Das Technische Bild: Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder 9783050062198, 9783050044965

Wissenschaftliche Bilder prägen die Ergebnisse und Einsichten, welche sie darstellen, immer auch konstruktiv. Die Wieder

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Das Technische Bild: Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder
 9783050062198, 9783050044965

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Das Technische Bild

Das Technische Bild Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.)

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung aus den Mitteln des Max-Planck-Forschungspreises der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Max-Planck-Gesellschaft des Jahres 2006

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004496-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages In irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Layout und Umschlaggestaltung: Nils Hoff Satz: AS Typo & Grafik, Berlin Druck und Bindung: CS Druck Cornelsen Stürtz GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis 8

Editorial: Das Technische Bild HORST BREDEKAMP, BIRGIT SCHNEIDER, VERA DÜNKEL

Methodik 14

Bildbefragungen. Technische Bilder und kunsthistorische Begriffe ANGELA FISCHEL

24

Vergleich als Methode

30

Bilddiskurse. Kritische Überlegungen zur Frage, ob es eine allgemeine Bildtheorie des naturwissenschaftlichen Bildes geben kann GABRIELE WERNER

36

Bildbeschreibungen. Eine Stilgeschichte technischer Bilder? Ein Interview mit HORST BREDEKAMP

48

Ikonologische

54

Zellbilder. Eine Kunstgeschichte der Wissenschaft

Analyse

MATTHIAS BRUHN

Fallstudien 68

Interaktion mit Bildern. Digitale Bildgeschichte am Beispiel grafischer Benutzeroberflächen MARGARETE PRATSCHKE

82

Digitale Bilder

86 Bildtradition und Differenz. Visuelle Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft am Beispiel der Rastertunnelmikroskopie

164

168 Zeichnen mit der Camera Lucida. Von instrumenteller Wahrhaftigkeit und riesenhaften Bleistiften

JOCHEN HENNIG

96

Repräsentationsketten

100 Bilderreihen der Technik. Das Projekt Technik im Bild um 1930 am Deutschen Museum

STEFAN DITZEN

178

Bildanordnungen

120 Interpretation und Illusion. Probleme mit teleskopischen Bildern am Beispiel der Marskanäle REINHARD WENDLER

132

VERA DÜNKEL

148

BIRGIT SCHNEIDER

192

Objektivität und Evidenz

152 Mikrofotografische Beweisführungen. Max Lautners Neubau der holländischen Kunstgeschichte auf dem Fundament der Fotografie FRANZISKA BRONS

Diagrammatik

198 Frühneuzeitliche Bilder von Musikautomaten. Zu Athanasius Kirchers Trompe-l'oreilleKontemplationen in den Quirinalsgärten von Rom

Sichtbarmachung/Visualisierung

136 Röntgenblick und Schattenbild. Zur Spezifik der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen um 1900

Beobachtungstechnik

182 Programmierte Bilder. Notationssysteme der Weberei aus dem 17. und 18. Jahrhundert

HEIKE WEBER

116

Bildstörung

ANGELA MAYER-DEUTSCH

208

Wissenschaftspopularisierung

212 Zeichnung und Naturbeobachtung. Naturgeschichte um 1600 am Beispiel von Aldrovandis Bildern ANGELA FISCHEL

224 Bibliografie 230 Die Autorinnen und Autoren

Editorial: Das Technische Bild Der Abteilung steht Horst Bredekamp vor. Die erste Projektleiterin war Gabriele Werner, ihr folgte 2 0 0 5 Matthias Bruhn. 2 0 0 3 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift „Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik", die zweimal jährlich von den Mitabeitern des Projekts konzipiert und redaktionell betreut wird. Zunächst war die Abteilung allein aus Mitteln der Humboldt-Universität finanziert, später kamen großzügige Drittmittel-Förderungen der Getty-Foundation (Los Angeles) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinzu. Zu nennen sind für den deutschsprachigen Raum exemplarisch der Nationale Forschungsschwerpunkt „Eikones" in der Schweiz und die Forschergruppe „Die Welt als Bild" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie die folgenden Publikationen: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/Wien/New York 2001; David Gugerli, Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2 0 0 2 ; Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006; James Elkins (Hg.): Visual Practices across the University, München 2007. Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character, 2 Bde., Cambridge 1953. Vgl. ders.: Probleme der Kunstgeschichte. In: Ders.: Korrespondenz I: 1910 bis 1936, hg. von Dieter Wuttke, Wiesbaden 2001, Bd. I, S. 9 5 7 - 9 6 4 .

Als die Abteilung „Das Technische Bild" im Jahr 2 0 0 0 als Teil des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der HumboldtUniversität zu Berlin gegründet wurde, 1 war ihre Ausrichtung auf die Analyse wissenschaftlich-technischer Bilder ein Novum. Seither widmen sich mehrere Projekte und Institutionen demselben Feld der wissenschaftlichen Bildlichkeit; eine Fülle von Publikationen dokumentieren die wachsenden Erträge in diesem Bereich. 2 Das Projekt startete mit der Forschungshypothese, dass die Formen wissenschaftlicher Bilder nicht weniger gewichtig seien als die Inhalte und Gegenstände, welche sie zeigen. Bilder der Naturwissenschaften geben die Ergebnisse, die sie darzustellen haben, nicht passiv wieder, sondern sie prägen und erzeugen diese genuin aus ihrer eigenen Sphäre. Die Transformation von Beobachtungen, Ergebnissen und Erkenntnissen in Bilder besitzt eine aktive Teilhabe an der Konstitution von Wissen. Aufgrund dieses Vermögens stellen Produktion und Einsatz von Bildern eine Kulturtechnik ersten Ranges dar. Von Beginn an hat die Abteilung originär mit Methoden der Kunstgeschichte gearbeitet, weil diese aus ihrer Fachgeschichte heraus über ein unvergleichliches Analysepotenzial der Materialität, der Form und der Semantik von Bildern im weitesten Sinn verfügt. In diesem Rahmen ergab sich die Konsequenz, jede Visualisierung in ihrer formalen Erscheinung ernst zu nehmen, diese über die Grenzen von „Kunst" hinaus zu historisieren und ihre Wirkungsweisen und spezifischen Funktionen auch jenseits ihrer phänomenologischen Erscheinung zu erschließen. Dieser Ansatz enthält die Annahme, dass die jeweilige Wähl einer Bildform, eines Bildmediums oder eines Bildtypus im Sinne von Erwin Panofskys „disguised symbolism" gerade im Offensichtlichen unerkannte Seiten besitzt, 3 die den Gegenstand und die Art seiner Erforschung prägen. Bilder vermögen zudem neue Forschungen auszulösen. So wäre beispielsweise die Entwicklung des Forschungszweiges der Genetik kaum ohne die Existenz von Bildern wie dem Modell der Doppelhelix und den Röntgeninterferenzbildern denkbar gewesen. Die Art und Weise, in der Forscher Bilder produzieren und einsetzen, repräsentiert damit mehr als ihre bewussten Intentionen, zumindest mehr als sich in Texten und Formeln niederschlägt. Das Projekt versucht deshalb, den oftmals konstatierten konstruktiven Charakter der Bilder in seinen inneren Wirkungsformen zu bestimmen. Die hieraus abgeleitete Zielsetzung des „Technischen Bildes" besteht darin, Bilder nicht als illustrierende Repräsentationen, sondern in ihrer produktiven Kraft als eigenständiges, mehrschichtiges Element des Erkenntnisgewinns zu begreifen. Hierzu gehört in besonderer Weise das

„Disjunktionsprinzip der naturwissenschaftlichen Darstellung". Es versucht das Paradoxon zu fassen, dass ein wissenschaftliches Bild oftmals umso stärker konstruiert ist, je natürlicher sein Gegenstand in der Wiedergabe erscheint.4 Immer wieder wird das Technische unsichtbar, sobald es in der wissenschaftlichen Praxis benutzt und sein Gebrauch selbstverständlich wird: Entsprechend tendiert der artifizielle Charakter des Bildes dazu, in Vergessenheit zu geraten, sobald mit dem Bild gearbeitet wird. 5 Für ein Verständnis der konstruktiv prägenden Rolle wissenschaftlicher Bilder bedeutet dies, all jene Bedingungen zu berücksichtigen, die an der Form eines Bildes mitwirken. Maßgeblich für einen solchen bildkritischen Ansatz ist dabei die Überzeugung, dass Bilder nicht als abgeschlossene Produkte, sondern in allen Komponenten ihrer Erzeugung nach ihren Techniken, Eingriffen, Kontexten und ihren Akteuren zu betrachten sind: in ihrer Prozessualität. Seit Beginn geht es dem Projekt deshalb darum, auch die im Prozess der Sichtbarmachung unsichtbar gewordenen Spuren in den Blick zu nehmen. Namentlich stellt die Technik der Bildherstellung ein zentrales Element der Betrachtung wissenschaftlicher Bilder dar, weil eine eigene Klasse von Instrumenten, Apparaten und Werkzeugen explizit zu Zwecken der Visualisierung konstruiert und immer weiter verfeinert worden ist. Dies berührt die enorme Bedeutung der Sichtbarmachung in den Wissenschaften sowie die technisch-mediale Bedingtheit von Wissen.6 Der apparativ gestützten Wahrnehmung und Bildherstellung wie auch der allgemeinen techné der gestaltenden Produktion von Bildern gilt der Titel des Projektes. Wenn wissenschaftliche Bilder die Ergebnisse und Einsichten, welche sie darstellen, immer auch konstruktiv mitprägen, dann wird die Wiedergabe einer Beobachtung mittels Bildern, mag sie noch so mechanisch oder überindividuell in ihrer Erscheinung anmuten, auch auf dieser Ebene zum Stil einer Zeit, einer Mentalität, eines Forscherkollektivs und eines Geräts. Niklas Luhmanns „Medien/Form-Kopplung" zielt auf diesen Vorgang.7 Die Verwendung des Begriffes „Stil" im Titel des Buches bestärkt Luhmanns auf die Form bezogene Argumentation. Hiermit soll die Eigenschaft des Bildes betont werden, nicht nur Symptome und Ergebnisse eines Denkstils zu zeigen,8 sondern diesen mit gleichsam objektiver, überpersönlicher Wirkungskraft zu konstituieren. Der Wunsch nach historischer Ordnung tendiert dazu, die Phänomene in Begriffen zu fassen und diese zum Muster der Erkenntnis werden zu lassen. Objektivität, Dokumentation und Evidenz sind Beispiele von Begriffen, die im Zuge der Erforschung wissenschaftlicher Bilder eine so mächtige Konjunktur erlebt haben, dass sie das Material wie von selbst zu ordnen schienen. „Das Technische Bild" geht jedoch darin den umgekehrten Weg, dass es die phänomenal-begriffliche Spindel prinzipiell von den Bildformen, -techniken und -modi aufsteigen lässt. Die Brisanz der wissenschaftlichen Bildformen erweist sich insbesondere in diesem induktiven Ansatz, wie er in Archäologie und Kunstgeschichte zur Regel gehört. Es hat sich gezeigt, dass der Prozess der anfänglichen Form-

4 Horst Bredekamp, Angela Fischel, Birgit Schneider, Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens, in: „Bilder in Prozessen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 1,1 (2003), S. 9 - 2 0 , hier S. 15. 5 Auf dieser Annahme bauen auch die von Heintz, Huber; Gugerli, Orland und Heßler herausgegebenen Studien (s. Anm. 2) auf; diese beziehen sich auf Hans Blumenbergs Schriften, insbesondere: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie. In: Ders. (Hg.): Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1993, S. 7 - 5 4 .

6 Die grundlegende Funktion der Sichtbarmachung wurde für wissenschaftliche Bildec, seit Hans-Jörg Rheinberger und Bruno Latour auf diese Dimension verwiesen, vielerorts als Kerneigenschaft technisch-wissenschaftlicher Bilder herausgestellt.

7 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a . M . 1998, S. 165 ff.; vgl. ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 195 ff. 8 Ludwik Fleck prägte den Begriff des Denkstils als überindividuelles, die wissenschaftliche Praxis eines Forscherkollektivs bestimmendes System aus Konventionen, Übereinkünften und Vorgehensweisen. Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a . M . 1980 [1935],

Warburg führte die „ikonologische Analyse" bereits 1912 als „methodische Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft in stofflicher und räumlicher Beziehung" an. Aby Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara. In: Ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Berlin 1998 (= Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Erste Abteilung, Band 1,2, hg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers u.a.), S. 4 5 9 - 4 8 1 , hier S. 478. Vgl. exemplarisch: Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2001; Wolfgang Lefèvre, Jürgen Renn, Urs Schoepflin (Hg.): The Power of Images in Early Modern Science, Basel u.a. 2003; Wolfgang Lefèvre (Hg.): Picturing Machines 1400-1700, Cambridge/London 2004. Auch die Autoren des Jahrbuchs „Bildwelten des Wissens" sind zu einem hohen Prozentsatz Wissenschaftshistoriker. Vgl. etwa John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen. In: Ders., Norbert Meuter (Hg.): Kulturelle Existenz und symbolische Form. Philosophische Essays zu Kultur und Medien, Berlin 2 0 0 6 , S. 1 6 7 - 1 9 0 ; Sybille Krämer: Operationsraum Schrift. Ein Perspektivenwechsel im Schriftverständnis. In: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 1 3 - 3 2 ; Frederik Stjernfelt: Diagrammatology: An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology and Semiotics, Dordrecht 2007. Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006; Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2000; Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005.

suche, oft auch das Scheitern, aber auch die früher oder später einsetzende Konventionalisierung von Bildformen sowie deren erneutes Aufbrechen auf diese Weise eher und subtiler sichtbar werden. Die präzise Betrachtung von Formen bildet deshalb den Ausgangs- und Endpunkt jeder Bildanalyse. Als Ausdruck und Präger von Wahrnehmungen, Beobachtungen und Erkenntnissen sind Bilder, wie es die kunsthistorische Ikonologie unabdingbar fordert, interdisziplinär zu untersuchen.' Auf die Vielfalt wissenschaftlicher Bilder trifft dies in besonderer Weise zu. Dasselbe gilt für die Methoden, mit denen nach dem konstruktiven Charakter jedweder Bildprägung gefragt wird. Zur Spezifik ihrer Präsenz gehört, dass Bilder im ikonologischen Sinn unter anderem auch durch Methoden der Kulturwissenschaft, der Medienwissenschaft, der Soziologie sowie der Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte zu erschließen sind. Auf der Basis bildspezifischer Analysen kann allein ein solcher Vielklang von Methoden der Konstruiertheit, Wandelbarkeit und Operabilität dieser Bilder gerecht werden. Dies gilt insbesondere für die Wissenschaftsgeschichte, gegenüber der sich in den letzten Jahren eine geradezu symbiotische Beziehung entwickelt hat.10 Hoffnungsvolle Ansätze der Überwindung einer platonisierend analytischen Philosophie lassen in der Ästhetik und der Philosophie des Bewusstseins ebenfalls einen neuen Horizont des Zusammenspiels erkennen.11 Entsprechend stammen die Mitarbeiter und Autoren dieses Bandes nicht nur aus der Kunstgeschichte, sondern auch der Kulturwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Physik, der Informatik, der Philosophie und der Technikgeschichte. Um den Weg der seit dem Jahr 2000 genommenen Entwicklung darzulegen, stellt das vorliegende Buch die Resultate in der Breite des Vorgehens in der Hoffnung dar, als ein Kompendium der Methode dienen zu können. Obwohl die beiden Bereiche nicht streng voneinander getrennt werden können, ist dem Abschnitt der Fallbeispiele ein methodischer Teil als Einstig vorangestellt, der aus einem allgemeineren Rahmen in die Problematik einzuführen sucht. Knappe Fallstudien, die anhand einer abgegrenzten und konkreten Bildgruppe ein übergeordnetes Themenfeld behandeln, bilden die Basis, auf der Texte mit übergreifenden Themen sowie Bestimmungen von Begriffen aufbauen, die in den letzten Jahren zu Schlüsselbegriffen der Analyse wissenschaftlicher Bilder avancierten. So sind mit den Begriffen Bildstörung, Beobachtungstechnik oder Visualisierung/Sichtbarmachung Themenfelder und Bildfunktionen angesprochen, die für wissenschaftliche Bilder insofern besonders bedeutsam sind, als durch sie die apparativen Bedingtheiten und die Einbettung in Herstellungsprozesse berücksichtigt werden. Schlagworte wie Diagrammatik oder Bildanordnungen bezeichnen Bildsorten und Gestaltungsformen, die bei der Präsentation wissenschaftlich-technischer Inhalte von strategischem Nutzen sind. Im Falle von Vergleich als Methode und Ikonologische Analyse wurde versucht, die Bedeutung und Anwendung kunsthistorischer Methoden im Bereich Wissenschaft-

licher Bilder zu thematisieren. Mit diesen zwischen die Artikel eingestreuten Einträgen ist die Hoffnung verbunden, Erforschern wissenschaftlicher Bilder analytische Werkzeuge und Pfade vermitteln zu können. Sie zielen in ihrer Auswahl nicht darauf ab, eine lexikalische Vollständigkeit zu bieten, sondern stehen vielmehr für spezifische Merkmale und Dimensionen wissenschaftlich-technischer Bilder und reflektieren jeweils die Herausforderungen, die sich durch diese Merkmale stellen. Das durchgängig verwendete Verweissystem soll die Verbindungen von Fragestellungen, Fallstudien, Grundlagentexten und Begriffen verdeutlichen. Die thematisch geordnete Bibliografie am Ende des Buches schließlich listet wesentliche Forschungen zum Thema wissenschaftlicher Bildlichkeit auf. Angesichts dessen, dass der historische Stoff in seinem Eigenwert erst bestimmt und gewürdigt werden kann, wenn das Gegenwartsinteresse an ihm sichtbar und damit auch distanzierbar geworden ist, geht die Abfolge der Fallstudien nach den vier allgemeinen Texten von der Jetztzeit in die Geschichte zurück. Hierin folgt sie dem Prinzip des Jahrbuchs Bildwelten des Wissens, das ebenfalls in dieser Weise organisiert ist.12

i2 Das Modell hierfür lieferte Dietrich Mahnkes Geschichte der Kosmologie, die ebenfalls an der Gegenwart ansetzte, um die Geschichte astronomischer Modelle von dort aus zurückzuspulen. Vgl. Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, Halle a.S. 1937.

