Praxis wird diese Kolonie 1962 in die Staaten Ruanda und Burundi geteilt, da filr die hauptsächlich auf dem Gebiet vertretenen Tutsi und Hutu wegen einer "psychosis of mutual distrust,,119 ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat entgegen den Wünschen der UN-Generalversammlung unmöglich erscheint 120.

cc) Djibouti Djibouti sieht sich als ehemaliges französisches Territorium von Afars und Issas vor seiner Unabhängigkeit Gebietsansprüchen von Seiten Somalias und Äthiopiens ausgesetzt. Äthiopien stützt sich dabei auf historische, ökonomische und ethnische Gründe, während Somalia den ethnischen Grund der Wiedervereinigung l21 aller somalischen Stämme hervorhebt 122 • Frankreich erklärt das GeShaw, Title, 262. Report ofthe Commission for Ruanda-Urundi, zit. nach Shaw, Title, 114. 120 Shaw, Titie, 153. 121 Die somalische Verfassung von 1960 wird 1979 um dieses Ziel erweitert. So lautet Artikel 16: "The Somali Democratic Republic, adopting peaceful and legal means, shall support 118

119

11. Phase der Dekolonisierung

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biet von Französisch Somaliland 1957 für "self-governing". 1967 spricht sich eine Bevölkerungsmehrheit in einem umstrittenen Referendum für den Verbleib unter französischer Herrschaft aus; 1977 entläßt Frankreich das Gebiet nach einer erneuten Abstimmung in die Unabhängigkeit, was u. a. auch von Äthiopien und Somalia, die ihre Ansprüche zurückgestellt zu haben scheinen I23 , begrüßt wird l24 . dd) Kenia

(a) Kenia-Athiopien

Der Grenzstreit zwischen Kenia und Äthiopien wird 1970 vertraglich beigelegt. Er resultiert aus der Weigerung Äthiopiens, den Bericht der Grenzmarkierungskommission aus dem Jahre 1955, die aufgrund eines Abkommens zwischen Äthiopien und Großbritannien von 1947 tätig geworden war, zu unterzeichnen, wodurch das Abkommen inoperativ bleibt 125 • Der Vertrag von 1970 verändert den 1947 verabredeten Grenzverlauf jedoch nur an drei Punkten 126. (b) Kenia-Sudan

Der genaue Grenzverlauf zwischen Kenia und Sudan ist bis heute nicht bestimmt. 1926 erhält Kenia den östlichen Teil Ugandas, die Rudolf-Provinz, übertragen. Damit erbt es ein Grenzproblem, das auf einer ungenauen Beschreibung der Grenze zwischen Uganda und Sudan aus dem Jahre 1914 beruht 127 . Diese Ungenauigkeit filhrt zunächst nicht zu Streitigkeiten zwischen beiden Ländern. 1989 erhebt der Sudan Anspruch auf das Elemi-Dreieck; Kenia weist dies sofort zurück 128 •

the liberation of Somali territories under colonial occupation and shall encourage the unity ofthe Somali people through their own free will." 122 Keesing I, 112; Shaw, Title, 119; Touval, Independent, 227. 123 Brownlie, Boundaries, 774; Keesing I, 111; Shaw, Title, 120: Äthiopien gibt 1975 seine Ansprüche offiziell auf. 124 Shaw, Title, 120. 125 Gnidil, 260f; McEwan, 111. 126 Brownlie, Boundaries, 775ff.; McEwan, 112. 127 McEwan, 131. 128 ARB 1989,9175; KRWE 1989,36918. 7 Simmler

c. uti possidetis in Afrika

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(c) Kenia-Tansania Die Grenze zwischen Kenia und Tansania wird zwischen Deutschland und Großbritannien 1893 bis 1914 in mehreren Abkommen festgelegtl29. Sie verdient insoweit Aufmerksamkeit, als durch sie das Volk der Massai getrennt wird. Die 191.000 Massai leben zu 88.000 in Kenia, zu 103.000 in Tansania l3O • Sie hatten vor der Dekolonisierung der Gebiete mehrmals bei der britischen Regierung auf ihre Vereinigung gedrängt, ohne daß diesen Wünschen Rechnung getragen worden wäre l3l . Der Konflikt zwischen Kenia und Somalia wird im Zusammenhang mit allen somalischen Grenzstreitigkeiten behandelt.

ee) Somalia Somalia als ein ethnisch homogener Staat ist unter den afrikanischen Staaten eine Ausnahmeerscheinung I32 • Da Somalia keine ethnisch motivierten Sezessionsbestrebungen innerhalb seines Gebiets zu fUrchten hat, wird der Erhalt des status quo der Grenzen fUr es nicht zu einer Überlebensfrage 133 • Dies hat zur Folge, daß Somalia, das sich als Nationalstaat europäischer Prägung versteht, sich über das utipossidetis hinwegsetzt und eine Vereinigung aller somalischen Völker in seinen Grenzen anstrebt 134 • Das bringt das Land, selbst bereits ein Zusammenschluß der ehemaligen Kolonien Italienisch Somaliland und Britisch Somaliland 13S , in Grenzkonflikte mit seinen Nachbarstaaten, namentlich Äthiopien und Kenia.

(a) Somalia-A"thiopien Somalia bezeichnet seit seiner Unabhängigkeit 1960 das Ogaden-Gebiet im Osten Äthiopiens, auf dem ein bis drei Millionen nomadischer Hirten leben, die ethnisch dem somalischen Volk angehören, als "Western Somalia" und verlangt seine Vereinigung mit dem somalischen Kernland l36 . Das umstrittene Gebiet Brownlie, Boundaries, 923; McEwan, 137. Prescott, Geography, 144. 131 Brownlie, Boundaries, 938; Prescott, Geography, 145; McEwan, 148f 132 Shaw, Titte, 197; Touval, Independent, 34; Zartman, in: Wistrand, 81. 133 Shaw, Titte, 197; Touval, Independent, 34. 134 Boutros-Ghali, 47; Chime, in: Widstrand, 72; Doob, in: Doob, 3; KlabberslLefeber, in: Peoples, 66; Matthies, 107; Touval, Independent, 34; Yakemtchouk, 87. 135 Doob, in: Doob, 3; KlabberslLefeber, in: Peoples, 65; Prescott, Geography, 143. 136 Brownlie, Boundaries, 849; Guilhaudis, AFDI 25 (1979), 227; Keesing 11, 126. Zur historischen Entwicklung des Ogaden-Konflikts siehe Matthies, 77-80. 129

130

11. Phase der Dekolonisierung

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steht bis 1955 unter britischer Verwaltung und wird daraufhin an Äthiopien übergeben 137 • Als Grenze zwischen dem Ogaden und dem britisch verwalteten Italienisch Somaliland zieht Großbritannien in Erwartung genauerer Regelungen 1950 eine administrative Linie, die aufgrund des Konflikts zwischen Somalia und Äthiopien bis heute als internationale Grenze dient 138 • Nach kurzen und heftigen Kämpfen in den frühen sechziger Jahren 139 kommt es zu einer Phase der Verhandlungen, die durch die blutige Eskalation des von Somalia auch mit Truppen unterstützten Guerilla-Kampfes im Ogaden ab 1977 beendet wird 140. Auch in den achtziger Jahren gibt es militärische Zusammenstöße zwischen Äthiopien und Somalia '41 ; die Situation wird dadurch immer unübersichtlicher, daß in Somalia ein Bürgerkrieg um die Macht ausbricht l42 , der zur augenblicklichen Unregierbarkeit Somalias und dem damit verbundenen Zusammenbruch aller staatlichen Institutionen fiihrt143.

(b) Somalia-Kenia

Gegenüber Kenia macht Somalia Ansprüche auf dessen Northern Frontier Distriet (NFD) geltend '44 . Im NFD leben 388.000 Menschen, davon ca. 240.000 Somalis, die mehrheitlich filr eine Vereinigung mit Somalia sind '4s . Bei der Unabhängigkeit Kenias 1963 wird der NFD aufgelöst und die somalische Bevölkerung mehrheitlich in der neuen North-Eastern-Province zentriert '46 • Es treten jahrelang sporadische Feindseligkeiten an der Grenze zwischen den beiden Staaten auf, bis im September 1967 beide Regierungen ihre Bereitschaft zur friedlichen Koexistenz bekunden '47 . Die Beziehungen zwischen ihnen bleiben bei ruhender Grenzfrage heikel und entspannen sich erst in den frühen achtziger

Boutros-Ghali, 49; Keesing 11, 128. Brownlie, Boundaries, 827; Keesing 11, 128; Shaw, Title, 250. Siehe auch Blackstone, 133; Matthies, 55. 139 Boutros-Ghali, 54; Keesing 11, 129; KlabberslLefeber, in: Peoples, 66; Matthies, 78; Shaw, Title, 199. 140 Brownlie, Boundaries, 849; Guilhaudis, AFDI 25 (1979), 227; Keesing 11, 130; KlabberslLefeber, in: Peoples, 66; Shaw, Title, 200f. 141 Vgl. ARB 1986,7925; ARB 1987,8390; ARB 1988,8802. 142 Keesing 11, l3lf.; KlabberslLefober, in: Peoples, 66-67. 143 Vgl. z. B. KlabberslLefeber, in: Peoples, 66; Krabbe, FAZ vom 14. August 1995. Zur Einstufung Somalias als ein Beispiel rur einen "failed state" siehe Thürer, BDGV 34 (1995),25. Zum Begriff des "failed state" außerdem Herdegen, BDGV 34 (1995), 49ff. 144 Boutros-Ghali, 63; Keesing 11, 144; McEwan, 115; Prescott, Geography, 143. Zur historischen Entwicklung siehe Matthies, 80-88. Siehe auch ARB 1991,9737-9740. 145 Matthies, 110; McEwan, 113; Prescott, Geography, 143; Shaw, Title, 110. 146 Keesing 11, 146; McEwan, 126. 147 Boutros-Ghali, 74; Keesing 11, 147; McEwan, 128. 137

138

7"

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Jahren sichtlich l48 . 1981 wird der somalische Präsident Barreh in der nairobisehen Zeitung "Standard" mit folgendem Statement zitiert: "We in Somalia have no claim whatsoever on any part ofKenya's territory .... lt is of course a historical fact that there are people of Somali origin in Kenya. But we regard them as Kenyans.,,149

ft) Tansania Zwischen Tansania, das 1964 als Union von Tanganyika und Zanzibar entsteht l50, und Malawi besteht seit 1967 ein Konflikt über den Verlauf der gemeinsamen Grenze auf dem Lake Nyasa, der jedoch seit 1968 keine Erwähnung mehr fmdet und zu ruhen scheines I. Am I. November 1978 annektiert Uganda den Kyaku-Streifen Tansanias, um die angestrebte "natürliche Grenze" am Fluß Kagera zu erreichen. Bereits am 14. November 1978 erklärt Uganda die Annexion wieder fUr beendet 1S2 •

gg) Uganda Uganda verlangt aufgrund eines historischen Titels von Kenia und Sudan Gebiete heraus, die in der Kolonialzeit an diese Staaten übertragen wurden lSJ . Im Verhältnis zu Kenia scheint dieser Streit jedoch bereinigt und die durch eine Order von 1926 bestimmte Grenze akzeptiert ls4 . Die Grenze zum Sudan ist zwar nicht tatsächlich markiert, jedoch wohl durch unveränderte Existenz im Lauf der Zeit zur festen Grenze geworden ISS.

e) Grenzkonjlikte im südlichen Afrika Zum südlichen Afrika zählen hier Angola, Botswana, Lesotho, Malawi, Mosambique, Namibia, Sambia, Südafrika, Swaziland und Zimbabwe.

148 Keesing 11, 149f.; siehe aber auch Benmassaoud, 95, der von einem weiterhin kühlen gegenseitigen Verhältnis berichtet. 149 Keesing 11, 150. Vgl. auch ARB 1987, 8688. ISO KRWE 1989,36550. 151 Brownlie, Boundaries, 965; Keesing 11, 154-156; Shaw, Title, 256. Siehe auch Gnidil, 26lf.; vgl. die Karte des Gebietes in KRWE 1989, 36551. Eine ausfilhrliche Studie findet sich bei Che-Mponda, 88ff. und Benmassaoud, I 59ff. 152 Guilhaudis, AFDI 25 (1979), 230. 153 Shaw, Title, 194. 154 Blake, in: Schofield/Schofield, 194; Brownlie, Boundaries, 942; McEwan, 256. ISS Blake, in: Schofield/Schofield, 194; Brownlie, Boundaries, 1004; McEwan, 261.

11. Phase der Dekolonisierung

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aa) Lesotho Das Königreich Lesotho macht gegen das es vollständig umschließende Südafrika Gebietsansprüche über seine durch die Unabhängigkeit von 1966 bestimmten Grenzen hinaus geltend l56 • Es beruft sich darauf, daß weitere Gebiete Lesothos diesem im 19. Jahrhundert gewaltsam abgenommen wurden 157. Südafrika behandelt diese Gebiete als sein Staatsterritorium und ist zu keinen Verhandlungen bereit; bis auf gelegentliche Äußerungen verfolgt Lesotho seine angeblichen Ansprüche ohne besondern Nachdruck l58 . bb) Malawi Neben seinen Streitigkeiten mit Tansania beansprucht Malawi unter Berufung auf die präkolonialen Grenzen des Maravi-Reiches unter anderem 159 zunächst die östliche Provinz Sambias, denen es aber seitdem nicht betont nachgeht, so daß dieser Grenzkonflikt als erledigt angesehen werden kann l60 • Ähnliches ereignet sich im Hinblick auf angebliche historische Gebietsansprüche an Mozambique l61 . cc) Namibia Namibia, das frühere South West Africa, erreicht erst im Jahre 1990 seine Unabhängigkeit l62 . Dabei muß es sich insbesondere gegen Versuche Südafrikas durchsetzen, sein Territorium in viele Homelands aufzuteilen 163. Die UNGeneralversammlung und der Council for Namibia unterstützen in der Phase der Unabhängigkeitsverhandlungen jedoch die territoriale Einheit Namibias l64 • 1994 erhält Namibia die Walfischbucht zurück, auf die Südafrika bis zum dortigen Systemwechsel Anspruch erhob l65 •

Brownlie, Boundaries, 1114; Keesing 11, 151. Keesing 11, 152. 158 Brownlie, Boundaries, 1114; Keesing 11, 153. 159 Boutros-Ghali, 29-31; Brownlie, Boundaries, 1217; Keesing 11, 156. 160 Keesing I, 177. 161 Brownlie, Boundaries, 1211f.; vgl. auch KRWE 1989,36609. 162 Brüggemann, 61; Melber, VN 1994, 106; FAZ vom 11. August 1994; KR WE 1990,37296. 163 Shaw, Title, 106. 164 Brüggemann, 50ff.; Keesing 11,170; Shaw, Title, 109. 165 KRWE 1995, R 23; Melber, VN 1994, 106. Zur Situation vor der Rückgabe vgl. Münch, EPIL 12 (1990), 397. 156 157

C. uti possidetis in Afrika

102

dd) Swaziland Swaziland macht einen Anspruch auf die südafrikanischen Gebiete von KaNgwane und Ngwavuma geltend, da dort mehrheitlich Swazi leben. Das Angebot Südafrikas im Jahre 1984, diese Gebiete abzutreten, wird verdächtigt, auf diese Weise der schwarzen Bevölkerung der Gebiete die südafrikanische Staatsangehörigkeit entziehen zu wollen l66 . Daher kommt es zu diesem Zeitpunkt nicht zur Umsetzung 167 • 1989 einigt man sich darauf, KaNgwane und Ngwavuma an Swaziland ZUTÜckzugeben 168 • 3. Auswertung der Staaten praxis Die Untersuchung der Staatenpraxis der afrikanischen Staaten zur Grenzziehung in der Phase der Dekolonisierung zeigt damit folgendes: Die afrikanischen Staaten akzeptieren in ihrer Mehrzahl die von den Kolonialherren gezogenen Grenzen auch im Verhältnis als unabhängige Staaten untereinander. Es treten zwar einige Fälle auf, in denen die kolonialen Grenzen aus historischen Gründen, d. h. zur Wiederherstellung präkolonialer Reiche/Staaten, in Frage gestellt werden (so besonders von Marokko, aber auch von Malawi). Jedoch ist diesen Ansprüchen kein Erfolg beschieden, sie filhren keine entsprechenden Grenzveränderungen herbei. Auch die teilweise erhobenen Grenzrevisionswünsche aufgrund ethnischen Vereinigungsstrebens (besonders bei den Somalis, aber auch bei den Ewe oder Sanwi) filhren zwar zu nicht unerheblichen Unruhen im zwischenstaatlichen Grenzgefiige, können aber keine bleibenden Grenzveränderungen veranlassen. Einige Grenzstreitigkeiten sind auf Demarkationsschwierigkeiten ZUTÜckzufilhren, da die Neustaaten Afrikas bei nicht bestimmten oder nicht markierten Grenzen wie die lateinamerikanischen Staaten vor dem Problem stehen, daß der Grundsatz der Achtung des status quo der Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit, das uti possidetis, in dem Augenblick nicht weiterhilft, in dem eine solche Grenze aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht auszumachen ist. Abschließend ist festzustellen, daß aufgrund der größeren Bestimmtheit der Grenzen in Afrika der Grundsatz des uti possidetis in der Phase der Dekolonisierung Anwendung fmden kann und es in der Mehrzahl der Grenzkonflikte bei der Festschreibung des status quo der Grenzen, so wie sie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit existieren, bleibt.

166 167

168

Keesing 11, 191. Keesing 11, 193.

ARB 1989,9403.

11. Phase der Dekolonisierung

103

Eine tatsächliche Abweichung von der kolonialen Grenzziehung, die nicht auf Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Grenzlinie beruht, fmdet sich allein im Fall der Westsahara. Hier besteht die Besonderheit, daß Spanien als der Kolonialherr des Gebietes mit Marokko und Mauretanien ein Abkommen über die Teilung der Westsahara trifft l69 • Es handelt sich also um eine Sondersituation in der Dekolonisierung, da das zu dekolonisierende Gebiet (i. e. die Westsahara) nicht als Einheit in die Unabhängigkeit entlassen wird. Stattdessen fmdet eine Aufteilung vor dem Rückzug der Kolonialmacht statt. Veränderungen im Gebietsbestand einer Kolonie vor der Entlassung in die Unabhängigkeit sind auch in Afrika nicht unüblich (siehe z. B. die Verkleinerung Ugandas, den Zusammenschluß Britisch Togolands mit der Goldküste, die Vereinigung von Italienisch Somaliland mit Britisch Somaliland oder die Aufteilung der beiden Kolonien British Cameroons auf Kamerun und Nigeria). Allerdings ist die Aufteilung eines Gebietes auf zwei Staaten, ohne daß ein Gebietsrest der Kolonie selbst in die Unabhängigkeit entlassen wird, in Afrika sonst ohne Präzedenzfall. Die besondere Brisanz der Westsahara-Frage liegt also nicht vorrangig in den konkurrierenden Gebietsansprüchen der Nachbarstaaten Marokko und Mauretanien 170, sondern darin, daß die koloniale Einheit Westsahara durch eine Vereinbarung zwischen dem Kolonialherm und zwei bereits unabhängigen Staaten zerschlagen wird. Es wird später l7l darauf einzugehen sein, ob diese Zerschlagung zulässig ist, oder ob die Betonung der kolonialen Grenzen im Zusammenspiel mit anderen Völkerrechtsregeln, insbesondere mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein solches Vorgehen verbietet.

4. opinio iuris zur afrikanischen Grenzregelung Nunmehr ist zu untersuchen, ob die Tendenz der Festschreibung des status quo der Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit, die in der Übersicht über die der Dekolonisierung nachfolgende Staatenpraxis der unabhängigen afrikanischen Staaten deutlich wird, von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung getragen wird. Ist eine solche opinio iuris nachweisbar, ist der Beweis filr das Vorliegen eines Satzes des partikulären afrikanischen Völkergewohnheitsrechts in Bezug auf die Unverletzbarkeit der ererbten kolonialen Grenzen erbracht. Die gleichförmige Praxis der Grenzbestimmung nach den von den Kolonialmächten gezogenen Linien, die auch teilweise von entsprechenden bilateralen vertraglichen Vereinbarungen begleitet wird, kann als erstes Indiz filr eine Überzeugung (opinio iuris) der afrikanischen Staaten dienen, daß ein Festhalten 169 Wobei sich Marokko und Mauretanien zunächst über eine Grenzziehung zwischen ihren beiden Teilen einig sind, Keesing 11, 179. 170 Von denen der mauretanische Anspruch, wie oben dargestellt, inzwischen durch Einigung mit der SADR erledigt ist. 171 Unter Punkt III.

C. uti possidetis in Afrika

104

an den kolonialen Grenzen auch rechtlich geboten ist. Eine trennscharfe Abgrenzung eines Verhaltens aus Rechtsüberzeugung gegenüber einen Verhalten aufgrund einer vertragsrechtlichen Übereinkunft oder aufgrund bloßer unverbindlicher courtoisie ist jedoch allein über die Betrachtung der Praxis kaum zu leisten. Die Annahme einer opinio iuris verlangt daher weitere Nachweise 172 • Für die Ermittlung der Rechtsüberzeugung der afrikanischen Staaten hinsichtlich der Gestaltung ihrer Grenzen ist insbesondere die Resolutionspraxis der Organisation fiir Afrikanische Einheit (OAU) von Interesse. Anders als die lateinamerikanischen Staaten schließen sich die afrikanischen Staaten sehr schnell zu einer Organisation zusammen, die ihre gemeinsamen Interessen gegenüber den nicht-afrikanischen Staaten, insbesondere den früheren Kolonialmächten, wirksamer vertreten kann. Die OAU ist ein lockerer Zusammenschluß souveräner Staaten und besitzt keine eignene Rechtssetzungskompetenz 173 • Sie kann die Mitgliedsstaaten nicht zu einem Verhalten rechtlich verpflichten 174 • Die Versammlung der Staats- und Regierungschefs als wichtigstes Organ der Organisation hat nach Art. XIII S. 2 der Charta die Befugnis, über die Diskussion von Themen mit allgemeiner Bedeutung fiir Afrika die Politik der Organisation zu harmonisieren; sie verftlgt aber über keine rechtliche Entscheidungsbefugnis 175 • Entsprechend der schwachen Stellung der OAU dürften die Resolutionen der Versammlung oder des Ministerrats wohl grundsätzlich keine rechtliche Bindungswirkung besitzen 176• Jedoch können Resolutionen, soweit sie von einem Konsens oder von einer überwiegenden Anzahl von Mitgliedern getragen werden, ein Anzeichen dafiir sein, daß eine dem Inhalt der Resolution entsprechende Rechtsüberzeugung besteht 177 . Allerdings ist zu prüfen, ob eine etwaige allgemeine Zustimmung zu einer Resolution nur deshalb erfolgte, weil die Unverbindlichkeit der Erklärung allen Mitgliedern bewußt war. Die Charta der OAU vom Mai 1963 spricht das Prinzip der Unverletzlichkeit der ererbten kolonialen Grenzen nicht direkt an 178. Doch lassen die Präambel, Vgl. dazu oben Abschnitt (A.)., Punkt V. 2 a bb. Ipsen-Epping, § 30, Rn. 15. Zum Streit über den völkerrechtlichen Status der OAU siehe Kunig, LS 29 (1984), 25-26; zur Entwicklung der OAU siehe Elias, 121172

173

124.

174

Kunig, LS 29 (1984),35.

m Ipsen-Epping, § 30, Rn. 17; Kunig, LS 29 (1984), 26. Siehe auch Elias, 156.

176 Dies zeigt sich bereits an der meist vorsichtigen Wortwahl, die in den Resolutionen gepflegt wird; Ipsen-Epping, § 30, Rn.17. Bowelt, 242; Gnidi/, 251. Ausfilhrlich zur Rechtsqualität von Resolutionen der Versammlung siehe Kunig, Nichteinmischung, 112-135. A. A. ist Ofosu-Amaah, ZaöRV 47 (1987),82, filr die Resolutionen der Versammlung, die er ohne Begründung als bindend bezeichnet; allerdings gesteht er zu, daß ein etwaiger Verstoß nicht sanktioniert werden kann. 177 Kunig, in: GintherlBenedek, 231 f. Für den vergleichbaren FalI der Resolutionen der UN-Generalversammlung siehe Bowelt, 46; Ipsen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 23; Verdross/Simma, § 583. Siehe auch Kunig, Nichteinmischung, 128-132. 178 Falsch insoweitPazzanita, CaseWRJIL 17 (1985),137.

11. Phase der Dekolonisierung

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Artikel 2 (1) c und Artikel 3 (3) erkennen, daß die Mitglieder der OAU ihren territorialen Bestand halten wollen, woraus sich eine Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen implizit ergibt 179 • Eine ausdrückliche Äußerung der Staaten der OAU zum Erhalt der kolonialen Grenzen fmdet sich in der Resolution der Versammlung vom 21. Juli 1964 180 : "La conference des chefs d'Etat et de gouvernement reunie au Caire (R.AU.) pour sa premiere session du 17 au 21 juillet 1964, Considerant que les problemes frontaliers sont un facteur grave et permanent de desaccord, Consciente de l'existence d'agissements d'origine extra-africaine visant Etats africains,

a diviser les

Considerant, en outre, que les frontieres des Etats africains, au jour de leur independance, constituent une realite tangible,

Rappelant la creation, a la deuxieme session ordinaire du Conseil, du Comite des Onze charge d'etudier de nouvelles mesures de nature a renforcer l'unite africaine,

Reconnaissant l'imperieuse necessite de regler, par des moyens pacifiques et dans le cadre purement africain, tous les differends entre Etats africains, RappeIlant, en outre, que tous les Etats membres se sont engages, aux termes de l'article VI de la Charte de l'Organisation de l'Unite africaine, a respecter scrupuleusement les principes enonces au paragraphe 3 de l'article III de ladite Charte,

179 "We, the Heads of African States and Governments assembled in the City of Addis Abeba, Ethiopia;

Determined to safeguard and consolidate the hard-won independence as weil as the sovereignty and territorial integrity of our States, and to fight against neo-colonialism in all its forms; have agreed to the present Charter. Article 11 I. The Organization shall have the following purposes: c. to defend their sovereignty, their territorial integrity and independence; Article III The Member States, in pursuit of the purposes stated in Article 11, solemnly affirm and declare their adherence to the followingprinciples: 3. respect for the sovereignty and territorial integrity of each State and for its inalienable right to independent existence;

"

zit. aus ZaöRV 24 (1964), 155ff. Vgl. hierzu Elias, 126, 127. 180 Resolution AGlIIRes. 16 (I) sur l'intangibilite des frontieres africaines adoptee par la Conference des chefs d'Etat et de gouvernement de l'O.U.A. au Caire.

C. uti possidetis in Afrika

106

1. - Reaffirme soiennellement le respect total par tous les Etats membres de I'O.AU. des principes enonces au paragraphe 3 de l'articIe III de la Charte de ladite Organisation. 2. - DecIare soiennellement que tous les Etats membres s'enga~ent frontieres existant au moment Oll ils ont accede aI'independance." 8\

a respecter les

Diese Resolution wird nicht einstimmig angenommen: Marokko und Somalia erklären jeweils, durch sie nicht gebunden zu sein l82 . Somalia begründet dies zum einen damit, daß es bei der Verabschiedung der Resolution nicht anwesend war und nicht nachträglich zugestimmt habe l83 ; zum anderen meint es, die Resolution könne nur Konflikte erfassen, die nach dem 21. Juli 1964 entstünden, während die somalischen Gebietsansprüche an seine Nachbarn bereits älteren Datums seien l84 . Zudem sei der somalische Gebietsanspruch durch das Selbstbestimmungsrecht des somalischen Volkes, das eine Wiedervereinigung in einem Nationalstaat anstrebe, gedeckt, hinter dem der status qua der Grenzen zurückstehen müsse 18S • Marokko, das bereits der Charta der OAU nur unter einem entsprechenden Vorbehalt beigetreten war 186, macht ebenfalls deutlich, der Resolution ausdrücklich widersprochen zu haben; außerdem sei die Phrase Olles frontieres existant au moment Oll ils ont accede cl l'independance" so zu verstehen, daß dadurch auch die präkolonialen Grenzen von zu dieser Zeit unabhängigen Staaten umfaßt würden l87 . Damit versteht Marokko das "critical date", den fik die Bestimmung der Unabhängigkeit entscheidenden Zeitpunkt, anders als die übrigen Staaten der OAU. Diese Position des "persistent objector,,188 gegen den Fortbestand der kolonialen Grenzen verläßt Marokko jedoch nach einigen Jahren durch die Einigung mit Algerien und Mauretanien; spätestens seit der Aufteilung der Westsahara, die Marokko als Akt der Dekolonisierung versteht, stellt sich Marokko ebenfalls auf den Standpunkt der Unverletzlichkeit der kolonialen Grenzen l89 .

Zit. nach Boutros-Ghali, 137. Brownlie, Boundaries, 11; Gnidil, 247; Guilhaudis, AFDI 25 (1979), 233; Shaw, Title, 185. 183 Touval, Independent, 88-89. 184 Touval, Independent, 89. 185 Matthies, 107; Shaw, Title, 197f.; Touval, Independent, 92. 181

182

186

Boutros-Ghali, 14.

187 Shaw,

Title, 185f.; Touval, Independent, 89f. Zu der Rechtsfigur des "persistent objector" ausfilhrlich unten Abschnitt (G.), Punkt 1. 189 Kunig, Nichteinmischung, 383. A A ist Gnidil, 38, der das Verhalten Marokkos gegenüber Mauretanien als "politische Taktik" bezeichnet und abstreitet, daß es möglich sei, eine opinio iuris der vorgenannten Art abzuleiten. Auch eine "politische Taktik" beinhaltet jedoch eine Äußerung von Rechtsüberzeugung nach außen; da Marokko seine GebietsanspTÜche gegen seine Nachbarstaaten ausdrücklich aufgegeben hat, stünde ein 188

11. Phase der Dekolonisierung

107

Die Tatsache, daß Somalia und Marokko sich bemüßigt sehen, der Resolution ausdrücklich zu widersprechen, läßt erkennen, daß diese von ihnen keinesfalls als völlig unverbindlich angesehen wird. Daß die übrigen Staaten keine entsprechenden Erklärungen zu der Resolution abgeben, legt die Vermutung nahe, daß sie sich an deren Inhalt, anders als Marokko und Somalia, gebunden filhlen '90 . Zumindest filr diese Staaten wird demnach ein Konsens dahingehend deutlich, daß der Inhalt der Resolution ihre Rechtsüberzeugung wiedergibt'91. Durch Marokkos späteres Einschwenken auf diese Linie verbleibt in Afrika nur Somalia, das gegen die Unantastbarkeit der Grenzen angeht. Hinsichtlich Somalias Position ist bemerkenswert, daß seine offiziellen Verlautbarungen zu diesem Thema vor dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung im Bürgerkrieg widersprüchlich waren: Auf der einen Seite betont Somalia, keine Ansprüche auf benachbartes Territorium zu haben l92 ; andererseits propagiert es die Unabhängigkeit aller somalischer Territorien 193. Somalias oben dargestellter Standpunkt läßt sich vielleicht dahingehend zusammenfassen, daß es der Unverletzlichkeit der Grenzen grundsätzlich zustimmt, sofern nicht übergeordnete Rechtspositionenl 94 eine Veränderung verlangen. Nach dem Zusammenbruch Somalias herrscht in Afrika wohl die einheitliche Rechtsüberzeugung der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen. Nach 1966 werden im Rahmen der OAU kaum mehr Resolutionen zu spezifischen innerafrikanischen Grenzkonflikten eriassen l9S . Die Mitgliedsstaaten der OAU zeigen von Beginn an eine starke Zurückhaltung in Grenzkonflikten, die sich wohl darauf zurückfUhren läßt, daß sie nicht der Parteinahme bezichtigt werden möchten 196. Dieses Verhalten erlaubt vielleicht die Deutung, daß die Mitgliedsstaaten der OAU weiterhin den status quo erhalten wollen, da keine Parteinahme filr eine Seite zwangsläufig darauf hinausläuft, keine Veränderungen zu wünschen. Zumindest lassen sich keine von den Grundsätzen der Resoetwaiger innerer Vorbehalt wohl als venire contra factum proprium einer Bindung an Völkergewohnheitsrecht nicht entgegen. 190 Vgl. Kunig, in: GintherlBenedek, 232: "If an African state acts according to an OAU resolution, it may be as a rule concluded that he accepts the rule laid down in this resolution as law, ifthere are no specific circumstances which hinder this conclusion." 191 Siehe Kunig, AVR 20 (1982), 47, zur möglichen rechtlichen Relevanz von Resolutionen der OAU als Ausdruck formlosen Konsenses. 192 Matthies, 112, zitiert den somalischen Staatspräsidenten Osman mit seiner Ansprache auf der Grundungskonferenz der OAU 1963: "The Somali Govemment has no ambitions or claims for territorial aggrandizement." 193 Matthies, 113, zitiert die somalische Verfassung: "The Somali Republic shall promote, by legal and peaceful means, the union of Somali territories ... " 194 Im Falle Somalias also das behauptete Selbstbestimmungsrecht des somalischen Volkes. 195 Kunig, Nichteinmischung, 149; 1979 bekräftigt die OAU in Resolution 90 (XV) das Prinzip der Unverletzlichkeit der afrikanischen Grenzen, Guilhaudis, AFDI 25 (1979),233; siehe auch Benmassaoud, 8lf. 196 Kunig, Nichteinmischung, 147, 149, ebenso in: GintherlBenedek, 31.

108

C. uti possidetis in Mrika

lution von 1964 abweichenden oder ihnen widersprechenden Rechtsansichten in der Resolutionspraxis der OAU nachweisen, so daß man auch mangels entgegenstehender Anzeichen wohl von einer Fortgeltung der in der 1964er Resolution zum Ausdruck gekommenen Rechtsüberzeugung ausgehen darf. 5. Zwischenergebnis: uti possidetis als afrikanisches Völkergewohnheitsrecht Die Auswertung der Staatenpraxis im Anschluß an die Dekolonisierung und die Untersuchung der mit der Staatenpraxis einhergehenden Rechtsüberzeugung gestatten damit wohl folgenden Schluß: In Afrika sind die fiir die Bildung von Völkergewohnheitsrecht notwendigen Elemente der Staatenpraxis und der opinio iuris nachweisbar. Es hat sich somit unter den afrikanischen Staaten ein Satz des Völkergewohnheitsrechts mit dem Inhalt gebildet, daß die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen, soweit sie in ihrer theoretischen und praktischen Existenz bestimmbar sind, zu den internationalen Grenzen der Kolonialgebiete in dem Zeitpunkt erstarken, in dem diese Gebiete ihre Unabhängigkeit erlangen. Damit ist nicht impliziert, daß diese Grenzen rur immer unverrückbar sind 197. Eine friedliche Grenzveränderung oder Territorialverschiebung durch Vereinbarung der betroffenen Staaten ist angesichts der Handlungsfreiheit der Staaten als Völkerrechtssubjekte grundsätzlich jederzeit möglich. Daß es sich bei dem Satz der Unantastbarkeit der Grenzen um unveränderbares ius cogens handelt, das der Gestaltungsfreiheit der Staaten entzogen ist, wird man wohl kaum begründen können 198 • Es handelt sich hier um einen Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts. Er ist, wie jedes partikuläre Völkergewohnheitsrecht, auf die Staaten beschränkt, fiir die nachweisbar ist, daß sie seiner Geltung (mindestens konkludent) zugestimmt haben l99 . Dieser Nachweis läßt sich über die Auswertung der Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung fiir alle afrikanischen Staaten (mit gewissen Einschränkungen im Falle Somalias) filhren2OO • Sie sind Adressaten des partikulären Völkergewohnheitsrechtssatzes also nicht qua ihrer Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent, sondern aufgrund ihres "consent". Es ist dennoch 197 Ähnlich, wenn auch von einer anderen Rechtsqualität ausgehend, Gnidil, 258. Siehe auch DinhiDail/ier/Pellet, Nr. 313, S. 460. 198 Unklar in diesem Zusammenhang Benmassaoud, 233, der den Gedanken der friedlichen Grenzveränderung als eine neue Entwicklung gegenüber dem strikten Prinzip der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen einstuft. 199 Siehe zum ius cogens oben Abschnitt (A.), Punkt V. 2 b. 200 A. A. Gnidil, 258, der aus der Unverbindlichkeit der OAU-Resolution von 1964 sowie aus einigen Problemen bei der Bestimmung der kolonialen Grenzen schließt, daß dem "Prinzip der Unantastbarkeit ... der Charakter einer Völkerrechtsnorm nicht zuzusprechen" ist. Diese Ansicht läßt sich angesichts der hiesigen Auswertung von Staatenpraxis und opinio iuris nicht halten.

III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker

109

angemessen, hier auch von einem Satz des afrikanischen Völkergewohnheitsrechts zu sprechen, da alle afrikanischen Staaten von ihm gebunden sind. Die Regionalisierung erklärt sich durch die gleiche faktische Ausgangslage der afrikanischen Staaten: Der gesamte afrikanische Kontinent ist (teilweise unter dem Mantel des Protektorats201 ) durch die europäischen Mächte in Kolonien aufgeteilt worden. Dabei sind Kolonialgebiete entstanden, die sich nicht an ethnischen oder sonstigen Gemeinsamkeiten der sie bewohnenden Bevölkerung oder an gewachsenen historischen Grenzen orientieren. Einzig einigender Faktor der Bevölkerung der jeweiligen Kolonialgebiete sind die von den Kolonialherren gezogenen Grenzen. Den unabhängig werdenden Kolonialgebieten stellen sich daher die gleichen Probleme, filr die es eine einheitliche, filr die ganze betroffene Region brauchbare Lösung zu erarbeiten gilt. Dieser Satz des afrikanischen Völkergewohnheitsrechts wird weithin mit dem lateinischen Schlagwort des uti possidetis belegr02. In Unterscheidung zum uti possidetis iuris und uti possidetis de facto in Lateinamerika203 fmdet sich teilweise die Bezeichnung "afrikanisches uti possidetis" 204.

III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker Verhältnis des afrikanischen uti possidetis zum universellen Völkerrecht Die Westsahara-Problematik macht deutlich, daß das afrikanische uti possidetis nicht ohne Auswirkungen auf die Interpretation des Selbstbestimmungsrechts im universellen Völkerrecht geblieben ist. Nur eine besondere Bedeutung

der kolonialen Grenzen und somit der durch sie bestimmten kolonialen Einheiten vermag zu erklären, warum die Zerschlagung des Kolonialgebietes Westsahara durch den Kolonialherrn Spanien zusammen mit Marokko und Mauretanien ein so ablehnendes Echo in der Staatengemeinschaft weltweit erfilhrt und im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker als ungültig angesehen wird20s . Zur Erklärung der Reaktion der Staatengemeinschaft ist es zunächst nötig, kurz die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im modernen Völkerrecht zu skizzieren206 .

Vgl. dazu oben Fn. 25. Vgl. DinhiDai/lier/Pellet, Nr. 313, S.459; Gnidil, 272. 203 Zum Vergleich der lateinamerikanischen mit der afrikanischen uti possidetisKonzeption siehe unten Punkt V. 204 Siehe Gnidil, 273. 205 Vgl. die Resolutionen der UN-Generalversammlung und die Bemühungen der UNO um eine Referendumslösung, oben Punkt II. 2 a dd (b). 206 Aus der schier unübersehbaren Literatur zum Selbstbestimmungsrecht der Völker vgl. an ausfilhrlichen Darstellungen Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 201

202

110

c. uti possidetis in Afrika 1. Entwicklungsstufen des Selbstbestimmungsrechts bis zur Dekolonisierung

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein noch junges Konzept im modemen Völkerrecht. Die Überlegung, daß einem jeden Volk das Recht zusteht, über seine Staatsform, seine Verfassung, damit über "sich selbst" zu bestimmen, läßt sich jedoch bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen207 • Erste historische Beispiele fUr die Verwirklichung dieses Gedankens sind die Sezession der Niederlande von Spanien 1581, der amerikanischen Kolonien vom englischen Mutterland 1776, sowie die französische Revolution von 1789208 • Doch läßt eine Formulierung des Selbstbestimmungsgedankens als Völkerrechtsprinzip bis ins 20. Jahrhundert auf sich warten. Auch die Loslösung der lateinamerikanischen Staaten vom spanischen Mutterland im 19. Jahrhundert erfolgt weniger unter Berufung auf ein völkerrechtliches Selbstbestimmungsrecht, denn als Reaktion darauf, als Kolonien vom Mutterland nicht fUr vollwertig angesehen zu werden209 • Die bekannten "Vierzehn Punkte" des US-amerikanischen Präsidenten Wilson vom 8. Januar 1918 210 formulieren das Selbstbestimmungsrecht erstmalig im völkerrechtlichen Kontext, ohne den Begriff selbst zu verwenden211 • Das Schlagwort des Selbstbestimmungsrechts taucht jedoch bereits in den erläuternden Reden und Dokumenten zu den "Vierzehn Punkten" auf l2 . Trotz der starken Betonung dieses Grundsatzes in den politischen Erklärungen fmdet das Wilsonsche Selbstbestimmungsrecht auf die Neuordnung der europäischen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg, die seine erste Bewährungsprobe hätte darstellen müssen, keine ausreichende Anwendung. Die Belohnung der Verbündeten und die Schutzinteressen der Siegermächte hatten Vorrang vor hehren Prinzipien213 • Der Streit um die Aaland-Inseln214 1918-1920 bietet dem neugeschaffenen Völkerbund daher eine der ersten Möglichkeiten, sich mit Inhalt und Grenzen des Selbstbestimmungsrechts auseinanderzusetzen. Die Aaland-Inseln werden 2. Auflage 1972, sowie Doehring, in: Simma, nach Art. I (m. w. N). Weitere Nachweise auch in Brownlie, Principles, 285 Fn. 14. 2070eter, ZaöRV 52 (1992), 744; Peters, 327; Heidel";eyer (S. 11) fUhrt sogar die schweizerischen Unabhängigkeitskriege des 13. Jhdts. als Ausgangspunkt an. 208 Verdross/Simma, § 509. 209 Vgl. dazu Rahl, Bf. 210 Text in AJIL B (1919), 161ff. 211 Heidelmeyer, 20; Klein, SBR, 18. 212 Heidelmeyer, 20; Klein, SBR, 18. 213 Ferdowsi, EA 48 (1993), 250; Oeter, ZaöRV 52 (1992), 745-746; Rumpf, in: BlumenwitzJMeissner, 53; vgl. auch die ausfUhrliche Darstellung der Verhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in Heidelmeyer, 19-47. 214 Zur Geschichte der Aaland-Inseln Modeen, EPIL 12 (1990), Iff.

III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker

111

1917/1918 von Finnland bei der Abspaltung von Rußland mit in die Unabhängigkeit überfUhrt; die Inselbevölkerung favorisiert jedoch mehrheitlich einen Anschluß an Schweden. Als Schweden zur Klärung dieser Frage ein formales Plebiszit verlangt, widersetzt sich Finnland; 1920 setzt der Völkerbund zur Prüfung der Frage eine hochrangige luristenkommission ein. Diese kommt zu dem Schluß, daß fiir ein Selbstbestimmungsrecht Anwendungsraum nur soweit bestehen könne, wie eine instabile Lage existiere, in der die territoriale Souveränität eines Staates defizitär sei: "Des aspirations nouvelles de certaines fractions d'un peuple, aspirations se ratachant parfois ades vieilles traditions ou se basant sur une communaute de langue et de civiIisation, peuvent se faire jour et produire des effets dont iI faut tenir compte dans I'interet de la paix interieure et exterieure des nations. "215 Auf den Aaland-Inseln wird eine entsprechende "situation transitoire" von der Kommission festgestellt; der Völkerbund reagiert darauf nicht mit der Abhaltung eines Plebiszits, sondern sorgt fiir einen Verbleib der Inseln bei Finnland bei gleichzeitiger Garantie eines Minderheitenschutzes fiir die mehrheitlich schwedische Inselbevölkerung216 • Dieser Fall zeigt, daß die Frage des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes immer mit Überlegungen zur territorialen Souveränität des betroffenen Staates und damit zwangsläufig mit der Frage nach dem Bestand der neugeschaffenen Grenzen verbunden ist. Der Aaland-Fall als das prominenteste Beispiel zur Frage des Selbstbestimmungsrechts in der Ära des Völkerbundes läßt erkennen, daß so kurz nach der Formulierung dieses Gedankens durch Wilson wohl noch nicht von der Geltung des Selbstbestimmungsrechts als eines echten "Rechts" gesprochen werden kann. Die vorsichtigen Formulierungen der Aaland-Kommission deuten darauf hin, daß gerade auch das Fehlen des Selbstbestimmungsrechts in der Satzung des Völkerbundes dem Rechtscharakter dieses Prinzips, das universelle Geltung haben müßte, entgegenstehf l7 • Mit diesem Manko ist die Charta der Vereinten Nationen, der 1945 aus der Taufe gehobenen Nachfolgeorganisation des Völkerbundes, nicht belastet. Sie nennt in ihrem Art. 1 Ziff. 2 das Selbstbestimmungsrecht als Ziel der Organisation und greift dies in Art. 55 über die wirtschaftlichen und sozialen Ziele wieder auf l8 • Es ist wohl aus der Formulierung219 dieser Artikel abzulesen, daß das

215 216 217

Zit. nach: Klein, SBR, 27. Siehe dazu auch Luchterhand, AVR 31 (1993),60. Klein, SBR, 27; Modeen, ZaöR 37 (1977), 608. Heidelmeyer, 52.

Zur Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften ausführlich Heidelmeyer, 171-182. 219 Englisch: Artic1e 1 (2): "The Purposes of the United Nations are: ... 2. To develop friendly relations among nations based on respect for the principle of equal rights and selfdetermination ofpeoples, ... " Artic1e 55: "With a view to the creation of conditions of stability and well-being which are necessary for peaceful and friendly relations among nations based on respect 21 g

112

C. uti possidetis in Mrika

Selbstbestimmungsrecht zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Charta als politisches Leitprinzip und nicht als Rechtssatz verstanden werden soll. Das wird auch durch die travaux preparatoires der Charta gestützf20• Das Verständnis der Architekten der Charta vom Selbstbestimmungsrecht als einem politischen Prinzip ist jedoch nicht entscheidend. Die Charta ist das Statut einer internationalen Organisation; als solche ist ihr Inhalt nach dem Grundsatz der objektiven Auslegung zu ermitteln221 • Angesichts der im Laufe der Zeit veränderten Umstände nehmen die Rechtsansichten der Begründer einer Organisation gegenüber der Praxis der Mitgliedsstaaten und der Organe bei der Auslegung von Kollektivverträgen nur eine untergeordnete Position ein222 • Letztgenannte Praxis ist von entscheidender Bedeutung filr die Interpretation der Bestimmungen eines Kollektivvertrages 223 • Die nachfolgende Praxis der Mitgliedsstaaten und der UN-Organe ist besonders den Resolutionen von Generalversammlung und Sicherheitsrat zu entnehmen224 • Sie haben zwar bis auf gewisse Resolutionen des Sicherheitsrates keine rechtliche Bindungswirkung, sind aber objektive Indizien filr einen Bedeutungswandel des Selbstbestimmungsrechts durch die spätere Übung der Mitgliedsstaaten225 • Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts durch UN-Resolutionen verläuft in mehreren Schritten: Zunächst wird die Formulierung vom "Recht" auf

for the principle of equal rights and self-determination of peoples, the United Nations shall promote: ... " Französisch: Article 1 (2): "Les buts des Nations Unies sont les suivants: ... 2. Developper entre les nations des relations amicales fondees sur le respect du principe de l'egalite de droits des peuples et de leur droit a disposer d'eux-memes, ... " Article 55: liEn vue de creer les conditions de stabilite et de bien-etre necessaires pour assurer entre les nations des relations pacifiques et amicales fondees sur le respect du principe de I'egalite des droits des peuples et de leur droit a disposer d'eux-memes, les Nations Unies favoriseront: .... " 220 Cassese, in: Cot/Pellet, Art. 1 (2), 41-44 (bes. 43). 221 Doehring, in: Simma, nach Art. I, Rn. 1; vgl. Bernhardt, EPIL 7 (1984), 321323; Schermers/B1okker, § 1349; Seidl-HohenveldernlLoibl, Rn. 160 I. 222 Bernhardt, EPIL 7 (1984), 322-323; Doehring, in: Simma, nach Art. I, Rn. I. Ähnlich auch Schermers/Blokker, § 1348. Vgl. auch Danilenko, 162-172. 223 Schermers/Blokker, § 1347. Dies entspricht der Regelung in Art. 31 III lit. a) und b) der Wiener Vertragsrechtskonvention, die in diesem Abschnitt wohl völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregeln kodifiziert; so Bernhardt, EPII 7 (1984), 321, 323. Vgl. auch Rosenne, EPIL 7 (1984),530. 224 Brownlie, Principles, 596; Doehring, in: Simma, nach Art. 1, Rn. 14. 225 So auch der IGH in ICI Reports 1971,16 (31, para. 52,53) (Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion). Vgl. allgemein Bowett, 46.

III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker

113

Selbstbestimmung eingefUhrt, so am deutlichsten in der GeneralversammlungsResolution 545 (VI)226: "Whereas the General Assembly at its fifth session recognized the right of peoples and nations to self-determination as a fundamental human right (resolution 421 D (V) ofDecember 1950), Whereas the Economic and Social Council and the Commission on Human Rights, owing to lack of time, were unable to carry out the request of the General Assembly to study ways and means which would ensure the above-mentioned right to peoples and nations, Whereas the violation of this right has resulted in bloodshed and war in the past and is considered a continuous threat to peace, The General Assembly I. Decides to include in the International Covenant or Covenants on Human Rights an article on the right of all peoples and nations to self-determination in reaffirmation ofthe principle enunciated in the Charter ofthe United Nations. This article shall be drafted in the following terms: "All peoples shall have the right of selfdetermination", and shaIl stipulate that all States, including those having responsibility for the administration of Non-Self-Governing Territories, should promote the realization ofthat right, in conformity with the Purposes and Principles ofthe United Nations, and that States having responsibility for the administration of Non-SelfGoverning Territories should promote the realization of that right in relation to the peoples of such Territories; 2. Requests the Commission on Human Rights to prepare recommendations concerning international respect for the self-determination of peoples and to submit these recommendations to the General Assembly at its seventh session."

Dann erfolgt der Bezug auf die abhängigen Völker, so in Generalversammlungsresolution 637 (VII)227 mit dem Titel "The Right of Peoples and Nations to Self-determination": "Whereas the right of peoples and nations to self-determination is aprerequisite to the full enjoyment of all fundamental human rights, The General Assembly recommends that: I. The States Members of the United Nations shall uphold the principle of selfdetermination of all peoples and nations;

2. The States Members of the United Nations shall recognize and promote the rea· lization of the right of self-determination of the peoples of Non-Self-Governing and Trust Territories who are under their administration and shall faciliate the exercise of this right by the peoples of such Territories according to the principles and spirit of the Carter of the United Nations in regard to each Territory and to the freely expressed wishes of the peoples concerned, the wishes of the people being ascertained through p1ebiscites or other recognized democratic means, preferably under the auspices ofthe United Nations;

226 227

Vom 5. Februar 1952. Vom 16. Dezember 1952.

8 Simmler

C. uti possidetis in Afrika

114

3. The States Members of the United Nations responsible for the administration of Non-Self-Governing and Trust Territories shall take practical steps, pending the reaIization of the right of self-determination and in preparation thereof, to ensure the direct participation of the indigenous populations in the legislative and executive organs of government of those Territories, and to prepare them for complete selfgovernment or independence."

Nach noch einigen Jahren eher behutsamer Entwicklung und Wortwahl treten die UN in die nächste Phase ein, in der die Fortdauer der Kolonialherrschaft mit deutlichen Worten verurteilt wird. Erster Meilenstein ist hier die Generalversarnmlungsresolution 1514 (XVi28, mit dem Titel "Declaration on the Granting ofIndependence to Colonial Countries and Peoples": "The General Assembly, Convinced that all peoples have an inalienable right to complete freedom, the exercise oftheir sovereignty and the integrity oftheir national territory, DecIares that: I. The subjection of peoples to alien subjugation, domination and exploitation constitutes a denial offundamental human rights, is contrary to the Charter ofthe United Nations and is an impediment to the promotion ofworld peace and co-operation. 2. All peoples have the right to self-determination; by virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development. 3. All armed action or repressive measures of all kinds directed against dependent peoples shall cease in order to enable them to exercise peacefully and freely their right to complete independence, and the integrity of their national territory shall be respected. 6. Any attempt aimed at the partial or total disruption of the national unity and the territorial integrity of a country is incompatible with the purposes and principles of the Charter ofthe United Nations.

An dieser Resolution flilIt bereits die Verbindung von Selbstbestinunungsrecht und territorialer Integrität auf, die ftlr die weitere Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts prägend sein wird. Diese Koppelung erklärt sich daraus, daß das Selbstbestimmungsrecht sich wie ein Fremdkörper im Gefüge des staatenorientierten Völkerrechts ausninunt. Aufgrund des Selbstbestinunungsrechts werden Staaten territorial verändert; daher ist es nötig, die Grenzen dieses Rechtsinstituts deutlich zu machen. Zur Lösung des zunächst vorrangigen Problems, wie sich die Unabhängigkeit der Kolonien mit der territorialen Integrität

228

Vom 14. Dezember 1960.

III. Exkurs: Selbstbestimmungsrecht der Völker

115

der Kolonialmächte, die die Kolonien großenteils als eigenes Staatsgebiet verstehen229 , vereinbaren läßt, bürgert sich schnell folgende Fonnel ein: "The territory of a colony or other Non-Self-Governing Territory has, under the Charter, a status separate and distinct from the territory of the State administering it It

230

Alle bislang genannten Resolutionen ergehen zwar mit deutlicher Mehrheit, meist aber unter geschlossener Enthaltung der Kolonialmächte. Dies deutet zwar darauf hin, daß zu dieser Zeit, d. h. bis Anfang der sechziger Jahre, der Trend zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts als eines völkerrechtlichen Rechtssatzes geht; eine allgemeine Rechtsüberzeugung, wie sie fUr eine verändernde Vertragsauslegung nötig ist, ist aber noch nicht auszumachen. Dies ändert sich mit der Friendly-Relations-Declaration von 1970, die "without vote" in Konsensverfahren angenommen wird. Hier werden die Fragen von Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität im 5. Prinzip mit dem Titel "The principle of equal rights and self-detennination of peoples" gemeinsam abgehandelt: "By virtue of the principle of equal rights and self-determination of peoples enshrined in the Charter of the United Nations, all peoples have the right freely to determine, without external interference, their political status and to pursue their economic, social and cultural development, and every State has the duty to respect this right in accordance with the provisions ofthe Charter. The establishment of a sovereign and independent State, the free association or integration with an independent State or the emergence into another political status freely determined by a people constitute modes of implementing the right of selfdetermination by that people. Nothing in the foregoing paragraphs shall be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of sovereign and independent States conducting themselves in compliance with the principle of equal rights and self-determination of peoples as described above and thus possessed of a government representing the whole people without distinction as to race, creed or colour.... ". Diese Resolution deutet darauf hin, daß das in der UN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht nunmehr als Rechtssatz und nicht nur als politisches Leitprinzip verstanden werden muß. Damit bindet das Selbstbestimmungsrecht

229 Franck, AJIL 70 (1976), 70 I für das Beispiel spanischer Kolonien in Afrika; Kelsen,207f.

230 Generalversammlungs-Resolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970, "Declarati on on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations", sog. FriendlyRelations-Declaration, 5. Prinzip.

116

C. uti possidetis in Afrika

der Völker zumindest auf vertragsrechtlicher Grundlage die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen 231 •

2. Träger des Selbstbestimmungsrechts Auch wenn eine Erstarkung des Selbstbestimmungsrechts zum völkerrechtlichen Rechtssatz zumindest unter der UN-Charta überwiegend akzeptiert zu sein scheint, besteht große Unsicherheit darüber, wer Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, d. h., wie ein "Volk" i. S. d. Selbstbestimmungsrechts defmiert werden muß. Hierbei konkurrieren Vorstellungen von einer juristischen Defmition von "Volk" mit Überlegungen zu einer ethnischen Defmierung232 • Eine Darstellung der mit dem Begriff "Volk" verbundenen Diskussionen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht mögIich233 . Die Dekolonisierungspraxis in Afrika mit ihrer Betonung der kolonialen Grenzziehung hat nach weitgehend einhelliger Ansicht jedoch zumindest einen verläßlich defmierbaren Träger des Selbstbestimmungsrechts ermittelt: die Bevölkerung einer kolonialen Einheif34 . Die besondere Situation in Afrika, die durch die flächendeckende Kolonisierung und die damit einhergehende Zerstörung der im präkolonialen Afrika dominierenden Herrschaft durch personale Verbundenheit entstanden ist, fllhrt dazu, den Träger des Selbstbestimmungsrechts territorial zu definieren. In Ermangelung anderer fUr ganz Afrika ermittelbarer Zuordnungssubjekte muß eine territoriale Anbindung des Selbstbestimmungsrechts erfolgen. Daher hat die Bevölkerung auf dem vom Kolonialherrn durch Grenzziehung bestimmten Gebiet als Selbstbestimmungssubjekt das Recht, über ihr zukünftiges Schicksal zu entscheiden, indem sie eine der vier in der Friendly-Relations-Declaration vorgesehenen Möglichkeiten der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts235 wählt. 231 Crisfescu, para. 95, 135; Doehring, in: Simrna, nach Art. 1, Rn. 1; Gros Espiell, para. 50. A. A. Gnidil, 181, mit der Begründung, sein Inhalt sei zu unbestimmt. Diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen, da auch den von Gnidil kolportierten verschiedenen Meinungen vom Inhalt des Selbstbestimmungsrechts gemeinsam ist, das das Selbstbestimmungsrechtjedenfalls als "Recht" verstanden wird. So auch Brownlie, Principles, 285,596. 232 Buchheit, 9-11; Cristescu, para. 267-287; Rahl, 498f. Vgl. auch die weiterftlhrenden Literaturhinweise in Brownlie, Principles, 290 Fn. 29. 233 Vgl. dazu Doehring, in: Simrna, nach Art. 1, Rn. 27-53 mit weiterftlhrenden Hinweisen. Außerdem auch Rahl, 498f. und Brownlie, Principles, 290 Fn. 29. 234 Für diese weithin vorhersehende Ansicht siehe z. B. Brownlie, Principles, 290; Buchheit, 7; Cristescu, para. 48; Doehring, in: Simrna, nach Art. 1, Rn. 30, 47f.; Gros Espiell, para. 50, 55; Kunig, Nichteinmischung, 367; Pazzanita, CaseWRJIL 17 (1985), 135; Rahl, 498f; Thürer, EPIL 8 (1985), 473; Shearer, 112; Weller, ZaöRV 56 (1996), 75. 235 "The establishment of a sovereign and independent State, the free association or integration with an independent State or the emergence into another political status

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Das Abstellen auf die Bevölkerung einer kolonialen Einheit als Träger des Selbstbestimmungsrechts und das afrikanische uti possidetis beeinflussen sich demnach gegenseitig: Die Beibehaltung der kolonialen Grenzen scham ein Selbstbestimmungssubjekt, ein "Volk", das sich von der europäischen Fremdherrschaft befreien kann; gleichzeitig ist die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch dieses Volk in Form der Bildung eines neuen Staates nur möglich, wenn die Existenz der territorial bestimmten Staatsnation nicht durch Ansprüche Dritter gegenüber den territorialen Grenzen dieses Staates geflihrdet isr36 • Dabei wirkt der Grundsatz der Unverletzbarkeit der kolonialen Grenzen im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts auch gegenüber der Kolonialmacht in die Zeit vor der Unabhängigkeit des Kolonialgebietes zurück: Der Kolonialherr darf das durch seine Grenzziehung bestimmte Selbstbestimmungssubjekt nicht mehr ohne dessen Zustimmung verändern237 • Darin wird man auch den Grund sehen müssen, daß die Aufteilung der Westsahara durch Spanien ohne Befragung der Bevölkerung als unzulässig angesehen wird. Mit seiner Grenzziehung zur Bestimmung des Westsahara-Kolonialgebietes hat Spanien ein Selbstbestimmungssubjekt geschaffen, dessen Rechte es vor einer VerfUgung über das Kolonialterritorium zu beachten hat. Ein vergleichbarer Fall findet sich im Verhältnis Frankreichs zu Algerien: Auf internationalen Druck läßt Frankreich seinen Plan, vor der Unabhängigkeit Algeriens die Saharagebiete von dessen Territorium abzutrennen, fallen 238 •

IV. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit 1. Staatenpraxis

Auch nach der Unabhängigkeit sehen sich einige afrikanische Staaten mit Grenzproblemen konfrontiert. Bei diesen Grenzkonflikten handelt es sich vorrangig um Sezessionsbestrebungen, die gegen die territoriale Einheit der betroffenen Staaten gerichtet sind239 • Es stellt sich die Frage, ob die unabhängigen freely determined by a people constitute modes of implementing the right of selfdetermination by that people." Es ist anzunehmen, daß die territoriale Definierung des Selbstbestimmungssubjekts großen Einfluß auf die Entscheidung der überwiegenden Anzahl der ehemaligen Kolonien hatte, die Bildung eines unabhängigen Staates zu wählen. 236 Vergleichbar wohl Rabl, 498f. Kunig, Nichteinmischung, 367, spricht von einer "Art Vorwirkung des Prinzips der Unantastbarkeit kolonialer Grenzen." 237 V gl. Rabl, 266 und die allgemeineren Ausfilhrungen in Brownlie, Principles, 288. 238 Rabl, 266ff. über den Einsatz der UN-Generalversammlung in diesem Zusammenhang. 239 Streitigkeiten um die Zugehörigkeit eines Territoriums zu einem Staat bzw. über das Recht eines Gebietsteils, sich aus einem Staat zu lösen, wird man als Grenzkonflikte im weiteren Sinn bezeichnen können, da es immer auch um die Frage geht, ob die Grenzen des betroffenen Staates in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben.

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afrikanischen Staaten in diesen Grenzkonflikten, die nicht mehr direkt mit der Phase der Dekolonisierung verbunden sind, am Prinzipdes uti possidetis festhalten und somit sowohl diesen Rechtssatz als auch die dekoloniale Prägung des Selbstbestimmungsrechts konsolidieren. Dazu ist wiederum eine Untersuchung der Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung der afrikanischen Staaten hinsichtlich ihres Umgangs mit nachkolonialen Grenzproblemen notwendig. Es bietet es sich an, die einzelnen aufgetretenen Fälle jeweils nach Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung zu beleuchten. Dabei bleibt es nicht aus, daß einige bereits als Dekolonisierungskonflikte angesprochenen Streitigkeiten in ihrer Fortentwicklung wieder aufgenommen werden. a) Äthiopien

aa) Eritrea Der erst 1993 von Erfolg gekrönte Kampf Eritreas um die Unabhängigkeit von Äthiopien hat eine lange Geschichte. Vor der Besetzung Eritreas durch Italien Ende des 19. Jahrhunderts gehört es als formlose Einheit zu den äußeren Bereichen des äthiopischen Reiches 240 • Nach der britischen Übernahme 1941 beginnt ein Zwist unter der zu gleichen Teilen christlichen und muslirnischen Bevölkerung über die Zukunft der Kolonie, wobei erstere filr eine Verbindung mit Äthiopien, letztere dagegen eintreten241 • Der britische Vorschlag, die muslirnischen Gebiete an Sudan und die christlichen Gebiete an Äthiopien zu geben, fmdet keine Unterstützung; 1950 beschließt die UN-Generalversammlung, Eritrea als autonome Einheit in eine Föderation mit Äthiopien einzubinden242 . Goy, AFDI 39 (1993), 338; KlabberslLefeber, in: Peoples, 71; Shaw, Title, 117. Goy, AFDI 39 (1993),339; Shaw, Title, 117. 242 Jessup, 241ff. gibt eine detaillierte, wenn auch etwas launige Schilderung der damaligen Verhandlungen; Dörr, 370; Goy, AFDI 39 (1993), 339; KlabberslLefeber, in: Peoples, 72; Shaw, Title, 119f. Generalversammlungsresolution vom 2. Dezember 1950: 240

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The General Assembly, ... Taking into consideration (a) the wishes and we1fare of the inhabitants of Eritrea, including the views of the various racial, religious and political groups of the provinces of the territory and the capacity ofthe people for se1f-government, (c) The rights and claims of Ethiopia based on geographical, historical, ethnic or economic reasons, including in particular Ethiopia's legitimate need for adequate access to the sea, Recognizing that the disposal of Eritrea should be based on its c10se political and economic association with Ethiopia, and

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1962 annektiert Äthiopien Eritrea offiziell als 14. Provinz, nachdem es bereits 1955 seine föderative Verfassung gegen eine unitarische getauscht hatte; daraufhin beginnt der eritreische Unabhängigkeitskampf43 . Die arabischen Staaten, insbesondere Sudan und Libyen auf dem afrikanischen Kontinent, unterstützen die Sezessionsbestrebungen244 , während die übrigen afrikanischen Staaten die Unverletzlichkeit der kolonialen Grenzen in den Vordergrund stellen24s • In dem mehr als 30 Jahre dauernden Guerilla-Krieg der Befreiungsbewegungen Eritreas, besonders der ELF (Eritrea Liberation Front), gelingt es den Aufständischen nach und nach, die Kontrolle über das gesamte eritreische Gebiet zu gewinnen. Nach einem Regierungswechsel in Äthiopien 1992 erklärt sich dieses bereit, das Ergebnis einer Volksabstimmung in Eritrea als bindend zu akzeptieren246 • Nach einem Votum von 99,8% der abgegebenen Stimmen filr die Unabhängigkeit Eritreas im April 1993 erkennt Äthiopien wie viele andere Staaten247 Eritrea als unabhängigen Staat an248 • bb) Oromo In der äthiopischen Provinz Oromia kämpft die OLF (Oromo Liberation Front) nach dem Vorbild Eritreas filr eine Volksabstimmung über die SelbstbeDesiring that this association assure to the inhabitants of Eritrea the fullest respect and safeguards for their institutions, traditions, religions and languages, as weil as the widest possible measure of self-government, while at the same time respecting the Constitution, institutions, traditions and the international status and identity of the Empire of Ethiopia, A. Recomrnends that: 1. Eritrea shall constitute an autonomous unit federated with Ethiopia under the sovereignty ofthe Ethiopian Crown. 2. The Eritrean Government shall possess legislative, executive and judicial powers in the field of domestic affairs. 13. The Federal Act and the Constitution ofEritrea shall enter into effect following ratification of the Federal Act by the Emperor of Ethiopia, and following approval by the Comrnissioner, adoption by the Eritrean Assembly and ratification by the Emperor of Ethiopia of the Eritrean Constitution. Gay, AFDI 39 (1993),341; KlabberslLefeber, in: Peop1es, 73; Shaw, Title, 212. Gay, AFDI 39 (1993), 344; Shaw, Title, 212. 245 Gay, AFDI 39 (1993), 342; Kunig, Nichteinmischung, 188; Shaw, Title, 212. 246 KlabberslLefeber, in: Peoples, 73; FAZ vom 5. Mai 1993. Zur Entwicklung ausftlhrlich Peters, 226-228. 247 Etwa ein Dutzend Staaten hatten bereits zuvor die Anerkennung Eritreas ausgesprochen, darunter die USA und die frühere Kolonialmacht Italien. Die Bundesrepublik erkennt Eritrea am 24. Mai 1993 an, Faz vom 25. Mai 1993; vgl. auch Gay, AFDI 39 (1993),351; KRWE 1993,39450. 248 Gay, AFDI 39 (1993), 348; FAZ vom 5. Mai 1993; ARB 1993, 10960f. 243

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stimmung der Oromo, die 30-40% der Bevölkerung Äthiopiens bilden. Äthiopien reagiert darauf mit verstärkter Militärpräsenz und lehnt ein Referendum ab249, obwohl die neue Verfassung von 1994 den neugegründeten "Staaten" Äthiopiens 2so ein Sezessionsrecht einräumt2Sl • b) Elfenbeinküste (Sanwi}

Die Elfenbeinküste steht 1959 Sezessionsbestrebungen des Sanwi-Volkes gegenüber. Die Sanwi der Elfenbeinküste erhalten verbale und wohl auch fmanzielle Unterstützung durch die Regierung von Ghana, die im Rahmen des oben2S2 angesprochenen Grenzkonflikts mit der Elfenbeinküste unter der Fahne der ethnischen Vereinigung aller Sanwis territoriale Ansprüche an die Elfenbeinküste stellt2s3 . Die Sanwis der Elfenbeinküste streben jedoch keine Unierung mit Ghana an, sondern träumen von einem eigenen unabhängigen SanwiStaat254 • Nach kleineren Zusammenstößen gelingt es der Elfenbeinküste, die Sezessionsbewegung zu ersticken2s5 • c) Kongo [Zaire] (Katanga)

Der Kongo (1963-1997: Zaire) erlangt am 30. Juni 1960 seine Unabhängigkeit; bereits am 11. Juli 1960 erklärt Katanga, seine reichste Provinz, unter Tshombe die Sezession2s6 : "... peuple katangais ... considerant que la Charte des Nations Unies proclame solennellement le droit des peuples a disposer d'eux-memes ...

un appel solennel a toutes les pays du monde libre pour qu'ils reconnaissent sans delai l'independance de son territoire"2S7.

Es erhält dabei Unterstützung von der früheren Kolonialmacht Belgien2S8 • Aufgrund eines Hilfegesuchs der Zentralregierung an die Vereinten Nationen

249 Uljkotte, FAZ vom 20. Februar 1996. Siehe auch KRWE 1990, 37173; ARB 1994,11681. 250 D. h. den Bundesstaaten. 251 KRWE 1995, R 13. 252 Siehe Abschnitt (C.), Punkt 11. 2 b cc. 253 Touval, Independent, 161. 254 Touval, Independent, 161. 255 Touval, Independent, 284. 256 Yakemtchouk, 43; Shaw, Title, 152. 257 Yakemtchouk, 43. 258 Shaw, Title, 203.

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tritt am 14. Juli 1960 der UN-Sicherheitsrat zusammen und verabschiedet mit acht Stimmen bei drei Enthaltungen ohne Gegenstimme eine Resolution, die Belgien zum Truppenrückzug aus dem Kongo auffordert259 • Die Haltung der UNO zur Sezession von Katanga wird besonders deutlich in einer späteren Sicherheitsratsresolution, die sie als illegal brandmarkt: "The Security Council, Reaffirming the policies and purposes ofthe United Nations with respect to the Congo (Leopoldville) as set out in the aforesaid resolutions, namely: (a) To maintain the territorial integrity and the political independence ofthe Republic ofthe Congo, Deploring all armed action in opposition to the authorities of the Government of the Republic of the Congo, specifically secessionist activities and armed action now being carried on by the provincial administration of Katanga with the aid of external resources and foreign mercenaries, and completely rejecting the claim that Katanga is "a sovereign independent nation", 1. Strongly deprecates the secessionist activities illegally carried out by the provincial administration of Katanga with the aid of external resources and manned by foreign mercenaries;

3. Insists that such activities shall cease forthwith, and calls upon all concerned to desist therefrom; 8. Declares that all secessionist activities against the Republic of the Congo are contrary to the Loi fondamentale and Security Council decisions and specifically demands that such activities which are now taking place in Katanga shall cease forthwith; ... " 260

Auch die afrikanischen Staaten stehen dem Sezessionsversuch Katangas ablehnend gegenüber. So erklären die im August 1960 in der Hauptstadt des Kongo, Leopoldville, zusammengekommenen afrikanischen Staaten "total supoort for the territorial integrity of the Congo and condemnation of the secession. ,,2~1

Die auf der Monrovia-Konferenz 1961 versammelten afrikanischen Staaten rufen dazu auf "to desist from such activities as the hasty recognition ofbreakaway regimes"262.

259 Sicherheitsratsresolution 143, der Beginn einer Reihe von Resolutionen mit ähnlichem Inhalt. 260 Sicherheitsratsresolution 169 vom 24. November 1961, angenommen mit neun zu null Stimmen bei zwei Enthaltungen (Frankreich und Großbritannien). 261 Shaw, Title, 204. 262 Shaw, Title, 184.