Dank Das vorliegende Buch wäre ohne die tatkräftige Unterstützung der gesamten Abteilung des „Technischen Bildes" nicht zustande gekommen. Das Vorhaben ging aus einer intensiven Diskussion hervor, die während der gesamten Phase der Buchherstellung anhielt. Für die Begriffstexte steuerten auch die studentischen Hilfskräfte Violeta Sánchez und Jana August wesentliche Beiträge bei, ebenso wie Florian Horsthemke und Hanna Feiski, die die aufwendige Bildredaktion betreuten. Besonderer Dank gebührt Nils Hoff, wissenschaftlicher Zeichner und Grafiker am Museum für Naturkunde zu Berlin, für die Gestaltung der Text- und Bildinhalte. Er hat das gesamte Buch mit einem inneren Verständnis für den Inhalt und das Konzept nach genauem Studium des Manuskripts gestaltet. Nicht minder herzlich sei dem Lektor Rainer Hörmann sowie dem Akademie Verlag insgesamt gedankt, der das Projekt von Beginn an mit ebensoviel Optimismus wie Geduld unterstützt hat. Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel

11



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ANGELA FISCHEL

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Bildbefragungen. Technische Bilder und kunsthistorische Begriffe1 Angela Fischel ι

Dieser T e x t zitiert

Forschungsarbei-

t e n v o n Birgit Schneider u n d J o c h e n H e n n i g direkt, w ä h r e n d I d e e n

und

Forschungen der anderen Mitarbeiter indirekt eingeflossen sind. 2. V i l é m F l u s s e r : F ü r eine P h i l o s o p h i e der F o t o g r a f i e , G ö t t i n g e n 1 9 8 3 . 3 Ein einführender Aufsatz z u m T h e m a b e s c h r e i b t die A u s r i c h t u n g des P r o jektes: Fischel,

Horst Birgit

Bredekamp, Schneider,

Angela Gabriele

W e r n e r : B i l d w e l t e n des W i s s e n s . In: „Bilder in P r o z e s s e n " . B i l d w e l t e n des Wissens. Kunsthistorisches J a h r b u c h für Bildkritik 1 , 1 ( 2 0 0 3 ) , S. 9 - 2 0 .

14

Vilém Flusser definierte das technische Bild im Jahr 1983 als ein von Apparaten erzeugtes Artefakt mit operativem Charakter. Er bezeichnete damit eine aus seiner Sicht neue Bildgattung, deren Logik sich fundamental von anderen unterscheide und die nicht aus der historischen Tradition anderer Bildgattungen beschrieben werden könne. 2 Anders als bei Flusser, wenn auch mit deutlichem Bezug auf den vom ihm geprägten Begriff, werden technische Bilder im Forschungsprojekt „Das Technische Bild" kategorisch in eine historische Perspektive gestellt. Neben apparativ erzeugten Bildern werden auch Zeichnungen und Druckgrafiken untersucht; gemeinsam ist den hier etablierten Forschungsvorhaben, dass sie sich mit dezidiert nicht-künstlerischen Bildern beschäftigen, wie sie in der wissenschaftlichen oder technischen Praxis zur Anwendung kommen. 3 Die Frage stellt sich, welche Relevanz die bildanalytischen Begriffe und Kategorien der Kunstgeschichte für die Analyse von Bildern aus

Bildbefragungen

ANGELA FISCHEL

wissenschaftlichen oder technischen Kontexten haben und wie diese Be-

Vgl. hierzu die Einträge zu zen-

griffe und Kategorien erweitert werden müssen, um auch in diesen Kon-

tralen Begriffen in diesem Buch

texten sinnvoll angewandt werden zu können. Diese Fragestellung entspricht dem Anspruch des Projekts, die Zusammenhänge zwischen der Bildtechnik und der formalen und inhaltlichen Gestaltung von Bildern zu erforschen, um dem ikonischen Potenzial dieser Bilder gerecht zu werden. Dabei sollen kunsthistorische Methoden an der heute aktuellen Bildpraxis gemessen und gegebenenfalls aktualisiert werden, neue Perspektiven in die Kunstgeschichte eingebracht und deutlicher akzentuiert werden. Anhand einer Reihe von Beispielen umreißt der vorliegende Beitrag einige der Gesichtspunkte, die dabei in den Vordergrund treten. 4

Zugleich gibt die Zusammenstellung einen Eindruck über die Vielfalt der Themen, die im Forschungsprojekt „Das Technische Bild" untersucht werden.

Ausgangspunkt: „technische Bilder" Die Gegenüberstellung der Abbildung eines Pulsmessers von EtienneJules Marey Abb. 1 , eines Bildtelegramms Abb. ^ , eines EEG Abb. 4) und einer Darstellung aus der Rastertunnelmikroskopie (Abb. 5) ist weder durch einen zeitlichen Zusammenhang noch durch vergleichbare Bildinhalte motiviert. Gemeinsam ist den Darstellungen ein grundlegendes Element ihrer Herstellung: Sie wurden, mit Ausnahme des ersten Beispiels, nach dem Prinzip des Linienschreibers erstellt, dessen grundsätzliche Funktionsweise anhand von Abbildung 1 deutlich wird. Sie veranschaulicht die Konstruktion eines Sphygmographen von EtienneJules Marey. 5 Der Sphygmograph ist ein Pulsmesser, bei dem die pulsierende Arterie eines Menschen ein kleines Plättchen in Bewegung versetzt, das auf einen langen Hebelarm wirkt. Der Hebelarm schreibt die Bewegung der Arterienwand in vergrößertem Maßstab auf einen Papierstreifen, der durch ein Uhrwerk gleichmäßig angetrieben und vor der Spitze des Hebelarms vorbeigeführt wird. Auf dem Papier bilden sich die Pulsbewegungen synchron zum Pulsschlag als Wellenlinie ab. Ist die Geschwindigkeit bekannt, mit der das Papier an der Hebelspitze vorübergeht, so lässt sich die Dauer einer Pulswelle berechnen. Mit dieser Erfindung Mareys aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt der hier ausgewiesene Pfad durch eine Geschichte der technischen Bilder. Linienschreiber wurden seitdem als eine Apparatur zur Visualisierung von nicht sichtbaren physikalischen Phänomenen aller Art eingesetzt, wie etwa von kinetischen, akustischen oder auch elektrischen Impulsen. 6 Seismographen zeichnen nach diesem Prinzip die Intensität von Erdbeben auf, Phonografen dokumentieren Töne so, dass sie auch apparativ abgespielt werden können, Kardiographen registrieren die elektrischen Aktivitäten des Herzmuskels, Elektroenzephalographen zeichnen Gehirnströme auf. Die hier vorgestellte Reihe zeigt ausgewählte Beispiele dieser in be-

5 Vgl. Marta Braun: Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey, Chicago 1992; Joel Snyder: Sichtbarmachung und Sichtbarkeit. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2 0 0 2 , S. 1 4 2 - 1 6 7 .

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132 6 Soraya de Chadarevian: Die Methode der Kurven' in der Physiologie zwischen 1850 und 1900. In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagnet (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens: Experimentalsystem in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 2 8 - 4 9 .

sonderem Maße technisch determinierten Bildherstellung. Schon ein

15

Bildbefragungen

-* Vergleich als Methode, S. 24

ANGELA FISCHEL

erster Blick verdeutlicht, dass diese Gegenüberstellung nicht dazu geeignet ist, formale oder inhaltliche Ähnlichkeiten zu veranschaulichen. Vielmehr provoziert die Verschiedenheit der Beispiele Fragen nach dem Verhältnis von Technik und Form, Technik und Funktion, Technik und Ikonologie oder auch nach der Bedeutung von künstlerischen Gattungsbegriffen im Kontext technischer Bilder.

Das Porträt als Telegramm

ABB. I: Porträt von Arthur Korn als Bildtelegramm, wie es ca. 1908 zu Testzwecken gesendet wurde.

7 Vgl. dazu Birgit Schneider, Peter Berz: Bildtexturen. Punkte, Zeilen, Spalten. I. Textile Processing / II. Bildtelegraphie. In: Sabine Flach, Georg Christoph Tholen (Hg.): Mimetische Differenzen. Der Spielraum der Medien zwischen Abbildung und Nachbildung, Kassel 2 0 0 2 , S. 1 8 1 - 2 2 0 . Zum Verhältnis von Porträt und Bildübertragung vgl. Birgit Schneider: Die kunstseidenen Mädchen. Test- und Leitbilder des frühen Fernsehens. In: Stefan Andriopoulos, Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zu einer Archäologie der Medien, Frankfurt a.M. 2002, S. 5 4 - 7 9 , hier S. 6 5 - 7 0 .

ABB. 3: Detail aus Abb. 2.

16

Ein Mann mittleren Alters in Anzug und Krawatte wurde im Halbprofil aufgenommen. Der Umriss seines Mundes und die Gesichtskonturen sind nur zu erahnen, während sich dunkle Passagen, wie der Stoff des Anzugs und die Haare, als undifferenzierte schwarze Flächen darstellen (Abb. 2). Das Porträt zeigt den Physiker Arthur Korn (1875-1945). Die Darstellung ist aus Linien zusammengesetzt. Sie verlaufen in gleichmäßigen Abständen horizontal auf dem Bildträger, besitzen helle Zwischenräume und variieren in der Breite. Aus der Modulation der Linien entsteht der figürliche Eindruck der Darstellung (Abb. 3): An hellen Stellen, etwa der Stirn, fehlen die Linien ganz, während sie an dunkleren Stellen breiter werden. Die Erscheinungsform des Porträts als Linienstruktur ist ein Effekt der Bildtelegrafie, einer Bildübertragungstechnik, die zwischen 1901 und 1907 von Arthur Korn auf der Grundlage mehrerer Vorläuferdispositive aus dem 19. Jahrhundert entwickelt wurde. 7 Sie basiert auf den elektrischen Eigenschaften des chemischen Elements Selen, einem Halbleiter, das seinen Widerstand unter Lichteinwirkung ändert. Bei der Bildtelegrafie wird ein Foto durch Belichtung auf einen transparenten Film übertragen. Dieser wird auf einen Glaszylinder gezogen und zeilenweise abgerastert. Die spezifischen chemischen

A N G E L A FISCHEL

Eigenschaften von Selen ermöglichen es nun, beim Abrastern des Fotos einen elektrischen Strom zu messen. Das abgenommene elektrische Signal wird gesendet und kann am Zielpunkt nach einem äquivalenten Prinzip ausgeschrieben werden, wobei der schwächere oder stärkere Stromfluss beim Empfängerbild als dünnere und dickere Linie dargestellt wird. Die Funktionsweise der Bildübertragung, also die Transformation eines Bildes in Signale, die gesendet werden können, sowie die Visualisierung dieser Signale am Empfangsort, wird dort am besten sichtbar, wo der Apparat noch nicht perfekt funktioniert. Besonders in der zeilenartigen, mit Lücken durchsetzten Struktur des Porträts, stellt sich der Linienschreiber selbst dar. Dabei handelt es sich um einen unerwünschten Effekt, den die Ingenieure in der Folgezeit zum Verschwinden zu bringen suchten. Der in diesem Bild unmittelbar aufscheinende Zusammenhang zwischen der Bildtechnik und der formalen Gestalt wurde als Unvollkommenheit verstanden, die es zu eliminieren galt.8 Wer nach dem Zusammenhang zwischen Form und Technik forscht, wird daher nach anderen Anhaltspunkten als nach unmittelbar sichtbaren Spuren des Apparates auf der Oberfläche des Bildes suchen müssen. Im vorliegenden Fall lassen sich Bildgestaltung und Bildtechnik zum Beispiel als zwei voneinander abhängige Aspekte beschreiben, die beide auf eine genau definierte Funktion ausgerichtet sind. Diese besteht im gegebenen Fall darin, individuelle, zweidimensional angeordnete Formationen möglichst detailreich als Bild zu senden. Die Bildtelegrafie ist daher, wie heute das Fax,9 zur Übertragung authentischer Formationen, wie zum Beispiel einer Unterschrift oder eines Porträts, geeignet. Wenn in den frühen Bildtelegrafien oft Porträts übertragen wurden, so geschah dies ohne Zweifel auch mit der Absicht, die Möglichkeiten dieser Bildtechnik anschaulich darzustellen und die Bildtelegrafie von anderen Telegrafíen, etwa dem Schreibtelegrafen oder dem Morseapparat, zu unterscheiden. Aus der apparativen Ausführung ergeben sich neue Anwendungsgebiete für lange etablierte Bildgattungen, deren Status dabei grundlegend verändert wird. So ist das hier beschriebene Telegramm ohne Zweifel ein Porträt, das im Stil der Jahrhundertwende aufgenommen wurde. Für seine Bildanalyse wäre aber auch sein spezifischer Charakter als telegrafische Sendung zu berücksichtigen. Sobald es als Telegramm von einem Ort zum anderen übertragen wurde, erhielt das Porträt einen neuen Status und eine neue Referenz. Es wurde nun als authentisches „Empfängerbild" eines „Geberbildes" für viele neue Felder interessant. So war es etwa für den Polizeidienst, für den Nachrichtendienst oder zur Beurkundung von Dokumenten und Verträgen verwendbar. Mit der kunsthistorischen Gattungsbezeichnung „Porträt" wäre dieses Bild also nur unzureichend beschrieben. Aufgrund seines besonderen technischen Charakters als Telegramm dient es der Kommunikation und Identifikation von Personen, und zwar in einer anderen Art und Weise, als es mit gemalten oder fotografierten Porträts möglich ist. Die im fotografierten Porträt dargestellte Persönlichkeit des

Bildbefragungen

Bildstörung, S. 164

8 Zur Rolle der Porträts beim Testen von frühen elektronischen Bildmedien vgl. Schneider: Die kunstseidenen Mädchen (s. Anm. 7), S. 63.

9 Das Wort „Fax" ist eine Abkürzung für „Telefax" oder „Telefaksimile".

Ikonologische Analyse, S. 48

Bildbefragungen

ANGELA

IO Einen Beitrag dazu leistet etwa Roland Meyer: Lichtbildbelehrung. Bilder im Grenzbereich. Die ePass-Fotomustertafeln der Bundesdruckerei. In: „Bilder ohne Betrachter". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 4,2 (2006), S. 64-68.

FISCHEL

Arthur Korn wird dabei zu einer Konstellation von technisch übertragbaren Konturen und Gesichtsformen. Die Gattung „Porträt" wäre mindestens um diese neuen Funktionen zu erweitern, um auch in seiner Erscheinungsform als technisches Bild adäquat beschrieben werden zu können. 10

Das Subjekt als Kurvendiagramm Bei dem Kurvendiagramm mit acht unterschiedlich verlaufenden Kurven, in das ein schematisierter Kopf eingezeichnet worden ist, handelt es sich um ein Elektroenzephalogramm (Abb. 4 . In das Kopfschema sind jene Punkte eingezeichnet worden, an denen die Elektroden bei der Elektroenzephalographie angesetzt werden. Eine auf der Zeitachse des Diagramms angebrachte Beschriftung markiert den Zeitverlauf der Messung. Die Elektroenzephalografie ist eine Methode der medizinischen Diagnostik zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns durch Aufzeichnung der Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche. Ursache dieser Spannungsschwankungen sind physiologische Vorgänge innerhalb einzelner Gehirnzellen, die durch ihre elektrischen Zustandsänderungen zur Informationsverarbeitung des Gehirns beitragen.

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ABB. 4: Julius T. Fraser, Nathaniel M . Lawrence: Elektroenzephalogramm (EEG), 1975. Die elektrischen Aktivitäten des Gehirns werden als Kurvendiagramm dargestellt. Die acht Kurven des EEG entsprechen den im Schema gekennzeichneten acht Messpunkten am Kopf des Probanten.

18

Bildbefiagungen

ANGELA FISCHEL

Dank ihrer spezifischen räumlichen Anordnung addieren sich die von einzelnen Neuronen erzeugten Ströme in den Zellzwischenräumen auf, so dass sich über den gesamten Kopf verteilte Spannungsänderungen messen lassen. Das EEG wurde von Hans Berger an der Universität Jena 1924 entwickelt. Berger war es auch, der mit Hilfe dieser Technik das Phänomen des Alpha-Blocks beschrieb. Dabei handelt es sich um eine auffällige Veränderung im Kurvenverlauf eines EEG, die einsetzt, sobald ein Proband seine Augen öffnet oder zu erhöhter mentaler Aktivität angehalten wird. Die hier gegebene Beschreibung folgt den Darlegungen zweier populärer fachübergreifender Nachschlagewerke; 11 sie berücksichtigt vor allem die medizinische Funktion, kaum aber die kulturelle Bedeutung eines EEG. Doch außer für Ärzte, die ein EEG durch Mustererkennung interpretieren, ist ein EEG auch bildhistorisch relevant. So schien sich, was weit über den engeren Bereich der Medizin ausstrahlte, im Phänomen des Alpha-Blocks erstmals ein Bild des menschlichen Bewusstseins abzuzeichnen. Mit dem Auftauchen des meist auf Endlospapier notierten Kurvendiagramms begann somit zugleich auch eine neue Etappe in der Ikonografie des modernen Subjekts, das erst heute beginnt, seine Aktualität zu verlieren und durch neue „Gehirnbilder" ersetzt zu werden. 12 Doch kommt mit dem EEG nicht nur ein weiteres Motiv zu den bereits tradierten Ikonografien hinzu, sondern auch ein neuer Aspekt von Bildlichkeit, der auf der Darstellung von Messdaten beruht. Dabei war durchaus nicht von vornherein klar, was sich in den Kurven abzeichnete. Die Auswertung des EEG bereitete in den Anfängen mehr Schwierigkeiten als erwartet, da die Kurven nicht mit den bis dahin anerkannten Theorien über die Funktionen und die Physiologie des Gehirns in Verbindung gebracht werden konnten. Dieses Problem setzte den hohen Erwartungen, die anfangs an diese Technik geknüpft wurden, enge Grenzen, die angestrebte vollständige Kartografie des Gehirns misslang. Wie zahlreiche andere technische Bilder war das EEG zum Zeitpunkt seiner Entwicklung also relativ deutungsoffen, 13 und was sich in den Kurven darstellte, musste erst mit Sinn besetzt werden. Die Findung von Interpretationsregeln gehörte unmittelbar zur Entwicklung der neuen Technologie, entschied über ihren Erfolg oder Misserfolg und war einer ihrer neuralgischen und spannendsten Momente. 1 4 Diese Deutungsoffenheit der Bilder ist die Grundlage dafür, dass mit ihrer Hilfe neue wissenschaftliche Phänomene, wie etwa der AlphaBlock entdeckt und dargestellt werden können. Das hier geschilderte Problem, genau festgelegte Interpretationsregeln und Auswertungsstrategien entwickeln zu müssen, die sowohl die Parameter des Apparates als auch den Zustand des Probanden oder Patienten berücksichtigen, ist kennzeichnend für wissenschaftlich-technische Bilder. Sie können sich sogar der Interpretation vollkommen entziehen, was sie von kunsthistorisch relevanten Bildern unterscheidet. Doch auch diese Unterscheidung hat, wie das folgende Beispiel zeigt, keinen ausschließenden Charakter.

11 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Leipzig 1 9 9 3 , Band 6 und http://de.wikipedia.org/wiki/Elektroenzephalografie (Stand: 0 7 / 2 0 0 7 ) . 12 Cornelius Borck: Hirnströme,

eine

Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie,

Göttingen

2005;

zum

Wandel der Darstellung des Gehirns als Organ: Michael Hagner: H o m o cerebralis - Der Wandel vom Seelenorgan zu Gehirn,

Frankfurt

a.M.

1 9 9 7 ; siehe auch „Ikonografie des Gehirns".

Bildwelten des Wissens.

Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 6,1 ( 2 0 0 8 ) . 13 Dies zeigte z.B. Vera Dünkel für die frühen Röntgenbilder: Die Fotografie mit Röntgenstrahlen. Hermann Krones Rezeption des Mappenwerks von Walter König und die Ikonographie der frühen Röntgenbilder. In: Wahrzeichen. schaft,

Fotografie

und

Wissen-

Ausstellungskatalog,

Andreas

Krase,

Technische

Agnes

hg.

v.

Matthias,

Sammlungen

Dresden

und Museen der Stadt Dresden 2 0 0 6 , S. 4 5 - 4 6 .

Fallstudie Vera Dünkel, S. 136 14 Weiterhin

grundlegend

zu

diesem

Thema de Chadarevian (s. Anm. 6); siehe auch die Aufsätze von Jürgen Link: Das normalistische Subjekt und seine

Kurven.

Zur

symbolischen

Visualisierung orientierender Daten, S. 1 0 7 - 1 2 8 ;

Jacob

Tanner:

Wirt-

schaftskurven. Zur Visualisierung des anonymen Marktes, S. 1 2 9 - 1 5 8 und Volker Hess: Die Bildtechnik der Fieberkurve, S. 1 5 9 - 1 8 0 . Alle drei Aufsätze in: David Gugerli, Barbara Orland

(Hg.):

Historische

Ganz

normale

Beiträge

Herstellung von keit, Zürich 2 0 0 0 .

zur

Bilder.

visuellen

Selbstverständlich-

Bildbefragungen

ANGELA FISCHEL

Die Messung als Landschaft

15 Das Beispiel ist dem Artikel von Jochen Hennig: Die Versinnlichung des Unzugänglichen - Oberflächendarstellungen in der zeitgenössischen Mikroskopie. In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 99-116 entnommen.

Diagrammatik, S. 192

ABB. 5: Rastertunnelmikroskopische Darstellung der quantenphysikalischen Wechselwirkung zwischen Instrument und der atomaren Oberfläche einer Probe als Diagramm, 1984.

20

Die linearen Gefüge der rastertunnelmikroskopischen Messung von Abbildung 5 stammen aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (Abb. 5 ,15 Bei aller inhaltlichen wie kontextuellen Differenz zum EEG oder zum telegrafierten Porträt kommt auch diese bildliche Struktur durch das zeilenweise Abrastern einer Vorlage, hier eines Präparats, und die anschließende Aufzeichnung der dabei erhobenen Messwerte zustande. Auch in diesem Fall wurden die Daten in ein Diagramm eingetragen. Die Wellenform der Ausschläge ergibt, je nachdem, wie man das Diagramm anlegt, Höhenzüge oder Täler. Die erkennbar gegenständliche Form dieser Darstellung entsteht dadurch, dass zahlreiche Messungen leicht versetzt übereinander ins Diagramm gezeichnet werden. Durch die Anordnung der einzelnen Grafen ging die Zweidimensionalität in Dreidimensionalität über, wobei ein bildräumlicher Zusammenhang entstand. Dieser dreidimensionale Effekt erweckt den Eindruck, dass es sich bei der Darstellung um eine optische Vergrößerung der Probe handelt. Jedoch stellt die hier abgebildete Struktur eine Datenlandschaft im wörtlichen Sinn dar: Da Atome und Moleküle kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts, gibt es in dieser Größenordnung

Bildbefragungen

ANGELA FISCHEL

keine perspektivische Ansicht. Vielmehr beruht die Abbildung auf den

->• Fallstudie Jochen Hennig, S. 86

Messdaten, die erst durch die quantenphysikalische Wechselwirkung zwischen Instrument und Probe erzeugt werden und die außerhalb des

Sichtbarmachung/Visualisie-

Messprozesses nicht existieren. Die Wechselwirkung zwischen Instru-

rung, S. 132

ment und Probe ist in keiner Weise der Optik des Sehens vergleichbar. Die Oberfläche der Probe hat auf atomarer Ebene nach wie vor kein

16 Vgl. Peter Geimer: Bilder ohne Vorbild. Versuch über die Blackbox. In:

Aussehen. 1 ' Obwohl sie nicht auf der Grundlage optischer Technik her-

Sabine Haupt, Ulrich Stadler (Hg.):

gestellt wurde, bezieht sich die hier gezeigte Visualisierung der Raster-

Das Unsichtbare sehen. Bildzauber,

tunnelmikroskopie jedoch auf kulturell tradierte Seherfahrungen wie die Perspektive und auf die mit der Lichtmikroskopie eng verbundene Vorstellung der optischen Vergrößerung. Der Umstand, dass die atomare Ebene der Probe und die Spitze des Tasters bei der Rastertunnelmikroskopie interagieren, hat Oberflächenphysiker dazu veranlasst, Atome zu erkennbaren Figuren, wie etwa zu einem sogenannten Kohlenstoffmännchen, zu legen Abb. 6). Figuren dieser Art dienen vor allem dazu, die Kapazität des Apparates und die Fähigkeiten des Experimentators darzustellen. 17 Abbildung und Bearbeitung gehen hier ineinander über, außerhalb des technischen Systems „Rastertunnelmikroskopie" existiert kein Motiv wie „das Kohlenstoffmännchen" oder „das Atom".

18

Dennoch handelt es sich bei den Na-

nobildern nicht um Konstruktionen, wie sie in den Geisteswissenschaften als soziale, historische oder kulturelle Bedingtheit diskutiert werden. Die Bildkonstruktionen der Rastertunnelmikroskopie beanspruchen wissenschaftliche Gültigkeit, da sie, ungeachtet der in ihnen enthaltenen Bezüge zu Bild- und Sehtraditionen, auf den Messungen der Wechselwirkung zwischen Probe und Instrument als Referenz basieren. Die

optische Medien und Literatur, Zürich/New York 2 0 0 6 , S. 1 6 3 . 1 7 Mit diesem Thema hat sich grundsätzlich

Jochen

dergesetzt.

Hennig

Jochen

auseinan-

Hennig:

Vom

Experiment zur Utopie. Bilder in der Nanotechnologie.

In:

„Instrumente

des Sehens". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2 , 2 ( 2 0 0 4 ) , S. 9 - 1 8 . 18 Die Konstruktion eines wissenschaftlichen Gegenstands und die Entstehung neuer Erkenntnisse stellte HansJörg Rheinberger in mehreren Studien dar: Experiment, Differenz, Schrift: zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg a . d . L . 1 9 9 2 ; ders.: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a . M . 2 0 0 6 .

Referenzialität der Darstellung ist genau definiert und beruht nicht auf Mimesis, sondern auf Messungen, deren Werte in ein Diagramm eingetragen werden. Im Diagramm bleibt die Messung nachvollziehbar; in diesem Sinne hat sich die Bildtechnik in die formale Gestaltung des Diagramms eingeschrieben. Dennoch wird bei der bildlichen Darstellung von Messdaten kein Bruch mit historisch geprägten Bild- und Sehtraditionen vollzogen. Diese bleiben vielmehr für die Interpretation dieser Messdaten unabdingbar. Technische Strukturen und die ikonografische Gestaltung des Bildes sind in diesem Fall gleichermaßen Elemente einer Verifikations- oder zumindest Deutungsstrategie. So dienen die Bezüge zu Seh- und Bildtraditionen dazu, Daten zu interpretieren, ohne die Grundlage der Messung zu verlassen. Die Mittel der klassischen Ikonografie sind Teil mathematisch-physikalischer Bildgebungsverfahren. ABB. 6: „Kohlenstoffmännchen" (Rastertunnelmikroskopie) von Peter Zeppenfeld aus dem Jahre 2 0 0 0 . Kohlenmonoxidmoleküle

wurden

so

auf

einer

Platinoberfläche angeordnet, dass sie die Gestalt eines Strichmännchens ergeben.

Bildbefragungen

ANGELA FISCHEL

Kunsthistorische Begriffe und Bilder in Technik und Wissenschaft 19 Diesen Punkt hat Hans-Jörg Rheinberger aus wissenschaftshistorischer Sicht wiederholt angesprochen: Vom Mikrosom zum Ribosom. Strategien' der .Repräsentation' 1935-1955. In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, S. 162-186; ders.: Epistemologie des Konkreten (s. Anm. 18).

->· Objektivität und Evidenz, S. 148 20 Diesem Verhältnis widmet sich besonders der Tagungsband von Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006. 21 Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Peter Friess: Kunst und Maschine: 500 Jahre Maschinenlinien in Bild und Skulptur, München 1993 gehört zu den ältesten Studien in diesem Kontext; Horst Bredekamp, Franziska Brons: Fotografie als Medium der Wissenschaft. In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilden Köln 2004, S. 365-381 zu den neueren. Die Kunsthistoriker Barbara Maria Stafford, Martin Kemp und James Elkins haben dieses Gebiet in mehreren Publikationen untersucht. Horst Bredekamp behandelt die Zeichentechnik Galileos im Kontext seiner Forschungen ausführlich.

22

In der oben vorgestellten Reihe wurden Bilder zusammengestellt, die in einem wissenschaftlichen oder technischen Kontext genutzt werden. Ungeachtet dessen lassen sie sich auf vielfältige Art und Weise mit kunsthistorischen Begriffen in Beziehung setzen. Allerdings verändern sie diese auch. Gattungsbegriffe wie „Porträt" erhalten im Zusammenhang technischer Bilderzeugung und -Übertragung eine neue Bedeutung, aber auch ein Begriff wie „Konstruktion", der in der Bildanalyse der diskursanalytisch ausgerichteten Kunstgeschichte eine maßgebliche Rolle spielt, erhält im Kontext technischer Bilder ein anderes Gewicht.19 So beanspruchen konstruierte Identitäten in wissenschaftlichen Bildern, im Unterschied zu künstlerischen oder sozialen Diskursen, wissenschaftliche Objektivität. 20 Da es bei der Visualisierung technischer Daten immer wieder Durchkreuzungen mit Seh- und Bildtraditionen gibt, sind für das Verständnis wissenschaftlich-technischer Bilder die klassischen Bilddeutungsstrategien der Kunstgeschichte wie Formanalyse, Vergleichendes Sehen und Ikonologie unabdingbar. Ihrerseits müssen sich diese der Referenzialität der Bilder stellen. Technische Angaben, also Informationen über den Bildträger oder die Bildtechnik, gehören zu den in der Kunstgeschichte routinemäßig gespeicherten Angaben. Meist werden sie auf den Rahmen von Diapositiven oder in den Dateiinformationen festgehalten. Sie sind latent vorhanden und abrufbar, bleiben aber im Hintergrund. Diese Platzierung spricht für ihre Bedeutung in der Kunstgeschichtsschreibung.21 Zwar ist das Fach Kunstgeschichte mit dem Verständnis von Kunst als „techné" von Anbeginn befasst, die hier formulierte Konzentration auf die Bildtechnik geht jedoch über diesen Bezug weit hinaus. Sie erfordert, wie die hier umrissenen Beispiele zeigen, eine methodisch eingesetzte Berücksichtigung der Objektivität von Messdaten. Reziprok gilt für die bildgebenden Naturwissenschaften, ihre Produkte als bildhistorische Prägung zu begreifen.

ANGELA FISCHEL

Bildbefragungen

ABB. I : Étienne Jules Marey: La méthode graphique dans les sciences expérimentales et particulièrement en physiologie et en médecine, Paris 1 8 7 8 , S. 4 5 7 ; ABB. ι: Dieter Lübeck: Das Bild der Exakten - Objekt: Der Mensch. Zur Kultur der maschinellen Abbildungstechnik, München 1 9 7 4 , S. 3 7 ; ABB. 3: Wie Abb. 2 , S. 3 7 , Detail; ABB. 4: Harry Robin: Die wissenschaftliche Illustration, Berlin/Basel/Boston 1 9 9 2 , S. 1 4 2 ; ABB. 5: Gerd K. Binnig, Heinrich Rohren Christoph Gerber, Erich Stoll: Real-Space Oberservation of the Reconstruction of Au(lOO). In: Surface Science 1 4 4 ( 1 9 8 4 ) , S. 3 2 1 - 3 3 5 , hier S. 3 2 3 , Abb. l b ; ABB. 6: Peter Zeppenfeld, C. P. Lutz, D. M . Eigler: Manipulating atoms and molecules with a scanning tunneling microscope. In: Ultramicroscopy 4 2 - 4 4 ( 1 9 9 2 ) , S. 1 2 8 - 1 3 3 , hier S. 1 3 1 , Abb. C.

23

Vergleich als Methode

Β

Abb. 1a, b: Madonna des Bürgermeisters M e y e r von Hans Holbein d.J., 1 5 2 6 , 1 4 6 , 5 x 1 0 2

cm, Städelsches Kunstinstitut Frankfurt a . M . , und Kopie der Holbein-Madonna von Bartholomäus Sarburgh, u m 1635/37, 158,9 χ 103 c m , Gemäldegale-

rie Alter M e i s t e r Dresden. Lan-

ge galt das in der Gemäldegalerie

Dresdner

ausgestellte

Gemälde der Madonna (rechts) als Bild aus der Hand

Hans

Holbeins. Doch als im 19. Jahr-

hundert ein Bild m i t derselben Motivik und Komposition auf-

tauchte (links), entbrannte der „Holbein-Streit" u m die Echt-

heit der Dresdner Version. Die

öffentliche Gegenüberstellung und Diskussion beider Bilder im Rahmen

einer

Ausstellung

1871 entschied den Streit zu-

gunsten des z w e i t e n

Bildes.

Durch die direkte Gegenüber-

stellung w a r e n ein streng formaler und präziser stilistischer Vergleich ermöglicht und eine empirische Vorgehensweise gefördert w o r d e n , die ihre Erkenntnisse auf die Untersuchung von Details, von individuellen Eigenarten der Künstlerhand, M a l w e i s e n und -techniken s o w i e Farbmaterialien stützt und s e i t d e m fester Bestandteil kunsthistorischer M e t h o d e n ist.

Der Vergleich ist allgemein als eine grundlegende Methode zu bezeichnen, die der Orientierung des Menschen in seiner Umwelt, der Unterscheidung (Differenzierung) und Einordnung (Klassifizierung) von Gesehenem und Erlebtem dient. Im Besonderen ist er eine intellektuelle Technik, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zur Anwendung kommt und dabei unterschiedlich vollzogen und bewertet wird (Renz 2006). Während in den Kultur- und Literaturwissenschaften etwa Texte, sprachliche Bilder und Handlungsmuster, Denkstile und Kulturen verglichen werden, geht es in der Kunstgeschichte explizit um den Vergleich von Bildern. Hier beschreibt das vergleichende Sehen eines der zentralen methodischen Paradigmen der Analyse und Argumentation; als solches dient es etwa der Erstellung historischer Ordnungen von Kunstwerken nach Schulen und Epochen, der Identifizierung unbekannter Meister oder der Detektion von „echt" und „unecht" (Abb. 1a u. 1 b). Zugleich spielt das vergleichende Sehen aber auch als Argumentationsmittel bei der Präsentation solcher Er-

24

kenntnisse in Form von Publikationen oder Lichtbildvorträgen eine grundlegende Rolle. In der doppelten Bedeutung des Vergleichs als Analyse- und Argumentationsmittel scheint ein Grund für die Schwierigkeit seiner Theoretisierung zu liegen. Weil das vergleichende Sehen, schon lange bevor sich die Kunstgeschichte als universitäres Fach im 19. Jahrhundert etablierte, zum stillschweigenden Grundwissen, zum „tacit knowledge" (Michael Polanyi) der Kunstschriftsteller und -historiker gehörte (Friedländer 1946) und bis heute als Erkenntnismittel in den Wahrnehmungs- und Beschreibungsformen des Faches selbstverständlich enthalten ist, wurde es nur selten eigens problematisiert. Ausgehend von Heinrich Dillys grundlegenden Untersuchungen wurden in jüngerer Zeit von Seiten der Kunstgeschichte Studien vorgelegt, welche die Bedeutung und Tragweite des Vergleichs als Methode und bei der Herausbildung der Kunstgeschichte als universitärem Fach untersuchten und historisierten - insbesondere

Vergleich als Methode Abb. 2a, b: Seite aus Cicero, Magazin für politische Kultur, März 2008. Die Gegenüberstellung dieser zwei Fotografien erschien im Rahmen eines Artikels des Historikers Götz Aly. Sein Text argumentiert das Vorhandensein direkter Parallelen zwischen dem Aufstieg der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren und der Studentenrevolte von 1968 in Deutschland bzw. Berlin. Beide hätten als „junge" Bewegungen mit „totalitäre^] Sprache und [...] Hang zum gewalttätigen Aktionismus" agiert und eine „Machtergreifung" verfolgt. Diesen Zusammenhang sollen auch die beiden Bilder vermitteln, deren Ähnlichkeit in Bildaufbau und Motivik auf den ersten Blick frappierend ist. Doch wäre zu fragen, ob über die formale Ähnlichkeit der Bilder hinaus die Unterschiede nicht überwiegen: Die Menschen im oberen Bild sind ausschließlich Männer, die unter freiem Himmel mit erhobenen Köpfen und gestreckten Armen einem Ballspiel frönen. Dagegen posieren im unteren Foto Männer, Frauen und ein Kind in geschlossenem Raum mit gesenkten Köpfen und starr gespreizten Armen und Beinen aufgereiht an der Wand und zitieren eher eine Verhaftungsszene. In einer Kritik an dem Cicero-Artikel konnte die taz unter dem Titel „Nackerte Tatsachen" zeigen, dass mit dieser Inszenierung der Bilder deren Kontexte und Entstehungsdaten verschleiert blieben bzw. verfälscht wurden. Das eine Foto hat Thomas Hesterberg nach dem Schahbesuch 1967 von der Kommune I gemacht; bei dem anderen handelt es sich um ein Szenenbild von 1924 aus Wilhelm Pragers Film „Wege zu Kraft und Schönheit", der die Wiedergeburt des Körpers aus der Antike darstellen sollte. Der vorgeführte Vergleich scheint damit in seiner Suggestivität auf den ersten Blick gelungen, erweist sich jedoch auf den zweiten nicht nur formal, sondern auch historisch als unhaltbar.

seine im Auftreten neuer Reproduktionsmedien wie der Fotografie begründeten materiellen Voraussetzungen und deren Zusammenhang mit den Naturwissenschaften (Dilly 1975, Wenk 1999, Reichte 2002, Ratzeburg 2002, Bader 2007). Im selben Zug hat sich die Kunstgeschichte immer wieder selbst den Vorwurf gemacht, vorgezeigte Vergleiche nicht ausreichend zu begründen: Durch das Nebeneinanderstellen von Bildern auf der Basis eines nicht explizit gemachten Kanonwissens oder Bildgedächtnisses würden Traditionslinien oder Verwandtschaften zwischen Bildern aufgezeigt, die mit Hilfe scheinbar „evidenter" visueller Gegenüberstellungen eher implizit geltend gemacht als sprachlich und kontextualisierend hergeleitet seien. Dass es Bilder gäbe, die sich nicht vergleichen lassen, beinhaltet den Vorwurf, dass trotz unüberbrückbarer und als wesentlich erachteter Differenzen, Verwandtschaft behauptet wird, wo die Unterschiede eklatant überwiegen (Geimer 2006). Offenbar gehört es zu den rhetorischen Eigenarten des vorgeführten Vergleichs, dass durch das Nebeneinander-

Zeigen zweier Bilder eher Verwandtschaften als Unterschiede suggeriert werden, ähnlich wie jedes Anordnen von zwei oder mehr Bildern auf einer Fläche oder im Raum eine bestimmte Leserichtung nahe legt ( Bildanordnungen, S. 116), woraus die Gefahr erwachsen kann, „Gleichheit aus Versehen" (Geimer 2009) zu erzeugen (Abb. 2a u. 2b). Es ist jedoch festzuhalten, dass mit dem Nebeneinanderstellen von Bildern - und insbesondere während des Forschens - zunächst prinzipiell offen ist, was dadurch ausgesagt werden soll. Die visuelle Konfrontation zweier Objekte kann grundsätzlich beides: „Verwandtschaft enthüllen" oder „Anders- und Besonders-Sein schärfer herausstellen", „schärfer trennen oder aber näher rücken", wie der Kunsthistoriker Otto Pächt in Methodisches zur kunsthistorischen Praxis dargelegt hat (Pächt 1977). Zudem, hierauf verwies Georges Didi-Huberman, kommt das Potenzial der Montage hinzu, außerhalb der Einzelbilder, die sie zusammenbringt, etwas Neues zu erzeugen (Didi-Huberman 2003).