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Dies trägt dazu bei, daß Katanga von keinem afrikanischen Staat als unabhängig anerkannt wird263 • Aufgrund der internationalen Unterstützung für die Zentralregierung und ihren Kampf um die Erhaltung der territorialen Integrität des Kongo kann sich Katanga nicht in der Unabhängigkeit halten; am 14. Januar 1963 akzeptiert Tshombe das Ende der Sezession264 •

d) MaU (Tuareg)

Mali sieht sich 1963 mit einem bewaffueten Aufstand der Tuareg konfrontiert, die eine Sezession von Mali anstreben, auch wenn ihre endgültigen Ziele unklar bleiben26s • Die Tuareg erhalten jedoch keinerlei Unterstützung266, während Mali mit der Hilfe Algeriens rechnen kann, aufgrund derer es Mali gelingt, den Aufstand niederzuschlagen267 • 1991 schließt Mali mit den Tuareg ein Abkommen, das den kulturellen Besonderheiten der Tuareg durch die Gewährung einer internen Autonomie Rechnung trägt. Damit wird der langandauernde GuerillakampF68 der Tuareg gegen Mali beender69.

e) Nigeria (Biafra)

1966 kommt es in Nigeria zu zwei Staatsstreichen, in deren Verlauf Unruhen im Norden des Landes auftreten; diese ftlhren zu Massakern an den dort ansässigen Ibos mit einer folgenden Massenflucht der Überlebenden in die Eastern Region, das Kernland der Ibo-Siedlungen27o • Diese Region erklärt sich unter Colonel Ojukwu am 30. Mai 1967 als "Staat von Biafra" für unabhängig271 • Am 6. Juli 1967 beginnen Kämpfe zwischen den Sezessionisten und den Regierungstruppen, die bis zur Kapitulation Biafras am 12. Januar 1970 anhalten272 •

Shaw, Title, 208. Shaw, Title, 207. 265 Rosenberg, RBDI 1992, 17; Touval, Independent, 287. 266 Kunig, Nichteinmischung, 188; Rosenberg, RBDI 1992, 17. 267 Touval, Independent, BI. 268 Der besonders 1990 wieder aufflammt, ARB 1990,9714f. 269 Rosenberg, RBDI 1992,24,39; ARB 1991,9731-9734; KRWE 1991, 37947; KR WE 1996, 40983, berichtet über eine Erklärung der Tuareg-Führung, in der diese sich zu "national unity and to the territorial integrity of the country" bekennen. Vgl. auch ARB 1994, II 692. 270 Chime, in: Widstrand, 74; Shaw, Title, 208. 27\ Shaw, Title, 208. 272 Shaw, Title, 208. 263

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Die Situation in Nigeria wird auf die Tagesordnung der Kinshasa-Konferenz der OAU im September 1967 gesetzt und mit einer Resolution gewürdigt, die erneut das Prinzip der territorialen Integrität der afrikanischen Staaten und die "condemnation ofsecession in any member-State" betonr73 • Die Vereinten Nationen werden nicht angerufen, da die OAU als regionale Organisation sich in die Konfliktlösung einschalter74 . Entgegen der geschlossenen Nichtanerkennungsfront, die die afrikanischen Staaten noch dem Sezessionsversuch von Katanga entgegenstellen, beschließen hier vier afrikanische Staaten, eine Anerkennung Biafras auszusprechen275 • Ihre jeweiligen Begründungen sind in diesem Zusammenhang interessant. So erklärt Präsident Nyerere filr Tansania als erstem anerkennenden Staat: "... But unity can only be based on the general consent of the people involved. The people must feel that this State, or this Union, is theirs ... Once a large number of the people of any such political unit stop believing that the State is theirs, and that the Government is their instrument, then the unit is no longer viable .... In Nigeria this consciousness of a common citizenship was destroyed by the events of 1966, and in particular by the pogroms in which 30,000 Eastern Nigerians were murdered, many more injured, and about two million forced to flee from the North of their country. It is these pogroms, and the apparent inability or unwillingness of the authorities to protect the victims, which underlies the Easterners' conviction that they have been rejected by other Nigerians and abandoned by the Federal Government. ... As President ofTanzania it is my duty to safeguard the integrity ofthe United Republic. But ifthe mass ofthe people in Zanzibar should, without external manipulation, and for some reason of their own, decide that the Union was prejudicial to their existence, I could not advocate bombing them into submission .... Biafra is not now operating under the control of a democratic Govemment, any more than Nigeria iso But the mass support for the establishment and defence of Biafra is obvious. This is not the case of a few leaders dec1aring secession for their own private glory ... We in this country believe that unity is vital for the future of Africa. But it must be a unitv which serves the people, and which is freely determined upon by the people. ,,216

Gabun begründet die Anerkennung mit dem Pogrom gegen die lbos277, und Sambia betont, daß es trotz seiner Unterstützung filr die Einheit Afrikas glaube, daß "it would be morally wrong to force anyone into unity founded on bloodshed,,278.

Shaw, Title, 208; Touval, Independent, 97. Shaw, Title, 209. 275 Touval, Independent, 97; Yakemtchouk, 45. 276 Zit. nach Kunig, Nichteinmischung, 386f. 277 Shaw, Title, 209. 278 Shaw, Title, 209. 273

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Houphouet-Boigny von der Elfenbeinküste faßt seine Befilrchtung in drastische Worte: "What is it that justities our culpable, I would even say criminal, indifference in the face ofthe massacres of our brothers .... An internal problem, respect for the territorial integrity of every member of the OAU, the sacrosanct respect of unity .... Nothing of the sort excuses our apathy in the face of the kind of crimes perpetrated by black brothers against other black brothers .... We have aH inherited from our ancient masters not nations but states - states that have within them extremely fragile links between different ethnic groups. ... Unity should not be imposed by force. Unity is for the living and not for the dead. ,,279

Kurz darauf erkennt die Elfenbeinküste Biafra offiziell an280 • Auch andere afrikanische Regierungen, die nicht bis zur Anerkennung Biafras schreiten, stellen den humanitären Aspekt der Situation in den Vordergrund281 • Es kommt allerdings nicht zu weiteren Anerkennungen durch afrikanische Staaten, obwohl Sierra Leone und Uganda im September 1968 auf der Konferenz der OAU in Algier andeuten, sie erwögen eine Anerkennung Biafras282 • Auf dieser Konferenz wird jedoch auch eine Resolution angenommen, die die Mitgliedsstaaten aufruft, von Handlungen abzusehen, die dem Frieden, der Einheit und der territorialen Integrität Nigerias abträglich sein könnten283 • Im September 1969 ruft die OAU in einer Resolution die Streitparteien erneut auf "to agree to preserve in the overriding interests of Africa the unity ofNigeria"284.

Sierra Leone und die vier Staaten, die Biafra anerkannt hatten, enthalten sich dabei der Stirnme28S • Als Biafra 1970 kapituliert, sprechen beide Seiten von der Annahme dieser OAU-Resolution286 •

f) Somalia (Somaliland) Die ehemalige Kolonie British Somaliland im Norden Somalias erklärt sich am 18. Mai 1991 als Republik Somaliland filr unabhängig287 . Das von Clan279 Zit. nach Stremlau, 138. 280 Stremlau, 139. 281 So erklärt der Außenminister von Burundi, der Bürgerkrieg "should be viewed from humanitarian grounds", während der Informationsminister des Kongo betont, der Krieg sei ein menschliches Problem geworden und "it is that aspect which concerns the Congo Government", Shaw, Title, 209. 282 Shaw, Title, 210. 283 Shaw, Title, 210; Touval, Independent, 98. 284 Shaw, Title, 210; Yakemtchouk, 47. 285 Shaw, Title, 210. 286 Shaw, Title, 210; Touval, Independent, 98. 287 ARB 1991, 10142.

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Fehden und Bürgerkrieg zerrüttete Somalia kann dem nicht entgegentreten. Das ebenfalls von Kämpfen rivalisierender Clans heimgesuchte Somaliland wird international nicht anerkannr88 .

g) Sudan (Südsudan) Die drei südlichen Provinzen des Sudan, Bahr el Ghazal, Equatoria und Upper Nile, die sich vom arabisch-muslimischen nördlichen Teil des Landes dadurch unterscheiden, daß ihre Bevölkerung schwarzafrikanisch und christlich bzw. animistisch ist, fordern seit der Unabhängigkeit des Sudan 1956 eine Form von Autonomie, die in letzter Konsequenz in den Ruf nach Unabhängigkeit umschlägf89. Trotz der grundsätzlich freundschaftlichen Haltung der Bevölkerung der umliegenden Staaten erhalten die Sezessionisten keine offizielle Unterstützung durch die benachbarten Regierungen290 , so daß die Sezessionsbestrebungen fehlschlagen. Nach einem Regierungswechsel im Sudan 1971 gelingt eine Verständigung zwischen den beiden Landesteilen, die 1972 in eine friedliche Regelung und einen autonomen Status für die südliche Region münder91 . 1983 flammt der Sezessionskrieg wieder auf, als der arabische Staatschef des Sudan, General Numeiri, die Autonomiezusage rückgängig macht; seitdem zieht sich der Bürgerkrieg hin292 • Da sich der 1989 an die Macht gekommene sudanesische Staatschef Omar Hassan gegen alle Autonomiebestrebungen wendet und die SPLA (Sudan People's Liberation Army) sich an dem erfolgreichen Vorbild Eritrea orientiert, ist mit einer Beilegung des Konflikts auch durch die Verhandlungsbemühungen seit Anfang 1994 nicht zu rechnen293 •

h) Uganda (Buganda, Ruwenzuru) Uganda unterdrückt mit Waffengewalt beide Sezessionsbestrebungen, denen es sich ausgesetzt sieht. Zum einen unternimmt das Gebiet Buganda 1966 gewaltsam einen Sezessionsversuch, um seine "distinct personality", d.h. seine Autonomie und seinen dominanten Status, gegenüber den Integrationsbestrebungen Ugandas zu bewahren294 • Zum anderen sammeln sich die Stämme der 288 KlabberslLefeber, in: Peoples, 67-70; FAZ vom 17. Januar 1996; KRWE 1996, 41083;ARB 1993, I II 76. 289 Shaw, Title, 211. 290 Kunig, Nichteinmischung, 188; Shaw, Title, 211; Touval, Independent, 154. 291 Shaw, Title, 211; Touval, Independent, 289. 292 FAZ vom 18. März 1994. 293 ARB 1994, 11315-11317; FAZ vom 18. März 1994; KRWE 1995, R 32. Vgl. auch ARB 1990, 9955. 294 Touval, Independent, 290.

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Baamba und Bakonjo 1962 in der Ruwenzuru-Bewegung, um eine gewaltsame 'hen295 . . von Uganda zu errelc SezesslOn i) Sambia (Lozi)

Die Lozi, ein in der Barotse-Province von Sambia heimisches Volk, bemühen sich erfolglos bereits seit der Kolonialzeit mit friedlichen Mitteln um eine Sezession von Sambia296 • Ihr Ziel ist die Errichtung eines unabhängigen Staates, was Sambia unter Hinweis auf seine kolonialen Grenzen verweigerf97 • Die OAU hat die Bestrebungen der Lozi in keinem Stadium unterstützr98 •

k) Senegal (Casamance)

1982 beginnen separatistische Demonstrationen im Bezirk Casamance im Süden Senegals. Senegal läßt die Anfilhrer der Bewegung verhaften und versucht, die Sezessionsbestrebungen zu ersticken299 • Es kommt jedoch immer wieder zu gewaltsamen Aktionen der Separatisten, die nur eine Minderheit in der betroffenen Region bilden3°O.

2. Rechtliche Wertung Auch in den nachkolonialen Grenzstreitigkeiten lassen sich eine übereinstimmende Praxis und Rechtsüberzeugung der unabhängigen afrikanischen Staaten dahingehend nachweisen, daß das afrikanische uti possidetis über die direkten DekolonisierungsfiUle hinaus als Grenzregelungsmaxime Anwendung fmdet. Die Staatenpraxis des Umgangs mit Sezessionsbestrebungen im nachkolonialen Afrika stellt sich wie folgt dar: Einer erfolgreichen Sezessionsbestrebung (Eritrea) stehen mehrere meist auf ethnische Faktoren gestützte Sezessionsversuche gegenüber, denen kein Erfolg beschieden ist. Der erste Anschein bereits spricht also filr eine Beibehaltung des uti possidetis-Prinzips auch im nachkolonialen Afrika. Touval, Independent, 290. Touval, Independent, 290. 297 Touval, Independent, 290. 298 Kunig, Nichteinmischung, 188. 299 ARB 1988,8757; ARB 1990,9736. 300 ARB 1990,9916; ARB 1991,9737; ARB 1993, 10867. Ein französisches Untersuchungsteam stellt 1994 fest, daß Casamance weder vor noch während der Kolonialzeit einen separaten Territorialstatus besaß, ARB 1994, 11307. 295

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IV. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

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Dieser Eindruck wird durch eine genauere Betrachtung des Falles von Eritrea gestützt. Obwohl Eritrea auf den ersten Blick als das Paradebeispiel einer blutig erkämpften Sezession aus einem unabhängigen Staat erscheint, handelt es sich hier dennoch um einen Dekolonisierungsfall im weiteren Sinn. Denn Eritrea wird im Rahmen der Dekolonisierung als autonome Einheit an Äthiopien angeschlossen. Dadurch, daß Äthiopien seine föderale Verfassung abschafft und dem nachfolgend sich Eritrea nicht mehr als autonomen, sondern als integralen Bestandteil einverleibt, hat es seine Pflichten unter den Dekolonisierungsvoraussetzungen Eritreas verletzt. Es läßt sich argumentieren, daß durch diese Pflichtverletzung die Frage des endgültigen dekolonisierten Status' Eritreas wieder auflebt und die Dekolonisierung Eritreas nunmehr erst 1993 mit dem Erlangen der Unabhängigkeit ihren Abschluß erfahren hat. Für diese Sichtweise spricht auch, daß Eritrea ein typisch dekoloniales Selbstbestimmungssubjekt ist: Die Bevölkerung des ehemaligen Kolonialgebiets Eritrea zeichnet sich nicht durch Homogenität aus; zwei große Glaubensgruppen (Christen und Muslime) heben sich gegeneinander ab. Die Bevölkerung Eritreas ist nur durch ihre kolonialen Grenzen geeineO I . Insoweit ist der Fall Eritreas der WestsaharaProblematik vergleichbar; es handelt sich in beiden Fällen um eine "verspätete" Dekolonisierung302, da das Selbstbestimmungsrecht der Kolonialbevölkerung durch Maßnahmen des Kolonialherrn (so filr die Westsahara) oder durch nachfolgende Maßnahmen des übergeordneten Staatsverbandes (so filr Eritrea) beeinträchtigt wurde. Dieser dem uti possidetis in seiner afrikanischen Ausprägung verhafteten Staatenpraxis steht eine entsprechend feste Rechtsüberzeugung der afrikanischen Staaten gegenüber. Die Abweichung von der geschlossenen Front durch einige Staaten im Falle von Biafra wird man wohl unter Rückgriffaufhumanitäre Überlegungen erklären müssen. Die afrikanischen Staaten, die die Sezession Biafras anerkennen, tun dies unter explizitem Hinweis auf die schrecklichen Ereignisse in Ostnigeria303 • Die ihre Anerkennungserklärungen begleitende Äußerungen lassen erkennen, daß es das Ziel dieser Staaten ist, die Situation zu entspannen und weiteren Massakern vorzubeugen. Es ist daher zweifelhaft, ob in den Anerkennungserklärungen tatsächlich die Äußerung einer Rechtsüberzeugung zugunsten eines Sezessionsrechts gesehen werden kann. Wahrscheinlicher ist die Deutung, daß die Anerkennungen aus dem taktischen Kalkül heraus er301 Die Grenzen Eritreas folgen dem uti possidetis entsprechend den früheren kolonialen Grenzen; Goy, AFDI 39 (1993), 350-351. Peters, 235f., hält diese Grenze rur nicht vom uti possidetis geschützt. Ihre Begründung, das uti possidetis sei nicht auf koloniale Grenzen beschränkt, verbietet jedoch nicht eine Anwendung auf eben solche Grenzen. Auch ihre Ansicht, das uti possidetis schütze nur aktuelle Grenzziehungen, nicht die "über vierzig Jahre zurückliegende", greift nicht, da besagte Grenze durch die Unabhängigkeit Eritreas gerade zur aktuellen Grenze wird. 302 Für die Westsahara vgl. ICJ Reports 1975, 12 (36, para. 70) (Western Sahara, Advisory Opinion). 303 Chime, in: Widstrand, 77.

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c. uti possidetis in Afrika

folgen, die nigerianische Zentralregierung so unter Druck zu setzen, daß sie gegenüber den Aufständischen verhandlungsbereit wird304 . Ein Indiz in diese Richtung ist weiterhin, daß der jeweiligen Anerkennungserklärung keine Aufnahme nonnaler diplomatischer Beziehungen folgt305. Damit ist auch in den Anerkennungserklärungen zugunsten Biafras kein wirkliches Abweichen von der Rechtsüberzeugung hinsichtlich der Geltung des afrikanischen uti possidetis zu erkennen. Die nachkoloniale Praxis und Rechtsüberzeugung der afrikanischen Staaten geht also wohl dahin, das Prinzip der Unverletzlichkeit kolonialer Grenzen, das afrikanische uti possidetis, fortzuschreiben und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in seiner engen Dekolonisierungsausprägung zu verstehen. Für die Aufnahme ethnischer Völker in den Geltungsbereich des Selbstbestimmungsrechts und damit ft1r eine Erweiterung der Kreises der Träger des Selbstbestimmungsrechts gibt es in Afrika keine Anzeichen. Auch die Sezession Eritreas ist in dieser Hinsicht kein Ausnahmefall, da sich das Volk Eritreas wiederum nach gefestigter Dekolonisierungstradition territorial bestimmt. Das Verständnis von Nation im afrikanischen Sinn bleibt demnach ein territorial bestimmtes; der Staat muß die Bevölkerung innerhalb seiner Grenzen erst zu einer Staatsnation fonnen. Die Nation folgt damit in Afrika dem Staat, nicht wie in Europa der Staat der Nation306 . Damit geht eine territoriale Prägung des Selbstbestimmungsrechts einher, die auf dem Vorrang der Unverletzlichkeit der kolonialen Grenzen, dem uti possidetis afrikanischer Prägung, vor den Selbstbestimmungsbestrebungen ethnischer, nationaler oder ähnlicher Gruppen beruht307 • Das afrikanische uti possidetis bietet dadurch eine Klammer, eine Art äußeren Panzer, ft1r die intern noch nicht genügend gefestigten afrikanischen Staaten30S . Diese Klammerfunktion wird nur von ethnischen Großgruppen angegriffen, die nicht darauf angewiesen sind, sich über ein Territorium zu legitimieren, da sie bereits über eine "nationalen Zusammenhalt,,309 verfUgen. Ethnische Großgruppen berufen sich auf die Idee des europäischen Nationalstaates und versuchen, die territorialen Verhältnisse den Bedürfnissen ihrer "Nation" anzupassen. Solche Gruppen sind in Afrika jedoch in der Minderheit; ihr prominentester Vertreter, das Volk der Somali, hat es trotz wiederholter Versuche nicht vermocht, seine europäisch-national geprägte Staatsauffassung gegen den Afrika beherrschenden Typus des territorial defmierten Staates durchzusetzen. So 304 So Shaw, Title, 209; Stremlau, 128. Dieser diplomatischen Strategie ist allerdings kein Erfolg beschieden, Stremlau, 140. 305 Shaw, Title, 209; Stremlau, 128. 306 Zur Entwicklung in Europa siehe Rahl, 4-31, besonders 29f. 307 So auch Touval, Independent, 32. 308 Touval, in: Widstrand, 105. 309 Im europäischen Sinne, d. h. im Sinne der ethnischlhistorisch geprägten Nation.

V. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis

129

bleibt es in Afrika bei der dem Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens von 1555 nachempfundenen Regel: cuius regio 'eius natio3IO • Das afrikanische uti possidetis erweist sich also als partikuläre völkergewohnheitsrechtliehe Regel mit dem Inhalt, daß die durch die Kolonialherren gezogenen Grenzen der afrikanischen Staaten im Augenblick ihrer Unabhängigkeit zu internationalen Grenzen werden, die ohne Zustimmung des betroffenen Staates weder von außen (d. h. durch Eingriff eines anderen Staates) noch von innen (durch Sezessionsbestrebungen von Bevölkerungsteilen) verändert werden dürfen.

V. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis (im Vergleich zum lateinamerikanischen uti possidetis) 1. Gemeinsamkeiten beider Konzepte Das lateinamerikanische uti possidetis in seiner Form als uti possidetis iurii 11 und das afrikanische uti possidetis besitzen eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Sowohl das uti possidetis iuris als auch das afrikanische uti possidetis stellen auf die Handlungen eines vorigen Territorialherm als die Grundlage der Bestimmung der internationalen Grenzen der neu entstandenen Staaten ab. Beiden Konzepten ist auch das Ziel gemein, durch die Festschreibung der kolonialen Grenzen Grenzkonflikte zwischen den unabhängig gewordenen Staaten zu vermeiden, und, falls dies nicht möglich ist, zumindest eine friedliche Grenzregelung auf dem Verhandlungswege anzustreben 312 • Beide Formen sind außerdem mit dem Scheitern der ersten Zielsetzung konfrontiert, sobald keine verläßlich bestimmten und markierten Grenze zur Verfilgung stehen; dieses Problem ist dem Konzept der Unantastbarkeit kolonialer Grenzen logisch inhärent.

310 Touval, Independent, 33; der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens lautet: cuius regio eius religio und legt fest, daß jeder Territorialherr im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verbindlich die Konfession seiner Landeskinder festlegen darf. Demjenigen, der sich diesem Diktat nicht beugen will, ist jedoch die Ausreise gestattet. 311 Das brasilianische uti possidetis de facto, das nur eine andere Bezeichnung rur die Anerkennung von Gebietstiteln der Okkupation und Annexion ist, bleibt fortan unberücksichtigt, da von ihm eine neue völkerrechtliche Entwicklung nicht ausgehen kann. 312 So auch Prescott, Boundaries, 102. Vgl. filr Afrika auch Elias, 127.

9 Simmler

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C. uti possidetis in Afrika

2. Unterschiede zwischen beiden Konzepten a) Anwendungsbereich

Damit enden die Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte jedoch. Erste tiefgreifende Unterschiede zwischen dem afrikanischen uti possidetis und dem uti possidetis iuris ergeben sich in ihrem Anwendungsbereich. Das uti possidetis iuris stößt nur im ehemaligen spanischen Kolonialgebiet auf grundlegende Akzeptanz; im Verhältnis zu Brasilien scheitert eine Einigung an der brasilianischen Position des uti possidetis de facto. Auch im Umgang mit den nicht-lateinamerikanischen Mächten, die über Gebiete in Amerika verfUgen, fmdet das uti possidetis iuris keine Anwendung. Grund dafilr ist das enge Abstellen des uti possidetis iuris auf die Rechtsakte des spanischen Monarchen als rechtliche Grundlage filr die Grenzziehung3\3 . Die anderen europäischen Mächte und Brasilien ziehen sich auf die konkurrierende Rechtsansicht zurück, maßgeblich sei der effektive Besitz. Letztere Position steht im Einklang mit der vorherrschenden Strömung des Völkerrechts des 19. Jahrhunderts, das Annexion und Okkupation noch als Gebietstitel kennt. In einem Völkerrechtssystem ohne zwischenstaatliches Gewaltverbot besitzt die effektive Gebietsherrschaft fast notwendigerweise Vorrang vor einem reinen Titel ohne effektiven Besitz314 • Während demnach das uti possidetis iuris gedanklich nur auf die Fortgeltung der internen Akte einer Kolonialmacht Anwendung fmdet, ist das Konzept des afrikanischen uti possidetis weiter angelegt. Zwar sind auch hier die internen Akte einer Kolonialmacht hinsichtlich der administrativen Aufteilung ihres Kolonialgebiets in Verwaltungseinheiten von Bedeutung, was dem Ansatz des uti possidetis iuris entspricht. So erstarken im Rahmen der Dekolonisierung Afrikas die administrativen Grenzen innerhalb der großen Kolonialblöcke Großbritanniens und Frankreichs zu den internationalen Grenzen der unabhängig werdenden kolonialen Verwaltungseinheiten, sofern solche Grenzen nachweisbar sind. Besonders die ehemaligen französischen Kolonien3lS , aber auch 313 Die sich, wie oben ausgeführt, auf die Zielsetzung zurückführen läßt, durch die rechtliche Fiktion des uti possidetis iuris eine Existenz von terra nullius auf dem amerikanischen Kontinent zu leugnen. 314 Vgl. dazu das Zitat von Heilborn aus dem Jahre 1912 bei RandelzhoJer, in: Simma, Art. 2 Ziff. 4 Rn. 4: "Das heutige Völkerrecht kennt dagegen keine Kriegsursachen, keine Regeln darüber, wann Kriege geführt werden dürfen. Will ein Staat sein eigenes Selbst einsetzen, so darf er jederzeit Krieg beginnen. Die Gewalt ist also im Staatenverkehr unbedingt gestattet." Vgl. auch Dörr, 53, zur objektiven Voraussetzung des effektiven Besitzes rur die Rechtswirksamkeit der Annexion im sog. klassischen Völkerrecht. 315 Ein gutes Beispiel rur eine schriftliche Fixierung eben dieses Problems bietet das 1964 zwischen Niger und Burkina Faso, dem damaligen Obervolta, abgeschlossene Grenzprotokoll, dessen Präambel lautet: "Les deux deh5gations; apres avoir etudie les differents problemes administratifs qui se posent dans les circonscriptions frontalieres du fait notamment de I'absence de toute materialisation sur le terrain des frontieres theoriques entre les deux Etats ... ", zit nach Bleckmann, 510.

V. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis

131

einige ehemalige Bestandteile des zusammenhängenden britischen Kolonialgebiets316, müssen bei Erlangung der Unabhängigkeit feststellen, daß die Binnengrenzen innerhalb dieser beiden Kolonialimperien nicht überall in ausreichendem Maße bestimmt und markiert wurden. Darüber hinaus werden jedoch auch die Abmachungen und Verträge zwischen verschiedenen Kolonialherren in den Geltungsbereich des Prinzips der Unverletzbarkeit der kolonialen Grenzen in Afrika einbezogen. Daß es hier zu einer Regelung kommt, die einen über ein Kolonialgebiet hinaus greifenden Charakter hat, läßt sich wohl wiederum mit dem historischen Umfeld erklären: In Afrika erlangt der überwiegende Teil der Kolonialgebiete in einem engen Zeitraum zugleich die Unabhängigkeit, während die hispano-amerikanischen Staaten Lateinamerikas sich den noch lange weiterbestehenden Kolonien der europäischen Mächte und einem bereits seit einiger Zeit aus dem Kolonialstatus entlassenen Brasilien gegenübersehen. Die afrikanischen Neustaaten befmden sich daher in einer filr alle vergleichbaren Ausgangslage, die keinen Raum filr die Herausbildung von rechtlich verschiedenen Grundpositionen läßt317 • Eine umfassende Regelung wird auch dadurch begünstigt, daß sich die europäischen Mächte in Afrika einig sind, ein Gebietstitel ohne eine gewisse Form von effektiver Okkupation sei nicht möglich318 • Damit wird vermieden, daß wie in Lateinamerika eine grundlegende Konkurrenz zwischen faktischen und rechtlichen Gebietstiteln entsteht319 • Die Begründung eines Gebietstitels durch rechtliche Fiktion über Territorien, die vom Kolonialherren nie effektiv okkupiert und verwaltet wurden, ja sogar hinsichtlich von Gebieten, über deren Existenz sich der Kolonialherr völlig im Unklaren war320, ist nach dem Rechtsverständnis der europäischen Kolonialmächte in Afrika nicht möglich. Die Notwendigkeit, effektiven Besitz zu belegen, sowie die Konkurrenz mehrerer Kolonialmächte auf 316 McEwan, 31, bes. Fn. 1. Diese Neustaaten müssen jedoch - anders als die lateinamerikanischen Neustaaten in vergleichbarer Situation - keine neue koloniale Landnahme fUrchten, da zum Zeitpunkt der afrikanischen Dekolonisierung anerkanntermaßen keine terra nullius mehr existiert. 317 Welch großen Einfluß das historische Umfeld auf die Entstehung von Rechtspositionen hat, läßt sich in Afrika am Beispiel von Marokko und Somalia ersehen. Deren jeweilige Sondersituation (historische Staatlichkeit bzw. ethnische Einheitlichkeit) im Vergleich zu den übrigen afrikanischen Staaten fUhrt dazu, daß sie (zumindest fUr die Zeit direkt nach der Unabhängigkeit) einen Rechtsstandpunkt hinsichtlich der kolonialen Grenzen einnehmen, der dem der restlichen afrikanischen Staaten diametral entgegengesetzt ist. 318 McEwan, 30, zitiert dazu die britische Auffassung von 1887: "Great Britain considers that it has now been admitted in principle by all the parties to the Act of Berlin that a claim of sovereignty in Africa can only be maintained by real occupation of the territory claimed." 319 Hier sind "rechtlich" und "faktisch" untechnisch gebraucht. Mit "faktisch" werden Titel beschrieben, die auf effektivem Besitz basieren. Zum "rechtlichen" Gebietstitel siehe den folgenden Satz. 320 Wie dies das uti possidetis iuris mit seiner Konstruktion eines umfassenden Rechtstitels des spanischen Monarchen in Bezug auf Lateinamerika versucht.

9"

132

C. uti possidetis in Afrika

dem afrikanischen Kontinent filhren dazu, daß die Grenzen zwischen den Gebieten der einzelnen Kolonialherren besser und genauer bestimmt werden, als es in Lateinamerika der Fall war321 • Das afrikanische uti possidetis muß sich so nicht vorrangig auf papierne Grenzen stützen, sondern kann auf faktisch erfolgte Demarkationen zurückgreifen. Solche Grenzen sind einer Festschreibung des status quo auch praktisch zugänglich, was eine tatsächliche Umsetzung der Gedankens von der Unantastbarkeit der kolonialen Grenzen erleichtert. b) Rechtscharakter

Das Festhalten des afrikanischen uti possidetis an den Grenzen, die zwischen verschiedenen Kolonialherm durch völkerrechtliche Verträge bestimmt wurden, entspricht der Regelung über die Staatensukzession in Grenzverträge 322, wie sie die Vienna Convention on Succession of States in Respect of Treaties auch filr unabhängig werdende Staaten in Art. 11 323 formuliert. Die Konvention324, die wegen ihrer in weiten Bereichen unglücklichen Regelungen bis heute nicht in Kraft getreten ist32S , kodifiziert in diesem Teil den hergebrachten Kontinuitätsgrundsatz des universellen Völkergewohnheitsrechts, daß "radizierte Veträge,,326 durch eine Staatennachfolge in ihrer Weitergeltung nicht betroffen werden327 • In diesem Teilaspekt seines Inhalts stellt das afrikanische uti possidetis, wie der IGH richtig erkannt hatm , keine neue bzw. partikulär auf Afrika beSo auch Bleekmann, 511. Higgins, Problems, 123. Zum Begriff der Staatensukzession Dörr, 26-30; Ebenroth, BDGV 35 (1995), 237f.; Fastenrath, BDGV 35 (1995), 14; Sehweisfurth, BDGV 35 (1995), 164-169. 323 Wortlaut: "A Succession of States does not as such affect: (a) a boundary established by a treaty; or (b) obligations and rights established by a treaty and relating to the regime of a boundary". 324 Näher dazu Bello, GYIL 23 (1980), 296fT.; Fiedler, GYIL 24 (1981), 9ff.; Treviranus, EPIL 10 (1987), 523ff. und ZaöR 39 (1979), 259. m Fastenrath, BDGV 35 (1995), 9. 326 Das sind Verträge mit direktem Territorialbezug, insbesondere die hier interessierenden Grenzverträge, Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 210; Verdross/Simma, § 990. 327 Fiedler, GYIL 24 (1981), 28; Kordt, BDGV 5 (1963), 32; Schweisfurth, BDGV 35 (1995),219 m. w. N.; Treviranus, EPIL 10 (1987),525 und ZaöR 39 (1979), 275; Verdross/Simma, § 990. Vgl. auch Bello, GYIL 23 (1980), 307. In diesem Zusammenhang ist auch auf Art. 62 Ziff. 2 lit ader Wiener Vertragsrechtskonvention hinzuweisen, der eine Anwendung des Grundsatzes der clausula rebus sie stantibus auf Grenzverträge verbietet. Dazu ausfilhrlich die Dissertation von Bießle zu Art. 62 ZifT. 2 lit. (a), siehe auch Klein, Der Staat 32 (1993), 359f. 328 ICJ Reports 1986, 554 (566, para. 24) (Fontier Dispute, Judgment): "24. The territorial boundaries which have to be respected may also derive from international frontiers which previously divided a colony of one State from a colony of another, or indeed a colonial territory from the territory of an independent State, or one which was under protectorate, but had retained its international personality. There is no doubt that the obligation to respect pre-existing international frontiers in the event of a 321

322

V. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis

133

schränkte Rechtsregel auf, sondern erweist sich als eine Ausprägung des Grundsatzes der Vertragsnachfolge bei Staatensukzession329 • Abgesehen von diesem Teilbereich, in dem das afrikanische uti possidetis bereits Geltung aufgrund universellen Völkergewohnheitsrechts beanspruchen kann, handelt es sich beim Grundsatz der Unantastbarkeit der ererbten kolonialen Grenzen in Afrika um einen Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts. Darin liegt ein Hauptunterscheidungspunkt zwischen dem uti possidetis iuris und dem afrikanischen uti possidetis. Während das uti possidetis iuris sich zwar einen hervorgehobenen Platz in der Rechtsüberzeugung der hispanoamerikanischen Staaten sichern kann, es ihm aber an unterstützender Staatenpraxis fehlt, kann das afrikanische uti possidetis neben einer es tragende Rechtsüberzeugung auch auf eine entsprechende Staatenpraxis verweisen. Beim uti possidetis iuris als einem von consensus getragenen Prinzip handelt es sich um eine Vorstufe von Völkergewohnheitsrecht. Man wird das uti possidetis iuris im Hinblick auf den Teilbereich des afrikanischen uti possidetis, der sich mit der Festschreibung der administrativen Grenzziehung innerhalb des Gebietes eines einzelnen Kolonialherm befaßt, wohl als Vorstufe zu diesem Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts ansehen können. Dabei muß im Auge behalten werden, daß es sich beim afrikanischen uti possidetis gerade nicht um einen regional bestimmten Völkergewohnheitsrechtssatz handelt. Die partikulären Besonderheiten, die zur Bildung des afrikanischen uti possidetis fUhren, sind nicht auf den afrikanischen Kontinent beschränkt. Die Akzeptanz des afrikanischen utj possidetis beruht auf einer speziellen Situation der unabhängig werdenden Staaten, die keineswegs spezifisch afrikanisch ist: Die Neustaaten verfUgen über keine staatstragende Nation mit ethnischem, geschichtlichem oder religiösem Zusammenhang; als identitätsschaffende Klammer des Staatsgebildes dient allein das Staatsgebiet, es handelt sich bei ihnen also um "Territorialnationen ,,330.

State succession derives from a general rule of internationallaw, whether or not the rule is expressed in the formula uti possidetis. Hence the numerous solemn affirmations of the intangibility of the frontiers existing at the time of the independence of African States, whether made by senior African Statesmen or by organs ofthe Organization of African Unity itsely, are evidently declaratory rather than constitutive: they recognize and confirm an existing principle, and do not seek to consecrate a new principle or the extension to Africa of a rule previously applied only in another continent. " 329 Bleckmann, 510; Shaw, Title, 244. Wohl um dieser Rechtsfolge zu entgehen, stellt Somalia bei seinen Teritorialansprüchen gegenüber den Nachbarstaaten u. a. darauf ab, die Grenzverträge seien bereits völkerrechtlich ungültig gewesen, da sie von Parteien abgeschlossen worden seien, denen die Vertragsschlußkompetenz gefehlt habe oder die unter Verstoß gegen bereits bestehende Schutzverträge gehandelt hätten, Matthies, 107. 330 Das Wort "Territorialnation" wird hier gewählt, da der Begriff "Territorialstaat" bereits durch die Geschichtswissenschaft belegt ist: Der "Territorial staat" ist eine Entwicklung der frühen Neuzeit und wird gewöhnlich dem mittelalterlichen Personenverbandsstaat, der eine dem modernen Konzept entsprechende Herrschaft über Territorium

134

c. uti possidetis in Afrika

In einer vergleichbaren Lage fmden sich die hispano-amerikanischen Kolonien im Augenblick der Unabhängigkeit. In den Kolonialgebieten mischen sich die Führungsschicht und die Einwanderer spanischer Herkunft mit der Urbevölkerung; ethnisch homogen besiedelte Gebiete existieren damit nicht. Die im ganzen spanischen Kolonialreich in Lateinamerika einheitliche spanischstämmige Führungsschicht ist ein weiteres Hindernis filr eine Nationenbildung: Sie steht der filr die Defmition der Nationalität wichtigen Einteilung in "wir" und "die anderen", d. h. der Abgrenzung der eigenen staatlichen Identität, entgegen. Unterscheidungsmerkmal und zugleich einigender Faktor sind in dieser Situation wieder die vom Kolonialherrn vorgegebenen Grenzen. Die durch sie auf einem Gebiet zusammengefaßte Bevölkerung kann - als "Territorialnation" - ein identitätsstiftendes Nationalgefilhl entwickeln, das der Aufrechterhaltung des jeweiligen Neustaates dient. Der Konsens der hispano-amerikanischen Staaten, durch ein Festhalten an den Akten des ehemaligen Monarchen gegenseitige GebietsanspTÜche auszuschließen, läßt erkennen, daß die territoriale Definition der Staatsnation filr das ehemalig spanische Lateinamerika ebensolche Bedeutung hat wie filr Afrika. Die fehlende Umsetzbarkeit des uti possidetis iurisGedankens hat filr die Staatlichkeit der hispano-amerikanischen Staaten wohl deshalb keine verheerenden Konsequenzen, weil die umstrittenen Gebiete häufig unerforscht und weitgehend unbesiedelt sind. Es ist also festzuhalten, daß das uti possidetis iuris und das afrikanische uti possidetis sich vor einem in Teilen vergleichbaren Hintergrund entwickelt haben. Die Unterschiede in Anwendungsbereich und Rechtscharakter machen es unmöglich, die Konzepte als identisch anzusehen, wie dies in der Völkerrechtsliteratur teilweise geschieht33\. Jedoch läßt sich das uti possidetis iuris durchaus als gedankliche Vorstufe filr einen Teilbereich des afrikanischen uti possidetis verstehen: die Unantastbarkeit der administrativen Grenzen innerhalb des Herrschaftsbereichs einer einzelnen Kolonialmacht. Die faktische Ausgangslage, die der Entwicklung dieses Konzepts zugrunde liegt, ist sowohl in HispanoAmerika als auch in Afrika vergleichbar. Die faktischen Besonderheiten, die zur Ausbildung des afrikanischen uti possidetis als einem Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts fUhren, sind nicht kontinental bzw. regional gebunden, sondern beruhen auf dem gemeinsamen Schicksal der Kolonisierung, verbunden mit dem Fehlen anderer als rein territorialer Elemente filr die staatliche Identitätsbestirnmung. Es ist denkbar, daß der die administrativen Grenzlinien betreffende Aspekt des afrikanischen uti possidetis bei vergleichbarer faktischer Ausgangslage auch in anderen Regionen der Welt Anwendung fmdet. Diese Schlußfolgerung fmdet sich z. B. im Frontier Dispute Judgment des IGH:

nicht kannte, gegenübergestellt. Um eine Verwechslung der Begriffe zu vermeiden, wird hier von "Territorialnation" gesprochen. 331 Oppenheim's, § 235. Vgl. Dinh/Dail/ieriPellet, Nr. 313, S. 458f., die allerdings anmerken, daß das Prinzipfiir Afrika modifiziert worden sei.

v. Ergebnis: Das afrikanische uti possidetis

135

"Vti possidetis, as a principle which upgraded former administrative deIimitations, estabIished during the colonial period, is therefore a principle of a general kind which is logically connected with this form of decolonization whereever it occurs. ,,332

In den folgenden Abschnitten wird untersucht, ob die partikulären Besonderheiten der hispano-amerikanischen und der afrikanischen Dekolonisierungsepoche auch in anderen Gegenden oder zu anderen Zeiten nachweisbar sind und zu einer entsprechenden Anwendung des afrikanischen ut; possidetis filr die Grenzregelung fUhren. Dabei wird das Augenmerk verstärkt darauf zu richten sein, wie mit ehemals innerstaatlichen, administrativen Grenzlinien umgegangen wird. Die Außengrenzen ehemals abhängiger Gebiete werden im Zweifel durch völkerrechtliche Verträge zwischen verschiedenen Kolonialherrn bestimmt sein, fiir die bereits der Kontinuitätsgrundsatz des universellen Völkergewohnheitsrechts 333 gilt.

332 333

leJ Reports 1986, 554 (566, para. 23) (Frontier Dispute, Judgment). Dazu oben zu Beginn dieses Punktes.

"11 n'y a pas de problemes des frontieres. 11 n'est que des problemes des Nations.,,1

D. uti possidetis in Asien Nachdem sich im vorangehenden Abschnitt die Entwicklung des uti possidetis-Prinzips zum partikulären Rechtssatz nachweisen ließ, ist nun zu prüfen, in wieweit dieser Grundsatz der Grenzregelung nach erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen in Asien Anwendung gefunden hat. Da Asien im Gegensatz zu den bisher behandelten Kontinenten keiner vollständigen und gleichfOrmigen Kolonisierung unterworfen worden ist, sind hier weiterfilhrende Erkenntnisse über die faktischen Besonderheiten, die eine Anwendung des uti possidetisSatzes begünstigen, zu erwarten.

I. Historischer Hintergrund Asien wird hier verstanden als die eurasische Landrnasse ab dem Ural und die dazugehörigen Inselgruppen (wie Indonesien, die Philippinen), ohne den "Nahen Osten" im weiteren Sinn, i. e. die arabische Halbinsel, die Türkei, Irak, Syrien, Libanon, lordanien und Israef. Der Nahe Osten wird in einem eigenen Abschnitt (E.) behandelt, da seine historische Entwicklung durch die jahrhundertelange Herrschaft des Osmanischen Reiches in anderen Bahnen verläuft, als dies in Asien der Fall ise. Einzelheiten zum asiatischen Teil des früheren russischen Reiches bzw. der nachfolgenden Sowjetunion bleiben dem Abschnitt (F.) vorbehalten, da sich sein Schicksal kaum getrennt von dem des europäischen Teils darstellen läßt. Dieses Gebiet soll hier die "russische Zone" genannt werden; der übrige asiatische Gebietskomplex wird aus Gründen der Übersichtlichkeit in die "chinesische" oder "zentrale Zone", die China und seine Peripherie umfaßt, und die verbleibende "südliche Zone" aufgeteilt. 4

Ancel, zitiert nach Prescott, Asian Frontiers, 12. Vgl. die ähnliche, noch etwas engere Definition in Lamb, 11, 14. 3 Dazu ausführlich unten Abschnitt (E.) Punkt I. 4 Vgl. zu den geographischen Hintergründen einer solchen Aufteilung Lamb, 11-18. I

2

I. Historischer Hintergrund

137

1. Grenzen im präkolonialen Asien a) Zentrale Zone

Wichtigste Macht in der zentralen Zone in der präkolonialen Zeit Asiens ist China. In seiner mehr als dreitausendjährigen Geschichte expandiert China von seinem Kerngebiet am Hwang Ho, wobei es sich auch Gebiete mit nicht Hanchinesischer Bevölkerung unterwirfts. Als beherrschende Macht in diesem Teil des Kontinents ist China schon in frühester Zeit vor die Frage der Grenzziehung gestellt. Um die Gefahren abzuwehren, die von nomadisierenden Stämmen aus Zentralasien ausgehen, greift China zu dem vor der Renaissance auch in Europa verbreiteten Mittel der Grenzzonen. China schafft sich außerhalb seines über die chinesische Zivilisation definierten, daher nicht durch scharfe lineare Grenzen abgetrennten Herrschaftsraumes6 komplex strukturierte Einflußgebiete oder Protektorate, die durch ein Tributsystem an das Kernland gebunden, aber als separat vom "inneren" China angesehen und verwaltet werden 7 . Eine Sinisierung dieser Gebiete ist nach dem chinesischen Verständnis in dieser Zeit nicht vorgesehen 8 • b) Südliche Zone

In der südlichen Zone, die an das sich in seinen Ausmaßen ständig verändernde chinesische Einflußgebiet angrenzt, entwickeln sich in präkolonialer Zeit eine Reihe von Reichen, die keine Bedrohung filr China darstellen, jedoch auch unabhängig von diesem bleiben. Mit Ausnahme des Reiches der Viet widerstehen sie der kulturellen Sinisierung und wenden sich eher indischen Kultureinflüssen ZU9. Der östliche Abschnitt der südlichen Zone erlebt schon vor der Kolonisation durch die europäischen Mächte eine Form von Kolonisierung durch eindringende Völker, die die bereits bestehenden Königreiche überrennen und - nicht notwendigerweise in deren alten Grenzen - neue Herrschaftsgebiete schaffen. Die bekanntesten Beispiele hierfilr sind die Thai, die Viet und die Burmesen lO • Da die Eroberer zum Zeitpunkt der europäischen Intervention noch im Wettstreit miteinander liegen und ihre Herrschaftsgebiete nicht abschließend konsolidiert haben, existieren in diesem Teil der südlichen Zone bis zum Einsetzen der euLamb, 22; Moseley, 1/2. Siehe zur Chinesischen Mauer: Boggs, 136; Lattimore, 3; Lo, 1; Moseley, 19. 7 Dreyer, in: McCaggiSilver, 197; Lamb, 26; Lo, 1; Miyazaki, EPIL 7 (1984), 216; Preiser, 245ff., 256f.; Scalapino, in: Yu, 11. 8 Dreyer, in: McCaggiSilver, 197; Lamb, 31; Moseley, 19,20. 9 Kunstadter, in: Kunstadter, 6; Lamb, 34; Scalapino, in: Yu, 11; Shankar Singh, 7. 10 Kunstadter, in: Kunstadter, 6, 149; Lamb, 4lf. 5

6

138

D. uti possidetis in Asien

ropäischen Kolonisation keine festgeschriebenen Grenzen, obwohl die jeweiligen Einflußzentren relativ eindeutig zu bestimmen sind 11. Die nord-westliche Seite der südlichen Zone steht ganz unter dem kulturellen Einfluß der indischen Völker l2 • Doch obwohl die indische Zivilisation bereits ein Jahrtausend vor der chinesischen mit der Bildung urbaner Zentren begonnen hatte, fehlt auf dem indischen Subkontinent eine feste Grenzkonzeption im Sinne eines zu schützenden "Indiens,,13. Vor der britischen Kolonisation besteht Indien aus einer Myriade einander bekriegender Staaten; es existiert keine markierte Grenze gegenüber dem großen Nachbarn China, sondern eine in ihrem Umfang stets schwankende Grenzzone l4 • Zudem ist der Subkontinent auf seiner nordwestlichen Seite offen fUr Invasionen über die afghanische Hochebene; auf diesem Weg wird z. B. der Islam auf den Subkontinent gebracht ls . Hier stößt Indien an das Einflußgebiet des Iran; das persische Reich neigt wie China dazu, um ein festes iranisches Kernland abhängige oder zumindest kontrollierbare Einflußzonen zu schaffen l6 • Da es Indien in präkolonialer Zeit an Einheit fehlt, entwickelt sich hier keine feste Grenze, sondern eine breite Grenzzone, deren Umfang je nach Stärke der im Iran herrschenden Dynastien größer oder kleiner ist 17 •

2. Grenzziehung durch die europäischen Kolonialmächte Großbritannien trifft, vertreten durch die East India Company, im 17. Jahrhundert auf dem indischen Subkontinent ein. Zunächst stehen reine Handelsinteressen im Vordergrund; doch der Zusammenbruch des Moghul-Reiches und das wachsende Engagement Frankreichs in der Region filhren dazu, daß sich Großbritannien zur Kolonialisierung des Subkontinents entschließt l8 • Als Großbritannien im Laufe seiner Erwerbungen an die "natürlichen" Grenzen des Subkontinents, den Himalaya-Gürtel, die afghanische Hochebene und die bengalischen Tiefebenen, stößt, beginnt es, zum Schutze seiner indischen Besitzungen feste Grenzen zu schaffen 19. Diese Aufgabe ist nicht beendet, als das britische Kolonialreich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zerbricht.

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IS 16

17 18 19

Lamb, 42; Rumley, in: Grundy-Warr, 116. Siehe Singh, EPIL 7 (1984),237,244. Lamb, 45; Preiser, 207f.; Spear, in: Wint, 62. Lamb, 46f.; Lattimore, 238/239. Lamb, 49; Spear, in: Wint, 62. Lamb, 50f. Ausführlich dazu Carter, in: Nyrop, 30ff.; Lamb, 53. Lamb, 55; Morison, 5; Spear, in: Wint, 62/63. Lamb, 55; Lattimore, 235; Morison, 5.

I. Historischer Hintergrund

139

Frankreich beginnt nach einigen Händeln mit Großbritannien um die Vorherrschaft in Indien im 19. Jahrhundert mit der Eroberung seines Kolonialreichs in Indochina. Als sich das französische Kolonialgebiet dem britischen zu nähern droht, ziehen beide Mächte gegen Ende des letzten Jahrhunderts auf der Grundlage gegenseitiger Gespräche eine Grenze zwischen ihren Hoheitsgebieten 20 . Zusammen mit dem in Zentralasien aktiv kolonisierend tätigen Rußland entwickeln sie ein Grenzsystem, das hauptsächlich darauf ausgerichtet ist, direkten Kontakt zwischen den verschiedenen Kolonialgebieten soweit als möglich zu vermeiden21 • Dazu werden eine Reihe von Puffergebieten eingerichtet bzw. Pufferstaaten in der Unabhängigkeit belassen22 • China wird im 19. Jahrhundert aufgrund seiner schwachen Stellung gegenüber den europäischen Kolonialmächten von diesen und seinem expandierenden japanischen Nachbarn vollständig eingeschlossen, kann jedoch eine völlige Aufteilung vermeiden 23 • Nach dem Zweiten Weltkrieg zerbrechen das französische und das britische Kolonialreich in Asien, so daß die südliche Zone von der kolonialen Herrschaft befreit wird24 • Dagegen hält die Sowjetunion als Nachfolger des Zarenreiches in der russischen Zone an den territorialen Zugewinnen fest, und dem kommunistischen China gelingt eine Ausweitung seiner territorialen Herrschaft über seine traditionellen Grenzen hinaus. Eine Teilung in koloniale und post-koloniale Phasen ist in der russischen und der chinesischen Zone demnach nicht in der Schärfe möglich wie in der südlichen Zone; die Grenzen der russischen Zone werden erst mit dem Zerfall der Sowjetunion wieder in Frage gestellfs. Damit wird besonders filr die neu unabhängig gewordenen Staaten der südlichen Zone die Frage nach dem Verlauf ihrer Grenzen zum Problem. 3. Besonderheiten der Situation in Asien Für die Frage nach dem Schicksal kolonialer Grenzen in Asien ist die gegenüber Lateinamerika und Afrika veränderte Ausgangslage zu beachten. In Lateinamerika zerstören die Kolonialmächte Spanien und Portugal alle bereits existierenden staatlichen Strukturen, vernichten weite Teile der Urbevölkerung und besiedeln ihre Territorien mit Auswanderern neu, so daß bei der Un-

20 21 22

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Kunstadter, in: Kunstadter, 19; Lamb, 57. Collins, 5; Morison, 21; Lamb, 62. Lamb,63f. Hudson, in: Wint, 147; Lamb, 67f. Kunststadter, in: Kunstadter, 18; Lamb, 72. Dazu eingehend in Abschnitt (F).

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D. uti possidetis in Asien

abhängigkeit der Kolonien vom Mutterland der Rückgriff auf präkoloniale staatliche Strukturen26 nicht in Frage kommt. Afrika wird von den europäischen Kolonialmächten zwar ebenfalls fast völlig unterworfen, wobei abgesehen vom marokkanischen Sultanat sämtliche präkolonialen Herrschaftsstrukturen zerstört werden. Jedoch fmdet hier keine Vertreibung bzw. Vernichtung der Urbevölkerung statt. Mit der Ausnahme von AIgerien und Südafrika werden auch keine Besiedlungsmaßnahmen in die Wege geleitet, sondern die Anwesenheit der Kolonialherren beschränkt sich auf eine dünne Führungsschicht. Diese verläßt mit dem Ende der Kolonialzeit (abgesehen von Südafrika, das insoweit eher dem lateinamerikanischen Typus zuzurechnen ist) den Kontinent weitgehend, so daß die Urbevölkerung auf traditionelle Strukturen zurückgreifen bzw. diese wiederbeleben könnte. Darauf wird schließlich auch deshalb verzichtet, weil Afrika keine Tradition territorial gebundener Herrschaft besitzt. In Asien dagegen fmdet eine völlige koloniale Unterwerfung nicht statf7• Das von den großen Kolonialmächten ausgehandelte System der "PufferGrenzen" sorgt bereits dafiir, daß nicht das gesamte Territorium Asiens unter koloniale Herrschaft gerät. Zwar müssen sich die Puffer-Staaten zumeist den Wünschen der europäischen Staaten beugen, doch erhalten sie sich zumindest eine nominelle Unabhängigkeit. Ebenso existieren in Asien Staaten wie China, die ihre staatliche Souveränität trotz erheblicher Einschränkungen durch die Kolonialmächte nie verlieren. Mit dem Ende des Kolonialismus in Asien treffen also nicht nur Neustaaten mit gleicher (kolonialer) Vergangenheit aufeinander; die Staaten im "freien" Asien sind weit weniger homogen in ihrer Ausgangslage.

Weiterhin ist zu bedenken, daß in Asien das Prinzip des Staates, d. h. der territorialen Herrschaft, bereits weit vor dem Einsetzen der europäischen Kolonisation bekannt isr8. Hier kann man erwarten, daß die Rückkehr zu traditionellen oder historischen Strukturen eine weitaus größere Rolle bei der Grenzdiskussion spielt als in Afrika29 . Daher unterscheidet sich die zu "dekolonisierende" Ausgangssituation in Asien deutlich von der Situation Afrikas bei Ende der Kolonialzeieo. Es ist somit zu prüfen, ob ein unter "afrikanischen" Vorgaben zum Rechtssatz erstarktes uti possidetis filr die asiatische Situation geeignete Lösungsmöglichkeiten bietet. Dazu Fisch, 40; Preiser, 100-143. Vgl. Chhak, 18. 28 Siehe Fisch, 38f.; Preiser, 212, 225f. 29 Zur historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen den europäischen und den asiatischen Staaten siehe A/exandrowicz, RdC 123 (1968 I), 129-167; Fisch, 37ff.; Grewe, 180f. 30 Ebenso Reuter, 12. 26

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11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

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11. Grenzziehung in der Dekolonisierung 1. Südliche Zone

Da die südliche Zone unter mehreren Kolonialmächten aufgeteilt ist, deren Territorien teils durch Pufferzonen getrennt sind, stellt sich nach dem Zerbrechen der Kolonialreiche hier die Grenzfrage am dringendsten. a) Nordwestliche Seite

Der nordwestliche Teil der südlichen Zone sieht die Staaten Afghanistan, Indien mit seiner Nordwestgrenze, Iran und Pakistan im Streit untereinander um ihre Grenzen. aa) Afghanistan Afghanistan gehört zu den Staaten, die während der Kolonialzeit ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahren können3 '. Es grenzt im Norden an die ehemalige Sowjetunion, im Westen an den Iran, im Süden und Osten an Pakistan und mit einem geringen Teil im Osten an China. Aufgrund dieser Lage ist Afghanistan als Pufferstaat prädestiniert; es muß die expandierenden europäischen Mächte Rußland und Großbritannien (Pakistan ist zu diesem Zeitpunkt Teil des britischen Raj) voneinander trennen32 • Somit ist Afghanistan gänzlich von Grenzen umgeben, die durch die britischrussische Grenzziehungspolitik geschaffen werden33 , wobei Afghanistan zu dieser Zeit stillschweigend als britisches Einflußgebiet angesehen wird34 • (a) Afghanistan-China

Afghanistans Grenze zu China ist nur ca. 50 Meilen lang und das Ergebnis der Puffer-Politik zwischen Rußland und Großbritannien. Der schmale WakhanStreifen am Oxus-Fluß wird Afghanistan (mit seiner eher nominellen Beteiligung) durch eine anglo-russische Grenzkommission im Jahre 1895 zugesprochen, um ein drohendes Aufeinandertreffen von Rußland und Großbritannien im ColUns, 4; Lamb, 80; Morison, 13; Rastogi, 2. Saul Cohen, 10; Collins, 5/6; Davies, 17; Lamb, 86; Morison, 17; Rastogi, 2. 33 Dazu ausführlich Rastogi, 1fT.; Collins, 5/6; Lamb, 86; Malhotra, 55. 34 Lamb, 80, weist auf die anglo-russische Konvention von 1907 hin, in dem Mghanistan ausdrücklich als "being generally within the British sphere of influence" definiert wird. 31

32

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D. uti possidetis in Asien

angrenzenden Kashmir zu venneiden3s . Die dadurch geschaffene kurze Grenze zu China wird nicht näher bestimmt und erst 1963 durch einen Vertrag zwischen Afghanistan und China endgültig festgelegt36.

(b) Afghanistan-Iran

Die Grenze zum Iran, zu dessen Einflußgebiet zumindest die westliche Hälfte Afghanistans in präkolonialer Zeit gehörf 7, wird zunächst 1857 durch einen anglo-persischen Vertrag festgesetzt. In diesem verzichtet der Iran auf seine Ansprüche auf die Stadt Herat und erkennt sie als afghanisch an38 . Der heutige Grenzverlauf ist das Ergebnis der Bemühungen der als Schiedsrichter eingesetzten britischen und türkischen Offiziere, die 1891, 1905 und 1935 die Aufgabe übernehmen, die im Vertrag von 1857 nur grob festgelegte Grenze genau zu markieren 39 . Es handelt sich also hierbei nicht um eine koloniale Grenze im eigentlichen Sinn, sondern um eine von den Interessen der Kolonialmächte beeinflußte Grenzziehung zwischen zwei unabhängigen Staaten.

(c) Afghanistan-Pakistan

Die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan steht seit der pakistanischen Unabhängkeit im Jahre 1947 in Streit. Zwar hatten Afghanistan und Großbritannien 1893 die sogenannte Durand-Linie als Grenze festgesetzt, die bis auf einen Abschnitt im Mohmand-Bezirk auch physisch markiert worden war40 • 1947 beginnt Afghanistan jedoch, diese Grenze abzulehnen, da sie nur unter britischem Zwang zustandegekornrnen sei41 • Ziel Afghanistans ist es, die auf der pakistanischen Seite der Grenze ansässigen bzw. nomadisierenden pathanischen Völker an Afghanistan anzuschließen. Es werden vorwiegend ethnische Gründe dafilr vorgebracht, da die herrschende Dynastie in Afghanistan pathanischer

Lamb, 86-87; Rastogi, 121-125. Luke Chang, 98; Lamb, 87-88. 37 Carter, in: Nyrop, 42; Lamb, 85. 38 Carter, in: Nyrop, 46; Lamb, 85; Lenczowski, 3/4; Malhotra, 7. 39 Malhotra, 27-40; Prescott, Asian Frontiers, 20, 22. 40 Co/lins, 7; Lamb, 90-91; Malhotra, 109; Razvi, 143; Siddiqi, in: Boundaries, 361. 41 Keesing 11, 263; Razvi, 145, 149; Siddiqi, in: Boundaries, 363; Wint, Pakhtunistan, in: Wint, 471. Vgl. auch Zemanek, RdC 116 (1965 III), 240. 35

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11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

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Herkunft ist42 • Auf der Seite der pathanischen Pakistani stoßen diese Plänen allerdings auf wenig Zustimmung43 • Nach einer Verschlechterung der gegenseitigen Beziehungen in den fiinfziger Jahren, die sich in den Sechzigern fortsetzt, als die Sowjetunion die afghanische Position unterstützt, kommt es 1963 zu einem vorübergehenden Ruhen des Streites. 1973 wird er von der neuen afghanischen Regierung wiederbelebt. Gleichzeitig beginnen Unruhen im pakistanischen Baluchistan, die afghanischer Unterstützung zugeschrieben werden. 1978 gelangt in· Afghanistan eine kommunistische Regierung an die Macht. Muslimische Rebellen (Mujaheddin) nehmen den Kampf gegen diese auf, so daß die Sowjetunion 1979 zur Stützung der Regierung einmarschiert. Seit 1980 wird der afghanische Gebietsanspruch an Pakistan nicht mehr erhoben, da das Land sich seitdem, auch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, im Bürgerkrieg befmdet und fl1r eine Auseinandersetzung mit Pakistan nicht stark genug ist44 • Damit bleibt die alte britische Durand-Linie weiterhin die internationale Grenze zwischen beiden Ländern. (d) Afghanistan-ehemalige Sowjetunion

Die Grenze zwischen Afghanistan und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gründet sich auf die anglo-russische Grenzziehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die beiden Mächte legen den Oxus-Fluß als Grenze zwischen Afghanistan und Rußland fest4s . Die nicht am Fluß verlaufende Grenze wird 1886-87 von einer anglo-russischen Grenzkommission markiert46 • Seitdem sind keine Streitigkeiten über diesen Grenzverlauf bekannt geworden. Der Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 erfolgt nicht wegen eines Gebietsanspruchs; die Sowjetunion versucht vielmehr, eine kommunistische Regierung an der Macht zu halten47. Auf nach dem Zerfall der Sowjetunion auftretende Grenzfragen wird in Abschnitt (F.) eingegangen.

42 Keesing 11, 263; Lamb, 91; Razvi, 147; Siddiqi, in: Boundaries, 367; Wint, Pakhtunistan, in: Wint, 472. 43 Keesing 11, 270f.; Wint, Pakhtunistan, in: Wint, 472; vgl. auch Razvi, 147. 44 Zum detaillierten Ablauf der afghanisch-pakistanischen Streitigkeiten vgl. Keesing 11,264-276; Siddiqi, in: Boundaries, 366; FAZ vom 15. Februar 1995; zur augenblicklichen Situation in Afghanistan siehe Danesch, F AZ vom 2. Februar 1996; Natorp, FAZ vom 4. November 1993; Schwittek, FAZ vom 27. Dezember 1993. 45 Lamb, 86; Rastogi, 63-64. 46 Lamb, 86; Rastogi, 79. 47 Collins, 78.

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D. uti possidetis in Asien

bb) Indien Der größte und bevölkerungsreichste Staat der südlichen Zone grenzt im Nordwesten an Pakistan und China. (a) Indien-Pakistan

Pakistan wird 1947 auf dem Gebiet des britischen Raj mit der Vorgabe gebildet, alle Gebiete mit vorherrschend muslimischer Bevölkerung in einem Staat zu vereinen, während das unabhängige Indien die verbleibende größere Territorialmasse erhält, die vorwiegend hinduistisch bewohnt ist. Hier handelt es sich um eine einzigartige Form religiös bedingter Grenzen48 • Zur Durchftlhrung der Teilung ist geplant, daß sich die Herrscher der nicht zum eigentlichen BritischIndien gehörende Fürstentümer ("princely states"t9 fi1r den Anschluß an Pakistan oder Indien entscheiden50 . Die Grenzziehung auf religiöser Grundlage wird dort erschwert, wo die Religion des Herrschers von der der Mehrheit seiner Untertanen abweicht. So inkorporiert Indien zunächst mit Waffengewalt und dann aufgrund eines Plebiszits den Staat Junagadh mit seiner mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung, obwohl der Herrscher, ein Moslem, den Anschluß an Pakistan erklärt51 . Ebenso verleibt sich Indien den moslemisch gefilhrten Staat Hyderabad, der zunächst unabhängig bleiben möchte, gewaltsam ein52 . (aa) Kashmir Auch das Problem der Zugehörigkeit von Jammu und Kashmir (fortan der Einfachheit halber: Kashmir), das als Grenz- und Gebietsfrage die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan bis heute schwer belastet, wurzelt in einer entsprechenden Situation. Der Herrscher vom Kashmir, ein Hindu, optiert nach dem Versagen einer längeren Hinhaltetaktik 1947 fi1r Indien, obwohl fast 80% seiner Untertanen Muslime sind53 . Dagegen gehen muslimische Stämme vor, die einen Teil Kashmirs besetzen, worauf die indische Armee den restlichen Teil Kashmirs

Lamb, 95; Wint, Pakistan, in: Wint, 91. Zum Status dieser Gebiete siehe Dörr, 355f. 50 Keesing 11,317; Sharma, 126; Spear, in: Wint, 65/66. 51 Dörr, 356; Keesing 11,317; Spear, in: Wint, 66. 52 Dörr, 357f.; Keesing 11,317; Spear, in: Wint, 66. 53 Chatterjee, 129; Dörr, 357; Lamb, 99; Prescott, Asian Frontiers, 44; Zuberi, in: Wint,455. 48

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übernimmt. Nachdem auch die pakistanische Armee involviert wird, bildet sich schnell eine feste Linie zwischen den Fronten, die 1949 zum ersten Mal definiert wird54 . Mitte der sechziger Jahre kommt es nach erfolglosen Verhandlungen erneut zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die 1972 durch einen Waffenstillstand vorläufig beendet werden55 . Dabei wird die Waffenstillstandslinie als temporäre Grenze zwischen Indien und Pakistan festgeschrieben; als solche dient sie in den verhärteten Beziehungen56 zwischen den beiden Nachbarn noch heute 57 .

(bb) Rann of Kutch Im Gebiet des Great Rann of Kutch entbrennt nach der Unabhängigkeit zwischen Indien und Pakistan ein Streit über den genauen Grenzverlauf. Es handelt sich hier um die administrative Grenze zwischen der Pakistan zugesprochenen Provinz Sindh und. der Indien beigetretene Suzeränität Kutch. Sie ist aufgrund der geologischen Gegebenheiten (der Rann of Kutch ist eine Salzmarsche) nicht genau festgelegt58. Nachdem es 1965 zwischen Indien und Pakistan zu Kämpfen um den Rann of Kutch gekommen war, wird ein Schiedsgericht eingesetzt, das einen Kompromißvorschlag erarbeitet, der von beiden Seiten angenommen wird59 .

(cc) Weitere Konflikte Indien und Pakistan streiten außerdem um den Grenzverlauf durch die Bari und Bist Doabs. Eine britische Grenzkommission zieht 1947 kurz vor der Unabhängigkeit eine religiös begründete Grenzlinie, die jedoch stark von bestehenden administrativen Grenzen beeinflußt wird und daher ebenso wie die später zu erörternde Grenze Indiens zu Bangladesh Kompromißcharakter hat60 .

Keesing 11,318,319-321; Prescott, Asian Frontiers, 44; Zuberi, in: Wint, 459. Keesing 11, 323-326 56 Vgl. FAZ vom 29. August 1994; KRWE 1996,40905. 57 Dörr, 357. Vgl. FAZ vom 23. August 1994. Für eine Darstellung des Verlaufs des Kashmir-Konflikts siehe Geiger, EPIL 12 (1990), 195ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 58 Conrad, EPIL 2 (1981), 240f.; Fisch, 457f.; Khan, EPIL 6 (1983), 67; Prescott, Asian Frontiers, 40. 59 Gupta, 431; Khan, EPIL 6 (1983), 67; Prescott, Asian Frontiers, 40; siehe zu den Einzelheiten der Regelung: The Indo-Pakistan Western Boundary Case Tribunal, Award of 19 February 1968. Zur Vorgeschichte des Konflikts aus indischer Sicht siehe The Indian Society ofInternational Law, The Kutch-Sind Border Question (1965). 60 Prescott, Asian Frontiers, 42. 54 55

10 SimmJcr

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Diese Grenze gibt zwar Anlaß zu einigen kleineren Reibereien zwischen Indien und Pakistan, hat aber bis heute Bestand. (b) Indien-China

(aa) Westliche Grenze Der Kashmir-Konflikt ist nicht ohne Auswirkungen auf Indiens Grenzprobleme mit China, da der westliche Teil der sino-indischen Grenze seit der chinesischen Okkupation von Tibet bei Kashmir (Ladakh) verläuft61 . Die Grenzregion ist wild62 , nicht bewohnt und bis 1864 nicht erforscht, so daß trotz mehrerer britisch-chinesischer Verträge im 19. Jahrhundert kein genauer Grenzverlauf festgelegt wird und Indien mit einer undefmierten Westgrenze zu China in die Unabhängigkeit entlassen wird. Nach der Anmeldung gegenseitiger GebietsansprUche treffen 1959 und 1962 indische und chinesische Grenztruppen in Waffen aufeinander. Im Oktober 1962 geht China in die Offensive und besetzt das gesamte von ihm beanspruchte Gebiet63 • Seitdem gibt es an der Westgrenze keine weiteren Zwischenfiille mehr, doch ist eine einvernehmliche Lösung trotz langer Verhandlungen in den achtziger Jahren nicht in Sicht64 . (bb) Östliche Grenze Streitgegenstand zwischen Indien und China ist der Verlauf der Grenze zwischen beiden Staaten von Bhutan bis Burma. Indien beruft sich dabei auf die sogenannte McMahon-Linie, die Sir Henry McMahon, Kopf einer britischen Verhandlungsdelegation, 1914 mit tibetanischen Vertretern als Grenzverlauf zwischen Indien und Tibet aushandelt6s . Der Wert dieser Linie wird von chinesischer Seite in Zweifel gezogen, da die tibetanische Gesandtschaft nicht ohne Rücksprache mit China habe handeln dürfen66 . Nach einer Zeit der faktischen Akzeptanz der Linie durch China verschlechtern sich die Beziehungen nach dem tibetanischen Aufstand von 1959 drastisch; es kommt 1962 nach bewaffKeesing II, 283; Khan, EPIL 6 (1983), 67. Nach den Worten eines leitenden Mitglieds des India Office, Sir H.A.F. Rumbold, handelt es sich um eine "frozen, uninhabitable wildemess", zit. nach Keesing 11, 283. 63 GinsburgslPinkele, 24/25; Patterson, Indian, in: Wint, 79, 81; detailliert zum Konfliktablauf siehe Chih Lu, The Sino-Indian Border Dispute, New York, 1986 64 Keesing 11, 284-286; vgl. zur graduellen Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen KRWE 1990,37352, KRWE 1991,38614, KRWE 1994, R 71. 65 Keesing 11, 280f.; Lamb, McMahon, 545/545; Patterson, Indian, in: Wint, 82. 66 Keesing 11,280; Khan, EPIL 6 (1983), 67; Lamb, McMahon, 567. 61

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neten ZwischenfiUlen zu einer chinesischen Offensive. Die McMahon-Linie wird von China im Ergebnis als faktische Grenze benutzt, so daß sie trotz wiederholter diplomatischer Streitigkeiten seitdem als feststehende Grenze zwischen China und Indien fungiert67 • cc) Iran Der Iran (auch: Persien), in präkolonialer Zeit eine einflußreiche Macht im nordwestlichen Asien, behält seine Unabhängigkeit während der Kolonialzeit, da er eine Funktion als Puffer-Staat zwischen Rußland und Großbritannien erttlllt68 • Die Grenze Irans zu Afghanistan wurde bereits dargestellt. (a) Iran-ehemalige Sowjetunion

Irans Grenze mit Rußland wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgehandelt. Auch wenn nachfolgend von beiden Seiten zeitweilig versucht wird, die eigenen Herrschaftsgebiete auf Kosten des anderen auszudehnen, bleibt es schließlich bei der 1869, 1881 und 1893 vertraglich niedergelegten Grenze 69 • Auch der Zerfall der Sowjetunion hat sie nicht in Frage gestelleo.

(b) Iran-Pakistan

Die Grenze zwischen dem Iran und dem britischen Raj wird ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertraglich festgelegt und 1905 weiter modifiziert7 ). Obwohl teilweise eine genaue physische Markierung unterbleibt, kommt es nach der Unabhängigkeit Pakistans nicht zu größeren Auseinandersetzungen um die Grenze. 1960 schließen der Iran und Pakistan einen Grenzvertrag, der abgesehen von einer kleinen Gebietsverschiebung zugunsten des Iran die alte Grenze beibehält72 •

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Luke Chan, 92-93; Keesing 11, 282f.; Khan, EPIL 6 (1983), 67; Lo, 5. Carter, in: Nyrop, 46; Lamb, 80; Lenczowski, 4. Carter, in: Nyrop, 63; Lamb, 82; Naby, in: McCaggiSilver,86. Dazu näher unten in Abschnitt (F.) Punkt 11. 3 b cc (a). Lamb, 84; Razvi, 205. Lamb, 84f Vgl. auch Razvi, 206-208.

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(c) Iran-Irak

Zwischen dem Iran und dem Irak besteht bis heute ein Streit über den Verlauf der gemeinsamen Grenze am Shatt al-'Arab. Großbritannien, Persien, das Osmanische Reich und Rußland einigen sich 184773 und 1913 vertraglich, den größten Teil des Flusses osmanischer Herrschaft zu unterstellen. Die Grenze zwischen dem heutigen Irak, damals Teil des Osmanischen Reiches, und Persien verläuft demnach meist am persischen Ufer des Shatt74 . 1975 gelingt es dem Iran, den Irak zum Abschluß eines Vertrages zu bewegen, in dem die Grenze als dem Thalweg7S folgend defmiert wird: "la ligne frontiere dans le Chatt-EI-Arab suit le Thalweg".76

1980 kündigt der Irak diese Vereinbarung einseitig auf und versucht mit Waffengewalt, seine Herrschaft über den gesamten Shatt wiederherzustellen77 . Dies löst den sogenannten ersten Goltkrieg aus, der bis 1988 zwischen dem Iran und dem Irak geftlhrt wird. Am Ende des Krieges ziehen sich die Parteien auf die ursprüngliche Grenzlinie zurlick78 . dd) Pakistan Bis auf die Grenze zwischen Pakistan und China wurden alle Grenzprobleme bereits erörtert. Pakistans Grenze zu China verläuft am von Pakistan besetzten Teil Kashmirs. Zur Zeit des britischen Raj unternimmt Großbritannien 1899 den Versuch, China zu einer Festsetzung der gemeinsamen Grenze zu bewegen: Es übermittelt der chinesischen Regierung einen entsprechenden Grenzvorschlag, der unbeantwortet bleibe9 . Erst 1963 schließen China und Pakistan ein Grenzabkommen, in dem nur wenig von der 1899 vorgeschlagenen Linie abgewichen wird80 •

73 Vertrag von Erzerum. Bei den Verhandlungen spricht sich der russische Vizekanzler Graf Nesselrode ausdrücklich für die Anwendung des uti possidetis-Prinzips aus. Dieses scheint dabei als eine "Iine of actual control" verstanden zu werden; so Kaikobad, 16-17,28. 74 Keesing 11, 234; Post, in: Dekker/Post, 8-12; Schofleld, in: Boundaries, 323. Für eine detaillierte Studie zur Entwicklung der Grenze siehe Kaikobad, 5-67. 7S Mittellinie des tiefsten schiffbaren Kanals. 76 Artikel 2(1), zit. nach Post, in: Dekker/Post, 27; Kaikobad, 65. 77 Keesing 11, 234; Post, in: Dekker/Post, 32. 78 Post, in: Dekker/Post, 35. Die Arabische Liga unterstützt weiterhin den Anspruch Iraks auf den gesamten Shatt, KRWE 1990,37548. 79 Lamb, 103; Prescott, Asian Frontiers, 32. 80 Luke Chang, 97; Prescott, Asian Frontiers, 32; Razvi, 166; Wint, Pakistan, in: Wint, 97.