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Vergleich als Methode

Abb. 3a, b, c: Barockgarten (a), Kläranlage (b) und Platine (c). Das tertium comparationis für den Vergleich dieser drei Bilder liegt weder im gemeinsamen Zeithorizont noch im Motiv oder im Kontext. Vergleichbarkeit ist hier einzig auf der formalen Ebene von Ordnung und Strukturen herzuleiten. In allen drei Bildern verbinden sich runde, eckige und rautenförmige Elemente labyrinthartig durch dünne Linien, die sich in Geraden, Diagonalen oder leicht gekrümmt über die Oberfläche legen. Die Struktur aller Bilder scheint dabei wohlgeordnet und ornamentalen Gesetzen und Logiken zu folgen. Diese Vergleichbarkeit wird durch die den drei Bildern gemeinsame Vogelperspektive und die im Bild vereinheitlichte Größe zusätzlich befördert. Erst das Bildersehen lässt insbesondere den Mikrochip einer barocken Gartenanlage ähneln. Doch können

Pächt hat herausgestellt, dass das, was verglichen wird, sich danach richtet, was mit dem Vergleich erreicht werden soll. Schon das Zusammenstellen von Bildern ist Resultat von Entscheidungen und erfolgt nach Erkenntnisinteressen, welche sehr verschieden sein können. Beim Versuch einer ersten Sichtung und Einordnung bildlichen Materials etwa kann der Vergleich einer ersten Orientierung und dann einer Schärfung des Sehens dienen, was zum Verständnis der Besonderheiten eines Werkes oder einer Werkgruppe führt. Pointiert könnte man festhalten, dass jeder Vergleich der Erhellung eines Bildes durch das Heranziehen weiterer Bilder dient. Wenn dabei dessen Eigenheiten deutlich hervortreten sollen, so bedingt dies, dass - jedenfalls im ersten Schritt - die Distanz des Verglichenen möglichst gering sein muss (Pächt 1977, S. 252). Daraus folgt aber gerade nicht, dass Vergleichbarkeit durch formale Übereinstimmungen einfach gegeben ist. Vielmehr konstituiert sich Vergleichbarkeit durch mindestens eine Konstante, welche als tertium comparationis die Grundvoraussetzung des Vergleichens

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bildet, wobei formale Ähnlichkeit nur ein Kriterium neben vielen anderen ist; Vergleichbarkeit kann ebenso durch ein tertium comparationis begründet werden, das nicht auf der sichtbaren Ebene des Bildes liegt, sondern beispielsweise im gleichen Kontext begründet wird. Weitere Grundlagen des Vergleichs können in diesem Sinne gleiche Entstehungszeit oder -orte, das gleiche Thema oder Motiv oder die gleiche gestalterische Aufgabe sein. Bei derartigen Vergleichen können zwei Bilder nebeneinander gestellt werden, die formal zwei vollkommen unterschiedliche Ergebnisse zeigen, obwohl ihnen ζ. B. die gleiche Gestaltungsaufgabe vorlag. Im Bezug auf technische Bilder erweitert sich das notwendige Spektrum der Vergleichskriterien durch die wissenschaftlichen Kontexte, aus denen die Bilderstammen, die Funktionen, die sie darin übernehmen, sowie die bildgebenden, apparativen Verfahren, mittels derer sie generiert werden. Eine besondere Herausforderung stellen in diesem Zusammenhang Vergleiche von künstlerischen und nichtkünstlerischen Bildern und die Unter-

Vergleich als Methode

derartige Ähnlichkeiten Erkenntnisgewinn bringen bzw. gibt es einen gemeinsamen Grund für diese Strukturen? Auf der Suche nach einer Antwort müsste nach den übergeordneten Anforderungen an die Planung eines zusammenhängenden, vernetzten Systems gefragt werden. In allen drei Fällen standen die Planer vor der Aufgabe, mehrere Funktionen sinnvoll und symmetrisch auf der Fläche anzuordnen, Wege und Leitsysteme optimal anzuordnen. Die formale Ähnlichkeit ist das Bild der jeweiligen funktionalen Vernetzung. Doch während die ornamentalen Strukturen der Gartenanlage von Versailles dem Ideal einer gebändigten Natur entsprechen, bringen Kläranlage und Mikrochip Symmetrien auf der Suche nach einer Optimierung ihrer Planung in einem technischen Sinne hervor.

suchung von Bildwanderschaften, die durch die verschiedenen Disziplinen diffundieren, dar. Auch hier muss der Vergleich immer auf der Grundlage bewusst gemachter Erkenntnisinteressen und ausgewählter Kriterien erfolgen. So sollte, sobald etwa mit einem besonderen Interesse an der absichtlichen oder unbewussten Tradierung und Übernahme von Bildformen ähnliche Bilder zusammengebracht werden, dies zum einen im Bewusstsein der möglichen Differenz zwischen individuellen Assoziationsmöglichkeiten, dem eigenen Bildgedächtnis und dem der Bildhersteller geschehen. Zum anderen ist die formale Nähe immer wieder auch zu anderen Kriterien wie den Funktionen, Kontexten und Herstellungsbedingungen ins Verhältnis zu setzen. Die Möglichkeit eines im Erkenntniswert gescheiterten Vergleichs ist dann genauso gegeben wie das Potenzial des Vergleichs, in der Anschaulichkeit, auch assoziativ, produktive Denkanstöße zu geben und als Ausgangspunkt für neue Überlegungen zu dienen Abb. 3a-c¡. Ob ein Vergleich sinnvoll ist, entscheidet sich möglicherweise erst

in einerweiteren Beschäftigung und eingehenden Untersuchung der zusammengebrachten Objekte bzw. in der auf die öffentliche Präsentation des Vergleichs folgenden Diskussion. Dabei sollte die Gewichtung von Äquivalenzen und Differenzen immer wieder kritisch bestimmt werden. Die Legitimität eines präsentierten Vergleichs schließlich entscheidet sich durch die sprachliche Argumentation, die ihn begleitet. Dazu gehört, dass das jeweilige Interesse an ihm offen gelegt und transparent gemacht wird. (VD)

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Vergleich als Metbode

Literatur und Bildquellen Lena Bader: Imaging Imagery. On the Visuality of Iconic Criticism and

Peter Geimer: Vergleichendes Sehen - Gleichheit aus Versehen. Kon-

the Early Media of Visual Studies in Their Current Meaning. In:

junktur und Grenze eines kunsthistorischen Paradigmas. In: Lena

Slavko Kacunko, Dawn Leach (Hg.): Image-Problem? Medien-

Bader, Martin Gaier, Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen.

kunst und Performance im Kontext der Bilddiskussion, Berlin 2007, S. 67-86. Lena Bader, Martin Gaier, Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen. Erscheint 2009. Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris 2003 [Dt. Fassung: Bilder trotz allem, München 2007], Heinrich Dilly: Lichtbildprojektion - Prothese der Kunstbetrachtung. In: Irene Below (Hg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 153-172. Ludwik Fleck: Die Enstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980 [1935], Max Friedländer: Von Kunst und Kennerschaft, Leipzig 199211946], Max Friedländer: Echt und Unecht. Aus den Erfahrungen des Kunstkenners, Berlin 1929. Peter Geimer: Unwillkürliche Kunstgeschichte. Peter Geimer im Gespräch mit Texte zur Kunst. In: „Kunstgeschichte". Texte zur

Erscheint 2009. Charlotte Klonk, Michael Hatt: Art History. A Critical Introduction to its Methods, Manchester 2006. Otto Pächt: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, München 1977, S. 251 ff. Wiebke Ratzeburg: Mediendiskussion im 19. Jahrhundert. Wie die Kunstgeschichte ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand. In: Kritische Berichte 1 (2002), S. 22-39. Ingeborg Reichle: Medienbrüche. In: Kritische Berichte 1 (2002), S. 40-56. Helga Lutz, Jan-Friedrich Missfelder, Tilo Renz (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006. Silke Wenk: Zeigen und Schweigen. Der Kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion. In: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292-305.

Kunst 62 (Juni 2006), S. 56-71.

Abb.1a,b: Oskar Bätschmann, Pascal Griener: Hans Holbein d. J. Die Darmstädter Madonna, Frankfurt a. M. 1998, Falttafel: Abb.2a,b: Götz Aly: Unser Kampf. 1968. In: Cicero (März 2008), S. 104-108, hier S. 105: Abb.3a: Schloss Versailles, Luftaufnahme der Gärten, 1662-1689, André Le Nôtre, http://earth.google.de, The Geolnformation Group/lnterAtlas 2008 (Stand: 06/2008): Abb.3b: Luftaufnahme der Kläranlage Delmenhorst, Lemwerderstraße, http://earth.google.de, GeoContent/TeleAtlas 2008 (Stand: 06/2008); Abb.3c: Netzteil.pro-Platine zur Stromversorgung der Leistungselektronik eines Computers, Größe: Eurokarte (160 χ 100 mm) http://www.nc-step.de/catalog/images/netzteil.proplatine.jpg (Stand: 06/2008).

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GABRIELE W E R N E R

Bilddiskurse

Bilddiskurse. Kritische Überlegungen zur Frage, ob es eine allgemeine Bildtheorie des naturwissenschaftlichen Bildes geben kann Gabriele Werner Es gibt keine allgemeine Bildtheorie des naturwissenschaftlichen Bildes, aber auch kein anderer Gegenstand ist vergleichbar geeignet, um die Anliegen dieser Universalisierung kritisch zu kommentieren. Unter den Visualisierungen aus den Bereichen der Naturwissenschaften ist schon die Bezeichnung „Bild" für viele Formen der nicht-schriftlichen Wissensvermittlungen wenig mehr als ein Stellvertreterbegriff. Informationen werden über Präparate und Modelle ebenso wie über Diagramme, über Zeichnungen oder über eine Fotografie, über Computergrafiken ebenso wie über Animationen vermittelt, und sie werden von der Wissenschaftsgeschichte als Teil der materiellen Kultur der Wissensproduktion verstanden. Deshalb ist die Funktion dieser visuellen Dokumente, und damit zusammenhängend die Art der Information, die sie vermitteln sollen, abhängig von dem Kontext, in dem sie erscheinen. Sie können Werkzeug oder Lehrmittel, Werbung oder (als historischer Bestand) Kunststück ebenso sein wie Dokumente eines Wissensstreits oder Zeugnisse einer Wissensgeschichte, sie können Vermittlungsobjekte zwischen einem Fachdiskurs und seiner populären Nacherzählung sein oder aber temporären Gebrauchswert in der Zirkulation von Wissen in Laboratorien und Forschungseinrichtungen haben. Es gibt dauerhafte, mittelfristige und flüchtige Wissensträger, abhängig von den materiellen, technischen und technologischen Mitteln der Bilderzeugung. Verändern sich die Mittel der Darstellung, wandelt sich das Aussehen einer Sache - und die Frage, ob sich dann auch die Sache selbst verändert, führt mitten hinein in das Problem.

->• Sichtbarmachung/Visualisierung S. 132

Der vorherrschende Anspruch an naturwissenschaftliche Bilder ist, dass sie keine reinen Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, sondern auf Naturerkenntnis oder Naturbeobachtung verweisen. Von ihnen wird eine begründete Referenz auf eine Theorie, eine experimentelle Praxis, eine Technik oder Technologie und auf einen Wissensdiskurs erwartet, weil naturwissenschaftlichen Bildern und Objekten Evidenz unterstellt wird. Sie zeigen etwas oder machen etwas sichtbar, das sowohl außerhalb ihrer selbst existiert als auch durch sie entsteht. Na-

Bilddiskurse

GABRIELE W E R N E R

turwissenschaftliche Bilder und Objekte repräsentieren, und dies eben nicht nur in der Wortbedeutung des Herstellens, sondern auch des Darstellens, weshalb sie mit der Erwartung gesehen werden, dass die gezeigten Informationen für andere überprüfbar und wiederholbar sowie hinsichtlich ihres gestischen, apparativen und theoriegeleiteten Zustandekommens nachvollziehbar sind. In diesem Sinne sind naturwissenschaftliche Bilder und Objekte immer technisch.1

ι Z u diesem Begriff des Technischen vgl. Werner Rammert: Die Form der Technik und die Differenz der Medien: Auf dem Weg zu einer pragmatischen Techniktheorie. In: Ders. (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a . M . / N e w York 1998, S. 2 9 3 - 3 2 6 .

Stand der Bildtheorien .. Die Fülle der heutigen Bildtheorien lässt sich ohne die sie begleitende Rede über die „turns" nicht verstehen. Der Grund liegt nicht darin, dass es zur rhetorischen Notwendigkeit geworden ist, Bildtheorien mit einem Verweis auf eine ikonische oder piktorale Wende oder eine Wende zur Sichtbarkeit einzuleiten. Vielmehr haben die Erläuterungen dazu, welches Phänomen mit dem jeweils verwendeten Begriff von einem „turn" oder von „Sichtbarkeit" beschrieben werden soll, die Theorien zum Bild hervorgebracht. Während also mit der modischen Rede über eine Wende zum Bildlichen oder zur phänomenologisch verstandenen Sichtbarkeit verkürzend das generelle und unübersichtlich gewordene Anwachsen von Bildmassen beschrieben wird, geht es um weit mehr. Mit den „turns" wird ein Bildbegriff konstituiert, der das Wesen des Bildlichen, das Wesen des Zeigens und des Sehens, vom Denkbaren und somit von Sprache unterscheiden soll. Untrennbar verbunden mit dieser Konstruktion einer fundamentalen Differenz ist ein von der Kunst abgeleiteter Bildbegriff, wie er historisch durch die Phänomenologie und durch die Hermeneutik begründet wurde. Zugespitzt gesagt, sind diese Bildtheorien Kunsttheorien, ebenso wie die historischen und jüngeren Referenzlektüren Bild, Bildlichkeit und Sichtbarkeit am Beispiel des Bildes der Kunst bestimmen. Für die Bestimmung des „iconic turn" wird ein Bildbegriff benutzt, der zentral durch die „ikonische Differenz" definiert ist. Diese geht davon aus, dass zwischen dem Dargestellten und der Darstellung ebenso unterschieden werden muss, wie zwischen dem Bild als materiellem Gegenstand und dem Bild als „Möglichkeitsraum". Das Sehen dieser Unterschiede ermögliche die Wahrnehmung ihrer Interferenzen. Die Kehre ist der argumentative Rahmen, um so über das Bild zu sprechen, dass es Wahrheiten sichtbar macht. 2 Mit dem „pictorial turn" sollte die kulturkritische Beobachtung eines massenmedialen, technologischen Bildzuwachses begrifflich gefasst werden. Er meint aber auch einen darauf bezogenen, positiven Bildbegriff, der das „Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körper und Figurativität" zu umfassen sucht. 3 Zugleich wurde eine Wendung hin zu einem Ideologiebegriff vollzogen, der Ideologie als Adressierungspraxis versteht, die ein Individuum sowohl als „freie Subjektivität" als auch als einer Autorität

2 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders.: Was ist ein Bild, München 1994; Ders.: Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst. In: Hans-Georg Gadamer: Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, München 1996, S. 9 5 - 1 2 5 . 3 W.J.T. Mitchell: Der Pictorial Turn. In: Christian Kravagna: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997.

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Bilddiskurse

GABRIELE W E R N E R

unterworfenes Wesen identifiziert. Bilder erhalten die Macht, ein so verMitchell bezieht sich in seiner Argumentation auf Louis Althusser. Vgl. Louis Althusser.: Ideologie und ideologischer Staatsapparat. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/ Berlin 1977.

standenes Subjekt der „Anrufung" zu erzeugen. 4 „Sichtbarkeit" ist der zentrale Begriff einer wahrnehmungstheoretischen, phänomenologisch fundierten Bildtheorie, die Bilder nicht als Deutungsweisen oder Interpretationen von Objekten der realen Welt, sondern in ihrer Existenz ohne Gegenstandsbezug und ohne Sinnzuschreibung beschreibt. So fügen Bilder der sichtbaren Welt Neues hinzu, und wie in der Theorie vom „iconic turn" kommt es zu einem „Zu-

Anders als bei Gottfried Boehm kann „Zuwachs an Sein" als rein quantitative Vermehrung der Gegenstandswelt aufgefasst werden. Vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005.

wachs an Sein". 5 Die in dieser Zusammenfassung vorgenommenen Verallgemeinerungen verschleifen zwar die durchaus vorhandenen, voneinander unterschiedenen Einzelpositionen, sie pointieren aber auch, wie wenig nützlich vorliegende Bildtheorien, die innerhalb der Erläuterungen zu den „turns" formuliert werden, für naturwissenschaftliche Bilder und Objekte sind. Bildtheorien, die aus dem Bild der Kunst abgeleitet sind, gehen von zweierlei Leiblichkeit aus, derjenigen, die am Zustandekommen des Kunstobjekts, und derjenigen, die an der Wahrnehmung desselben beteiligt ist. Auf dieser Grundlage basiert einerseits die Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Sprachlichen und andererseits die Vorstellung eines Verweises des Bildes auf sich selbst und seine piktoralen Eigenschaften. Das Bild wäre dadurch an Wahrneh-

6 Gemeint ist ebenso die Leugnung „von kommunikativer Wirklichkeitserfahrung (Sprache) und von der geschichtlichen Zeit", wie die Absehung von einem Subjekt „als reale Größe, sprach- und zeitgebunden, zeitgetragen.". Vgl. Konrad Hofmanns Kritik an der Bildhermeneutik: Die Hermeneutik des Bildes. In: kritische berichte, Heft 4 (1986), S. 3 6 , 3 7 .

mungserfahrungen gebunden - mit der Konsequenz, dass dem Bild ein Pseudo-Subjektstatus verliehen wird, so dass es als Handelndes und Wirkendes in die Theorie eingeht. Die Folgewirkung dieser Bildtheorie ist eine negative Medientheorie und -ästhetik - „negativ" verstanden als Negation der Subjektivität. 6 Dies bedeutet nicht, dass Teilaspekte dieser Untersuchungen nicht sinnvoll genutzt werden können, wohl aber, dass es notwendig scheint, mit Blick auf die Grundlegungen der aus den „turns" entwickelten Bildtheorien die allgemeine Rede von einer Wende zur Bildlichkeit aufzugeben.

... und die Folgen für eine Beschreibung naturwissenschaftlicher Bilder und Objekte Wenn es nicht um eine Bildtheorie des Bildes der Kunst geht, stehen naturwissenschaftliche Bilder beispielhaft für eine Diskussion darüber, wie sich Wissen im Bild zeigt, von welcher Art das gezeigte Wissen ist und wodurch es als solches gesehen werden kann. „WahrnehmungskompeKlaus Sachs-Hombach: Bild und Funktion bildhafter Darstellungen. In: Hans Dieter Huber, Bettina Lockemann, Michael Scheibel (Hg.): Bild Wissen - Medien. Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter, München

2002.

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tenz" oder „Bildverstehen" ersetzen dabei die Wahrnehmungserfahrung und werden insofern mit einem Sprachverstehen analogisiert, als dass das Bild, mit der Funktion einen Wissensgegenstand zu veranschaulichen, die Qualität einer dem Begriff nahen Schärfe des Urteilens und der Aussage erfüllen muss, im Sinne eines nachvollziehbaren So-und-nichtanders. Atommodelle,

die DNA-Doppelhelix

sowie

medizinische

GABRIELE W E R N E R

Atlanten wären hierfür Beispiele. Das Bild wird hinsichtlich seiner Deutbarkeit und seiner Form in diesem Argumentationszusammenhang als strukturell kontingent definiert, und dies nicht nur bezogen auf den Forschungsgegenstand - der nicht das Bild ist, sondern über den das Bild informiert oder für den das Bild ein empirischer Beleg ist - , sondern auch bezogen auf die Einschränkung, dass der Normativität und Konventionalisierung der Bildlichkeit durch eine Wahrnehmung Grenzen gesetzt werden, die nur sekundär empirisch und abstrakt ist, primär aber von konkreten Vorstellungs- oder „inneren" Bildern geprägt ist.7 Mit diesem Zugang zum naturwissenschaftlichen Bild wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die wissenschaftliche Sprache prädikativ und propositional ist und dass Begriffe eindeutig sind. Daran wird die Fähigkeit des Bildes zur Aussage gemessen, und zwar nicht in dem Sinne, ob es dazu in der Lage ist, einen Sachverhalt überprüfbar zu illustrieren, sondern ob die visuellen Mittel die allein richtigen sind, um einen Sachverhalt so und nicht anders verständlich zu machen. 8 So ergibt sich ein Theoriengerüst, das zwar durch eine Sprachlogik, jedoch unter Beibehaltung der Trennung von Bildlichkeit und Sprache gebildet wird. Als Beleg dafür, dass es eine Bildlichkeit gibt, die an sich funktioniert und keine verbalisierten Erläuterungen bedarf, werden Piktogramme, geometrische Modelle oder Visualisierungen von Messwerten herangezogen. Eine andere Gegenüberstellung des Kontingenten und des Gegebenen ist diejenige von Darstellungsform und dargestelltem Inhalt. Sie bezieht sich auf die Unbestimmtheit der Illustrationstechnik. Hier nun wird das Bild dadurch dem Sachverhalt untergeordnet, dass es seine Wahrheitsfähigkeit verliert, um im Gegenzug desto deutlicher ein Prinzip zeigen zu können. Die Funktion des Bildes, einen vollständigen und absolut korrekten Nachweis über eine Sache oder einen Gegenstand zu liefern, wird gestört, um idealtypische Zuspitzungen zu ermöglichen. Die wissenschaftliche Zeichnung mit ihren Möglichkeiten des intentionalen oder beurteilenden Eingreifens, wie sie in Medizin und Biologie gebräuchlich sind, gehört zu dieser Bildgattung, die manipuliert, um „wahr" sein zu können.' Festzuhalten ist, dass mit diesen genannten Ansätzen Bildtheorien vorliegen, die das Bild als prinzipiell anders als die Sprache - und nicht allein anders als Text oder Sprechen - zu begründen suchen. Damit wird „dem Bild" ein unabhängiges Sein zugesprochen, dessen Existenz durch eine Wahrnehmung bestätigt wird, deren „Syntax sich nach eigenen Regeln artikuliert". 10 Demgegenüber ist festzuhalten, dass auch eine Bildtheorie, die ein von der Sprache unabhängiges Sein des Bildes zu begründen sucht, ihrerseits in der Sprache stattfindet, somit Produkt von Sprache ist und sich daher selbst bedeutet.11 Für das naturwissenschaftliche Bild wiederum ist seine Entstehung im diskursiven und kommunikativen Prozess sowie die Produktionsbedingungen, die zum Bild führen, unerlässlich mitzubedenken, da sie einen inhaltlich bestimmten

Bilddiskurse S Die Argumentationen setzten sich mit der These von Ernst Gombrich „Bilder können keine Aussage machen" auseinander. Die These Gombrichs findet sich in seinem Text „Bild und Auge Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung", Stuttgart 1984, S. 172. Vgl. Helmut F. Spinner: Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder? Entwurf einer Wissenstheorie des Bildes. In: Huber, Lockemann, Scheibel (s. Anm. 6), S. 195. Er verweist auf die größere Kompromisslosigkeit der Behauptung im 1982 erschienen englischsprachigen Original: „Pictures cannot assert"; Richard Schanz: Die Ordnungen der Bilder - Nelson Goodmans syntaktische Explikationen der Bildhaftigkeit. In: Klaus Sachs-Hombach, Klaus Rehkämper (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, Magdeburg 1999, S. 95; Martin Scholz: Prinzip Hoffnung - Gestaltung technologischer Bilder. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, Magdeburg 2001, S. 228.

Fallstudie Angela Fischel, S. 212 9 Vgl. Martin Scholz: Technologische Bilder. Aspekte visueller Argumentation, Weimar 2000, S. 76. io Zu diesem Begriff vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (Fotomechanischer Nachdruck 1974), S. 58. H Worum es an dieser Stelle geht, ist die argumentationslogische Entstehung von Theorien. In Bildtheorien, die zwischen dem Ikonischen und dem Logischen trennen, um die Eigenständigkeit des Bildes zu begründen, wird Sprache unter das Diktat des behauptenden Sprechens und der Zuschreibung von Wahrheit oder Falschheit eines Aussagesatzes gestellt. Dadurch wird das Bild nicht zum Anderen der Sprache, sondern sprachlogisch der Seite der anderen, aus der Argumenta-

Bilddiskurse

GABRIELE W E R N E R

->· Objektivität und Evidenz, S. 148 tion ausgegrenzten Verwendungsweisen von Sprache zugeschlagen - die in der Sprechakttheorie als performatives Sprechen klassifiziert wird. Nur in der Vereindeutigung dessen, was Sprache gegenüber dem Bild sein soll, kann formal das Bild als eigenständig gesetzt werden, was wiederum bedeutet, dass in der Theorie das Bild an dieser Sprache gemessen wird und als eben dieses nur durch die Sprache entsteht. Was diese Theorien vom Bild schuldig bleiben, ist eine Diskussion der Geschichte all jener Sprachtheorien, mit denen die kognitiven und kommunikativen Verknüpfungen von Sprache und Denken erörtert werden - und weshalb diese für eine Theorie vom Bild irrelevant sind - sowie eine Einbeziehung derjenigen Theorien, die von dem grundsätzlichen Verfehlen von Sprache ausgehen. Z u r Geschichte vgl. Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies.

Kleine

Geschichte

des

Sprachdenkens, München 2 0 0 3 ; zur Kontingenz/Bedingtheit von Sprache vgl. Susanne Lummerding: agency@? Cyber-Diskurse,

Subjektkonstituie-

rungen und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar 2 0 0 5 .

Beobachtungstechnik, S. 178 12 David Gugerli, Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2 0 0 2 . Unter dem Titel „Ganz normale Bilder" sind Beiträge aus den Fachgebieten

Ozeanografie,

Stadtplanung,

Ökologie,

Tourismus, Statistik,

Wirtschaft und Medizin versammelt.

Repräsentationsketten, S. 96 13 Gugerli, Orland (s. Anm. 12), S. 11.

-»• Digitale Bilder, S. 82 14 Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit den Augen denken. Strategien der

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Gegenstand zu sehen geben, dessen Evidenz, Objektivität oder Wahrheitsfähigkeit nicht nur dem historischen Wandel unterstehen, sondern auch dem Prozess wissenschaftlicher Versprachlichung von kommunizierbarem Wissen. So sind es Bildtheorien, die in einer komplexen Argumentation berücksichtigen, wie Technik, Bild und Beobachterinnen gleichermaßen in einen Prozess eingeschrieben sind, in dem Selbstverständlichkeiten, Wirklichkeiten, Evidenzen und Normalitäten kommunikativ erzeugt werden. Technik, besser Visualisierungstechniken, meint hier nicht ausschließlich Technologie oder apparative Technik, sondern auch zum Beispiel den per Hand eingetragenen, täglichen Verlauf einer Fieberkurve.12 Naturwissenschaftliche Bilder funktionieren in dieser Argumentation nicht deshalb, weil ihre visuellen Mittel prädikativ sind, sondern weil es Normierungs- und Standardisierungsprozesse gibt, auf deren Grundlage die Aussagefähigkeit des Bildes beurteilbar wird. Wissen und Erkenntnis werden in einem Gewebe aus Sprechen, Bild und Text konstituiert und vermittelt. Dadurch, dass das Bild nicht als Gegenstand als solcher betrachtet wird, sondern in seinem Kontext, gibt es hier Stichworte wie „veralltäglichen" und „Gewohnheit", die verdeutlichen, dass diese Bildtheorie entschieden nicht vom Bild der Kunst her gedacht ist. 13 Mit ihnen wird angezeigt, wie Neues in Sehgewohnheiten etabliert wird. Sichtbarkeit ist nicht einfach gegeben, vielmehr sind darin „Apparate, Operationsschritte, Entscheidungen und Eingriffe involviert", 14 womit zum Ausdruck gebracht wird, dass sich „Sichtbarkeit" nicht als duales Verhältnis zwischen einem Bild und einer vereinzelten Wahrnehmung beschreiben lässt, nicht als künstliche Präsenz, sondern als Handlung der Sichtbarmachung von etwas bestimmtem. 15 Eine vom Technischen her gedachte Bildtheorie relativiert die leibliche Wahrnehmungserfahrung und den Körper als Beobachtungs- und Messinstrument. 16 Das bedeutet keinesfalls eine Negation des Subjekts, sondern seine Situierung in der produzierenden Hand und im interpretierenden Auge. Unverbunden mit dem Prozess des Handelns zeigt sich in einem Einzelbild das Paradox, dass es scheinbar eine Wirklichkeit zur Erscheinung bringt - und dies umso mehr, je ausgefeilter die Technik oder Technologie ist, mit der diese Bildevidenz konstruiert ist. 17 Eingebunden in Handlungen und in Geschichte, wird deutlich (und dies gilt keineswegs nur für naturwissenschaftliche Bilder), dass sich und wie sich Bilder auf Bilder beziehen, im Sinne einer „endlosen Folge von Darstellungen [...], in welcher der Platz des Referenten immer wieder von einer weiteren Darstellung besetzt wird". 18 Ersichtlich wird, dass der Referent dieser Bilder nicht bildextern begründet sein muss, sondern aus der speziellen Verwendung und Funktion von Bildern resultiert und bei digitalen Bildern in den Messdaten und den Algorithmen der Bildgenerierung liegt. Es gibt also eine medial und diskursiv erzeugte Objektivität, die es ermöglicht, dass sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft über ihren Gegenstand verständigen kann. Eine vom Technischen her

GABRIELE WERNER

gedachte Bildtheorie ergibt, dass die unterschiedlichen Bildsorten nicht nach einem kategorial festgelegten Bildbegriff erfasst werden können, sondern nach den unterschiedlichen Handlungen mit Bildern. Dies meint aber entschieden etwas anderes als „Bildhandeln", denn in diesem Begriff ist noch eine Auffassung eines subjektfreien Agierens des Bildes als solchem, als Substanz und Singularität impliziert. Gerade aber weil es bei naturwissenschaftlichen Bildern um die Erzeugung von (temporären) Bildevidenzen geht, sind Theorien wertvoll, welche die Augenscheinlichkeit nach ihren Bedingtheiten befragt.

Bedingtheiten Wenn Donna Haraway von der „Handlungsfähigkeit" des Wissensobjekts als einer„aktiven Entität" schreibt, so nicht nur aus einer Skepsis gegenüber einer „Repräsentations- oder Dekodierungs- oder Entdeckungslehre", für welche die Welt nichts weiter als Rohmaterial oder Ressource sei. 19 Sie schließt damit ebenso an die Auffassung Bruno Latours an, nach dem das Wissensobjekt als Akteur an der Wissensproduktion teilhat. So wie die Waffe - Latours Beispiel für jedwedes Artefakt - in der Hand eines Menschen erst durch eine Handlung ihre Existenz erhält - und nicht bloß Material ist, so bewirkt die Waffe, von welchem Menschen genau in welchem - beide situierenden - Kontext die Rede ist. 20 Kontext, dass meint bei Latour Institutionen, mit Bezug auf Michel Foucaults Dispositive, oder auch Netzwerke. Netzwerke haben bei Latour die besondere Eigenschaft, Ort der Veränderung und der Übersetzungen zu sein, wodurch Wissensobjekte nicht bloß als Informationen in sozialen Systemen weitergereicht werden, sondern als aktive Entitäten diese auch organisieren und regulieren. Naturwissenschaftliche Bilder in diesem Sinne als Wissensobjekte verstanden, entziehen sich also in vielerlei Hinsicht einer Bildtheorie, die auf der Binarität von Sein und Wesen des Bildes aufruht, sie entziehen sich auch einer Subjektkonstituierung, welche ein immer gleiches, fixierbares Subjet der Wahrnehmung für ein Bild-Sehen zur Voraussetzung hat. Und schließlich entziehen sie sich einer Subjekt/ObjektKonstellation, wie sie auch die Notwendigkeit der Analyse von Dispositiven und Netzwerken mit sich tragen.

Bilddiskurse Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/ N e w York 2001, S. 9. 15 Karin Knorr Cetina: „Viskurse" der Physik: Konsensbildung und visuelle Darstellung. In: Heintz, Huber (s. Anm. 14), S. 308 f. Vgl. hierzu auch: Soraya de Chadarevian: Sehen und Aufzeichnen in der Botanik des 19. Jahrhundert. In: Michael Wetzel, Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 121-144. 16 Lorraine Daston, Peter Galison: The Image of Objectivity. In: Representation 40, Fall (1992), S. 81-128. 17 Dies entspricht dem „Disjunktionsprinzip der naturwissenschaftlichen Darstellung": „Je natürlicher ein Gegenstand in der Wiedergabe erscheint, desto stärker wurde sein Bild konstruiert." Vgl. Horst Bredekamp, Angela Fischel, Birgit Schneider, Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens. In: „Bilder in Prozessen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,1 (2003), S. 9 - 2 0 , hier S. 15. 18 Hans Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2002 (2. Aufl.), S. 112. 19 Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer Perspektive. In: Elvira Scheich (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1996, S. 238. 20 Vgl. Bruno Latour: Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M . 2002, S. 2 1 8 . Vgl. auch Bruno Latour: On recalling ANT. In: Jahn Law, John Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford 1999, S. 1 5 - 2 5 .

35

Bildbeschreibungen

Interview mit HORST BREDEKAMP

1611.

Bildbeschreibungen. Eine Stilgeschichte technischer Bilder? Ein Interview mit Horst Bredekamp Das Gespräch fand im Anschluss an eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen „Stil" und „Form " zwischen den Mitarbeitern der Abteilung „Das Technische Bild" und Horst Bredekamp im Jahr 2007 statt. Um den nach wie vor offenen Charakter der Diskussionen um die Stilfrage beizubehalten, hat sich die Redaktion entschieden, die Form des Interviews für dieses Buch beizubehalten.

ι „Bilder in Prozessen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,1 ( 2 0 0 3 ) , S. 1 1 0 .

Das Technische Bild: Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat in einem Interview mit den Bildwelten des Wissens eine Stilgeschichte naturwissenschaftlicher Bilder mit dem Argument abgelehnt, dass damit die divergenten Probleme und Phänomene der Wissenschaftsgeschichte über einen Kamm geschert würden.1 Mit der Kategorie „Stil" könne insbesondere die Berücksichtigung des nicht-visuellen Bereichs dieser Geschichte nicht geleistet werden. Seitdem sind ein paar Jahre vergangen, in denen wir den Stilbegriff für unsere Betrachtung wissenschaftlicher Bilder methodisch weiter benutzt und geschärft haben. Die Leitfrage lautet nach wie vor: Kann es eine Stilgeschichte technischer Bilder geben? Zu Beginn die Frage: Was verstehen Sie unter Stil?

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Bildbeschreibungen

Horst Bredekamp: Unter diesem Begriff verstehe ich die erkennbar gemeinsamen Züge einer überindividuellen Formgebung. Es müssen daher zwei Elemente im Spiel sein: mindestens zwei gestaltende Personen und wenigstens zwei Werke, die, obwohl unabhängig voneinander entstanden, sich dennoch so ähnlich sind, dass Gemeinsamkeiten der Formgebung evident werden. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner einer kunsthistorischen Definition von Stil. Das Technische Bild: Ist diese Definition oder zumindest das Operieren mit ihr heute nicht überholt? Horst Bredekamp: Nein, denn der Stilbegriff hat sich dem längst gestellt. Die lineare Vorstellung der Stilentwicklung ist bereits früh zugunsten eines komplexen In- und Gegeneinanders von Stilen verabschiedet worden; so ist die Formel von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" eine kunsthistorische Prägung des Jahres 1926. 2 Seither ist der Stilbegriff immer stärker differenziert worden, so dass er eine neue Tauglichkeit beanspruchen kann.3 Das Technische Bild: Wie unterscheidet er sich vom herkömmlichen Stilbegriff der Wissenschaftsgeschichte? Horst Bredekamp: Für diese ist der Begriff „Stil" eher ein Element der weiter gefassten Mentalität, wie ihn Ludwik Flecks „ Denkstil " entwickelt hat.4 Der Denkstil zielt ebenfalls auf Allgemeines, Überindividuelles, indem er einen Rahmen benennt, der die Möglichkeit des Denkens zeigt und zugleich begrenzt. Es handelt sich um gemeinsame Fragestellungen und Perspektiven, die zu einer mentalitätsgeschichtlichen Gemeinsamkeit abstrahiert werden können. Stil im kunsthistorischen Sinn zielt jedoch auf eine Form, auf eine Materialität, verlagert also das Problem des Stils aus der psychologisch-mentalen Verfasstheit in die gewordene Gestalt. Und dies ist der Kern unserer Fragestellung: Ob es in der naturwissenschaftlichen Produktion einen Stil gibt, der sich überindividuell erkennbar in den gestalteten Gebilden zeigt - den präparierten Objekten, den Instrumenten, den Bildern? Ist ein solcher zu erkennen, ist in strengem Sinn bewiesen, dass Bilder niemals, auch und gerade nicht in der Naturwissenschaft, illustrieren, sondern dass sie die Darstellung eines Gegenstandes mit ihrer eigenen Geltungsgeschichte verschmelzen. Das Technische Bild: Nun spielt die gewordene Form auch in der wissenschaftshistorischen Betrachtung eine große Rolle. Zielte beispielsweise Hagner nicht auch auf diese ab, indem er die Störung und den Schmutzeffekt thematisierte Abb. 1 ? Horst Bredekamp: Damit verlagerte er die gemeinsame Gestaltung in das nicht-individuell geprägte Gerät, das nicht-intendierte Spuren

2 Wilhelm Pinder: Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926, S . l - 1 2 . 3 Robert Suckale: Die Unbrauchbarkeit der gängigen Stilbegriffe und Entwicklungsvorstellungen. In: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. v. Peter Schmidt und Gregor Wedekind, Berlin 2 0 0 3 , S. 2 8 7 - 3 0 2 . 4 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, neu hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980 (Erstveröffentlichung 1935).