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b) Mittlerer Teil Im mittleren Teil der südlichen Zone befmden sich Bangladesh, Bhutan, Indien mit seinen übrigen Grenzen und Nepal.

aa) Bangladesh Bangladesh ist fast völlig von Indien eingeschlossen; zudem besitzt es noch eine kurze Grenze zu Burma.

(a) Bangladesh-Indien Zum Zeitpukt der Dekolonisierung Indiens existiert Bangladesh noch nicht. Es ist als Ost-Pakistan Teil des 1947 ebenfalls auf dem Gebiet des britischen Raj gegründeten Pakistan. Bangladesh erbt bei seiner Entstehung 1971 81 die zwischen Indien und Pakistan bestehende Ostgrenze. Von britischer Seite wird im Vorfeld der Unabhängigkeit eine Grenzkommission eingesetzt, die die Grenze zwischen den muslimischen und nicht-muslimischen Gebieten ziehen soll. Die Kommission markiert schließlich eine Kompromißlösung, die sich größtenteils an alten DistriktsundThanasgrenzen82 orientiert und weder die Maximalforderung der indischen Kongreßpartei noch die der pakistanischen Muslim League berücksichtigt83. Diese Grenze hat den Nachteil, viele Enklaven bestehen zu lassen {l21 indische Enklaven auf der pakistanischen Seite der Grenze, die wiederum 21 pakistanische Enklaven umschließen, sowie 92 pakistanische Enklaven auf der indischen Seite der Grenze, die weitere drei indische Enklaven umfassen)84. Dadurch kommt es bis zur Unabhängigkeit Bangladeshs 1971 zu ständigen Reibungen zwischen Indien und Pakistan, die jedoch keine bedrohlichen Ausmaße annehmen 8S . Seit der Trennung Bangladeshs von Pakistan sind keine Spannungen zwischen Indien und Bangladesh über den Grenzverlaufmehr entstanden86 .

81 Zu den Umständen der Staatsgründung eingehender unten Punkt III. I a. Thanas = kleinste administrative Einheit. 83 Prescott, Asian Frontiers, 46. 84 Prescott, Asian Frontiers, 46; mit etwas anderer Zählung Sharma, 120. 85 Lamb, 98; Prescott, Asian Frontiers, 46; Sharma, 121. 86 Vgl. KRWE 1991,38668 zu gemeinsamen Gesprächen über "border security".

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(b) Bangladesh-Burma

1937 wandelt sich die frühere interne Grenze zwischen dem britischen Raj und dem britischen Burma in eine Trennlinie zwischen zwei britischen Kolonialeinheiten, da Burma zu einer unabhängig von Indien verwalteten Kolonie wird. Problematisch an dieser Grenze ist, daß sie keine klare ethnische bzw. religiöse Teilung vornimmt, so daß es buddhistische Minderheiten im heutigen Bangladesh und muslimischen Minderheiten in Burma gibt87 . Das fUhrt hin und wieder zu Schwierigkeiten an der Grenze, die sich jedoch nicht zu einem ernsthaften Streit entwickeln. Der streitige Grenzabschnitt am Naf-Fluß, der als Grenze bestimmt ist und in dem jeweils von beiden Seiten beanspruchte Inseln entstehen und untergehen, wird von einem Memorandum of Agreement zwischen Pakistan und Burma von 1964 erfaßt, das eine friedliche Regelung dieser Gebietsfragen vornimmt88 . bb) Bhutan Bhutan als einer der kleinen Himalaya-Staaten wird von Indien und China eingeschlossen. (a) Bhutan-Indien

Das expandierende britische Kolonialreich in Indien besetzt im 19. Jahrhundert weite Außengebiete, die Bhutan als traditionell zu sich gehörig betrachtet, und schlägt sie zu Indien. Das bhutanische Kernland wird nicht angetastet und 1865 in eine Form von Protektorat eingebunden: Großbritannien wird filr Bhutans Außenpolitik zuständig89 . Gleichzeitig wird die Grenze Bhutans zum britischen Raj festgelegt; sie wird in den 1870ern markiert90 • Die britische Vorherrschaft in der bhutanischen Außenpolitik wird 1910 noch einmal vertraglich festgeschrieben. Das unabhängige Indien setzt diese Politik mit einer entsprechenden Vereinbarung von 1949 fort91 , akzeptiert jedoch seit den siebziger Jahren stillschweigend eine eigenständige Außenpolitik Bhutans92 . Fleischmann, 90f.; Handbook Burma, 2; Lamb, 97; vgl. Razvi, 194. Fleischmann, 92; Handbook Burma, 10/11; Lamb, 97; Prescott, Asian Frontiers, 48; Razvi, 197. 89 Deb, 156; Hecker, 25-27; Lamb, 140; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990), 65; Prescott, Asian Frontiers, 38. 90 Lamb, 139. 91 Fleischmann, 28; Keesing II, 278; Lamb, 140; Macalister-Smith, EPIl 12 (1990), 64,66f. 92 Keesing II, 278; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990), 68f.; siehe auch KRWE 1990, 37356; KRWE 1991,38609; KRWE 1996,40907,41046. 87

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Bhutan hat keinen akuten Grenzkonflikt mit Indien. Bis zur Aufuahme in die Vereinten Nationen im Jahre 1971 93 ist es Bhutans Hauptanliegen, die bhutanisch-indische Grenze auf indischen Karten als internationale Grenze markiert zu fmden. Indien neigt dazu, sie aufgrund der geschichtlichen Entwicklung als administrative Grenze zu kennzeichnen94 • (b) Bhutan-China Die Sonderbeziehung Bhutans zu Indien verhindert lange eine Regelung der Grenzfrage mit China. Nach der Aufuahme in die Vereinten Nationen beginnt Bhutan Verhandlungen mit China über den vertraglich nicht festgelegten, aber traditionell akzeptierten Grenzverlaufs . China erkennt weitgehend die traditionelle Grenze an, sieht aber bei kleinen Gebieten noch das Bedürfuis, einen genauen Grenzverlaufzu vereinbaren96 • Die Verhandlungen dazu in den achtziger Jahren fUhren zu keinem Ergebnis 97, es bleibt bisher beim status quo98 • cc) Indien Indien grenzt in seinem südöstlichen Teil an Bangladesh, Bhutan, Burma und Nepal. Die Grenzen zu Bangladesh und Bhutan wurden oben beleuchtet.

(a) Indien-China

Die 1947 noch bestehende Grenze zum Himalaya-Staat Sikkim ist seit 1975 gegenstandslos, da Sikkim in diesem Jahr indischer Bundesstaat wird99 • Sikkims Grenze zu China (Tibet) ist durch ein anglo-chinesisches Abkommen von 1890 defmiert, das von Seiten Chinas zwar als "ungleicher Vertrag" angesehen, jedoch nicht angegriffen wird 1oo:

Keesing 11, 278. Hecker, 28; Lamb, 139; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990), 69; Patterson, Indian, in: Wint, 80. 95 Keesing 11,278; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990),64. 96 Luke Chang, 66; Keesing 11, 278. 97 Keesing 11,278; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990), 69f 98 Siehe KRWE 1990,37356; KRWE 1991,38609. 99 Dörr, 390; Keesing 11,279; Macalister-Smith, EPIL 12 (1990), 347. 100 Luke Chang, 66; Fleischmann, 13f., 18; Lamb, 143; Patterson, Indian, in: Wint, 80; Prescott, Asian Frontiers, 38. 93

94

152

D. uti possidetis in Asien

"The boundary between China and Sikkim has long been formally delimited and there is neither any discrepancy between the maps nor any disputes in practice."IOI

(b) Indien-Burma

Bunna wird zwischen 1824 und 1886, teilweise durch Kriege, von Großbritannien kolonisiert und als Teil des britischen Raj verwaltet 102. 1937 erhält Bunna einen eigenen kolonialen Status. 1948 wird es als Union von Bunna (heute: Myanmar) unabhängig lO3 • Bunnas Grenze wird in Folge der schrittweisen Kolonisierung markiert. Der Grenzabschnitt zum heutigen Indien wird 1834, 1837, 1881, 1894 und 1895, teils durch Verhandlungen mit dem noch unabhängigen Bunna, teils durch mit der Grenzziehung beauftragte britische Offiziere defmiert 104 • Nach der erneuten Unabhängigkeit Bunnas steht diese Grenze nicht im StreitIOs.

(c) Indien-Nepal

Nepal behält während der Kolonialzeit ebenfalls eine Form von Unabhängigkeit. Zwar verliert es einen Teil seines Territoriums an die Gurkhas und damit später an Großbritannien, das nepalesische Kernland wird jedoch nicht angetastee 06 • Nepal wird in seiner Außenpolitik durch die Aufsicht eines britischen Residenten eingeschränkt lO7 • Seine Grenze zu Indien wird zum Teil nach der Niederlage im anglo-nepalesischen Krieg 1815 und 1816 gezogen; das letzte undefmierte Teilstück erfilhrt durch den Vertrag von 1860 und dessen Umsetzung durch Markierungen 1875 eine Regelung lO8 • Nach der Unabhängigkeit wird diese Grenze nicht angegriffen lO9 •

101 Aus einer Note des chinesischen Außenministeriums an den indischen Botschafter vom 26. Dezember 1969, zit. nach Fleischmann, 18. 102 Fleischmann, 19/20; Handbook Burma, 32-35; Kunstadter, Burma, in: Kunstadter, 75; Lamb, 146; rinker, in: Wint, 228. 103 Handbook Burma, 40, 45; Lamb, 146; Lehman, in: Kunstadter, 93. 104 Prescotl, Asian Frontiers, 48. 105 Handbook Burma, 11; Lamb, 149; Prescott, Asian Frontiers, 48. 106 Chatterjee, 173; Lamb, 134. 107 Chatterjee, 173; Lamb, 134. 108 Prescott, Asian Frontiers, 36. 109 Chatterjee, 173.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

153

dd) Nepal Nepal hat außerdem eine Grenze zu China. Da Nepal lange Zeit der Suzeränität Chinas untersteht und den direkten Kontakt mit China erst während der Unruhen in Tibet verliert, besteht zunächst keine defmierte Grenze zwischen den beiden Ländem llo . Mit der Rückkehr Chinas nach Tibet wird die Markierungsfrage dringend. Nepal, das sich im großen sino-indischen Grenzkonflikt neutral verhält, kann 1961 mit China einen Grenzvertrag abschließen, der den Grenzverlauf durch die Bergketten des Himalaya regelt 111.

c) Südlicher Teil

Der südliche Teil der südlichen Zone umfaßt Burma, Kambodscha, Laos, Malaysia, Brunei, Thailand und Vietnam. Die Inselstaaten werden unten 11 2 separat behandelt.

aa) Burma Burmas Westgrenzen wurden bereits erörtert. Weitere Grenzen hat Burma mit China, Laos und Thailand.

(a) Burma-China

Ein Großteil der sino-burmesischen Grenze ist zum Zeitpunkt von Burmas Unabhängigkeit durch anglo-chinesische Verträge von 1894, 1897 und 1941 defmiert ll3 . Nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs beginnen Burma und China Verhandlungen über den gesamten Grenzverlauf, in deren Entwicklung die bislang bereits defmierten Grenzen bis auf zwei Teilstücke entsprechend den vorigen Verträgen festgelegt werden ll4 . 1960 wird dieses Ergebnis in einem Grenzvertrag festgehalten: " Article I In accordance with the principle of respect for sovereignty and territorial integrity ... , the Union of Burma agrees to return to China the area of Hpimaw, Gawlum and Kangfang ( ... ) which belongs to China; and the People's Republic of China agrees to Lamb, 135; Prescott, Asian Frontiers, 36. Lamb, 136; Patterson, Nepal, in: Wint, 88; Prescott, Asian Frontiers, 36. Diese Grenze wird alle 5 Jahre inspiziert, KRWE 1990,37357. 112 Siehe unter d). 113 Prescott, Asian Frontiers, 50; Syatauw, 123-125. 114 Luke Chang, 48; Handbook Burma, 10; Lamb, 152-157; Prescott, 50, 52. 110 111

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D. uti possidetis in Asien

delimit the section of the boundary ... in accordance with the notes exchanged between the Chinese and the British Governments on June 18th, 1941, with the exception ofthe adjustment provided for in Articles 2 and 3 ofthe present Treaty. Article 2 ... the two Parties decide to abrogate the 'perpetuallease' by Burma ofthe Meng-Mao Triangular Area ( ... ) which belongs to China. Taking into account the practical needs ofthe Burmese side, the Chinese side agrees to turn over this area ( ... ) to Burma to become part of the territory of the Union of Burma. In exchange, and having regard for the historical ties and the integrity of the tribes, the Burmese side agrees to turn over to China to become part of the Chinese territory the areas (... ) under the jurisdiction of the Panhung and Panlao tribes, which belong to Burma according to the provision in the notes exchanged between the Chinese and the British Governments on June 18th, 1941. ... " llS

(b) Burma-Laos

Bunnas Grenze zu Laos wird in den letzen Jahren des 19. Jahrhunderts durch Zusammenwirken zwischen Frankreich und Großbritannien am Mekong festgelegt und bis heute nicht ernsthaft angegriffen 116.

(c) Burma-Thailand

Thailand wird anders als Bunna nicht durch Kolonisierung unterworfen, sondern als Pufferstaat zwischen Frankreich und Großbritannien erhalten ll7 . Nach einigen Streitigkeiten zwischen Großbritannien und Thailand über die Zugehörigkeit kleiner Eingeborenenstaaten an der gemeinsamen Südwestgrenze kommt es 1864 zu einer vertraglichen Grenzziehung, die anschließend nur aufgrund von Laufltnderungen der Grenzflüsse modifiziert wird. Die nördliche Grenze wird 1894 vertraglich geregele l8 • Bunna und Thailand nehmen diese Grenze in einem Grenzsicherungsabkommen von 1963 als selbstverständlich hin ll9.

Zit. nach Wint, 767. Bleckmann, 89; Lamb, 157; KRWE 1991,38624. 117 Insor, in: Wint, 235; Prescott, Asian Frontiers, 54; Rose, in: Wint, 222. 118 Lamb, 164; Prescott, Asian Frontiers, 54. 119 Prescott, Asian Frontiers, 54. 115

116

11. Grenzziehung in der Deko1onisierung

155

bb) Kambodscha Kambodscha grenzt an Laos, Thailand und Vietnam. Nach einer Periode der Macht der Khmer im 13. Jahrhundert wird Kambodscha von den aufsteigenden Thai und Viet bedrängt und territorial bis auf ein Kemland um Phnom Penh verkleinert. 1863 unterstellt sich der kambodschanische König dem Schutz Frankreichs, Kambodscha wird französisches Protektorat. Dies erkennt Thailand 1867 an J2D• 1954 wird Kamboscha unabhängig. (a) Kambodscha-Laos

Mit Laos hat Kambodscha keine Grenzstreitigkeiten. Die durch Frankreich 1904 gezogene Grenze zwischen der administrativen Einheit Laos und dem kambodschanischen Protektorae 21 wird nach 1954 nicht angegriffen 122. Dazu trägt bei, daß sowohl Kambodscha als auch Laos mit ihren innenpolitischen Schwierigkeiten ausreichend beschäftigt sind l23 • (b) Kambodscha-Thailand

Frankreich annektiert 1904 und 1907 zugunsten Kambodschas thailändisches Territorium; diese Grenze wird vertraglich festgeschrieben und 1908 größtenteils markiert 124 • Thailand gelangt im Zweiten Weltkrieg durch japanische Intervention 1941 vorübergehend wieder in den Besitz dieser Gebiete. Es muß sich 1945 jedoch auf die alte Grenze zurückziehen, die auch nach dem französischen Abzug 1954 erhalten bleibt 12S • Die Beziehungen zwischen Kambodscha und Thailand sind wegen der thailändischen Ressentiments über das verlorene Territorium zeitweilig stark gespannt 126 • 1949 beginnt ein Streit zwischen Kambodscha und Thailand über die Zugehörigkeit des im Grenzgebiet liegenden Tempels von Preah Vihear, der 1962 vom IGH zugunsten Kambodschas entschieden wird 127 • Der IGH stützt sich dabei auf eine 1908 erstellte Karte, der Thailand nicht widersprochen hatte, ob-

120 B/eckmann, 87; Honey, in: Wint, 241; Lamb, 181; Prescott, Asian Frontiers, 58; Vickery,4. 121 Dazu ausfiihrIich Chhak, 51-60. 122 Honey, in: Wint, 244; Prescott, Asian Frontiers, 62. 123 Lamb, 180. 124 B/eckmann, 89; Lamb, 168; Prescott, Asian Frontiers, 58. 125 Honey, in: Wint: 241; Lamb, 165-168, 181; Prescott, Asian Frontiers, 58. 126 Lamb, 168. 127 Prescott, Asian Frontiers, 58.

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D. uti possidetis in Asien

wohl die dort festgehaltene Markierung der Grenze dem ursprünglichen Grenzvertrag zuwiderlief'28; "The Court however considers that Thailand in 1908-1909 did accept the Annex I map as representing the outcome of the work of delimitation, and hence recognized the line on that map as being the frontier line, the effect of which is to situate Preah Vihear in Cambodian territory. The Court considers further that, looked at as a whole, Thailand's subsequent conduct confirms and bears out her original acceptance, and that Thailand's acts on the ground do not suffice to negative this. Both parties, by their conduct, recol!l1ized the line and thereby in effect agreed to regard it as being the frontier line." 12cJ'"

(c) Kambodscha-Vietnam Die Grenze zwischen Kambodscha und Vietnam wird zwischen 1869 und 1942 definiert und zeigt das Fortschreiten des französischen Kolonialeinflusses in diesem Gebiee 30 . Die Grenze wird entsprechend französischer Interessen ohne Rücksicht auf hergebrachte Territorialrechte des kambodschanischen Königs gezogen l3l . Dennoch übersteht sie den französischen Rückzug 1954 zunächst unangegriffen 132 • 1975 erheben die revolutionären Roten Khmer die Forderung, Vietnam müsse die Provinz Kampuchea Krom an Kambodscha zurückgeben I33 . Auch heute noch bestehen ungeklärte· Grenzfragen zwischen Kambodscha und Vietnam 134.

cc) Laos Laos grenzt neben Burma und Kambodscha an China, Thailand und Vietnam. Vor der Bildung der kolonialen Einheit Laos durch Frankreich im Jahre 1893 existiert seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts kein einheitlicher laotischer

128 Grundsätzlich zum Problem des Verhältnisses zwischen Vertragstext und Karten siehe Gielen, 112-151. 1291CJ Reports 1962 (Case Concerning the Temple of Preah Vihear, Cambodia v. Thailand, Judgment), 6 (32/33). 130 Klintworth, 3; Prescott, Asian Frontiers, 64, 66. 131 Eine ausfilhrliche Darstellung hierzu bietet Chhak, 23-50, 61ff. 132 Klintworth, 3: Prinz Sihanouk, der Kambodscha bis 1970 regiert, verzichtet auf alle historisch begründeten GebietsansprUche gegen seine Nachbarn; Prescott, Asian Frontiers, 64. 133 Klintworth, 3; zum weiteren Verlauf des Streits zwischen Vietnam und Kambodscha siehe unten Punkt III. 2 a. 134 KRWE 1994, R 66.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

157

Staat mehr, sondern eine Fülle von Kleinstaaten mit mehrheitlich laotischer Bevölkerung, die unter thailändischem und vietnamesischem Druck stehen \35.

(a) Laos-China Die Grenze zwischen Laos und China wird durch einen Grenzvertrag zwischen Frankreich und China aus dem Jahre 1895 bestimmt, den China nicht als "ungleichen Vertrag" ansieht und somit bis heute akzeptiert 136 •

(b) Laos-Thailand Der Grenze zwischen Laos und Thailand liegen zwei Verträge Thailands mit Frankreich zugrunde: Zum einen wird 1893 nach einem französischen Ultimatum gegen Thailand der Mekong als Grenzlinie defmiert 137 • Zum anderen zediert Thailand 1904 im Norden auf französischen Druck ein Gebiet westlich des Mekong 138. 1941 erhält Thailand letzteres vorübergehend durch Japan zurück; 1945 wird nach der japanischen Kapitulation zur früheren Grenze zurückgekehrt 139. 1984 kommt es nach langen Jahren wechselnder Spannungen und Entspannungen im Verhältnis beider Staaten zu einem Streit um drei Dörfer an der westlich des Mekong gelegenen nördlichen Grenze, die thailändische Truppen besetzen 140. Trotz des baldigen Abzugs treten weitere bewaffnete Zwischenflille an der Grenze auf, die jedoch nicht grundsätzlich angegriffen wird l41 . 1989 verständigt man sich auf eine gemeinsame Grenzkommission, die gelegentlich auftretende Streitigkeiten beilegen so1l142.

(c) Laos-Vietnam Die Grenze zwischen Laos und Vietnam geht auf die französische administrative Kolonialgrenze zwischen beiden Ländern zurück, die 1899 gezogen 135 Bleckmann, 85; Fochler-Hauke, 121f.; HalperniKunstadter, in: Kunstadter, 234; Lamb,176. 136 Prescott, Asian Frontiers, 60. KRWE 1991, 38624; KRWE 1993, R 75; KRWE 1992,38963 berichtet über ein "agreement on border demarcation". 137 Bleckmann, 89; Honey, in: Wint, 244; Lamb, 165; Prescott, Asian Frontiers, 58. 138 Bleckmann, 89; Honey, in: Wint, 244; Lamb, 165; Prescott, Asian Frontiers, 58. 139 HalperniKunstadter, in: Kunstadter, 240; Lamb, 165-167. 140 Keesing 11, 367. 141 Keesing 11, 368f. 142 KRWE 1989,37090; siehe weiterhin KRWE 1991,3868; KRWE 1994 R 77.

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D. uti possidetis in Asien

wird. Diese Grenze wird nach der Unabhängigkeit 1954 von keiner Seite in Frage gestelle 43 .

dd) Malaysia

(a) Malaysia-Thailand Malaysia besitzt eine Landgrenze zu Thailand. Die südlich von Thailand gelegende Halbinsel wird von den Thai-Herrschern als Einflußgebiet betrachtet. 1909 kommt es zu einem Grenzvertrag mit Großbritannien, der den britischen Herrschaftsanspruch auf das Gebiet von Malaysia anerkenne 44 • 1941 erhält Thailand von Japan gewisse grenznahe malayische Gebiete "rückübereignet"; 1945 wird die alte Grenze wiederhergestellt l4s • Diese Grenze ist gut bestimmt und steht auch nach Malaysias Unabhängigkeit nicht im Streit l46 .

(b) Malaysia-Indonesien Auf Borneo besitzt Malaysia eine Grenze zu Indonesien, die durch drei anglo-holländische Grenzverträge aus den Jahren 1891, 1905 und 1928 bestimmt ist. An dieser Grenze kommt es in einer Periode nach der Unabhängigkeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen, da Indonesien Anspruch auf Nordborneo erhebt l47 • Nach der generellen Verbesserung der indonesischmalayischen Beziehungen bleiben Streitigkeiten dieser Art aus 148. 1994 kommt es zum Streit um zwei Borneo vorgelagerte kleine Inseln; Schlichtungsgespräche filhren zu keiner Klärung l49 •

(c) Malaysia-Philippinen 1962 machen die Philippinen aus historischen Gründen Rechte am britischen Sabah auf Borneo geltend, das Großbritannien in die Malaysische Föderation 143 Prescott, Asian Frontiers, 62. Vgl zu den gegenseitig guten Beziehungen KRWE 1992, R 73. 144 Lamb, 170; Prescott, Asian Frontiers, 56; Rumley, in: Grundy-Warr, 121. 145 Lamb, 166, 171. 146 Prescott, Asian Frontiers, 56; vgl. KRWE 1992, R 85. 147 Bedlington, 108-109; Kunstadter, Malaysia, in: Kunstadter, 3 10/3 II ; Sington, in: Wint, 261. Siehe auch Mackie, in: May, 71. 148 Bedlington, 109; Prescott, Asian Frontiers, 90. 149 KRWE 1995, R 77.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

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einbinden möchte. 1963 entscheidet sich die dortige Bevölkerung ftlr den Eintritt in die Malaysische Föderation. Die Philippinen vertreten ihren Anspruch in den folgenden Jahrzehnten mit wechselnder Schärfe; zu Grenzänderungen kommt es nichtISO. 1988 erklärt der philippinische Außenminister, sein Land sei bereit, den Anspruch aufzugeben I' 1•

(d) Malaysia-Brunei Das kleine Sultanat Brunei auf Borneo macht 1970 Ansprüche auf einige Städte im angrenzenden Malaysia geltend ls2 . Diese werden aber nicht weiter verfolgtl'3. Das britische Protektorat Brunei war entgegen den ursprünglichen britischen Pläne der malayischen Föderation nicht beigetreten, sondern in der Unabhängigkeit verblieben 1S4 •

ee) Thailand Thailands Grenzen wurden bereits vollständig im Zusammenhang mit seinen Nachbarstaaten Burma, Kambodscha, Laos und Malaysia beschrieben.

dd) Vietnam Während der französischen Kolonialzeit, in der Frankreich das 1802 geschaffene geeinte vietnamesische Kaiserreich übernimmt, ist Vietnam in drei Verwaltungsbezirke getrennt: die Kolonie Cochin China und die Protektorate Annam sowie Tonkin lss . 1945 erklärt sich Vietnam unter dem königlichen Erben Bao Dai mit japanischer Unterstützung ftlr selbständig, eine Entscheidung, die die führende Persönlichkeit des Nordens, Ho Chi Minh, nicht anerkennt. Als Japan kapituliert, überwachen chinesische Truppen den Abzug Japans bis zum 16. Breitengrad; im Gebiet darunter übernimmt Großbritannien diese Aufgabe. Bei der Rückkehr Frankreichs 1946 gelingt es diesem nicht, den Norden Vietnams unter Kontrolle zu bringen; es gerät in bewaffneten Konflikt mit den "Vietminh" Ho Chi Minhs. 1949 werden Cochin China und Annam verbunden. 150 Zum gesamten Ablauf siehe Keesing H, 369-737; Bedlington, 109-110, 191; Kunstadter, Malaysia, in: Kunstadter, 310; Prescott, Asian Frontiers, 86; Sington, in: Wint,262. 151 KRWE 1989,36558. 152 Bedlington, 265. 153 KRWE 1992, R 61: 1991 kommt es zu Gesprächen über die Markierung der gemeinsamen Grenze. 154 Bedlington, 262; Sington, in: Wint, 260-262. 155 Honey, in Wint, 246; Jessup, 155; Lamb, 183, 185.

160

D. uti possidetis in Asien

1954 zerbricht Vietnam beim Rückzug Frankreichs in zwei Staaten. Dies wird im Genfer Übereinkommen trotz einer Wiedervereinigungsklausel akzeptiert l56 . Nach dem Vietnamkrieg 1963-1975 wird Vietnam 1976 unter nordvietnamesischer Führung vereinigt157. Vietnam grenzt neben Kambodscha und Laos an China. Seine Grenze zu China wird 1887 in einem französisch-chinesischen Vertrag festgelegt und 1895 leicht modifiziert. Bis zur Wiedervereinigung Vietnams wird sie nicht angegriffen 158 . Nach 1975 beginnt ein Streit um den Verlauf der Grenze, den China während des Vietnamkrieges zu seinen Gunsten verschoben haben soll. Verhandlungen werden 1978 ergebnislos abgebrochen, worauf es zu kleineren Gefechten an der Grenze komme 59 . Nach weiteren Verhandlungsversuchen ereignen sich nach 1979 wiederholt größere bewaffnete Zwischenfällen mit Toten und Verletzten l6o • 1993 beginnen beide Parteien nach einer generellen Verbesserung ihrer Beziehungen mit Grenzgesprächen, die bislang ohne Ergebnis sind l61 . Der Streit Vietnams mit China um das Paracel Archipel wird durch die Besetzung der Inseln durch China 1974 praktisch beendet l62 • d) Inselstaaten der südlichen Zone

In der südlichen Zone befmden sich außerdem die Inselstaaten Indonesien, Philippinen, Singapore und Sri Lanka. aa) Indonesien Die Inselgruppe Holländisch Ostindien, eine niederländische Kolonie, wird 1949 als Republik Indonesien unabhängig. Dabei schließt sich auch Westtimor, der Westteil der zwischen Holland und Portugal aufgeteilten Insel Timor l63 , In156 Zum gesamten Ablauf siehe Lamb, 185-187; aus der Sicht des Beteiligten Jessup, 159-205. 157 Keesing II, 375. 158 Pao-min Chang, 11f.; Keesing II, 310; Klintworth, 5-6; Lamb, 175; Prescott, Asian Frontiers, 60. 159 Pao-min Chang, 24-48; Keesing II, 31Of. 160 Pao-min Chang, 70ff., 94; Keesing II, 311-313. 161 KRWE 1994, R 89. Das gemeinsame Kommunique vom 22. November 1994, in dem sich beide Staaten verpflichten, die Lösung ihrer Grenzprobleme zu versuchen (Meldung in tdn vom 23. November 1994), hat zu keiner sichtbaren Änderung der Lage gefUhrt. 1996 findet bereits die 7. Runde der "border talks" statt, die ebenfalls zu keiner Lösung fUhrt, KRWE 1996, 40907. 162 Chiu, EPIL 12 (1990), 291. 163 Zum Grenzverlaufvor der Annexion siehe Prescott, Asian Frontiers, 84.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

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donesien an. Osttimor bleibt portugiesische Kolonie, bis Indonesien 1976 dort nach einem Bürgerkrieg einmarschiert und Osttimor als 27. Provinz annektiert l64 • Die Vereinten Nationen verurteilen die Annexion und sprechen der Bevölkerung Osttimors ein Selbstbestimmungsrecht ZU165. Dieses kann bis heute nicht ausgeübt werden l66 . 1994 beginnt Indonesien, mit Vertretern Osttimors über eine Verbesserung der Situation auf der Insel zu verhandeln, ohne daß bislang eine Einigung in Sicht erscheine 67 • Indonesiens Grenze zu Papua Neuguinea auf der Insel Irian, die 1963 zu Indonesien gelangt, wird 1964 zwischen Indonesien und Australien durch einen Vertrag geregelt. Dieser hält sich nah an die zuvor zwischen Holland und Australien verabredete Grenzlinie l68 . Die Grenze gerät auch nach der Unabhängigkeit Papua Neuguineas 1975 169 nicht in Streit. bb) Philippinen Das philippinische Archipel wird 1898 und 1900 von seinem spanischen Kolonialherm vertraglich auf die USA übertragen 170. 1946 wird die Philippinische Republik unabhängig l71 . Keesing 11,329; Lawrence, EPIL 12 (1990), 94; Weatherbee, 1. Generalversammlungs-Resolution 3485 (XXX) vom 12. Dezember 1975: "The General Assembly, ... I. Calls upon all States to respect the inalienable right of the people of Portuguese Timor to self-determination, freedom and independence ... ; ... 5. Calls upon the Govemment of Indonesia to desist from further violation of the territorial integrity of Portuguese Timor and to withdraw without delay its armed forces from the Territory in order to enable the people of the Territory freely to exercise their right to self-determination and independence; ... 7. Calls upon all States to respect the unity and territorial integrity of Portuguese Timor; ... "; Sicherheitsratsresolution 384 vom 22. Dezember 1975: "The Security Council; 164

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I. Calls upon all States to respect the territorial integrity of East Timor as weil as the inalienable right of its people to self-determination ... ; 2. Calls upon the Govemment of Indonesia to withdraw without delay all its forces from the Territory; ... ". 166 Zu Hintergrund und Ablauf des Konflikts siehe Keesing 11,329-336. Vgl. KRWE 1995, 40367. 167 FAZ vom 8. Oktober 1994; das jüngste Vermittlungsangebot Frankreichs (vgl. FAZ vom 14. Februar 1996) blieb ohne ersichtliches Echo. Siehe auch KRWE 1995, 40367. 168 Prescott, Asian Frontiers, 84; Verrier, in: May, 36-39. 169 Haubald, FAZ vom 25. Januar 1996; Prescott, in: May, 3. 170 Choinski, Philippines, in: Wint: 280; Prescott, Asian Frontiers, 86. \1 Simmler

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D. uti possidetis in Asien

Die Philippinen erheben ebenso wie China, Taiwan, Malaysia und Vietnam Anspruch auf die Spratley Islands. Diese Kette kleiner Inseln wird 1933 von Frankreich trotz chinesischer und japanischer Proteste okkupiert. Nach dem Ende der Kolonialzeit werden von verschiedenen Seiten aus unterschiedlichen (historischen, geographischen, strategischen) Gründen Ansprüche auf die Inseln geltend gemacht I72 • Einige Inseln werden von den Philippinen, andere von Vietnam, Taiwan und China besetzt gehalten 173 • Eine Klärung der Situation ist nicht zu erwarten, obwohl China und Vietnam 1994 mit Sondierungsgesprächen begonnen haben 174. China verstärkt in letzter Zeit seine Truppenpräsenz in der Gegend der Spratley Islands und artikuliert seine AnsprUche auf die Inselketten der Südchinesischen See deutlicher l7s .

cc) Singapore Singapore besteht aus der Hauptinsel und etwa zwei Dutzend kleinen Inseln. 1824 erhält Großbritannien durch einen Vertrag mit dem Sultan von Johore die Hauptinsel und die im Radius von 16 km liegenden Inseln zugesprochen. Der Kolonialrivale Holland erklärt sich in gleichen Jahr bereit, diese Aufteilung zu akzeptieren. 1927 beschreibt Großbritannien durch einen unilateralen Akt die Seegrenze zwischen Singapore und Malaysia. Sie wird durch die kurze Mitgliedschaft Singapores in der malaysischen Föderation von 1963-1965 nicht verändert l76 . 1973 treffen Singapore und Indonesien eine Vereinbarung über ihre maritimen Grenzen. Zu Streitigkeiten kommt es nachfolgend nicht 177 •

dd) Sri Lanka Sri Lanka hat keine Gebietsstreitigkeiten mit seinem großen Nachbarn Indien. Die Grenze in der Palk Strait, die die Insel vom Festland trennt, wird 1974 vertraglich vereinbart l78 • Keesing 11, 371. Eine genaue Darstellung der einzelnen Anspruchsgrundlagen bietet Chiu, EPIL 12 (1990), 358-360. 173 Detailiert zu den einzelnen Schritten siehe Chiu, EPIL 12 (1990), 359f.; Keesing 11,374-376; Lo, 11; Thomas, in: Boundaries, 413, 423. 174 tdn vom 23. November 1994. Anfang 1995 kommt es zu kleineren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen China und den Philippinen, bei denen Bojen versenkt und Fischer verhaftet werden, siehe z. B. FAZ vom 13. Mai 1995. l7S Siehe FAZ vom 17. Februar 1995; KRWE 1995,46412. 176 Bedlington, 247. 177 Prescott, Asian Frontiers, 76. Vgl. zum nachbarschaftlichen Verhältnis KRWE 1989,36558. 178 Prescott, Asian Frontiers, 72. 171

172

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

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2. Chinesische (zentrale) Zone Die Grenzen Chinas zu den Staaten der südlichen Zone, die aus europäischen Kolonien oder europäisch dominierten Staaten hervorgehen, wurden bereits beleuchtet. Zu untersuchen bleiben die Grenze zur ehemaligen Sowjetunion, zur Mongolei, zu Hongkong, Macao sowie zur koreanischen Halbinsel.

a) China-ehemalige Sowjetunion Die Grenze zwischen China und der ehemaligen Sowjetunion geht zurück auf die Zeit des zaristischen Rußlands. Sie wird durch Verträge zwischen den beiden Staaten von 1689, 1727, 1858, 1860 und 1881 defmiert 179 • Nach der chinesischen und russischen Revolution besteht auf beiden Seiten der Wunsch, die Grenze neu auszuhandeln. Wegen des Bürgerkriegs zwischen Kommunisten und Kuomintang und des Kampfes gegen Japan werden diese Pläne nicht durchgefiihrt'80. Nach einer Phase der Ruhe beginnen sich 1960 die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion zu verschlechtern; Streitigkeiten über den Grenzverlauf leben wieder auf 81 . Ein Streitpunkt liegt in der zentralasiatischen Grenze von Xinjiang zur Sowjetunion (Kasachstan)182, ein weiterer in der östlichen Grenze am Zusammenfluß von Amur und Ussuri 183 • Trotz einer durch Gorbachev 1985 eingeleiteten Neuaufnahme von Verhandlungen sind die Grenzprobleme mit China auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gelöst l84 .

b) China-Mongolei Die äußere Mongolei gehört jahrhundertelang zum chinesischen Einflußgebiet. 1911 in den Wirren der chinesischen Revolution erklärt sie sich fiir unabhängig 185. Nach einigem Streit mit Rußland bzw. der diesem nachfolgenden Sowjetunion und China über den Status der Mongolei wird 1924 die Mongolische Volksrepublik gegründet. 1946 beginnt China Verhandlungen mit der

ehen, 26-27; Keesing 11,288; Prescott, Asian Frontiers, 6, 8, 10, 12. ehen, 29; Lamb, 209f.; Keesing 11, 290. 181 ehen, 30; Floyd, in: Wint, 536; Keesing 11,291. 182 ehen, 31; Keesing 11, 292ff.; Lamb, 197. 183 ehen, 31; Lamb, 204ff.; Keesing 11, 295ff.; Prescott, Asian Frontiers, 12. 184 Keesing 11, 299f; Schweisfurth, EPIL Vol. 1 (1992),459. 185 ehen, 29; Lamb, 199; Lattimore, in: Wint, 119. 179

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11·

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D. uti possidetis in Asien

Mongolei über den Verlauf der gemeinsamen Grenze, die in einem Grenzvertrag von 1962 enden; 1964 ist die Grenze vollständig markiert l86 • c) China-Hongkong

Die Landgrenze zwischen China und Hongkong ist 29 km lang und wird 1898 und 1899 zwischen China und Großbritannien festgesetzt. 1997 fällt Hongkong an China zurück, so daß diese Grenze in Zukunft keine internationale Bedeutung mehr haben wird 187 • d) China-Macao

Macao ist erst portugiesische Kolonie, dann chinesisches Territorium unter portugiesischer Verwaltung. 1987 wird in einer gemeinsamen Erklärung festgelegt, daß Macao ab dem 20. Dezember 1999 wieder von China übernommen wird. 188

e) China-Taiwan

Das Verhältnis von China zu Taiwan ist nicht als Grenzfrage zu fassen. China betrachtet Taiwan als einen Teil Chinas; Taiwan versteht sich ebenfalls als Teil Chinas, hält aber allein seine Regierung filr vertretungsberechtigt. Es handelt sich hier also nach dem eigenen Verständnis der beteiligten Parteien nicht um ein Grenz- bzw. Gebietsproblem zwischen zwei Staaten l89 . f) Die Korea-Frage

Die Grenze Chinas zu Nordkorea wird durch zwei sino-japanische Grenzverträge aus den Jahren 1895 und 1909 bestimmt, in denen filr das nominell unabhängige Korea ein zwei Flüssen folgender Grenzverlauf festgelegt wird l90 •

186 Luke Chang, 154; GinsburgslPinkele, 3; Lamb, 200-204; Lattimore, in: Wint, 120; Prescott, Asian Frontiers, 14. 187 Vgl. Adie, in: Wint: 168, 170; Hughes, EPIl 12 (1990), 140; Prescott, Asian Frontiers, 68. 188 Rudolf, EPIL 12 (1990), 223, 224; KRWE 1991,38625; KRWE 1994, R 78. 189 Auf die Einzelheiten der Taiwan-Frage kann hier nicht eingegangen werden; siehe dazu mit weiteren Literaturnachweisen Heuser, EPIL 12 (1990), 367ff. Siehe auch KRWE 1991,38636. 190 Prescott, Asian Frontiers, 70.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

165

1910 annektiert Japan das ihm seit 1905 als Protektorat unterstehende Korea l91 .

Zwischen China und Nordkorea ist es nach der Unabhängigkeit des letzteren nicht zu Streitigkeiten über diese Grenze gekommen. Die Grenze zwischen Nordkorea und Südkorea bildet eine militärische Demarkationslinie am 38. Breitengrad. 1945 wird zwischen der Sowjetunion und den USA abgesprochen, daß die Sowjetunion die japanische Kapitulation nördlich des 38. Breitengrades, die USA südlich davon entgegennehmen. 1948 wird die Republik Korea (Südkorea) nach UN-überwachten Wahlen gegründet. Nordkorea wird in die Wahl nicht einbezogen, da den UN-Kommissaren die Einreise dorthin verwehrt wird. Nach dem Koreakrieg, der 1950 durch einen nordkoreanischen Angriff auf Südkorea beginnt 192 , wird 1953 die Linie von 1945 als Waffenstillstands linie zur provisorischen Grenze l93 . Seitdem sind alle Anläufe zur Wiedervereinigung Koreas gescheitert l94 • 3. Rechtliche Wertung In der asiatischen Staatenpraxis zur Grenzziehung zeigt sich ein differenziertes Bild.

a) Grenzen der während der Kolonialzeit unabhängig gebliebenen Staaten

Die asiatischen Staaten, die während der Kolonialzeit ihre Unabhängigkeit wahren können, stehen ihren Grenzen großenteils skeptisch gegenüber, sofern sie der Ansicht sind, diese Grenzen seien auf übermäßige Einflußnahme der europäischen Kolonialmächte zurückzufiIhren. Besonders sind hier China, Thailand und Afghanistan zu nennen. So macht Afghanistan hinsichtlich der Durand-Grenzlinie zu Pakistan geltend, diese sei nur durch britischen Zwang erfolgt. Ebenso erkennt China all diejenigen Grenzverträge, die es als "ungleiche Verträge", d.h. als Verträge, die die starken europäischen Staaten ihm aufoktroyierten, einstuft, nicht als bindend an. Thailand strebt nach Grenzrevisionen besonders im Verhältnis zum ehemals französisch beherrschten Gebiet von Kambodscha und Laos, da es hier zur Kolonialzeit auf französischen Druck hin Territorium verliert. Andererseits stellt Thailand den vertraglich bestimmten 191 Bindschedler-Robert, EPIL 12 (1990), 203; Choinski, South Korea, in: Wint, 192; Fochler-Hauke, 14; Keesing 11,356. 192 Dazu detailiert Keesing 11, 356f.; Bindschedler-Robert, EPIL 12 (1990), 204; Choinski, South Korea, in: Wint, 194; Fochler-Hauke, 23/24. 193 Bindschedler-Robert, EPIL 12 (1990), 205; Choinski, South Korea, in: Wint, 195/196; Fochler-Hauke, 26f.; Prescott, Asian Frontiers, 70. 194 Eine Auflistung der bisherigen Verhandlungen und ihrer Ergebnisse liefert ausführlich Keesing 11,357-365. Siehe auch Bindschedler-Robert, EPIL 12 (1990), 207.

166

D. uti possidetis in Asien

Grenzverlauf zur ehemals britischen Kolonie Burma nicht in Frage. China akzeptiert weitgehend seine traditionellen Grenzverläufe zu den HimalayaStaaten, und Afghanistan betrachtet seine durch den Grenzvertrag zwischen Großbritannien und dem Iran gezogene Grenze als gültig. Das Verhalten der durchgehend unabhängigen Staaten Asiens ist völkerrechtlich wohl so zu deuten, daß diese Staaten grundsätzlich bereit sind, den Kontinuitätsgrundsatz filr Grenzverträge als geltendes Völkergewohnheitsrecht zu akzeptieren. Ihre Argumentation hinsichtlich der "aufgezwungenen Grenzverträge" bewegt sich im Rahmen des völkerrechtlichen Vertragsrechts: Sollten diese Grenzverträge von vornherein ungültig (weil unter völkerrechtswidrigem Zwang abgeschlossen) sein, würde der Kontinuitätsgrundsatz sie nicht betreffen, da er nur die Nachfolge in gültige Grenzverträge anordnet 195. Problematisch dürfte in diesem Zusammenhang sein, welcher Grad von Einflußnahme durch die Kolonialmächte vorliegen muß, um von unrechtmäßigem Zwang zu sprechen 196. Der völkergewohnheitsrechtliche Kontinuitätsgrundsatz wird durch diese Schwierigkeit jedoch nicht von Grund auf in Frage gestellt. b) Grenzen der früheren Kolonien

Hinsichtlich der asiatischen Staaten, die während der Kolonialzeit in einem Abhängigkeitsverhältnis als Kolonie oder Protektorat stehen, ist zu unterscheiden: Neben den zwischen zwei (oder mehr) unterschiedlichen ehemaligen Kolonialmächten bestimmten Grenzen existieren die internen Grenzen zusammenhängender Gebiete eines früheren Kolonialherm. aa) Grenzen zwischen Gebieten verschiedener Kolonialmächte und zu den durchgehend unabhängigen Staaten Die Einzelfalluntersuchung zeigt, daß die unabhängig werdenden asiatischen Staaten die zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit bestehenden Grenzen zu den durchgehend unabhängigen asiatischen Staaten anerkennen und damit dem Kontinuitätsgrundsatz gehorchen. Gerade gegenüber Territorialansprüchen der durchgehend unabhängigen Staaten (wie Chinas oder Afghanistans gegen Indien und Pakistan) verweisen die Neustaaten auf die bestehenden Grenzverträge.

195 Zur Unwirksamkeit "ungleicher Verträge" wegen der Bedingungen zur Zeit des Abschlusses siehe Ipsen-Heintschel von Heinegg, § 15, Rn. 34f., 95; Verdross/Simma, § 459, § 753. 196 Hier kann auf Einzelheiten nicht eingegangen werden. Siehe z. B. IpsenHeintschel von Heinegg, § 15, Rn. 34, dazu, daß eine Unwirksamkeit allein wegen "Ungleichheit" im Völkerrecht trotz dahingehender Bemühungen der Staaten der Dritten Welt und der sozialistischen Staaten (wie China) nicht akzeptiert ist.

11. Grenzziehung in der Dekolonisierung

167

Dies wird z. B. am Grenzkonflikt Vietnams mit China deutlich. Diesem Grenzkonflikt liegt keine Gebietsforderung Vietnams zugrunde; Vietnam beruft sich vielmehr auf seine durch einen französisch-chinesischen Vertrag bestimmte Grenze, die China verschoben haben soll. Auch aus dem Konflikt um die Spratley-Inseln, auf die von mehreren Staaten Anspruch erhoben wird, läßt sich kein Gegenargument gegen die Beachtung des Kontinuitätsgrundsatzes ableiten. Da über die Spratley-Inseln zur Kolonialzeit keine vertragliche Abmachung getroffen wird, ist eine Nachfolge in Grenzverträge hier nicht möglich. Auch fi1r die Grenzen zwischen Gebieten verschiedener Kolonialherrn erlaubt die Einzelfalluntersuchung den Schluß, daß an den von den Kolonialherrn vorgegebenen Grenzen festgehalten wird. Auch in den einzelnen Fällen, in denen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten auf Grenzrevisionen gedrängt wird (so von Seiten Indonesiens und der Philippinen gegen Malaysia), kommt es im Ergebnis nicht zu Veränderungen der bestehenden Grenzen. Der Kontinuitätsgrundsatz wird in Asien also auch fi1r die Grenzverträge zwischen verschiedenen Kolonialherrn beachtet. Es ist nicht zu erkennen, daß die Einhaltung der Grenzverträge nicht aufgrund der Rechtsüberzeugung erfolgt, an diese Verträge als Nachfolgestaaten gebunden zu sein. Es lassen sich keine dahingehenden Äußerungen der Staatenvertreter nachweisen. Der einzige Fall, in dem eine Grenze zwischen zwei Kolonialgebieten verschiedener Mächte mißachtet wird, ist die Annexion Osttimors durch Indonesien. Hier liegt eine dem Westsahara-Fall ähnelnde Situation vor. Indonesien übt über Osttimor ebenso wie Marokko über die Westsahara die Territorialgewalt aus; gleichzeitig ist die Annexion beider Gebiete von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt und wird als völkerrechtswidrig angesehen. Hinsichtlich Osttimors kommt hinzu, daß - anders als im Fall der Westsahara der Kolonialherr mit dem Verlust der Territorialherrschaft über die Kolonie nicht einverstanden war. Beim Einmarsch Indonesiens in Osttimor mit der nachfolgenden Annexion handelt es sich daher noch deutlicher um einen Verstoß gegen das Völkerrecht 197 als bei der marokkanischen Annexion der Westsahara; das im letzteren Fall vorliegende Einverständnis der Kolonialmacht mußte erst unter Hinweis auf das durch das uti possidetis territorial geprägte Selbstbestimmungsrecht der Völker fi1r unbeachtlich erklärt werden\98. bb) Grenzen zwischen ehemaligen Kolonien eines Kolonialherrn Zusammenhängende Kolonialgebiete besitzen in Asien hauptsächlich Großbritannien und Frankreich. Die asiatischen Nachfolgestaaten des französischen Kolonialreichs halten weitgehend an den von Frankreich gezogenen administra197 198

Hier gegen das (völkergewohnheitsrechtliche) Gewaltverbot. Dazu oben Abschnitt (C.) Punkt III. 2.

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D. uti possidetis in Asien

tiven Grenzen fest. Allein Kambodscha erhebt gegenüber Vietnam Ansprüche auf vonnals kambodschanische Gebiete; die bürgerliche Regierung verzichtet zunächst auf sie, die Roten Khmer machen sie jedoch wieder geltend. Für die Frage nach der Einstellung Kambodschas gegenüber den kolonialen Grenzen wird man auf die Äußerungen der Regierungen im Zeitraum nach der Unabhängigkeit Kambodschas abstellen müssen. Die Forderungen der Roten Khmer sind im Zusammenhang mit der "steinzeitkommunistischen" Politik dieser Gruppe zu sehen: Ihnen liegt wohl die politische Überlegung zugrunde, daß eine Konzentration auf einen äußeren Feind (Vietnam) dazu dienen kann, von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken l99 . Die Regierung von Prinz Sihanouk, die seit der Unabhängigkeit Kambodschas bis zu ihrem Sturz 1970 das Land leitet, akzeptiert unter Verzicht auf historische Gebietstitel die kolonialen Grenzen. Auch die Nachfolgestaaten des britischen Kolonialimperiums in Asien halten sich weitgehend an die intern von Großbritannien gezogenen Grenzen. So werden auch die zunächst erhobenen Ansprüche Bruneis auf malayisches Territorium nicht weiter verfolgt. Der Streit zwischen Pakistan (heute: Bangladesh) und Bunna um Inseln im Grenzfluß bedeutet keine Abweichung von dieser grundsätzlichen Position, da der Konflikt um die Zuordnung von Inseln geht, die im Grenzfluß verschiedentlich entstehen und untergehen. Diese Inseln konnte Großbritannien nicht administrativ zuordnen, da sie zum Zeitpunkt der britischen Kolonialherrschaft noch nicht existierten. Eine abstrakte Regelung ftir diese Fälle war ebenfalls nicht erfolgt. Ähnlich verhält es sich beim Streit Pakistans mit Indien um den Rann of Kutch, bei dem ein Festhalten an der administrativen Grenze daran scheitert, daß eine solche wegen der Unwirtlichkeit des Geländes nicht hinreichend bestimmt festzustellen ist. Problematisch ist die Einordnung des Kashmir-Konflikts in diesem Zusammenhang. Es handelt sich dabei um einen Sonderfall: Die Grenze zwischen Indien und Pakistan bei Kashmir folgt gerade nicht einer britischen Festlegung des Grenzverlaufs; sie sollte durch die Option des Herrschers von Kashmir rur die Angliederung an eines der beiden Länder gezogen werden. Streitgegenstand ist daher nicht eine administrative Grenze; vielmehr spricht Pakistan dem Herrscher von Kashmir das Recht ab, rur seine mehrheitlich muslimische Bevölkerung den Anschluß an Indien zu verfUgen. Angesichts dieser einzigartigen Ausgangslage wird man nicht davon sprechen können, daß das Verhalten Indiens und Pakistans über Kashmir ein Abweichen von der grundsätzlichen Anerkennung der vom Kolonialherm gezogenen internen Grenzen als internationale Grenzen nach der Unabhängigkeit darstellt. Es bleibt festzuhalten, daß sich eine Staatenpraxis der asiatischen Neustaaten nachweisen läßt, die auf den von einer Kolonialmacht auf ihrem Territorium gezogenen administrativen Grenzen als den internationalen Grenzen beharrt, so199 Zur weiteren Entwicklung im Verhältnis Kambodscha-Vietnam siehe unten Punkt III. 2 a.

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

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fern diese Grenze tatsächlich bestimmbar ist. Problematisch ist hier der Nachweis, ob diese Staatenpraxis von einer opinio iuris getragen wird, daß das Festhalten an diesen Grenzen rechtlich verpflichtend ist. Anders als in Afrika fmden sich in Asien keine ausdrücklichen Äußerungen zu diesem Thema im Rahmen etwa einer internationalen Organisation oder Staatenkonferenz. Man ist zur Bestimmung der opinio iuris demnach auf die Untersuchung der Staatenpraxis angewiesen. Wichtig ist eine Abgrenzung der Rechtüberzeugung von der bloßen courtoisie, dem Verhalten ohne die Überzeugung der rechtlichen Verpflichtung. Angesichts der Bedeutung, die die Bestimmung des Staatsgebiets filr die Existenz eines Staates hat, ist jedoch wohl nicht anzunehmen, daß die Anerkennung der bestehenden administrativen Grenzen geschah, ohne daß die entsprechenden Neustaaten sich dazu verpflichtet filhlten. Der ausdrückliche Verzicht Kambodschas auf historische Gebietstitel ist ein Anzeichen dafiir, daß die administrative Grenze als verbindlich angesehen wird. Auch beim Streit um den Rann of Kutch zwischen Indien und Pakistan war nur der Verlauf der administrativen Grenze, nicht aber die Berechtigung der Grenze an sich umstritten. Dies läßt erkennen, daß die internen Grenzen als rechtlich bindend angesehen werden. Das Verhalten der Neustaaten gegenüber den Gebietsansprüchen der durchgehend unabhängigen Staaten kann ebenfalls als Indiz fiir diese Rechtsüberzeugung dienen. Die Neustaaten beharren auch hier auf ihren kolonialen Grenzen. Diese Grenzen sind zwar durch völkerrechtliche Verträge gesichert und damit von anderer Qualität als die internen Grenzen. Dennoch wird man das Bestehen auf der Gültigkeit der völkerrechtlichen Akte des Kolonialherm als Anzeichen dafiir ansehen müssen, daß dessen Regelungsbefugnis fiir Fragen der Grenzziehung anerkannt und damit auch den internen Grenzziehungsakten verbindlichen Rechtscharakter zugeschrieben wird. Daher kann man davon ausgehen, daß die Praxis des Festhaltens an den administrativen Grenzen eines Kolonialherm durch die asiatischen Neustaaten von einer entsprechenden opinio iuris getragen wird.

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit Auch in Asien sind nach der Dekolonisierung weitere Grenzprobleme akut geworden. Zum einen sind einige asiatische Staaten durch Sezessionsversuche bedroht; zum anderen treten teilweise Annexionen und Okkupationen auf. Es ist zu untersuchen, ob sich beim Umgang der unabhängigen asiatischen Staaten mit ihren Grenzen eine gemeinsame Linie dahingehend erkennen läßt, daß die kolonialen Grenzen in ihrem Bestand geschützt werden.

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D. uti possidetis in Asien

1. Sezessions bestrebungen Da in Asien der Typ des ethnisch und/oder religiös homogenen Nationalstaats ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung ist, sind viele der multi-ethnischen asiatischen Staaten wiederholt damit konfrontiert, daß einige ihrer Ethnien Autonomie zu erreichen suchen. In manchen Fällen kumuliert das Streben nach Autonomie in Sezessionsbewegungen. Auf jedes dieser Sezessionsbegehren einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Darstellung beschränkt sich daher auf solche Sezessionsbewegungen, die ein größeres Maß an Intensität bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt erreichen und damit fUr die territoriale Integrität des betroffenen Staates zu einer reellen Gefahr werden.

a) Bangladesh (Pakistan) Bangladesh ist ein Beispiel fUr eine erfolgreiche Sezession im asiatischen Raum. Als es unter dem Namen Ost-Pakistan unabhängig wird, ist Bangladesh vom westlichen Landesteil durch tausende Kilometer indischen Territoriums getrennt. Die bengalisch sprechende Bevölkerung ist ethnisch von den mehrheitlich Pashtu oder Urdu sprechenden Westpakistani zu unterscheiden2°O. Bangladesh wird in den Jahren, die auf die pakistanische Unabhängigkeit folgen, von den Westpakistani systematisch wirtschaftlich ausgebeutet und politisch diskriminie~ol. In den Sechzigern wächst in Bangladesh der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit. 1970 gewinnt die auf dieser Grundlage agierende bengalische Awami League die Wahlen. Als daraufhin die Armee in Ostpakistan einmarschiert, was zu Massakern fUhrt, erklärt sich Bangladesh am 10. April 1971 fUr unabhängig. Nach heftigen Kämpfen, bei denen Indien die bengalische Seite unterstützt, ergibt sich die pakistanische Armee im Dezember 1971. Die Unabhängigkeit Bangladeshs ist gesiche~02.

b) Naga (Indien) Die Naga sind ein Stamm, dessen Siedlungsgebiet sich an der Nordostgrenze Indiens befmdet. Seit 1947 streben die Naga nach Unabhängigkeit von Indien203 . Zwischen den Naga und der indischen Armee kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die Jahre andauern. Schließlich kommt Indien den Naga 200 Vgl. Heraclides, 147ff., zu den trennenden Faktoren zwischen Bengalen und Pakistani; siehe auch Buchheit, 199,201. 201 Buchheit, 201; Heraclides, 149ff. 202 Zum genauen historischen Ablaufvgl. Heraclides, 152-164; Buchheit, 201-211. 203 Buchheit, 189; Burfing, in: Kunstadter, 221; Lamb, 116.

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

171

entgegen und schaffi: 1963 auf ihrem Territorium den Bundesstaat Nagaland204 . Die weiteren Versuche einer Splittergruppe, vollständige Unabhängigkeit zu erreichen, scheitern. 1975 geben die bewaffneten Separatisten nach Verhandlungen mit Indien auflos • c) Mizo (Indien)

Die Mizo leben in einem an Nagaland angrenzenden Bezirk Assams. Ihr bewaffneter Aufstand mit dem Ziel der Bildung eines unabhängigen Mizoram beginnt 1966206 • Er wird 1976 von der Armee niedergeschlagen. Im folgenden kommt es in der Region immer wieder zu sezessionistischen Unruhen, die erfolglos bleiben207 • Indien schaffi: schließlich einen Bundesstaat Mizoram20B •

d) Sikhs (Indien)

Die Sikhs sind eine dem Hinduismus verwandte Religionsgruppe, die sich hauptsächlich im indischen Bundesstaat Punjab findet. Unter der britischen Kolonialherrschaft entwickeln die Sikhs ein eigenes Nationalgefilhl, das von britischer Seite als Gegengewicht zu der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit stark gefbrdert wird209 • Dem Wunsch nach einem unabhängigen Sikh-Staat kommt Großbritannien nicht nach21O• Nach der Unabhängigkeit Indiens verfolgen die Sikhs den Gedanken an einen eigenen Staat (teils gemäßigt als Bestandteil der indischen Föderation) weiter. 1966 wird der Staat Punjab dreigeteilt, um einen mehrheitlich Sikh-getragenen Staat Punjab zu ennöglichen211 • In den achtziger Jahren verlangt ein Teil der Sikhs größere Autonomierechte ftlr ihren Staat bis hin zur Sezession aus Indien212 • Indien widersetzt sich diesem Anliegen bis heute aufs Schärfste2l3 •

Buchheit, 194; Burling, in: Kunstadter, 222; Chatterjee, 194; Ludwig, 24. Buchheit, 196/197; Ludwig, 24. Siehe KRWE 1989, 36396 zur politischen Lage in Nagaland. 206 Buchheit, 196; Burling, in: Kunstadter, 223; Chatterjee, 254; Ludwig, 24. 207 4udwig, 24. 20B Siehe KRWE 1989,36396. 209 Ludwig; 138; Subhash, 212f. 210 Subhash, 226. 211 Ludwig, 139: die Sikhs stellen hier ca. 52% der Bevölkerung; Subhash, 234. 212 Ludwig, 139-140; Subhash, 237. 213 Vgl. KRWE 1990, 37346f. 204

205

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D. uti possidetis in Asien

e) Tamilen (Sri Lanka)

Nach der Unabhängigkeit Sri Lankas 1948 (damals: Ceylon) beginnen sich Spannungen zwischen der Mehrheitsbevölkerung der Singhalesen und der Minderheit der Tamilen zu entwickeln, die 1977 in dem Aufkommen des tamilischen Sezessionswunsches kulminieren214 • Vorausgegangen sind gezielte Diskriminierungen der Tamilen durch die singhalesische Regierung, die den tamilischen Einfluß in Wirtschaft und Gesellschaft zurückzudrängen versuchfis. Seit 1977 herrscht Bürgerkrieg in Sri Lanka, in dem tamilische Organisationen gewaltsam die Abspaltung der tamilischen Gebiete betreiben216 • 1995 erklärt die neue Präsidentin Sri Lankas, sie sei bereit, den Tamilen im Rahmen eines Bundesstaates Autonomie zu gewähren217 • Die Separatisten ("Tamilen-Tiger") brechen jedoch nach einigen Monaten die Verhandlungen ab und setzen den Kampf rur einen unabhängigen Tamilenstaat mit Terroranschlägen forf 18 • Eine Lösung ist nicht in Sicht.

f) Karen (Burma) Die Karen bilden die größte ethnische Minderheit in Burma. Sie besitzen, ähnlich wie viele anderen Minderheiten Burmas, einen Staat in der Union of Burma2l9 • Die Minderheiten-Staaten liegen alle an den Außengrenzen Burmas 220 • Eine bewaffnete Karen-Organisation kämpft seit der Unabhängigkeit des Landes filr die Errichtung eines unabhängigen Staates Kawthoolei. 1995 erringt die Armee einen entscheidenden Sieg über die Karen, so daß die Gefahr einer Sezession filr Burma gebannt scheinf21 • Durch Friedensvereinbarungen hat die burmesische Regierung seit 1992 die anderen aufständischen Minderheiten (Chin, Shan, Mon, Kachin, Kayan), die durch eine zeitweise stark assimilierend ausgerichtete Politik Burmas zu Sezessionsversuchen getrieben worden waren222 , zur Ruhe gebrachf23 .

Ludwig, 154; Ponnamabalam, 6-8. Ludwig, 153; Ponnamabalam, 6-8; Wilson, 21-22. 216 Ludwig, 155; Ponnamabalam, 229. 217 Haubold, FAZ vom 4. August 1995. 218 Haubold, FAZ vom 13. Juni 1995; FAZ vom 21. August 1995; KRWE 1995, R82. 219 Lehman, in: Kunstadter, 94; rinker, in: Wint, 232. 220 Kunstadter, Burma, in: Kunstadter, 75; vgl. auch Lamb, 157. 221 Haubold, FAZ vom 22. Februar 1995; KRWE 1995,40365. 222 Lehman, in: Kunstadter, 96-98. 223 Haubold, FAZ vom 22. Februar 1995; siehe auch KRWE 1995, R 66,40456. 214 215

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

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g) Moro (Philippinen)

Die Moro sind ein muslimischer Bevölkerungsteil im Süden der Philippinen, der sich aus verschiedenen ethnischen Gruppierungen zusammensetzt, die durch das Band des Islam geeint werden224 • Aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation und der Furcht, unter der Regierung Marcos "philippinisiert" zu werden, beginnt in den Jahren 1972 bis 1977 ein bewaffneter Sezessionskampf verschiedener Moro-Organisationen225 , die zeitweilig Unterstützung aus islamischen Ländern erhalten226 . Nach 1977 kommt es zu einer Zersplitterung der Kräfte, so daß die Gefahr einer territorialen Teilung der Philippinen nicht mehr bestehf27 . Das Problem der Unzufriedenheit der Moro ist jedoch nicht gelöst. 1992 bietet der philippinische Präsident den Moro Gespräche an; diese werden 1995 durch Terroranschläge muslimischer Aufständischer unterbrochen 228 • 1996 kommt es zum Abschluß eines Friedensvertrags und zur Schaffung einer territorial nicht zusammenhängenden Autonomen Region "Muslim Mindanao,,229.

h) Man Jaya (lndonesien) Irian Jaya ist der westliche Teil der Insel Irian 230 . In den sechziger Jahren entsteht eine Separatistenorganisation, die filr ein freies Papua eintritt und 1971 die Unabhängigkeit erklärf31 . Indonesien erkennt dies nicht an; die Separatisten sind nicht in der Lage, ihre Forderungen durchzusetzen232 •

i) West Papua (lndonesien)

Die Papua Independence Organization (OPM) verlangt von Indonesien die Anerkennung eines "state ofWest Papua". Indonesien weist dies zurUck233 .

Steinacker, in: Pfennig, 147. Heraclides, 165-170; Steinacker, in: Pfennig, 110. 226 Heraclides, 173-175; Steinacker, in: Pfennig, 153. 227 Heraclides, 175; Steinacker, in: Pfennig, 153. 228 FAZ vom 8. April 1995. 229 KRWE 1996,41275. 230 Ausführlich zur "West-1rian-Frage" siehe von Mangoldt, ZaöR 31 (1971), 197245. 231 Ludwig, 162; Osborne, in: May, 54f. 232 Haubold, FAZ vom 12. Januar 1996 und FAZ vom 25. Januar 1996; Osborne, in May, 63f.; einen detaillierten Bericht über die Ereignisse gibt May, in: May, 85ft". 233 KRWE 1996,41005. 224

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D. uti possidetis in Asien

k) Südmolukken (Indonesien) Die Südmolukken sind eine christliche Minderheit in Indonesien. 1950 rufen sie auf der Insel Ambon eine unabhängige Republik aus. Nach einem langen Guerilla-Krieg gelingt der Regierung 1963 der entscheidende Schlag gegen die Führung der Südmolukker; der Sezessionsversuch scheiterf34•

/) Bougainville (Papua-Neuguinea) Die Insel Bougainville gehört zu Papua-Neuguinea. 1987 bildet sich eine Sezessionsbewegung, die eine Unabhängigkeit Bougainvilles anstrebt. PapuaNeuguinea bemüht sich um eine Autonomielösung, auf die die Sezessionisten nicht eingehen235 • 1990 erklären die Rebellen die Unabhängigkeit der Insef36 • 1996 versucht Papua-Neuguinea erfolglos eine militärische Niederschlagung des Aufstandes237 .

m) Mongolen (China) In der inneren Mongolei, der Provinz Chinas, die an die unabhängige Mongolei grenzt, werden nach dem Zusammenbruch der UdSSR Hoffnungen auf eine Vereinigung der Mongolen in einem Staat wach. China tritt allen Bestrebungen dieser Art mit Härte entgegen238 •

n) Tibet (China) Die Beziehungen zwischen China und Tibet sind in ihrer historischen Entwicklung unübersichtlich, so daß eine paßgenaue Einordnung der Tibet-Frage als Annexions- oder Sezessionsproblem nicht möglich ist. Die chinesische Auffassung geht von einer Sezessionsproblematik aus. Tibet ist ein unabhängiges Königreich, als im 7. Jahrhundert durch die Heirat des tibetanischen Königs mit einer Tang-Prinzessin die ersten engeren Verbindungen zu China geknüpft werden239 • Seit dem 13. Jahrhundert besteht zwischen dem tibetanischen Priesterherrscher (Dalai Lama) zunächst mit den MonLudwig, 146. Haubold, FAZ vom 11. Oktober 1994. 236 KRWE 1990,37458. 237 KRWE 1996,41149,41326. 238 FAZ vom 3. Februar 1996. 239 Hyde-Chambers, in: Boundaries, 213; Patterson, Tibet, in: Wint, 11; Preiser, 262f.; van Walt van Praag, Status, 119. 234 235

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

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golenherrschern, dann mit den chinesischen Kaisern ein Chö-yön Verhältnis, d.h., der Kaiser gilt als Protektor des Lama, der wiederum sein "geistlicher Vorgesetzter" isr40 • Dies interpretiert China heute als Vasallenbindung Tibets241 • Faktisch ist der Einfluß Chinas in Tibet nach dem Niedergang der Manchu im 19. Jahrhundert auf einen nominellen Wert reduzierr42 • 1910 marschieren chinesische Truppen in Tibet ein; nach ihrer Vertreibung erklärt sich Tibet 1913 fiir unabhängig243 • 1950 überrennen chinesische Truppen in einer offiziell als "Befreiung vom Imperialismus" bezeichneten Aktion den Himalayastaat. 1951 unterzeichnen tibtanische Abgesandte in Peking ein Dokument, das die Zugehörigkeit Tibets zu China bekräftigf44. 1959 kommt es zu einem tibetanischen Aufstand, der Dalai Lama flieht ins Ausland. Bis ca. 1974 tritt eine verstärkte Guerilla-Tätigkeit auf, danach breitet sich eine Untergrundbewegung aus, die die Unabhängigkeit Tibets zum Ziel hat, Chinas Halt an Tibet aber nicht bedrohen kann24s • 1965 wird Tibet in neuen Grenzen "Autonome Region", wodurch es 113 seines Gebietes an die angrenzenden chinesischen Provinzen verlierr46 • Trotz gelegentlicher Unterstützung der Sezessionsansprüche Tibets durch nichtkommunistisch Staaten247 , die auch in einigen Generalversammlungsresolutionen Niederschlag fmder48 , ist die Reaktion der Staatenwelt auf das Verhalten Chinas in der Tibet-Frage allgemein eher vorsichtig und verhalten. Ein Erfolg der Sezessionsbestrebungen Tibets scheint nicht möglich249 •

Hyde-Chambers, in: Boundaries, 213; van Walt van Praag, Status, 122. Hyde-Chambers, in: Boundaries, 214. 242 Dörr, 366; Patterson, Tibet, in: Wint, 112; van Walt van Praag, Status, 128. 243 Dörr, 367; Hyde-Chambers, in: Boundaries, 214; Ludwig, 156; van Walt van Praag, Status, 133f. 244 Dörr, 368; Hyde-Chambers, in: Boundaries, 214; Patterson, Tibet, in: Wint, 113; van Walt van Praag, Status, 142-148. 245 van Walt van Praag, Status, 185. 246 Hyde-Chambers, in: Boundaries, 217. 247 van Walt von Praag, Status, 143-147. 248 Generalversarnmlungs-Resolution 1723 (XVI) vom 20. Dezember 1961: " ... Solemnly renews its call for the cessation of practices which deprive the Tibetian people of their fundamental human rights and freedoms, including their right to seIfdetermination"; Eine ausführliche und tiefgehende Studie zum tibetischen Volk und seinem Selbstbestimmungsrecht bietet Michael C. van Walt van Praag in "Tibet and the right to selfdetermination", New-Delhi, 1979, und "Tbe Status ofTibet", London, 1987 (S. 189ff.). 249 Ähnlich Dörr, 369. Der exilierte Dalai Lama hält eine Unabhängigkeit Tibets rur unrealistisch und begnügt sich mit der Forderung nach "wirklicher" Autonomie, vgl. FAZ vom 10. Mai 1995. 240 241

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D. uti possidetis in Asien

2. Annexion und Okkupation a) Kambodscha (Vietnam)

Kambodscha kann sich nach seiner Unabhängigkeit nur kurzfristig politisch stabilisieren. 1967 brechen erste Kämpfe zwischen linken und rechten Gruppierungen aus; 1970 wird die Regierung von Prinz Sihanouk gestürzt. In den folgenden Kämpfen setzen sich 1975 die "Revolutionäre" (Rote Khmer) durch und rufen das "Demokratische Kambodscha" aus. Danach kommt es zu bewaffueten Grenzstreitigkeiten mit Vietnam250 • Gleichzeitig beginnen die Roten Khmer mit der Durchsetzung eines "Steinzeit-Kommunismus", der auch große Opfer unter der vietnamesischen Minderheit fordert. 1977 marschiert Vietnam in Kambodscha ein, 1978 bricht ein großangelegter Krieg aus. 1979 wird die "Volksrepublik Kambodscha" geschaffen, die von vietnamesischer Unterstützung abhängig ist und vom Westen weitgehend nicht anerkannt wird251 • In den achtziger Jahren erklärt V ietnam seine Bereitschaft zum Rückzug252 • 1991 wird eine Friedenskonferenz über Kambodscha abgehalten2S3 • Nach dem Anlaufen des UNFriedensplans ziehen die vietnamesischen Besatzer 1993 ab, und Prinz Sihanouk kehrt mit einer Regierung der nationalen Einheit zurück254 • Ob er sich an der Macht halten kann, muß die Zukunft zeigen.

b) Goa (Indien)

1961 verleibt sich Indien die portugiesische Enklave Goa militärisch ein. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird durch ein sowjetisches Veto daran gehindert, Indien zu verurteilen2SS • Portugal akzeptiert 1974 - wie bereits die meisten anderen Staaten - in einem Abkommen mit Indien, daß Goa zum indischen Staatsgebiet gehörf s6 .

AusfiIhrIich dazu Congressional Research Service, 8-9. Vgl. zum historischen Hergang Vickery, 14-50, 171; Klintworth, 4-8; Ratner, AJIL 87 (1993), 3; siehe auch Generalversanunlungs-Resolution 36/5 vom 21. Oktober 1981, die" ... the right of the Kampuchean people to self-determination free from outside interference ... " einfordert; ebenso Resolution 37/8 vom 28.10.1982; ähnlich bereits früher Resolution 34/22 vom 14. November 1979. 252 Klintworth, 1l3. 253 Beusch, IP 49 (1994), 21; Ratner, AJIL 87 (1993), I. 254 Vgl. EA48 (1993), Z 149f., Z 208, Z 223; Beusch, IP49 (1994), 25f. 255 Figueirdo, 34; Oppenheim's 1/1, 196. 256 Oppenheim's 1/1, 196. 250 251

III. Grenzprobleme nach der Unabhängigkeit

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3. Rechtliche Wertung Im Hinblick auf die postkolonialen Grenzkonflikte verhalten sich die asiatischen Staaten vergleichsweise einheitlich. Sie verweigern den in ihren Grenzen lebenden Minderheiten, ob sie nun ethnischen oder religiösen Ursprungs sind, die Möglichkeit, sich als unabhängige Staaten aus dem Staatsverbund zu lösen. Insoweit besteht kein Unterschied zu der auf anderen Kontinenten üblichen Staatenpraxis der Ablehnung eines Sezessionsrechts fiir Minderheiten257 • Die asiatischen Staaten bewegen sich somit in ihrer Politik nach der Unabhängigkeit in den anerkannten Bahnen des Völkerrechts und messen der territorialen Integrität und der prinzipiellen Unverletzlichkeit ihrer internationalen Grenzen die entsprechende Bedeutung ZU2S8. Aus dem Rahmen fiUlt die erfolgreiche Sezession Bangladeshs. Dieser Sonderfall muß jedoch wohl im Zusammenhang mit der Dekolonisierungsproblematik gesehen werden, auch wenn die Sezession erst 1971 erfolgt. Ähnlich wie im Fall Eritreas brechen hier die bereits in der Dekolonisierungsphase angelegten Konflikte verspätet aus. Die unüberwindbaren Spannungen zwischen Bangladesh und West-Pakistan resultieren aus der überhasteten Dekolonisierung des britischen Raj. Der Versuch Großbritanniens, einen Staat allein aufgrund des einigenden Bandes des Islam zu schaffen und somit Gebiete zu verbinden, die ethnisch, historisch, sprachlich und territorial voneinander getrennt sind, ist einzigartig in der Geschichte der Dekolonisierung und war auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt. Die Außergewöhnlichkeit der Lage wird dadurch bestärkt, daß der Staat Pakistan im Augenblick seiner Unabhängigkeit aus zwei getrennten Landmassen besteht. Das erschwert die Aufgabe, ein gemeinsames Staatsvolk zu schaffen, noch über die ethnischen und wirtschaftlichen Unterschiede hinaus. Die aus dem Fehlschlagen dieses Versuches resultierende Sezession mag damit als Einzelfall erscheinen, dem eher keine große Signalwirkung zugewiesen werden sollte2s9 • Diese Sichtweise wird wohl dadurch gestützt, daß es anderen Ethnien in ähnlichen Situationen nicht gelingt, die Unabhängigkeit zu erreichen. So erfahren die Tibeter, ähnlich wie die Bengalen, auf eigenem Territorium eine wirtschaftliche und politische Diskriminierung. Dennoch ist die Bereitschaft der

257 Vgl. dazu Buchheit, 102ff.; Murswiek, AVR 31 (1993), 309ff.; Tomuschat, in: Tomuschat,9ff. 258 Einige asiatische Staaten greifen zum Mittel der Autonomiegewährung, um Sezessionsbestrebungen zu begegnen. So schafft Indien für sezessionsgeneigte Minderheiten eigene Bundesstaaten. Auch die Philippinen kommen den aufständischen Moro durch die Einrichtung einer autonomen Region entgegen. Die Bereitschaft, interne Grenzen zu verschieben und einigen Minderheiten in ihrem Autonomiebestreben entgegenzukommen, leistet gute Dienste bei dem Bestreben, die äußere Einheit zu erhalten. Vgl. Hannum, 474 ff. zum "right to autonomy". 259 Vgl. Islam, JPR 22 (1985), 213, 215.

12 Simmler

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asiatischen Staaten, eine Unabhängigkeit Tibets zu unterstützen, kaum gegeben, während die Sezession Bangladeshs schnell anerkannt wird. Als eine weitere Ausnahme von der Akzeptanz internationaler Grenzen erscheint zunächst die Okkupation Kambodschas durch Vietnam. Auch hier sind jedoch die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen. Der Einmarsch Vietnams wird von der Bevölkerung Kambodschas, die unter der Schreckensherrschaft der Roten Khmer leidet, begrüßt. Vietnam versucht durch die Besetzung Kambodschas nicht nur die aufgeflammten Grenzkonflikte im Sinne eines Festhaltens an der vom Kolonialherrn Frankreich gezogenen Grenze zu lösen, sondern auch die ethnischen Vietnamesen in Kambodscha vor der Vernichtung zu bewahren. Zudem erklärt sich Vietnam nach dem Erreichen dieser Ziele bereit, Kambodscha zu verlassen. Eine Annexion Kambodschas an Vietnam ist zu keinem Zeitpunkt geplant; das belegt auch die Tatsache, daß Kambodscha eine eigene Regierung behält, wenn diese auch durch die Anwesenheit vietnamesischer Truppen gestützt wird. Vietnam hat zwar mit der Okkupation Kambodschas eigene Sicherheitsinteressen verfolgt, nicht aber die territoriale Integrität Kambodschas geleugnet. Anders verhält es sich dagegen bei der Annexion Goas durch Indien. Goa wird dem indischen Territorium einverleibt, seine territoriale Integrität wird vernichtet. Die Tatsache, daß diese wegen des Verstoßes gegen das Gewaltverbot illegale Annexion durch die Staatengemeinschaft nach ersten Protesten anerkannt wird, spricht allerdings dafllr, daß es sich hierbei um keinen "gewöhnlichen" Fall der Annexion handelt. Vielmehr ist auch hier der dekolonisatorische Hintergrund zu beachten. Portugal weigert sich in Asien ebenso wie in Afrika lange Zeit, von seinen kolonialen Besitzungen zu lassen. Auch wenn Portugal Goa als den Staat Portugiesisches Indien betrachtet, ist die Enklave in der Realität weiterhin portugiesische Kolonie. Die Annexion durch Indien beendet damit eine koloniale Herrschaft und wird wohl aufgrund dieser Ausgangslage von den Staaten der Welt filr eher gerechtfertigt oder entschuldbar angesehen, als dies vermutlich bei der Annexion eines souveränen Staates geschehen wäre. Schließlich kann als indischer Gebietstitel nach dem Abkommen mit Portugal aus dem Jahre 1974 auch Zession angefilhrt werden, da sich Portugal mit dem Verlust Goas abfindet.

IV. Ergebnis: uti possidetis in Dekolonisierungssituationen Die Auswertung der Dekolonisierungsphase und der nachfolgenden Staatenpraxis in Asien belegt, daß die Bezeichnug des Gedankens des uti possidetis als "afrikanisch" nunmehr zu kurz greift. In Asien sind beide Elemente des uti possidetis-Konzepts nachzuweisen, der universell-völkergewohnheitsrechtliche Kontinuitätsgrundsatz hinsichtlich der zwischen verschiedenen Kolonialherrn oder zwischen einer Kolonialmacht und einem durchgehend unabhängigen

IV. Ergebnis: uti possidetis in Dekolonisierungssituationen

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asiatischen Staat abgeschlossenen Grenzverträge sowie das partikulär-völkergewohnheitsrechtliche Konzept der Unantastbarkeit der von einem Kolonialherrn innerhalb seines zusammenhängenden Kolonialgebiets gezogenen internen Grenzen nach Erlangung der Unabhängigkeit. Anders als in Afrika besitzt in Asien das Element des bereits im universellen Völkergewohnheitsrecht verankerten Kontinuitätsgrundsatzes bei Grenzverträgen gegenüber dem Prinzip der Unantastbarkeit der internen Grenzen größere Bedeutung. Dies liegt zum einen an der oben dargestellten260 wenig homogenen Ausgangslage in Asien zum Zeitpunkt der Dekolonisierung, die durchgehend unabhängige Staaten neben Kolonialgebiete verschiedener Kolonialmächte stellt. Für das Verhältnis der Neustaaten zu den durchgehend unabhängigen Staaten in Asien sind die Regeln der Staatensukzession des universellen Völkerrechts einschlägig. Die durchgehend unabhängigen asiatischen Staaten hatten schon vor der Dekolonisierung als Völkerrechtssubjekte am Völkerrechtsverkehr mit den Kolonialmächten teil, mit denen sie Grenzverträge abschlossen, in welche die ehemaligen Kolonien nach der Dekolonisierung als Völkerrechtssubjekte in der Nachfolge ihres jeweiligen Kolonialherrn einrücken. Zum anderen ist zu beobachten, daß in Asien die Kolonialgebiete einzelner Kolonialherrn nicht in dem Maße in Blöcken zusammenhängen, wie dies in weiten Teilen Afrikas der Fall ist. Dadurch entstehen in Asien vorrangig Grenzen zwischen Gebieten verschiedener Kolonialherrn, während die administrative, interne Unterteilung des Gebiets eines Kolonialherrn weniger häufig in Erscheinung tritt. Auch filr die Grenzen zwischen Gebieten verschiedener Kolonialherrn ist das universelle Völkerrecht in Form des Kontinuitätsgrundsatzes anzuwenden, da sie auf völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Kolonialmächten beruhen, in die die jeweiligen Kolonien nach ihrer Unabhängigkeit als neuentstandene Völkerrechtssubjekte nachfolgen. In den vergleichsweise wenigen Fälle in Asien, daß auf dem zusammenhängenden Gebiet einer Kolonialmacht mehrere Kolonialeinheiten unabhängig werden, halten die Neustaaten bei der Grenzbestimmung ebenso wie in Afrika an den vom Kolonialherrn vorgegebenen administrativen Grenzen fest. Dabei wird dieser Gedanke weder ausdrücklich als Rechtssatz formuliert, wie dies unter den afrikanischen Staaten geschieht, noch mit dem Schlagwort des uti possidetis versehen. Doch läßt sich feststellen, daß die durchgehende Praxis des Festhaltens an der internen Grenzziehung des Kolonialherrn, soweit diese nachweisbar ist, von der Rechtsüberzeugung getragen wird, ein solches Verhalten sei auch rechtlich geboten. Damit liegen die Voraussetzungen filr die Entstehung eines Völkergewohnheitsrechtssatzes vor. Auch ohne daß die betroffenen asiatischen Neustaaten in ihrer Grenzregelungspraxis auf das lateinamerikanische oder afrikanische uti possidetis verwei260

12'

Siehe Punkt I. 3.

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D. uti possidetis in Asien

sen oder sich bewußt als Fortsetzer bzw. Anwender eines bereits bestehenden Satzes des partikulären Völkergewohnheitsrechts verstehen, kann ihr Verhalten als Ausprägung eines solchen Satzes verstanden werden. Dazu ist notwendig, daß ihre Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung sich auf einen vergleichbaren faktischen Hintergrund beziehen und daraus denselben partikulären Lösungsansatz entwickeln. Ähneln sich faktische Ausgangslage und rechtliche Lösung jeweils, ist der Nachweis gefilhrt, daß es sich um Ausprägungen eines einheitlichen rechtlichen Grundgedankens handelt. Die entscheidende partikuläre Besonderheit, auf der die Entstehung des uti possidetis als Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts in Afrika und zuvor als Konsensprinzip in Hispano-Amerika beruht, besteht darin, daß den Neustaaten auf diesen Kontinenten jeweils eine staatstragenden Nation mit ausreichendem ethnischen, geschichtlichen oder religiösen Zusammenhang fehlt. Das Konzept der Territorialnation, des allein (oder zumindest vorwiegend) über die Klammer des Staatsgebiets defmierten Staatsgebildes, bildet den Hintergrund für das uti possidetii61 • Für die asiatischen Neustaaten, die nebeneinander auf dem Gebiet eines Kolonialherrn unabhängig werden, ist eine vergleichbare Ausgangssituation erkennbar. Indien und Pakistan, die auf dem Gebiet des britischen Raj entstehen, haben keine historische Tradition von einheitlicher Staatlichkeit aufzuweisen; sie umfassen eine Vielzahl von Ethnien und Religionen auf ihrem Territorium, die in dieser Form im Verlauf der Geschichte nie zusammengeschlossen waren und kein Gefilhl von Zusammengehörigkeit besitzen. Die der Aufteilung des britischen Raj zugrunde liegende Idee der Zusammenfassung von Muslimen einer-, und Hindus andererseits genügt nicht als einigendes Merkmal, da beträchtliche religiöse Minderheiten in den jeweiligen Staaten verbleiben. Beide Staaten müssen daher als identitätsstiftendes Element auf ihre vom Kolonialherrn gezogenen Grenzen zurückgreifen. Auch Laos ist in diesem Zusammenhang auf die kolonialen Grenzen angewiesen. Zwar gab es in der Geschichte einst einen laotischen Staat, doch bricht dieser - ethnisch zersplitterte - unter dem Druck der thailändischen und vietnamesischen Eroberer im 18. Jahrhundert in eine Fülle von Kleinstaaten auseinander, die ohne die Intervention der europäischen Kolonialmächte wohl vollständig im thailändischen oder vietnamesischen Reich aufgegangen wären. Das ethnisch uneinheitliche heutige Laos bedarf zur staatlichen Identitätsfmdung daher ebenfalls des Festhaltens an den kolonialen Grenzen. Ähnlich verhält es sich mit Kambodscha. Zwar kann Kambodscha auf eine lange Tradition historischer Staatlichkeit zurückblicken. Doch ist es zum Zeitpunkt der europäischen Kolonisation auf ein Kemland um Phnom Penh verklei-

261

Dazu bereits ausführlich oben Abschnitt (C.) Punkt IV 2 b.

IV. Ergebnis: uti possidetis in Dekolonisierungssituationen

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nert; ohne den Schritt des kambodschanischen Königs, sich dem französischen Protektorat zu unterstellen, wäre Kambodscha wahrscheinlich zwischen Thai und Viet aufgeteilt worden. Im Gebiet des französischen Protektorats Kambodscha leben zudem mehrere Minderheiten. Die französischen Gebietsverschiebungen zugunsten und zulasten Kambodschas (Abgabe von Territorien an Vietnam, Anfilgung von thailändischen Gebieten) erschüttern Kambodscha zusätzlich, so daß zuletzt allein ein Festhalten an den kolonialen Grenzen den Zusammenhalt des Landes angesichts thailändischer Revisionsansprüche sichert. Auf seine Art ist also auch Kambodscha in seiner heutigen Gestalt eine vorwiegend territorial defmierte Nation. Burma besitzt ebenfalls eine Tradition von Staatlichkeit aus der Zeit vor seiner Kolonisierung. Nach der schrittweisen Eroberung und kolonialen Unterwerfung Burmas durch Großbritannien werden keine territorialen Veränderungen zulasten Burmas vorgenommen. Daher kann Burma nach seiner Unabhängigkeit die koloniale Grenzziehung zu den anderen britischen Kolonialgebieten (Indien und Pakistan, später Bangladesh), die weitgehend seinen traditionellen Grenzen entspricht, akzeptieren. An dieser Grenzziehung hält das ethnisch uneinheitlich besiedelte Burma auch gegenüber den Sezessionsbestrebungen ethnischer Minderheiten, die grenznahe Gliedstaaten der Union of Burma bewohnen, fest. Darin läßt sich eine (zumindest auch) territoriale Defmition der Staatsnation erkennen. Auch Vietnam, das zur französischen Kolonialzeit in ein Kolonialgebiet (Cochin China) und zwei Protektorate (Annan und Tonkin, später nur Tonkin) getrennt ist, bedarf des Festhaltens an den französisch bestimmten Grenzen, um seine Einheit zu wahren. Das ethnische Volk der Viet blickt auf eine jahrhundertelange Zerrissenheit Vietnams durch sich bekämpfende Dynastien zurück, die erst kurz vor Beginn der französischen Kolonialherrschaft (1862) unter einem Kaiser vereinigt werden (1802). Die historische Zweiteilung des Landes lebt nach der Dekolonisierung wieder auf und wird erst 1976 durch den militärischen Sieg Nordvietnams überwunden. Angesichts der historisch gewachsenen wirtschaftlichen und politischen Unterschiede bedarf Vietnam trotz seiner ethnischen Einheitlichkeit des Festhaltens an den kolonialen Grenzen zur Schaffung einer staatlichen Identität. Die kleine Gruppe asiatischer Staaten, die nebeneinander auf dem einheitlichen Territorium einer Kolonialmacht entstanden sind, zeigen sich demnach trotz einiger abweichender Einzelheiten in ihrer Ausgangslage den afrikanischen Neustaaten vergleichbar, die aus zusammenhängenden Blöcken einer Kolonialmacht hervorgegangen sind. Auch sie stellen im wesentlichen Territorialnationen dar, da ihre teilweise vorhandenen historische oder ethnische Einheitlichkeit nicht ausreicht, auch heute noch ein Gefilhl von Zusammengehörigkeit zu vermitteln. Ebenso wie die afrikanischen Territorialnationen halten sie an den vom gemeinsamen Kolonialherm gezogenen Innengrenzen als ihren in-

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D. uti possidetis in Asien

ternationalen Außengrenzen fest, soweit diese bestimmbar sind. Diese einheitliche Praxis ist ebenfalls von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung begleitet. Der die administrativen Grenzlinien betreffende Aspekt des uti possidetis, der nunmehr als uti possidetis im engeren Sinne bezeichnet werden soll, stellt sich also als Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts dar, der auf die besondere Dekolonisierungssituation Anwendung findet, daß auf dem zusammenhängenden Territorium einer Kolonialmacht mehrere koloniale Einheiten jeweils als Territorialnationen die Unabhängigkeit erlangen. Inhalt dieses Rechtssatzes ist, daß die zwischen diesen Einheiten vom ehemaligen Kolonialherm gezogenen administrativen, internen Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit zu den internationalen Grenzen der neu entstehenden Staaten werden. Fraglich ist, ob der Gedanke des uti possidetis im engeren Sinn auch auf Situationen Anwendung findet, in denen der Unabhängigkeit der Neustaaten keine Kolonisation vorausging, sondern eine andersgeartete "Fremdherrschaft,,262. Um festzustellen, ob sich der Anwendungsbereich dieses partikulären Satzes des Völkergewohnheitsrechts entsprechend erweitern läßt, ist zu untersuchen, wie nach erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen aus "nicht-kolonialer Fremdherrschaft" mit den fremdbestimmt gezogenen Grenzen umgegangen wird. Dem wird im folgenden im Hinblick auf die Mandatsgebiete des Nahen Ostens und schließlich hinsichtlich der neueren Entwicklungen in Europa nachgegangen.

262 In dem Sinne, daß ein ortsfremdes Völkerrechtssubjekt die Herrschaft über ein Territorium ausübt, das selbst keine (volle) Völkerrechtssubjektivität besitzt, aber über die Voraussetzungen verftlgt, nach der Entlassung in die Unabhängigkeit als vollwertiges Völkerrechtssubjekt zu existieren.

"To say that self-detennination should be guaranteed is to state the problem, not its solution." I

E. uti possidetis im Nahen Osten Im vorigen Abschnitt wurden die Staaten des Nahen Ostens, d. h. die der arabischen Halbinsel, die Türkei, Syrien, Irak, Israel, Libanon und Jordanien, von der Darstellung ausgeklammert. Dies war notwendig, da die historische Ausgangslage vor der Erlangung der Unabhängigkeit sich bei dieser Staaten von der Situation in Asien deutlich unterscheidet.

I. Historischer Hintergrund Anders als Lateinamerika, Afrika und Asien bleibt der Nahe Osten von Maßnahmen europäischer Kolonisierung im eigentlichen Sinne weitgehend verschont. In der Hochphase der Kolonisation im 18. und 19. Jahrhundert steht den europäischen Kolonialmächten hier das Osmanische Reich gegenüber. Es gelangt unter Selim I. Javus ("Der Grausame", 1512-1520) und dessen Sohn Süleiman ("Der Prächtige", 1520-1566) zu seiner größten Ausdehnung2 • Die arabischen Völker geraten dabei fast gänzlich unter osmanische Herrschaft, wo sie bis ins 20. Jahrhundert "praktisch geschichtslos dahinleben"J. Die Wüstenstämme des inneren und südlichen Arabiens bleiben faktisch, teilweise auch rechtlich unabhängig4 • Im 19. Jahrhundert setzen Zerfallserscheinungen im Osmanischen Reich ein, die zu Territorialeinbußen im arabischen Raum fUhren. 1839 besetzt England das Gebiet um Aden im Jemens. 1882 geht Ägypten an Großbritannien als Protektorat verloren 6 • Nach der jungtürkischen Revolution von 1908 löst sich das Osmanische Reich weiter auf, bis es mit der Kapitulation der osmanischen Armee und dem darauffolgenden Waffenstillstand am 30. Oktober 1918 faktisch

Koskenniemi, ICLQ 43 (1994), 265. Freeman-Grenville, 90; Khella, 199; Ploetz, 1162f; Ziegler, 172. 3 Ploetz, 1162f; vgl. Ziegler, 172. 4 Freeman-Grenville, 91, 94. s Khella, 201. 6 Freeman-Grenville, 110; Khella, 201; Ploetz, 1171. I

2

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E. uti possidetis im Nahen Osten

beendet wird? Sein rechtliches Ende vollzieht sich 1922 mit dem Rücktritt des letzten Sultans, Mehmet IV. 8 Bereits während des Ersten Weltkriegs kommen Frankreich und England überein, fUr sich neue Einflußzonen in den noch osmanischen Gebieten des arabischen Raums festzusetzen 9 • In den folgenden Friedensverhandlungen 1919, 1920 und 1923 setzen sich diese Überlegungen fort. Unter der Ägide des Völkerbundes wird rur die Aufteilung des Osmanischen Reiches das Instrument des Mandatsgebiets geschaffen. Ziel des Mandatswesens soll es nach den Vorstellungen des Völkerbundes sein, die Mandatsgebiete mit der Zeit zu selbständigen Staaten zu entwickeln lO : "To those colonies and territories which as a consequence ofthe late war have ceased to be under the sovereignty of the states which formerly govemed them and which are inhabited by people not yet able to stand by themselves under the strenuous conditions of the modem world, there should be applied the principle that the wellbeing and development of such peoples form a sacred trust of civilisation .... "11 Damit wird die gewaltsame Annexion der Territorien vermieden; gleichzeitig gibt die Konstruktion des Mandats der Mandatsmacht die angestrebte Jurisdiktion über die fraglichen Gebiete l2 . Die Besonderheit der Lage der meisten arabischen Staaten ist darin zu sehen, daß sie nicht direkt im Anschluß an den Zusammenbruch des sie beherrschenden Osmanischen Reiches als unabhängige Staaten entstehen. Es handelt sich bei ihnen also nicht um "reine" Fälle von Staaten, die durch das Zerbrechen einer dominierenden Zentralgewalt die Unabhängigkeit erreichen. Vielmehr werden sie nach der osmanischen Herrschaft in ein europäisch beherrschtes Mandatssystem eingebunden, in dem ihre Staatswerdung durch die Interessen der europäischen Mächte Frankreich und Großbritannien geleitet wird. Nicht in diese Kategorie fallen Staaten wie Saudi-Arabien und Oman, die die osmanische Oberherrschaft nicht anerkennen oder abschütteln können und den Mandatsmächten als unabhängige Staaten gegenübertreten. Eine MittelsteIlung nehmen die Scheichtümer der Golfküste ein, die bis zum Abschluß von Schutzverträgen mit europäischen Mächten zumindest nominell dem Osmanischen Reich unterstehen. Es besteht dennoch im Nahen Osten eine der Staatsbildung in Lateinamerika, Afrika und Asien ähnliche Ausgangslage. Zum einen trägt das Mandatssystem Freeman-Grenville, 108; Ploetz, 1171f.; Tauber, 4. Lerch, Halbmond, 223; Ploetz, 1926. 9 Sog. Sykes-Picot-Abkommen von 1916; dazu ausfilhrlich Boustani/Fargues, 20; Bakis, 7; Freeman-Grenville, 110. 10 Crawford, 337; Freeman-Grenville, 110; Zieger, in: SBR, 78. 11 ArticIe 22, Covenant ofthe League ofNations. 12 Bleckmann, 40; Crawford, 335; Evans, 100; Zieger, in: SBR, 77. AusfiihrIich zur Struktur der Mandatsherrschaft siehe Zemanek, RdC I 16 (1965 III), 202-208. ?

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11. Theorien zur Staatenbildung im arabischen Raum

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in seinen Auswirkungen durchaus koloniale Züge l3 • Zum anderen werden die Grenzen zwischen den Staaten des Nahen Ostens weitgehend durch die Intervention der europäischen Mächte der Mandatszeit gezogen und sind in soweit "fremdbestimmt" . Daher stellt sich nach dem Ende der Mandatsherrschaft sowohl fiir die unabhängig werdenden arabischen Staaten als auch fiir die Staaten, die ihre Unabhängigkeit erhalten konnten, die Frage, wie mit den bestehenden, von fremden Mächten gezogenen, Grenzen umgegangen wird.

11. Theorien zur Staatenbildung im arabischen Raum In den osmanischen Provinzen entwickeln sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts panarabische Bestrebungen, deren Ziel es ist, alle arabischen Gebiete in einem Staat zu vereinigen l4 . Mit diesem Gedanken ist die arabische Revolte gegen die osmanische Herrschaft von 1916 15 und der Name Lawrence von Arabien untrennbar verküpft l6 . Der panarabischen Bewegung schließen sich jedoch nicht alle arabischen Führer an. Besonders im "fruchtbaren Halbmond", wie das den Irak, Syrien, Libanon und Israel umfassende Territorium genannt wird 17, entstehen partikularistische nationale Bewegungen, die die Bildung von arabischen Einzelstaaten anstreben l8 . Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kristallisieren sich konträre Ziele heraus: Die syrische Hoffnung auf ein "Groß-Syrien", das den Libanon, Jordanien und Palästina umfassen soll, konkurriert z. B. mit den libanesischen Plänen, einen unabhängigen Libanon in erweiterten Grenzen zu schaffen l9 •

13 Zieger, in: SBR, 77. Oehlrich, VRÜ I (1968),436/437, weist daraufhin, daß die Bestellung der Mandatsmächte nicht, wie vom US-amerikanischen Präsidenten Wilson in seinen Friedenszielen von Versailles angestrebt, durch die Bevölkerung der betroffenen Gebiete vorgenommen, sondern zwischen den interessierten Mächten ausgehandelt wird. Vgl. auch Bleckmann, 15f., 19. 14 Boustani/Fargues, 21; Khella, 219; Tauber, 10. 15 Bleckmann, 7; Fochler-Hauke, 176; Tauber, 4, 6-9; Woljfsohn,245. 16 Boustani/Fargues, 21; F ochler-Hauke, 176; näher zu Colonel Lawrence siehe Kedourie, 88-106. 17 Vgl. Boustani/Fargues, 19: "croissant fertile"; Tauber, 9: "fertile crescent". 18 Tauber, 9. 19 Tauber, 10.

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E. uti possidetis im Nahen Osten

In. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft 1. Staatenpraxis

Die panarabische Idee scheitert zunächst an den Interessen Frankreichs und Großbritanniens im Nahen Osten20 . Die europäischen Mächte stärken die traditionellen Rivalitäten zwischen den verschiedenen Zentren arabischer Kultur und erreichen damit die Bildung mehrerer Staaten im arabischen Raum. Doch auch nach dem Rückzug der fremden Oberherren spielen panarabische Bestrebungen keine große Rolle im arabischen Raum; die arabischen Völker wählen den Verbleib in Einzelstaaten21 • a) Türkei

Die Türkei als nicht-arabischer Staat ist in diesem Zusammenhang deshalb von Interesse, weil sie als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches auf dem Gebiet des ehemaligen osmanischen Kernlands entsteht. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs besetzen alliierte Truppen u. a. die arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches22 und Teile Anatoliens. Im Friedensvertrag von Sevres 1920, den der neue türkische Staatschef Mustafa Kemal (Atatürk) nicht anerkennt, erhält Großbritannien Palästina und den Irak zusammen mit der Schutzherrschaft über Arabien zugesprochen, während für Frankreich Syrien und Libanon abfallen23 • Das wird auch im neuen Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht rückgängig gemacht. Doch erreicht Atatürk in diesem Vertrag die Sicherung der anatolischen und thrakischen Besitzungen der Türkee4 • Die Grenzen der Türkei sind also nicht durch einen Kolonialherrn gezogen worden, sondern das Ergebnis von Verhandlungen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches infolge des Ersten Weltkriegs. Die Türkei ist damit kein Neustaat, sondern setzt die Existenz des Osmanischen Reiches fort. Bei ihr handelt es sich um einen Fall der Staatenkontinuität auf verringertem Territorium25 •

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2S

Fochler-Hauke, 173; KeesingII, 195. Tauber, 334; Zamzami, 4; Zeine, 231. Freeman-Grenville, 108; Ploetz, 1244f.; Tauber, 3f. Ploetz, 1251f. Boustani/Fargues, 21; Miller, 547; vgl. auch Bakis, 8. Dazu Dörr, 167, mit Hinweis auf einen Schiedsspruch aus dem Jahre 1925.

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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b) Irak

Der Irak wird auf der Konferenz von San Remo 1920 gegen seinen Protest zum Mandatsgebiet Großbritanniens 26 • Ihm wird nach inneren Unruhen 1921 von Großbritannien Eigenstaatlichkeit unter König Faisal zugestanden, ohne daß das Mandatsverhältnis dadurch beendet würde27 • 1932 erlischt das Mandat und der Irak wird in den Völkerbund aufgenommen28 • Der Irak grenzt an die Türkei, den Iran, Kuweit, Saudi-Arabien, Syrien und Jordanien. Der Konflikt zwischen dem Irak und dem Iran über den Grenzverlauf am Shatt al-'Arab wurde bereits dargestellr9 • aa) Irak-Syrien Iraks Grenze mit Syrien ist zum einen das Resultat der Abtretung der osmanischen Provinz Mossul an den Irak durch die französische Mandatsmacht auf der Konferenz von San Remo 19203 Die restliche Grenze wird 1932 durch eine Schiedsentscheidung des Völkerbundes, die kleinere gegenseitigen Gebietsaustausche zur Folge hat, bestimmf l . Diese Grenze steht trotz der sonst sehr gespannten Beziehungen zwischen beiden Staaten nicht im Streit.

°.

bb) Irak-Türkei Der Grenzstreit des Iraks mit der Türkei über die Zugehörigkeit des erdölreichen Gebietes um Mossul wird auf britisches Betreiben 1926 vertraglich zugunsten des zu diesem Zeitpunkt noch abhängigen Irak entschieden32 • Sie wird seither nicht in Frage gestellf 3 .

cc) Irak-Saudi-Arabien Der Irak streitet mit Saudi-Arabien über die gemeinsame Grenze. Grund da-

filr ist die fehlende Grenzmarkierung zwischen den beiden osmanischen GebieJoffe, in: Schofield/Schofield, 12; Tauber, 283. Joffe, in: Schofield/Schofield, 12; Tauber, 316; Freeman-Grenville, 116. 28 Jaffe, in: Schofield/Schofield, 12; Freeman-Grenville, 116; Oehlrich, VRÜ (1968),421. 29 Siehe Abschnitt (D.) Punkt 11. 2 a cc (c). 30 Boustani/Fargues,21. 31 Boustani/Fargues,21. 32 Dalvi, in: Boundaries, 143; Oehlrich, VRÜ 1 (1968),437; Ploetz, 1331. 33 Boustani/Fargues,21. 26

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ten in den unwirtlichen Wüstenstreifen sowie eine tiefe territoriale Rivalität zwischen den beiden Zentren arabischer Macht. 1922 erreichen beide Staaten zusammen mit dem britischen Hochkommissar im Irak Sir Cox eine vertragliche Grenzregelung, die u.a. die Bildung einer neutralen Zone am umstrittensten Punkt vorsiehe 4• Stammesunruhen an der gemeinsamen Grenze werden 1931 durch einen Freundschaftsvertrag beigelegt. 1981 vereinbaren beide Parteien vertraglich die Teilung der neutralen Zone. Damit ist der Grenzstreit beendees. dd) Irak-Kuweit Die Grenze zwischen dem Irak und Kuweit wird, ebenso wie die Grenze zwischen Irak und Saudi-Arabien sowie Saudi-Arabien und Kuweit, 1922 durch die Vermittlung von Sir Cox gezogen36 • Der Irak greift diese Grenze nach seiner Unabhängigkeit wiederholt als ungerechte koloniale Grenze an und verlangt eine Änderung zu seinen Gunsten 37 • Der irakische Anspruch auf Kuweit stützt sich darauf, daß Kuweit zu osmanischer Zeit integraler Bestandteil der Provinz Basra gewesen sei, die nun dem Irak als dem Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches auf diesem Gebiet gehöre 38 • 1963 erkennt der Irak Kuweit als Staat an39, ohne sich jedoch auf die bestehenden Grenzen festzulegen40 . Der irakische Anspruch fUhrt 1990 zur militärischen Besetzung und Annexion Kuweits als 19. irakische Provinz41 • Dies wird durch massiven Einsatz westlicher Streitkräfte im sog. zweiten Goltkrieg beendet. Hierauf wird die Grenze zwischen den beiden Staaten neu gezogen und eine entmilitarisierte Sicherheitszone geschaffen, was mit territorialen Verlusten des Irak bei Umm Qasr einhergeht42 . Der Irak hat seinen Anspruch auf Kuweit trotz gelegentlicher Ankündi34 Abu-Dawood/Karan, 42; Keesing II, 248; Oehlrich, VRÜ I (1968), 438; Tibi, BzK 1990, 8; vgl. zum genauen Verlauf International Boundary Study No. 111, Iraq Saudi-Arabia Boundary, Washington, 1971. 35 Keesing II, 248-250. Vgl. auch Abu-Dawood/Karan, 44. 36 Boustani/Fargues, 25; Oehlrich, VRÜ 1 (1968), 438; Tibi, BzK 1990, 8. Ausftihrlich zur Geschichte der Grenze siehe Mendelson, in: SchofieldlSchofield, 144-155. 37 Finnie, 99ft'.; Tibi, BzK 1990, 9. 38 Finnie, 99-106; Keesing II, 244; Tibi, BzK 1990, 10/11; Zamzami, 379. 39 Albaharna, 258; Finnie, 150; Keesing II, 244; Oehlrich, VRÜ I (1968),443; Tibi, BzK 1990, 11. 40 Finnie, 150; Keesing 11,247; Tibi, BzK 1990, 12. 41 Tibi, BzK 1990,9. 42 FAZ vom 11. Oktober 1994. Siehe Finnie, 163ft'. Die UN garantieren diese Grenze entsprechend der Sicherheitsratsresolution 833 vom 27. Mai 1993: "The Security Council, ... Recalling in this connection that through the demarcation process the Commission was not reallocating territory between Kuweit and Iraq, but was simply carrying out the

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gungen, Kuweit mit dieser Grenzziehung anerkennen zu wollen, bis heute noch nicht aufgegeben43 • 1994 erklärt er allerdings die Anerkennung der Souveränität Kuweits 44 • ee) Irak-Jordanien Jordanien wird 1921 von Großbritannien als eigenes Mandatsgebiet "Transjordanien" geschaffen4s . 1932 wird zwischen Großbritannien und dem Irak die Grenze zwischen letzterem und Jordanien festgesetzt46 • 1984 ändern Jordanien und der Irak diese Grenze in ihrem südlichen Bereich ab47 . Zu einem Streit um die gemeinsame Grenze kommt es zwischen beiden Staaten nicht.

c) Israel

aa) Bildung des Staates Israel Israel entsteht auf dem Gebiet des britischen Mandats Palästina, von dem Transjordanien und die Golan-Höhen abgetrennt werden48 . Großbritannien hatte sich 1917 in der Balfour-Deklaration49 verpflichtet, einen jüdischen Staat zu schaffen. 1947 erklärt Großbritannien, das Mandat zu beenden, und überläßt die Verantwortung fiir eine angemessene Lösung der Palästina-Frage den Vereinten

technical task necessary to demarcate for the first time the precise coordinates of the boundary set out in the "Agreed Minutes between the State of Kuweit and the Republic of Iraq regarding the restoration of friendly relations, recognition and related matters" signed by them on 4 October 1963, and that this task was carried out in the special circumstances following Iraq's invasion of Kuweit and pursuant to resolution 687 (1991) and the report of the Secretary-General regarding implementation of paragraph 30fthat resolution,

4. Reaffirms that the decisions of the Commission regarding the demarcation of the boundary are final; 6. Underlines and reaffirms its decision to guarantee the inviolability of the abovementioned boundary ... " 43 Cottereau, AFDI 60 (1994), 177, 187; Finnie, 176; Gray, BYIL 65 (1994), 149151. 44 KRWE 1994,40302; KRWE 1995, R 135. 45 Boustani/Fargues, 25; Fochler-Hauke, 177; Wolffsohn, 251. 46 Amadouny, in: SchofieldiSchofield, 135f. 47 Amadouny, in: SchofieldiSchofield, 139 Fn. 2. 48 Biger, in: Boundaries, 59; Keesing 11, 202. Zur historischen Grenzentwicklung siehe Saul Cohen, 34-41. 49 Zu deren völkerrechtlicher Bedeutung ausführlich MallisoniMallison, 18-78.

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Nationenso. Ein Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 sieht die Schaffung von zwei Staaten, einem jüdischen und einem arabischen, in Palästina vorSI. Die jüdische Seite akzeptiert den Plan und ruft am 14. Mai 1948, an dem sich Großbritannien aus Palästina zurückzieht, die Gründung des Staates Israel aus S2 . Daraufhin wird Israel von unkoordinierten Armeen aus Ägypten, Transjordanien, dem Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Jemen und Libanon angegriffen, die versuchen, den israelischen Staat zugunsten eines arabischen zu vemichtenS3 . Der von der UNO ohne Stellungnahme zu den Grenzfragen scharfverurteilte Angritf4 wird von Israel aufgehalten. Beim Inkrafttreten eines Waffenstillstands Anfang 1949 befmdet sich das militärisch siegreiche Israel im Besitz von Gebieten, die nach dem ursprünglichen UN-Plan arabisch sein solltenss . In der Folgezeit kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen israelischen und arabischen Truppen an den durch den Waffenstillstand von 1949 bestimmten israelischen Grenzen. Im Juni 1967 eskalieren die Spannungen zu einem erneuten arabisch-israelischen Krieg, in dessen Verlauf Israel das Westjordanland (Westbank), den Gaza-Streifen, den Sinai und die Golan-Höhen inklusive einer 12-Meilen-Sicherheitszone in Syrien besetztS6 . Im Juli 1967 erklärt Israel die

50 Fochler-Hauke, 179; Harttung, 13; Jessup, 259; Malanczuk, EPIL 12 (1990), 159; Partseh, EPIL 12 (1990), 440; Wo/jJsohn, 261; Ziegler, 267.

Generalversammlungsresolution 181 (III) vom 29. November 1947: "... 3. Independent Arab and Jewish States and the Special International Regime for the City of Jerusalem, set forth in part III of this plan, shall come into existence ... The boundaries of the Arab State, the Jewish State, and the City of Jerusalem shall be described in parts II and III below.".Zu Hintergrund und rechtlicher Bedeutung siehe 51

MallisoniMallison, 151-173.

Vgl. den Text der Erklärung in Lapidoth/Hirsch, 61-63. Fochler-Hauke, 181; Harttung, 168-170; Keesing II, 206; Landau, 5/6; Oren, 5/6; Partseh, EPIL 12 (1990), 141. 54 Resolution des Sicherheitsrats 54 vom 15. Juli 1948: "The Security Council, Taking into consideration that the Provisional Government of Israel has indicated its acceptance in principle of a prolongation of the truce in Palestine; that the States members of the Arab League have rejected successive appeals of the United Nations Mediator, and of the Security Council in its resolution 53 (1948) of 7 July 1948, for the prolongation of the truce in Palestine; and that there has consequently developed a renewal of hostilities in Palestine: 1. Determines that the situation in Palestine constitutes a threat to the peace within the meaning of Article 39 ofthe Charter; 2. Orders the Governments and authorities concerned, pursuant to Article 40 of the Charter ofthe United Nations, to desist from further military action and to this end to issue cease-fire orders ... 6. Instructs the Mediator to continue his efforts to bring about the demilitarisation of the City of Jerusalem, without prejudice to the future political status of Jerusalern, ... ". 55 Boustani/Fargues, 23; Brawer, in: Boundaries, 63f.; Fochler-Hauke, 182; Harttung, 170; Keesing II, 206f., 213; Malanczuk, EPIL 12 (1990),163. 56 Boustani/Fargues, 23; Freeman-Grenville, 124; Harttung, 181; Keesing II, 212. 52 53

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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Stadt Jerusalem zur unteilbaren Hauptstadt des Landes s7 • Am 22. November 1967 ruft der Sicherheitsrat Israel dazu auf, die neu besetzten Gebiete zu räumenS8 • 1973 bricht wiederum ein Krieg aus, der die Grenze zwischen Ägypten und Israel im Sinai leicht verändert und in dem Israel weitere 300 Quadratmeilen syrischen Territoriums besetztS9 • bb) Israel-Ägypten 1979 schließen Ägypten und Israel einen Friedensvertrag, aufgrund dessen Israel den Sinai bis auf den Gaza-Streifen räumt60 . Dadurch entsteht eine von beiden Seiten anerkannte Grenze zwischen Israel und Ägypten61 , deren strittiger Verlauf bei Taba Ende der achtziger Jahre durch ein Schiedsgericht festgelegt wird, das auf die anglo-osmanische Grenzziehung von 1906, 1926 bestätigt zwischen Großbritannien und Ägypten, zuruckgreift62 . 1989 unterzeichnen Ägypten und Israel ein entsprechendes Grenzabkommen63 •

57 Vgl. die Dokumente in LapidothiHirsch, 129-131. Die UN-Generalversammlung erklärt dies in Resolution 2253 (ES-V) vom 4. Juli 1967 rur "invalid". Für eine rechtliche Wertung des Status von Jerusalem siehe MallisonlMallison, 209-239. 58 Security Council Resolution 242 Concerning Principles for a Just and Lasting Peace in the Middle East: "1. Affirms that the fulfilment of Charter principles requires the establishment of a just and lasting peace in the Middle East which should include the application of both the following principles: (i) Withdrawal ofisrael armed forces from territories occupied in the recent conflict; (ii) termination ofall claims ofstates ofbelligerency and respect for and acknowledgement ofthe sovereignty, territorial integrity and political independence of every State in the area and their right to live in peace within secure and recognized boundaries free from threats or acts of force; ... ". 59 Keesing 11, 215f.; Rudolph, in: Nyrop 11, 200. 60 Keesing 11, 220f; Malanczuk, EPIL 12 (1990), I 64f.. 61 Keesing 11,222; Übereinkommen vom 26. Februar und 7. März 1989: "The Governments of Egypt and Israel, Reaffirming their adherence to the provisions of the Treaty of Peace of 26 March 1979, and their respect for the inviolability and sanctity of the permanent boundary between Egypt and Israel, which is the recognized international boundary between Egypt and the former mandated territory of Palestine, Recognizing as final and binding upon them the Award of29 September 1988 ofthe Arbitral Tribunal established by the Compromis of 10 September 1986, ... " zit. nach LapidothiHirsch, 329. 62 Keesing 11, 234; ARB 1988, 9015f; ARB 1989, 9228f. Eine Zusammenfassung des Award findet sich bei LapidothiHirsch, 315-328. Siehe auch Lapidoth, EPIL 12 (1990),366-367. 63 KRWE 1989,36473.

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cc) Israel-Syrien 1974 zieht sich Israel im Rahmen eines "military disengagement agreement" vom 1973 besetzten syrischen Territoriwn sowie aus Teilen des 1967 besetzten Gebietes zurück. 1981 annektiert es die Golan-Höhen64 , was die Vereinten Nationen als unzulässig verurteilen65 . Seitdem hat sich an der Situation auf den Golan-Höhen nichts verändert66 • In den 1991 begonnenen Gesprächen über eine dauerhafte Friedenslösung im Nahen Osten kommt es nicht zu einer Annäherung zwischen den syrischen und israelischen Positionen. Syrien verlangt die bedingungslose Rückgabe des Golan und den Rückzug Israels auf die Grenze des Waffenstillstands von 1967; Israel ist dazu nicht bereit und bietet u.a. einen Rückzug auf die Waffenstillstandslinie von 1949 an67 . Eine Kompromißlösung ist nicht in Sicht. dd) Israel-Libanon 1978 und 1982 fUhrt Israel eine militärische Invasion im südlichen Libanon durch, wn die dortigen Aktivitäten palästinensischer Guerilla zu unterbinden. Es okkupiert den an Israel grenzenden Teil des Südlibanon und betrachtet ihn als israelische Sicherheitszone. Die Aufforderungen der UN zum Rückzug68 wer"Golan Heights Law I. The law, jurisdietion and administration of the State shall apply to the area of the Golan Heights as delineated in the Sehedule .... ", zit. naeh Lapidoth/Hirsch, 283. 6S Sieherheitsratsresolution 497 vom 17. Dezember 1981: "The Seeurity Couneil, 64

Reaffirming that the acquisition of territory by force is inadmissible, in accordance with the Charter of the United Nations, the principles of international law and relevant Security Council resolutions, I. Decides that the Israeli decision to impose its laws, jurisdiction and administration in the occupied Syrian Golan Heights is null and void and without international legal effect; 2. Demands that Israel, the occupying power, should rescind forthwith its decision; 66 67

Keesing 11, 217; Malanczuk, EPIL 12 (1990), 175f. Bremer, FAZ vom 30. Mai 1995; ders., FAZ vom 30. März 1995; vgl. auch FAZ

vom 14. März 1995 zum Vermittlungsversueh des damaligen US-amerikanischen Außenministers Baker. 68 Sieherheitsratsresolution 425 vom 19. März 1978: "The Seeurity Council, I. Call [sic!] for strict respect for the territorial integrity, sovereignty and political independence ofLebanon within its internationally recognized boundaries; 2. Call [sie!] upon Israel immediately to cease its military action against Lebanese territorial integrity and withdraw forthwith its forces from all Lebanese territory; ... "

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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den mißachtet. Obwohl die Grenze zwischen Libanon und Israel nicht im Streit steht69 , nimmt sich Israel das Recht, in einer ca. 6 Meilen breiten "Sicherheitszone" militärisch einzugreifen, sobald israelische Sicherheitsinteressen beeinträchtigt scheinen70 . Verhandlungen zwischen Israel und Libanon über einen endgültigen Abzug der israelischen Armee sind geplant, haben aber noch nicht begonnen7l . ee) Israel-lordanien lordanien besetzt im Krieg von 1948/49 die Westbank und annektiert sie 1950 72 • Nach dem Krieg von 1967 verliert es die Westbank an Israe1'3. 1988 verzichtet der jordanische König auf alle Ansprüche auf die Westbank74, so daß 1992 Friedensgespräche zwischen Israel und der PLO hinsichtlich palästinensischer Selbstverwaltung im Gaza-Streifen und um lericho als Vorläufer der Autonomie in der gesamten Westbank beginnen können. Bis auf Syrien und den Libanon akzeptieren in diesem Zusammenhang alle Anrainerstaaten Israels des-

Sicherheitsratsresolution 509 vom 6. Juni 1982 "The Security Council Reaffirming the need for strict respect for the territorial integrity, sovereignty and political independence of Lebanon within its intemationally recognized boundaries, I. Demands that Israel withdraw all its military forces forthwith and unconditionally to the internationally recognized boundaries ofLebanon; ... ". 69 Israel erklärt mehrmals, keine territorialen Interessen im Libanon zu haben, siehe z. B. FAZ vom 7. Dezember 1995, FAZ vom 6. Februar 1996; siehe auch Matanczuk, EPIL 12 (1990),176. 70 Keesing 11, 224; Lennertz, FAZ vom 30. März 1995. Siehe Saut Cohen, 26f. Eine ausführliche Darstellung der Invasion von 1982 aus völkerrechtlicher Sicht bieten Mallison/Mallison, 276-406. 71 FAZ vom 6. Februar 1996. 72 Boustani/Fargues, 25; Landau, 6. Resolution der jordanischen Nationalversammlung vom 24. April 1950: "In confirmation of the confidence of the nation and in recognition of the good efforts for the realization of national aspirations exerted by His Majesty Abdullah ben elHusein, King ofthe Hashemite Kingdom ofthe Jordan, and in accordance with the right of self-determination, the existing situation of the two banks of the Jordan, the Eastern and the Western, their national, physical, geographical unity and the necessities of their common interests, the Jordan Parliament, representing both banks, decides on this day, Monday, April 24, 1950, and declares the following: I. Approval is granted to complete unity between the two banks of the Jordan, the Eastern and the Western, and their amalgamation in one single state: The Hashemite Kingdom of the Jordan, under the crown of His Hashemite Majesty King Abdullah ben el-Husein the exalted .... ", zit. nach Lapidoth/Hirsch, 114. 73 Boustani/Fargues, 23; Freeman-Grenvi//e, 124; Keesing 11,212. 74 Erklärung vom 31. Juli 1988, abgedruckt in: Lapidoth/Hirsch, 339-343. 13 Simmler

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sen Recht auf ungestörte Existenz in gesicherten Grenzen7S • 1993 wird der Grundlagenvertrag über die palästinensische Autonomie unterzeichnet. Im September 1995 wird die Autonomie auf einen Großteil des Westjordanlandes ausgedehne6 . Die verbliebene Grenze Israels mit lordanien steht nicht im Streit. 1995 schließen Israel und lordanien einen Friedensvertrag, mit dem ihr Verhältnis normalisiert wird77 •

d) Syrien Von der gegen den Willen der syrischen Führung Frankreich zugesprochenen osmanischen Provinz Syrien werden 1920 der Libanon als separates französisches Mandatsgebiet78 sowie Palästina abgetrennt. 1923 zediert Großbritannien die bislang zum Mandatsgebiet Palästina gehörenden Golan-Höhen an Syrien79 • 1939 wird die Verwaltungseinheit Alexandrette an die Türkei abgegeben80• Im Zweiten Weltkrieg kommt es zum diplomatischen Streit zwischen Syrien, Großbritannien und dem "freien" Frankreich über die syrische Unabhängigkeit, die 1944 gewährt wird. 1958 schließt sich Syrien kurzfristig mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen; diese wird 1961 nach einem syrischen Offiziersputsch durch die Sezession Syriens wieder aufgelöst81 . Syrien grenzt an die Türkei, den Irak, lordanien, Israel und Libanon. Der Streit Syriens mit Israel über die Golan-Höhen sowie die Grenzziehung zum Irak wurden bereits dargestellt.

aa) Syrien-Türkei Die Abtretung der Verwaltungseinheit Alexandrette (heute türkische Provinz Hatay) 1939 durch Frankreich an die Türkei wird von Syrien nicht akzeptiert. Auf syrischen Karten wird das Gebiet noch immer als syrisch eingezeichnet; Syrien gibt seinen Gebietsanspruch gegenüber der Türkei bis heute nicht auf2 . 75 76

Vgl. FAZ vom 14. Februar 1995. Vgl. FAZ vom 29. und 30. September 1995.

IP 1995, Z 115f., Z 158. Bleckmann, 19; Boustani/Fargues, 21; Tauber, 166. 79 Keesing 11, 202. 80 Bleckmann, 20; Boustani/Fargues, 21. Vgl. zum dadurch geschaffenen Grenzverlauf International Boundary Study No. 163, Syria - Turkey Boundary, Washington, 1978. 81 Buchheit,99. 82 Bakis, 9, 16-18; Boustani/Fargues, 21; Keesing 11, 258f.; Lerch, FAZ vom 8. April 1995. 77 78

IIl. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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bb) Syrien-Libanon Syrien weigert sich, ständige diplomatische Vertretungen im Libanon zu errichten, da es die Abtrennung des Libanon im Jahre 1920 als unnatürlich empfmdet S3 • Dies geht auf den Wunsch Syriens nach Ende des Ersten Weltkriegs zurück, ein Groß-Syrien zu bilden, das u. a. den Libanon einschließt84 • Während des libanesischen Bürgerkriegs marschieren dort 1976 und 1987 syrische Truppen ein8S • Seit 1990 ist der Libanon faktisches Protektorat Syriens86, auch wenn Syrien die territoriale Integrität des Libanon rechtlich nicht angreift87 • cc) Syrien-Jordanien Syrien stellt die Grenze zu Jordanien, die 1920 durch einen anglofranzösischen Vertrag gezogen wird88, nicht in Streit, obwohl es Jordanien als natürlichen Teil Syriens betrachtet, der abgetrennt worden sei, um Syrien zu schwächen89.

e) Libanon

Der Libanon erlangt nach Aufständen der Bevölkerung und nach britischem Druck auf Frankreich 1943 die Unabhängigkeit90 • Der jahrelange Bürgerkrieg im Lande wird 1989 durch das Abkommen von Taif beendet91 • Libanons Grenzen stehen nicht in Streit; die Sondersituation an der Grenze zu Israel wurde oben beschrieben.

83

186.

Boustani/Fargues, 21; Drysdale, in: SchofieldiSchofield, 23; Shinn, in: Nyrop 11,

Bleckmann, 23; Shinn, in: Nyrop 11, 18Of.; Tauber, 167, 170. Freeman-Grenville, 126. 86 Brender, FAZ vom 22. Februar 1995. 87 Vgl. FAZ vom 7. Dezember 1996; siehe auch Shinn, in: Nyrop 11, 186. 88 Amadouny, in: Schofield/Schofield, 131. 89 Boustani/Fargues, 21, 26; Drysdale, in: Schofield/Schofield, 26; vgl. auch Zamzami, 160. 90 Freeman-Grenville, 126; Khairallah, vii; Ploetz, 1942; vgl. zum Prozeß der Unabhängigkeit Bleckmann, 40-66, sowie Crawford, 337f. 91 Vgl. FAZ vom 22. Februar 1995. 84

8S

13"

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f) Jordanien Jordanien wird 1921 vom britischen Mandatsgebiet Palästina abgetrennt und 1932 zum selbständigen Fürstentum unter britischem Mandat erklärt. 1946 erreicht es die Unabhängigkeit92 • Jordanien grenzt an Israel, den Irak und Saudi Arabien. Die Grenzprobleme mit Israel durch die Besetzung und Annexion der Westbank wurden bereits beleuchtet, ebenso wie die Grenzziehung zum Irak. Die Grenze zu Saudi-Arabien wird 1922-25 durch saudisch-britische Grenzabkommen geregelt, die Saudi-Arabien als Gegenleistung für den Verlust der Region um die Hafenstadt Aqaba an lordanien ein großes Gebiet zwischen Jordanien und dem Irak zugestehen93 • 1965 werden im Vertrag von Amman kleinere Veränderungen im Grenzverlauf zusammen mit gegenseitigen Territorialabtretungen vorgenommen94 .

g) Saudi-Arabien

1915 schließt Ibn Saud, Fürst aus der wahabitischen Dynastie auf der arabischen Halbinsel, mit Großbritannien einen Protektoratsvertrag über sein im Kampf gegen das Osmanische Reich erweitertes Herrschaftsgebiet in Innerarabien 9s • Nach weiteren Eroberungen, insbesondere von Mekka, wird das Schutzabkommen 1927 durch einen Freundschaftsvertrag zwischen souveränen Staaten ersetzt96 . 1932 erreicht das Wahabitenreich seine endgültige Form und erhält den Namen Saudi-Arabien97 • Saudi-Arabien grenzt an Jordanien, den Irak, Kuweit, Jemen, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate (V AE) und Qatar. Der Grenzstreit mit dem Irak wurde oben geschildert, ebenso wie die Grenze zu Jordanien.

Crawford, 338. Abu-Dawood/Karan, 39; Amadouny, in SchofieldiSchofield, 132-134; Boustani/Fargues, 25, 26. 94 Abu-Dawood/Karan, 42. 95 Kostiner, in: CohenIKolinsky, 129; Oehlrich, VRÜ 1 (1968),435-436. 96 Boustani/Fargues, 24; Kostiner, in: CohenIKolinsky, 129; Oehlrich, VRÜ (1968),438. 97 Abu-Dawood/Karan, 46; Boustani/Fargues, 24; Freeman-Grenville, 108; Kostiner, in: CohenIKolinsky, 128; Ploetz, 1946. 92

93

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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aa) Saudi-Arabien-Kuweit 1922 wird zwischen Saudi-Arabien (damals noch unter dem Namen Sultanat Najd) und dem britischen Protektorat Kuweit ein Vertrag über den gemeinsamen Grenzverlauf geschlossen98 • Dabei wird eine neutrale Küstenzone im Süden eingerichtet, über deren Zugehörigkeit später entschieden werden soll. 1965-1967 erreichen Kuweit und Saudi-Arabien eine einvernehmliche Teilung der neutralen Zone, die 1970 praktisch umgesetzt ist99• Saudi-Arabien bestreitet noch die kuweitische Oberhoheit über die zwei Inseln Qaru und Umm elMaradim, ohne diese Forderung mit Nachdruck zu verfolgen 1OO •

bb) Saudi-Arabien-Oman Saudi-Arabien macht 1952, wie auch Oman und Abu Dhabi von den VAE, Anspruche auf die Oase Buraimi geltend. 1954 kommt es auf britischen Druck zu einem vorläufigen Komprorniß, nach dessen Scheitern Oman 1955 die Oase besetzt lO1 • 1971 tritt Saudi-Arabien seine Anspruche auf drei Dörfer in der Oase an Oman ab 102. Der weitere Grenzverlauf durch das "empty quarter", eine Sandwüste, ist noch immer unbestimmt lO3 • cc) Saudi-Arabien-Vereinigte Arabische Emirate Saudi-Arabiens Streit mit Abu Dhabi um die Oase Buraimi wird 1974 durch ein Abkommen beigelegt, in dem es zu gegenseitigen Gebietsaustauschen komme 04 • dd) Saudi-Arabien-Jemen Ein Teil von Saudi-Arabiens Grenze zum nördlichen Jemen wird nach einem saudisch-jemenitischen Krieg auf britischen Druck 1934 im Vertrag von Taif 98

Abu-DawoodiKaran, 44; Boustani/Fargues, 25; Oehlrich, VRÜ I (1968), 438;

Tibi, BzK 1990, 8.

99 Abu-DawoodiKaran, 44; Albaharna, 273-277; Keesing 11, 250; Oehlrich, VRÜ I (1968),443; Oppenheim's, 567. 100 Albaharna, 296; Keesing 11, 252f. 101 Albaharna, 206-207; Kelly, 23; Ploetz, 1951; Oehlrich, VRÜ 1 (1968),443; Walker, in: Schofie1d/Schofield, 177. 102 Keesing 11,254; Münch, EPIL 2 (1981),41. 103 Abu-DawoodiKaran, 49. 104 Abu-DawoodiKaran, 48f.; Adawy, 7; Keesing 11, 253f. Vgl. Münch, EPIL 2 (1981),41.

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festgelegtlOs. Jemen verliert dadurch Gebiete, die er traditionell als jemenitisch betrachtet und gibt seinen Anspruch auf diese nicht auf'06. 1995 kommen Jemen und Saudi-Arabien überein, diesen Grenzverlauf durch ein neues Grenzabkommen festzuschreiben 107. Die weitere Grenze Saudi-Arabiens zum Jemen ist nicht bestimme08• In den achtziger Jahren kommt es zu bewaffueten Auseinandersetzungen zwischen Saudi-Arabien und dem damaligen Südjemen, als in einern Gebiet unbestimmter Zugehörigkeit Öl gefunden wird lO9. Im Abkommen von 1995 wird eine gemeinsame Kommission eingesetzt, die die Grenze festlegen und markieren sollllo.

ee) Saudi-Arabien-Qatar Saudi-Arabiens Grenze zu Qatar wird 1965 zwar vertraglich geregelt, aber nicht am Boden markiertili. Der genaue Grenzverlauf ist daher umstritten, ohne daß dies zu größeren Auseinandersetzungen geftlhrt hätte 1l2 • 1992 wird eine Grenzziehungskommission eingesetzt113 •

h) Kuweit Das Scheichturn Kuweit, seit 1899 britisches Protektorat, wird 1961 unabhängig 1l4 . Seine Grenzen mit Saudi-Arabien und dem Irak sind bereits dargestellt worden.

i) Jemen

Der Jemen steht seit 1517 unter osmanischer Herrschaft, bewahrt sich jedoch eine autonome Regierung 1l5 • 1839 besetzt Großbritannien einen Teil des Jemen 105 Abu-DawoodiKaran, 51; Adawy, 5; Boustani/Fargues, 24; Kostiner, in: CohenIKoJinsky, 133; Walker, in: Schofield/Schofield, 174; FAZ vom 7. Juni 1995; FAZ vom 27. Februar 1995. 106 Adawy, 5; FAZ vom 7. Juni 1995; KRWE 1995,40384. 107 FAZ vom 27. Februar 1995; KRWE 1995, 40432f. 108 Adawy, 6,8; Boustani/Fargues, 24-25; Keesing 11, 253. Siehe auch AbuDawoodiKaran, 51. 109 Boustani/Fargues, 25; Keesing II, 253; FAZ vom 27. Februar 1995. 110 FAZ vom 27. Februar 1995; FAZ vom 7. Juni 1995. 111 Abu-DawoodiKaran, 46; Boustani/Fargues, 25; Keesing 11, 253. 112 Ulfkotte, FAZ vom 28. Juni 1995; vgl. auch Albaharna, 263. 113 KRWE 1993,39295. 114 Albaharna, 250; Handbook Gulf, 26, 35. 115 Fochler-Hauke, 162; Freeman-Grenville, 130.

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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als Kronkolonie Aden 1l6 . Beim Zerfall des Osmanischen Reiches wird der Jemen 1918 unabhängig 1l7• Der 1958 erfolgte Anschluß an die Vereinigte Arabische Republik wird 1961 mit den Austritt Syriens aufgehoben 1\8. Großbritannien vereinigt 1959 Aden mit den angerenzenden Scheichtümern, die unter britischem Protektorat stehen, zur "Föderation der Arabischen Emirate des Südens,,1l9. 1962 kommt es zum Bürgerkrieg zwischen den Monarchisten und den Republikanern im Jemen. Dieser hat zwischenzeitlich eine Trennung des Landes in zwei "Staaten" zur Folge 120. 1990 gelingt die Vereinigung Jemens mit der Südarabischen Föderation (inzwischen: Südjemen)121. 1994 kommt es zu Kämpfen zwischen den beiden Landesteilen, woraufhin Südjemen erneut seine Unabhängigkeit erklärt 122 • Diese wird von den arabischen Staaten nicht anerkannt; nach militärischen Auseinandersetzungen gelingt es, den Jemen als einigen Staat zu erhalten 123 •

aa) Jemen-Oman Jemens Grenze zu Saudi-Arabien wurde oben behandelt. Eine weitere Grenze besteht zu Oman. Südjemen macht Ansprüche auf die Dhofar-Region Omans geltend 124. Die noch vom getrennten Jemen begonnenen Grenzgespräche mit Oman filhren 1995 zu einer einvernehmlichen Lösung mit dem geeinten Jemen 12s •

bb) Jemen-Eritrea Mit Eritrea streitet Jemen über die Hanish Islands im Roten Meer. Eritrea erklärt die Inseln 1995 zu seinem Staatsgebiet und besetzt sie 1996 trotz eines

Fochler-Hauke, 162; Goy, AFDI 36 (1990), 252; Khella, 201. Goy, AFDI 36 (1990), 250; Fochler-Hauke, 162. 118 Fochler-Hauke, 166; Ploetz, 1948. 119 Fochler-Hauke, 166. 120 Fochler-Hauke, 173; Keesing 11, 254. 121 Zu den Einzelheiten siehe Dörr, 15lf., der zu dem Schluß kommt, daß es sich um eine Fusion beider Staaten handelt, durch die ein neues Völkerrechtssujekt geschaffen wird. Siehe auch Goy, AFDI 36 (1990),254-261. 122 Peters, 307. FAZ vom 26. Mai 1994. 123 Peters, 307. Vgl. FAZ vom 7. Juni 1995; FAZ vom 26. Mai 1994; KRWE 1995, R 144/145. 124 Keesing 11, 255f.; KRWE 1989,36955 125 FAZ vom 7. Juni 1995. 116

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E. uti possidetis im Nahen Osten

Abkommens mit Jemen, in dem die Lösung des Konflikts durch Schiedsspruch vereinbart ist l26 • k) Oman

Das Sultanat von Oman (früher: Maskat) ist seit dem Freundschaftsvertrag von 1891 britisches Einflußgebiet 127, bis sich Großbritannien 1971 aus der Golfregion zurückziehe 28 • Omans Grenzen mit Saudi-Arabien und Jemen wurden bereits dargestellt. Eine weitere Grenze existiert mit den VAE. Diese wird 1960 mit britischer Hilfe weitgehend bestimmt 129 • Dabei bildet sich keine klare lineare Grenze, sondern es werden diverse miteinander verschränkte Enklaven geschaffen; dies kommt den traditionellen Strukturen des Gebietes entgegen 130. 1977 streitet sich Oman mit den VAE um einen Teil des Emirats Ras alKhaimah. 1979 erfolgt eine gütliche Regelung, die 1981 markiert wird 131.

I) VAE

Die sieben arabischen Emirate von Abu Dhabi, Dubai, Sharjah, Ras alKhaimah, Fujairah, Aiman und Umm al-Quwain, die unter britischem Schutz stehen, schließen sich nach dem Rückzug Großbritanniens von der arabischen Halbinsel 1971 zu einem Staat zusammen 132 • Zur gleichen Zeit besetzt der Iran drei im persischen Golf liegende Inseln, die von den Emiraten aus regiert werden. Trotz Vermittlung durch die UN kommt es bis heute zu keiner Lösung der Territorialfrage; die VAE haben ihren Anspruch auf Rückgabe der Inseln nicht aufgegeben 133. Die Streitigkeiten mit den anderen Grenznachbam Saudi-Arabien und Oman wurden oben beleuchtet.

126 KRWE 1995,40812; KRWE 1996,40891,41213. Vgl. auch FAZ vom 21. August 1996. 127 Oehlrich, VRÜ I (1968), 433; Ploetz, 1950; Reiners, 469. 128 Reiners, 473. 129 Walker, in: Schofield/Schofield, 178-182. 130 Dazu ausführlich Walker, in: Schofield/Schofield, 175-183; Boustani/Fargues, 25. 131 Keesing H, 254f. 132 Keesing H, 242; Walker, in: Schofie1d/Schofield, 182. m Albaharna, 339-348; Keesing H, 242-244. Einen detailreichen geschichtlichen Überblick mit einer Diskussion der vorgebrachten Gebietstitel bietet die Dissertation von Al-Mahmoud. Siehe auch KRWE 1992, 39116; KRWE 1994, R 136,146.

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

201

m) Qatar

Das Scheichturn Qatar, seit 1782 ein Teil Bahreins, wird 1868 von Bahrein abgetrennt und entwickelt sich eigenständig 134 • 1916 schließt es einen Schutzvertrag mit Großbritannien ab 135 • Qatar streitet seit 1938 mit dem Inselstaat Bahrain um die Zugehörigkeit der Hawar-Inseln, die im Küstengewässer von Qatar liegen, von Bahrein jedoch aus Gründen der ÖIllirderung beansprucht werden. 1939 entscheidet der aufgrund von Schutzverträgen 136 filr die Außenpolitik beider Staaten zuständige britische "Political Agent", daß die Inseln Bahrein zufallen sollen, was Qatar nicht akzeptiert 137 • Nach der Unabhängigkeit beider Staaten 1971 kommt es 1986 zu einer kurzen bewaffueten Auseinandersetzung um die Inseln 138 • Eine einvernehmliche Lösung steht noch aus. 1991 ruft Qatar den IGH in dieser Sache an 139. 1994 entscheidet der IGH aufgrund der vorgelegten Dokumente, daß er nur von beiden Parteien und nur mit dem gesamten Grenzstreit befaßt werden dürfe 140. Nachdem dies 1995 geschieht, erklärt sich der IGH filr zuständig 141 ; eine materielle Entscheidung ist noch nicht ergangen 142 • Bahrein verlangt aus historischen Gründen das Gebiet Zubarah von Qatar. Qatar widersetzt sich dem bis heute 143 • Seit 1995 ist der IGH auch mit diesem Streit befaßt l44 . n) Bahrein

Der Iran macht seit 1844 auf historischer Grundlage Ansprüche auf den Inselstaat Bahrein geltend 145 • Großbritannien als Protektionsmacht Bahreins von 1861 bis 1971 unterstützt dessen Anspruch auf Unabhängigkeit. 1970 erkennt Oehlrich, VRÜ 1 (1968), 431. Handbook Gulf, 28; Oehlrich, VRÜ 1 (1968), 444. 136 Oehlrich, VRÜ 1 (1968), 433, 434. 137 Handbook Gulf, 266f.; Keesing 11,229; Ulfkotte, FAZ vom 28. Juni 1995. 138 Keesing 11, 231. 139 Siehe z. B. ICI Reports 1992,237 (Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, Order of 26 lune 1992). 140 Oellers-Frahm, VN 42 (1994), 188. 141 ICJ Reports 1995, 6 (27) (Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, Jurisdiction and Admissibility, ludgment). 142 Zu den Schriftsatzfristen siehe ICI Reports 1995, 83 (85) (Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, Order of28 April 1995). 143 Albaharna, 247-249; Handbook Gulf, 266. 144 ICJ Reports 1995, 6 (23) (Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, lurisdiction and Admissibility, Judgment). 145 Albaharna, 167, 193; Oehlrich, VRÜ I (1968),438,445. 134

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der persische Schah die Unabhängigkeit Bahreins an 146 • Nach dem Umsturz im Iran 1979 wird der Anspruch auf Bahrein wiederbelebt, seitdem jedoch nicht mehr öffentlich geltend gemacht l47 • 0) Die Kurdenfrage

Das über die Türkei, den Iran, Irak, Teile der früheren UdSSR und Syrien 148 verteilte kurdische Volk erhält aufgrund der veränderten Interessenlage der britischen Mandatsmacht nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches den ihm avisierten 149 eigenen Staat nicht zugewiesen und bleibt eine über mehrere Staaten verstreute Minderheit. In der Türkei werden alle Autonomiebestrebungen der kurdischen Bevölkerung zum Teil mit bürgerkriegsähnlichen Methoden erstickt l50 . Im Irak erfreut sich die kurdische Bevölkerung nach der Niederlage Saddam Husseins im zweiten Golfkrieg 1990 einer faktischen Autonomie in einer Schutzzone im Norden des Landes. Diese kann nur aufgrund der militärischen Präsenz der Alliierten bestehen, die jedoch ihrerseits einer Abspaltung des nördlichen Irak mit dem Ziel der Bildung eines eigenen Kurdenstaates die Zustimmung verweigern 151. Im Iran 152 und Syrien sind kurdische Sezessionsbewegungen bislang nicht öffentlich geworden. Die Kurdenproblematik ist der einzige bekanntgewordene Fall eines Sezessionsversuchs einer Minderheit im vorliegend untersuchten Gebiet. Der Nahe Albaharna, 315; Keesing 11, 226-29. Keesing 11, 226-229. 148 Arfa, I; Boustani/Fargues, 35; Da/Vi, in: Boundaries, 131, 140, 143; Lerch, Halbmond, 124. 149 In Sektion III des wegen des Widerstands von Atatürk nicht in Kraft getretenen Vertrags von Sevres war ein kurdischer Staat vorgesehen: "Article 64 If, within one year from the coming into force of the present treaty the Kurdish people within the areas defined in Article 62 shall adhere themselves to the Council of the League of Nations in such a manner as to show that a majority of the population of these areas desire independence from Turkey, and ifthe Council then considers that these people are capable of such independence and recommends that it should be granted to them, Turkey hereby agrees to execute such a recommendation and to renounce all rights and title over these areas .... If and when such renunciation takes place, no objection will be raised by the Principle Allied Powers to the voluntary adhesion to such an independent Kurdish State of the Kurds inhabiting that part of Kurdistan which has hitherto been included in the Mosul Vilayet."; zit. nach Arfa, 229f. Atatürk versprach den kurdischen Führern vor dem Unabhängigkeitskrieg einen eigenen Staat, vgl. Lerch, FAZ vom 15. Februar 1995. 150 Vgl. z. B. Amnesty international, Jahresbericht 1993, 545; Lerch, Halbmond, 226. 151 Aziz, FAZ vom 13. Februar 1995; Gray, BYIL 65 (1994), 160-164; Hottinger, EA 46 (1991), 440, 442; vgl. auch die Erklärung der deutschen Bundesregierung, EA 46 (1991), D 235ff., besonders D 238. 152 Seit dem erfolglosen Aufstand in Mahabad 1945-46, dazu Arfa, 70-102, 106. 146 147

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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Osten ist reich an religiösen, aber auch an ethnischen Minderheiten 153. Doch scheint die in anderen Regionen der Welt verbreitete Tendenz von Minderheiten, Autonomie oder Sezessionen anzustreben, im Nahen Osten keine bedeutende Rolle zu spielen. Häufiger kommt es zu Kriegen um die Vorherrschaft in einem ungeteilten Staat. 2. Rechtliche Wertung Auch im Nahen Osten bietet die Staatenpraxis zur Grenzziehung ein vielschichtiges Bild. a) Grenzen der durchgehend unabhängigen Staaten

Im nah-östlichen Raum ist die Zahl durchgehend unabhängiger Staaten nicht sehr hoch. Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches kann auf eine lange Tradition unabhängiger Staatlichkeit ZUTÜcksehen; Saudi-Arabien besitzt ebenfalls eine Tradition von Unabhängigkeit, die jedoch vor dem Zerfall des Osmanischen Reiches von relativer Bedeutungslosigkeit geprägt ist. Beide Staaten besitzen Grenzen zu Nachbargebieten, die ehemals in der einen oder anderen Form (Protektorat oder Mandat) von europäischen Mächten abhängig waren. Diese Grenzen werden durch völkerrechtliche Vereinbarungen zwischen der Türkei bzw. Saudi-Arabien und der jeweiligen europäischen Macht bestimmt; beide Staaten halten auch nach der Unabhängigkeit der Nachbargebiete an diesen Vereinbarungen fest. Die verschiedenen Grenzstreitigkeiten Saudi-Arabiens resultieren daraus, daß es, ähnlich der Situation in Latein~ amerika, im Süden der arabischen Halbinsel in weiten Gebieten keine verläßliche Grenzziehung gibt, auf die nach der Unabhängigkeit zurückgegriffen werden könnte. Das Fehlen von Grenzen liegt in den geographischen Verhältnissen begründet: In einer Landschaft, die größtenteils aus Wüste besteht, macht erst die modeme Suche nach Bodenschätzen wie Erdöl es nötig, Grenzlinien zu ziehen. Eine Grenzmarkierung zur Abteilung von Bevölkerungsgruppen oder von Einflußgebieten ist in Wüsten sonst unnötig, da ein Aufeinanderprallen von gegensätzlichen Interessen in solch lebensfeindlichen Landstrichen unwahrscheinlich ist. So müssen in diesen Territorien die Grenzen erforderlichenfalls einvernehmlich ausgehandelt werden. Daß dafUr auch heute nicht überall Bedarf besteht, wird an den südlichen Grenzen Saudi-Arabiens deutlich, die in weiten Teilen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine genau nachvollziehbare Festlegung erfahren haben.