Bildbeschreibungen

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ABB. I: M i k r o f o t o g r a f i e n von Bakterienzelldünnschnitten, 1 9 6 0 . Die deutlich sichtbaren, d u n k l e n A r t e f a k t e der P r ä p a r a t i o n w u r d e n lange irrtümlich als spezielle Zellorganellen, M e s o s o m e n , identifiziert.

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Interview mit HORST BREDEKAMP

Bildbeschreibungen

erzeugt. Ich würde diese maschinell sich ergebende Störung nicht unmittelbar dem zurechnen, was wir unter dem Stil als einer möglichen Gemeinsamkeitsform verstehen. Als Stimulanz einer neuen Bildform aber kann sie stilbildend wirken. Das Technische Bild: Als Begründung für gleichzeitig auftretende Ähnlichkeiten wurden in der Stilgeschichte oft Begriffe wie der „gemeinsame Kulturkreis" oder das „Milieu", ein geteilter „Zeitgeist" oder ein „Paradigma" genannt. Alois Riegl gebrauchte den Begriff des „Kunstwollens". Was soll mit dem Begriff des Stils beschrieben werden? Würden Sie sagen, dass Stil „Symptom" für Etwas ist? Horst Bredekamp: Ja. Riegls und Worringers Begriff des „Kunstwollens" ist hier ebenso von Bedeutung wie die Wölfflinschen „Grundbegriffe" oder auch die Warburgsche „Pathosformel". All diese um und nach 1 9 0 0 unternommenen Versuche einer überindividuellen Bestimmung der visuellen Gestaltung sind bis heute maßgeblich geblieben. Auf sie beziehe ich mich, wenn ich den Stil nicht als Ausdruck von etwas hinter, über oder neben ihm Stehenden, ihn Umrahmenden sehe, sondern ihn selbst als den Miterzeuger der Mentalität betrachte, als deren Emanation er später erscheint. Es kann nicht stark genug betont werden, dass der Stil keinesfalls die Illustration einer Mentalität oder eines gemeinsamen Gedankensystems darstellt, sondern vielmehr den Teil einer Spindel, die zwischen Formung und Bewusstheit hin und her saust, um derartige Kollektive erst zu erzeugen. Dies nannte Riegl „Kunstwollen". Ohne die aktive Bestimmung des Stils wird jede naturwissenschaftliche „Illustration" nur das Abziehbild einer andernorts vorgenommenen Denkbewegung. Das Technische Bild: Aber entsteht nicht jeder Gedanke im Kopf? Horst Bredekamp: Natürlich, aber was ist der Kopf ohne Körper? Die Entkörperlichung versucht ein falsch verstandener Piatonismus in immer neuem Gewand auszubreiten. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Gedanke durch die Prägung des Stoffes unmittelbar mitgestaltet wird, so dass auch die Finger als Denkorgane anzusprechen sind. Deshalb ist Stil auch kein „Symptom", sondern Movens; er drückt eine Denkform aus, die er gestaltend erzeugt. Hierin liegt seine so provokante wie fruchtbare Paradoxie. Aus diesem Grund insistiere ich auf der Konkretion der Bildbeschreibung und der materiellen Bestimmung der Form. Dies ist kein äußerlicher Vorgang, sondern beschreibender Nachvollzug einer Gedankenfindung. Das Technische Bild: Also ist Stil für Sie eher durch Beschreibung als durch Deutung erfassbar?

Bildstörung, S. 164

Bildbeschreibungen

Interview mit HORST BREDEKAMP

Horst Bredekamp: Stil erschließt sich in fundamentaler Weise aus dem morphologischen Vergleich. Erst wenn große Mengen von Objekten auf dem Tisch, auf dem Screen oder auf anderen Trägern zusammenkommen, um diese vergleichen zu können, kann eine gemeinsame Gestaltung erschlossen werden, die dann Stil genannt werden kann. Erst danach stellt sich die Frage, was dieser Stil trägt und welcher Deutung er sich öffnet. Ist er Ausdruck von Mentalität, hat er Ähnlichkeit mit ihr oder bettet er diese ein? Meines Erachtens trifft letzteres zu. Er unternimmt, und dies ist die nicht zu überbrückende Differenz zur „Mentali-

Vergleich als Methode, S. 24

tät", ein Außenspiel, er agiert in der Denkform der Gestaltung, und darin ist er übergeordnet. Das Technische Bild: Warum betonen Sie den Aspekt des Uberindividuellen so stark? Ließen sich nicht auch für ein Individuum mehrere Bilder miteinander vergleichen und ein Stil für eine Person ablesen? Horst Bredekamp: Ja, das wäre der englische style, die Art der Gestaltung, des Sich-Gebens, des Umganges mit anderen Menschen, der LeABB. I:

„Präparat-Skulptur":

Gehirnab-

zess, Feuchtpräparat, o . J . , 2 1 χ 18 χ 7 , 5 cm,

Berliner

Medizinhistorisches

Museum der Charité.

bensführung. In unserem Sinn aber kann dieser style erst Stil werden, wenn andere Personen ein vergleichbares Verhalten zu einem überindividuellen Spezifikum machen, aber nicht im Sinne von Habitus, sondern aktiver Gestaltung. Das Technische Bild: Wo würden sie den Maßstab setzen, ab wann ist von einem Stil zu sprechen - bereits anhand einer Gruppe von fünf Bildern oder müssen es weitaus mehr sein? Oder anders gefragt: Wo hört die Individualität auf und wo fängt der Stil an? Horst Bredekamp: Wann ein Stil beginnt und wann die individuelle Prägung aufhört, ist an die Erfahrung desjenigen, der den Stil analysiert, geknüpft. Es wird nie einen eindeutigen Maßstab geben, aufgrund dessen ein Stil als solcher zu definieren ist. Die Erfahrungen der Archäologie und Kunstgeschichte lehren, dass jeder Stil immer an den Grenzen seiner Geltung im Rahmen von Stilvielfalt diskutiert wird. Das Technische Bild: Die Suche nach Stilen setzt immer ein Deutungsraster voraus, das vor jeder Betrachtung vorhanden sein muss. Andererseits betonten Sie immer wieder die notwendige Voraussetzungslosigkeit in der Formbetrachtung. Wie geht man damit um?

ABB. 3:

Hertelsches

Mikroskop,

nach

1 7 1 6 , Höhe: 3 9 cm, Hessisches Landesmuseum Darmstadt.

40

Horst Bredekamp: Das ist die entscheidende Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Gegenstandes. Wir befinden uns zwar in einem hermeneutischen Zirkel, der auch ein Teufelskreis ist. Es gibt aber keine Alternative, als ihn zu durchbrechen. Wir setzen auf eine Naivität, die wir selbstverständlich nicht mehr haben, die wir aber aufrufen müssen, um immer neu beginnen zu können. Wir sind ausgebildet, haben unser

Bildbeschreibungen

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Vorbewusstsein und bringen einen radikal anderen Erfahrungshorizont als beispielsweise ein Hafenarbeiter in Yokohama mit. Angesichts dieser Ausgangstage ist es unerlässlich, die Form im ersten Zugang in einer radikal „naiven" Phänomenologie zu beschreiben. Um den hermeneutischen Zirkel aufzubrechen, muss man zunächst mit äußerster Präzision adjektivlos zu beschreiben verstehen: im Stil gleichsam der Neuen Sachlichkeit. Eine Alternative zu dieser Art des ersten Zuganges gibt es meines Erachtens nicht. Das Technische Bild: Woran kann Stil hinsichtlich technischer Bilder festgemacht werden? Horst Bredekamp: Theoretisch könnte man den Stil auf verschiedenen Ebenen ansiedeln. Es würde beim Präparat beginnen, das unter bestimmten Gegebenheiten in vergleichbarer Weise hergestellt, zugerichtet und bereitgestellt wird. Hier handelt es sich um die erste, überindividuelle Schulung in der Gestaltung des zu untersuchenden Gegenstandes. Hier wird man Stile des Umgangs mit dem Primärmaterial erkennen können, das aus dem Präpariermaterial, wenn es ein dreidimensionales Gebilde ist, eine Skulptur macht Abb. 2). 5 Hans-Jörg Rheinberger hat diese Schule der Forschung in der Wissenschaftsgeschichte begründet.6 Die zweite Ebene nehmen die technischen Mittel ein, also die Vergleichbarkeit der Linsen im Teleskop oder Mikroskop, des technischen Standards der Kamera, welche die Gegenstände aufnimmt, der aufwendig gestalteten Mikroskope etwa, die einen ähnlichen Erkenntnisstil im materiellen Sinn ermöglichen Abb. 3). Die dritte Ebene wäre das, was üblicherweise die „Illustration" genannt wird. Hier beginnt die Stufung wieder von unten, in der scheinbar mechanisch-passivischen Darstellung einer Fotografie genauso wie in einer Zeichnung. Aus dem Abstand von hundert Jahren wird man die Darstellungen der Nanoforschung auf

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5 Angela Matyssek: Rudolf Virchow, das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900, Darmstadt 2 0 0 2 (= Schriften aus dem Berliner Medizinhistorischen Museum, Bd. 1).

Beobachtungstechnik, S. 178 6 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate „Bilder" ihrer selbst. Eine bildtheoretische Glosse. In: „Oberflächen der Theorie". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,2 (2003), S. 9 - 1 9 und Ders.: Die Evidenz des Präparates. In: Spektakuläre Experimente: Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig, Berlin/New York 2 0 0 7 , S. 1 - 1 7 .

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ABB. 4: Rastertunnelmikroskopisches Bild der späten 1980er Jahre.

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Bildbeschreibungen

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einen Blick auf zwei oder drei Jahre genau datieren können (Abb. 4 ; in Bezug auf die fraktale Mathematik gilt das gleiche. Diffiziler wird es in Bezug auf die tätige Hand. Wenn es gelingt, in der handgeformten Gestalt einen überindividuellen Stil zu erkennen, dann wäre gesichert, dass auch und gerade die naturwissenschaftliche „Illustration" nicht etwa das passive Derivat von Forschungsergebnissen, sondern etwas konstruktiv erzeugtes Eigenes ist. Die medizinische Abbildung ist voll von derartigen anatomischen Darstellungsstilen. Meine Beschäftigung mit 7 Vgl. Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond, die Sonne, die Hand, Berlin 2007.

Galilei zielt auf diesen Kern. Er ist offenbar die paradigmatische Figur, die über die spezifische Fähigkeit der Hand eine eigene Epistemologie der Erkenntnis durchgesetzt hat. 7 Das Technische Bild: James Elkins etwa spricht von „kubistischer Kris-

James Elkins: The Domain of Images, Ithaka/London 1999, S. 2 0 - 2 7 .

9 Nature 25, April (1953), S. 737.

tallografie". 8 Wäre eine solche stilistische Zuordnung für Sie interessant? Horst Bredekamp: Ich würde hinzufügen, dass eine eigene Nomenklatur entwickelt werden müsste. James Elkins behandelt eine andere Frage, nämlich inwieweit der Bereich des manuellen Darstellungsstils mit der künstlerischen Prägung der Zeit in Verbindung zu setzen ist. In diesem Sinn glaube ich beispielsweise kaum, dass die Darstellung der Doppelhelix durch Odile Crick, die Künstlerin war, ohne die Mobiles von Alexander Calder denkbar gewesen wäre; dies gilt insbesondere für das gebaute Modell. 9 Ein anderes Beispiel wären Heinz-Otto Peitgens Fraktalbilder Abb. 5). Bei ihnen spielt die Erfahrung der psychedelischen Diskotheken und Plattencovers und der Nach-68er-Popkultur der 70er Jahre offenkundig eine Rolle. Auf diese Weise kann man systematisch

ABB. 5: Fraktalbild, Heinz-Otto Peitgen, publiziert 1986.

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Stile der Kunst suchen. Ich empfinde den Nachweis derartiger formaler Übersprünge aber als eine Spur zu einfach. Das Technische Bild: Welche Begrifflichkeiten würden sie dem entgegensetzen? Horst Bredekamp: Ein lohnendes Ziel sollte darin liegen, analog zu Wölfflins Begriffspaaren „offen - geschlossen", „linear - malerisch", „tiefen— oberflächenmäßig" autonome Darstellungsprinzipien und Begriffe im Feld der Naturwissenschaften zu finden. Dann wäre der Begriff des Stils erst wirklich am Platz. Erforderlich wäre die Schärfe von Worringers Abstraktion und Einfühlung,10 das anhand dieser zwei Begriffe, die sich an Formen orientierten, eine fundamentale Epochenkritik vortrug. Dies geht tiefer als etwa die Rede von einem „kubistischen Darstellungsstil". In ähnlich kalter Begriffswut und in derselben neutralen Präzision, in der Wölfflin seine bipolaren Formbegriffe entwickelte, müssten die überindividuellen Prägungen des Stils in den Naturwissenschaften bestimmt werden.

io Wilhelm Worringen Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsy^ ° ^ e o i j D l s s e r t a t , o n 1907) > M ü n "

Das Technische Bild: In der Beschreibung dessen, was das Projekt „Das Technische Bild" ausmacht, sind wir immer wieder damit konfrontiert, dass es uns mit dem Fokus auf den „Eigenwert der Bilder" auch um einen „Überschuss" geht. Zielt eine so gefasste Stilkategorie auf einen solchen „Überschuss"? Horst Bredekamp: Die Stilkategorie meint in der Tat den Kern des Denkens im Überschussbereich des Gestaltens. Sie zielt auf den konstruktiven Charakter der naturwissenschaftlichen Welten. Daneben gibt es die Prägekraft der Inhalte, also der gestalteten Inhalte oder Motive, die über die Zeiten hinweg wiederkehren und sich immer neu als Surplus der Bildgeschichte in Darstellungen einschleichen.11 Hierin liegt die konstruktive Kraft der Geschichte von semantisch besetzten Formen im ikonografischen Sinne. Der Stil geht jedoch durch den Inhalt hindurch, um diesem eine höhere Geltung zu geben. Dies hatte Erwin Panofsky im Sinn, als er die Ikonologie der stilistisch-mentalen Kontextforschung als Wesensbestimmung des Kunstwerkes definierte.12 Die Bilder der frühen Rastertunnelmikroskopie, wie Jochen Hennig sie erforscht hat, treffen den zentralen Punkt dieser Axt Stilbegriff. Sie nahmen ihren Anfang in einer Beobachtung, dann gab es eine Fragestellung, diese wurde handwerklich im Kleben und Bauen des Modells zu einer Vergewisserung, die schließlich eine eigene Gravitation entwickelte. Mit dieser gewachsenen Konstruktion bekamen die frühen Nanobilder nun - indem ein Zweiter diese Form sieht, begeistert ist, etwas ähnliches versucht, ein Dritter dazu kommt, vergleicht und eine Anspruchslogik in Bezug auf die Darstellung von Nanowelten entwickelt - einen Stilcharakter. Und sie wurden zur conditio sine qua non des Nachdenkens über Nanogegenstände.

I i Vgl. etwa Stefan Ditzen: Der Satyr auf dem Larvenrücken. Zum Verhältnis von instrumentellem Sehen und Bildtraditionen. In: Martina Hessler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der frühen Neuzeit, München 2006, S. 4 1 - 5 6 .

-»• Ikonologische Analyse, S. 48 -*• Fallstudie Jochen Hennig, S. 86 iz Erstmals vor der Kieler Sektion der Kantgesellschaft im Jahre 1929. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der Bildenden Kunst. In: Logos, 21 (1932), S. 1 0 3 - 1 1 9 . Wiederabdruck in: Ders.: Deutschsprachige Aufsätze I, II, hg. v. Karen Michels und Martin Warnke, Berlin 1998, Bd. II, S. 1 0 6 4 - 1 0 7 7 .

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Das Technische Bild: Wenn Sie davon sprechen, dass mehrere Forscher eine visuelle Form miteinander abgleichen, bedeutet das, dass die Frage nach dem Stil auch den Aspekt der Kommunikation berücksichtigen muss? Horst Bredekamp: In der Regel ist der persönliche Kontakt entscheidend. Ebenso ist aber möglich, dass es bei Personen zu Ähnlichkeiten kommt, die sich im selben Zeithorizont, aber auf anderen Erdteilen befinden. Es gibt also beides: die kommunikativ eintrainierte, durch Austausch begründete Darstellungsspezifik und die an verschiedenen Orten auftretende Gleichförmigkeit.

13 Vgl. Christoph Hoffmann: Die Dauer eines Moments. Zu Ernst Machs und Peter Salchers ballistisch-fotografischen Versuchen 1886/87. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M . 2 0 0 2 , S. 3 4 2 - 3 7 7 , hier S. 352 und Christoph Hoffmann, Peter Berz (Hg.): Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschossfotografien, Göttingen 2 0 0 1 .

Das Technische Bild: Im Fall etwa der Geschossfotografien von Ernst Mach kann argumentiert werden, dass Stilkategorien hier peripher seien oder gar vollständig obsolet würden Abb. 6). Als diese Bilder zum ersten Mal auftauchten, war es selbst für die Hersteller noch unklar, wie diese Form einzuordnen und zu deuten sei.13 Hier tauchte eine Spur von etwas auf, von dem noch nicht klar war, ob es sich um eine Störung, um das Material selbst oder um eine Einschreibung von etwas anderem handelte. Das Bild war ohne Traditionen und konnte deshalb auch nicht eingeordnet werden; es war nicht einmal klar, wo sich oben und unten befanden. Ein technisches Bild, könnte man sagen, widerfährt den Experimentatoren ohne Voraussetzungen, um dann Folgehandlungen nötig zu machen. Wie kann man dieses Charakteristikum hinsichtlich eines Stils wissenschaftlicher Bilder fassen? Ist der Stilbegriff hier nicht fehl am Platz?

ABB. 6: Fotografien von überschallschnellen Geschossen und der von ihnen in der umgebenden Luft hervorgerufenen Phänomene. Aufnahmen aus der ersten Versuchsserie Ernst Machs und Peter Salchers, vermutlich Mai/Juni 1886. Mach hatte diese Abzüge auf den Sonderdruck der Anzeige geklebt, in der er über die ersten gelungenen Aufnahmen berichtete. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht klar sagen, auf welche Ursachen genau die verschiedenen Phänomene in den Bildern zurückzuführen waren. Durchmesser der kreisrunden Bildausschnitte: ca. 7 mm.