153 Vgl. dazu ausfiihrlich Wolfgang Günter Lerch, HaIb~ond, Kreuz und Davidstern. Nationalitäten und Religionen im Nahen und Mittleren Osten, 1992.

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E. uti possidetis im Nahen Osten

Die die bestehenden Grenzverträge respektierende Praxis der Türkei und Saudi-Arabiens deutet darauf hin, daß beide Staaten den völkergewohnheitsrechtlichen Kontinuitätsgrundsatz filr Grenzverträge als bindendes Recht filr sich und die auf den ehemals abhängigen Gebieten entstandenen Staaten ansehen. Dem Verhalten beider Staaten sind keine Anzeichen dahingehend zu entnehmen, daß ihr Festhalten an den Grenzverträgen aus bloßer Gefälligkeit entspringt. Ein Anzeichen dafilr, daß die Verträge als bindend angesehen werden, ist, daß die Türkei Ansprüche Syriens auf Alexandrette, das Frankreich an die Türkei abgab, unter Hinweis auf die Regelung mit Frankreich konstant zurückweist. Auch Saudi-Arabien geht bei den Verhandlungen nach der Unabhängigkeit lordaniens über Veränderungen im Grenzverlauf der bisherigen Grenzlinie als der Verhandlungsgrundlage aus. Ebenso verhandelt es mit Kuweit und Irak nach deren Unabhängigkeit nur über die Teilung der jeweiligen neutralen Zone zwischen den beiden Ländern, ohne den übrigen Grenzverlauf in Frage zu stellen. Daß beide Staaten die mit den europäischen Mächten ausgehandelten Grenzen nicht angreifen, anders als dies bei einigen durchgehend unabhängigen asiatischen Staaten der Fall ist, läßt sich wohl dadurch erklären, daß es der Türkei und Saudi-Arabien bei den Grenzverhandlungen gelingt, ihre eigenen Interessen zu wahren. So entsteht bei ihnen nicht der Eindruck, daß die Außengrenzen ihnen von den europäischen Mächten aufgezwungen wurden. Daher ftlhlen sie sich nicht veraniaßt, nach Gründen filr die angebliche Ungültigkeit der Verträge zu suchen.

b) Grenzen der ehemals abhängigen Gebiete Im Nahen Osten ist, ebenso wie in Asien, hinsichtlich der Staaten, die in einem Abhängigkeitsverhältnis als Mandatsgebiet oder Protektorat standen, zu unterscheiden: Es bestehen Grenzen, die innerhalb des Herrschaftsgebiets nur einer europäischen Macht gezogen werden, sowie Grenzen zwischen den Einflußgebieten der beiden europäischen Mächte im Nahen Osten, i.e. Frankreich und Großbritannien.

aa) Grenzen zwischen den Gebieten Großbritanniens und Frankreichs sowie Grenzen zu den durchgehend unabhängigen Staaten Die ehemals abhängigen Gebiete des Nahen Ostens halten weitgehend an der Grenzziehung mit den durchgehend unabhängigen Staaten fest und folgen damit dem völkergewohnheitsrechtlichen Kontinuitätsgrundsatz. Die Grenzstreitigkeiten der Golf-ScheichtUmer mit Saudi-Arabien stellen wegen der oben ausgeftlhrten Sondersituation auf der südlichen arabischen Halbinsel keine Abweichung von dieser Position dar, da hier keine zu beachtenden Grenzverträge exi-

III. Grenzziehung nach Ende der Fremdherrschaft

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stieren. Auch der Streit der VAE mit dem Iran über die Zugehörigkeit von Inseln im Persischen Golf beruht darauf, daß zur Mandats- bzw. Protektoratszeit über diese keine Regelung getroffen wurde. Zunächst problematisch in diesem Zusammenhang erscheinen der Anspruch Irans auf Bahrein und der Syriens auf die türkische Provinz Hatay (Alexandrette). Zwar haben diese Ansprüche zu keiner Veränderung in den Grenzverläufen gefilhrt. Es mag jedoch zu bezweifeln sein, ob dieses Weiterbestehen des status quo der Grenzen auf einer Rechtsüberzeugung beruht, daß Grenzverträge von und mit den Rechtsnachfolgern des ursprünglichen Vertragspartners weiterzufiIhren sind, wenn gleichzeitig verbal Veränderungen der Grenzen gefordert werden. Angesichts der Tatsache, daß weder Syrien noch Iran Anstrengungen unternommen haben, den postulierten Anspruch auf das Gebiet durchzusetzen, wird man wohl darauf schließen können, daß auch diese Staaten die bestehenden Grenzen akzeptieren und sich (wenn auch u. U. widerwillig) den bestehenden Verhältnissen beugen. An den durch völkerrechtliche Verträge zwischen den Mandatsmächten bestimmten Grenzen zwischen den Mandatsgebieten Frankreichs und Großbritanniens halten die unabhängig gewordenen Staaten ebenfalls weitgehend fest. Die Grenze zwischen Syrien und Jordanien folgt der anglo-französischen Bestimmung. Auch die Grenze zwischen Israel und Libanon steht nicht im Streit, da Israel mit der von ihm beanspruchten Sicherheitszone im Süden Libanons keine Territorialansprüche verbindet. Ein Sonderfall besteht in der Grenzlinie zwischen Israel und Syrien. Aufgrund der verschiedenen Nah-Ost-Kriege weicht der augenblickliche Grenzverlauf erheblich von der früher bestehenden Grenze zwischen dem französischen Mandatsgebiet Syrien und dem britischen Mandatsgebiet Palästina ab. Darin wird man jedoch keine Leugnung der Geltung des Kontinuitätsgrundsatzes durch Syrien oder Israel sehen können. Die Sondersituation des Mandatsgebiets Palästina filhrt dazu, daß dieses Gebiet nicht mit bestimmt gezogenen Grenzen in die Unabhängigkeit entlassen wird. Die endgültige Grenzziehung zwischen dem zu gründenden Staat Israel, dem geplanten arabischen Staat Palästina und den arabischen Nachbarstaaten ist noch nicht erfolgt, als die arabischisraelischen Feindseligkeiten im Augenblick der Ausrufung des Staates Israel ihren Anfang nahmen. Daß im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen auch Grenzen verschoben werden, deren Bestand als einigermaßen gesichert gelten konnte (so die syrische Zugehörigkeit der Golan-Höhen und angrenzender Territorien aufgrund einer französisch-britischen Vereinbarung), ist zwar unter dem Annexionsverbot des modernen Völkerrechts nicht hinnehmbar. Es spiegelt jedoch frühere Rechtszustände wider, die dem militärisch Siegreichen gestatteten, seine Grenzen nach dem status quo post bellum zu ziehen JS4 • Eine Lösung des Nah-Ost-Konflikts auf der Grundlage der (fragmentarischen) 154

Dazu oben Abschnitt (A.) Punkt IV. 2.

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Grenzziehung vor seinem Ausbruch erscheint angesichts der inzwischen vergangenen Zeit und Ereignisse unwahrscheinlich. Es wird hier wohl notwendig sein, eine Kompromißlösung auszuarbeiteniss. bb) Grenzen zwischen Gebieten einer europäischen Macht Im französischen Einflußgebiet besteht eine IBinnengrenze" IS6 nur zwischen Syrien und Libanon. Beide Staaten halten an dieser fest; die vor der Unabhängigkeit bestehenden und zu gegenseitigen Gebietsansprüchen fiihrenden Konzepte von Groß-Syrien oder Groß-Libanon sind aufgegeben. Die Staaten, die aus dem ehemals britischen Einflußgebiet hervorgehen, respektieren die durch Großbritannien als Mandats- oder Protektoratsmacht gezogenen administrativen Grenzen ebenfalls weitgehend als internationale Grenzen. So steht die Grenze zwischen Irak und Jordanien, die auf die Einflußnahme Großbritanniens zurückgeht, nicht im Streit. Ebenso bestehen die Grenzen zwischen Oman und den VAE, die mit britischer Hilfe bestimmt werden, weiter. Ein Grenzstreit aus dem Jahre 1977 läßt sich mit den Problemen der Grenzziehung in Wüstengebieten erklären. Auch der Streit Südjemens mit Oman über die Dhofar-Region beruht auf einer fehlenden genauen Festlegung des Grenzverlaufs durch die britische Schutzmacht. Zwischen Israel und Jordanien wird die Grenzziehung im Laufe des NahOst-Konflikts mehrfach verändert. Dies beruht ebenso wie im Grenzkonflikt Israels mit Syrien auf der besonderen Situation des Mandatsgebiets Palästina, so daß auf diesen Fall keine Annahme der grundlegenden Ablehnung der administrativen Grenzziehung durch beide Staaten gestützt werden kann lS7 • Israels Grenze mit Ägypten ist ebenfalls im Verlaufe des Nah-Ost-Konflikts mehreren Veränderungen unterworfen. Im Separatfrieden Ägyptens mit Israel wird jedoch zur Grenzziehung vor Ausbruch der Feindseligkeiten zurückgekehrt. Der Streit um die Grenze bei Taba auf dem Sinai, der nach dem Friedensschluß weiter besteht, wird vom Schiedsgericht unter Rückgriff auf einen ägyptisch-osmanischen Vertrag von 1906 158 beigelegt. Beachtenswert ist hier, daß das Schiedsgericht mehrheitlich auf die physische Markierung der Grenze nach dem Vertrag abstellt, die von der Regelung des Vertrags abweicht, während ISS Vgl. dazu MallisoniMallison, 409, die aus dem Wortlaut der UN-Sicherheitsratsresolution 242 im Jahre 1967 (Aufforderung an Israel, sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzuziehen) schließen, daß der Sicherheitsrat den vor 1967 bestehenden Grenzen Israels implizit rechtliche Anerkennung zukommen läßt, obwohl diese Grenzen weit jenseits der in der Teilungsresolution von 1948 bestimmten Linien verlaufen. IS6 D. h. eine Grenze innerhalb des Herrschaftsgebiets einer europäischen Macht. IS7 Dazu bereits die vorhergehende Seite. IS8 1906 ist Ägypten britisches Protektorat, so daß auch dieser Vertrag unter britischer Federführung zustande gekommen sein dürfte.

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sich die Meinung der Minderheit der Schiedsrichter, es müsse dem Vertragstext aufgrund des Grundsatzes des uti possidetis iuris gefolgt werden, nicht durchsetzen kann ls9 . Der Konflikt Iraks mit Kuweit erscheint zunächst als ein Beispiel für die Ablehnung der administrativen Grenzziehung durch Großbritannien. Besonders in der versuchten Annexion Kuweits durch den Irak 1990 ist auf den ersten Blick eine Leugnung der Verbindlichkeit der ehemaligen administrativen Grenze zu erkennen. Dieser Deutung muß jedoch entgegengehalten werden, daß der Irak 1963 (zwei Jahre nach der Unabhängigkeit Kuweits) Kuweit als souverän anerkennt und damit die Grenzziehung grundsätzlich akzeptiert. Danach kommt es lange Jahre nicht zu Auseinandersetzungen. Es ist wohl davon auszugehen, daß in der Wiederbelebung des irakischen Anspruchs knapp dreißig Jahre später nicht ein Anzeichen fiir eine durchgehend ablehnende Haltung des Iraks gegenüber der Grenzziehung zu sehen ist. Vielmehr scheint es sich um einen Vorwand zu handeln, um die Bevölkerung nach dem verlorenen Krieg gegen den Iran durch eine Eroberung erneut hinter dem Regime zu einen; damit beruht der Angriff auf Kuweit wohl vorwiegend auf politischen, nicht auf rechtlichen Überlegungen. Eine deutliche Ablehnung der administrativen Grenzen ist allerdings im Streit Qatars mit Bahrein sichtbar. Qatar weigert sich, die britische Entscheidung über die Zugehörigkeit der Hawar-Inseln zu Bahrein anzuerkennen und versucht zunächst, seinen Anspruch per Waffengewalt durchzusetzen. Hier ist nun der IGH zur Streitregelung angerufen, so daß nicht absehbar ist, ob Qatar seine Einstellung nach einer etwaigen Bahrein begünstigenden Entscheidung des IGH ändern wird. Es läßt sich also (mit Ausnahme Qatars) eine Staatenpraxis im Nahen Osten feststellen, daß die durch die Mandats- oder Protektoratsmacht gezogenen administrativen Grenzen als internationale Grenzen der auf diesen Gebieten entstandenen Staaten anerkannt werden. Problematisch bleibt der Nachweis, ob diese Praxis von der Rechtsüberzeugung der beteiligten Staaten getragen wird, daß eine solche Beibehaltung der administrativen Grenzen rechtlich geboten ist. Dokumentierte gemeinsame Äußerungen der Staaten des Nahen Ostens im Rahmen internationaler oder regionaler Konferenzen oder Organisationen zu Grenzfragen sind nicht ersichtlich. Die Arabische Liga, 1945 geschaffen, dient zwar als Katalysator und Schlichter fiir eine Reihe von Grenzstreitigkeiten l60 , hat sich dabei aber anders als die Organisation fiir afrikanische Einheit nicht ausdrücklich auf die Unverletzlichkeit der übernommenen Grenzen festgelegt. Eine solche Deklaration würde dem Ziel der Gründer der Liga, ein vereintes 159 Lapidoth, EPIL 12 (1990), 366. Zur Betrachtung dieses Falles hinsichtlich der Bedeutung von Karten für Grenzstreitigkeiten im Völkerrecht siehe Gielen, 86-91. 160 Keesing 11, 195; vgl. ausfilhrlich Zamzami, 459-526. Ebenso Ofosu-Amaah, ZaöRV 47 (1987), 91f.

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E. uti possidetis im Nahen Osten

Arabien möglich zu machen l61 , nicht widersprechen, da da Prinzip der Unverletzlichkeit der administrativen Grenzen in seiner Form als uti possidetis im engeren Sinne ein einvernehmliches Ändern der Grenzen nicht verbietet. Fragen der territorialen Integrität werden jedoch ausdrücklich von der Streitschlichtungskompetenz des Rats der Arabischen Liga ausgenommen l62 • Daher bleibt man zur Bestimmung der opinio iuris auf die Untersuchung der Staatenpraxis verwiesen. Da keine ArIzeichen dafilr erkennbar sind, daß an den früheren administrativen Grenzen aus courtoisie festgehalten wird, dient die Staatenpraxis als Indiz rur eine zugrundeliegende Rechtsüberzeugung. Die Aufgabe der gegenseitigen Gebietsansprüche durch Syrien und Libanon nach der Unabhängigkeit zeigt deutlich, daß die administrative Grenze zwischen beiden Staaten als rechtlich bindend anerkannt wird. Der Rückgriff auf einen alten Vertrag von 1906 durch Israel und Ägypten zeigt, daß den Akten der Mandats- und Protektoratsmacht Großbritannien rechtliche Bedeutung beigemessen wird. Zwar handelt es sich hier nicht um eine "typische" administrative Grenze, da ihr ein Vertrag zugrunde liegt. Doch hat Großbritannien an der in diesem Vertrag getroffenen Regelung auch nach dem Wegfall der Herrschaft des Osmanischen Reiches in Palästina und nach der Übernahme der Mandatsherrschaft über Palästina festgehalten, so daß die Regelung zumindest administrativ bestätigt wurde. Ebenso spricht das lange Schweigen des Iraks zu seinen früheren Gebietsansprüchen gegenüber Kuweit dafilr, daß die administrative Grenze anerkannt wurde, da es an Gelegenheiten, diese militärisch geltend zu machen, auch vor 1990 nicht gemangelt haben dürfte. Als ein weiteres allgemeines Anzeichen darur, daß die Grenzziehung durch die europäischen Mächte als verbindlich angesehen wird, mag man die Tatsache ansehen, daß den Kurden von allen Staaten, in denen sie sich befmden, die Bildung eines Kurdenstaates verwehrt wird. Zwar betriffi: die Kurdenproblematik nicht die administrativen Grenzen, doch ist diesem Beispiel wohl die generelle Auffassung zu entnehmen, daß die europäischen Mächte durchaus die endgültige Regelungsbefugnis hinsichtlich der Grenzverläufe im Nahen Osten besaßen, was die internen Grenzen fast zwangsläufig mit einschließt. Es ist also davon auszugehen, daß das Festhalten an den administrativen Grenzen einer Mandats- oder Protektoratsmacht durch die auf diesem Gebiet unabhängig werdenden Staaten von einer entsprechenden opinio iuris getragen wird.

Zamzami, 384f. Art. 5 des Paktes bestimmt: "It is forbidden to have recourse to force in order to settle conflicts which may arise among Member States of the League. Should a dispute arise between two such States, in no way concerning the independence, the sovereignty or the territorial integrity of these States, and if the parties to the conflict request the Council ofthe League to settle the dispute, the Council's decision shall be binding." Zitiert nach Ofosu-Amaah, ZaöRV 47 (1987), 91. Ofosu-Amaah bezeichnet diese Ausschlußklausel als effektives Hindernis tUr die Jurisdiktion des Rats (S. 91). 161

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IV. Ergebnis: uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen

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IV. Ergebnis: uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen Die Auswertung der Praxis der Staaten im Nahen Osten hinsichtlich des Umgangs mit ihren Grenzen nach der Erlangung der Unabhängigkeit zeigt, daß auch hier beide Elemente des uti possidetis, der völkergewohnheitsrechtliche Kontinuitätsgrundsatz und das uti possidetis im engeren Sinn, das Festhalten an von einer fremden Macht gezogenen administrativen Grenzen, nachzuweisen sind. Der Kontinuitätsgrundsatz hat im Nahen Osten deshalb nicht unerheblich Bedeutung, da sich zum einen das britische Einflußgebiet um das unabhängige Saudi-Arabien (sowie teilweise um die Türkei) legt, zum anderen das französische Einflußgebiet als Block von dem britischen abzugrenzen ist, wodurch eine Reihe von völkervertragsrechtlich zu bestimmenden Grenzen entsteht. Auf den universell-völkergewohnheitsrechtlichen Kontinuitätsgrundsatz ist bereits in den vorangehenden Abschnitten ausfilhrlich eingegangen worden, so daß sich die weiteren Ausftlhrungen hier auf das uti possidetis im engeren Sinn beschränken können. Von Interesse ist, daß auch im Nahen Osten der Gedanke des uti possidetis im engeren Sinn nachzuweisen ist. Zwar wird er, wie in Asien, in der Grenzre-

gelungspraxis nicht mit dem Schlagwort des uti possidetis belegt oder ausdrücklich als Rechtssatz formuliert. Dennoch ist nachweisbar, daß die Staaten des Nahen Ostens, die ihre Unabhängigkeit erst nach einer Phase der Mandatsoder Protektoratsherrschaft erlangen, mit der Ausnahme von Qatar an den administrativen Grenzen, die von einer solchen "fremden" Macht gezogen wurden, festhalten, und daß dieses Festhalten von einer entsprechenden opinio iuris getragen wird. Damit sind auch hier die Elemente filr die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht vorhanden. Um den Nachweis zu filhren, daß es sich um eine Ausprägung des dekolonialen uti possidetis im engeren Sinne handelt, ist zu prüfen, ob sich die Staatenpraxis und opinio iuris im Nahen Osten auf einen faktischen Hintergrund zurückfilhren lassen, der mit dem Hintergrund des dekolonialen uti possidetis vergleichbar ist l63 • Das dekoloniale uti possidetis im engeren Sinn beruht auf der Existenz von Territorialnationen. Im Nahen Osten ist unter der Gruppe der unter Mandatsoder Protektoratsherrschaft stehenden Staaten eine ensprechende Situation zu erkennen. Die Neustaaten des Nahen Ostens besitzen zum größten Teil eine religiös oder ethnisch uneinheitliche Bevölkerung. Dabei sind religiöse Unterschiede von besonderer Bedeutung; die wechselhafte Geschichte dieses Gebiets bis zur Eroberung durch das Osmanische Reich hat dazu gefilhrt, daß eine Vielzahl verschiedener religiöser Gruppierungen eng nebeneinander leben. Das Osmani-

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Siehe zu diesen Überlegungen bereits oben Abschnitt (D.) Punkt IV.

14 Simm1er

210

E. uti possidetis im Nahen Osten

sche Reich geht gegen diese regionale Strukturen nicht vor, sondern berücksichtigt die Eigenheiten der Völker und religiösen Gemeinschaften im MilletSystem 164. Durch dieses System werden die Unterschiede der einzelnen Gruppen betont, so daß sich kein Gefühl von Zusammengehörigkeit (das sich etwa gegen die Osmanenherrschaft hätte richten können) zwischen ihnen entwickelt. Ein Beispiel filr die religiöse Zersplitterung ist Libanon, der lange Zeit von Bürgerkriegen zwischen den verschiedenen religiös geprägten Gruppierungen geschüttelt wurde. Auch Syrien besitzt eine größere Anzahl verschiedener religiöser Gemeinschaften in seinen Grenzen; dazu kommen ethnische Differenzen mit dem kurdischen Bevölkerungsteil. Die relative Stabilität Syriens beruht dabei nicht auf einem Nationalgefühl der Bevölkerung, sondern auf der harten Hand des regierenden Präsidenten Assad. Israel ist ein weiteres Beispiel filr ethnische und religiöse Zerrissenheit. Auch der Irak vereint verschiedene Ethnien und religiöse Bekenntnisse auf seinem Staatsgebiet, ebenso wie Bahrein. Jemen, Oman und die VAE vereinen auf ihrem Territorium Gruppen, die sich traditionell als abgeschlossene Scheichtümer oder Stammesgesellschaften verstehen, denen ein übergreifendes Staatsverständnis daher aus historischen, teils auch aus ethnischen Gründen fehlt. Jordanien fehlt die politische Einheitlichkeit durch die vielen palästinensischen Flüchtlinge, die das Königreich seit Beginn des Nah-Ost-Konflikts in seinen Grenzen beherbergt. Kuweit dagegen verdankt seine Existenz als Staat der Tatsache, daß es als britisches Protektorat aus dem Osmanischen Reich herausgelöst wurde. Ohne das britische Eingreifen wäre Kuweit wohl kaum zu einem unabhängigen Staat geworden. Qatar dagegen ist ein kleines, einheitliches Scheichtum, das vor dem Abschluß des Protektoratsvertags mit Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhundert eine Form von Unabhängigkeit genießt. Mit dieser Ausgangslange, die eher einem Nationalstaat vergleichbar ist, ist wahrscheinlich auch zu erklären, daß Qatar sich den britischen Entscheidungen über seinen Grenzverlauf gegenüber Bahrein nicht beugen will. Mit Ausnahme von Qatar sind die nah-östlichen Neustaaten also als Territorialnationen zu verstehen. Als solche ist es wegen der fehlenden sonstigen Möglichkeiten zur Identitätsfmdung der Bevölkerung filr sie notwendig, an den vom Mandats- oder Protektoratsherrn gezogenen administrativen Grenzen festzuhalten. Damit befinden sich die Neustaaten des Nahen Ostens in ihrer überwiegenden Anzahl in der gleichen Ausgangssituation wie die afrikanischen Neustaaten und die oben ausgemachte kleine Gruppe asiatischer Neustaaten. Der Satz des uti possidetis im engeren Sinn kann daher von seiner engen Bindung allein an die Dekolonisierungssituation gelöst und auf andere Formen von Fremdherrschaft erweitert werden. Das partikulär-völkergewohnheitsrechtliche uti possi-

164

Vgl. dazu Lerch, Halbmond, 42-53.

IV. Ergebnis: uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen

211

detis im engeren Sinn fmdet somit auf Situationen Anwendung, in denen auf zusammenhängenden Gebieten, die einer fremden Herrschaft 16S unterstehen, mehrere Einheiten als Territorialnationen ihre Unabhängigkeit erlangen. Inhalt dieses Rechtssatzes ist, daß die zwischen den Einheiten von der ortsfremden ehemaligen Herrschaftsmacht gezogenen administrativen Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit zu den internationalen Grenzen der neu entstehenden Staaten werden.

Es ist zu überlegen, ob der Gedanke des uti possidetis im engeren Sinn auch auf Situationen Anwendung fmdet, in denen der Unabhängigkeit keine ortsfremde Fremdherrschaft vorausging, sondern eine von der Bevölkerung der entsprechenden Gebiete (u. U. aus politischen oder historischen Gründen) nur als "fremd" empfundene Herrschaft. Dem wird im folgenden hinsichtlich der neueren Entwicklungen in Europa nachgegangen.

16S Die als Kolonialherrschaft, Mandats- oder Protektoratsherrschaft eines ortsfremden Staates ausgestaltet sein kann.

14'

"Und so wurde Wirklichkeit, was nach Titos Tod 1980 wegen der Zerstrittenheit der jugoslawischen Völker als politischer Witz Nummer eins erzählt wurde: Frage: Wieviele Staaten wird es im Jahre 2000 in Europa geben? Antwort: Zehn. Ein vereinigtes Westeuropa, ein vereinigtes Osteuropa ... und achtmal Jugoslawien!"l

F. uti possidetis in Europa Die europäischen Staaten, von denen viele verantwortlich filr die Grenzziehung und die daraus resultierenden Grenzstreitigkeiten auf den meisten Kontinenten der Welt sind2 , werden Ende der achtziger Jahre jäh aus der trügerischen Gewißheit gerissen, die Frage der europäischen Grenzen dauerhaft gelöst zu haben. Europa wird hier als die asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken einschließend verstanden.

I. Grenzen in Europa bis 1989 Die Grenzen der europäischen Staaten werden im 20. Jahrhundert zunächst durch die einschneidenden Veränderungen infolge des Ersten und Zweiten Weltkriegs bestimmt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs werden 1918 Grenzverschiebungen zugunsten der Siegermächte vorgenommen, weitgehend ohne auf ethnische Kriterien und die WUnsche der jeweiligen Bewohner der Gebiete Rücksicht zu nehmen3 • Diese Vorgehensweise schafft zum Teil Krisenherde und Problemlagen, die - zusammen mit den anderen auf der Pariser Friedenskonferenz nicht gelösten Problemen4 - später nicht unerheblichen Einfluß auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges habens (z. B. der Zuschlag der sudetendeutschen Gebiete an die damalige Tschechoslowakei) oder noch heute filr Unruhe sorgen (z. B. die Angliederung Südtirols an ltalien)6. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bringt erneute massive Grenzveränderungen mit sich. So verliert u. a. Deutschland einen Teil seines Territoriums an I Aus Thomas Brey, "Trümmer, Chaos und kein Ende ... ", üsteuropa 43 (1993), 139 (144). 2 Vgl. die Zahlen in Sorel/Mehdi, AFDI 40 (1994), 23 Fn. 80. 3 Siehe dazu die Hinweise in Abschnitt (C.), Fn. 213; weiterhin Connelly, Thesaurus Acroasium XIV, 553; Szaz, in: GintherlIsak, 16; Veiter, in: GintherlIsak, 114. 4 Dazu Ziegler, 240. 5 Die auf Krieg ausgerichtete Politik HitIers darf dabei selbstverständlich nicht unbeachtet bleiben, Ziegler, 2421243. 6 Szaz, in: Ginther/Isak, 16; Veiter, in: Ginther/Isak, 114.

I. Grenzen in Europa bis 1989

213

Polen, das im Gegenzug Gebiete an die UdSSR abtreten muß 7 • Jugoslawien eint sich erneut, diesmal unter der kommunistischen Führung Titos, und der gesamte sog. "Ostblock" gerät unter sowjetische Vorherrschaft8 • Durch die bald einsetzende Entfremdung zwischen den Westalliierten des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetunion tritt in Europa der Stillstand des status quo ein. Der Kalte Krieg läßt in den osteuropäischen Staaten keinen Raum für Unabhängigkeitsbestrebungen; die Großmächte haben die bestehende Lage akzeptiert9 • Festgeschrieben wird der status quo 1975 durch die Schlußakte von Helsinki der KSZE IO, die von allen europäischen Staaten außer Albanien sowie von den USA und Kanada unterzeichnet wird ll : "III. Unverletzlichkeit der Grenzen Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben. Dementsprechend werden sie sich auch jeglicher Forderung oder Handlung enthalten, sich eines Teiles oder des gesamten Territoriums irgendeines Teilnehmerstaates zu bemächtigen."12

Europa ist zwar die Geburtsstätte der Nationalstaatsidee 13, dennoch sind die wenigsten europäischen Staaten ethnisch/national homogen. In fast allen europäischen Staaten finden sich mehr oder weniger große Minderheiten 14, auch in Staaten, die sich lange Jahre weigern, diese Tatsache anzuerkennen ls . In der Ziegler, 265. Keesing 11, 1-2. 9 HoedtlLefeber, in: Changing Structure, 11; Minghi, in: Grundy-Warr, 89; Schweisfurth, in: Schweisfurth/Oellers-Frahm, XIII. 10 Konferenz rur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; heute: OSZE (Organisation rur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Dabei ist unerheblich, daß es sich bei der Schlußakte wohl zunächst um eine politische, nicht dagegen um eine rechtlich verbindliche Erklärung handelt, da auch eine politische Erklärung einen entsprechenden Willen der Staaten wiedergibt. 11 Keesing 11, 1. 12 Zit. nach SchweisfurthiOellers-Frahm, 8. IJ Connelly, Thesaurus Acroasium XIV, 551; SorellMehdi, AFDI 40 (1994), 36; Stölting, in: Lottes, 267. Zur historischen Entwicklung siehe Grewe, 569f. 14 Hierbei ist Minderheiten im Sinne von historisch gewachsenen Ethnien zu verstehen. Die durch Einwanderung (z. B. "Gastarbeiter") entstandenen Minderheiten werfen hinsichtlich ihres Schutzes andere Probleme auf als "alteingesessene" Minderheiten und werden im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt. 15 Siehe z. B. noch die Entscheidung des französischen Conseil Constitutionnel vom 9. Mai 1991 zum "Loi portant statut de la collectivite territoriale de Corse", RDIP 95 (1991), 797: "Considerant que la France est, ainsi que le proclame I'article 2 de la Constitution de 1958, une Republique indivisible, laique, democratique et sociale qui assure I'egalite devant la loi de tous les citoyens quelle soit leur origine; que des lors la mention faite par le legislateur du 'peuple corse', composante du peuple francais' est contraire a la Constitution, laquelle ne connait que le peuple francais, compose de tous les citoyens francais sans distinction d'origine, de race ou de religion; ... " Vgl. auch die anfiingliche 7

8

214

F. uti possidetis in Europa

Zeit des Kalten Krieges bilden sich in einigen westeuropäischen Staaten Organisationen, die zum Teil mit gewaltsamen Mitteln die Abspaltung von Minderheiten aus ihren jeweiligen Staaten betreiben. So existieren als terroristisch eingestufte "Befreiungsbewegungen" im Baskenland l6 und in Korsika I7 , mit etwas anders geprägtem Hintergrund auch in Nordirland 18 • In Südtirol treten entsprechende Gruppierungen in den sechziger Jahren auf. Jedoch können diese Gruppen nicht auf einen mehrheitlichen Rückhalt in der vorgeblich von ihnen vertretenen Bevölkerung rechnen l9 und werden zu keiner echten Gefahr ftIr den Bestand der bisherigen Staatsgrenzen. Gelegentlich treten auch Angehörige von Minderheiten mit nicht von Gewalttätigkeiten begleiteten Sezessionsansprüchen an die Öffentlichkeit (so einige schottische20 und bretonische Organisationen21 ). Hier handelt es sich meist nicht um einen ernstgemeinten Sezessionswunsch; der Anspruch wird als Fanal eingesetzt, um bestimmte Minderheitenrechte oder mehr regionale Autonomie einzufordern 22 • Die betroffenen Staaten zeigen sich in den meisten Fällen23 nach langem Zögern bereit, durch eine Einräumung von Autonomiestatuten den Forderungen der Ethnien nach Schutz ihrer "distinct quality" nachzukommen 24 • Durch ein solches Entgegenkommen verlieren die wenigen auf Sezession setzenden Organisationen an Rückhalt in der Bevölkerung2s • Aufgrund dieses recht gefestigten Zustands besteht bei den europäischen Staaten in dieser Zeit kein Bedarf oder keine Möglichkeit, über die Regelung von Grenzfragen nachzudenken.

Haltung Italiens gegenüber Südtirol, die vom Unwillen zeugte, das die deutsche Minderheit schützende Gruber-de Gaspari-Übereinkommen umzusetzen; dazu Schindler, EPIL 12 (1990), 348ff. 16 Dazu Grugel, in: Watson, 100. 17 Dazu von Münchhausen, FAZ vom 19. März 1996; Savigear, in: Watson, 93. 18 Boyce, in: Watson, 40; Murphy, in: Watson, 62. 19 Boyce, in: Watson, 41; Savigear, in: Watson, 93; Wiegel, FAZ vom 10. Januar 1996. 20 Die Scottish National Party, Keating, in: Watson, 188. 21 Die Union Democratique Bretonne, Rogers, in: Watson, 74. 22 So auch Keating, in: Watson, 185-199; Rogers, in: Watson, 76. 23 D. h. besonders in den Fällen, in denen ein großer Teil der betroffenen Ethnie die Selbstbestimmungsbewegung unterstützt, wie z. B. in Katalanien oder auf Korsika. 24 Keating, in: Watson, 191; Watson, in: Watson, 203-204. 25 Watson, in: Watson, 206; Wiegel, FAZ vom 10. Januar 1996.

11. Situation seit 1989

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ß. Situation seit 1989 1. Einleitung

Dies ändert sich erst mit dem Systemumsturz im Ostblock, der durch die Glasnost- und Perestroika-Politik von Michail Gorbachev seit 1985 eingeleitet wird. Auf den Zusammenbruch des Sozialismus folgt der Zusammenbruch der unter dieser Ideologie entstandenen 26 multi-ethnischen iliderativen Staaten wie Jugoslawien, die UdSSR und die Tschechoslowakei. Damit muß das filr Europa zwischenzeitlich als abgeschlossen betrachtete Kapitel der Grenzziehung wieder aufgeschlagen werden, um die Grenzen zwischen den durch den Zerfall neu entstandenen Staaten zu bestimmen. Die Wiedervereinigung Deutschlands birgt in diesem Zusammenhang keine Probleme, da durch sie keine neuen internationalen Grenzen entstehen, sondern nur die Grenze zwischen den zwei deutschen Staaten verschwinder7 .

2. Besonderheiten der Situation in Europa Der bisherige Verlauf der Untersuchung zeigt, daß die Idee des uti possidetis im engeren Sinn denklogisch mit Akten einer übergeordneten Macht verbunden ist. Das Festhalten an interner Grenzziehung nach der Unabhängigkeit setzt voraus, daß eine Instanz existiert, die eine administrative Grenzziehung vornimmt. In den vorangehend untersuchten Fällen handelt es sich dabei um eine ortsfrem-

26 Im Sozialismus sollte der Kommunismus den Nationalismus überwinden und einen "neuen" Menschen schaffen; vg!. Lenin, zit. nach Meissner, SBR, 25 I (Nr. 290): "Marxismus ist mit Nationalismus unvereinbar, mag dieser auch noch so 'gerecht', 'sauber', fein und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle eines jeglichen Nationalismus den Internationalismus, den Zusammenschluß aller Nationen zu höchstmöglicher Einheit ... Das Proletariat kann keine Stärkung des Nationalismus unterstützen - im Gegenteil, es unterstützt alles, was der Beseitigung nationaler Unterschiede und der Aufhebung nationaler Scheidewände dient, alles, was die Verbindung zwischen den Nationalitäten noch enger macht, alles, was zur Verschmelzung der Nationen filhrt .... ". 27 Dies wird im Treaty on the Final Settlement with respect to Germany vom 12. September 1990 ausdrücklich bestätigt: "Article I (I) The united Germany shall comprise the territory of the Federal Republic of Germany, the German Democratic Republic and the whole of Berlin. Its external borders shall be the borders of the Federal Republic of Germany and the German Democratic Republic and shall be definitive from the date on which the present Treaty comes into force. The confirmation of the definitive nature of the borders of the united Germany is an essential element of the peaceful order in Europe. (2) The united Germany and the Republic ofPoland shall confirm the existing border between them in a treaty that is binding under internationallaw. (3) The united Germany has no territorial claims whatsoever against other states and shall not assert any in the future .... "; zit. nach BGB!. 11 (1990), 1318.

216

F. uti possidetis in Europa

de Macht, die meist gegen den Willen, zumindest aber ohne Mitwirkung der betroffenen Gebietsbevölkerung administrative Grenzen festlegt. In Europa scheinen solche Konstellationen auf den ersten Blick nicht vorzuliegen. Es ist daher zunächst festzustellen, ob Formen ortsfremder Fremdherrschaft in Europa nachzuweisen sind. a) Kolonialherrschaft

aa) UdSSR als Kolonialreich Angesichts der übermächtigen Stellung der ehemaligen UdSSR im Warschauer Pakt und ihrer strikten Herrschaft über die einzelnen Unionsrepubliken wird die UdSSR hin und wieder mit einem Kolonialreich gleichgesetzr8• Zum blockfreien Jugoslawien sind solche Einschätzungen nicht erfolgf9. Der Komplex des Dekolonisierungsrechts ist in seiner Anwendung grundsätzlich nicht auf Afrika beschränktJ o. Dennoch ist zweifelhaft, ob die Struktur und die historische Entwicklung der ehemaligen Sowjetunion eine Einstufung als Kolonialimperium tragen. bb) Defmition einer Kolonie Nach der Definition der Vereinten Nationen ist eine Kolonie ("non-selfgoveming territory") "a territory which is geographically separate and is distinct ethnically and/or culturally from the country administering it". 31 28 So Klein, SBR, 47: "... das territorial zusammenhängende Kolonialreich ... (Fn. 181:) Hierzu gehört an erster Stelle die Sowjetunion. Rechtlich können daher die Lösungsbestrebungen der einzelnen Republiken als Dekolonisierungsfälle im weiteren Sinn angesehen werden .... "; ähnlich ders., Der Staat 32 (1993), 357. Stölting, in: Lottes, 257, berichtet vom Geruhl der muslimischen Völker der Sowjetunion, "sich den europäischen Völkern der Sowjetunion gegenüber in einer kolonialen Situation zu befinden". Die britische Regierung hat zu mehreren Gelegenheiten die UdSSR innerhalb ihrer Grenzen als Kolonialmacht angesehen, so z. B. Premier Hume 1961 :"Is there ... one rule for the British Commonwealth and another for the Russian Empire?", zit. nach McCorquodale, AfrJICL 4 (1992), 601, Fn. 66; auch Meissner, in: BrunnerlMeissner, 11, spricht von einer "kontinentalen Kolonialmacht". Veiter, in: GintherlIsak, 115/116, spricht generell davon, "a kind of neo-colonialism exists under communist rule (Soviel Union, Romania, Czecheslovakia, Yugoslavia, ... )". 29 McCorquodale, AfrJIL 4 (1992), 601; Samary, 29. 30 Ermacora, EPIL 10 (1987),43; Kunig, Nichteinmischung, 365. 31 Generalversammlungs-Resolution 1541 (XV) ("Principles which should guide members in determining whether or not an obligation exists to transmit the information called for under Article 73(e) ofthe Charter") vom 15. Dezember 1960, Principle IV.

11. Situation seit 1989

217

Diese "salt water"-Defmition32 der Kolonie wird hauptsächlich in Afrika angewande 3 , was die Betonung der geographischen Trennung von Mutterland und Kolonie erklärt. Läßt man dieses auf eine bestimmte Situation fixierte Kriterium beiseite34 , so konstituieren folgende Merkmale nach allgemeinem Verständnis eine Kolonie: Es handelt sich um ein Territorium, in dem sich Siedler (Kolonisten) niedergelassen haben, die gegenüber der bereits vor ihrer Ankunft siedelnden Bevölkerung in der Minderheit sind3s . Die Siedler binden das Territorium in ihr Rechtssystem ein, so daß ihr Ursprungsland die territoriale Souveränität ausübt und es im internationalen Rechtsverkehr repräsentiert36 • Das Territorium wurde vor der Inbesitznahme durch die Siedler als terra nullius angesehen oder war zumindest nicht im Sinne des modemen Völkerrechts staatlich organisiert37 •

cc) Einstufung des "Ostblocks" Nach diesen Kriterien ist es nicht vertretbar, die Ostblockstaaten zu einem sowjetischen Kolonialreich zu rechnen. Die frühere Beherrschung des OstEmerson, Empire, 307. McCorquoda/e, AfrJICL 4 (1992), 601. 34 DafUr z. B. Kunig, in: Wolfrum, 105 Rn. 3. 35 B/eckmann, EPIL 10 (1987), 75; Ermacora, EPIL 10 (1987), 41. Der ursprünglichen Bevölkerung wird dabei nicht dieselbe Rechtsstellung eingeräumt wie der eigenen Bevölkerung, Kunig, in: Wolfrum, 105 Rn. 2. 36 Bleckmann, EPIL 10 (1987),75; Ermacora, EPIL 10 (1987), 41; Kunig, in: Wolfrum, 105 Rn. 2. Zum Wandel des Kolonialbegriffs in der geschichtlichen Entwicklung siehe Zieg/er, 184. 37 von G/ahn, 312; zu den verschiedenen Rechtskonstruktionen im Zusammenhang mit der Rechtfertigung kolonialer Landnahme siehe Shaw, Title, 31-38 (zur meist nicht territorialen, sondern personellen Staatskonzeption im präkolonialen Afrika: 27-30). Für den Fall der Westsahara hat der IGH das Konzept von terra nu/lius für nicht angewandt erklärt: "80. Whatever difference of opinion there may have been arnong jurists, the State practice of the relevant period indicates that territories inhabited by tribes or peoples having a social and political organization were not regarded as terra nullius. It shows that in the case of such territories the acquisition of sovereignty was not generally considered as unilaterally through 'occupation' of terra nullius by original title but through agreements concIuded with local rulers .... 81 .... , the infonnation furnished to the Court shows that at the time of colonization Western Sahara was inhabited by peoples which, if nomadic, were socially and politically organized in tribes and under chiefs competent to represent them. It also shows that, in colonizing Western Sahara, Spain did not proceed on the basis that it was establishing its sovereignty over terrae nullius .... ", ICI Reports 1975, 12 (39) (Western Sahara, Advisory Opinion). A. A. allerdings Separate Opinion Ammoun, 83(86): "... the very concept of terra nullius in the sense of aland which is capable of being appropriated by someone who is not born therefrom. ... the modern concept ... which regards as terra nullius territories inhabited by populations whose civilization, in the sense of the public law of Europe, is backward, and whose political organization is not conceived according to western nonns." 32

33

218

F. uti possidetis in Europa

blocks durch die Sowjetunion beruht weitgehend auf dem faktischen Druck der überlegenen Militärapparatur der UdSSR, durch den Regierungen in den Ostblockstaaten gestützt werden, die die gleichen politischen Interessen verfolgen wie die Sowjetunion. Trotz der Versuche, ein sozialistisches Völkerrecht als Sonderrecht ftlr den Ostblock zu schaffen38 , wird man nicht davon sprechen können, daß die UdSSR zu dieser Zeit die territoriale Souveränität über die Ostblockstaaten ausübt oder sie im internationalen Rechtsverkehr vertritt. Auch wird den Bürgern der Sowjetunion kein Status eingeräumt, dem gegenüber die Bürger der Ostblockstaaten benachteiligt gewesen wären. Die politischideologischen Vorherrschaft der Sowjetunion filhrt zwar dazu, daß ihre hegemonialen Interessen im Ostblock vorrangig verfolgt werden. Dies ähnelt der Durchsetzung kolonialer Interessen auf den abhängigen Territorien der Kolonialmächte. Angesichts der fehlenden Tatbestandsmerkmale ist eine Subsumtion der Ostblockstaaten unter den Begriff der Kolonie jedoch nicht möglich39• dd) Einstufung der UdSSR Hinsichtlich der konstituierenden Republiken der Sowjetunion ist eine Unterscheidung vorzunehmen: Die Republiken, die vor ihrer Einverleibung in die Sowjetunion selbständige Staaten sind, sind von den Republiken, die vor ihrer Sowjetisierung ohne Unterbrechung zum zaristischen Imperiums gehören, zu trennen.

(a) Die europäischen Republiken

Die europäischen Republiken sind nach ihrem teilweise gewaltsamen Anschluß an die Sowjetunion zeitweise einer starken Russifizierung ausgesetzt40 , mit der auch Wanderungsbewegungen von Russen in die Republiken einhergehen41 • Doch unterscheiden sich diese (oft wirtschaftlich motivierten) Migrationsbewegungen nach der Entstehung der Sowjetunion deutlich von Kolonistenbesiedlungen, da letztere erst zur Bildung eines Kolonialreiches ftlhren. Den Bewohnern der europäischen Republiken wird auch keine der russischen Bevölkerung nachrangige Rechtsstellung zugewiesen, sie sind gleichwertige Bür38 Vgl. RandelzhoJer, in: Sirnrna, Art. 2 Ziff. 4, Rn. 47f., zur sogenannten BreshnevDoktrin. 39 Hier kann nur der politische, nicht rechtliche, Begriff des Neo-Kolonialismus herangezogen werden; dazu Ermacora, EPIL 10 (1987), 41. Vgl. dazu auch Kunig, in: Wolfrum, 109, Rn. 19. 40 Zur Russifizierungspolitik unter Stalin siehe Simon, in: Brunner/Meissner, 48-55. 41 Messina, Refugee 1994, 13; Stölting, 15; Vukadinovic, YBES 5 (1992), 159, spricht von 26 Millionen ethnischen Russen außerhalb der Russischen FSR; Zaslavsky, 36.

11. Situation seit 1989

219

ger der Sowjetunion. Die einzelnen Republiken verfUgen nach der Verfassung der UdSSR über eine eigene Souveränität42 , werden also im innerstaatlichen Recht nicht als abhängige Territorien eines Mutterlandes behandelt. Vor ihrem Anschluß besitzen die Republiken internationale Rechtspersönlichkeit, sind also nicht den Eroberern freistehendes Land, terra nu/lius, als das z. B. die afrikanischen Gebiete von der Völkerrechtslehre des 19. Jahrhunderts angesehen werden43 • Sie partizipieren teilweise nach 1917 am internationalen Rechtsverkehr, schließen Verträge und sind de iure oder de facta von den wichtigsten europäischen Staaten anerkannt44 • Zu den Republiken dieser Sparte gehören die drei baltischen Republiken4s, die Ukraine46, Moldawien47, Georgien48 , Arrnenien49 und Aserbaidshanso sowie mit Einschränkungen Weißruß42 Meissner, EPIL 12 (1990), 47. Weißrußland und die Ukraine sind bereits während der Existenz der UdSSR mit eigenem Sitz in der UN-Generalversammlung vertreten. Daß ihnen ein solcher Status zugestanden wird, den nach sowjetischem Verfassungsrecht identisch ausgeformten anderen Sowjetrepubliken nicht, ist eine Besonderheit, die sich nur aus der Entstehungsgeschichte der Vereinten Nationen erklären läßt, dazu: Hazard, EPIL 10 (1987), 418ff. Die beiden Sowjetrepubliken sind zu Zeiten des Kalten Kriegs allerdings nicht in der Lage, diese Souveränität zu benutzen. Siehe Pipes, in: Denber,43. 43 Vgl. von Glahn, 312, 315/316; Shaw, Title, 32-33; Verdross/Simma; § II 54, Fn. 4; siehe auch Separate Opinion Arnmoun oben Fn. 864 :" ... participants in the Berlin Conference of 1885 ... regarded sub-Saharan Africa as an immense terra nullius available for the first occupier." 44 Pipes, in: Denber, 42-43, weist darauf hin, daß die sowjetische politische Doktrin diese Staaten deswegen als eigenständige Republiken in der Union erhält, anstatt sie als autonome Republiken oder Gebiete in die RSFSR zu integrieren. 45 Estland, Lettland und Litauen werden im Zeitraum von 1920-21 in mehreren Verträgen von der Sowjetunion als unabhängig anerkannt, nachdem sie sich bereits 1918 von Rußland gelöst hatten; siehe Bogdan, 191-192; Ha/bach, 24-25; Hazard, EPIL 10 (1987), 418. 46 Die Ukraine sagt sich nach dem sowjetrussisch-deutschen Friedensvertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 von Rußland los und bildet unter deutscher Besatzung eine erste nationale Regierung. Anhaltende Kämpfe der verschiedenen politischen Gruppierungen und die Präsenz ausländischer Truppen verhindern jedoch eine dauerhafte Konsolidierung, so daß sich am 21. Dezember 1919 die Bolschewiki mit Hilfe des wachsenden militärisch-politischen Drucks der Russischen SFSR endgültig als Räteregierung festsetzen können; siehe Bogdan, 192-196; Ha/bach, 25-26, Pipes, in: Denber, 44-45. 47 Das heutige Moldawien (früher bekannt unter dem Namen Bessarabien als der östliche Teil des rumänischen Fürstentums Moldau) konstituiert sich 1918 als unabhängige Republik, die sich nach zwei Monaten auf einen Parlamentsbeschluß hin Rumänien anschließt. 1940 okkupiert die Sowjetunion aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts Bessarabien von neuem und gliedert es 1944 (nach wechselnden Abschnitten rumänischer und deutscher Besetzung) endgültig der Sowjetunion ein. Siehe dazu Bogdan, 192; Stö/ting, 94-95,99. 48 Georgien löst sich 1918 von Rußland und ist bis März 1921, als die Sowjetunion den Staat annektiert, unabhängige Republik; siehe Bogdan, 198; Stö/ting, 231. 49 1918 trennt sich Armenien von Rußland und bildet ~ine bürgerliche Regierung. Das Land, das auch aufgrund des Zustroms armenischer Flüchtlinge nach dem Völker-

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F. uti possidetis in Europa

landS', d.h. alle "europäischen" Republiken der UdSSR52 . Die europäischen Republiken lassen sich also nicht unter die Tatbestände der Kolonie-Defmition fassen 53 • (b) Die asiatischen Republiken

Zur zweiten Sparte zählen die mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion, die aus den vom zaristischen Rußland militärisch unterworfenen Gebieten hervorgehen54 • Da diese Eroberungen ungefllhr im gleichen Zeitrahmen wie die Kolonienbildung durch die west- und mitteleuropäischen Staaten stattfmden55 und da mit den Eroberungen eine russische Führungsschicht importiert wird56, mord am armenischen Bevölkerungsteil der Türkei mit großen Schwierigkeiten kämpft, wird unter dem Druck der 1920 einmarschierenden Roten Armee am 29. November 1920 zur Sowjetrepublik; siehe Bogdan, 197-200; Stölting, 253. 50 Aserbaidshan wird im Sommer 1918 unter einer bürgerlichen Regierung unabhängig. Nach dem Abzug der zur Hilfe gerufenen englischen und später türkischen Truppen, die ein Massaker an der armenischen Bevölkerungsminderheit anrichten, bleibt Aserbaidshan nur 10 Monate unabhängig, bis es am 17./18. April 1920 wieder der Sowjetunion einverleibt wird; siehe Auch, in: Ehrhart, 80; Bogdan, 198. 51 Weißrußland (auch: "Weißruthenien") bleibt nach auch nach dem Brest-Litowsker Vertrag bei Rußland. Die am 25. März 1918 proklamierte Weißruthenische Volksrepublik wird von der deutschen Besatzungsmacht nicht anerkannt und beendet ihre kurze Existenz mit der Gründung der Weißrhuthenischen Sowjetrepublik am I. Januar 1919. Nach dem Einmarsch durch die polnische Armee im Sommer 1920 verliert Weißruthenien seine Westgebiete an Polen. Der östliche Teil des Landes wird als Weißrussische SSR am 30. Dezember 1922 Gliedstaat der UdSSR; siehe Bogdan, 195-196; Plötz, 1308. Heute nennt sich Weißrußland im offiziellen Sprachgebrauch Belorus. 52 Dabei wird die Russische SFSR (die das Gebiet des vorimperialen Rußlands umfaßt und die Keimzelle der Sowjetunion darstellt, siehe Halbach, 24) wegen ihres Sonderstatus' und ihrer Verquickung mit der Zentralgewalt ausgeklammert. 53 So auch McCorquodale, AfrJICL 4 (1992), 601; vgl. Tappe, CJTL 34 (1995), 273 Fn 85. 54 Meissner, SBR, 1091110, bezeichnet Rußland als Kolonialmacht im Kaukasus und Zentralasien und klassifiziert dabei die kaukasischen Nationen (unter Sonderstellung des Transkaukasus), die Turkvölker, die wolgafinnischen und mongolischen Volksstämme als Kolonialvölker. 55 Die Ausdehnung des russischen Reiches beginnt unter Ivan IV. (1547-1584) durch die Eroberung der tatarischen Chanate Richtung Osten. Später wendet sie sich gegen Westen und Süden und erreicht Ende des 19. Jhdt. ihren Höhepunkt (siehe dazu Halbach, lifT.; Young, in: Motyl, 81-84). Im Vergleich dazu beginnt die britische Kolonialzeit 1591, die französische im 17. Jhdt.; Belgien, Deutschland und Italien treten im 19. Jhdt. dazu (Ermacora, EPIL 10 (1987),42). 56 Dies gilt besonders rur Zentralasien und die Bergvölker des Kaukasus, die einem staatlich geförderten Siedlungskolonialismus gegenüberstehen, während im westlichen, europäischen Teil des Zarenreiches die einheimische Oberschicht, soweit sie mit den Eroberern zusammenarbeitet, von Russifizierungsbestrebungen auf ihrem Territorium verschont bleibt. Die Unterwerfung der vehement um ihre Freiheit kämpfenden Kaukasusvölker im 19. Jhdt. wird von Halbach als eines der "düstersten Kapitel europäischer Kolonialgeschichte" beschrieben (S. 13). Eine systematische Russifizierung im gesam-

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die der kolonialen z. B. in Afrika sehr ähnelt, könnte man daran denken, diese Republiken als Kolonien einzustufen57 • Doch bliebe dabei die Entwicklung nach der Oktoberrevolution unbeTÜcksichtigts8. Mag es sich bei den asiatischen Gebieten des zaristischen Rußlands auch um als kolonial einzustufende Territorien gehandelt haben: Die Zentralregierung der Sowjetunion behandelt sie rechtlich nicht als solche. Vielmehr wird versucht, das im Zarenreich noch undifferenziert "Turkestan" genannte riesige Gebiet in einzelne, selbständige Republiken zu unterteilen, die den übrigen Sowjetrepubliken im Status nicht nachstehen. Dabei werden auf sprachlicher Grundlage Staatsnationen fiir die filnf neuen zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kyrgysstan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadshikistan gebildet59 . Zudem fehlt es an einer deutlichen kulturellen oder ethnischen Dominierung durch eine zielgerichtete Russifizierung60 • Ziel der sowjetischen Politik ist der homo sovieticus, der nicht ethnisch gebunden ist. Dies steht einer kolonialen Dominanz einer Gruppe diametral entgegen; versucht wird die Schaffung einer gemeinsamen sozialistischen Identität61 • Die Bürger der mittelasiatischen Republiken besitzen daher keinen rechtlich minderwertigen Status, sie sind allen anderen SowjetbÜTgem gleichgestellt.

ten Reich beginnt erst 1881 mit dem Amtsantritt von Zar Alexander III.; vgl. auch Schatalina, Osteuropa 44 (1994), 1046-1047; Young, in: Motyl, 84. 57 So Kunig, Nichteinmischung, 366. Wahrscheinlich hat auch Klein, SBR, 47, Fn. 181, bei seiner Beschreibung der Sowjetunion als Kolonialreich an diese Gebiete gedacht, da er die baltischen Staaten vom Dekolonisierungsrecht ausnimmt. Dabei übersieht er freilich, daß die baltischen Republiken nicht die einzigen sind, die unter Zwang der Sowjetunion angeschlossen werden. Gumpe/, Osteuropa 44 (1994), 1023, KappeIer, FAZ vom 2. März 1994, und Pa/at, Osteuropa 44 (1994), 1006, halten die zentralasiatischen Gebiete ebenfalls rur russische Kolonien. 58 Diesen Fehler begehen Gumpe/, Osteuropa 44 (1994), 1023, und Palat, Osteuropa 44 (1994), 1006, die beide unreflektiert das zaristische Rußland und die nachfolgende Sowjetunion gleichsetzen. Vgl. zu den Änderungen im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der Sowjetunion gegenüber dem Zarenreich Eisenstadt, in: Motyl, 205ff., bes. 200f. 59 Palat, in: Osteuropa44 (1994),1018. 60 Von einer gezielten Russifizierung ist am ehesten im sprachlichen Bereich zu sprechen: Russisch wird von der Zentralverwaltung als lingua franca der Sowjetunion gefördert; Ruzicka, in: HahlbohmlRuzicka, 16-17. Allein Stalin betreibt eine gezielte Russifizierungspolitik, die von seinen Nachfolgern nicht in vollem Umfang fortgesetzt wird; nach StaIin wandelt sich die Nationalitätenpolitik zur Schaffung des homo sovieticus hin, vgl. Naha/yloISwoboda, 95-106, 174. 61 Szporluk, in: Hajda/Beissinger, 9; Meissner, in: BrunnerlMeissner, 2lf. Aus dem Scheitern dieser Politik und dem folgenden Rückgriff auf ethnisch russische Kader zur Überwachung der Republiken wird man wohl kaum einen Rückfall in koloniale Strukturen konstruieren können; vgl. dazu Young, in: Motyl, 87, 9(

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Auch der gelegentlich zu fmdende Hinweis darauf, die zentralasiatischen Republiken seien von den slawischen Republiken62 in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit gehalten worden, die der Strategie der westlichen Kolonialmächte gleiche 63 , greift zu kurz. Die Zentrierung einzelner Produktionsbereiche in bestimmten Landesteilen ist der kommunistischen Planwirtschaft immanent und findet sich auch in anderen sozialistischen Staaten64 • Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist erklärtes Ziel der sowjetischen Wirtschaftspolitik6s • Also sind auch die mittelasiatischen Republiken nicht unter die Kolonie-Defmition zu subsumieren. ee) Zwischenergebnis Die genauere Betrachtung zeigt, daß im von der Sowjetunion politisch dominierten Raum keine dem Kolonialismus entsprechenden Strukturen mehr existieren. Damit ist die Situation in Europa nach 1989 nicht mit der Begrifflichkeit und den Rechtsinstrumenten der Dekolonisierung rechtlich faßbar66 . Andere Formen rechtlicher Herrschaft durch ortsfremde Mächte, etwa durch Mandate oder Protektorate, sind in Europa nicht zu erkennen.

b) Interne diskriminierende Herrschaft Es könnten sich in Europa jedoch Fälle "interner Kolonisierung" fmden lassen. Unter "interner Kolonisierung" wird hier verstanden, daß Teile der Bevölkerung aus rassischen, ethnischen oder ähnlichen Gründen von dem die Regierungsgewalt ausübenden Teil der Bevölkerung (der häufig, aber nicht notwendigerweise die Mehrheit stellen wird) massiv diskriminiert werden67 • Die schwere Diskriminierung eines Bevölkerungsteils stellt sich filr diesen quasi als 62 Hier werden "die Slawen", d.h. die Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR und die RSFR als Kolonialmacht dargestellt, vgl. Gumpel, Osteuropa 44 (1994), 1023. 63 Gumpel, Osteuropa 44 (1994), 1023. 64 So konzentriert sich z. B. in der Tschechoslowakei die Rüstungsindustrie im slowakischen Teil, in Jugoslawien befindet sich der Großteil der Schwerindustrie in Slowenien, ohne daß daraus eine koloniale Beherrschung eines Landesteils durch den anderen angenommen worden wäre. Die Fortftlhrung der zur Zarenzeit angelegten Monokulturen in den zentralasiatischen Republiken benachteiligt diese wirtschaftlich zwar gegenüber einigen anderen Republiken; dies auf koloniale Strukturen zurückzufiihren heißt jedoch, das sozialistische Wirtschaftssystem zu verzerren. Zum sowjetischen Wirtschaftssystem ausftlhrlich Zaslavsky, 44-52. 6S Ruzicka, in: HahlbohmlRuzicka, 19/20. 66 So wohl auch Türk, AEHRYB 1 (1991),289. Vgl. Tappe, CJTL 35 (1995),273 Fn.85. 67 Zu einer entsprechenden Anwendung von "internal colonialism" auf die frühere Situation in Südafrika siehe Weller, ZaöRV 56 (1996), 75 Fn. 9.

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interne Fremdherrschaft dar. Dieser Bevölkerungsteil wird - in soweit vergleichbar der Bevölkerung einer Kolonie - im eigenen Land als auf einer rechtlich tieferen Stufe als die übrige Bevölkerung stehend behandelt68 • An derart massive Formen von Diskriminierung werden von weiten Teilen der völkerrechtlichen Lehre rechtliche Konsequenzen geknüpft: Unter Hinweis auf die erfolgreiche Sezession Bangladeshs von Pakistan wird einem Volk das Recht zugestanden, als ultima ratio69 bei massiven Menschenrechtsverletzungen sein Selbstbestimmungsrecht in Form von Sezession und Gründung eines eigenen Staates auszuüben70• Dabei ist es Voraussetzung, daß keine anderen Mittel zur Beendigung der Verletzungen zur Verftlgung stehen71 und daß die diskriminierende Behandlung gruppenspezifisch ist, d.h. auf die Ethnie als "Fremdkörper" abzielt72 • Nach dieser Auffassung soll sich ein Staat, der intensiv die grundlegenden Menschenrechte eines Bevölkerungsteils verletzt, nicht hinter seiner territorialen Souveränität verstecken können73. Angesichts der anerkannten erga-omnesVerpflichtung der Staaten, die elementaren Menschenrechte einzuhalten74 , sei ein Sezessionsrecht einer Ethnie aus einem bestehenden Staat bei schwerer Diskriminierung zuzugestehen. Problematisch ist, wie das Gebiet zu bestimmen ist, daß die Ethnie im Rahmen ihres Sezessionsrechts in die Unabhängigkeit überfUhren darf75 • Ist in diesem Zusammenhang das Gebiet, auf dem die sezessionsberechtigte Ethnie lebt, durch administrative Grenzziehung des Heimatstaates abgegrenzt, wird folgende Lösung angeboten: Da hier eine Situation besteht, die der Konstellation des Selbstbestimmungsrechts fiir koloniale Einheiten76 ähnelt, wird der Träger des Selbstbestimmungsrechts (neben der ethnischen Definierung) durch die administrativen Grenzen territorial bestimmt77 .

Vgl. Doehring, in: Simma, nach Art. I, Rn.40; Partseh, in: Wolfrum, 750, Rn. 19. Buchheit, 222; Tomuschat, in: Tomuschat, 10: "step oflast resort". 70 Buchheit, 2211222; Doehring, BDGV 14 (1977), 33; Nanda, in: AlexanderlFriedlander, 211; Rozakis, EPIL 10 (1987), 487; Doehring, in: Simma, nach Art. I, Rn. 21; Sornarajah, GJICL II (1981),48; Tomuschat, in: Tomuschat, 9; White, NILR 28 (1981), 164. 71 Buchheit, 222; Hauser, IsYHR I (1971), 101; Doehring, in: Simma, nach Art. I, Rn. 39. 72 Doehring, BDGV 14 (1977), 33; White, NILR 28 (1981), 164. Tomusehat, in: Tomuschat, 9, nennt den Genozid ausdrücklich als Beispielsfall. 73 McCorquodale, AfrJICL 4 (1992), 603-604; Tomuschat, in: Tomuschat, 9. 74 ICJ Reports 1970, 3 (32, para. 33, 34) (Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Judgment); Ipsen-Ipsen, § 44, Rn. 11; McCorquodale, AfrJICL 4 (1992),604; Weber, HumV 1993, 11. 75 Da mögliches Ergebnis der Sezession auch ein Staat sein kann, muß die sezedierende Einheit über ein (zukünftiges) Staatsterritorium verfilgen. 76 Dazu oben Abschnitt (C.) Punkt III. 2. 77 So z. B. Cassese, in: Henkin, 101. 68

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Als Beleg filr Akzeptanz eines Sezessionsrechts bei massiver Menschenrechtsverletzung durch die Vereinten Nationen wird das Fünfte Prinzip der Friendly Relations Declaration78 angeftlhrt: Hier wird das Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität zugunsten eines Vorrangs der territorialen Integrität gelöst, jedoch nur solange, "[as the] States [are] conducting themse1ves in compliance with the principle of equal rights and self-determination ofpeoples ... and thus [are] possessed ofa government representing the whole people belonging to the territory without distinction as to race, creed or colour. 1179 Die Kriterien "race, creed or colour" werden dabei als Beispiele filr die Gewährung fundamentaler Menschenrechte angesehen80 • Die systematische Unterdrückung der Bevölkerung von Ost-Pakistan (später Bangladesh) durch die ethnisch verschiedenen Volksgruppen des dominanten West-Pakistan 81 erftlllt als Beispiel der Staatenpraxis die Voraussetzungen des Sezessionsrechts, wie es sich aus Resolution 2625(XXV) ergeben soll. Die westeuropäischen Staaten hätten sich mit ihrer Reaktion auf die Sezessionsbestrebungen besonders der Völker Jugoslawiens82 wahrscheinlich weniger schwer getan, wäre es möglich gewesen, der Zentralmacht schwere Menschenrechtsverletzungen und die Diskriminierung der einzelnen Volksgruppen vorzuwerfen. Nach dem Beispiel Bangladeshs hätte man ein ausnahmsweises Sezessionsrecht der in ihrer Existenz bedrohten Völker (in den administrativ bestimmten Republiksgrenzen) zugestehen können, ohne daß sich daraus weitere Präzedenzwirkung filr die Ethnien innerhalb der eigenen Grenzen hätte ergeben können. Unabhängig davon, ob man den Fall Bangladesh angesichts seiner spezifischen Besonderheiten in dieser Form filr verallgemeinerungsfllhig hält83 , sind "The principle of equal rights and self-determination of peoples". Annex zu UN-Generalversammlungsresolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970, Dec1aration on Principles of International Law conceming Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter ofthe United Nations. 80 Doehring, BDGV 14 (1977), 33; Ermacora, in: Ermacora u. a., 9; Kimminich, VN 1993, 7; Rao, IndJIL 28 (1988), 58; White, NILR 28 (1981), 160. 81 Buchheit, 212; Nanda, in: AlexanderlFriedlander, 208; Nawaz, IndJIL 11 (1971), 254. 82 Die früher akut werdende Sezessionsproblematik hinsichtlich der baltischen Staaten war völkerrechtlich nicht so brisant, da man sich hier unter Umgehung des "heißen Eisens" Selbstbestimmungsrecht darauf berufen konnte, daß man die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion rechtlich nie anerkannt habe und es sich bei der Loslösung dieser Republiken somit nur um die Rückabwicklung des völkerrechtswidrigen Annexionszustandes handele. Vgl. zu den hierzu vorgebrachten Argumentationsketten Rich, EJIL 4 (1993), 37f 83 Kritisch zum aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten Sezessionsrecht rur Minderheiten z. B. Capotorti, EPIL 8 (1985), 390; Gusy, AVR 30 (1992), 394; Partsch, in Wolfrum, 751 Rn. 22-23. 78 79

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die geforderten Voraussetzungen filr ein Sezessionsrecht wegen massiver Menschenrechtsverletzungen in den Krisengebieten in Europa nach 1989 nicht gegeben.

In Jugoslawien sind die Serben zwar in der Staats- und Armeefllhrung84 sowie in der Regierung der nicht-serbischen Republiken, in denen sie Minderheiten stellen, in einer ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung nicht entsprechenden Weise überrepräsentiert8s • Die einzelnen Republiken sind jedoch keiner "Serbifizierung" oder schweren Diskriminierung ausgesetzt86 • Eine andere Situation findet sich nur im autonomen Gebiet Kosov087 im serbischen Gliedstaat, in dem es seit 1986 zu einer massiven Diskriminierung88 der albanischen Bevölkerung89 kommt. Die Verfassung von 1974, vom serbischen Präsidenten Milosevic als Verfassung einer Konföderation, nicht mehr einer Föderation, bezeichnet90, gewährt den einzelnen Republiken sogar weitgehende Selbstverwaltungsbefugnisse. So ist einer der HauptgrüDde filr die Sezessionswünsche besonders der Slowenen und Kroaten wohl auf wirtschaftlicher Ebene zu fmden91 : Das im Verbund der jugoslawischen Republiken am weitesten in-

84 DjuriclBengsch, 39; Furkes, in: Furkes/Schlarp, 70; Poulton, 21; Warbrick,ICLQ 41 (1992),475; Wolfrum, in: Changing Structure, 145. 8S Höpken, in: Furkes/Schlarp, 45; Poulton, 21, 24. 86 Razumovsky, 165; Poulton, 10. Anders sieht dies Murswiek, AVR 31 (1993),322, der aus den "dominierenden Machtpositionen" der Serben folgert, die Interessen der übrigen Völker seien nicht ausreichend "gewahrt" gewesen. Angesichts der rechtlichen Ausgestaltung der jugoslawischen Föderation darf dies wohl bezweifelt werden. 87 Das bereits seit einiger Zeit für mehr Unabhängigkeit plädiert, bislang aber davor zurückschreckt, dem slowenischen und kroatischen Beispiel zu folgen. So erklärte sich das Provinzparlament am 2. Juli 1990 für unabhängig von Serbien, als "independent and equal unit within the Jugoslav Federation", Wolfrum, in: Changing Structure, 145; Libal,134. 88 U .a. durch die Schließung albanischer Schulen, Untersagung von Fernseh- und Radiosendungen auf Albanisch, Verbot albanischer Zeitungen, Durchsetzung des SerboKroatischen als offizieller Sprache, Massenentlassungen albanischer Arbeiter und Enteignung albanischer Landbesitzer zugunsten serbischer "Kolonisten"; Poulton, 67-70; Ramet, FA 70 (1992), 88f.; Roggemann, 82; Wolfrum, in: Changing Structure, 145. Am 5. Juli 1990 löst Serbien das Provinzparlament und damit den Autonomiestatus des Kosovo auf; Libal, 133-134. 89 Die im Kosovo mit ca. 90% die Bevölkerungsmehrheit stellt. Aus historischen Gründen - auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, wird die Blüte der serbischen Ritterschaft 1389 in einer Schlacht um die Freiheit des serbischen Königreiches vom osmanischen Heer vernichtet, worauf Serbien Vasall des Osmanischen Reichs wird - gilt der Kosovo den Serben als die Keimzelle des Serbenturns und als unveräußerlicher Bestandteil eines serbischen Staates, obwohl die Serben dieses Gebiet im Laufe der Jahrhunderte ohne Zwang verlassen haben, worauf albanische Siedler nachzogen. Zum Kosovo-Problem vgl. Cviic, 15-18; DjuriclBengsch, 28. 90 Diese Einschätzung teilt Miedling, Südost-Europa 41 (1992), 121 wegen der weitgehenden Souveränitätsrechte für die Republiken und die Provinzen Vojvodina und Kosovo; siehe auch Libal, 77, 93f. 91 Poulton, 29, 35; Razumovsky, 132.

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dustrialisierte Slowenien und ein Kroatien, dem durch seine lange Küste und seine Inseln der Löwenanteil des Tourismus zufällt, sind nicht länger bereit, die von ihnen erwirtschafteten Gewinne in hohem Maße zum Aufbau der rückständigeren Republiken abzuftlhren, ein Finanzausgleich, von dem besonders Serbien profitiert92 • Das Freiheitsstreben der nördlichen Republiken wird dabei vom weltpolitisch gelockerten Klima nach Gorbachevs Regierungsantritt begünstigt. An einer schweren Diskriminierung, die eine Sezession der einzelnen Republiken rechtfertigen könnte, fehlt es also. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, daß spätestens nach Ausbruch der Kampfhandlungen in Slowenien und Kroatien durch die Bundesarmee Menschenrechtsverletzungen in einem Maße verübt werden, das filr ein Sezessionsrecht wegen Diskriminierung und schwerer Mißhandlung ausreichen würde93 • Somit sei nachträglich eine Situation geschaffen worden, in der ein Sezessionsrecht nach anerkannten Kriterien existiere94 • Diese Argumentation ftlhrt jedoch, denkt man sie konsequent zu Ende, zu wohl unakzeptablen Ergebnissen: Slowenien, das ethnisch weitgehend homogen ist95 und dessen Unabhängigkeit somit nicht mit problematischen Minderheitenfragen belastet wäre, schlägt den Angriff der Bundesarmee in 10 Tagen zurück und erreicht mit Hilfe der Vermittlung der EG% ihren Abzug97 • Dadurch kann es auf seinem Gebiet nicht zu den schweren Menschenrechtsverletzungen kommen, die nach der obigen Argumentation nachträglich die Sezession rechtfertigen würden. Den Angriff der Bundesarmee an sich wird man jedoch nach dieser Ansicht der Zentrairegierung kaum zum Vorwurf machen können, da Slowenien ungerechtfertigt die Sezession versucht und es einem Staat unbenommen ist, sich im Rahmen seiner Mittel gegen die Abspaltung seines Territoriums zu wehren98 • Der schnell erfolgreiche 92 Vgl. Schlarp, in: Furkes/Schlarp, 28; Krizan, Osteuropa 42 (1992), 135: "Dominanz der unterentwickelten Republiken und Provinzen und damit ihre Ausbeutung der reichen Republiken gesichert .. , "; Liba/, 79; Pou/ton, 29, 35. 93 U. a. aufgrund von Massenvergewaltigungen, Tötung unbeteiligter Zivilisten, Massenvertreibungen im Rahmen sog. "ethnischer Säuberungen". 94 Murswiek, AVR 31 (1993),323; Oeter, HumV 1992,9; Weber, HumV 1993,11, stellt die Unterscheidung zwischen "vorher" und "nachher" gar nicht an und behauptet nur apodiktisch, daß diese Voraussetzung des Selbstbestimmungsrechts "im Jugoslawien-Konflikt durch die bekannt gewordenen Tatsachen als gegeben angenommen werden kann". 95 Ungefiihr 90% der Bevölkerung sind ethnische Slowenen; Devetak, SüdostEuropa 41 (1992),230; Duncan, in: DuncanlHolman, 27. 96 Europäische Gemeinschaften, nach dem Vertrag von Maastricht nun Europäische Union (EU). 97 Bugajski, 110-111; Fritzler, 65; Geiss, 54; Magas, 301. 98 lsak, in: MarkolBoric, 92. Die Staatengemeinschaft hat auch z. B. die Sezessionsversuche von Katanga und Biafra als illegitim verurteilt, nicht jedoch den Einsatz der Streitkräfte durch die jeweilige Zentralregierung, der die "Aufständischen" zur Räson bringen sollte (zu Katanga und Biafra siehe bereits oben in Abschnitt (C.) Punkt IV. 1 c

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Widerstand Sloweniens würde dieser Republik also die nachträgliche Rechtfertigung rauben, obwohl Slowenien gerade dadurch beweist, daß es in der Lage ist, auf seinem Staatsgebiet ungehindert Staatsgewalt auszuüben, was seinerseits eher fiIr eine Anerkennung als unabhängiger Staat99 spricht. Dagegen würde Kroatien von der Tatsache profitieren, daß es seiner Landesverteidigung nicht gelingt, der Bundesarmee Herr zu werden, wodurch es im Rahmen der Feindseligkeiten zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommen kann. Diese begründeten daraufhin ein Sezessionsrecht der Republik Kroatien, obwohl sie über das serbisch besetzte Drittel ihres Territoriums keine Staatsgewalt ausüben kann - was einer Anerkennung als unabhängiger Staat, zumindest in den alten Grenzen, bei Anwendung der traditionellen Kriterien der Staatlichkeit eher entgegenstehen würde 100. Zudem ist es erstaunlich, daß ein zuerst legitimer Einsatz der Bundesarmee lol durch die Art seiner Durchfiihrung nicht nur eine Verantwortlichkeit nach den auch in Bürgerkriegen anwendbaren Grundsätzen der Genfer Konventionen lO2 fiIr Armee und Staatsfiihrung nach sich zieht, sondern einen völkerrechtlich (wohlgemerkt: nach dieser Auffassung) anfllnglich illegitimen Sezessionsversuch nachträglich legitimiert - obwohl die beanstandeten Verletzungen fundamentaler Menschenrechte gar nicht geschehen wären, hätte es nicht einen anfllnglich illegitimen Sezessionsversuch gegeben. Diese Argumentation ist daher wohl nicht in der Lage, die Geschehnisse in Jugoslawien als durch ein Sezessionsrecht aufgrund schwerster Menschenrechtsverletzungen gedeckt darzustellen. c) Zusammenfassung

Die faktische Situation in den Staaten Europas, die von den Umwälzungen nach 1989 betroffen sind, läßt sich nicht als Ausfluß einer kolonialen Herrschaft und e. Vgl. auch die Darstellung von Tomuschat, Tsp. vom 25. Januar 1995, zum gleichgelagerten Fall der versuchten Sezession Tschetscheniens aus der Russischen Föderativen Republik. 99 Unter Zugrundelegung des Effektivitätsgrundsatzes, Frowein, EPIL 10 (1987), 341. 100 So Rich, EJIL 4 (1993),56. 101 Auch Kroatiens Sezessionsversuch ist nach dieser Auffassung nicht von vornherein gerechtfertigt. 102 In nicht-internationalen Konflikten greift der "Mindeststandard" des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 sowie dessen Präzisierung im Zweiten Zusatzprotokoll von 1977; Oeter, HumV 1992,4-5. Die Genfer Konventionen gelten rur Jugoslawien: Die Ratifikation der vier Konventionen erfolgt am 21. April 1950 (die dabei gemachten Vorbehalte treffen nicht Art. 3), die des zweiten Zusatzprotokolls vorbehaltlos am 11. Juni 1979 (Daten nach "Die Genfer Rotkreuzabkornmen", Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn, 1988). IS"

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oder einer Herrschaft aufgrund schwerster Menschenrechtsverletzungen darstellen. Um die Zerfallserscheinungenin Jugoslawien und der UdSSR dennoch in einen völkerrechtlichen Rahmen einzupassen, werden in der völkerrechtlichen Lehre viele neue Konstruktionen filr Sezessionsrechte entwickelt. Es wird über ein Sezessionsrecht aus multi-ethnischen Bundesstaaten l03 ebenso nachgedacht wie über ein spezifisch europäisches Selbstbestimmungsrecht, das seine Grundlage in den Demokratieprinzipien der KSZE und anderer europäischer Übereinkommen fmdee 04 • Der Versuch einer unangreifbaren Zuordnung der Geschehnisse in Europa zu einer Kategorie des Selbstbestimmungsrechts ist filr die Frage, wie nach der Unabhängigkeit der früheren Gliedrepubliken deren internationale Grenzen zu bestimmen sind, jedoch nur von untergeordneter Bedeutung. Die völkerrechtliche Einordnung des Zerfalls von Jugoslawien, der UdSSR oder der Tschechoslowakei ist neben der Tatsache der Existenz ihrer Nachfolgestaaten zweitrangig. Ein Staat, der sich gegen anderweitige Herrschaftsansprüche effektiv durchgesetzt hat, muß keine völkerrechtliche Rechtfertigung filr seine unabhängige Existenz liefern 105. Auch wenn eine Rechtfertigung über die Annahme eines entsprechenden Selbstbestimmungsrecht möglich sein sollte, müßte sich diese Lösung anschließend der Frage nach den zukünftigen internationalen Grenzen des Selbstbestimmungssubjekts stellen. Insbesondere das im Rahmen des Jugoslawien-Konflikts häufig angefilhrte angebliche ethnische Selbstbestimmungsrecht steht vor dem Problem, die Frage der Grenzen der selbstbestimmungsberechtigten Ethnie zu ziehen. Gesteht man Ethnien ein Selbstbestimmungsrecht zu, wird die territoriale Integrität ihres Mutterstaates aufgehoben. Es ist dann dogmatisch kaum zu begründen, warum die aufgrund eines ethnischen Selbstbestimmungsrechts unabhängig gewordene Einheit ihrerseits anderen Ethnien, die auf Teilen des in die Unabhängigkeit überfilhrten Gebiets leben, ein zur weiteren territorialen Abspaltung filhrendes ethnisches Selbstbestimmungsrecht verweigern da:rf 06 • Um eine weitere Zersplitterung auf der Grundlage des ethnischen Selbstbestimmungsrechts zu vermeiden, wird dieses Recht meist um eine territoriale Komponente erweitert: Es soll nur Ethnien zustehen, die mit einem bereits bestimmten Gebiet verbunden sind 107 • Wird die Darlegung dieser territorialen 103 Bucar, IntP Heft 988 (1991), 8; Murswiek, AVR 31 (1993),307; Weller, AJIL 86 (1992),606. 104 Marauhn, HumV 1991, 110, 111; Oeter, ZaöRV 52 (1992), 765f., 774; Weber, HumV 1993, 11. 105 So auch Oeter, ZaöRV 52 (1992), 770. Vgl. auch Ebenroth, BDGV 35 (1995), 275. 106 SO Z. B. Gusy, AVR 30 (1992), 394; Pfaller, Vierteljahresberichte Nr. 129 (1992),216,217. 107 So etwa HoedtlLefeber, in: Changing Structure, 4; Murswiek, Der Staat 23 (1984), 528.

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Verbindung in die Hände der Ethnie gelegt, gelingt eine Einschränkung des ethnischen Selbstbestimmungsrechts aber wohl kaum: Angebliche historische Gebietstitel lassen sich, wie das Beispiel Jugoslawien gezeigt hat, in fast beliebiger Menge produzieren 108 • Deshalb wird vertreten, der Territorialtitel sei einer Handlung des Mutterstaates zu entnehmen, d. h., Rechtsträger sei nur eine Ethnie, die innerstaatlich staatsorganisatorische Anerkennung gefunden hat, z. B. (wenn nicht sogar ausschließlich) durch den Status eines fMeralen Teilstaats 109 • Wird das angebliche ethnische Selbstbestimmungsrecht durch eine derartige territoriale Komponente eingeschränkt, handelt es sich doch wohl nicht mehr um ethnisch, sondern nur noch llo um territorial defmierte Einheiten als Träger eines Selbstbestimmungsrechts 111. Da auch dieser Lösungsansatz deshalb nachweisen muß, daß der administrativen Grenzziehung des Mutterstaates nach der Unabhängigkeit völkerrechtliche Bedeutung zukommt, ist es nicht nötig, zunächst zur Rechtfertigung der Sezession auf ein angebliches ethnisches Selbstbestimmungsrecht zurückzugreifen 112. Daher ist es zulässig, im weiteren Verlauf der Untersuchung die Überlegungen zur völkerrechtlichen Rechtfertigung der Vorkommnisse in Europa nach 1989 beiseite zu lassen und die Prüfung auf die Frage der Bestimmung der internationalen Grenzen der europäischen Neustaatens zu beschränken.

3. Grenzziehung nach 1989 Nach 1989 kommt es im Osten und Südosten Europas zu größeren Veränderungen, nachdem die Klammer des Kommunismus/Sozialismus als einer block108 Vgl. auch Tomuschat, in: Tomuschat, 4, der feststellt: "Quite visibly, selfdetermination is becoming a tool for attempts to revise historical developments that have extended not only over decades, but centuries." Ähnlich Gusy, AVR 30 (1992), 402: "Das Selbstbestimmungsrecht ist kein Titel zur Revision der Geschichte." 109 So schon recht früh Cassese, in: Henkin, 101. Aus der Behandlung der europäischen Krisen durch die EG-Staaten schließt dies Weller, AJIL 86 (1992), 606; ebenso Baer, 372. Rich, EJIL 4 (1993), 61, hält dies rur "a curious rule of law". 110 Bzw. zumindest vorrangig. 111 Eine entsprechende Wertung nimmt Kohen, RGDIP 97 (1993/1994), 969, vor und schließt daraus: "Dans l'etat actuel du droit international, il n'existe aucune contradiction entre les principes d'autodetermination et de l'uti possidetis." 112 Anders Baer, 371ff., die ein ethnisches Selbstbestimmungsrecht der Völker Jugoslawiens postuliert und dies durch das uti-possidetis-Prinzip auf die in Republiken gefaßte Völker beschränken will. Da auch sie im Hinblick auf Bosnien-Herzegowina eine rein territoriale Bestimmung des Trägers des Selbstbestimmungsrechts zugesteht (S. 373), muß sie sich fragen lassen, warum sie die ethnische Komponente so hervorhebt, nur um diese später territorial zu begrenzen. Das von ihr schließlich konstatierte "derartig territorial orientierte[s] Selbstbestimmungsrecht" könnte, wie die - auch von Baer als Beispiel angeruhrte - afrikanische Praxis zeigt, ohne einen vorangehenden Rückgriff auf ethnische Kriterien begründet werden.

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bildenden Ideologie wegfiillt. Jugoslawien zerbricht ebenso wie die UdSSR und die Tschechoslowakei. a) Grenzkonflikte im früheren Jugoslawien

aa) Hintergrund des Zerfalls Jugoslawiens Das "zweite" Jugoslawien bildet sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Führung Titos aus dem zerschlagenen faschistischen Kroatien, aus Slowenien, aus Serbien, Montenegro und den anderen Gebieten des "ersten" Jugoslawiens, dem "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen", das 1941 unter dem Einmarsch der deutschen Truppen zerbricht. Die jugoslawische Verfassung teilt das Staatsgebiet in sechs konstituierende Republiken (Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Makedonien) auf, wobei in der serbischen Republik die autonomen Gebiete Vojvodina (mit starker ungarischer Minderheit) und Kosovo (mit mehrheitlich albanischer Bevölkerung) eingerichtet werden ll3 . 1974 wird die Verfassung dahingehend umgestaltet, daß den Republiken und den zwei autonomen Gebieten ein so hohes Maß an Eigenverantwortung und Eigenrechten 1l4 zugestanden wird, daß einige Stimmen bereits den Weg von der Föderation zur Konföderation beschritten sehen 1IS. Nach dem Tode Titos 1980 nehmen die zentrifugalen Tendenzen in den Republiken stetig zu. Die Gründe dafilr sind mannigfaltig, die oben angeftlhrten wirtschaftlichen Ursachen dürften aber eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen 1l6 • Die slowenische und die kroatische Republik wünschen eine Neuverhandlung der Bundesverfassung mit dem Ziel der weiteren Verringerung zentraler Befugnisse, während in der serbischen Republik eine Tendenz zur Stärkung der (stark serbisch besetzen) Bundesorgane vorherrscht. Ein echtes "jugoslawisches" Bewußtsein hat sich, wie diese Gegensätze belegen, demnach im "zweiten" Jugoslawien nicht entwickeln können ll7 . Betrachtet man die Ergebnisse der amtlichen Volkszählungen, so stellt man fest, daß Jugoslawien immer ein Staat "ohne Jugoslawen" war: In der letzten vollArday, Außenpolitik 44 (1993), 254; Bugajski, 98-99; Ramet, 19. Cviic, 65; Geiss, 51; Ramet, 73. 115 Geiss, 51; Höpken, in: Furkes/Schlarp, 47. 116 Geiss, 51; Höpken, in: Furkes/Schlarp, 50; zur ökonomischen Entwicklung Jugoslawiens bzw. seiner Republiken siehe Ramet, 136-175. 111 Die Feststellung von Weber, HumV 1993, 7, das jugoslawische Identitätsgeftlhl sei stark ausgeprägt gewesen, scheint mehr von Wunschdenken geprägt zu sein, als auf einer tiefergehenden Beschäftigung mit dem "zweiten" Jugoslawien zu beruhen. Vgl. zu den verschiedenen, in Westeuropa kaum wahrgenommenen, Krisen des jugoslawischen Staates nur Ramet, 81-239. 1 \3

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ständigen Volkszählung von 1981 bezeichnen sich nur 1,2 Millionen Personen VOn einer Gesamtbevölkerung von 22,4 Millionen als Jugoslawen. Dies sind meist Partner oder Kinder aus "Mischehen", d. h. Ehen zwischen Angehörigen der verschiedenen ethnischen Völker auf dem Gebiet Jugoslawiens, sowie die auf das Jugoslawentum eingeschworenen StUtzen des Staates (Angehörige der Armee, Offiziere, Unteroffiziere, Beamte und Diplomaten). Die früher höhere Zahl der Meldungen als "Jugoslawe" reduziert sich insbesondere, nachdem 1971 die Möglichkeit geschaffen wird, sich als Moslem i. S. einer Nation zu bezeichnen (wovon in Bosnien-Herzegowina 40% der Bevölkerung Gebrauch machen)l18. Nach Titos Tod 1980 sinkt die Zahl der sich "jugoslawisch" fUhlenden Bürger weiter. In der nur teilweise in Ergebnissen vorliegenden regulären Volkszählung 1991 lassen sich z. B. in Kroatien nur 2,2% der Bevölkerung als "Jugoslawen" deklarieren (1981 noch 8,2%)119. In Bosnien-Herzegowina verringert sich die Zahl der "Jugoslawen" 1991 von 7,9% (1981) aufS,5%120. Die jugoslawische Verfassung von 1974 spricht in ihrer Präambel davon, daß auf dem jugoslawischen Staatsgebiet mehrere Völker existieren, die sich in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts einschließlich des Loslösungsrechts zusammengeschlossen haben 121. In ihrem operativen Teil enthält die Verfassung allerdings kein ausdrückliches Sezessionsrecht wie z. B. die sowjetische Verfassung von 1977 122 • In der jugoslawischen Staatsrechtslehre und Praxis herrscht ein heftiger Streit darüber, ob der Präambel ein Sezessionsrecht der einzelnen Republiken zu entnehmen ise 23 . bb) Slowenien Am 23. Dezember 1990 sprechen sich 88,5% der slowenischen Wähler in einem Referendum ftIr die Unabhängigkeit ihrer Republik aus 124. Am 25. Juni 1991 erklärt sich Slowenien ftIr unabhängig, worauf am 27. Juni 1991 die Bundesarmee (JVA) eingreift, um eine Sezession zu unterdrücken 12S • Auf Drängen der EG setzt Slowenien seine Unabhängigkeit ftIr drei Monate aus und erreicht 118 Zum Problem des fehlenden Jugoslawentums siehe Lendvai, EA 45 (1990), 574; Djuric/Bengsch, 38f.; vgl. auch Brunner, in: Blumenwitz/von Mangoldt, 15 Fn. 13; Samary,31f. 119 Zahlen nach: AdolfKarger, Die serbischen Siedlungsräume in Kroatien, Osteuropa42 (1992),141. 120 Zahlen nach: Adolf Karger, Das Leopardenfell, Zur regionalen Verteilung der Ethnien in Bosnien-Herzegowina, Osteuropa 42 (1992), 1102 (1104). 121 Bagwell, GJICL 21 (1991),504/505; Bucar, IntP Heft 988 (1991),7; Lipowschek, 130. 122 BothelSchmidt, RGDIP 96 (1992),825; Lipowschek, 130. 123 Bagwell, GJCIL 21 (1991),508,509; Lipowschek, 130ff. 124 Zahlen nach Weller, AJIL 86 (1992),569. 125 Geiss, 54; Fritzler, 65.

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den Abzug der Bundesarmee aus der Republik l26 • Anfang Oktober 1991 erklärt sich Slowenien endgültig filr unabhängig 127 • Die slowenische Unabhängigkeit wird von den EG-Staaten am 15. Januar 1992 anerkannt. Auch die serbische Republik stellt sich der slowenischen Unabhängigkeit nicht entgegen; serbische Gebietsanpruche an Slowenien sind aufgrund von dessen weitgehender ethnischer Homogenität ausgeschlossen 128. Zwischen Slowenien und Kroatien besteht bereits seit 1953 ein Streit um die Grenzziehung bei der slowenischen Stadt Piran, der auch nach der Unabhängigkeit beider Staaten weiterschwelt 129 • cc) Kroatien Am 19. Mai 1991 votieren 93,24% der kroatischen Wähler fiir die Unabhängigkeit Kroatiens l3O • Zusammen mit Slowenien erklärt sich Kroatien am 25. Juni 1991 filr unabhängig; am 27. Juni 1991 beginnt der Versuch der Bundesarmee, die Sezession zu stoppen. Der Armeeeinsatz weitet sich rasch zu einem Bürgerkrieg aus, in dem die Bundesarmee ein Drittel des Territoriums der kroatischen Republik besetzt l3l . Nach dem Aussetzen der Unabhängigkeit zu Verhandlungszwecken im Juli 1991 auf Wunsch der EG erklärt sich Kroatien im Oktober 1991 erneut fiir souverän. Die mehrheitlich serbisch besiedelte Grenzregion Krajina proklamiert sich bereits im Dezember 1990 als "Republik Serbische Krajina" filr autonom; am 1. April 1991 beschließt sie ihren Anschluß an die Republik Serbien, was die serbische Bevölkerung am 12. Mai 1991 in einem Referendum unterstützt 132 • Die Bemühungen der EG um eine Konfliktlösung verlaufen ergebnislos. Das Eingreifen der Vereinten Nationen fiIhrt zum Abschluß eines Waffenstillstands, der die Entsendung von UN-Blauhelmen (UNPROFOR) in die serbisch besetzten Gebiete gestattet 133 • Kroatien, ebenfalls am 15. Januar 1992 von den EGStaaten als selbständiger Staat anerkannt 134 , ist mit der Präsenz der UN-Truppen unzufrieden. Nach einer einmaligen Verlängerung des Mandats von UNPROFOR erteilt der UN-Sicherheitsrat zum 1. April 1995 einer nur filr Kroatien zuständigen Schutztruppe mit dem Namen "UN-Confidence Restauration OperatiBugajski, llO-lll; Fritzler, 65; Magas, 30l. Bugajski, 111; Fritzler, 68. 128 Am 13. August 1992 erkennt die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) die Unabhängigkeit Sloweniens an; Geiss, 104. 129 KRWE 1994,40249. 130 Zahlen nach Weller, AJIL 86 (1992), 570. \31 Fritzler, 66. \32 Fritzler, 58, 62-63. \33 Fritzler, 69; Sicherheitsratsresolution 743 (1992) vom 24. Februar 1992. \34 Fritzler, 69; die Bundesrepublik Deutschland erkennt Kroatien ebenso wie Slowenien bereits am 23. Dezember 1991 an. 126

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on in Croatia" (UNCRO) ein neues Mandat 135 , das im November 1995 ausläuft. Die Blauhelme ziehen daraufhin ab 136 • Im Mai und August 1995 erobert Kroatien einen Großteil seines serbisch besetzten Gebiets zurück, die "Republik Serbische Krajina" wird zerschlagen. In der Hand der Serben verbleiben lediglich Teile Ostslawoniens, ca. 4,5% des kroatischen Territoriums 137 ; über die Rückgabe dieser Gebiete werden Verhandlungen aufgenommen 138. Nach Wahlen soll die Region Ende 1997 unter die volle kroatische Hoheitsgewalt zurückkehren 139 • Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und Kroatien erkennen sich im August 1996 gegenseitig an 140 • Die serbischen Gebietsanspüche an Kroatien waren vom serbischen Präsidenten Milosevic bereits vorher aufgegeben worden l41 • dd) Serbien und Montenegro

Am 28. März 1989 hebt die serbische Regierung die Autonomie des Kosovo und der Vojvodina auf, nachdem es insbesondere im Kosovo zu anti-serbischen Demonstrationen gekommen war 142 . Nach dem Bruch Kroatiens und Sloweniens mit der Föderation setzt Serbien die weitgehend von ihm kontrollierte Bundesarmee ein, um die Abspaltung zu verhindern. Als dies nicht gelingt, schließt Serbien sich mit Montenegro am 27. April 1992 zur "Bundesrepublik Jugoslawien" zusammen. Das "neue" Jugoslawien (auch "Rest-Jugoslawien" genannt) wird von der Staatengemeinschaft nicht als Rechtsnachfolger des ehemaligen Jugoslawiens anerkanne 43 • Serbien macht zunächst GebietsanspTÜche gegenüber Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien geltend, wobei es nach Aussage seines Präsidenten Milosevic dem Prinzip folgt: "Serbien ist, wo Serben leben"I44. Die albanische Bevölkerungsmehrheit der ehemaligen autonomen Provinz Kosovo spricht sich 1991 in einem Referendum mehrheitlich ftir die Gründung der unabhängigen "Republik Kosovo" aus; Albanien erkennt sie als selbständiFAZ vom 3. April 1995. Rüb, FAZ vom 30. November 1995. 137 Rüb, FAZ vom 7. Oktober 1995. 138 FAZ vom 12. August 1995. 139 Hoischen, FAZ vom 14. April 1997. 140 Reißmüller, FAZ vom 27. August 1996; Rüb, FAZ vom 24. August 1996. 141 Rüb, FAZ vom 1. September 1995. 142 Brunner, in: Blumenwitvvon Mangoldt, 19; Geiss, 53; Fritzler, 54; Libal, 132. 143 Einige Staaten der EU (u. a. Frankreich, Großbritannien, Österreich und Deutschland), nicht aber die Vereinigten Staaten, haben die Bundesrepublik Jugoslawien 1996 als neuen Staat anerkannt, vgl. FAZ vom 18. April 1996. 144 Fritzler, 51. 135

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gen Staat an 145. Serbien akzeptiert die Abspaltung nicht und ist bislang zu Gesprächen über die Zukunft des Kosovo nicht bereit l46 • Die ehemalige autonome Provinz Vojvodina strebt die Erneuerung ihrer autonomen Stellung in Serbien an, ohne dabei bei der Staatsregierung auf Entgegenkommen zu stoßen l47 • Im Sandzak, dem muslimisch geprägten Grenzgebiet zwischen Serbien und Montenegro, begehrt die etwa zwei Drittel der Bevölkerung ausmachende muslimische Mehrheit nach einem Referendum vom Oktober 1991 ein begrenztes Maß an Autonomie von Serbien und Montenegro, ohne die Außengrenzen des Staates verändern zu wollen. Die serbische Staatsfllhrung lehnt dieses Ansinnen ab 148 • ee) Bosnien-Herzegowina Bosnien-Herzegowina, eine Republik mit ethnisch und religiös stark gemischter Bevölkerung, schließt sich den Unabhängigkeitsbestrebungen der nördlichen Nachbarrepubliken erst spät an. Am 15. Oktober 1991 erklärt sich Bosnien-Herzegowina filr souverän; bei einer Volksabstimmung am 25. Januar 1992, die vom serbischen Bevölkerungsanteil (ca. 31%) boykottiert wird, entscheiden sich 99% filr die Unabhängigkeit l49 . Am 7. April 1992 erfolgt die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die Staaten der EG I50 . Am 22. Mai 1992 wird es in die UNO aufgenommen lSl • In diesem Zeitraum eskaliert der nach der Volksabstimmung ausgebrochene Bürgerkrieg zwischen den drei Hauptgruppen der Bevölkerung, den Serben, Kroaten und Muslimen. Die bosnischen Muslime sind seit den siebziger Jahren in Jugoslawien als eigene Nation anerkannt 1S2 • Zunächst verfolgen die bosnischen Kroaten und Serben getrennt das Ziel, die mehrheitlich von ihnen besiedelten Gebiete an Kroatien bzw. Serbien anzuschließen. Im Rahmen der Kriegshandlungen kommt es zu "ethnischen Säuberungen", die der Schaffung

145 Brunner, in: Blumenwitzlvon Mangoldt, 19; Bugajski, 130, 133; Rüb, FAZ vom 4. Juli 1994. 146 FAZ vom 25. März 1995. 147 Bugajski, 120. 148 Bugajski, 119f; Rüb, FAZ vom 5. März 1994; vgl. auch das Zitat des "Ministerpräsidenten des Muslimischen Nationalrats des Sandzak" Rasim Ljajic: "Wir wollen keine Grenzveränderung, aber wir wünschen uns eine Autonomie des Sandzak im Rahmen der gegenwärtigen 1ugoslawischen' Konföderation.", FAZ vom 2. April 1994. 149 Rich, EJIL 4 (1993), 48. ISO Geiss, 104. 151 Resolution 46/239 der UN-Generalversammlung. 152 Duncan, in: Duncan/Holman, 24/25; Poulton, 39.

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ethnisch reiner Gebiete dienen sollen lS3 • Die bosnischen Kroaten rufen unter ihrem Führer Boban die "Kroatische Republik Herzeg-Bosna" aus 1S4 • Die bosnischen Serben proklamieren die "Serbische Republik" auf den von ihnen gehaltenen ca. 70% des bosnischen TerritoriumsISS. In der muslimischen Enklave Bihac erklärt der muslimische Geschäftsmann Abdic mit seinen Anhängern die "Autonome Region Westbosnien" ftIr unabhängig und beginnt, separate Verhandlungen mit den serbischen Verbänden aufzunehmen. Als die Republik Kroatien die serbisch besetzte Krajina zurückerobert, nehmen bosnische Truppen endgültig die Enklave ein 1S6 • Auf den Druck der Vereinten Nationen bewegen sich die kroatischen und muslimischen Verbände in langen Verhandlungen aufeinander zu; im März 1994 wird der neue Staat "Kroatisch-Bosnische Föderation" aus den kroatisch und muslimisch gehaltenen Gebieten gebildet. Den bosnischen Serben wird die Teilnahme am neuen Staatsgebilde angeboten; sie verweigern jedoch jede Mitwirkung l57 • Nach mehreren gescheiterten Friedensplänen ftIr Bosnien-Herzegowina gelingt Ende 1995 der Durchbruch in den Verhandlungen. Der in Dayton (USA) ausgehandelte Friedensvertrag wird am 14. Dezember 1995 unterzeichnet 1S8 • Er bestimmt, daß sich Bosnien-Herzegowina aus der kroatisch-muslimischen Föderation 1S9, die 51% des Territoriums erhält, und der Serbische Republik - auf 49% des Landes - zusammensetzt und durch eine gemeinschaftlichen Regierung in Sarajevo verbunden wird. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags durch Milosevic gibt Serbien seine GebietsanspTÜche in Bosnien-Herzegowina auf.

ff) Makedonien Makedonien wird erst im "zweiten" Jugoslawien zur eigenen Republik. Tito verwendet viel Mühe darauf, durch wissenschaftliche Forschungen einen eigenen Nationalcharakter der Makedonen herausbilden zu lassen. Eine Einstufung

153 Dies geschieht durch alle Kriegsparteien, wenn auch in besonderem Ausmaß von serbischer Seite; vgl. Roggemann, 84f. 154 Geiss, 104; Schmid, BBIOS 34-1993, 24. 155 Geiss, 104; Schmid, BBIOS 34-1993, 24. 156 Rüb, FAZ vom 2. November 1995. 157 Reißmüller, FAZ vom 29. März 1994; Rüb, FAZ vom 17. März 1994. 158 The Times, 15. Dezember 1995. Text in ILM 35 (1996), 75ff. 159 Deren fortdauernde Existenz durch Spannungen zwis~hen den Kroaten und Muslimen bedroht ist, vgl. Rüb, FAZ vom 16. März 1996.

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des Makedonischen als eigene Sprache und die Abspaltung der makedonischorthodoxen Kirche vom serbischen Patriarchat tragen dazu bei l60 . Am 8. September 1991 sprechen sich 74% der makedonischen Bevölkerung in einem Referendum filr die Unabhängigkeit aus, wobei die serbische und die albanische Minderheit die Abstimmung boykottieren l61 . Am 19. November 1991 proklamiert sich Makedonien als unabhängig. Die albanische Minderheit erkärt sich am 5. April 1992 nach einem Referendum als "Albanische Autonome Republik Illyria" filr politisch und territorial autonom l62 . Am 8. April 1993 wird Makedonien unter der Bezeichnung "Former Yugoslavian Republic ofMacedonia" in die Vereinten Nationen aufgenommen l63 . Die Staaten der EG erkennen Makedonien erst am 16. Dezember 1993 an, mit Ausnahme von Griechenland, das Makedonien wegen des Streits um den Gebrauch des Namens und antiker makedonischer Symbole weiterhin die Anerkennung verweigert l64 . Im September 1995 erreichen Griechenland und Mazedonien eine Vereinbarung, in der Mazedonien auf die Verwendung der umstrittenen Symbole verzichtet. Der Namensstreit ist noch nicht beigelegt, die Beziehungen zwischen beiden Staaten normalisieren sich jedoch langsam l6S . Serbien erhebt zunächst Anspruche auf Makedonien als das frühere "Südserbien", einen Teil der serbischen Provinz im "ersten" Jugoslawien l66 . Inzwischen ist eine gegenseitige Anerkennung der beiden Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien erfolgtl67.

b) Grenzkonjlikte in der früheren UdSSR Zunächst werden die Gebietsstreitigkeiten zwischen den filnfzehn ehemaligen Sowjetrepubliken und mit ihren Nachbarn dargestellt; dann werden die Sezessionsbestrebungen innerhalb der einzelnen Republiken betrachtet. Dabei wird sich diese Arbeit angesichts der geschätzten "über hundert ethnoterritorialen Konfliktfälle,,168 auf die größeren bereits ausgebrochenen Konfliktsituationen bzw. die schwelenden Probleme mit dem größten Sprengpotential filr das territoriale Fortbestehen der Republiken beschränken. Poulton, 49-51; vgl. auch Brunner, in: BlumenwitzJvon Mangoldt, 15. Weithmann, Außenpolitik 44 (1993), 266. 162 Fritzler, 60; Schmid, BBIOS 34-1993, 23. 163 Generalversammlungsresolution 47/225 vom 13. April 1993. 164 F AZ vom 17. Dezember 1993; Baron, FAZ vom 22. Dezember 1993. 165 FAZ vom 7. Oktober 1995. 166 DuncawHolman, in: DuncanlHolman, 202; Weithmann, Außenpolitik 44 (1993), 267. 167 FAZ vom 9. April 1996. 168 Ha/bach, Außenpolitik 43 (1992), 389. 160

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aa) Hintergrund des Zerfalls der UdSSR Die Sowjetunion erreicht nach dem Zweiten Weltkrieg ihre größte Ausdehnung, nachdem sie in den Nachwehen der Revolution von 1917 Teile des früheren zaristischen russischen Imperiums verloren hatte. Nach einer frühen Phase der Betonung der einzelnen Völker gegenüber den Russen, die eine Zustimmung zum kommunistischen System erleichtern soll, setzt die Zentralregierung viel daran, in der Bevölkerung den homo sovieticus 169 , den Sowjetmenschen, durchzusetzen 170. Die Einheit der Werktätigen soll nationale, ethnische oder religiöse Unterschiede überwinden l7l . Doch die Verbundenheit der Sowjetbürger mit ihren geschichtlichen und ethnischen Wurzeln erweist sich als stärker als der Wille der Obrigkeit 172 ; mit dem Wegfall des kommunistischen Zwangs brechen die Unterschiede zwischen den Volksgruppen wieder auf. Die sowjetische Verfassung von 1977 enthält, wie alle sowjetischen Verfassungen vor ihr, ein Sezessionsrecht 173 • Dieses ist bis zum Zusammenbruch des Sozialismus praktisch ohne Bedeutung, da keine Republik die Abspaltung wagen darf; es fehlen auch jegliche Ausfilhrungsbestimmungen 174• Im Kielwasser der Perestroika beginnen die einzelnen Republiken, sich auf ihre Eigenständigkeit zu besinnen. Ein in Reaktion darauf beschlossenes Sezessionsgesetz vom 3. April 1990 bleibt wegen seines komplizierten und langwierigen Verfahrens Makulatur 17S . Die Sezessionsbestrebungen gipfeln schließlich im Ende der UdSSR, das mit der Initiative der drei slawischen Republiken Ukraine, Rußland und Belorus zur Gründung einer Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) am 8. Dezember 1991 eingeläutet wird 176 • Am 21. Dezember 1991 treffen elf der 169 HoedtlLefeber, in: Changing Structure, 4; zu den Charakteristiken der "Neuen Sowjetperson" vgl. die ausführliche Studie in Donald D. BarrylCarol Barner-Barry, Contemporary Soviet Politics, New Jersey, 1978, S. 52ff. 110 Vgl. aus dem Referat Breshnevs auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU im März)April 1971: "In den Jahren des sozialistischen Aufbaus ist in unserem Lande eine neue historische Gemeinschaft der Menschen - das Sowjetvolk - entstanden. Bei gemeinsamer Arbeit, im Kampf für den Sozialismus und in den Kämpfen fllr seinen Schutz wurden neue, harmonische Beziehungen zwischen den Klassen und sozialen Schichten der Nationen und Nationalitäten geboren.", zit. nach Meissner, in: BrunnerlMeissner, 21-22. 111 Meissner; in: BrunnerlMeissner, 16/17. 112 Dazu Meissner, in: BrunnerlMeissner, 34; NahaylolSwoboda, 354; Szporluk, in: ColtonlLegvold,87. 113 Art. 72; Brunner, GYIL 34 (1991), 376. Dazu Schweisfurth, ZaöRV 52 (1992), 598-601. 114 Brunner, GYIL 34 (1991), 376; NahaylolSwoboda, 139. 115 Brunner, GYIL 34 (1991), 376-378; Peters, 217f; vgl. auch Schmid, BBIOS 341993,13; Schweisfurth, ZaöRV 52 (1992), 606; Simon, BBIOS 25-1991, 6. 116 Minsker Abkommen über den "Freundschaftsbund unabhängiger Staaten": "Wir, die Republik Weißrußland, die Russische Föderation und die Ukraine ... konstatieren, daß die UdSSR als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität aufhört zu existieren ... Die Tätigkeit der Organe der ehemaligen UdSSR auf dem Territorium der

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filnfzehn früheren Sowjetrepubliken I77 in Alma-Ata (heute: Almaty) zusammen und schließen einen Vertrag über die Errichtung der GUS mit dem Inhalt, daß "with the fonnation of the Commonwealth of Independent States the Union of the Soviet Socialist Republics ceases to exist." 178

bb) Die baltischen Staaten Die baltischen Republiken verlangen zunächst Ende der achtziger Jahre in einer Reihe von Autonomieerklärungen mehr staatliche Souveränität gegenüber der UdSSR I79 . 1990 gehen sie zu Unabhängigkeitserklärungen über l80 . In den darauf folgenden Referenden im FebruarlMärz 1991 votiert die Bevölkerung der jeweiligen Republiken mit großer Mehrheit ftlr die Unabhängigkeit: 93,2% der Litauer bei einer Abstimmungsbeteiligung von 84,5%, 78,4% der Esten bei einer Beteiligung von 82,9% und 74,9% der Letten bei einer Beteiligung von 87,6%181. Am Tag des Scheitems des Augustputsches in der Sowjetunion (2l. August 1991) werden die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Staaten, die (mit Ausnahme der litauischen) mit einer Übergangsfrist versehen sind 182 , ftlr sofort vollziehbar erklärt 183 •

Mitgliedsstaaten des Freundschaftsbundes erlischt.", zit. nach Halbach, 115; vgl. auch Schweisfurth, ZaöRV 52 (1992), 636-669; Schmid, BBIOS 34-1993, 14. 177 Die drei baltischen Staaten sehen von einer Mitwirkung ab; Georgien fehlt ebenfalls, tritt nach innenpolitischen Schwierigkeiten jedoch im Oktober 1993 nachträglich der GUS bei, FAZ vom 22. Oktober 1993. Siehe auch Peters, 168 Fn. 544. 178 Zit. nach Rich, EIIL 4 (1933), 45. Am 15. März 1996 beschließt die mehrheitlich kommunistische Staatsduma Rußlands: "I. Der Beschluß des Obersten Sowjet der RSFSR (der Russischen Sowjetischen Föderativen Sozialistischen Republik) über die "Kündigung des Vertrages der Gründung der UdSSR" vom 12. Dezember 1991 gilt als außer Kraft gesetzt.... ", FAZ vom 16. März 1996. Dies wird mit einem Aufruf zur Stärkung der Einheit der "Brudervölker" verbunden. Diesem nicht in Gesetzesfonn gefaßten Beschluß kommt völkerrechtlich keine Bedeutung zu. Die meisten Mitgliedstaaten der GUS bekräftigen sofort das Beharren auf ihrer Unabhängigkeit; vgl. Hoffmann, FAZ vom 18. März 1996. 179 "Erklärung über die Souveränität der Estnischen SSR" vom 16. November 1988, "Erklärung über die staatliche Souveränität Litauens" vom 18. Mai 1989, "Erklärung über die staatliche Souveränität Lettlands", vom 28. Juli 1989; vgl. dazu Brunner, GYIL 34 (1991), 364ff.; Schmid, BBIOS 34-1993,12; Zaslavsky, 40. 180 "Akt über die Wiederherstellung des unabhängigen litauischen Staates" vom 11. März 1990; "Beschluß über den staatlichen Status Estlands" vom 30. März 1990; "Erklärung über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der lettischen Republik" vom 4. Mai 1990; dazu Bogdan, 372; Brunner, GYIL 34 (1991), 368ff.; Schmid, BBIOS 34-1993, 12. 181 Zahlen nach Brunner, GYIL 34 (1991), 369. 182 Rudrakumaran, BUILJ 10 (1992), 33/34. 183 Brunner, GYIL 34 (1991),370; Schmid, BBIOS 34-1993,12.

11. Situation seit 1989

239

Der neugeschaffene sowjetische Staatsrat erkennt Mitte 1991 die Unabhängigkeit der baltischen Staaten an 184 . Am 17. September 1991 werden sie in die Vereinten Nationen aufgenommen l8s •

(a) Belorus-Litauen Belorus erhebt Anspruch auf einen schmalen Gebietsstreifen, den Litauen bei seinem Anschluß an die Sowjetunion zugeschlagen bekommen hatte l86 • Litauen, das im Gegenzug AnsprUche auf den nordwestlichen Teil Weißrußlands äußert, weist alle Forderungen zurück. Inzwischen sind beide Staaten übereingekommen, ihre gegenseitigen Grenzen zu akzeptieren l8 '.

(b) Estland-Rußland Estland macht zunächst gegenüber Rußland GebietsansprUche wegen der territorialen Verschiebungen zugunsten Rußlands nach der Annexion Estlands geltend 188 und verlangt die Rückkehr zur im Friedensvertrag von Dorpat (Tartu) 1920 bestimmten Grenze 189. Rußland lehnt jede Grenzrevision kategorisch ab l90 . Ende 1996 gibt Estland seinen Gebietsanspruch auf und verzichtet auf die Erwähnung des Vertrags von Dorpat l91 •

(c) Lettland-Rußland Lettland verlangt von Rußland eine Wiederherstellung der' Grenzen des Friedensvertrags von Tartu aus dem Jahr 1920, wogegen Rußland sich verwahrt 192 •

184 Brunner, GYIL 34 (1991), 370; Muiznieks, in: Bremmerffaras, 182; Schmid, BBOIS 34-1993, 13. 18S Generalversammlungsresolutionen 46/4, 46/5, 46/6. 186 Stö/ting, 73; Ha/bach, BBOIS 31-1992, 37; Koskenniemi/Lehto, AFDI 38 (1992), 194 Fn. 70; Raun, in: Duncan!Holman, 169. 187 Ha/bach, BBOIS 31-1992,37. 188 tdn vom 24. November 1994; Ha/bach, BBOIS 31-1992, 37; KoskenniemilLehto, AFDI 38 (1992), 194; Raun, in: Duncan!Holman, 168-169; Sore/IMehdi. AFDI 40 (1994),39. 189 Schweisfurth, BDGV 35 (1995),137; KRWE 1996,41200. 190 Präsident Jelzin erklärt, nicht "one single centimeter" Land zurückzugeben, tdn vom 24. November 1994; vgl. Raun, in: Duncan!Holman, 168/169; Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 137. Siehe auch KRWE 1996,41200. 191 Nie/sen-Stokkeby, FAZ vom 18. Februar 1997. 192 KoskenniemilLehto, AFDI 38 (1992), 194.

F. uti possidetis in Europa

240

Es gibt Anzeichen daftlr, daß Lettland ebenso wie Estland von dieser Forderung abrücken wird l93 .

(d) Litauen-Polen Die polnische Minderheit in Litauen (8% der Bevölkerung)194 fordert Autonomie bis hin zum Anschluß an Polen l9s . Litauen nimmt den Sezessionsbestrebungen die Schärfe, indem es der polnischen Bevölkerungsgruppe Gebietsautonomie zugesteht l96 .

cc) Slawische und westliche Republiken Die Ukraine erklärt am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit, die nachfolgende Volksabstimmung am 1. Dezember 1991 bestätigt dies mit Mehrheit 197 • Belorus proklamiert am 26. August 1991 seine Unabhängigkeie 98 . Rußland erklärt sich am 12. Juni 1990 zwar ftlr souverän, verzichtet aber bis zum Ende der Sowjetunion auf eine Unabhängigkeitserklärung l99 . Es wird von den EG-Staaten als Rechtsnachfolger der Sowjetunion akzeptierfoo und nimmt als solcher auch den Sitz der UdSSR im UN-Sicherheitsrat ein201 . Moldawien erklärt sich am 27. August 1991 ftlr unabhängig202 .

(a) Ukraine-Rußland 1954 schenkt Chruschtschow der Ukraine zum 300. Jahrestag der Union mit Rußland die Krim203 . Nach dem Zerfall der Sowjetunion fordert Rußland die von Altenbockum, FAZ vom 20. November 1996. Bogdan, 372. 195 Bogdan, 373; Halbach, BBOIS 31-1992, 38; Stölting, in: Lottes, 263. 196 Brunner, GYIL 34 (1991), 374. 197 Krawchenko, in: Bremmerffaras, 90-92; Schmid, BBOIS 34-1993, 15. 198 Schmid, BBOIS 34-1993, 15. 199 Bogdan, 390; Brunner, GYIL 34 (1991),366; Schmid, BBOIS 34-1993, 15,33. 200 Rich, EJIL 4 (1993), 45-46; Schmid, BBOIS 34-1993, 34f., hält die Russische Föderation rur ein neues Völkerrechtssubjekt, erkennt aber an, daß die Staatenwelt Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR akzeptiert hat. Zur Diskussion über die rechtliche Einstufung Rußlands als "Fortsetzerstaat" siehe Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 62-67,170-182 und ders. ZaöRV 52 (1992), 669-691. 201 Schmid, BBOIS 34-1993, 33. 202 Fane, in: Bremmerffaras, 136; Schmid, BBOIS 34-1993, 14. 203 DawydowlTrenin, EA 48(1993), 179; Halbach, 50/51; Holman, in: Duncan/Holman, 84; Ochmann, FAZ vom 19. März 1994, 8; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 399. 193

194

11. Situation seit 1989

241

Halbinsel von der Ukraine zurück und beruft sich dabei auf seine historische Verbundenheit zur Krim 204 • Unterstützung erflihrt es durch die mehrheitlich russische Bevölkerung der Krim 20S • Die Ukraine lehnt bis heute jede Grenzrevision ab, gesteht der Krim 1992 jedoch den Status einer "souveränen Republik" zu, was deren sezessionistische Bestrebungen zunächst bremsr06 • Im Mai 1994 setzt das Krim-Parlament jedoch die ausgesetzte Verfassung von 1992 wieder in Kraft207 , was zu einem erneuten Streit über den genauen Status bzw. den Grad der Unabhängigkeit der Krim fUhrt. Dabei erklärt der russische Außenminister Tschernomyrdin allerdings: "Die Krim ist ein Teil der Ukraine, und Rußland respektiert die territoriale Integrität der Ukraine. ,,208

Damit scheinen die russische Ansprüche auf die Krim aufgegeben zu sein; eine Abspaltung der Krim ohne die Unterstützung Rußlands ist nicht sehr wahrscheinlich. Die ukrainische Regierung erklärt Anfang 1995 den Präsidenten der Krim sowie das Parlament der Krim wegen ihrer Gesetzwidrigkeit fiir abgesetzt. Im Entwurf der neuen ukrainischen Verfassung ist der Krim weiterhin der Status einer "autonomen Republik" zugestanden 209 •

(b) Ukraine-Moldawien

Moldawische Nationalisten beanspruchen die Gebiete Bessarabiens zurück, die zwischen 1940 und 1944 an die Ukraine fallen 2lO • Die moldawische Regierung vertritt diese Ansprüche gegenüber der Ukraine jedoch nicht aktiv. Die 204 Ochmann, FAZ vom 19. März 1994: Der Oberste Sowjet der Russischen Föderation stellt die Rechtmäßigkeit des Beschlusses von 1954 in Frage. Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 402. Dabei wird von russischer Seite der ukrainisch-russische Vertrag vom 19. November 1990 vergessen, der in Artikel 6 besagt: "Les hautes parties contractantes reconnaissent et respectent I'integrite territoriale de la RSFS de Russie et de la RSS d'lJkraine dans les frontieres existantes dans le cadre de I'URSS.", zit. nach Sorel/Mehdi, AFDI 40 (1994),17 Fn. 41. 205 Brunner, GYIL 34 (1991), 374; Holman, in: DuncanlHolman, 91/92. Bei der Präsidentenwahl in der Krim 1994 gewinnt der prorussische Kandidat Meschkow, der einen Anschluß an Rußland propagiert, mit 72,9% der Stimmen, vgl. FAZ vom 1. Februar 1994. 206 DawydowlI'renin, EA 48(1993), 187; Ho/man, in: DuncanlHolman, 91; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 404. 207 FAZ vom 24. Mai 1994: In der Verfassung "heißt es zweideutig, die "Republik Krim" sei Teil der Ukraine und regele die Beziehungen zu ihr auf vertraglicher Grundlage". 208 Zit. nach FAZ vom 25. Mai 1994. 209 Schweisfurth, FAZ vom 23. März 1996. Inzwischen ist vom ukrainischen Parlament eine Verfassung tUr die autonome Republik Krim verabschiedet worden, FAZ vom 6. April 1996. 210 Halbach, BBOIS 31-1992, 37f.; Fane, in: Bremmerffaras, 131; Reißmüller, FAZ vom 26. Oktober 1993; Stö/ting, 99; Stölting, in: Lottes, 267.

16 Simmler

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F. uti possidetis in Europa

Ukraine könnte dem, was bislang nicht geschehen ist, Ansprüche auf den Transdnjestr-Teil Moldawiens entgegenhalten21l • (c) Ukraine-Rumänien

Das rumänische Parlament erklärt im Juli 1991 den Hitler-Stalin-Pakt von 1940 filr ungültig und leitet daraus Ansprüche auf die der Ukraine zugeschlagenen Gebiete Bessarabiens und der Nordbukovina ab 2l2 • Die Ukraine weistjegliche territorialen Ansprüche Rumäniens zurück. 1997 erklärt sich Rumänien bereit, diese Ansprüche fallenzulassen 2l3 • (d) Moldawien-Rumänien

Moldawien steht insbesondere kurz nach seiner Unabhängigkeit unter dem Druck rumänischer Nationalisten, eine Vereinigung mit Rumänien herbeizuftlhren2l4 . Dabei werden vor allem historische Gründe filr eine Vereinigung vorgebracht. Nach den letzten Wahlen in Moldawien befmdet sich jedoch eine Gruppierung an der Macht, die einem Anschluß an Rumänien eher ablehnend gegenübersteht215 .

(e) Belorus-Rußland

Rußland strebt eine Vereinigung mit Belorus an; die weißrussische Regierung steht dem nicht abgeneigt gegenüber. Am 2. April 1996 wird zwischen beiden Staaten ein Vertrag mit dem Ziel einer "vertieften Integration" geschlossen, der eine supranationale Union zum Ziel har l6 . Daneben soll eine EUähnliche Gemeinschaft zwischen Rußland, Belorus, Kasachstan und Kyrgysstan geschaffen werden217 •

Fane, in: Brernmerffaras, l31; Halbach, BBOIS 31-1992, 38. Halbach, BBOIS 31-1992, 38; Gabanyi, Außenpolitik 44 (1993), 107. 21J Hoischen, FAZ vom 27. März 1997; FAZ vom 5. Mai 1997. 214 Alexandrova, Außenpolitik 43 (1992), 327; Fane, in: Bremmerffaras, 129; Hartwig, Osteuropa 44 (1994), 1076. 215 Alexandrova, Außenpolitik 43 (1992), 327; Fane, in: Bremmerffaras, 128; Hartwig, Osteuropa 44 (1994), 1074. 216 V gl. Hoffmann, FAZ vom 18. März 1996; FAZ vom 26. März 1996; FAZ vom 3. April 1996; KRWE 1996,41062. 217 FAZ vom 26. März 1996. Der entsprechende vierseitige Vertrag wird am 29. März unterzeichnet, FAZ vom 11. April 1996. 211

212

11. Situation seit 1989

243

(f) Rußland-China

1991 fUhren die 1987 unter Gorbachev aufgenommenen Grenzverhandlungen mit China218 zum Abschluß eines gemeinsamen Grenzvertrags, der den Verlauf der umstrittenen Ostgrenze regelt; das russische Parlament ratifIziert ihn 1992219 .1994 einigen sich Rußland und China über den Verlauf der zwischen der Sowjetunion und China umstrittenen Westgrenze220 • dd) Transkaukasische Republiken Armenien, Aserbaidshan und Georgien bilden 1922 bis 1936 die Transkaukasische Republik. Mit der Verfassung Stalins von 1936 werden sie wieder zu selbständigen Einheiten221 . Georgien erklärt sich im Sog der baltischen Republiken am 9. April 1991 filr unabhängig. Aserbaidshan folgt am 30. August 1991, Armenien nach einer positiven Volksabstimmung am 22. September 1991 222 • (a) Aserbaidshan-Iran

Der Iran befilrchtet Gebietsansprüche Aserbaidshans auf seine von Azeris bewohnte Grenzregion. Dies stützt sich auf die Erfahrungen mit einer iranischazerischen Unabhängigkeitsbewegung von 1954, die den Anschluß an Aserbaidshan propagiert und vom Iran nur mit britischer Hilfe niedergeschlagen werden kann223 • Aserbaidshan meldet jedoch bislang keine offiziellen Territorialansprüche an224 •

Schweisfurth, EPIL Vol. I (1992),459. Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 135; Wacker, BBOIS 49-1993, 3-4. 220 FAZ vom 5. September 1994; zu den vorbereitenden Verhandlungen siehe Wakker, BBOIS 49-1993, 24-26. 221 Rezun, 71; Stölting, 230; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 410. 222 Brown, in: Rezun, 104; Brunner, GYIL 34 (1991), 368, 370; Dudwick, in: BremmerfTaras, 278; Grobe-Hagel, 41, 110. 223 Duran, Außenpolitik 43 (1992), 375; zu früheren Aufstandsversuchen iranischer Azeris siehe Wimbush, in: McCaggiSilver, 66-70. 224 Fuller, EA 48 (1993), 201 Fn. l. Von Seiten der Nationalisten dagegen wird die Forderung auf Eingliederung der Azeris des Iran weiterhin propagiert, Hunter, in: Bremmer/Taras, 229, 233; Bogdan, 420. 218 219

16"

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F. uti possidetis in Europa

(b) Aserbaidshan-Rußland

Aserbaidshan erklärt Rußland gegenüber, seine Grenzen als externe Grenzen zu betrachten, auch wenn einige Mitglieder der GUS ihre gemeinsamen Grenzen als Binnengrenzen ansähen. Daher werde Aserbaidshan keine Grenzkontrolle durch russische Truppen zulassen, was Rußland zur Bekämpfung des Drogenhandels gefordert habe 22s • (c) Aserbaidshan-Georgien

Georgien macht ein Anrecht auf eine georgische Siedlung im Grenzgebiet von Aserbaidshan geltend, was dieses ZUTÜckweisr 26 • Aserbaidshan erstrebt die Angliederung des südöstlichen Teils von Georgien227 • Zu bewaffneten Streitigkeiten hierüber ist es noch nicht gekommen.

(d) Armenien-Aserbaidshan

Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidshan ist das Ergebnis eines türkisch-russischen Übereinkommens vom 16. März 1921. Auf türkischen Wunsch hin werden Nachitschewan als aserbaidshanische Exklave in Armenien mit dem Status eines autonomen Gebiets und die mehrheitlich armenische Enklave BergKarabach als autonome Republik Aserbaidshan unterstellr28 • 1990 verlangt Armenien den Anschluß Nachitschewans. Es kommt zu Grenzstreitigkeiten, die nach Eingreifen der sowjetischen Zentralregierung mit der Festschreibung des status quo enden229 • Berg- (auch: Nagornyj-)Karabach erklärt sich am 4. September 1991 nach einer längeren Periode blutiger Zusammenstöße zwischen Armeniern und Azeris seit 1988230 zur eigenständigen Republik231 • Ein Referendum vom 10. Dezember 1991 ergibt eine Mehrheit von 82% der Bevölkerung fiIr diesen Schritt, wobei die aserbaidshanische Minderheit die Abstimmung boykottierr32 • Asertdn vom 23. November 1994. IpB aktuell GUS, 6; Halbach, BBOIS 31-1992, 17; Jones, in: Rezun, 82. 227 Halbach, BBOIS 31-1992, 16. 228 Auch, in: Ehrhart, 76; Stölting, 253; Grobe-Hagel, 52; Halbach, BBOIS 31-1992, 18; Hunter, in: Bremmerffaras, 247; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 410-441. 229 Auch, in: Ehrhart, 86; Stölting, in: Lottes, 267. 230 Vgl. zum genauen Ablauf Auch, in: Ehrhart, 83ff.; Bogdan, 378-381; Ha/bach, BBOIS 31-1992, 20-21; Hunter, in: Bremmerffaras, 247f.; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),412-414. 231 Fuller, EA 48 (1993), 195; Grobe-Hagel, 51; Halbach, BBOIS 31-1992, 21. 232 Manutscharjan, Osteuropa 42 (1992), 962. 225

226

11. Situation seit 1989

245

baidshan reagiert mit militärischem Druck; die Annenier Berg-Karabachs besetzen daraufhin gewaltsam einen Korridor zu Annenien233 , das ihren Kampf unterstützf 34 . Die militärischen Fronten sind verhärtet, eine Lösung scheint trotz eines unsicheren Waffenstillstands von 1994 nicht in Sichf35 • Aserbaidshan hält an der Unverletzlichkeit seiner Grenzen fesf 36 • (e) Armenien-Georgien

Aus historischen Gründen macht Annenien AnsprUche auf das Gebiet Batumi geltend, das aufgrund des türkisch-russischen Vertrags von 1921 an Georgien fäuf 37 . Zu direkten Auseinandersetzungen um diesen Anspruch kommt es zwischen den beiden Staaten nichf38 • ee) Zentralasiatische Republiken Usbekistan, Kasachstan, Kyrgysstan, Turmenistan und Tadshikistan, die früher zusammen das zaristische Turkestan bilden, werden 1922 zunächst zur Turkestanischen Sozialistischen Sowjetrepublik vereint. In den folgenden Jahren bilden sich infolge der bolschewikischen Nationalitätenpolitik filnf Einzelrepubliken239 . Die dabei gezogenen Grenzen sind willkürlich, nicht an ethnischen, historischen oder anderen Grenzlinien orientiert und werden im Verlauf der sowjetischen Herrschaft über neunzigmal geänderf40 • Usbekistan erklärt sich ebenso wie Kyrgysstan am 31. August 1991 fiir unabhängig, Tadshikistan am 9. September 1991 241 • Kasachstan und Turkmenistan, die am 5. Oktober 1990 bzw. 22. August 1990 ihre Souveränität (im Rah-

233 Altstadt, in: Duncan/Holman, 117; Fuller, EA 48 (1993), 196; Manutscharjan, Osteuropa42 (1992), 963. 234 Fuller, EA 48 (1993), 193; Halbach, BBOIS 31-1992, 22; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),414. 235 Vgl. aus der Sicht des UNHCR Redmond, Refugees 1994, 24f.; FAZ vom 10. August 1994: "Unklar sei aber noch der künftige politische Status von Nagomyj Karabach." Siehe auch Altstadt, in: Duncan/Holman, 128; Jacoby, FAZ vom 18. Februar 1997. 236 Jacoby, FAZ vom 18. Februar 1997; Lerch, FAZ vom 21. Juni 1995. Vgl. FAZ vom 22. April 1997. 237 Auch, in: Ehrhart, 76; Stölting, 253; vgl. auch Ha/bach, BBOIS 31-1992, 16. 238 IpB aktuell GUS, 6. 239 Gleason, in: Bremmerffaras, 335f.; Halbach, BBOIS 31-1992, 38; Olcott, in: Hajda/Beissinger, 255; Schatalina, Osteuropa 44 (1994), 1047. 240 Halbach, Außenpolitik 43 (1992), 388. 241 Brunner, GYIL 34 (1991), 370; Grobe-Hagel, 153,205,239.

246

F. uti possidetis in Europa

men der UdSSR) proklamiert hatten242, flilIt die Unabhängigkeit schließlich mit der Auflösung der Sowjetunion ZU243. (a) Kyrgysstan-Tadshikistan

In Tadshikistan bricht 1992 ein Bürgerkrieg aus. Die Auseinandersetzungen, die eine ethnische Komponente beinhalten und zum größten Teil "on mainly geographical clan lines" ausgefochten werden244, berühren auch das benachbarte Kyrgysstan. Flüchtlinge kyrgyssischer Herkunft strömen über die Grenze. Offizielle Gebietsansprüche Tadshikistans gegen Kyrgysstan werden nicht geltend gemachr45 • Die Kämpfe zwischen den Clans des multi-ethnischen Tadshikistan bedrohen jedoch den Frieden im ähnlich multi-ethnisch strukturierten Kyrgysstan246 • Von kyrgyssischer Seite wird der Bestand der Grenzen in Frage gestellr47 ; Kyrgysstan erhebt Anspruch auf kyrgyssisch besiedelte Teile des Autonomen Gebiets Berg-Badachshan in Tadshikistan, ohne dies aktiv zu verfolgen248 • (b) Kyrgysstan-Kasachstan

Die Grenze zwischen Kyrgysstan und Kasachstan ist insoweit in ihrem Bestand nicht gesichert, als sich im grenznahen Kyrgysstan ein starker kasachischer Bevölkerungsanteil befmder49 , auf den Kasachstan Ansprüche geltend machr 50 • Kyrgysstan berühmt sich dagegen eines Anspruchs auf südliche Gebiete Kasachstans251 • Beide Ansprüche werden im Augenblick nicht öffentlich aufgeworfen. Kyrgysstan und Kasachstan bemühen sich gemeinsam mit Rußland und Belorus um die Schaffung einer supranational~n Union252 •

Brunner, GYIL 34 (1991),366; Grobe-Hagel, 129,230. Brunner, GYIL 34 (1991), 370; Halbach, 102; Olcott, in: Bremmerffaras, 325/326; vgl. auch Helgesen, in: DuncanlHolman, 137; Nissman, in: Bremmerffaras, 387. 244 Colville, Refugees 1994,26; Helgesen, in: DuncanlHolman, 145. 245 Es besteht ein latenter Anspruch Tadshikistans auf Teile der kyrgyssischen Provinz Osch, Halbach, BBOIS 31-1992, 42. 246 Nahaylo, Refugees 1994, 8. 247 Helgesen, in: DuncanlHolman, 146. 248 Halbach, BBOIS 31-1992, 39, 42. 249 Palat, Osteuropa 44 (1994), 1015. 250 Halbach, BBOIS 31-1992, 42. 251 Halbach, BBOIS 31-1992, 42. 252 FAZ vom 26. März 1996; FAZ vom 11. April 1996. 242 243

11. Situation seit 1989

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(c) Kyrgysstan-Usbekistan

Im Fergana-Tal an der Grenze zwischen Usbekistan und Kyrgysstan kommt es bereits 1989 zu ethnisch motivierten Auseinandersetzungen und Pogromen, die mit der vollständigen Vertreibung der meschetischen Volksgruppe enden2s3 • Die Grenze zwischen den beiden Staaten wird dabei nicht ausdrücklich angegriffen; angesichts der ethnischen Vielfalt in diesem Gebiet sind jedoch gegenseitige GebietsansprUche als latente Gefahr gegeben2S4 • Die Usbeken tendieren zudem in einem agressiven Nationalismus dazu, zugunsten der außerhalb des Staates lebenden usbekischen Minderheiten zu intervenieren2SS • Sie unterstützen z. B. die mehrheitlich usbekisch bewohnte kyrgyssische Provinz Osch in ihrem Streben nach Autonomie256 • (d) Kyrgysstan-Rußland

1996 nehmen Ky..gysstan2S7 und Rußland, die bis dahin keine Grenzstreitigkeiten zu verzeichnen hatten, Verhandlungen zur Förderung einer "vertieften Integration" nach russisch-weißrussischem Vorbild aufS8 • Dies soll zu einer auch Kasachstan und Weißrußland umfassenden Gemeinschaft führen 2S9•

(e) Usbekistan-Tadshikistan

Tadshikistan erhebt Anspruch auf die bei der Aufteilung von Turkestan Usbekistan zugeschlagenen alten tadshikischen Kulturstädte Buchara und Samarkand260 • Usbekistan weist diesen Anspruch mit aller Schärfe zurück; eine Vereinigung beider Städte mit Tadshikistan wäre aufgrund der dazwischenliegenden usbekisch besiedelten Gebiete schwer durchzuführen261 • Usbekistan macht gegenüber Tadshikistan SchutzansprUche zugunsten der usbekischen Minderheit

253 Brunner, GYIL 34 (1991), 375; Ha/bach, Außenpolitik 43 (1992), 389; Nahay/o, Refugees 1994, 6. 254 Pa/at, Osteuropa 44 (1994), 1016; vgl. auch He/gesen, in: Duncan!Holman, 146. 255 Pa/at, Osteuropa 44 (1994), 1016. 256 Ha/bach, BBOIS 31-1992, 42; Pa/at, Osteuropa 44 (1994), 1017; vgl. auch He/gesen, in: Duncan!Holman, 144; Huskey, in: Bremmerffaras, 406. 257 Das eine russische Minderheit von 21% der Gesamtbevölkerung in seinen Grenzen beherbergt, Bogdan, 419. 258 Hoffman, FAZ vom 18. März 1996. 259 FAZ vom 26. März 1996; FAZ vom 11. April 1996. 260 Atkin, in: Bremmerffaras, 373; Dawydow/Trenin, EA 48 (1993), 186; Ha/bach, BBOIS 31-1992, 42; He/gesen, in: Duncan!Holman, 145; Pa/at, Osteuropa 1994,1009. 261 Pa/at, Osteuropa 44 (1994), 1017.

248

F. uti possidetis in Europa

geltend262 und unterstützt sie in der im Bürgerkrieg befmdlichen tadshikischen Provinz Kurgan-Tjube 263 • (f) Tadshikistan-China

Tadshikistan selbst ist wegen seiner durch den Bürgerkrieg geschwächten Situation nicht in der Lage, Gebietsanspüche gegenüber China anzurnelden264 . Doch führt der in Tadshikistan vergleichsweise weit verbreitete Pan-Islamismus dazu, in der chinesischen Provinzen Xinjiang (dem früheren Ostturkestan) Anschlußtendenzen der Uiguren hin nach Tadshikistan auszulösen. China unterdrückt solche Bestrebungen kompromißlos 265 . (g) Tadshikistan-Afghanistan

Der afghanische Präsident Rabbani, der der tadshikischen Fraktion in Afghanistan angehört und seinen Rückhalt im afghanischen Bürgerkrieg in den von ihm beherrschten vier Nordost-Provinzen fmdet, wünscht eine Vereinigung Afghanistans und Tadshikistans in einern Staat, Groß-Tadshikistan266 • Die unübersichtliche Situation in den beiden vorn Bürgerkrieg geschüttelten Staaten läßt eine aktive Verfolgung dieses Planes jedoch unwahrscheinlich erscheinen.

(h) Kasachstan-Rußland

Der Norden Kasachstans ist aufgrund von Migrationsbewegungen der letzten 260 Jahre vorwiegend russisch besiedelf67 • Die Bevölkerung in diesem Teil Kasachstans artikuliert immer wieder Wünsche nach einer Vereinigung mit

Palat, Osteuropa 44 (1994), 1016f. Palat, Osteuropa44 (1994),1017; vgl. auch Helgesen, in: Duncan/Holman, 145. 264 In der gemeinsamen Erklärung zu den Grundprinzipien der gegenseitigen Beziehungen Chinas und Tadshikistans vom 9. März 1993 heißt es: "2. Die Volksrepublik China und die Republik Tadshikistan werden auf der Basis der gegenseitigen Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität ... " zit. nach Wacker, BBOIS 27-1994,17. 265 Palat, Osteuropa 44 (1994), 10 11; vgl. auch Heberer, FAZ vom 24. August 1996; Wacker; BBOIS 12-1994,6,8. Zum Auftlammen sezessionistischer Unruhen siehe FAZ vom 10. März 1997; Lerch, FAZ vom 12. Februar 1997; Thielbeer, FAZ vom 12. Februar 1997. 266 Danesch, FAZ vom 5. Mai 1995; vgl. auch Bogdan, 420. 267 Besonders seit 1954 durch einen von Chruschtschow initiierten Einwanderungsschub, siehe Nahaylo, Refugees 1994, 5. In Kasachstan stellen die Kasachen nur ca. 40% der Bevölkerung, Olcott, in: Bremmerrraras, 313. 262 263

11. Situation seit 1989

249

Rußland268 . Von russischer Seite werden keine direkten Gebietsansprüche geltend gemacht. Allerdings betrachtet Rußland, seinen offiziellen Äußerungen zufolge, Kasachstan als "nahes Ausland" und droht gelegentlich an, sich als Schutzmacht der russischen Minderheiten in den anderen Republiken zu betätigen269 . 1996 beginnen Verhandlungen zwischen Rußland und Kasachstan über eine vertragliche "vertiefte Integration,,270, an der auch Belorus und Kyrgysstan teilnehmen sollen271 .

(i) Kasachstan-Usbekistan Die territoriale Zugehörigkeit der Autonomen Republik Karakalpakistan, die 1936 von Kasachstan getrennt und nach Usbekistan gegeben wird, ist zwischen beiden Republiken umstritten, ohne daß es zu offenen Auseinandersetzungen gekommen wäre 272 • Usbekistan berühmt sich außerdem eines Anspruchs auf Gebietsteile Kasachstans 273 .

(k) Kasachstan-Turkmenistan Turkmenistan macht Ansprüche aufTeile Kasachstans geltend; zu einer aktiven Verfolgung kommt es bislang nicht274 •

(I) Turkmenistan-Usbekistan Ebenso bestehen bislang latente gegenseitige Ansprüche Turkmenistans und Usbekistans auf am Fluß Amu liegende Gebiete27S •

268 Gumpel, Osteuropa 44 (1994), 1027; Helgesen, in: DuncanJHolman, 147; Palat, Osteuropa 44 (1994), 1015; Simon, BBOIS 25-1991; Stölting, in: Lottes, 265f.; Olcott, in: BremmerfTaras, 321. Von inoffizieller russischer Seite werden diese Tendenzen gestärkt, Halbach, BBOIS 31-1992, 40. 269 Umbach, BBOIS 24-1993, 29-30; Vukadinovic, YBES 5,158/59. 270 Hoffman, FAZ vom 18. März 1996. 271 FAZ vom 26. März 1996; FAZ vom 11. April 1996. 272 Halbach, BBOIS 31-1992, 39, 41. 273 Gleason, in: BremmerfTaras, 350; Halbach, BBOIS 31-1992, 42. 274 Gleason, in: BremmerfTaras, 350; Halbach, BBOIS 31-1992, 41. 275 Gleason, in: BremmerfTaras, 350; Halbach, BBOIS 31-1992, 41.

250

F. uti possidetis in Europa

ft) Sezessionsbestrebungen aus den Republiken Der Zerfall der multi-ethnischen Sowjetunion entlang ihrer Republiksgrenzen weckt bei einigen der innerhalb der Republiken lebenden Völkern den Wunsch, ebenfalls die Unabhängigkeit zu erreichen. Diese Völker haben teilweise staatsorganisatorische Anerkennung erfahren: Zu Zeiten der Sowjetunion wird vielen ein Status als Autonome Republik, autonomes Gebiet (Oblast) oder autonomer Kreis innerhalb der Unionsrepubliken zugewiesen276 .

(a) Adsharen (Georgien)

In Georgien leben auf dem Gebiet der Adsharischen Republik eine knappe Mehrheit von sunnitischen Laren und Adsharen. Einige Gruppierungen fordern die Lösung von Georgien; zu echten Sezessionsbestrebungen ist es jedoch noch nicht gekommen277 • Georgien entschärft den Konflikt, indem es auf den Versuch, die adsharische Gebietskörperschaft aufzulösen, verzichtef78.

(b) Abchasen (Georgien) Die Autonome Republik Abchasien wird nach ca. filnfinonatiger Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg und darauffolgender Existenz als eigenständige Sowjetrepublik 1930 Georgien angeschlossen279 • Nach 1989 kommt es in Abchasien zu immer stärkeren Sezessionsbestrebungen, die auf Errichtung einer eigenen Republik gerichtet sind. Obwohl die Abchasen inzwischen eine Minderheit im eigenen Gebiet sind280, stimmen sie im Juli 1992 ft1r die Unabhängigkeit ihrer Republik von Georgien281 . Die Sezessions bestrebungen eskalieren zu blutigen Auseinandersetzungen; Georgien kann eine völlige Abspaltung nur durch das Eingreifen russischer Truppen verhindern. Es kommt zu einer faktischen Teilung Abchasiens in eine südliche, georgisch kontrollierte und eine

276 Die Sowjetunion verfolgt Zeit ihrer Existenz eine Politik der Territorialisierung der größeren Minderheiten, vgl. Stölting, 15; Wixman, in: Bremmerffaras, 428. 277 Halbach, BBOIS 31-1992, 27-28; Stölting, 236. 278 Halbach, BBOIS 31-1992, 27-28. 279 Fuller, EA 48 (1993), 198; Grobe-Hagel, 92; Halbach, BBOIS 31-1992, 24; Stölting, 237. 280 17,8% Abchasen stehen 45,7% Georgier gegenüber, vgl. Fuller, EA 48 (1993), 197; den Rest bilden u.a. 18% Armenier und 13% Russen, vgl. Redmond, Refugees 1994, 22; Carrere d'Encausse, 1135; Halbach, BBOIS 31-1992, 24; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),426. 281 Fuller, EA 48 (1993), 198; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 426f Am 25. August 1990 war bereits die abchasische Souveränität erklärt worden, vgl. Grobe-Hagel, 92; Jones, in: Bremmerffaras, 296.