Horst Bredekamp: Ich würde hier ähnlich wie auf die von Hagner angeführten Störungsbilder antworten. Ein „erstes Bild" kommt scheinbar so voraussetzungslos aus dem Nichts, dass sich die Frage nach dem auf Vergleichbarkeit angewiesenen Stil zunächst ausschließt. Das „erste Bild" hat keinen „Stil". Es gewinnt erst dadurch Stilcharakter, dass es

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als „Ikone" eine überindividuelle Attraktion erfährt, an verschiedenen Orten ähnliche Bilder provoziert und auf andere Themen überspringt, wie es der Geschossfotografie geschehen ist Das Technische Bild: Welche Stile technischer Bilder können Sie benennen? Würden Sie beispielsweise sagen: „der galileische Stil" oder würden Sie die Nanobilder, über die wir vorhin gesprochen haben, als „Nanostil" bezeichnen? Horst Bredekamp: Das Ziel sind eigene Begriffe; aber bereits die Wölfflin'schen Kategorien sind vorzüglich zu nutzen. Den frühen Nanobildern wäre in diesem Sinn ein malerischer Stil zu attestieren, da ihre Oberflächen weich wie Watte wirken, Übergänge verschliffen werden und die Illusion von Wellen oder Abhängen entsteht. In Bezug auf den Konflikt zwischen Christoph Scheiner und den Sonnenfleckenbildern von Galileo Galilei und Lodovico Cigoli würde ich vom Gegensatz zwischen einem Konsistenzstil und einem Diffusionsstil sprechen. Scheiner entwickelt über dreißig Jahre hinweg einen Konsistenzstil (Abb. 7b); er will zeigen, dass die Sonnenfleckensterne zwischen Sonne und Erde vorbeischweben. Galilei und Cigoli dagegen entwickeln einen Diffusionsstil (Abb. h , der zu zeigen versucht, dass die Flecken der Sonne auf der Sonne als Nebel, als schwer definierbare Gebilde, sitzen. Im Wechselspiel zwischen Sehen, Darstellen und Erkennen trainiert sich die Hand. Die ersten schwarzen Punkte bei Galilei sind noch sehr konsistent, als wären es feste Körper, aber am Ende der Serie benutzt er plötzlich den Pinsel; er wechselt von der Feder, die genaue Punkte eintrug, zum aquarellierenden, diffundierenden Eintrag.

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ABB. 7A, B: Sonnenflecken im stilistischen Vergleich: Galileo Galileis „Diffusionsstil" zeigt sich links in seiner Beobachtung der Sonnenflecken vom 1 . 5 . 1 6 1 2 , die er mit feinen Abstufungen und Lasuren wiedergibt. Dagegen ist der „Konsistenzstil" Christoph Scheiners im Medium des Kupferstichs durch klar abgegrenzte Formen gekennzeichnet. Seine Beobachtung der Sonnenflecken stammt vom 3 0 . 1 0 . 1 6 1 1 , der Stecher war Alexander Mair.

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Das Technische Bild: Könnten Sie nicht anstatt „Konsistenzstil" und „Diffusionsstil" genauso gut „linear" und „malerisch" sagen, also das Wölfflin'sche Begriffspaar auch hier verwenden? Horst Bredekamp: Ein guter Punkt. „Linear" könnte jedweden Gegenstand bezeichnen, wohingegen der Konsistenzstil semantisch bereits stärker auf einen Gegenstand zielt. Scheiner wollte durch seinen Stil die Konsistenz der Materie darstellen, er beauftragte damit den Stecher Alexander Mair. Galilei wollte durch seinen Diffusionsstil genau umgekehrt das Diffundierende des Phänomens zeigen. Formal gesehen deckt sich das mit „malerisch" und „linear", aber mit den gewählten Begriffen wollte ich diese zwei Darstellungsweisen auf die Konfliktlage hin zuspitzen, denn in ihr spielt der Gegensatz zwischen dem Körperlichen, Konsistenten und dem Offenen, Wabernden der dargestellten Materie die zentrale Rolle. Aber vielleicht ist mein Begriffspaar bereits zu suggestiv, zu sehr an seinen Gegenstand gebunden. Das Technische Bild: Spielt die künstlerische Ausbildung eine Rolle? Horst Bredekamp: Galilei war ein ausgebildeter, vorzüglicher Zeichner. Sein Freund Cigoli war gefeierter Hofmaler der Medici. Sie haben zusammen geübt und sich gegenseitig kommentiert. Aber wie sind Personen zu bewerten, die nicht zeichnen konnten, wie etwa Leibniz und Darwin? Meines Erachtens wird in jedem Fall in der Bewegung der Hand die Bedingung sichtbar, dass die individuelle Gestaltung von überindividuellen Prägungen durchsetzt ist. Insofern haben auch die Kritzeleien von Leibniz und Darwin „Stil". Das Technische Bild: Was ist mit der Möglichkeit gewonnen, zwei unterschiedliche Stile identifizieren zu können? Horst Bredekamp: Zunächst ist es ein Wert an sich, die Präzision der Gestaltung im Vergleich zu bestimmen. Die zweite Ebene liegt darin, dass Scheiners Konsistenzstil auf kompakte Gebilde abzielt, während Galilei Wolken und Nebel im Sinn hat. Der unterschiedliche Stil objektiviert die Differenz der Gegenstände. Auf der nach dem ikonologischen Modell dritten Ebene verbinden sich mit den konkurrierenden Darstellungsweisen geradezu Weltbilder, insofern Scheiner mit seinem Konsistenzstil die überkommene Kosmologie zu retten versucht und Galilei mit seinem Diffusionsstil den Aristotelismus aus den Angeln heben will. Galilei hat die Diffusionsgebilde seiner Sonnenflecken gegenüber Maffeo Barberini als „Endgericht" des Aristotelismus bezeichnet. Der Stil der Zeichnung verabschiedet zweieinhalbtausend Jahre Kosmologie! Im Stil entschied sich das Weltbild der Antike. Das ist nicht wenig.

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Bildbeschreibungen

Das Technische Bild: Die Kategorie des Stils, wie Sie ihn beschreiben, tritt dem positivistischen Methodenideal, wie es in den Naturwissenschaften an vielen Orten gepflegt wird, entgegen. Die Suche nach Stilen bekommt hier etwas Entlarvendes, indem gerade auch Bildern, die als objektive Spur und Dokumentation von Ereignissen oder als Ergebnis eines Experiments als objektiv präsentiert werden, die voraussetzungslose Objektivität zugunsten einer stilgeprägten Bildtradition aberkannt wird. Wir selbst kennen manche skeptischen Reaktionen von Naturwissenschaftlern, die unsere Arbeit bisweilen entweder als bedeutungslos oder auch als feindlich bewerten. Wie geht man mit diesen Reaktionen um? Horst Bredekamp: Die Rhetorik der Entlarvung ist eine Grube, in der wir uns nur selbst begraben würden. Es geht vielmehr um den Versuch, die Komplexität der Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Bereich zu erhöhen. Bilder sind eine Herausforderung an das positivistische Verständnis von Naturwissenschaft. Bis vor dreißig Jahren waren Bilder und Naturwissenschaften eher Gegensätze, weil vorausgesetzt wurde, dass sie subjektive Einschüsse haben, also dem Objektivitätsgebot per se widersprechen. „Das Technische Bild" sucht in dieser vermeintlichen Schwäche eine Stärke zu erkennen. Wenn die naturwissenschaftlichen Bilder eine Stilgeschichte besitzen, ist der Beweis geführt, dass Bilder den Gegenstand, den sie abbilden, auch aus ihrer eigenen Sphäre heraus konstruieren. In einem solchen Fall aber müsste es im Interesse der Naturwissenschaften selbst sein, die Komplexität, Schönheit und Anarchie von Bildern als eigenständige Größe in ihr Kalkül mit einzubeziehen. In dieser Hinsicht bin ich heute weitaus optimistischer als noch vor fünf Jahren. Es liegt so abundantes Material bereit, dass es bei aller Skepsis möglich sein müsste, nach einer gewissen Zeit die Umrisse eines Stiles der Naturwissenschaften auf einer allgemeinen Grundlage zu formulieren.

ABB. I: Philip C. Fitz-James: Participation of the cytoplasmic membrane in the growth and spore formation of bacilli. In: The Journal of Biophysical and Biochemical Cytology 8 (1960), S. 5 0 7 - 5 2 8 , hier: S. 521, Abb. 17-22. Vgl. Nicolas Rasmussen: Facts, Artifacts, and Mesosomes. Practicing Epistemology with the Electron Microscope. In: Studies in the History and Philosophy and Science 24 (1993), S. 2 2 7 - 2 6 5 ; ABBI: Apoll im Labor. Bildung, Experiment, Mechanische Schönheit, Ausst.kat., 1 3 . 5 . - 2 . 1 0 . 2 0 0 5 Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, hg. v. Sven Dierig, Thomas Schnalke, Berlin 2 0 0 5 , S. 33, Abb. 25; ABB. 3: Historische Mikroskope des physikalischen Kabinetts des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, hg. v. Kurt Hemmerling, Hanns Feustel, Darmstadt 1983 (= Kataloge des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, hg. v. Wolfgang Beeth; Bd. 13), S. 33, Kat. 11; ABB. 4: Roland Wiesendanger: Rastertunnelmikroskopie an nichtkristallinen Festkörpern, Diss, phil.-naturwiss., Universität Basel 1987, S. 167, Fig. V21; ABB. 5: Heinz-Otto Peitgen, Peter H. Richter: The Beauty of Fractals. Images of Complex Dynamical Systems, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo 1986, S. 87, Abb. 52; ABB. 6: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlass Ernst Mach, N L 174/0166155. Foto aus dem Archiv von Christoph Hoffmann; ABB. 7A,B: Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der M o n d , die Sonne, die Hand, Berlin 2 0 0 7 , S . 2 3 2 u. 235.

Ikonologische Analyse -ti-1 ' (_

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· Wissenschaftspopularisierung, S.208), ihre Rezeption und ihre Rückwirkung in die Wis-

50

senschaft zu verfolgen, muss Teil einer solchen Analyse sein, wie auch der Versuch, wissenschaftlich-technische Bilder in eine allgemeine Geschichte bildlicher Darstellungsformen einzuordnen. Diese Einordnung stiftet einen kulturellen Zusammenhang, der die Grenzen zwischen Wissenschaftlichkeit und Populärem, zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht aufhebt, aber den Austausch, die Interaktion und Verflochtenheit dieser Bereiche einsichtig werden lässt. Die Herausforderung einer Ikonologie wissenschaftlicher Bilder besteht entsprechend darin, zwischen einer solchen Einordnung in eine breiter gefasste Bildgeschichte und der Berücksichtigung spezifisch wissenschaftlich-technischer Kontexte ein Gleichgewicht herzustellen (-"Vergleich als Methode, S. 24). Als exemplarisches Feld für eine ikonologische Analyse können die frühen Röntgenbilder füngieren, die jenseits von medizinischen Zwecken die Durchleuchtung verschiedenster Objekte zur Anschauung brachten (-> Fallstudie Vera Dünkel, S. 136). Nach deren Beschreibung und historischer Einordnung könnten diese als Aus-

Abb. 6: Schmugglerin, durch Röntgenstrahlen beim Zoll überführt. Populäre lllustrationszelchnung, 1897.

druck einer für die Kultur des fin de siècle typischen Schaulust und umfassenden Durchleuchtungsmanie gedeutet werden, welche sich um 1900 auf die unterschiedlichsten wissenschaftlichen und populären Bereiche ausweitet und bis in die gegenwärtigen Visualisierungsstrategien medizinischer Bildgebungsverfahren hineinwirkt (Abb. 1-8). Als weiteres Beispiel können die Zeichnungssammlungen von Naturphilosophen aus dem 16. Jahrhundert dienen, in denen überlieferte Darstellungen von Monstern und mythischen Wesen gleichberechtigt neben Bildern stehen, die eigene Beobachtungen dokumentieren. Dieses Nebeneinander kann mit dem heutigen Verständnis der Taxonomie kaum verständlich gemacht werden. Mit Hilfe der ikonologischen Methode kann jedoch zum Beispiel in der Bildersammlung Aldrovandis verdeutlicht werden, welche Bildtraditionen hier in den naturphilosophischen Diskurs einfließen und welches Verständnis von Natursich in einem solchen Sammlungsaufbau ausdrückt (->• Fallstudie Angela Fischel, S. 212). (VS/VD)

Ikonologische Analyse

Abb. 8: Magnetresonanztomografisches Bild aus einem Artikel in Die Zeit, 2004. In der Rezeption neuerer bildgebender Verfahren wie der Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) zeigt sich eine ähnliche Faszination wie gegenüber den frühen Röntgenbildern, wenn - wie der Artikel berichtet - in den USA sich Menschen sogar in Einkaufszentren vorsichtshalber ganzkörper-durchleuchten lassen. Währenddessen steht der medizinische Nutzen an zweiter Abb. 7: Röntgenbild des menschli-

Stelle, und eine massenweise Anwendung

chen Körpers, Kollage aus sechs Auf-

dieser Schichtbildverfahren wird kontrovers

nahmen von insgesamt drei Män-

diskutiert. Dem Argument einer gesund-

nern,

Physiker

heitspräventiven Funktion der Ganzkörper-

Ludwig Zehnder und dem Fotogra-

MRT stehen etwa die Möglichkeit falscher

fen Karl Ernst Kempke,

Ergebnisse sowie Interpretationsschwierig-

hergestellt

vom

1896. Höhe ca. 1,84 m.

52

Sommer

keiten gegenüber.

Ikonologische Analyse

Literatur und Bildquellen Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt 1992 (4. Aufl.). Andreas Beyer (Hg.): Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin 1992.

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Johann Konrad Eberlein: Inhalt und Gehalt: Die ikonografisch-ikonolo-

Erwin Panofsky: Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Diszi-

gische Methode. In: Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp,

plin. In: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning

Willibald Sauerländer, Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 2003 (6. Aufl.), S. 175-197.

in the Visual Arts), Köln 2002, S. 7-35. Peter Schmidt: Warburg und die Ikonologie. Mit einem Auszug unbe-

Ludwik Fleck: Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftli-

kannter Quellen zur Geschichte der Internationalen Gesellschaft

chen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denk-

für I konographische Studien von Dieter Wuttke, Wiesbaden 1993

kollektiv, Frankfurt a. M. 1980 [19351. Ekkehard Kaemmerling (Hg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorie -

(2. Aufl.). Aby Warburg: Italienische Kunst und Internationale Astrologie im Pa-

Entwicklung - Probleme, Köln 1979 (= Bildende Kunst als Zei-

lazzo Schifanoja zu Ferrara, In: Ders.: Die Erneuerung der heidni-

chensystem, Bd. 1).

schen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte

Gabriele Kopp-Schmidt: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung, Köln 2004. Erwin Panofsky: Einleitung. In: Ders.: Studien zur Ikonologie der Re-

der europäischen Renaissance, Berlin 1998 (= Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Erste Abteilung, Band 1,2, hg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers u.a.), S. 459-481.

naissance (Studies in Iconology), Köln (2. Aufl.) 1997, S. 30-61.

Martin Warnke: Ikonologie. In: Werner Hoffmann (Hg.): Die Men-

(vgl. dazu frühere Fassungen des Aufsatzes: Erwin Panofsky:

schenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980,

Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken

S. 55-61.

der bildenden Kunst. In: Logos. Internationale Zeitschrift für

Abb. 1-3: Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid-Lennep; Abb. 4: Otto Glasser: Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Berlin 1959 [19311, S. 204; Abb. 5: Ronald L. Eisenberg: Radiology. An Illustrated History, St. Louis 1992, S. 54; Abb.6: L'Illustration, Nr. 2836 (3. Juli 1897), S. 7; Abb. 7: Michel Frlzot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 281 ; Abb. 8: Tobias Beck: Blick durch die Röhre. Neue Kernspintomografen können den gesamten Körper im Eiltempo durchleuchten. Kommt nun das Massen-Screenlng für Gesunde? In: Die Zeit, 15. Januar 2004, S. 28.

S3

Zellbilder

MATTHIAS BRUHN

ABB. I: Ludolph Christian Treviranus: Vom inwendigen Bau der Gewächse und von der Saftbewegung in denselben, Göttingen 1 8 0 6 . Detail der Tafel 1, Kupferstich von Christian Besemann.

Zellbilder. Eine Kunstgeschichte der Wissenschaft Matthias Bruhn

Technische Bilder des Lebens

Göttingische

Gelehrte

Anzeigen

(GGA) 1 8 0 3 , S. 1 9 6 0 . Siehe den Bericht in den G G A 1 8 0 5 , S. 1 9 6 9 S. 1 6 9 .

54

und

den

Nachtrag

1806,

Zum Jahresende 1803 sah sich die physische Klasse der Königlichen Societät der Wissenschaften in Göttingen veranlasst, in ihrem Gelehrtenanzeiger eine neue Preisaufgabe auszulohen 1 . Einsendungen sollten bis November 1805 eingereicht werden 2 und mithilfe mikroskopischer Beobachtungen die Frage klären, worin die baulichen Grundelemente der Pflanzen bestünden, wie ihr Flüssigkeitstransport zu erklären sei und welche Bewandtnis es insbesondere mit den sogenannten „Spiralgefäßen" habe, deren Aufbau und Funktion seit einiger Zeit unter Botanikern diskutiert wurde.

Zellbilder

MATTHIAS BRUHN

Eingesandt wurden drei Schriften: von Heinrich Friedrich Link, Arzt und Botaniker aus Rostock und späterer Direktor des Botanischen Gartens in Berlin, von Carl Asmund Rudolphi, dem aus Schweden stammenden Anatomen, der zeitweilig in französischen Diensten stand und wenig später ebenfalls nach Berlin gehen sollte, und schließlich vom Bremer Arzt Ludolph Christian Treviranus, dem Bruder Gottfrieds, welcher mit einem dreibändigen Werk den Begriff „Biologie" als Bezeichnung für eine neue Disziplin vorgeschlagen hatte. 3 Die Chronisten sind sich einig, dass alle drei Essays hinter dem Stand der Forschung zurückblieben und sich untereinander auch widersprachen. Dass Link und Rudolphi sich den ersten Preis teilten und Treviranus mit einem dritten Platz getröstet wurde, 4 mag die Inkompetenz der Jury bestätigen, welche auch Petz in einer Chronik der Zelltheorie betont: „Es scheinen jedoch die Fragestellung und ihre Autoren recht wenig sachkundig gewesen zu sein". 5 Ausgerechnet der letztplatzierte Treviranus hatte verstanden, dass Zellen nicht bloße tektonische Elemente sind, sondern eigenständige und wachsende Einheiten, die sich im Laufe der Entwicklung funktional ausdifferenzieren, etwa um Gefäße zu bilden - eine These, die Treviranus in der Druckfassung seines Traktats mit einer Abbildung untermauerte Abb. 1). Dieser Abbildung, der ersten auf zwei Tafeln, kam schon deshalb besondere Bedeutung zu, weil die langsame Entwicklung der Zellen unter dem Mikroskop nicht direkt zu beobachten war. Daher bedurfte es eines geeigneten Schnittbildes durch das Parenchym, um die Zwischenstadien der Gewebebildung zu belegen. Da sich das beigefügte Beispiel wie ein schematisches Entwicklungsmodell von links nach rechts lesen ließ, zog es noch dazu die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich, so dass auch Heinrich Link ein Jahr später, in der Buchversion seines eigenen Traktats, auf diese Illustration zurückgriff. Er schloss, dass nach der Theorie des Treviranus „die Scheidewände der Zellen überall doppelt seyn" müssten 6 und verwies dazu auf die Abbildung des Autors: „Da, wo die Zellen an einander stoßen, bemerkt man oft einen doppelten Strich (s. Fig. 1 ), gleichsam einen Zwischenraum zwischen den Zellen. " 7 Zwar lehnte er Treviranus' Befund ab, doch dass Link beim Blick auf eine Illustration beiläufig einen „doppelten Strich" wahrnahm, ist als höchst bemerkenswerte Formulierung anzusehen. 8 Denn in der Tat schien die Wahrnehmung der Natur als eine bildhafte in diesem Augenblick so weit zu gehen, dass deren sichtbare Linien als Ausdruck einer sich selbst zeichnenden Natur wahrgenommen wurden.