11. Situation seit 1989

251

nördliche, abchasisch kontrollierte Zone282 • Das weitere Schicksal Abchasiens ist ungewiß; Georgien hat seine Ansprüche auf das gesamte abchasische Gebiet nicht aufgegeben283 . (c) Osseten (Georgien) Im Norden Georgiens sowie auf der anderen Seite der Grenze zu Rußland siedeln die Osseten in einem bis 1990 autonomen Gebier84 • 1989 werden angesichts eines aggressiven georgischen Nationalismus Forderungen nach einer Vereinigung des südossetischen Siedlungsgebiets mit der russischen Autonomen Republik Nordossetien laur8s . Am 20. September 1990 erklärt sich Südossetien zu einem souveränen Bestandteil der UdSSR286 . 1991 brechen bewaffuete Streitigkeiten zwischen Georgiern und Südosseten aus287 . 1992 wird auf russische Vermittlung hin ein Waffenstillstand geschlossen und eine Friedenstruppe entsandt. Der territoriale Status Ossetiens ist weiterhin unklar; Georgien verzichtet nicht auf seine territorialen Ansprüche auf Südossetien288 •

(d) Gagausen (Moldawien)

Die in Moldawien ansässigen christlich-orthodoxen, turksprachigen Gagausen erheben ihr (verfassungsrechtlich nicht bestimmtes) Siedlungsgebiet am 19. August 1990 zur Gagausischen Republik und halten am 28. Oktober 1990 Wahlen zum Parlament ab289 • Moldawien gelingt es nicht, die Sezessionsbestre-

282 Fuller, EA 48 (1993), 198; vgl. FAZ vom 19. September 1994; vgl. auch Umbach, BBOIS 24-1993, 30; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 427-429. Das abchasische Parlament spricht sich 1995 gegen eine Konföderation mit Georgien aus, FAZ vom 24. August 1995. 283 KRWE 1996,41199. 284 Fuller, EA 48 (1993),199; Halbach, BBOIS 31-1992, 25-26. 285 Halbach, BBOIS 31-1992, 26; Stölting, 237; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),422423. 286 Grobe-Hagel, 93; Halbach, BBOIS 31-1992, 26; Jones, in: Bremmerffaras, 296. 287 Halbach, BBOIS 31-1992, 26; Nahalyo, Refugees 1994,7. 288 Halbach, BBOIS 31-1992, 27; Fuller, EA 48 (1993), 200; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 424. Vgl. auch Shevardnadzes Kommentar im Zusammenhang mit russischen Interventionsüberlegungen: "We must insist on the territorial integrity of Georgia and the inviolability ofits borders.", zit. nach Umbach, BBOIS 24-1993, 31; KRWE 1996, 41062,41281. 289 Brunner, GYIL 34 (1991),374; Fane, in: BremmerrI:aras, 144; Gabanyi, Außenpolitik 44 (1993),101; Halbach, BBOIS 31-1992, 34.

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F. uti possidetis in Europa

bungen gänzlich zu unterdrücken, kann die Gagausen jedoch mit dem Zugeständnis einer Autonomen Republik befrieden290 • (e) Transdnjestr (Moldawien)

Moldawien besitzt im Gebiet jenseits des Dnjestr eine starke russophone (russische und ukrainische) Minderheit. Diese rufen am 2. September 1990 eine Dnjestr-Republik aus und halten am 21. und 25. November 1990 Wahlen zum Republiksparlament ab291 • Der Versuch Moldawiens, die Sezession zu beenden, filhrt nach blutigen Zusammenstößen und dem wohl eigenmächtigen Eingreifen der in Transdnjestr stationierten 14. russischen Armee 292 im Juli 1992 zum Abschluß eines Waffenstillstands und der Stationierung von GUS-Friedenstruppen293 • Transdnjestr wird eine faktische Autonomie und ein Sezessionsrecht fiir den Fall der Vereinigung Moldawiens mit Rumänien zugestanden294 • Eine internationale Anerkennung der "Moldauischen Dnjestr-Republik" erfolgt nichf95 • Moldawien hält an seinem territorialen Anspruch auf die Region fest, verfilgt jedoch nicht über die Möglichkeiten, Gesetze in Transdnjestr durchzusetzen296 .

(j) Inguschen (Russische Föderation) Im auf dem Gebiet der russischen Föderation befmdlichen Teil des Kaukasus kommt es nach 1991 zu Auseinandersetzungen zwischen Inguschen und Osseten297, nachdem das russischen Parlament die unter Stalin deportierten Völker (darunter viele Inguschen) rehabilitiert und ihnen die Rückkehr in ihre ange-

290 Hoffmann, FAZ vom 15. September 1995; Stölting, 101f.; vgl. FAZ vom 1. März 1994; Fane, in: Bremmerffaras, 145. 291 Brunner, GYIL 34 (1991),374; Fane, in: Bremmerffaras, 139; Gabanyi, Außenpolitik 44 (1993),101; Halbach, BBOIS 31-1992, 34-35. 292 Gabanyi, Außenpolitik 44 (1993),99; Halbach, BBOIS 31-1992, 35; Rüb, FAZ vom 14. Juni 1993; Schul/er, FAZ vom 26. März 1994. 293 Bacia, FAZ vom 1. März 1994; Bogdan, 417; Halbach, BBOIS 31-1992, 37. 294 Gabanyi, Außenpolitik 44 (1993),103; Halbach, BBOIS 31-1992, 37; Hartwig, Osteuropa 44 (1994), 1075. Im Juni 1996 einigen sich die Parteien auf die Formulierung, Transdnjestr sei ein "staatliches Gebilde in Form einer Republik innerhalb der Grenzen Moldovas", FAZ vom 21. Juni 1996. 29S Die GUS hat das Ende Dezember 1995 an sie gerichtete Beitrittsersuchen Transdnjestrs nicht angenommen, vgl. FAZ vom 27. Dezember 1995. 296 Brunner, in: Blumenwitzlvon Mangoldt, 20; Rüb, FAZ vom 14. Juni 1993 und 13. Dezember 1993; vgl. auch Fane, in: Bremmerffaras, 140-141; Hoffmann, FAZ vom 15. September 1995; KRWE 1995,40739. 297 Nahalyo, Refugees 1994,8; Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 425.

11. Situation seit 1989

253

stammten Siedlungsgebiete gestattet hatte298 • Die Autonome Republik Inguschien entsteht nach der Unabhängigkeitserklärung der Tschetschenen auf einem Teil der früheren Autonomen Republik Tschetscheno-Inguschien299 • Die Inguschen versuchen daraufhin, früher inguschische Territorien in Nordossetien an ihre Republik anzuschließen3°O. 1992 vertreiben die Nordosseten mehrere zehntausend Inguschen aus dem umstrittenen Distrikt Prigorodny 301. (g) Tschetschenen (Russische Föderation)

Die Autonome Republik Tschetschenien erklärt sich nach einer Volksabstimmung im November 1991 fi1r unabhängig302 . Rußland erkennt dies nicht an, unternimmt jedoch zunächst nichts gegen die Sezessionsbestrebungen303 • Ende 1994 beginnt Rußland mit einer militärischen Invasion Tschetscheniens, die zu einem blutigen Krieg eskaliere04• Die militärisch unterlegenen Tschetschenen werden Schritt fi1r Schritt aus ihren Positionen vertrieben30s • Estland, der Iran und die Türkei erkennen Tschetschenien als unabhängig an306 . Die übrigen Staaten zeigen sich besorgt über die Verletzung humanitären Völkerrechts durch die russischen Truppen307 , halten die Auseinandersetzungen jedoch tUr eine innere Angelegenheit Rußlands 308 • Die Kämpfe in Tschetschenien werden 1996 durch eine Vereinbarung beendet, die Verhandlungen über den zukünftigen Status der Autonomen Republik nach einer Konsolidierungsphase von fiinf Jahren vorsiehe 09 •

298DawydowlTrenin, EA 48 (1993),185; Yakemtchouk, AFOI 39 (1993),424-425. 299 Gazzini, HRLJ 17 (1996), 97; FAZ vom 6. Dezember 1993; Halbach, BBOIS 311992, 12; Ormrod, in: Bremmerffaras, 457. 300 Halbach, BBOIS 31-1992, 13; Krumm, Tsp. vom 5. Juli 1993; Ormrod, in: Bremmerffaras, 457; Yakemtchouk, AFOI 39 (1993), 425; siehe auch FAZ vom 6. Dezember 1993. 301 DawydowlTrenin, EA 48 (1993), 185; Nahalyo, Refugees 1994,7; Yakemtchouk, AFOI 39 (1993),425. 302 Halbach, BBOIS 31-1992, 12; Krumm, Tsp. vom 5. Juli 1993; Ormrod, in: Bremmerffaras, 456-457; Tappe, CJTL 35 (1995), 275; Yakemtchouk, AFOI 39 (1993), 425. 303 Lerch, FAZ vom 5. September 1994; Ormrod, in: Bremmerffaras, 456-457; Tappe, CJTL 35 (1995), 278. 304 Tappe, CJTL 35 (1995), 276f.; vgl. auch tdn vom 2. Dezember 1994. 305 Vgl. Z. B. FAZ vom 27. Dezember 1995. 306 Krumm, Tsp. vom 5. Juli 1993. 307 Gazzini, HRLJ 17 (1996),100; Tomuschat, Tsp. vom 25. Januar 1995. 308 Gazzini, HRLJ 17 (1996), 100; Tappe, CJTL 35 (1995), 256 Fn. 6; Urban, SZ vom 10. Januar 1995. Vgl. auch HofJmann, FAZ vom 13. Februar 1997 309 Gazzini, HRJL 17 (1996), 102; vgl. auch FAZ vom)O. Januar 1997; HofJman, FAZ vom 13. Februar 1997.

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F. uti possidetis in Europa

(h) Lesgier (Aserbaidshan, Dagestan)

Die Volksgruppe der Lesgier, die in Aserbaidshan und in Dagestan in der russischen Föderation siedeln, propagieren eine Vereinigung in einer unabhängigen Republik, ohne bislang konkrete Sezessionsbestrebungen zu untemehmen310 • (i) Nogai (Dagestan)

Die Nogai stellen eine Bevölkerungsgruppe Dagestans und sind gleichzeitig über andere kaukasische Republiken verteilt. In Dagestan bildet sich eine Bewegung, die die Vereinigung aller Nogai in einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Föderation propagiert. Eine praktische Durchsetzung erscheint schwierig, da die Nogai verstreut leben und kein historisch begrUndbares Heimatgebiet identifizieren können311 • (k) Tataren (Russische Föderation)

Tatarstan, eine Autonome Republik innerhalb der Russischen Föderation, erklärt sich am 31. August 1990 zur souveränen Sowjetrepublik312 . Am 21. März 1992 sprechen sich bei einer Volksbefragung gut 64 % der Abstimmenden fUr die Unabhängigkeit Tatarstans aus 313 • Rußland akzeptiert dies nicht, einigt sich jedoch in Verhandlungen mit Tatarstan314 darauf, diesem innerhalb der Föderation weitgehende Autonomie zuzugestehen31S •

(I) Bashkiren (Russische Föderation)

Bashkiristan schlägt eine Tatarstan vergleichbare Politik ein und erklärt sich am 11. Oktober 1990 fUr souverän316 • Es ist an seinen Sezessionsbestrebungen faktisch jedoch dadurch gehindert, daß die Bashkiren mit 0,86 Millionen nach den Russen (1,5 Millionen) und den Tataren (1,2 Millionen) nur die drittstärkste

310 Dawydowtrrenin, EA 48 (1993), 186; Fuller, EA 48 (1993), 201 Fn.l; Halbach, BBOIS 31-1992,13; Ormrod, in: Bremmerffaras, 464. 311 Ormrod, in: Bremmerffaras, 466-467. 312 Grobe-Hagel, 226. 313 Bogdan, 415. 314 Dawydowtrrenin, EA 48 (1993), 184, 187; vgl. auch Szporluk, in: ColtonILegvold, 96. 315 Hoischen, FAZ vom 6. April 1996. Vgl. auch Gazzini, HRLJ 17 (1996), 94. 316 Grobe-Hagel, 73.

11. Situation seit 1989

255

Volksgruppe in Bashkiristan sind3l7 • Daher wird eine Trennung von Rußland nicht offen betrieben318 • (m) Karakalpakistan (Usbekistan)

Karakalpakistan ist nicht nur zwischen Usbekistan und Kasachstan umstritten, sondern strebt auch selbst nach Unabhängigkeit. Am 14. Dezember 1990 erklärt die Autonome Republik Karakalpakistan ihre Souveränität innerhalb Usbekistans3l9• Es existieren politische Gruppen, die eine völlige Unabhängigkeit Karakalpakistans anstreben, ohne damit bislang Erfolg zu haben320 •

(n) Berg-Badachshan (Tadshikistan)

Im Autonomen Gebiet Berg-Badachshan in Tadshikistan existieren keine Separatistischen Strömungen; jedoch wird die Aufwertung des Autonomiestatus gefordert. Tadshikistan ist dem bislang nicht nachgekommen321 • Dies ilirdert die Neigung zur Unabhängigkeit in der Region322 • (0) Russen (Estland)

In Nordestland strebt die russische Bevölkerungsgruppe nach Autonomie; in einem Referendum spricht sich 1993 eine Mehrheit filr "national-territoriale Autonomie" aus. Estland erklärt die Abstimmung filr verfassungswidrig323 •

c) Zer/all der Tschechoslowakei

Am 1. Januar 1993 teilt sich die Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten, Tschechien und Slowakien. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus treten politische und wirtschaftliche Interessenunterschiede zwischen der slowakischen und der tschechischen Republik auf. Antreibende Kraft des ZerDawydow/I'renin, EA 48 (1993), 184; vgl. auch Grobe-Hagel, 71. Vgl. Grobe-Hagel, 73. 319 Gleason, in: Bremmerffaras, 345, 356 Fn. 19; Grobe-Hagel, 242. 320 Gleason, in: Bremmerffaras, 350, 359 Fn. 67. Die Erfolglosigkeit wird wohl auch damit zusammenhängen, daß die Karakalpaken nur 31 % der Bevölkerung Karakalpakistans ausmachen, Grobe-Hagel, 242. 321 Halbach, BBOIS 31-1992, 41. 322 Halbach, BBOIS 31-1992, 41; Helgesen, in: DuncanlHolman, 148. 323 FAZ vom 19. Juni 1993. 317

318

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F. uti possidetis in Europa

falls ist die slowakische Republik, die sich von der tschechischen Republik übervorteilt filhlt und einen eigenen Nationalstaat bilden möchte. Die föderale Regierung akzeptiert nach vergeblichen Schlichtungsversuchen die Trennung, die vertraglich fundiert und friedlich vollzogen wird. Die geplante Volksabstimmung zur Trennung fmdet nicht statt324 • Es kommt nicht zu gewaltsamen Grenzauseinandersetzungen. Beide Staaten erkennen sich gegenseitig an und werden am 19. Januar 1993 in die Vereinten Nationen aufgenommen325 . Die gemeinsame Grenze soll 1996 in einem Vertrag festgelegt werden, der einen Gebietsaustausch von ca. 400 h vorsieht326 • Das tschechische Parlament lehnt jedoch die Vertragsratifizierung ab327 •

4. opinio iuris Die europäischen Staaten reagieren zunächst langsam auf die Umbrüche in Osteuropa, versuchen dann jedoch, Einfluß auf die Entwicklungen zu nehmen. Anders als in den bisher untersuchten Fällen der Grenzziehung nach der erfolgreichen Abschüttelung ortsfremder Fremdherrschaft wird die Frage der Bestimmung der Grenzen zwischen den neu entstehenden Staaten in Europa nicht nur von den beteiligten Neustaaten diskutiert. Sowohl die übrigen europäischen Staaten (die räumlichen Nachbarn), als auch die Vereinten Nationen beschäftigen sich mit diesem Problem. Zunächst soll hier nur die Reaktion der Neustaaten, sofern sie sich von der praktischen Grenzziehung trennen läßt, sowie die der übrigen Staaten auf die Vorkommnisse in Europa nach 1989 dargestellt werden. Die rechtliche Bewertung der Reaktionen zusammen mit der Grenzziehungspraxis bleibt dem nachfolgenden Gliederungspunkt vorbehalten328 • a) Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens

aa) Frühzeit des Konflikts Den im Jahre 1991 deutlich aufbrechenden zentrifugalen Tendenzen der nördlichen Republiken Jugoslawiens begegnet die Staatengemeinschaft zunächst mit Appellen zugunsten der Erhaltung Jugoslawiens. Die in der KSZE (heute: OSZE) zusammengeschlossenen Staaten verleihen zwar ihrer Unterstüt-

324 Zum Trennungsprozeß ausruhrlich vgl. Malenovsky, AFDI 39 (1993), 305-336; Peters, 264-275; Schmid, BBOIS 34-1993, 15-20; Osterland, CaseWRJIL 25 (1993), 659-660,681-693; siehe auch Brunner, in: Blumenwitzlvon Mangoldt, 15. m Generalversammlungsresolutionen 47/221 und 47/222. 326 KRWE 1996,40914. 327 KRWE 1996,41065. 328 Siehe unten Punkt 5.

11. Situation seit 1989

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zung für die demokratischen Prozesse innerhalb Jugoslawiens Ausdruck, verbinden dies jedoch mit einem Bekenntnis zur territorialen Integrität des Staates329 : "(Ihre) freundschaftliche Besorgnis und ... Unterstützung im Hinblick auf die demokratische Entwicklung, die Einheit und territoriale Integrität Jugoslawiens auf der Grundlage von Wirtschaftsreforrnen, der uneingeschränkten Anwendung der Menschenrechte in allen Teilen Jugoslawiens, einschließlich der Rechte der Minderheiten sowie einer friedlichen Lösung der gegenwärtigen Krise im Land. ,,330 . Nach dem Beginn der Feindseligkeiten durch den Einsatz der jugoslawischen Bundesarmee in Slowenien und Kroatien gehen die Bemühungen der EGStaaten, die im Rahmen der EPZ 331 Missionen in das Krisengebiet entsenden, und der KSZE dahin, mit einem dauerhaften Waffenstillstand die Grundlage für Neuverhandlungen über die Machtverteilung innerhalb des jugoslawischen Staates zu schaffen332 • Dabei wird von Seiten der europäischen Staaten betont, "that any recourse to the use offorce in the present crisis in Yugoslavia continues to be absolutely inadmissible. ,,333 Durch europäische Vermittlung kommt am 7. Juli 1991 das Abkommen von Brioni zustande, in dem Slowenien und Kroatien ihre bereits erklärte Unabhängigkeit fi1r drei Monate aussetzen und der Rückzug der Bundesarmee aus Slowenien vereinbart wird334 . Als dies eine Ausweitung der Feindseligkeiten in Kroatien, die mit Gebietsbesetzungen durch Bundesarmee und kroatische Serben einhergehen, nicht verhindern kann, richten die europäischen Staaten eine Friedenskonferenz ("Conference on Yugoslavia") ein, deren Mandat von der EPZ beschrieben wird als "to ensure peaceful accommodation of the conflicting aspirations of the Yugoslav peoples, on the basis of the following principles: no unilateral change of borders by

Weller, AJIL 86 (1992), 570; Ginther, in: FS Adamovich, 132. KSZE-Außenministerkonferenz am 19. Juni 1991 in Berlin, zit. nach Ginther, in: FS Adamovich, 132. 331 "Europäische Politische Zusammenarbeit", im Einklang mit Titel 11 der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (Text siehe ILM 25 (1986), 503); im Rahmen dieser Zusammenarbeit sollen gemeinsame Positionen und Handlungsweisen der Mitgliedsstaaten zu außenpolitischen Problemen gefunden werden; vgl. Weller, AJIL 86 (1992), 571, Fn. 11. 3J2 Weller, AJIL 86 (1992),573. 333 Dringender Appell rur eine Feuerpause durch das CSO (Committee of Senior Officials, durch die Charta von Paris geschaffenes Organ der KSZE, zuständig rur "serious emergency situation[s] which may arise from a violation of one of the Principles of the Final Act or as the result of major disruptions endangering peace, security or stability", so niedergelegt in der Summary of Conclusions of the Berlin Meeting of the Council, ILM 30 (1991), 1348, 1353. Dieser Appell ist nur ein Beispiel rur den wiederholten Aufruf an alle Streitparteien, Gewaltanwendung zur Konfliktlösung zu unterlassen; weitere Beispiele vgl. Weller, AJIL 86 (1992), 572f. 334 Weller, AJIL 86 (1992), 573. 329

330

17 Simmlcr

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force, protection for the rights of all in Yugoslavia and full account to be taken of all legitimate concerns and aspirations. ,,335 Als die folgenden Waffenstillstandsabkommen gebrochen werden und die Friedensverhandlungen ergebnislos bleiben, wird der UN-Sicherheitsrat mit der Angelegenheit befaßt. Da Jugoslawien selbst den Antrag unterstützt, wird das Problem einer eventuellen Einmischung des Sicherheitsrats in innere Angelegenheiten eines Mitgliedsstaates (Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta) nicht akut336 • Der Sicherheitsrat beschließt: "The Security Council Recalling the relevant principles enshrined in the Charter ofthe United Nations and, in this context, noting the Declaration of 3 September 1991 of the States participating in the Conference on Security and Cooperation in Europe that no territorial gains or changes within Yugoslavia brought about by violence are acceptable, 1. Expresses its full support for the collective efforts for peace and dialogue in Yugoslavia undertaken under the auspices of the member States of the European Community with the support of the States participating in the Conference on Security and Cooperation in Europe consistent with the principles ofthat Conference; 2. Supports fully all arrangements and measures resulting from such collective efforts as those described above, in particular of assistance and support to the cease-fire observers, to consolidate an effective end to hostilities in Yugoslavia and the smooth functioning of the process instituted within the framework of the Conference on Yugoslavia; 5. Appeals urgently to and encourages all parties to senle their disputes peacefully and through negotiations at the Conference on Yugoslavia, including through the mechanisms set forth with it; 7. Calls on all States to refrain from any action which might contribute to increasing tension and to impeding or delaying a peaceful and negotiated outcome to the conflict in Yugoslavia, which would permit all Yugoslavs to decide upon and to construct their future in peace; ... ,,337

bb) Zuspitzung des Konflikts In den der Sicherheitsratsresolution 713 folgenden Wochen verschärfen sich die Interessengegensätze zwischen Slowenien und Kroatien auf der einen und

335 Extraordinary EPC Meeting, Declaration on Yugoslavia (The Hague, September 3, 1991), EPC Press Release (September 4, 1991). 336 Weller, AJIL 86 (1992), 577f. Zu Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta ausfiihrlich Ermacora, in: Simma, Art. 2 Ziff. 7. 337 Sicherheitsratsresolution 713 (1991), vom 25. September 1991.

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259

Serbien auf der anderen Seite dadurch, daß unter serbischer Führung der Präsidentschaftsrat Jugoslawiens auf einen Rumpf reduziert wird338 • Darauf erklären die beiden nördlichen Republiken sofort ihre volle Unabhängigkeit. Die einseitige Beeinträchtigung der föderalen Strukturen ft1hrt zu einem langsamen Abrücken der europäischen Staaten von dem Versuch, Jugoslawien als Einheit zu erhalten. Das Schlußdokument eines erneuten Treffens der Parteien unter Leitung von Lord Carrington, Chairman der Conference on Yugoslavia, und Minister van den Broek filr die EPZ am 4. Oktober 1991 läßt dies anklingen: "[The participants] agreed that the involvement of all parties concemed would be necessary to fonnulate a political solution on the basis ofthe prospective recognition of the independence of those republics wishing it, at the end of the negotiating process conducted in good faith. The recognition would be granted in the framework of a general settlement and have the following components: (a) A loose association or alliance of sovereign or independent republics; (b) Adequate arrangements to be made for the protection of minorities, including human rights guarantees and possibly special status for certain areas; (c) No unilateral changes in borders.,,339 Trotz serbischer Vorhalte, damit werde die unilaterale Sezession gerechtfertigt, verfolgen die europäischen Staaten diese Linie weiter. Lord Carrington legt der Conference on Yugoslavia am 25. Oktober 1991 folgende Anregungen vor: "(a) Sovereign and independent republics with international personality for those that wish it: (b) A free association of the republics with an international personality as envisaged in these arrangements; (c) Comprehensive arrangements, including supervisory mechanisms for the protection ofhuman rights and special status for certain groups and areas; (d) European involvement, where appropriate; (e) In the framework of a general settlement, recognition of the independence, within existing borders, unless otherwise agreed, ofthose republics wishing it.,,340 Die europäischen Staaten berufen in der Folgezeit eine Kommission hochrangiger Juristen341 (offiziell Arbitration Commission, weithin BadinterCommission342 genannt), die die mit dem Jugoslawien-Konflikt verbundenen 338 "so-called rump presidency", so Weller, AJIL 86 (1992),581. 339 Vance Report, Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 3 of Security Council Resolution 713 (1991), UN Doc. S/23169 (1991), Annex 11. 340 Vance Report, Annex VI. 341 Zunächst gehören der Kommission fUnf Präsidenten der Verfassungsgerichte europäischer Staaten an, Pellet, AFDI 38 (1992), 220 Fn. 1. Im August 1992 wird die Zusammensetzung der Kommission geändert; sie besteht nun aus drei europäischen Verfassungsgerichtspräsidenten, einer Richterin vom Europäischen Gerichtshof rur Menschenrechte und einem ehemaligen Vorsitzenden des IGH; Pellet, AFDI 39 (1993), 286 Fn. 1. 342 Nach dem Vorsitzenden, dem französischen Juristen Badinter. 17·

260

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Rechtsfragen gutachterlich klären soll. Diesem Komitee legt Lord Carrington am 20. November 1991 folgende Frage vor: "We find ourselves with a major legal question. Serbia considers that those Republics which have declared or would declare themselves independent or sovereign have seceded or would secede from the SFRY which would otherwise continue to exist. Other Republics on the contrary consider that there is no question of secession, but the question is one ofa disintegration or breaking-up ofthe SFRY as the result ofthe concurring will of a number of Republics. They consider that the six Republics are to be considered equal successors to the SFRY, without any of them or group of them being able to claim to be the continuation thereof. I should Iike the Arbitration Committee to consider the matter in order to formulate any opinion or recommendation which it might deern useful. ,,343

In ihrer Antwort, der Opinion No. 1, stellt die Badinter-Kommission fest,

daß

"2) ... a) - although the SFRY has until now retained its international personality, notably inside international organizations, the Republics have expressed their desire for independence; ... b) - The composition and workings ofthe essential organs ofthe Federation, ... , no longer meet the criteria of participation and representatives inherent in a federal state; 3) - Consequently, the Arbitration Committee is ofthe opinion: - that the Socialist Federal Republic of Yugoslavia is in the process of dissolution; ,,344

Auf die ebenfalls am 20. November 1991 eingegangene Anfrage Lord Carringtons: "Does the Serbian population in Croatia and Bosnia-Herzegovina, as one of the constituent peoples ofYugoslavia, have the right to self-determination?"345

entscheidet die Kommission in Opinion No. 2: ".. whatever the circumstances, the right to self-determination must not involve changes to existing frontiers at the time of independence (uti possidetis juris [sie!]) except when the states concerned agree otherwise .... ,,346

Auf die gleichzeitige Anfrage "Can the international boundaries between Croatia and Serbia and between BosniaHerzegovina and Serbia be regarded as frontiers in terms of public international law?"f.i7 343 Zit. 344 Zit. 345 Zit. 346 Zit. 347 Zit.

nach Pellet, nach Pellet, nach Pellet, nach Pellet, nach Pellet,

EJIL 3 (1992), EJIL 3 (1992), EJIL 3 (1992), EJIL 3 (1992), EJIL 3 (1992),

182. 183. 183. 184. 184.

11. Situation seit 1989

261

lautet die Antwort der Kommission in Opinion No. 3: 2. The Committee therefore takes the view that once the process in the SFRY leads to the creation of one or more independent states, the issue of frontiers, in particular those of the Republics referred to in the question before it, must be resolved in accordance with the following principles: First - All external frontiers must be respected in line with the principle stated in the United Nations Charter, in the Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations (General Assembly Resolution 2625 (XXV» and in the Helsinki Final Act, a principle which also underlies Article 11 of the Vienna Convention of 23 August 1978 on the Succession of States in Respect of Treaties. Second - The boundaries between Croatia and Serbia, between Bosnia-Herzegovina and Serbia, and possibly other adjacent independent states may not be altered exept by agreement freely arrived at. Third - Exept where otherwise agreed, the former boundaries become frontiers protected by internationallaw. This conclusion follows from the principle ofrespect for the territorial status quo and, in particular, from the principle of uti possidetis. Uti possidetis, though initially applied in settling decolonisation issues in America and Africa, is today recognized as a general principle, as stated by the International Court of Justice in its Judgment of 22 December 1986 in the case between Burkina Faso and Mali (Frontier Dispute, (1986), Law Reports 554 at 565): Nevertheless the principle is not a special rule which pertains solely to one specific system of international law. It is a general principle, which is logically connected with the phenomenon of the obtaining of independence, whereever it occurs. Its obvious purpose to prevent the independence and stability of new states being endangered by fratricidal struggles ... The principle applies all the more readily to the Republics since the second and fourth paragraphs of Article 5 of the Constitution of the SFRY stipulated that the Republics' territories and boundaries could not be altered without their consent. Fourth - According to a well-established principle of international law the alteration of existing frontiers or boundaries by force is not capable of producing any legal effect. This principle is to be found, for instance, in the Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations (General Assembly Resolution 2625 (XXV» and in the Helsinki Final Act; it was cited by the Hague Conference on 7 September 1991 and is enshrined in the draft Convention of 4 November 1991 drawn up by the Conference on Yugoslavia."]48

cc) Anerkennung von Einzelrepubliken Mit diesen Rechtsauskünften im Hintergrund beschließen die EG und ihre Mitgliedsstaaten auf einer außerordentlichen Konferenz am 16. Dezember 1991 eine allgemeine: ]48 Zit. nach Pellet, EJIL 3 (1992), 185.

262

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"DecJaration on the "Guidelines on the Recognition ofNew States in Eastern Europe and in the Soviet Union" (16 December 1991) In compliance with the European Council's request, Ministers have assessed developments in Eastern Europe and the Soviet Union with a view to elaborating an approach regarding relations with new states. In this connection they have adopted the following guidelines on the formal recognition ofnew states in Eastern Europe and in the Soviet Union: The Community and its Member States confirm their attachment to the principles of the Helsinki Final Act and the Charter of Paris, in particular the principle of se1fdetermination. They affirm their readiness to recognize, subject to the normal standards of international practice and the political realities in each case, those new States which, following the historic changes in the region, have constituted themselves on a democratic basis, have accepted the appropriate international obligations and have committed themselves in good faith to a peaceful process and to negotiations. Therefore, they adopt a common position on the process of recognition of these States, which requires: - respect for the provisions ofthe Charter ofthe United Nations and the commitments subscribed to in the Final Act of Helsinki and in the Charter of Paris, especially with regard to the rule oflaw, democracy and human rights - guarantees for the rights of ethnic and national groups and minorities in accordance with the commitments subscribed to in the framework ofthe CSCE - respect for the inviolability of all frontiers which can only be changed by peaceful means and by common agreement - acceptance of all relevant commitments with regard to disarmament and nucJear non-proliferation as weil as to security and national stability - commitment to settle by agreement, including where appropriate by recourse to arbitration, all questions concerning State succession and regional disputes. The Community and its Member States will not recognize entities which are the result of aggression. They would take account of the effects of recognition on neighbouring States. The commitment to these principles opens the way to recognition by the Community and its Member States and to the establishment of diplomatic relations. It could be laid down in agreements."

Außerdem verabschiedet wird eine ausschließlich mit der Umsetzung der obigen Erklärung befaßte spezielle "DecJaration on Yugoslavia The European Community and its Member States discussed the situation in Yugoslavia in the light oftheir Guidelines on the recognition ofnew states in Eastern Europe and in the Soviet Union. They adopted a common position with regard to the recognition ofYugoslav Republics. In this connection they concJuded the following: The Community and its Member States agree to recognize the independence of all the Yugoslav Republics fulfilling all the conditions set out below. The implementation ofthis decision will take place on 15 January 1992. They are therefore inviting all Yugoslav Republics to state by 23 December whether: - they wish to be recognized as independent States

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- they accept the commitments contained in the above-mentioned Guidelines - they accept the provisions laid down in the draft Convention - especially those in Chapter 11 on human rights and rights of national or ethnic groups - under consideration by the Conference on Yugoslavia - they continue to support • the eft'orts ofthe Secretary General and the Security Council ofthe United Nations, and

* the continuation ofthe Conference on Yugoslavia.

The applications ofthose Republics which reply positively will be submitted through the Chair of the Conference to the Arbitration Commission for advice before the implementation date. In the meantime, the Community and its Member States request the UN Secretary General and the UN Security Council to continue their eft'orts to establish an eft'ective cease-fire and promote a peaceful and negotiated outcome to the conflict. They continue to attach the greatest importance to the early deployment of a UN peace-keeping force referred to in UN Security Council Resolution 724. The Community and its Member States also require a Yugoslav Republic to commit itself, prior to recognition, to adopt constitutional and political guarantees ensuring that it has no territorial claims towards a neighbouring Community State and that it will conduct no hostile propaganda activities versus a neighbouring Community State, including the use of adenomination which implies territorial claims."

Entsprechend dieser Richtlinien werden die jugoslawischen Republiken zur Äußerung aufgefordert349 . Die Republiken Serbien und Montenegro lehnen in ihren Stellungnahmen vom 23. und 24. Dezember 1991 eine Anerkennung durch die europäischen Staaten ab. Slowenien und Kroatien erklären ihre Bereitschaft zur Erfüllung der Bedingungen ebenso wie Bosnien-Herzegowina und Makedonien3so . Die Badinter-Kommission kommt hinsichtlich der Bewerbung Sloweniens um Anerkennung in ihrer Opinion No. 7 vom 11. Januar 1992 nach ausfilhrlicher Prüfung zu folgendem Ergebnis: "The Arbitration Commission consequently takes the view that the Republic of Slovenia satisfies the tests in the Guidelines on the Recognition of New States in Eastem Europe and in the Soviet Union and the Declaration on Yugoslavia adopted by the Council ofthe European Communities on 16 December 1991.,,351

Da die Kommission der Auffassung ist, daß der Schutz der Minderheiten (insbesondere der serbischen) in der kroatischen Verfassung nicht ausreichend verankert ist, beurteilt sie Kroatiens Antrag in ihrer Opinion No. 5:

349 Zu den Problemen in der Dogmatik der völkerrechtlichen Anerkennung, die sich aus dem Jugoslawienkonflikt ergeben, vgl. Hilpold, AVR 31 (1993), 387ft'; Simmler, in: AAA-Schriften Bd. IX, 75ft', bes. 96ff. 350 Rich, EJIL 4 (1993), 47-48. 351 Opinion No. 7, zit. nach EJIL 4 (1993),84.

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"The Arbitration Cornrnission considers that: (i) the Constitutional Act of 4 December 1991 does not fully incorporate all the provisions of the draft Convention of 4 November 1991, notably those contained in Chapter 11, Article 2 (c), under the heading "Special status"; (ii) the authorities of the Republic of Croatia should therefore supplement the Constitutional Act in such a way as to satisfy those provisions; ... ,,352 Bosnien-Herzegowina wird von der Kommission in Opinion No. 4 nicht als anerkennungsreif eingestuft: "... the Arbitration Cornrnission is of the opinion that the will of the peoples of Bosnia-Herzegovina to constitute the Socialist Republic of Bosnia-Herzegovina as a sovereign and independent State cannot be held to have been fully established."3S3 Damit liest die Badinter-Kommission ein Referendum über die Unabhängigkeit als weitere Bedingung aus dem in dieser Hinsicht nicht eindeutigen Wortlaut der Declaration (die nur von "new States ... which have constituted themselves on a democratic basis" spricht) heraus 3s4 •

Am 15. Januar 1992 werden Slowenien und Kroatien von den EGMitgliedern als unabhängige Staaten anerkannt, ohne daß Kroatien die von der Kommission angemahnten Änderungen an seiner Verfassung vornimme ss . Am 7. April 1992 erhält Bosnien-Herzegowina die Anerkennung. Der EG-weiten Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas folgen bald eine große Zahl anderer Staaten nach; so erklären die USA: "The United States recognizes Bosnia-Herzegovina, Croatia and Slovenia as sovereign and independent states and will begin irnrnediately consultations to establish full diplomatie relations. The United States accepts the pre-crisis republic borders as the legitimate international borders of Bosnia-Herzegovina, Croatia and Slovenia. ,,356

Am 22. Mai 1992 werden die drei Republiken in die Vereinten Nationen aufgenommen3S7 •

Opinion No. 5 vom 11. Januar 1992, zit. nach EJIL 4 (1993),77. Opinion No. 4 vom 11. Januar 1992, zit. nach EJIL 4 (1993), 76. 354 Weller, AJIL 86 (1992), 569(593). 355 Es liegt zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Versicherung Präsident Tudjmans vor, sich an die Richtlinien zu halten; Weller, AJIL 86 (1992),593; siehe auch Ginther, FS Adamovich, 136. Am 8. Mai 1992 bessert Kroatien sein Verfassungsgesetz nach. Die Kommission urteilt über das ihr "for consideration" vorgelegte Gesetz, daß trotz der Änderungen einige Vorschriften "ne sont pas integralement refletees dans les dispositions de la loi constitutionelle adoptee le 8 mai 1992 par le Parlement de la Republique de Croatie." Dazu näher Pellet, AFDI 38 (1992), 232-233. 356 President Bush's Statement - Washington, 7 April 1992 -, zit. in RIA 1004 (1992), 26. 351 Resolutionen der UN-Generalversarnrnlung 46/236, 46/237 und 46/238 vom 22. Mai 1992. 352 353

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265

Hinsichtlich Makedonien sieht die Kommission in ihrer Opinion No. 6 alle Bedingungen filr die Anerkennung erfUllt; die von Griechenland zum Streitpunkt gemachte Frage des Namens wird wie folgt behandelt: "... the Republic of Macedonia has, moreover, renounced all territorial claims of any kind in unambiguous statements binding in international law; ... the use of the name 'Macedonia' cannot therefore imply any territorial claim against another State; ... "3S8

Dennoch versagen die EG-Staaten Makedonien zunächst die Anerkennung. Die USA halten die formelle Anerkennung ebenfalls zurück, machen aber deutlich, daß damit keine Negierung der Staatlichkeit Makedoniens verbunden ist: "... We will continue to work intensively with the European Community and its member states to resolve expeditiously the outstanding issues between Greece and the Republic of Macedonia, thus enabling the United States to recognize formally the independence ofthat republic as weil. ...

In light of our decisions on recognition, the United States will lift economic sanctions from Bosnia-Herzegovina, Croatia, Macedonia and Slovenia.... "359 Makedonien wird im August 1992 von Rußland und im September 1992 von Beloms anerkannt; am 13. April 1993 fmdet das Land unter der Bezeichnung "Frühere jugoslawische Republik Makedonien" Aufnahme in die Vereinten Nationen360 • Abgesehen von Griechenland erkennen die Staaten der EG Makedonien am 16. Dezember 1994 an361 • Griechenland und Makedonien beginnen 1995 mit der Normalisierung ihrer Beziehungen, nachdem Makedonien auf die Verwendung der umstrittenen antiken Symbole in Flagge und Staatswappen verzichtet. Die Namensfrage bleibt weiteren Verhandlungen vorbehalten362 • Der Untergang der früheren Sozialistischen Jugoslawischen Föderativen Republik363 wird endgültig in Resolution 47/1 (1992) der Generalversammlung der Vereinten Nationen364 festgestelle 6s : "The General Assembly I. Considers that the Federal Republic of Yugoslavia (Serbia and Montenegro) cannot continue automatically the membership of the former Socialist Federal Republic ofYugoslavia in the United Nations; and therefore decides that the Federal Republic

3S8

26.

3S9

Opinion No. 6 vom 11. Januar 1992, zit. nach EJlL 4 (1993), 80. President Bush's Statement - Washington, 7 April 1992 -, zit. in RIA 1004 (1992),

Resolution der UN-Generalversammlung 47/225. FAZ vom 17. Dezember 1994. 362 FAZ vom 7. Oktober 1995. 363 Zur Streitfrage, ob es sich hier um eine Sezession oder eine Dismembration handelt, siehe Schweisfurth, BDGV 35 (1995),182-190 mit weiteren Nachweisen. 364 Vom 22. September 1992, erfolgt auf Grundlage der Empfehlung des Sicherheitsrats in Resolution 777 (1992) am 19. September 1992. 36S Siehe aber Dörr, 170-171, zum insgesamt widersprüchlichen Verhalten der UNOrgane. 360 361

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of Yugoslavia (Serbia and Montenegro) should apply for membership in the United Nations and that it shall not participate in the work ofthe General Assembly; ... "

Österreich wechselt am 16. Oktober 1992 Noten mit Slowenien, in denen die Fortgeltung der mit Jugoslawien geschlossenen radizierten Verträge mit Slowenien festgestellt wird366 . Auch Italien veröffentlicht eine Liste der mit Slowenien fortgeltenden Verträge, unter denen sich u.a. der die Grenze regelnde Vertrag von Osimo mit Jugoslawien befmdef67 .

dd) Ausweitung des Konflikts Bosnien-Herzegowina wird aufgrund der Kämpfe zwischen den Volksgruppen der Serben, Kroaten und Muslime, die die Existenz des neuen Staates bedrohen, zum Ziel vieler Friedensbemühungen. Es werden verschiedene Pläne erarbeitet, die ein friedliches Nebeneinander der Volksgruppen ermöglichen sollen. Dabei ist eine Kantonierung in elf ethnische Gebiete ebenso im Gespräch wie eine Dreiteilung des Territoriums. Gemeinsam ist allen Plänen jedoch, daß Bosnien-Herzegowina als Staat erhalten bleiben so1l368. Weder die Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 137. Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 137f. 368 So auch in zahlreichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, z. B. Resolution 770 (1992): "Der Sicherheitsrat, 366 367

- nochmals unterstreichend, daß unbedingt rasch eine politische Verhandlungslösung für die Situation in der Republik Bosnien-Herzegowina gefunden werden muß, damit dieses Land in Frieden und Sicherheit innerhalb seiner Grenzen leben kann, - in Bekräftigung der Notwendigkeit, die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina zu achten, ... "; zit. nach Vereinte Nationen 1992,216; und Resolution 787 (1992): "Der Sicherheitsrat, - zutiefst besorgt über die Bedrohung der territorialen Unversehrtheit der Republik Bosnien und Herzegowina, die als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen die in der Charta der Vereinten Nationen festgelegten Rechte genießt, 2. erklärt erneut, daß jede Aneignung von Hoheitsgebiet durch Gewalt und jedwede Praxis der "ethnischen Säuberung" rechtswidrig sind und nicht hingenommen werden und daß nicht zugelassen wird, daß dadurch das Ergebnis der Verhandlungen über Verfassungsregelungen rur die Republik Bosnien und Herzegowina beeinflußt wird, ... 3. bekräftigt nachdrücklich seinen Aufruf an alle Parteien und anderen Beteiligten, die territoriale Unversehrtheit der Republik Bosnien und Herzegowina strengstens zu achten, und erklärt, daß kein einseitig ausgerufenes Gebilde und keine unter Verletzung dieser Unversehrtheit durchgesetzte Regelung anerkannt werden; ... ", zit. nach Vereinte Nationen 1992, 220, 221.

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"Autonome Region Westbosnien", die unter dem muslimischen Geschäftsmann Abdic ausgerufen wird, noch die von bosnischen Kroaten erklärte "Kroatische Republik Herceg-Bosna" oder die von bosnischen Serben proklamierte "Serbische Republik" werden als unabhängig anerkannt. 1995 wird in Dayton (USA) eine Friedensregelung erreiche 69 • Sie sieht vor, daß Bosnien-Herzegowina weiterbesteht; seine konstituierenden Bes~dteile unter einer gemeinsamen Staatsregierung bilden die Kroatisch-Muslimische Föderation und die Serbische Republik: "Article I Bosnia and Herzegovina I. Continuation. Tbe Republik of Bosnia and Herzegovina, the official name of which shall henceforth be "Bosnia and Herzegovina", shall continue its legal existence under international law as astate, with its internal structure modified as provided herein and with its present internationally recognized borders. It shall remain a Member State of the United Nations and may as Bosnia and Herzegovina maintain or apply for membership in organizations within the United Nations system and other international organizations. 3. Composition. Bosnia and Herzegovina shall consist of the two Entities, the Federation of Bosnia and Herzegovina and the Republika Srpska (hereafter "the Entities"). ,,370

Kroatien übt zeitweilig über das von kroatischen Serben gehaltene Drittel seines Territoriums keine Staatsgewalt aus. Die von der dortigen serbischen Bevölkerung ausgerufene "Serbischen Republik Krajina" erhält keine Anerkennung durch die Staatengemeinschaft. Der Plan, den serbischen Gebieten in Kroatien einen Sonderstatus zu geben, sie aber als Teil Kroatiens zu belassen371 , fmdet auf Seite der kroatischen Serben keine Zustimmung. 1995 gelingt Kroatien die Rückeroberung des größten Teils des serbisch besetzten Territoriums und Text in ILM 35 (1996), 75ff. Constitution of Bosnia and Herzegovina, Annex 4 des General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, ILM 35 (1996), 89ff. 37\ Vgl. die Schlußerklärung der internationalen Jugoslawien-Konferenz vom 26.127. August 1992: "... Inbesondere stehen Serbien und Montenegro vor einer klaren Entscheidung. Sie haben sich verpflichtet, . 369

370

- zu erklären, daß sie die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen uneingeschränkt anerkennen; ... - auf die Normalisierung der Lage in Kroatien, die Umsetzung des Vance-Plans und die Anerkennung eines Sonderstatus durch die Serben in der Krajina hinzuwirken, wie im Entwurf des Ubereinkornmens der EG-Konferenz ü!?er Jugoslawien vorgesehen; ... ", zit. nach EA 47 (1992), D 590.

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268

damit die Vernichtung der "Republik Serbische Krajina,,372. Für die noch besetzten Reste Ostslawoniens beschließt der UN-Sicherheitsrat Anfang 1996 eine UN-Übergangsverwaltung (UNTAES), die die friedliche Rückgabe dieser Gebiete unter die kroatische Hoheitsgewalt sicherstellen sole 73 • Die von der albanischen Bevölkerung in der ehemaligen autonomen Region Kosovo in Serbien ausgerufene "Republik Kosovo" wird von der Staatengemeinschaft (mit Ausnahme Albaniens) nicht anerkannt374 • Die Bemühungen der Bevölkerung der Vojvodina in Serbien und des serbisch-montenegrinischen Sandschak, eine gewisse Autonomie innerhalb des serbisch-montenegrinischen Staates zu erhalten, werden dagegen im Lichte des Minderheitenschutzes begrüßt37S •

b) Reaktion auf den Zerfall der UdSSR aa) Rechtsakte der unabhängigen Republiken

(a) Multilaterale Verträge Im Abkommen von Minsk am 8. Dezember 1991 bekennen sich die Ukraine, Belorus und Rußland in Artikel 5 zum Respekt vor der territorialen Unversehrtheit und der Unverletzlichkeit der Grenzen "existant actuellement a l'interieur de la Communaute".376 In der Präambel des Vertrags von Alma-Ata vom 21. Dezember 1991 zur Gründung der GUS bestätigen die elf vertragsschließenden Republiken die Anerkennung und Respektierung

Rüb, FAZ vom 7. Oktober 1995; FAZ vom 12. August 1995. FAZ vom 16. Januar 1996. 374 Reißmüller, FAZ vom 27. Juni 1994; Rüb, FAZ vom 4. Juli 1994. 375 Vgl. die Schlußerklärung der internationalen Jugoslawien-Konferenz vom 26./27. August 1992: "... Inbesondere stehen Serbien und Montenegro vor einer klaren Entscheidung. Sie haben sich verpflichtet, 372 373

- die bürgerlichen und verfassungsmäßigen Rechte der Einwohner des Kosovo und der Wojwodina [sie!] völlig wiederherzustellen und ferner die bürgerlichen Rechte der Einwohner des Sandjak [sie!] zu gewährleisten; - die Rechte der ethnischen und nationalen Gemeinschaften und Minderheiten innerhalb der Grenzen von Serbien und Montenegro in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, der KSZE und dem Entwurf des Übereinkommens der EGKonferenz zu Jugoslawien zu garantieren; ... "; zit. nach EA 47 (1992), D 590. 376 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 396.

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269

"[de] l'integrite territoriale et I'immuabilite des frontieres existantes des uns et des autres. ,,377

Unter dem Eindruck des Bürgerkriegs in Tadshikistan unterzeichnen die Vertreter Rußlands, Kasachstans, Kyrgysstans, Tadshikistans und Usbekistans am 7. August 1993 in Moskau eine Erklärung über die Unverletzlichkeit der Grenzen: "... I'inviolabilite des frontieres et l'integrite territoriale des Etats sont des principes fondamentaux des relations internationales. ,,378

Die Unruhen im Kaukasus bewegen 1996 Armenien, Aserbaidshan, Georgien und Rußland dazu, in einer Erklärung das Festhalten an der territorialen Unversehrtheit als Grundlage filr den Frieden in der Region zu bezeichnen379 •

(b) Bilaterale Verträge Der oben angesprochene russisch-ukrainische Vertrag vom 19. November 1990, der vor der Unabhängigkeit beider Republiken die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen festschreibt380, wird am 23. Juni 1992 im Übereinkommen von Dagomys erneut bestätigt381. Estland und Lettland bestimmen in einem Übereinkommen vom 12. August 1992 ihre gemeinsame Grenze entsprechend der Grenzziehung des Friedensvertrags von Tartu aus dem Jahre 1920382 . Belorus und Lettland schließen am 21. Februar 1994 einen Vertrag über die Bestätigung der gemeinsamen Staatsgrenze, der festsetzt, daß diese "entlang der Linie der Verwaltungsgrenze zwischen der Republik Belarus [sie!] und der Republik Lettland verläuft, die in diesem Abschnitt mit der lettischen Staatsgrenze nach dem Stand vom 16. Juni 1940 übereinstimmt.,,383

Die Ukraine unterzeichnet mit der Slowakei am 14. Oktober 1993 ebenfalls einen die bestehende gemeinsame Staatsgrenze bestätigenden Vertrag384 .

377 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),396. 378 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 433; vgl. KRWE 1993,39599. 379 F AZ vom 4. Juni 1996. 380 Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 401; siehe Fn. 1264. 381 Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 405. 382 Koskenniemi/Lehto, AFDI 38 (1992), 194 Fn. 72. 383 Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 136. 384 Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 136.

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(c) Unilaterale Rechtsakte

Die Ukraine erläßt am 22. September 1991, kurz nach der Unabhängigkeitserklärung vom 24. August, ein Gesetz über die Staatensukzession der Ukraine, das festsetzt, "la frontiere internationale de l'Union des Republiques socialistes sovietiques separant le territoire de l'Ukraine avec les autres Etats, et la frontiere entre la Republique socialiste sovietique d'Ukraine, la Republique socialiste sovietique de Bielorussie, la Republique socialiste federative sovietique russe et la Republique de Moldavie,en vigueur au juillet 1990, constituent la frontiere internationale de l'Ukrai-

ne.,,38S

Aserbaidshan nimmt bereits am 23. September 1989 ein Verfassungsgesetz an, das in Artikel 5 bestimmt: "La souverainete de la RSS d'Azerbaidjan s'etend atout le territoire de la Republique, y compris la RSSA de Nakhitchevan et la Region autonome du Haut-Karabakh qui constituent une partie non detachable de l'Azerbaidjan .... Les frontieres de la RSS d'Azerbaidjan avec les autres republiques federees ne peuvent etre modifiees que par accord avec les republiques concemees. ,,386

Litauen beruft sich in seiner Unabhängigkeitserklärung auf die Unverletzlichkeit der bestehenden internationalen Grenzen387 . Rußland bestimmt durch Präsidialdekret am 18. Juni 1994, daß seine Grenze zu Estland entsprechend dem Stand zum Zeitpunkt der Anerkennung Estlands durch Rußland einseitig markiert werden soU 388 . Estland verabschiedet daraufhin ein Gesetz vom 30. Juli 1994 mit folgendem Art. 2 Abs. 2: "Die Landgrenze Estlands wird bestimmt durch den Dorpater Friedensvertrag vom 2. Februar 1920 sowie durch andere zwischenstaatliche Verträge über Grenzfragen. ,,389

bb) Anerkennung der baltischen Staaten Islands Parlament, der Althing, beschließt bereits am 1l. Februar 1991 eine Resolution, die "confirms that the recognition by the Govemment of Iceland in 1922 of the independence ofthe Republic ofLithuania is fully valid.,,39O

Die EG begrüßt in ihrer Erklärung vom 27. August 1991

385 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 402. 386 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 413/414. 387 Koskenniemi/Lehto, AFDI 38 (1992), 194. 388 Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 137. 389 Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 137. 390 Memorandum by the Government of Iceland, undated [1991].

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"the restoration of the sovereignty and independence of the Baltic states which they lost in 1940" und bekräftigt die Absicht der EG-Staaten "to establish diplomatie relations ... without delay. ,,391. Dabei wird ein rechtlicher Unterschied gemacht zwischen der Erklärung Spaniens und der Niederlande, die die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion anerkannt hatten, und der Position der übrigen Mitgliedsstaaten392 • Der amerikanische Präsidenten Bush spricht von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und betont, dies sei "the culmination of the United States' 52 year refusal to accept the forcible incorporation ofthe independent Baltic States by the USSR,,393. Nach der Anerkennung der baltischen Unabhängigkeit durch die Organe der UdSSR werden Estland, Lettland und Litauen am 17. September 1991 in die Vereinten Nationen aufgenommen394 •

cc) Anerkennungspolitik gegenüber den restlichen Republiken Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und Belorus' am 24. und 25. August 1991 sprechen zunächst nur Kanada, Polen und Ungarn am 2. Dezember 1991 die Anerkennung der Ukraine aus39S . Die Russische Föderation erklärt am selben Tag, daß "the Russian leadership declares its recognition of the independence of Ukraine in accordance with the democratic expression of the will of its people. The Russian leadership is convinced of the stability of and need for the earliest establishment of new interstate relations between Russia and Ukraine, with the understanding that traditions of friendship, good neighbourliness and mutual respect will be preserved, and that obligations, including the non-proliferation and limitation of nuclear weapons, the upholding of human rights and other generally acknowledged norms of international law will strictly be observed. ,,396 Nach der Einigung der Staaten der EG auf die "Declaration on the Guidelines on the Recognition of the New States in Eastern Europe and in the Soviet 391 Declaration of European Community Foreign Ministers, zit. nach Rich, EJIL 4 (1993),36 (38). 392 Warbrick, ICLQ 4 (1992), 474. Zum Verhalten der Staatengemeinschaft gegenüber der Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion und seiner völkerrechtlichen Deutung siehe Dörr, 348-355. 393 Zit. nach Rich, EJIL 4 (1993),38. 394 Zu nachfolgenden vertraglichen Regelungen der baltischen Staaten mit Finnland, Norwegen und Österreich siehe Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 89-97. 395 Rich, EJIL 4 (1993), 41. 396 Zit. nach Rich, EJIL 4 (1993), 42.

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Union" am 16. Dezember 1991 und dem endgültigen Zerfall der UdSSR durch die Gründung der GUS am 21. Dezember 1991 erklären die Mitgliedsstaaten der EG am 23. Dezember 1993, "the international rights and obligations of the former USSR, including those under the United Nations Charter, will continue to be exercised by Russia. They welcome the Russian Government's acceptance of these commitments and responsibilities and in this capacity will continue their dealings with Russia, taking account of the moditication of her constitutional status. ,,397

Am gleichen Tag bieten die EG-Staaten den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken die Anerkennung an, soweit sie sich bereit erklären, die Bedingungen der Richtlinien anzunehmen. Acht Republiken werden nach der Abgabe entsprechender Statements von den EG-Mitgliedern bereits am 31. Dezember 1991 anerkannt. Kyrgysstan und Tadshikistan erhalten die Anerkennung nach der Abgabe ihrer jeweiligen Erklärungen am 16. Januar 1992. Am 23. März 1992 beschließen die Staaten der EG die Anerkennung Georgiens, das nach einer Phase innerer Unruhen unter der neuen Regierung Shevardnadze zu neuer Stabilität zu fmden scheint und eine Erklärung hinsichtlich der Annahme der Richtlinien-Bedingungen abgibe 98 .

Damit läuft die europäische Anerkennungspolitik weitgehend parallel zum Verhalten anderer westlicher Mächte. Die USA erkennen am 25. Dezember 1991 Rußland an und machen ihre Unterstützung filr Rußlands Ansprüche auf den sowjetischen Sitz im Sicherheitsrat deutlich. Gleichzeitig sprechen sie die Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine, Armeniens, Kasachstans, Belorus' und Kyrgysstans aus und nehmen diplomatische Beziehungen mit ihnen auf; hinsichtlich Moldawiens, Turkmenistans, Aserbaidshans, Tadshikistans, Georgiens und Usbekistans erfolgt zwar eine Anerkennung, die Aufuahme diplomatischer Beziehungen wird davon abhängig gemacht, daß "we are satisfied that they have made commitments to responsible security policies and democratic principles, as have the other states we recognized today."

Australien erkennt bis auf Georgien alle ehemaligen sowjetischen Republiken am 26. November 1991 an. Georgien fmdet erst am 29. März 1992 Anerkennung, "because [earlier on] there was not a government exercising effective control.,,399

Norwegen unterzeichnet am 22. April 1993 ein Protokoll mit Rußland, in dem die Fortgeltung aller zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion noch geltenden zaristisch-russisch/sowj etisch/norwegischen Grenzverträge ausdrücklieh bestätigt wird4OO• 397 Zit. nach Rich, EIIL 4 (1993), 45. 398 Zeitliche Abläufe nach Rich, EJIL 4 (1993), 45-46. 399 Alle Informationen zu Anerkennungsdaten u. ä. nach Rich, EJIL 4 (1993), 46f. 400 Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 136.

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dd) Reaktion auf Grenzkonflikte und Sezessionsbestrebungen Die europäischen Staaten bemühen sich im weiteren Verlauf, die Sezessionsbestrebungen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion einzudämmen. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird mit den bedrohlichsten Konflikten befaßt. Zum Streit zwischen Rußland und der Ukraine über die Krim gibt der Präsident des Sicherheitsrats am 20. Juli 1993 eine Erklärung folgenden Inhalts ab: "Le Conseil de securite reaffinne ace propos son attachement a I'integrite territoriale de l'Ukraine, confonnement a la Charte des Nations Unies. Il rappelle que dans le Traite entre la Federation de Russie et I'Ukraine, signe a Kiev le 19 novembre 1990, les Hautes Parties Contractantes se sont engagees a respecter mutuellement leur integrite territoriale l'interieur de leur frontieres actuelles. Le decret du Soviet supreme de la Federation de Russie est incompatible avec l'engagement ainsi pris de meme Qu'avec les buts et les principes de la Charte des Nations Unies et est de nul effet.,,4d"1

a

Die KSZE versucht eine gütliche Regelung des blutigen Konflikts um Nagornyj-Karabach402 • Die EG verurteilen insbesondere "toutes actions contre l'integrite territoriale ou ayant l'intention d'atteindre des buts politiques par la force, ... Les droits fondamentaux des populations armeniennes et azeries doivent etre pleinement restaures, dans le cadre des frontieres existantes.,,403

Ähnliche Stellungnahmen geben die US-amerikanische Regierung und die NATO ab404 • Der UN-Sicherheitsrat nimmt am 29. April 1993 die Resolution 822 an, in der er postuliert, daß "la souverainete et l'integrite territoriale des tous les Etats de la region doivent etre respectees. ,,405

In seiner nachfolgenden Resolution 853 406 betont er erneut die territoriale Integrität Aserbaidshans und aller anderen Staaten der Region. Georgiens Kämpfe mit der abchasischen und ossetischen Minderheit und Moldawiens Auseinandersetzungen mit der Transdnjestr-Region bleiben bis auf die Aufforderung, die Konflikte friedlich zu lösen407 , ohne europäische Reaktion. Das Schweigen der EG-Staaten kann wohl als Unterstützung der territoria-

401 S/26 I 18, zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 407. Yakemtchouk, AFDI 39 (1993),415-416. 403 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 416. 404 Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 416. 405 Zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 419. 406 Vom 29. Juli 1993. 407 SO Z. B. die Generalsekretärin des Europarats Lalurniere bei einem Besuch in Moldawien, FAZ vom 21. April 1993. 402

18 Simmlcr

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len Integrität der Republiken gedeutet werden408 , da sowohl Transnistrien als auch Abchasien und Ossetien eine Anerkennung als unabhängige Staaten verwehrt bleibt. Der UN-Sicherheitsrat spricht sich in seinen Resolutionen, die die Situation in Abchasien behandeln, fiir die Erhaltung der territorialen Integrität Georgiens aus 409 • Der Sezessionsversuch der Tschetschenen bleibt ebenfalls solange unbeachtet, bis die Streitigkeiten Tschetscheniens mit Rußland Ende 1994 durch den Einmarsch russischer Truppen zur Beendigung der Sezession blutig eskalieren. Die USA und Deutschland erklären, es handele sich um eine innere Angelegenheit Rußlands41O , wobei sie gleichzeitig auf eine Einhaltung des auch in Bürgerkriegen geltenden humanitären Völkerrechts dringen. Die Kritik der westlichen Staaten am Verhalten der russischen Truppen wächst mit dem Fortschreiten der Kampthandlungen4Il , doch wird die Rechtmäßigkeit der Herrschaft Rußlands über Tschetschenien in der Regel nicht in Frage gestellt412 . Die Europäische Union ruft am 17. Januar 1995 nach "a peacefull settlement to the conflict which respects the territorial integrity of the Russian Federation. ,,413

DieOSZE "reaffirms its support for a peaceful solution ofthe crisis, based on OSCE princi,Rles, respecting the territorial integrity ofthe Russian Federation and its constitution." 14

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nimmt den Bürgerkrieg in Tadshikistan zum Anlaß, erneut die Unverletzlichkeit der Grenzen anzusprechen. Er betont die Notwendigkeit fiir "Ie respect de la souverainete et de I'integrite territoriale du Tadjikistan et de tous les autres pays de la region, ainsi que I'inviolabilite de leur frontieres. ,,41S

408 Am 22. Mai 1992 erklären die EG allgemein "to condernn in particular as contrary to [CSCE] principles and commitments any actions against territorial integrity or designed to achieve political goals by force."; zit. nach Rich, EJlL 4 (1993), 62. 409 Gazzini, HRLJ 17 (1996),95 und 96 Fn. 48 mit Nachweisen der verschiedenen Sicherheitsrats-Resolutionen. 4\0 SZ vom 10. Januar 1995. 411 Gazzini, HRLJ 17 (1996),100. Vgl. FAZ vom 25. März 1995,20. April 1995. 412 Gazzini, HRJL 17 (1996), 100-101 Fn. 104; Tomuschat, Tsp. vom 25. Januar 1995; vgl. auch FAZ vom 27. März 1996. 413 Declaration by the Presidency on behalf of the European Union conceming Chechnya, zit. nach Gazzini, HRLJ 17 (1996), 100-10 I Fn. 104. 414 Zit. nach Gazzini, HRLJ 17 (1996),101 Fn. 104. 41S S/26341 vom 23. August 1993, zit. nach Yakemtchouk, AFDI 39 (1993), 434.

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c) Reaktion auf den Zerfall der Tschechoslowakei

Die europäischen Staaten sehen während des Zerfalls der Tschechoslowakei keinen Grund, vermittelnd einzugreifen, weil sich die Trennung Tschechiens und der Slowakei in friedlichen Bahnen vollzieht. Da die beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei ihre Rechtspflichten gegenüber den Nachbarstaaten erftlllen, nehmen die europäischen Staaten den Zerfall der Tschechoslowakei ohne Beanstandungen hin416 • Österreich ftlhrt am 22. Dezember 1993 einen Notenwechsel mit der Slowakei durch, in dem betont wird, daß die mit der Tschechoslowakei abgeschlossenen radizierten Verträge mit der Slowakei fortgelten417 • Die tschechische und die slowakische Republik bestätigen in ihrem Vertrag über gute Nachbarschaft, daß "n'ont I'une envers I'autre aucunes revendications territoriales. ,,418

Die tschechisch-slowakische Grenze ist inzwischen größtenteils markiert, über vier kleinere Sektoren herrscht noch Uneinigkeit419 •

5. Rechtliche Wertung

In Europa zeigt die Praxis der Grenzziehung nach dem Zerbrechen multinationaler Föderationen ein vergleichsweise einheitliches Bild. a) Außengrenzen der Neustaaten zu den bereits bestehenden Staaten

Die aus den zerbrechenden föderalen Staaten Jugoslawien, Tschechoslowakei und UdSSR hervorgehenden Neustaaten stellen die von den ehemaligen Föderationen durch Verträge mit den Nachbarstaaten gezogenen internationalen Grenzen nicht in Frage. Darin kommt zum Ausdruck, daß die europäischen Neustaaten dem universell geltenden Kontinuitätsgrundsatz des Völkergewohnheitsrechts folgen und sich ftlr rechtlich verpflichtet halten, diesen Grundsatz einzuhalten. Einige Staaten, wie Slowenien, die Slowakei, die Ukraine und Rußland, erklären diese Position ausdrücklich in bestätigenden bilateralen Verträgen oder diplomatischen Notenwechseln. Die GUS-Staaten legen ihre gemeinsame Position, daß es wünschenswert sei, die Grenzverträge des Vorgängerstaates mit den Nachbarstaaten ausdrücklich zu bestätigen, in einem "memo416 Malenovsky, AFDI 39 (1993), 336; Schmid, BBOIS 34-1993; Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 35, 84, 132f. 417 Schweisfurth, BDGV 35 (1995),137. 418 Zit. nach Malenovsky, AFDI 39 (1993), 328. 419 Malenovsky, AFDI 39 (1993), 328. Vgl. dazu oben Punkt H. 3 c.

IS'

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randum ofunderstanding" nieder420 • Diese Verträge und Notenwechsel sind als deklaratorisch zu verstehen, d. h., sie bekräftigen lediglich die bereits aus Völkergewohnheitsrecht bestehenden Verpflichtung der Nachfolgestaaten, die Grenzverträge zu achten. Das Schweigen anderer Neustaaten zu ihrer ererbten Außengrenze bedeutet daher nicht, daß diese eine Verpflichtung aus dem Grenzverträgen ablehnen; diese Staaten sehen vielmehr keine Notwendigkeit, eine bereits bestehende rechtliche Bindung ausdrücklich zu bekräftigen. Diese Deutung ihres Verhaltens wird dadurch gestützt, daß auch die "schweigenden" Neustaaten keine Anstalten machen, den Verlauf ihrer vertraglich festgesetzten Außengrenzen in Frage zu stellen. Die Nachbarstaaten halten ebenfalls an den Grenzverträgen fest. Auch wenn teilweise aufgrund historischer Titel über eine Grenzrevision nachgedacht wird (z. B. Rumänien gegenüber der Ukraine), werden solche Ansprüche nach der Beruhigung der nach dem Umsturz in Osteuropa in Bewegung geratenen zwischenstaatlichen Beziehungen wieder aufgegeben. Zu einseitigen Grenzveränderungen kommt es nicht421 • Veränderungen im gegenseitigen Einverständnis werden ebenfalls nicht vorgenommen, würden dem Kontinuitätsgrundsatz aber auch nicht widersprechen, da dieser Satz des Völkergewohnheitsrechts keine unverrückbare Festschreibung der einmal bestehenden Grenzen postuliert422 • b) Grenzen der Neustaaten untereinander

Die Grenzen der Neustaaten untereinander sind als reine ehemalige "Binnengrenzen" zu betrachten. Anders als in den Fällen der Erlangung von Unabhängigkeit in anderen Regionen der Welt stehen sich hier nicht Neustaaten gegenüber, die von mehreren verschiedenen Mächten beherrscht wurden. Die in Frage stehenden Binnengrenzen zwischen den Nachfolgestaaten der ehemaligen multiethnischen Föderationen sind als administrative Grenzen zu qualifizieren, die durch eine einzige übergeordnete Instanz, die jeweilige Föderation, gezogen wurden. Die Staatenpraxis der Neustaaten hinsichtlich dieser Grenzen läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die von der jeweiligen Föderation gezogenen administrativen Grenzen werden von den Neustaaten als ihre neuen gegenseitigen internationalen Grenzen akzeptiert. Die Beibehaltung dieser Grenzen bedeutet eine Festschreibung der nach der Föderationsaußengrenze nächst-niedrigeren administrativen Grenzen, d. h. der Republiksgrenzen. In dem Augenblick, in dem

Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 136. Vgl. Klein, Der Staat 32 (1993), 367. 422 Dies würde auch der territorialen Souveränität der Staaten, mit der ihre Verfilgungsbefugnis über das Staatsgebiet einhergeht, widersprechen. Zu Begriff und Inhalt der territorialen Souveränität siehe Verdross/Simma, § 1038-§ 1047. 420 421

11. Situation seit 1989

277

diese als internationale Staatsgrenzen festgesetzt werden, verlieren die niedrigeren administrativen Grenzen im Völkerrecht an Bedeutung. Die Festlegung auf die höchstrangigen administrativen Grenzen zur Bestimmung des Staatsgebiets der Neustaaten steht allen Versuchen der niedrigrangigeren Gebietseinheiten (z. B. Autonome Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Autonome Oblasten) entgegen, sich ebenfalls aus der ehemaligen Föderation und weiter noch aus der höherrangigen Gebietseinheit zu lösen. Das von den höchstrangigen administrativen Grenzen bestimmte Staatsgebiet steht in folgenden unter dem Schutz des völkerrechtlichen Grundsatzes der territorialen Integrität; dieser kann weiteren Zersplitterungsbestrebungen entgegengehalten werden423 • Es kommt in der Staatenpraxis zu keiner bleibenden Abweichung von den Grenzen, die durch die frühere Föderationsmacht administrativ bestimmt wurden. Zwar bricht zwischen den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens ein Krieg aus, der zeitweilig zu erheblichen Gebietsveränderungen in den Republiken fUhrt. Nach der Beendigung der kriegerischen Handlungen wird jedoch zu den Grenzen zurückgekehrt, die der früheren administrativen Grenzziehung entsprechen. Sogar das von innerem Zwist zwischen seinen verschiedenen Volksgruppen zerrissene Bosnien-Herzegowina kann seine administrativen Grenzen erhalten. Der Versuch des Kosovo, über eine Unabhängigkeitserklärung aus Serbien auszubrechen, hat keine tatsächlichen Veränderungen im Territorialbestand Serbiens zur Folge. Auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Gebietszugehörigkeit bestimmter Territorien. Doch selbst in den Fällen, in denen aufständische Bevölkerungsteile die faktische Herrschaft über von ihnen bewohnte Gebiete erringen, wird am Fortgelten der Außengrenzen festgehalten und versucht, mit den Aufständischen zu einer Lösung zu kommen, die die territoriale Integrität des Neustaats nicht verletzt. So wird in Georgien den sezessionswilligen Osseten und Abchasen ein autonomer Status mit weitgehenden Befugnissen unter Erhaltung der Einheit Georgiens angeboten und ein endgültiges Ausbrechen der Gebiete mit GUS-Friedenstruppen verhindert. Ebenso kommt Moldawien mit dem sezessionswilligen Transdnjestr und den Gagausen überein, den jeweiligen Gebieten einen besonderen autonomen Status einzuräumen, die Einheit Moldawiens jedoch zu erhalten. In Tschetschenien verhindern russische Truppen in blutigen Kämpfen eine endgültige Abspaltung des Gebiets; der zukünftige Status Tschetscheniens ist zwar noch Gegenstand von Verhandlungen, es ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß Tschetschenien gegen den Willen Rußlands eine dauernde Unabhängigkeit erreichen wird. Auch der langjährige Konflikt um Berg-Karabach harrt noch einer Lösung; doch seit Armenien seine TerritoriumsanspTÜche an Aserbaidshan zurückgezogen hat, ist eine endgültige Abtrennung des Gebiets von Aserbaidshan wegen der fehlenden Unterstützung

423 Vgl. dazu Verdross/Simma, § 511 sowie die Hinweise zur Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten oben Fn. 33.

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von außen unwahrscheinlich. Hier wird ebenfalls eine einvernehmliche Lösung auf der Basis einer Autonomieregelung anzustreben sein. Die teilweise von den Neustaaten gegeneinander geltend gemachten Gebietsansprüche haben zwar zu keiner Veränderung der administrativen Grenzen gefUhrt. Das Äußern solcher Ansprüche könnte jedoch ein Indiz dafür sein, daß das Festhalten an der administrativen Grenzziehung nicht als rechtliche Verpflichtung angesehen wird, auch wenn das durchgehende Beibehalten der administrativen Grenzen zunächst eine Indizwirkung ftlr eine entsprechende Rechtsüberzeugung besitzt. Einer derartigen Wertung der Gebietsansprüche steht aber entgegen, daß die Nachfolgestaaten der verschiedenen ehemaligen Föderationen sich mehrfach öffentlich zur Unverletzbarkeit der administrativen Grenzen bekannt haben. So stellen alle GUS-Staaten dem GUS-Vertrag ein Passus zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in der Präambel voran. Die zentralasiatischen ehemaligen sowjetischen Republiken (ohne Turkmenistan) und Rußland bestätigen diese Einstellung noch in einer weiteren Erklärung. Auch die Kaukasusrepubliken (Armenien, Aserbaidshan, Georgien) betonen die Unverletzlichkeit der Grenzen in einer Erklärung zusammen mit Rußland. Diese Stellungnahmen wird man angesichts der Bedeutung, die gesicherte Grenzen ftlr die Existenz eines Staates haben, nicht als bloße unverbindliche Absichtserklärungen verstehen können. Die Staaten der GUS setzten im Gründungsvertrag die Grundlagen filr ihre gegenseitigen rechtlichen Beziehungen. Zwar hat die Präambel eines Vertrages keinen regelnden Charakter, sie ist vom operativen Teil deutlich getrennt. Doch werden gerade in der Präambel eines Vertrages meist Leitgedanken formuliert, die ihre Rechtsgeltung bereits aus außervertraglichen Rechtsquellen ableiten (z. B. der Verweis auf gewohnheitsrechtliche Prinzipien), und die filr die Auslegung des regelnden Teils von Bedeutung sind424 • Seine Stellung in der Präambel spricht daher daftlr, daß dem Gedanken der Unverletzlichkeit der administrativen Grenzziehung von den Vertragsparteien rechtliche Bindungswirkung unabhängig vom GUS-Vertrag beigemessen wird und man in ihm eine rechtlich verbindliche Grundlage der gegeseitigen Beziehungen sieht. Daß dennoch gelegentlich Gebietsansprüche aufflackern, wird man demnach als politische Äußerungen ohne rechtlichen Wert betrachten müssen, als eine Art "verbales Säbelrasseln", mit dem unterschiedliche innen- oder außenpolitische Ziele verfolgt werden. Ein weiteres Anzeichen filr eine entsprechende Rechtsüberzeugung der betreffenden Staaten ist die Tatsache, daß einige Neustaaten (wie Litauen, Aserbaidshan und die Ukraine) das Festhalten an der administrativen Grenzziehung auch in innerstaatlichen Gesetzen niederlegen. Eine Variante des Festhaltens an den administrativen Grenzen stellt die inzwischen aufgegebene Position Estlands zur Grenze mit Rußland dar. Estland wollte zu einer Grenzziehung zurückkehren, die auf einem völkerrechtlichen 424

Vgl. lpsen-Heintschel von Heinegg, § 10 Rn. 15; Verdross/Simma, § 777.

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Vertrag basiert, den Estland vor der Annexion durch die Sowjetunion mit dieser schloß. Dies ist als eine Ausprägung des Kontinuitätsgrundsatzes zu verstehen und beruht auf der Ansicht Estlands, es sei trotz der Annexion und des nachfolgenden Zeitablaufs nicht als Staat untergegangen42S • Estland hat diese Forderung inzwischen aufgegeben und ist bereit, die administrative Grenze anzuerkennen. Lettland wird seine Position dem wahrscheinlich anpassen. Auch diese beiden Staaten erkennen also inzwischen die rechtliche Verpflichtung an, an der administrativen Grenzziehung festzuhalten. Die kleinen Grenzprobleme zwischen der tschechischen und der slowakischen Republik resultieren daraus, daß hier keine fertige administrative Grenzziehung existierte, auf die zurückgegriffen werden konnte. Eine fehlende Rechtsüberzeugung dahin, daß die administrative Grenze weitergilt, wird dem nicht entnommen werden können. Vielmehr wird man dem sonstigen Festhalten an der administrativen Grenzziehung Indizwirkung dahingehend zusprechen müssen, daß dieses Verhalten von beiden Republiken als rechtlich geboten angesehen wird. Auch die Gebietsansprüche der serbischen Republik gegenüber den anderen Nachfolgerepubliken Jugoslawiens sind inzwischen aufgegeben worden. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens sprechen die Anzeichen nicht filr eine Rechtsüberzeugung auf seiten Serbiens, daß die von der Föderation gezogenen Grenzen beizuhalten sind. Die Regierung Milosevic unterstützt zu diesem Zeitpunkt die sezessionistischen Tendenzen der serbischen Minderheiten in den übrigen Republiken und strebt nach der Errichtung eines GroßSerbiens426 . Doch diese Einstellung zu den administrativen Grenzen ändert sich im Laufe des sogenanten Jugoslawien-Konflikts. Angesichts des wachsenden Widerstandes der Staatengemeinschaft gegenüber den von den serbischen Minderheiten verübten Gewalttaten und den versuchten neuen Staatsgründungen entzieht Serbien diesen Gruppen seine Unterstützung. Versuche der serbischen Minderheit insbesondere in Bosnien-Herzegowina, ihr Gebiet an Serbien anzuschließen, werden von diesem zurückgewiesen427 . Darin ist eine Änderung der rechtlichen Überzeugung Serbiens zu sehen; seit dieser Zeit sind vermehrt Erklärungen und Äußerungen der serbischen Regierung und der Regierung des "neuen" Jugoslawiens nachzuweisen, in denen das Festhalten an den administrativen Grenzen postuliert wird. Auch das Verhalten gegenüber den Sezessionsbestrebungen des Kosovo zeigt, daß Serbien die Beibehaltung der admini425 Alle drei baltischen Staaten halten sich mit dieser Begründung nicht für Neustaaten und stufen ihren Ausbruch aus der Sowjetunion als Beendigung einer völkerrechtswidrigen Annexion ein. Dieser Argumentationslinie wird von den westlichen Staaten weitgehend gefolgt, da gehofft wird, dadurch eine Auseinandersetzung über Grenzfragen oder die Legitimität der Sezession aus einem bestehenden Staat vermeiden zu können; vgl. dazu Rich, EJIL 4 (1993), 38; Koskenniemi/Lehto, AFDI 38 (1992), 196-197. 426 Rüb, FAZ vom 1. September 1995; Weller, AJIL 86 (1992),574. 427 Vgl. Tsp. vom 19. Oktober 1993; Rüb, FAZ vom 1. September 1995.

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strativen Grenzen wünscht. Angesichts der wiederholten Äußerungen in dieser Richtung und der Teilnahme Serbiens am Dayton-Friedensabkommen wird man davon ausgehen müssen, daß das Festhalten an der administrativen Grenzziehung inzwischen auch von serbischer Seite von der Überzeugung getragen wird, dazu rechtlich verpflichtet zu sein. Die übrigen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens hatten den serbischen Ansprüchen zu jeder Zeit entgegengehalten, daß die Grenzziehung durch die ehemalige Föderation zwingend beizubehalten sei. Auf ihrer Seite kann daher kaum ein Zweifel bestehen, daß eine die Unverletzlichkeit der Grenzen tragende Rechtsüberzeugung existiert. Abschließend ist also festzuhalten, daß bei den europäischen Neustaaten, die aus dem Zerfall einer multi-ethnischen Föderation entstanden sind, eine die Praxis der Beibehaltung der administrativen Grenzen tragende opinio iuris nachzuweisen ist.

m. Ergebnis: uti possidetis bei unabhängig werdenden Territorialnationen

Die Auswertung der Praxis der Neustaaten in Europa in Hinsicht auf den Umgang mit ihren Grenzen nach Erlangung der Unabhängigkeit macht deutlich, daß hier beide Elemente des uti possidetis, der Kontinuitätsgrundsatz des universellen Völkergewohnheitsrechts ebenso wie das uti possidetis im engeren Sinn, nachzuweisen sind. Der völkergewohnheitsrechtliche Kontinuitätsgrundsatz hat in Europa fast ausschließlich Bedeutung filr das Verhältnis zwischen Neustaat und bereits bestehendem Staat; mit Ausnahme der Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine bestehen keine Grenzen zwischen zwei Neustaaten, die bereits durch völkerrechtliche Verträge der Vorgängerstaaten geregelt wurden. Dadurch, daß in Europa vorwiegend Neustaaten auf dem Gebiet einer ehemaligen Föderation unabhängig werden, erlangt der Gedanke der Unverletzlichkeit der durch diese Föderation gezogenen administrativen Grenzen besondere Bedeutung. Es ist nachweisbar, daß das Festhalten der europäischen Neustaaten an ihren von der jeweiligen ehemaligen Föderation gezogenen administrativen Grenzen von einer entsprechenden opinio iuris getragen wird. Damit existieren auch in Europa die rur die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht notwendigen Elemente. Die von den europäischen Neustaaten vertretene Position hinsichtlich der Beibehaltung ihrer administrativen Grenzen wird von ihnen zwar (anders als z. B. von der Badinter-Kommission428 ) nicht mit dem Schlagwort des uti possidetis belegt. Sie ist aber dann als Ausprägung des bisher nachgewiesenen parti-

428

Dazu unten Abschnitt (G.) Punkt 11. l.

IIl. Ergebnis: uti possidetis bei unabhängig werdenden Territorialnationen

281

kulären uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen (des uti possidetis im engeren Sinn) anzusehen, wenn sich ihre Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung auf einen faktischen Hintergrund zurückfUhren lassen, der mit dem Hintergrund des uti possidetis in Fremdherrschaftsituationen vergleichbar ist429 • Das uti possidetis in Fremdherrschaftssituationen beruht auf dem Konzept der Territorialnation, d. h. auf der besonderen Situation der unabhängig werdenden Staaten, daß ihnen eine staatstragende Nation mit ausreichendem ethnischen, geschichtlichen und/oder religiösen Zusammenhang fehlt. Diese Sondersituation ist auch bei den Neustaaten in Europa zu erkennen. Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens scheint auf den ersten Blick eine historische Fixierung der Rechtspersönlichkeit der einzelnen Neustaaten vorzuherrschen. Die Rechtfertigung des territorialen Titels der Neustaaten ebenso wie die Begründung etwaiger Gebietsansprüche erfolgt anscheinend, betrachtet man die Äußerungen der neuen Führungen, durch den Rückgriff auf historische Kontinuitäten430 • Doch bei näherer Betrachtung erweist sich dies als ein Trugschluß: Die angeblichen historischen Titel entspringen einem übersteigerten Wunschdenken und fmden in der Geschichte keinen Rückhalt. Vor der Bildung des "ersten" Jugoslawiens verIDgen die jugoslawischen Völker jahrhundertelang über keine eigene Staatlichkeit. Die oft ins Spiel gebrachten mittelalterlichen Königreiche Kroatiens 431 und Serbiens432 können nicht zur Fundierung eines Gebietstitels verwendet werden, da dem mittelalterlichen Personenverbandsstaat eine feste territoriale Defmition fremd ist433 • Herrschaft und Loyalität ergibt sich in der mittelalterlichen Gesellschaft aus persönlicher Verbundenheit, nicht aus Gebietsherrschaft. Slowenien, Makedonien und BosnienHerzegowina fUhren keine historischen Argumente zur Begründung von Gebietsansprüchen an, da ihnen eine Geschichte eigener Staatlichkeit fehlt434 • Einzig Serbien besitzt im 19. Jahrhundert nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft kurzzeitig eigene Staatlichkeit; auf diesen Staat wird jedoch bei Gebiets ansprüchen nicht rekurriert, da sein Territorium bereits weitestgehend mit dem Staatsgebiet der Republik Serbien übereinstimmt435 •

Dazu bereits oben Abschnitt (0.) Punkt IV. Vgl. Geiss, 14. 431 Im 12. Jahrhundert unterstellt sich der letzte kroatische König als Vasall dem ungarischen Thron; mit der Vereinigung Ungarns mit den Habsburger Ländereien wird Kroatien Teil der Habsburger Reiches, vgl. Poulton, 1. 432 Im 14. Jahrhundert wird die serbische Ritterschaft im entscheidenden Kampf am Amselfeld vom osmanischen Heer vernichtet; das serbische Königtum geht unter, Serbien wird Teil des Osmanischen Reiches, vgl. Poulton, 2. 433 Zum "Staat" im Mittelalter vgl. Grewe, 31-32, 57f., 83-98 und RandelzhoJer, Aspekte, 3 1-49. 434 Siehe Poulton, 1,35,39,46. 435 Zur territorialen Erstreckung des serbischen Staates siehe Poulton, 15-16. 429 430

282

F. uti possidetis in Europa

Im Hinblick auf ihre Geschichte sind die Neustaaten auf dem Gebiet Jugoslawiens damit im Ansatz insbesondere den afrikanischen Staaten vergleichbar. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die auf dem Balkan vorherrschende ethnische Zersplitterung436 • Lediglich Slowenien ist weitgehend ethnisch homogen. In den übrigen jugoslawischen Republiken fmden sich starke ethnische Minderheiten; Bosnien-Herzegowina besitzt gar keine dominierende Volksgruppe. Die Neustaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stellen also trotz ihrer teilweisen Versuche, dies durch historisierende Propaganda zu verdecken, Territorialnationen dar. Diese Einschätzung wird bestärkt durch eine entsprechenden Fixierung der Neustaaten - mit zeitweiliger Ausnahme Serbiens - auf ihre Grenzen: Historische Kontinuitäten437 genügen ihnen nicht als identitätsstiftendes Element filr die gesamte Bevölkerung ihres Gebietes; es fehlt an anderen einigenden Faktoren neben der Grenzziehung. Somit muß eine Defmition des eigenen Staates und der Staatsnation über das Territorium erfolgen. Die Lage der Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zeigt ein ähnliches Bild. Die zentralasiatischen Republiken, die vor der zaristischen Eroberung keine historische Staatlichkeit besitzen, sondern von oft nomadisierender, ethnisch uneinheitlicher Bevölkerung geprägt sind, stellen am offensichtlichsten Territorialnationen ohne ausreichenden historischen, ethnischen (oder ähnlichen) Zusammenhang dar. Doch auch die restlichen Republiken sind sich ihrer historischen Kontinuität meist nicht sicher genug, um Grenzstreitigkeiten und Sezessionsbestrebungen nicht als existenzbedrohend anzusehen. Selbst Georgien, die Ukraine und Litauen, die auf eine lange Geschichte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Eigenständigkeit zurückblicken können, sind aufgrund der tiefen Veränderungen der letzten Jahrhunderte nicht in sich geschlossen genug, um über ein anderes Element der Identitätsstiftung filr die gesamte Bevölkerung zu verfUgen als die territoriale Klammer. Fast alle Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR beherbergen (teilweise sehr starke) ethnische Minderheiten aufihren Gebieten, wodurch eine ethnische Defmition der Staatsnation erschwert wird. Auch in den zwei Republiken auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei befmden sich ethnische Minderheiten, so daß als vorrangiges identitätsstiftendes Merkmal auf die Grenzen zurückgegriffen wird. Insbesondere fiir die Slowakei mit ihrer kompakten ungarischen Minderheit ist kein Rückgriff auf andere identitätsstiftende Merkmale möglich. 436 Zu den Gründen der starken ethnischen Fragmentierung auf dem Balkan siehe Geiss, 11-15. 437 Aufgrund der bewegten Geschichte der Balkanregion kommt erschwerend hinzu, daß es möglich ist, für jedes Stück Land mehrere, sich überlappende historische Gebietstitel geltend zu machen. Es ist z. B. nur eine Frage der geschichtlichen Interpretation, ob alle Serben in Wahrheit Kroaten oder umgekehrt sind; vgl. Bugajski, 12, 97/98; Geiss, 14-15; Poulton, 15,29; Roggemann, 24f.

III. Ergebnis: uti possidetis bei unabhängig werdenden Territorialnationen

283

Die tatsächlichen Gegebenheiten in den Neustaaten Osteuropas lassen sich also mit den Verhältnissen in den nach Fremdherrschaft unabhängig werdenden Neustaaten in Afrika, Asien und dem Nahen Osten vergleichen. Die europäischen Neustaaten stellen sich als Territorialnationen dar, die mangels ausreichender anderer identitätsstiftender Merkmale auf die zumeist willkürlich durch die ehemalige Föderation gezogenen administrativen Grenzen438 als Klammer angewiesen sind439 • Bei der Beibehaltung der durch die ehemalige Föderation gezogenen administrativen Grenzen durch die europäischen Neustaaten, die zudem von einer entsprechenden opinio iuris der betroffenen Staaten getragen wird, handelt es sich demnach um eine Ausprägung des uti possidetis im engeren Sinn440 • Dieses muß aufgrund der Erkenntnisse in Europa nunmehr gelöst von seiner Bindung an 438 Für die jugoslawischen Binnengrenzen: Cviic, 27f.; Libal, 63f.; Weller, AJIL 86 (1992),590; rur die sowjetischen Binnengrenzen: Zaslavsky, in: Bremmerffaras, 35. 439 Dem widerspricht Baer, 2561257, die behauptet: "Darüber hinaus kann nicht gesagt werden, daß die Grenzen der Republiken und damit auch Kroatiens so willkürlich festgesetzt worden sind, wie es vergleichsweise in Afrika der Fall war.... Grenzstreitigkeiten wurden nicht ausgetragen .... Auch unter historischen Gesichtspunkten sind die bestehenden Grenzen zu rechtfertigen, ... ". Dem ist entgegenzuhalten, daß unter historischen Gesichtspunkten auf dem Balkan jede Grenze zu rechtfertigen wäre, man muß nur weit genug in der Geschichte zurückgehen. Grenzstreitigkeiten innerhalb eines föderierten Staates sind zudem unnötig, da es z. B. rur einen serbischen Jugoslawen wenig Unterschied macht, in welcher Teilrepublik er lebt, solange der übergeordnete Bund besteht. Auch mag die Grenzziehung in Jugoslawien auf den ersten Blick nicht willkürlich erscheinen, besonders da sie nicht von einer fremden Macht vorgenommen wird. Die Grenzentscheidungen Titos sind jedoch von politischen Überlegungen geprägt und gerade nicht ethnisch oder historisch orientiert - das wird man mit gutem Recht als willkürlich bezeichnen können. Vgl. dazu die Äußerung von Milovan Djilas, einem Mitstreiter Titos: "We looked on the national question as a very important question, but a tactical question, a question of stirring up a revolution, a question of mobilizing the national masses. We proceeded from the view that national minorities and national ambitions would weaken with the development of socialism, and that they are chiefly a product of capitalist development. ... Consequently the borders inside our country didn't playa big role .... ", zit. nach Lenard Cohen, 24; dort (24-26) auch eine Auswahl der verschiedenen Grenzveränderungen durch Tito. 440 Ähnlich, jedoch ohne Reflexion auf ein "afrikanisches" uti possidetis abstellend, Charpentier, RGDIP 96 (1992), 352; Sorel/Mehdi, AFDI 40 (1994), 13. Dagegen hält Bernardez, in: FS Zemanek, 434, die Anwendung des uti-possidetis-Prinzips in Europa rur unmöglich. Er begründet dies damit, es sei nur in Dekolonisierungsflillen anzuwenden und berühre die Fragen der Staatendissolution und Staatennachfolge nicht. Diese Argumentation hängt jedoch wohl zu stark an der Begriftlichkeit des Wortes "Dekolonisierung" und beachtet nicht den vergleichbaren Hintergrund der Neustaaten in Europa gegenüber den aus der Dekolonisierung hervorgegangenen Neustaaten. Auch ist nicht verständlich, warum Bernardez die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens nicht rur "newly independent states" hält. Und daß der Gebietstitel der nunmehr unabhängigen Republiken hinsichtlich ihres Staatsgebiets sich - genau wie Bemardez verlangt - aus "domestic law" der "administering Power", i. e. hier der Grenzziehung durch die jeweilige Bundesregierung, herleitet, wird wohl kaum zu bestreiten sein. Kohen, RGDIP 97 (1993/1994), 959, steht der Anwendung des utipossidetis-Prinzips in Europa dagegen nicht abweisend gegenüber.

284

F. uti possidetis in Europa

ortsfremde Fremdherrschaft betrachtet werden. Das uti possidetis als Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts fmdet somit auf alle Situationen Anwendung, in denen auf dem Gebiet eines Staates mehrere neue Staaten entstehen, die als Territorialnationen einzustufen sind44l . Dabei ist unbeachtlich, ob die Gebiete der Neustaaten vor ihrer Unabhängigkeit von einer ortsfremden Macht beherrscht wurden, ob sie einer internen Kolonisierung oder diskriminierenden Herrschaft unterstanden oder der Herrschaft einer bestimmten Ideologie, der sich die Bevölkerung der unabhängig werdenden Gebiete im Laufe der Zeit entfremdet hatte. Das partikulär-völkergewohnheitsrechtliche uti possidetis stellt allein auf die Tatsache der Neuentstehung von mehreren Staaten auf einem bisher von nur einer Macht beherrschten Gebiet ab. Es regelt fiIr die neu entstandenen Territorialnationen den Verlauf ihrer internationalen Grenzen durch Rückgriff auf die administrative Grenzziehung der ehemaligen Zentralmacht. Dabei ist es fiIr die Geltung des uti possidetis ohne Bedeutung, auf weIcher völkerrechtlichen Rechtsgrundlage die Entstehung der Neustaaten beruht bzw. ob die Entstehung dieser Neustaaten überhaupt völkerrechtlich rechtmäßig war. Das uti possidetis beantwortet allein die Frage nach den Grenzen des effektiv unabhängig gewordenen Neustaats442 • Abschließend ist als Inhalt des partikulär-völkergewohnheitsrechtlichen uti possidetis folgendes festzuhalten: Werden auf einem von einer zentralen Macht beherrschten Territorium mehrere Territorialnationen unabhängig, werden die von der Zentralmacht gezogenen administrativen Grenzen zu den internationalen Grenzen der Neustaaten. Dabei ist zu beachten, daß ein Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts nur fiIr die betroffenen Staaten Geltung erlangt, die diesem Rechtssatz zugestimmt haben443 • Dies ist bei den hier betroffenen europäischen Territorialnationen der Fall.

441 Türk, EJIL 4 (1993), 71, übersieht das Konzept der Territorialnation, wenn er behauptet, "[T]herefore the dissolution ofthe Soviet Union and Yugoslavia cannot be seen as areal precedent for the situations that might arise in states with different types of history and another type ofpolitical organization." 442 Zum Grundsatz der Effektivität im Völkerrecht siehe Ipsen-Epping, § 8 Rn 5; Ipsen-Gloria, § 22 Rn 23f.; Verdross/Simma, § 68-§ 70. Vgl. dazu auch Higgins, in: Peoples, 33: " ... even ifintemationallaw does not authorize secession, it will eventuaIly recognize the reality once it has occured and been made effective." Siehe auch die vergleichbare Meinung von Ebenroth, BDGV 35 (1995), 274f, daß die Rechtmäßigkeit des Souveränitätswechsels keine Tatbestandsvoraussetzung der Staatensukzession darstellt. 443 Dazu bereits oben Abschnitt (A.) Punkt V. 2 b.

"It is not the boundary but the nation that is artificial." I

G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts Die Ereignisse in Europa stellen einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des uti possidetis im engeren Sinne dar. Bis zu den Vorkommnissen nach 1989 in Europa wird die Frage der Grenzziehung zwischen Neustaaten, die auf dem Gebiet nur einer Kolonial- oder Zentralmacht unabhängig werden, weitgehend den betroffenen Neustaaten überlassen. Von Interesse filr die Staatengemeinschaft ist bis zu diesem Zeitpunkt vorrangig, daß der Kontinuitätsgrundsatz des universellen Völkergewohnheitsrechts beachtet wird, d. h., daß bereits bestehende völkerrechtliche Verträge eingehalten werden. Wie die Neustaaten mit ehemaligen Binnengrenzen umgehen, fmdet in der Staatengemeinschaft keinen Widerhall. Nur wenn die Neustaaten nach der Erlangung der Unabhängigkeit mit Sezessionsbestrebungen zu kämpfen haben und die Staatengemeinschaft um Hilfe bitten, um ihre territoriale Integrität zu erhalten, werden die übrigen Staaten der Welt mit Grenzproblemen der Neustaaten konfrontiert. Die Regelung der Grenzen bleibt also eine partikuläre Materie; die Lösungen, die die Neustaaten hinsichtlich der ehemaligen Binnengrenzen erreichen, haben demzufolge auch nur partikuläre Wirkung2. Vor den Ereignissen der Jahre seit 1989 bestehen bei den von den Grenzstreitigkeiten nicht direkt betroffenen Staaten keine Bestrebungen, das uti possidetis im engeren Sinn von einer Regel des partikulären Völkergewohnheitsrechts in eine Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts zu verwandeln.

I. Wandel von partikulärem zu universellem Völkergewohnheitsrecht Eine solche Wandelung ist grundsätzlich möglich3 . Das partikuläre Völkergewohnheitsrecht4 zeichnet sich zum einen durch eine Beschränkung seines Geltungsbereichs auf nur eine bestimmte Gruppe von Staaten aus. Weiterhin ist 11. W Zartman, zit. nach Shaw, Title, 186. Vgl. dazu D'Amato, Concept, 235, der "boundary disputes" in bestimmten Teilen der Welt als typisches Beispiel fUr ein "nongeneralizable topic" und damit fUr einen dem partikulären Völkergewohnheitsrecht zugänglichen Bereich anfUhrt. 3 Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961), 140; Elias, AfrJIL 8 (1996), 73; Fitzmaurice, RdC 92 (1957 11), 108. 4 Dazu bereits oben Abschnitt (A) Punkt V. 2 b. 2

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G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts

eine Besonderheit des partikulären Völkergewohnheitsrechts, daß es nur unter denen gilt, die ihm (wenn auch nur konkludent und "tacit") zugestimmt haben. Der Kreis der zustimmenden Staaten kann sich - wie die Betrachtungen zum uti possidetis im engeren Sinn hier gezeigt haben - jederzeit erweitern. Daher besteht nach logischen Grundsätzen die Möglichkeit, den Kreis der zustimmenden Staaten so zu erweitern, daß die Regel durch die Zustimmung aller Staaten der Welt zur universellen Völkergewohnheitsrechtsnorm wird. Eine Erstarkung partikulären Völkergewohnheitsrechts zu universellem Völkergewohnheitsrecht auf diesem Weg ist jedoch unwahrscheinlich; eine lückenlose Zustimmung aller Staaten der Welt wird kaum zu erreichen seins. Ein Satz des universellen Völkergewohnheitsrechts bedarf einer solchen allumfassenden Zustimmung auch nicht. Eine generelle Beteiligung von Repräsentanten aller geographischen Regionen und sozio-politischen Systeme wird als ausreichend angesehen6 . Läßt sich also nachweisen, daß sich eine genügende Anzahl solcher Repräsentanten einer zunächst nur partikulären Regel des Völkergewohnheitsrechts anschließen, wird man davon ausgehen müssen, daß sie sich in eine Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts gewandelt hat'. Einer solchen Einschätzung kann nicht entgegengehalten werden, daß partikuläre Regeln gerade ftlr und von Staaten in besonderen Situationen geschaffen wurden, so daß die Rechtsmeinung von Staaten, die sich nicht in dieser Situation befmden, ftlr die Geltung der Regel unbeachtlich sein könnte8 • Es existiert eine Anzahl von Regeln des universellen Völkergewohnheitsrechts, die nur Staaten in bestimmten Situationen erfassen. So werden z. B. von den Regeln über die Hoheitsgewässer und die Ausbeutbarkeit des Festlandssockels eines Staates zunächst nur Staaten erfaßt, die eine Küste besitzen. Dieses Beispiel zeigt weiterhin, daß eine Abgrenzung nach "besonderer Situation" in der Staatengemeinschaft von nur geringem Wert ist. Auch die Binnenstaaten sind von den Regeln über die Hoheitsgewässer in dem Augenblick betroffen, in dem sie Schiffahrt betreiben. So entwickelten sich die Regeln des Seerechts auf Dauer als universelles Völkergewohnheitsrecht9 . Ebenso können auch Staaten von der Behandlung der ehemaligen Binnengrenzen durch Neustaaten betroffen sein: Ein Grenzkrieg zwischen den Neustaaten kann zu einem grenzüberschreitenden Flüchtlingsproblem fUhren. Auch kann es in Kriegen zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommen, die die Staatengemeinschaft wegen der erga-omnes-Geltung der fundamentalen Men5 So auch allgemein zur Geltung von universellem Völkergewohnheitsrecht D'Amato, Concept, 246. 6 Vgl. statt vieler Danilenko, 94-97; /psen-Heintschel von Heinegg, § 16, Rn. 10-11. 7 Cohen-Jonathan, AFDI 7 (1961),140 ; Elias, AfrJIL 8 (1996), 73; Fitzmaurice, RdC 92 (1957 11), 108. B In diese Richtung wohl D'Amato, Concept, 234-236. 9 Vgl. Schweisfurth, ZaöR 43 (1983), 569.

I. Wandel von partikulärem zu universellem Völkergewohnheitsrecht

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schenrechte direkt betriffi lO • Die Tatsache, daß es Staaten gibt, die die besondere Lage, filr die die partikuläre Völkergewohnheitsrechtsregel geschaffen wurde, nicht teilen, ist also kein Grund dafilr, die Möglichkeit einer Ausweitung der partikulären Regel auf eine universelle Geltung abzustreiten. Eine universelle Ausweitung werden jedoch wohl nur solche partikulären Regeln erfahren, die bereits bestehenden Regeln der universellen Völkergewohnheitsrechts nicht widersprechenlI. Zwar können partikuläre Regeln, die von universellem (nicht-zwingendem) Völkergewohnheitsrecht abweichen, grundsätzlich die universelle Regel nach entsprechendem Zeitablauf verdrängen, wenn letztere in desuetudo nUlt, d. h. die Rechtsüberzeugung, die die universelle Regel trug, durch Nichtgebrauch in der Praxis erloschen ist 12 • Der Weg zum universellen Völkergewohnheitsrecht ist jedoch leichter filr eine partikuläre Regel, die nicht erst eine entgegenstehende Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts verdrängen muß. Problematisch ist im Fall einer Erstarkung der partikulären Regel zu universellem Völkergewohnheitsrecht, wie mit einem Staat wnzugehen ist, der sich bereits gegen die Geltung der partikulären Völkergewohnheitsrechtsregel wandte. Denn anders als das partikuläre Völkergewohnheitsrecht, das nur gegenüber den ihm zustimmenden Staaten gilt\3, verpflichtet das universelle jeden Staat, unabhängig davon, ob dieser der Regel (in welcher Form auch immer) zustimmt. Hier könnte das Konzept des "persistent objector" Bedeutung erlangen. Als "persistent objector" wird ein Staat bezeichnet, der einer im Entstehen begriffenen Regel des Völkergewohnheitsrechts bei jeder Gelegenheit seinen Widerstand entgegensetzt und deutlich macht, sich durch eine solche Regel nicht gebunden zu filhlen l4 . Ob eine solche Figur mit dem Konzept des universellen Völkergewohnheitsrechts vereinbar ist, soll hier nicht entschieden werden IS. Es ist nur anzumerken, daß ein Staat eine durchgehende Abwehrhaltung nur schwerlich wird durchhalten können, so daß auch bei Akzeptanz der Lehre vom "persistent objector" seine praktische Bedeutung kaum groß sein wird l6 .

10 Zur erga-omnes-Geltung der fundamentalen Menschenrechte vgl. bereits oben Abschnitt (F.) Fn. 24. 11 Also Regeln des partikulären Völkergewohnheitsrechts, die in Bereichen entstehen, wo noch keine universellen Völkergewohnheitsrechtsregeln existieren. 12 Z. B. indem sich eine gegenteilige Praxis effektiv durchsetzt; siehe Jaenicke, in: Strupp/Schlochauer III, 770. \3 Dazu oben Abschnitt (A.) Punkt V. 2 b. 14 Siehe Charney, BYIL 56 (1985), 2-3; Danilenko, 109. 15 Dazu ausführlich Charney, BYIL 56 (1985), 5ff. (im Ergebnis ablehnend, S. 21); Unger, IOff. (ablehnend, S. 41); grds. zustimmend Danilenko, II1f.; Oppenheim's, § 10, S.29. 16 Vgl. Danilenko, 112; zur Staatenpraxis siehe Charney, BYIL 56 (1985), 11-16.

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G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts

11. Wandel des uti possidetis zu universellem Völkergewohnheitsrecht Die Ereignisse in Europa nach 1989 bringen eine Änderung der Einstellung der Staatengemeinschaft gegenüber der Frage des Umgangs mit ehemaligen Binnengrenzen nach erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen mit sich. Die Staaten Europas als die Nachbarstaaten der Neustaaten sowie die Vereinten Nationen und damit der überwiegende Teil der Staaten der Welt äußern eigene Positionen zu der Grenzziehung zwischen den europäischen Neustaaten. Besonders intensiv sind die Stellungnahmen zum Zerfall Jugoslawiens. Da der Zerfall der UdSSR und der Tschechoslowakei weitgehend auf friedlichem Wege verläuft, fiihlt sich die Staatengemeinschaft weniger stark veraniaßt, hier regelnd einzugreifen. Insbesondere die wegen ihrer geographischen Nähe stärker als andere Staaten betroffenen europäischen Staaten versuchen, eine einheitliche Position zur Frage der Behandlung der ehemaligen Binnengrenzen zu entwickeln und diese mit Hilfe ihres politischen Einflusses bei den Neustaaten als rechtsverbindlich durchzusetzen. 1. uti possidetis im Gutachten der Badinter-Kommission

Federfiihrend bei der Bestimmung der europäischen Position zur Frage der Beibehaltung der Binnengrenzen ist die Badinter-Kommission. Diese ist zwar selbst kein Völkerrechtssubjekt, das durch sein Handeln Beweis filr eine Praxis und Rechtsüberzeugung liefern könnte 17. Die Auftragsstaaten der BadinterKommission stimmen ihr Verhalten jedoch im folgenden auf die in den unverbindlichen Gutachten der Kommission zum Ausdruck gebrachten Rechtsansichten ab; damit übernehmen sie diese als eigene opinio iuris l8 • Auch die über die Einschaltung der Vereinten Nationen mit dem Zerfall Jugoslawiens konfrontierten Staaten akzeptieren mit der Position der europäischen Staaten diejenige der Badinter-Kommission. Grundlegend filr die Einstellung der europäischen Staaten zur Behandlung der ehemaligen Binnengrenzen ist die Opinion No. 3 der Badinter-Kommission. Hier postuliert die Kommission, daß die früheren Binnengrenzen zu den internationalen Grenzen der Neustaaten werden; dieses Ergebnis wird unter Berufung auf die Frontier-Dispute-Entscheidung des IGH von 1986 19 als durch das "general principle" des uti possidetis vorgegeben angesehen20•

So auch Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 218. So auch Rich, EJIL 4 (1993),57; Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 219. 19 IC] Reports 1986, 554. Die Passage, auf die Bezug genommen wird, lautet: " ... the principle is not a specific rule which pertains solely to one specific system of international law. It is a general principle, which is logically connected with the phenomenon of the obtaining of independence, whereever it occurs. Its obvious purpose is to prevent the 17

18

11. Wandel des uti possidetis zu universellem Völkergewohnheitsrecht

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Für die Auswirkungen, die das Gutachten auf die opinio iuris der sich anschließenden Staaten hat, ist unbeachtlich, daß die Badinter-Kommission hier dogmatisch unsauber arbeitet. Dennoch sollen einige Zweifel kurz dargestellt werden. Zum einen läßt die Kommission die übrigen Ausfilhrungen des IGH im Frontier-Dispute-Fall unbeachtet. Der IGH nennt das uti possidetis-Prinzip an der zitierten Stelle zwar ein "general principle". Doch fmden sich im weiteren Text der Entscheidung Hinweise dafilr, daß der Gerichtshof von der rechtlichen Bindung des Prinzips im vorliegenden Fall nur deshalb ausgeht, weil die afrikanischen Staaten eine klare opinio iuris hinsichtlich der Unverletzlichkeit ihrer in der Kolonialzeit gezogenen Grenzen zum Ausdruck gebracht haben21 • Dies spricht dafilr, daß auch der· IGH dem uti possidetis Rechtsbindungswirkung entweder aus völkerrechtlichem Vertrag oder als Völkergewohnheitsrecht zuspricht. Sofern es sich dabei um partikuläres Völkergewohnheitsrecht handelt, müßte eine Zustimmung der europäischen Neustaaten zu dieser Regel nachgewiesen werden. Andernfalls wäre auch zu prüfen, was der IGH mit der Wortwahl "general principle" verbindet22 . Es handelt sich beim uti possidetis nicht um ein Prinzip nach Art. 38 I c des IGH-Statuts, das aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen herauskristallisiert wird. Wenn man rechtlogische Strukturprinzipien nicht unter Art. 38 I c des IGH-Statuts fallen läßf3 , könnte es sich noch um ein "general principle of intemationallaw" handeln, wobei zu untersuchen bliebe, auf welchen Weg ein solches Prinzip Rechtsbindungswirkung erlangt haben könnte 24 • independence and stability of new states being endangered by fratricidal struggles ... " (S.556). 20 Vgl. auch die Auffassung der Kommission in der Präambel der Opinion (EJIL 3 (1992), 185): "The Commission is mindful of the fact that its answer to the question before it will necessarily be given in the context of a fluid and changing situation and must therefore be founded on the principles and rules of public international law." Die Frage Lord Carringtons lautete: "Can the internal boundaries between Croatia and Serbia and between Bosnia-Herzegovina and Serbia be regarded as frontiers in terms of public internationallaw?" 21 ICJ Reports 1986, 567 (Frontier Dispute, Judgment,): "25 .... The essential requirement of stability ... has induced African States judiciously to consent to the respecting of colonial frontiers, and to take account of it in the interpretation of the principle of self-determination of peoples. 26. Thus the principle of uti possidetis has kept its place among the most important legal principles, despite the apparent contradiction which explained its coexistence alongside the ne\)' norms. Indeed it was by deliberate choice that African States selected, among all the classic principles, that of uti possidetis ..... " Siehe dazu auch Thirlway, BYIL 60 (1989), 105f. 22 Vgl. die Überlegungen von Oellers-Frahm, EPIL 12 (1990), 125: " ... uti possidetis ... is described ... as a general principle of international law in the decolonization process and not only as a principle ofregional application." 23 Zum Meinungsstand hierzu bereits oben Abschnitt (A.) Punkt V. I a. 24 Zu dieser Frage bereits oben ausfilhrlich Abschnitt (A.) Punkt V. 1 b. 19 Simmler

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G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts

Zum anderen ist es fragwürdig, selbst wenn der IGH im Frontier-DisputeUrteil die universelle Gültigkeit des uti possidetis-Prinzips ohne jegliche Einschränkung postuliert hätte, dies ohne entsprechende Begründung unbesehen zu übemehmen25 • Ein IGH-Urteil gilt zunächst nur inter partes, hat also keine Bindungswirkung fi1r nicht betroffene Staaten26 • Auch wird ein "Prinzip" nicht allein durch einen Spruch des IGH zum Rechtssati 7• Zwar kann die Meinung des IGH starken Einfluß auf die Bildung einer Rechtsüberzeugung ausüben, eine Gestaltungswirkung im Sinne der Schaffung allgemeiner rechtlicher Bindungen hat sie indes nichr8 • Vor diesem Hintergrund ist der Schluß aus den wenigen Zeilen des IGHZitats auf eine universelle rechtliche Geltung des uti possidetis unfundiert. Das eigentlich zu Beweisende, nämlich die Geltung des uti possidetis ft1r die europäischen Neustaaten, wird von der Kommission als gegeben vorausgesetzf9 . 2. opinio iuris und Praxis der europäischen Staaten

Obwohl die Kommission die Frage, ob es sich beim uti possidetis um ft1r die europäischen Neustaaten geltendes Völkerrecht handelt, vergleichsweise ungenau behandeleo, legt sie die Linie der europäischen Staaten fest. Auf der 25 So auch Frowein, in: Tomuschat, 217: "To simply apply uti possidetis without any underlyingjustification is hardly convincing." 26 Artikel 59 des IGH-Statuts. Vgl. Verdross/Simma, § 588. 27 Mullerson, ICLQ 41 (1993), 486f., scheint dies anders zu sehen, da er die Feststellung des IGH unbesehen und ohne weitere Begründung übernimmt und feststellt, "by now it has clearly become a customary rule" und "uti possidetis has become an obligatory norm of international law". 28 In Hinblick auf das uti-possidetis-Prinzip ist außerden anzumerken, daß die Rechtsprechung des IGH nicht konsequent ist. Kohen, RGDIP 97 (1993/1994), 951, 955, stellt fest, daß der IGH in seinem Urteil zum Grenzstreit zwischen Salvador und Honduras, ICJ Reports 1992, 351 (Land, Island and Maritime Frontier Dispute (EI SalvadorlHonduras; Nicaragua intervening, Judgment), seine Rechtsprechung zur allgemeinen Gültigkeit des uti-possidetis-Prinzips nicht fortsetzt, sondern streng an der lateinamerikanischen Geltung orientiert ist. Daher wird es wohl voreilig und oberflächlich sein, wie Koskenniemi/Lehto, AFDI 38 (1992), 195, zu urteilen: "11 y a peu de regles plus solidement ancrees dans la jurisprudence internationale relative au titre territorial que celle de I'uti possidetis." 29 So wohl auch Frowein, in: Tomuschat, 217: "A lot can be said for the approach made by the Badinter Committee, but one wonders whether lawyers should automatically declare, as legally prescribed, what they consider to be the most appropriate solution in political terms." 30 Der genaue Inhalt des uti possidetis-Prinzips wird bei der Behandlung der Geschehnisse in Europa nach 1989 auch und gerade von Seiten der VölkerrechtswissenschaftIer nicht sauber herausgearbeitet. So ist auch Pellet, EJIL 3 (1992), 180, vorzuwerfen, das uti possidetis in einen Topf mit dem Prinzip territorialer Integrität der Staaten zu werfen, wenn er ausfiihrt:"The territorial integrity of States, this great principle of peace, indispensable to international stability, which as noted by the Committee and the

11. Wandel des uti possidetis zu universellem Völkergewohnheitsrecht

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Grundlage der Badinter-Gutachten entwickelt sich unter ihnen eine einheitliche Rechtsauffassung zu der Behandlung der ehemaligen Binnengrenzen im früheren Jugoslawien und der früheren UdSSR. Zu der Binnengrenze in der früheren Tschechoslowakei werden keine expliziten Äußerungen getätigt; es ist aber davon auszugehen, daß auch die Nachfolgestaaten der früheren Tschechoslowakei unter die Deklaration zu fassen sind, in der die Staaten der EG ihre Position zur Anerkennung der "New States in Eastem Europe" niederlegen. Die Praxis der europäischen Staaten im Jugoslawien-Konflikt und in der Reaktion auf die Sezessionsbestrebungen in den GUS-Staaten zeigt das Bemühen, die entwickelte Rechtsüberzeugung umzusetzen. Besonders der Versuch, das vom Bürgerkrieg zwischen seinen konstituierenden ethnischen Elementen zerrissene Bosnien-Herzegowina zu erhalten und allen Teilungsplänen Widerstand entgegenzusetzen, macht deutlich, daß den ehemaligen administrativen Grenzen notfalls gegen den Willen der größten Teile der Bevölkerung Geltung verliehen wird31 • Auch im Tschetschenien-Konflikt ist keine Tendenz zu erkennen, angesichts der Übergriffe der russischen Truppen in der aufständischen Kaukasusrepublik von der gemeinsamen Rechtsüberzeugung abzuweichen. Die Haltung der europäischen Staaten gegenüber den ehemaligen jugoslawischen und sowjetischen Teilrepubliken und ihren jeweiligen sezessionswilligen Minderheiten läßt sich aus den verschiedenen Deklarationen und dem Anerkennungsverhalten kurz wie folgt zusammenfassen: Die Republiken werden in ihren noch von der ehemaligen Zentralregierung bestimmten Grenzen als unabhängig akzeptiert, wenn auch mit der endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung teilweise gezögert wird. Den ethnischen Minderheiten bzw. den einzelnen ethnischen Bestandteilen des Staatsvolkes32 wird kein Sezessionsrecht zugestanden. Sie können weder fiir die Unabhängigkeit noch filr den Anschluß an International Court of Justice, was invented in Latin America to deal with the problems of decolonization, and then further applied in Africa has today acquired the character of a universal, and peremptory norm. The people of former colonial countries were wise to apply it; Europeans must not commit the folly of dispensing with it." - Das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten ist bereits der zweite Schritt bei der rechtlichen Behandlung von Grenzen. Das uti possidetis stellt dagegen den ersten Schritt dar: Erst die Anwendung des uti possidetis nach der Unabhängigkeit bestimmt das staatliche Territorium, dessen Integrität völkerrechtlich geschützt ist; so wohl auch Fabri, AFDI 38 (1992), 158: "Par I'application de I'uti possidetis, on identifie immediatement des frontieres internationalement protegees." Den gleichen Fehler begeht Franck, in: Peoples, 4, der behauptet: "One is the static principle of uti possidetis or "territorial integritylll. Dies bemängelt zurecht Higgins, in: Peoples, 34: " ... uti possidetis. Professor Franck uses it interchangeable with "territorial integrity". But uti possidetis is uti possidetis and territorial integrity is territorial integrity." 31 Ob dies in der Praxis auf Dauer sinnvoll ist, kann man - wie Tanca, RivDI 76 (1993),51 ("convivenza forzata, in un' unica entita attuale, di etnie ben distinte che non intendendono integrarsi fra loro") - bezweifeln. Andererseits ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß fast alle Grenzen der Welt künstliche Trennungslinien schaffen; vgl. dazu Boggs, 23; Mullerson, ICLQ 42 (1993), 486. 32 Im Falle Bosnien-Herzegowina. 19"

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G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts

die ihnen entsprechende "Nationalrepublik,,33 optieren. Zum Ausgleich für letzteres wird von den Republiksregierungen ein effektiver Schutz des "special status" der Minderheiten verlangt34. Daraus folgt, daß die im Augenblick der Unabhängigkeit (festgesetzt auf den Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärungen) bestehenden administrativen Grenzen innerhalb des früheren Jugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion (und implizit auch die der früheren Tschechoslowakei) von den europäischen Staaten als internationale Grenzen angesehen werden, die durch das Prinzip der territorialen Integrität, das in Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta und im Völkergewohnheitsrecht verankert ist, völkerrechtlich geschützt sind. Dies wird in den Deklarationen der europäischen Staaten ausdrücklich bekräftigt. Der gelegentlich anzutreffende Hinweis, dies sei in Europa bereits in der Schlußakte von Helsinki so vorgesehen gewesen3S , beruht auf einer Mißdeutung des Textes der Schlußakte. Prinzip III im ersten Korb spricht von der Unverletzlichkeit der Grenzen aller Staaten in Europa. Dies kann angesichts der Tatsache, daß sich hier Völkerrechtssubjekte erklären, nur die Unverletzlichkeit von deren internationalen Grenzen, nicht die der internen, bedeuten. Welche jedoch die internationalen Grenzen eines unabhängig gewordenen Staates sind, ist durch die Schlußakte nicht geregelt. Diesen ersten Schritt der Grenzbestimmung leistet das uti possidetis. Die europäischen Staaten, und sich ihnen anschließend auch die übrigen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die ihre Anerkennungspolitik den Richtlinien der EG weitgehend angleichen, halten diese Rechtsauffassung und die von ihr getragene eigene Staatenpraxis auch für einen Ausdruck des uti possidetis im engeren Sinn. Sie machen sich die Auffassung der BadinterKommission zu eigen, daß das uti possidetis ein universell geltendes "Prinzip" ist, wobei sie ihm (das machen die Deklarationen und ihr Handeln deutlich) rechtlich verbindlichen Charakter zugestehen. Dabei beziehen sie sich auf den faktischen Hintergrund, daß die unabhängig werdenden Neustaaten als Territorialnationen eine ungefestigte staatliche Identität besitzen, die nur durch den Erhalt der Grenzziehung gestärkt werden kann. Diese Ausweitung der Staaten, die das uti possidetis im engeren Sinn, d. h. die Beibehaltung der administrativen Grenzen als internationale Grenzen im Falle der Unabhängigkeit einer Territorialnation, für rechtlich verbindlich halten, ftlhrt dazu, daß sich die zunächst zweifelhafte Darstellung des uti possidetis als universell geltend durch die Badinter-Kommission nachträglich bewahrheiD. h. den Staat, in dem ihre Ethnie die Bevölkerungsmehrheit stellt. Vgl. dazu die Bestimmungen der Declaration on Yugoslavia, oben Abschnitt (F.) Punkt 11. 4 ace. 35 Carpentier, RBDI 1992,385; ähnlich wohl auch Bucar, IntP Heft 988 (1991), 8. Naldi, ICLQ 36 (1987),898, hält das Prinzip III sogar rur einen Ausdruck des uti possidetis. 33

34

II. Wandel des uti possidetis zu universellem Völkergewohnheitsrecht

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tet. Die rechtliche Verbindlichkeit des uti possidetis zur Regelung der Streitigkeiten über die ehemaligen Binnengrenzen in Europa nach 1989 wird von Staaten aller Regionen und sozio-ökonomischen Systeme angenommen. Auch die Staaten, die in früheren Jahren der partikulären Geltung des uti possidetis in Fremdherrschaftsituationen als Betroffene zugestimmt hatten, versuchen nicht, die Behandlung der europäischen Staaten als nicht vom uti possidetis erfaßt darzustellen. Damit ist es zulässig, ihre partikuläre opinio iuris und Staatenpraxis zu der neu manifestierten opinio iuris und Staatenpraxis der bislang vom partikulären uti possidetis nicht betroffenen Staaten hinzuzunehmen. Es ist also festzuhalten, daß eine universelle opinio iuris und eine von ihr getragene Staatenpraxis dahingehend nachzuweisen ist, daß das uti possidetis im engeren Sinn die Grenzziehung hinsichtlich der ehemaligen administrativen Grenzen neu unabhängig werdender Territorialnationen rechtlich verbindlich regelt. Dadurch, daß das uti possidetis im engeren Sinn eine Jahrzehnte dauernde Entwicklung als partikuläres Völkergewohnheitsrecht aufweisen kann, zu dem nun die erweiterte opinio iuris und Staatenpraxis hinzutritt, wird man auch das Kriterium der ausreichenden Dauer der Übung36 als erfilllt ansehen können. Damit ist das uti possidetis im engeren Sinn im Gefolge der Ereignisse in Europa nach 1989 eine Norm des universellen Völkergewohnheitsrechts geworden. Das uti possidetis des universellen Völkergewohnheitsrecht hat folgenden Inhalt: Entstehen auf dem Gebiet einer Zentralmacht mehrere Neustaaten als Territorialnationen, folgen ihre gegenseitigen Grenzen den zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit bestehenden administrativen Grenzen, so wie sie von der Zentralmacht gezogen wurden. In Anlehnung an die zum dekolonialen uti possidetis bekannte Formel müßte das völkergewohnheitsrechtliche uti possidetis in der schlagwortartigen, daher etwas ungenaueren Verknappung lauten: Die im Augenblick der Unabhängigkeit bestehenden administrativen Grenzen werden zu internationalen Grenzen37 •

36 Vgl. DahmiDelbrückiWolfrum, 57: "gleichförmiges und allgemein geübtes Herkommen". 37 Die Definition von Sorel/Mehdi, AFDI 40 (1994), 13, lautet: "L'uti possidetis peut-etre defini, aujourd'hui, comme le principe sei on lequelles frontieres etablies sous l'empire d'un systeme disparu doivent etre respectees et maintenues par les nouveaux Etats." Kleinere Ungenauigkeiten dieser Definition (die Frage der Territorialnation als prägendes Merkmal wird übergangen) mögen daran liegen, daß die Autoren allgemein die Ansicht vertreten, man müsse "dedramatiser la question de l'uti possidetis et relativiser la portee des frontieres." (S. 36). Angesichts der Verbissenheit, mit der in der Staatenpraxis um Grenzverläufe gekämpft wird, scheint dies jedoch wohl nur als utopische Hoffnung verstanden werden zu können.

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G. uti possidetis als Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts

III. Ausblick Mit dem Wandel des uti possidetis zu einer Regel des universellen Völkergewohnheitsrechts durch die Vorkommnisse in Europa ist ein Wiedererstarken der Idee des Minderheitenschutzes verbunden. So wird von den europäischen Neustaaten - quasi als "Gegenleistung" filr den Erhalt ihres Staatsterritoriums ein besonderes Minderheitenschutzregime gefordert, das bis zur Gewährung territorialer Autonomie reiches. Gleichzeitig mag die Tatsache, daß eine administrative Grenzziehung im Unabhängigkeitsfall durch das uti possidetis internationale Bedeutung erlangt, bei einigen Staaten die Befilrchtung hervorrufen, daß die durch die territoriale Autonomie mit administrativen Grenzen versehenen Minderheiten eine erhöhte Sezessionsneigung entwickeln39• Um dies zu verhindern, könnten diese Staaten geneigt sein, auf eine territoriale Grenzziehung um das Minderheitengebiet zu verzichten40 • Derartige Tendenzen lassen sich bereits in einigen Staaten Osteuropas erkennen41 . Vgl. dazu die Bestimmungen der Declaration on Yugoslavia (vgl. Fn. 34). Vgl. auch die Bedenken von Dugard, AfrJIL 5 (1993), 171-173, die europäische Anwendung des uti possidetis auf die administrativen Republiksgrenzen könnte verheerende Auswirkungen als Präzedenzfall rur Afrika haben. 40 So hält auch Baer, 273, trotz der Einstufung des ilideralen Systems als "rur den Schutz von Volksgruppen besonders geeignet" (S. 270) eine iliderale Lösung in Kroatien wegen der starken Sezessionstendenzen der serbischen Minderheit rur gefiihrlich, da sie dazu ruhren werde, "diese Spannungen noch zu verstärken und so u. U. den ersten Schritt zur vollständigen Abspaltung" zu bilden. Auch Fabri, AFDI 38 (1992), 158, Fn. 20, hält Bundesstaaten rur besonders gefiihrdet. 41 Kroatien hat in seinem Verfassungsgesetz vom 4. Dezember 1991 ausdrücklich niedergelegt: "Artikel 21 Gemeinden (Gebiete) mit besonderem Selbstverwaltungs- (autonomen) Statut (im weiteren Text: Gemeinden mit Sonder-Statut), in denen Angehörige der einzelnen ethnischen und nationalen Gemeinschaften oder Minderheiten laut Volkszählung aus dem Jahre 1981 mehr als die Hälfte bilden, haben innerhalb des Systems der lokalen Selbstverwaltung der Republik Kroatien ein Sonderstatut. Das System der Gemeinden mit Sonderstatut kann nicht im Widerspruch zum Verfassungssystem der Republik Kroatien als eines einheitlichen und unteilbaren Staates stehen .... ". Diese Vorschriften werden in der Neufassung vom 8. Mai 1992 nicht wesentlich verändert, vgl. Pellet, AFDI 38 (1992), 232. Rumänien weist in Gesprächen mit Ungarn über die ungarische Minderheit in Rumänien Forderungen nach einer territorialen Autonomie zurück, "weil diese ... die Vorstufe zu Sezessionsabsichten sein könne."; Rüb, FAZ vom 12. Oktober 1995. Die Ukraine will in ihrer neuen Verfassung außer der Krim keine autonomen Gebietseinheiten zulassen: "Das dialektische Argument, daß eine gewisse Eigenständigkeit der Gebietseinheiten gerade den Zusammenhalt eines Staates fördern, ein starker Zentralismus dagegen Ursache ständigen Aufbegehrens und in letzter Konsequenz Nährboden separatistischer Bestrebungen sein könne, wird mit dem Hinweis auf den Zerfall Jugoslawiens und den Separatismus in Kanada zurückgewiesen. Selbst eine Autonomie der Regionen sieht man als eine Gefahr rur die territoriale Integrität der Ukraine an."; 38

39

III. Ausblick

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Diesen Bedenken gegenüber der territorialen Komponente des Minderheitenschutzes wird man nur begegnen können, wenn deutlich gemacht wird, daß das uti possidetis keine Sezessionsberechtigung impliziert, sondern - insoweit "wertfrei" - nur auf eine effektiv entstandene Situation reagiert. Auch wird man darauf hinweisen können, daß sich eine sezessionswillige Minderheit, die eine genügend feste Bindung an ein bestimmtes Territorium besitzt, wohl nicht dadurch von einem Sezessionsversuch abhalten lassen wird, daß die Zentralmacht ihr die administrative Anerkennung ihres Gebietes durch eine entsprechende interne Grenzziehung verweigert. Eine Ausweitung des uti possidetis auf solche historisch, ethnisch oder traditionell zu beschreibende Grenzen ist jedoch wohl kaum zu erwarten, da diesen Grenzen die fUr eine Regelungswirkung notwendige genaue Nachvollziehbarkeit fehlt. Ein zukünftiger Entwicklungsschritt des uti possidetis könnte u. U. darin liegen, daß das uti possidetis vom Konzept der Territorialnation getrennt und daß die Festschreibung der administrativen Grenzziehung auf unabhängig werdene Gebietseinheiten aller Art ausgeweitet wird, auch auf diejenigen, die eine Nationalstaatsdefmition erfilllen. Für eine solche Entwicklung fehlen allerdings bislang noch jede Anzeichen42 •

Schweisfurth, FAZ vom 23. März 1996. Die Slowakei hat eine Neugliederung ihrer Kreise und Regierungsbezirke beschlossen: "Die Gebietsreform soll sicherstellen, daß die Slowaken nicht von den ethnischen Ungam"dominiert" werden."; FAZ vom 27. März 1996. 42 Vgl. auch Dinh/Daillier/Pellet, Nr. 313, S. 460.

"Grenzen müssen freilich bestehen und Grenzverträge geschlossen sein, um von der Kontinuität im Sukzessionsfall erfaßt zu werden. "I

H. Zusammenfassung Nach Stationen über das Römische Recht und das frühe Kriegsvölkerrecht fmdet sich die Formel des uti possidetis im 19. Jahrhundert im Friedensvölkerrecht wieder. In Lateinamerika ertahrt sie zwei Ausprägungen, zum einen als uti possidetis iuris, zum anderen als uti possidetis defacto. Als uti possidetis de facto bezeichnet Brasilien seine Position, die Grenzen zwischen ihm und den unabhängig gewordenen ehemaligen spanischen Kolonien nach dem effektiven Besitz an den strittigen Gebieten zu bestimmen. Da der effektive Besitz in diesem Zusammenhang auch durch heute wegen des völkerrechtlichen Gewaltverbots unzulässige Handlungen wie eine Annexion erworben werden kann, geht vom uti possidetis de facto keine ins moderne Völkerrecht überleitende Entwicklung aus. Das uti possidetis iuris wird von den Neustaaten, die auf dem amerikanischen Kolonialgebiet Spaniens entstehen, entwickelt. Es beinhaltet die Regel, daß die vom ehemaligen Kolonialherrn gezogenen administrativen Grenzen im Augenblick der Unabhängigkeit der Neustaaten zu deren internationalen Grenzen werden. Die Außengrenzen zu den Territorien andere Kolonialherrn werden von diesem Gedanken nicht erfaßt. Es handelt sich beim uti possidetis iuris um ein Konsensprinzip, dessen praktische Umsetzung daran scheitert, daß die administrative Grenzziehung des Kolonialherrn weitgehend nicht mehr rekonstruierbar ist, nie existierte oder in sich unstimmig bleibt. Als Konsensprinzip stellt es eine Vorstufe fUr die Bildung eines partikulären Völkergewohnheitsrechts fUr Dekolonisierungssituationen dar. In der Dekolonisierung Afrikas und Asiens erstarkt das nunmehr verkürzt uti possidetis genannte Konsensprinzip zu partikulärem Völkergewohnheitsrecht. Dabei ist zwischen den zwei Elementen des uti possidetis im weiteren Sinn zu unterscheiden: Zum einen wird der bereits als universelles Völkergewohnheitsrecht geltende Kontinuitätsgrundsatz, der das Fortgelten von Grenzverträgen rur die Nachfolgestaaten postuliert, unter den Begriff des uti possidetis gezogen. Der Kontinuitätsgrundsatz erfaßt die durch völkerrechtliche Verträge bestimmten Grenzen zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten mehrerer Kolonialmächte sowie zwischen den ehemaligen Kolonialgebieten und unabhängigen

I

Schweisfurth, BDGV 35 (1995), 211.

H. Zusammenfassung

297

Staaten. Zum anderen beinhaltet das uti possidetis das partikulär-völkergewohnheitsrechtliche uti possidetis im engeren Sinn, das auf die administrativen Grenzen abstellt, die ein Kolonialherr innerhalb seines zusammenhängenden Grenzgebietes zieht ("Binnengrenzen"). Dieser durch eine opinio iuris und entsprechende Staatenpraxis der betroffenen Staaten getragene Satz des partikulären Völkergewohnheitsrechts hat zum Inhalt, daß die kolonialen Binnengrenzen - soweit sie bestimmbar sind - im Augenblick der Unabhängigkeit der ehemaligen kolonialen Einheiten zu den internationalen Grenzen der entstehenden Neustaaten werden. Dieser Satz erstarkt vor dem Hintergrund zu partikulärem Völkergewohnheitsrecht, daß die ehemaligen Kolonien keine fiir das Staatsvolk identitätsstiftenden Faktoren wie ethnische, historische oder religiöse Zusammengehörigkeit besitzen, es sich bei ihnen daher um rein territorial defmierte Nationen ("Territorialnationen") handelt. Aufgrund der entsprechenden Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung der Neustaaten im Nahen Osten, die vor ihrer Unabhängigkeit in einem Mandatsoder Protektoratsverhältnis stehen, wird das partikulär-völkergewohnheitsrechtliche uti possidetis im engeren Sinn von seiner dekolonialen Verhaftung gelöst und inhaltlich auf die Fortgeltung fremdbestimmt gezogener Binnengrenzen erweitert. Eine weitere Erweiterung erfährt es durch die Staatenpraxis und opinio iuris der betroffenen Neustaaten nach dem Zerfall multi-ethnischer Föderationen in Europa nach 1989. Das uti possidetis beinhaltet damit, daß bereits bestehende administrative Binnengrenzen im Augenblick der Unabhängigkeit der durch sie bestimmten territorialen Einheiten zu deren neuen internationalen Grenzen werden. Bei den territorialen Einheiten handelt es sich wiederum um Territorialnationen. Durch die Ereignisse in Europa und die weltweite Reaktion auf sie erstarkt das uti possidetis im engeren Sinn mit diesem Inhalt zu universellem Völkergewohnheitsrecht, da auch nicht direkt von den Grenzfragen betroffene Staaten aller Regionen und sozio-ökonomischen Systeme (inbesondere durch die Einschaltung der Vereinten Nationen in die Grenzkonflikte) eine entsprechende Rechtsüberzeugung und in ihrem Umgang mit den Neustaaten auch eine entsprechende von der opinio iuris getragenen Praxis erkennen lassen.

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Register Abchasen 250, 277 Adjudikation 31 administrative Grenzen 216,276,292 Adsharen 250 Afghanistan 141-143, 147, 165,248 Aggression 32 Ägypten 86f., 183, 190f., 194,206, 208 Akkretion 3lf., 73, 75 Algerien 84, 86-88, 106, 117, 140 Anerkennung 35,74,94, 115, 119, 123f, 129, 168f, 173, 189,206, 227,229,234,236,250,252,261, 263-268,270-272,274,291,295 Annexion 31,36,53,62,72,77,81, 88, 100, 129, 130, 160f, 167, 176, 178,184,188,196,207,224,239, 271,279 Äquatorial-Guinea 94 Argentinien 52,56, 61f, 70f., 75 Armenien 219,243-245,269,272, 277f. Aserbaidshan 219f., 243-245, 254, 269f,277f Äthiopien 84,96-99, 118, 120, 127 Badinter-Kommission 29, 260, 263f., 280, 288f, 292 Bahrein 201,205,207,210 Bangladesh 145,149-151,168,170, 177,181,224 Bashkiren 254 Belize 72, 73 Belorus 220, 237, 239f, 242, 246, 249, 265, 268-272 Benin 91

Bhutan 146,149-151 Biafra 122,124,127,226 Bolivien 30,48, 50, 52, 56, 60-63, 71 Bosnien-Herzegowina 229-235,263267, 277, 279, 281f,291 Bougainville 174 Brasilien 46f., 51-53, 59, 64, 70-77, 130f. Brunei 153, 159 Burkina Faso 91, 130,261 Burma 146,149-156, 159, 166, 168, 172,181 Burundi 96, 124 Casamance 126 Chile 47f., 52, 56, 59, 60-63 China 136-141, 144, 146, 148, 150157,160-167,174,243,248 consensus 69, 77, 133 Dagestan 254 Dekolonisierung 83, 85, 98, 102f, 106, 108, 110, 118, 127, 130, 141, 149, 169, 177, 179, 181,222,283 Djibouti 96 Ecuador 47f,52,55,60,63f, 71 Elfenbeinküste 82, 91f., 120, 124 Eritrea 118, 119, 125, 126, 127, 199 Ersitzung 3lf., 53, 73 Estland 219, 239f., 253, 255, 269271,278 EU 226 Frankreich 49,51,68,72-74,86-88, 91-94,96,117,121,139,154-159,

328 162,167,178,184,186,194,195, 204 Französisch Guyana 72, 74 Gagausen 251,277 Gambia 91f. general principles of international law 39 general principles of law 36f., 39 Georgien 219,238,243-245, 250f., 269, 272, 277f., 282 Gewaltverbot 32f., 36, 77, 130, 167, 178 Ghana 79,84,91-93, 120 Großbritannien 49,51,72-75,81, 9lf., 95, 97-99, 121, 138f., 141, 142, 147f., 152, 154, 158f., 162, 164,166-168,171,181,183-184, 186-189, 191, 194, 196, 198, 200f., 204, 206-208, 210 Guatemala 48, 52, 55, 58, 66-68, 73f. Guinea 82, 84, 91, 93 Guinea-Bissau 91,93f. Haiti 53, 58, 68 Holländisch Guyana 72,74 Indien 138f., 141, 144-146, 149- 152, 162,166,168-171,176,178,180f. Indonesien 136, 158, 160-162, 167, 173f. Inguschen 252 Irak 32, 136, 148, 183, 185-190, 194, 196, 198,202,204,206f.,210 Iran 138, 141f., 147f., 166, 187,200202,205,207,243,253 Irian Jaya 173 Israel 136, 183, 185, 189-196, 205f., 208,210 ius cogens 32, 44, 78, 108 Jemen 183,190,196-200,210 Jordanien 136,183, 185, 187, 189, 193-196,205f.,210

Register Kambodscha 153, 155f., 159, 160, 165,168,176,178,180 Kamerun 94f., 103 Karakalpakistan 249,255 Karen 172 Kasachstan 163,221,242,245- 249, 255 Kashmir 142, 144, 146, 168 Katanga 120-123,226 Kenia 96-100 Kolonialreich 216f.,221 Kolonialreich, Britisches 138f., 150 Kolonialreich, Portugiesisches 47 Kolonialreich, Spanisches 33, 52, 134 Kolonie 49,58,73,92,96, 103, 118, 124,150,164,166,178,216-218, 223 Kolumbien 47f., 50, 52, 57, 60, 64f., 71 Kongo 83,94f., 120-122, 124 Konsensprinzip 180 Kontinuitätsgrundsatz 132, 135, 166f., 178,204,209,275f.,280,285 Korea 164f. Kriegsvölkerrecht 35 Kroatien 226f., 230-234, 257f., 263f., 267 KSZE 213,228,256-268,273 Kurden 208 Kuweit 187, 188, 196-198,204, 207f., 210 Kyrgysstan 221,242,245-247,249, 272 Laos 153-157, 159f., 165, 180 Lesgier 254 Lesotho 100f. Lettland 219,239,269,271,279 Libanon 136, 183, 185f., 190, 192195,205f.,208,210 Libyen 84, 86- 88, 119 Litauen 219, 239f., 270f., 278, 282 Lozi 126

329

Register Macao 163f. Makedonien 230, 233, 235f., 263, 265,281 Malawi 100-102 Malaysia 153, 158f. 162, 167 Mali 84, 90f., 94, 122,261 Mandat 184, 203f., 209, 222, 297 Marokko 84-90, 102f., 106f., 109, 167 Mauretanien 82, 86, 88-90, 103, 106, 109 Mexiko 48,52,68, 72f. Mizo 171 Moldawien 219,240,242, 25lf., 273, 277 Mongolei 163,174 Montenegro 230, 232-234, 263, 265, 267f. Moro 173 Naga 170 Namibia IOOf., 112 Nepal 149, 151-153 Nicaragua 49, 52, 55, 58f., 65-68 Niederlande 51,72, 110,271 Nogai 254 Okkupation 3If., 53, 72f., 75, 77, 80, 129-131,146,176,178 Oman 184, 196f., 199,200,206,210 opinio iuris 41f., 53f., 68f., 103, 106, 108, 169, 208f., 256,280, 283,288290,293 Oromo 119 Osseten 251 f., 277 Ostblock 213,215,218 OSZE 213,256,274 Pakistan 141-150, 165f., 168-170, 177, 180f., 223 Pan-Afrikanismus 83 Panama 47f.,65, 73 panarabische Idee 186 Papua-Neuguinea 174 persistent objector 106, 287

Personenverbandsstaat 80, 133, 281 Peru 47f., 50f., 56, 59f.,63f., 71 Philippinen 136, 158, 160-162, 167, 173 Polen 40,213,220,240,271 Prinzip 35-40, 44, 53-55, 69f., 72, 75f., 78, 87, 104, 108, 112, 115, 224, 233, 289f. Protektorat 81,86, 109, 137, 150, 155, 166, 195, 199, 203f., 222 Qatar 196, 198,201,207, 209f. Rann ofKutch 145, I 68f. Rechtsprinzipien 29, 39f. Rumänien 219,242,252,276 Rußland 111, 139, 141, 143, 147f., 163, 219-221,237,239-244, 246f., 249,251,253-255,265,268-270, 272-275, 278 Ruwenzuru 125 Sanwi 102, 120 Saudi-Arabien 184, 187f., 190, 196200, 203f., 209 Schlußakte von Helsinki 213,292 Selbstbestimmungsrecht der Völker 109f.,167 Selbstbestimmungsrecht, Träger 103, 116, 128,223,229 Serbien 225f., 230, 232-236, 259, 263, 267f.,277, 279,281 Sezession 48,94, 110, 120-122, 126128,170-172, 177f., 194,214,223, 226f.,229, 231f., 252, 259, 265, 274,279,295 Sikhs 171 Singapore 160, 162 Slowenien 222, 226, 230-232, 257f., 263f.,266,275,281f. Somalia 84,96,98,99, 106f., I 24f. Somaliland 97-99, 103, 124 Sowjetunion 29,89, 136, 139, 141, 143,147,163,165,213,216,218-

330 222,224,237-240,243,246,250, 271-273, 277, 279, 282f, 292 Sri Lanka 160, 162, 172 Staatenpraxis 29,41-43,45,53,54, 61,68, 76f, 80,85, 102f, 108, 117f, 126f, 133, 165, 16~ 177f, 180,186,203,207,209,224,276, 281, 292f status quo ante bellum 35 status quo post bellum 35, 53, 58, 205 Sudan 82,84, 86f., 96f, 100, 118, 125 Südmolukken 174 Südsudan 125 Surinam 72 Swaziland 100, 102 Syrien 136, 183, 185-187, 190, 192195, 202, 205f, 208, 210 tacit consent 42, 44 Tadshikistan 221,245-248,255,269, 272,274 Taiwan 162, 164 Tamilen 172 Tansania 96,98, 100f, 123 Tataren 254 terranullius 31,50,77, 80f., 217, 219 territoriale Integrität 170, 178, 195, 228,241,257,273,277,285,292, 294 Territorialnation 134, 180,281,284, 292,295 Thailand 153-159, 165 Tibet 146, 151, 153, 174f. Transdnjestr 252, 277 Tschechoslowakei 212,215,222,228, 230, 255, 275, 282, 288, 291f Tsche~chenen 253,274 Tuareg 80, 122 Tunesien 84, 86f Türkei 136, 183, 186f., 194,202-204, 209,220,253 Turkmenistan 221,245,249,278

Register UdSSR 174,202,213, 215f, 218220,228,230,236-238,240,246, 251, 268, 271f, 275, 282, 288, 291 Uganda 96f, 100, 124f Ukraine 219,237,240-242,268- 273, 275f, 278, 280, 282 ~-Charta 31f,36, 115f, 258, 292 ungleiche Verträge 165 USA 30, 46, 48f., 59, 64-66, 72f, 75, 119, 161, 165,213,235, 264f., 267, 272,274 Usbekistan 221,245,247,249,255 uti possidetis 33-35,38,40,45, 148, 178, 182, 208f, 229, 261, 280, 285, 290 uti possidetis de facto Siehe Okkupation, Annexion uti possidetis iuris Siehe uti possidetis, lateinamerikanisches uti possidetis, afrikanisches 79, 108f., 117, 126, 129, 132, 134, 179, 283 uti possidetis, Dekolonisierungssituationen 178, 209,293 uti possidetis, Fremdherrschaftssituationen 209, 215,281 uti possidetis, ita possideatis 34 uti possidetis, lateinamerikanisches 29,33,46,49,50f,53-57,59,6168,70-72, 75f., 85, 87, 98, 129, 130f,133f,207,260 uti possidetis, partikuläres VGR 284 Venezuela 47f, 50, 52, 55, 57, 65, 72, 74 Vereinte Nationen 266 Vienna Convention on Succession of States in Respect ofTreaties 132 Vietnam 153, 155, 156f., 159, 160, 162, 167f, 176f., 181 Völkergewohnhei~recht 37,40,69, 133,209,280

Register Völkergewohnheitsrecht, partikuläres 43-45,77, 107, 108, 180,285,289, 293 Völkergewohnheitsrecht, universelles 43f., 286-288

331 West Papua 173 Westsahara 80,86,88-90, 103, 106, 109, 117, 127, 167 Zaire 94f, 120 Zession 31,73,81,178