Auf der Suche nach der Linie der Natur Ein lokaler Künstler aus Göttingen namens Christian Andreas Besemann sollte später die Stiche aller drei Druckfassungen herstellen, die dann in unterschiedlichen Verlagen erschienen. Sein Name ist in der Ge-

3 Den Begriff Biologie gab es schon vorher, jedoch im Sinne der Biographik; vgl. Kai Torsten Kanz: Von der BIOL O G I A zu Biologie. Zur Begriffsentwicklung und Disziplingenese vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. In: Die Entstehung biologischer Disziplinen. Beiträge zur 10. Jahrestagung der D G G T B in Berlin 2 0 0 1 , Berlin 2002, 5. 9 - 3 0 . 4 Archiv der Akademie der Wissenschaften, Scient 1832 Fasz 9, 1 8 0 5 06, Inv. VA6b a, G G 2. 5 Willy Pelz: Zellenlehre. Der Einfluss H u g o von Mohls auf die Entwicklung der Zellenlehre (1944), Nachdruck Frankfurt a . M . u.a. 1987, S. 15.

6 Heinrich Friedrich Link: Grundlehren der Anatomie und Physiologie der Pflanzen, Göttingen 1807, S. 14. 7 Link (s. Anm. 6), S. 13. 8 „Die Scheidewände zwischen den Zellen habe ich lange selbst für doppelte gehalten, weil die Ränder es waren, aber genauere Untersuchungen zeigen mir doch keine doppelte Membran, auch nicht wenn die Zellen trocknen oder gefault waren" (Link (s. Anm. 6), S. 14).

Zellbilder

9 Erstmals recherchiert wurde er von Deneke 1936; mit Abstand folgte ein Artikel von Kleineberg (s. Anm. 12) und die Studie von Thomas Appel: Biographische Ergänzungen zu dem Göttinger Zeichner und Kupferstecher Christian Andreas Besemann (1760-1818). In: Göttinger Jahrbuch 2 0 0 3 , 51 (2003), S. 2 7 - 4 8 . Die Biografie Besemanns wäre der zentralen Studie von Elke Schulze („Nulla dies sine linea". Universitärer Zeichenunterricht - eine problemgeschichtliche Studie, Stuttgart 2 0 0 4 ) nachzutragen, wo er im Anhang bereits erwähnt ist. 10 Vgl. Schulze (s. Anm. 9). 11 Hans-Theodor Koch: Karl Ernst von Baer ( 1 7 9 2 - 1 8 7 6 ) : Korrespondenz mit den preußischen Behörden. In: Wissenschaftliche Beiträge der Universität Halle 39, 1981, S. 1 6 9 - 1 9 1 , hierS. 181 f.

Bildbeschreibungen, S. 36

12 Günter Kleineberg: Christian Andreas Besemann, sein Werk und seine Zeit. Zum 150. Todesjahr des Künstlers, Göttingen 1968 (Sonderdruck aus: Plesse-Archiv 3 , 1 9 6 8 , S. 9 - 3 0 ) , S. 17.

MATTHIAS BRUHN

schichte der Kunst vergessen, obwohl er Tafeln in größerer Zahl und für diverse Fachgebiete produzierte. 9 Als Vertreter der Aberli'schen Manier der Druckkolorierung war er ebenfalls sehr gefragt. Nur mit einer Lebensanstellung in Göttingen, die trotz schlechten Entgelts stellvertretend für den Aufstieg des Illustratorenberufs nach 1 8 0 0 zu sehen ist, konnte sein Weggang nach Sankt Petersburg verhindert werden. Seit Abbildungen im 17. Jahrhundert den Erfolg mikroskopischer Bücher befördert hatten, gewannen die Illustratoren in gleichem Maße an Bedeutung, wie deren Bilder zum Kern wissenschaftlicher Debatten wurden. Das Illustrationswesen emanzipierte sich als Berufsfeld, das eine eigene bildtechnische wie anatomisch-morphologische Expertise verlangte. 10 Einige Jahre nach dem Wettbewerb vermerkte der Embryologe Karl Ernst von Baer, dass er nach Berlin habe reisen müssen, um einen geeigneten Stecher zu finden, zumal seine Studien höchste Geschwindigkeit und seltene Beobachtungsgabe verlangten, denn „es ist auch erforderlich, dass der Zeichner stets bei der Hand ist, um besonders die Eier und Embryonen früherer Zeit, die ungemein schnell verderben, gleich abbilden zu können. [...] Für die Kupferplatte ist es aber auch notwendig, daß der Kupferstecher unter den Augen des Beobachters arbeite, weil die Correcturen aus der Ferne sich fast gar nicht genügend besorgen lassen, [...]". 1 1 Einen Künstler wie Besemann zu engagieren war ein stilistisches Bekenntnis. Seine perfekte Umsetzung von Handzeichnungen in klare und minutiöse Stiche prägte auch dessen Arbeit als Landschafts- und Vedutenmaler: „Hier erkennt man in jedem Partikel den botanischen Zeichner. Durch die überdeutliche linienhafte Durchbildung der Details von Bäumen läßt sich eine unorganische Starrheit auch in den Pflanzen nicht verleugnen. [...] Das Organische wird durch diese Behandlung meistens zu naturwissenschaftlichen Objekten, die in tote Materie verwandelt innerhalb der Komposition dominieren und diese steif und akademisch erscheinen läßt." 1 2 Diese Charakterisierung Kleinebergs trifft und verkehrt zugleich die Frage. Denn die Wettbewerbsteilnehmer versicherten, in ihren Beiträgen auf reine Deskription zu setzen und sich von Spekulationen fernzuhalten; gleichwohl bevorzugten sie in der Visualisierung eine „Deutlichkeit" des Kupferstichs, die dem sichtbaren Ergebnis Eindeutigkeit verlieh: Die Bleistiftskizzen, neben dem Mikroskop und auf Grundlage kaum sichtbarer Muster und Eindrücke angefertigt, wurden von Besemann überführt in exakte Konturen, die nirgends abbrechen oder nebulös werden. Stift oder Tinte hätten dem Grafiker weiche Übergänge und Leerstellen gestattet, und die dafür adäquaten Drucktechniken wie AquatintaRadierung oder Lithografie waren bereits in Gebrauch. Doch Spezialisten wie Besemann (oder sein Nachfolger Thiele, der ebenfalls für Treviranus arbeitete) haben diese Techniken nicht angewandt. Vielmehr lieferten sie Kupferstiche von mikrotomischer Winzigkeit: Von Rudol-

56

MATTHIAS B R U H N

Zellbilder

ABB. 3: Detail aus Abb. 2

ABB Z: Carl Asmund Rudolphi: Anatomie der Pflanzen, Berlin 1807, Tafel 3. Kupferstich von Christian Besemann.

phi gebeten, den Querschnitt eines Zweiges in Originalgröße neben das Mikroskopbild zu platzieren, um die originalen Größenverhältnisse zu zeigen Abb. ; , beließ es Besemann nicht bei bloßen Kreisen oder Skalen, sondern lieferte Feinschnitte, deren Detail ihrerseits nur in Vergrößerung sichtbar ist. Die Kreisform des Details (Abb. 3 hat eine originale Größe von 1,5 Millimetern und verschwindet zwischen den Stockflecken. Druckfarbe füllt eine Stichlinie in der Platte, die feiner ist, als die Faser des Papiers sie aufnehmen kann. Plinius d. Ä. berichtet vom griechischen Künstler Apelles, der in eine an die Wand gemalte haarfeine Linie des Protogenes mit seinem Pinsel noch eine dünnere Linie habe setzen können, so dünn, dass sie keine physische Ausdehnung mehr zu haben schien.13 Unter dem Mikroskop taten sich nun Linien auf, die zwar sichtbar waren, deren Ausdehnung,

-> Beobachtungstechnik, S. 178

I3

plinius d. Ä.: Naturalis Historia, Buch 35, S. 81-82.

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MATTHIAS BRUHN

Bildstörung, S. 164

Objektivität und Evidenz, S. 148 14 Eine Idealform der Natur, die schon früher gesucht wurde, etwa in der SLinie; vgl. Horst Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften. In: Angela Lammert (Hg.): Räume der Zeichnung, Nürnberg 2 0 0 7 , S. 1 2 - 2 4 .

Entstehung und Funktion aber unbestimmbar blieb. Es boten sich Punkte, Linien und Kreise, die als Kammern und Hohlräume, Körner, Bläschen gedeutet, aber auch als Artefakte oder flüchtige Trugbilder abgetan wurden, bedingt durch Optik oder mikrotomische Präparation und in vielen Fällen nicht nachprüfbar. An dieser Stelle verband sich die künstlerische Doktrin der idealen Linie und scharfen Kontur mit einer naturwissenschaftlichen Idee der präzisen (d.h. genau zugeschnittenen) Beobachtung. Die Zeit um 1800 ist ein Gipfelpunkt der „Präzisionsmanier" und einer klassizistischen Auffassung von reiner Linienhaftigkeit, welche die manieristische Idee des disegno in eine äußere Idealform transponierte und die Linie gleichsam zum Skelett der Natur erklärte.14 Die visuelle und manuelle Schulung der wissenschaftlichen Illustratoren verschmolz so ältere künstlerische Ideen mit einer jüngeren Kultur grafischer Notation, die seit dem 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Praxis kennzeichnet.15

15 Vgl. hierzu beispielsweise Wolfgang Kemp: „ [ . . . ] einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen". Zeichnen und Zeichenunterricht

der

Handbuch,

Laien

1500-1870.

Frankfurt

a. M .

Ein 1979;

Ann Bermingham: Learning to Draw. Studies in the Cultural History of a Polite and Useful Art, New Haven u.a. 2 0 0 0 .

16 Gerhard Müller-Strahl: Der biologische Zell-Begriff. Verwendung und Bedeutung in Theorien organischer Materie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 4 6 ( 2 0 0 4 ) , S. 1 0 9 - 1 3 6 , hier S. 1 0 9 . 17 Marcello Malpighi: Anatome plantarum, London 1 6 7 5 / 1 6 7 9 , passim.

58

Ikonologie der Zelle Der Begriff der Zelle war schon weit früher geprägt worden durch den englischen Mikroskopiker Robert Hooke, der in seiner Micrographia von 1665 die Hohlräume eines durchschnittenen Rindenstücks als cells beschrieben hatte, um der bildlichen Aufzeichnung räumlich vorstellbare Begriffe an die Seite zu stellen. Hooke fühlte sich bei manchen Proben zudem an Webstoffe erinnert, die er ebenfalls in Vergrößerungen reproduzierte. Mit Zellen, Gefäßen, Wänden oder Membranen wurden später je nach Autor und Beobachtungebene unterschiedliche Phänomene beschrieben.16 Hookes Zeitgenossen Nehemiah Grew und Marcello Malpighi beobachteten wiederkehrende Formen, die ersterer als ein Gewebe aus Fasern und Hohlräumen begriff, letzterer utriculi (Röhren, Schläuche) nannte.17 Malpighi gewahrte, dass der Körper der meisten Pflanzen aus wiederkehrenden Bauelementen besteht, und schloss hieraus auf eine zelluläre Grundanlage der Pflanzen, so wie er zum Vergleich auch tierische Kleinststrukturen (etwa das rote Blutkörperchen) beschrieb. Die metaphorischen Analogiebildungen des Architektonischen oder Textilen sind für das, was nie vollständig zu erkennen ist, unerlässlich geblieben, da mit jedem Sichtbarkeitszuwachs wiederum neue Schwellenphänomene auftauchten. Es ist zu vermuten, dass sie Alltagserfahrungen in das wissenschaftliche Denken einführten, wonach beispielsweise Feuchtigkeit durch Häute ohne sichtbare Öffnungen dringen kann. Solange es keine verbindliche Definition von Phänomenen wie Flüssigkeit, Gasförmigkeit oder Festigkeit (wie überhaupt von Leben, Bewegung, Entwicklung oder Vermehrung) gab, mussten auch Beschreibungen wie die „Membran" (Häutchen), das „Gefäß" oder deren Transpiration („Durchschwitzung") vage bleiben.

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MATTHIAS BRUHN

ABB. 4: „An Architectural Plan of the Cell": Aus elektrotomografischen Aufnahmen generierte Darstellung einer Hefezelle (Johanna Höög, European Molecular Biology Laboratory

Heidelberg,

2007).

18 Ariane Dröscher: „Was ist eine Zelle?" Edmund B. Wilsons Diagramm als graphische Antwort. In: Natur und Kultur - Beiträge zur 15. Jahrestagung der D G G T B - im Druck.

Erst um 1830 kam es zu einer geschlossenen Theorie und einer Distinktion einzelner Teile, mithin zum Konzept der einen Zelle, welche nun wiederum die ältere Vorstellung der autarken „Kammer" aufnahm und weitere architektonische Bilder einführte.18 In der Umkehrung wurde auch die biologische Zelle und ihre Membran zur Metapher für soziale Ordnungen, wie in der Theorie des „Zellenstaats" bei Virchow oder als Ausdruck der Inkubation oder Abwehr.19 Solche Konzepte sind als Bildwelten in die Begrifflichkeiten der Wissenschaftsliteratur und darüber hinaus eingeflossen. Doch die Metaphorologie muss ihrerseits auch die Bildkultur untersuchen, welche diese Metaphern historisch mit Leben erfüllt hat.20 Sie ist bis heute sichtbar in die Biologie und ihre Struktur eingeschrieben. Aus ihr rührt etwa die unausgesetzte Suche nach der „Architektur" der Zelle, ihrer Bauteile und Verbindungen, wie sie auch avancierte Großforschungseinrichtungen wie das European Molecular Biology Laboratory verfolgen, oder wie sie Zelldarstellungen in Lehrbüchern, Filmen oder 3-D-Modellen zeitigen (Abb. 4 . Die Frage der Zellabgren-

19 Laura Otis: Membranes. Metaphors of Invasion in

Nineteenth-Century

Literature, Science, and Politics, Baltimore 2 0 0 0

(2.Aufl.); Eva Johach:

Krebszelle und Zellenstaat. Z u r medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i. Br. 2 0 0 8 . 20 Vgl. zur (transdisziplinären) Bedeutung der Metapher Sabine Maasen, Peter Weingart (Hg.): Metaphors and the Dynamics of Knowledge, London u . a . 2 0 0 0 sowie dies., Everett Mendelsohn (Hg.): Biology as Society, Society as Biology: Metaphors, Dordrecht u.a. 1 9 9 5 .

-»• Ikonologische Analyse, S. 48

59

Zellbilder

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132 21 Dies wäre dann geradezu ein Gegenstück zu jener Galilei'schen Entscheidung, die Flecken der Sonne nicht in diskreten Linien, sondern aquarellierend wiederzugeben (->• Bildbeschreibungen, S. 36). 22 Dieser Aspekt wird am Beispiel der Embryologie des 18. Jahrhunderts untersucht von Janina Wellmann: Wie das Formlose Formen schafft. Bilder in der Haller-Wolff-Debatte und die Anfänge der Embryologie um 1800. In: „Oberflächen der Theorie". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorischer Jahrbuch für Bildkritik 1,2 (2003), S. 105-115. 23 Ludolph Christian Treviranus: Die Anwendung des Holzschnittes zur bildlichen Darstellung von Pflanzen, Leipzig 1855 (Reprint: Utrecht 1949).

MATTHIAS B R U H N

zung ist dabei nicht durch bessere Instrumente zu klären, da jede Vergrößerung feinere Schnitte oder Präparationstechniken verlangt. Versuche, die Zelle als Einheit oder die Membran als sichtbare wie durchlässige Grenze zu modellieren, wie in der „Biophotonik" auf Laserbasis, lassen unverändert die Komplexität des Gegenstandes erkennen, Leben nicht eo ipso sichtbar machen zu können, und auch die dreidimensionale und animierte Visualisierung am Computer steht vor dem Problem, die durchlässigen und fluiden Binnen- oder Randbereiche des Lebens in distinkten Formen sichtbar zu machen, zu modellieren. Schon das Stechen von Zeichnungen in Kupferplatten könnte, in dieser Betrachtungsweise, die Wahrnehmung befördert haben, wonach Zellen autarke Systeme sind.21 Als „technisches Bild" standen Zellen für die Summe von Versuchen, das unsichtbare dreidimensionale Objekt in eine flächige und druckfähige Darstellung zu überführen. Der konkreten Wahl der Mittel und der daraus folgenden Gestaltung kam so eine zentrale epistemische wie kommunikative Bedeutung zu. In jedem Falle war es allein auf der Grundlage einer umfassenderen Bildkultur möglich, etwa die Linien oder Schraffuren der anatomischen Darstellung, die lediglich Graustufen oder undeutliche Bereiche zeigen sollten, von einer Reihe paralleler Linien zu unterscheiden, welche die bestimmte Textur eines Objektes meinen. Um aus Linien und Punkten am Mikroskop sphärische Strukturen (etwa „Kerne" oder „Blasen") zu extrapolieren, bedurfte es zudem einer räumlichen Vorstellungskraft, die wiederum an der alltäglichen und künstlerischen Praxis geschult war.22 Der Wettbewerbsteilnehmer Treviranus hat sich daher nicht zufällig auch mit dem konkreten Problem der Visualisierung im Zuge seiner mikroskopischen Studien befasst - er ist vorrangig in Erinnerung geblieben durch sein daraus resultierendes, kunsthistorisches Werk zur Bedeutung des Holzschnittes für die botanische Illustration.23

Die Form als Kontext

->· Ikonologische Analyse, S, 48

Die Visualisierung der Zelle liefert ein paradigmatisches Beispiel für die Verklammerung von naturwissenschaftlicher Bildgebung und kunsthistorischen Fragen. Jegliche Darstellung ist gestaltetes Wissen, in einer Weise geformt, die einen konkreten Umgang mit der sichtbaren Umwelt, als Bewältigung von Formproblemen wie Raum, Schnitt, Verkürzung oder Farbe, erkennen lässt. Die Wahl von flächigen oder dreidimensionalen Darstellungen, von Materialien und Bearbeitungstechniken bringt Repräsentationsentscheidungen mit sich. Sie ist außerdem in eine längere Geschichte räumlichen Denkens und Modellierens eingebettet, die sich nicht nur aus bloßen Wissenszuwächsen oder technischen Verbesserungen ergibt, sondern aus ihrer Einbettung in kollektive Praktiken, aus Traditionen und aus Lernprozessen im Umgang mit Bildtechniken.

MATTHIAS B R U H N

Wissenschaftliche Beobachtung wird nicht als gegebene Information in die Sprache der Bildkünste übersetzt, wo sie mit zusätzlichen Bedeutungen geimpft und überfrachtet würde; vielmehr ist jede Bildproduktion eine eigenständige Produktion von Wissen. In ihr äußert sich jenes von Rudolf Arnheim beschriebene „visuelle Denken", das stets auch ein praktisches, handwerkliches, zeichnerisches Denken ist, in welchem Strukturen und Zusammenhänge physisch wie psychisch nachvollzogen werden.24 Von der Pflanzenmikroskopie um 1800 führt dieses Denken bis hin zur mikrofotografischen und elektronenmikroskopischen Aufnahme der Zelle oder den neueren bildgebenden Verfahren. Diese sind „symbolische Formen" im Sinne Ernst Cassirers, als in ihnen die praktischen Bedingungen und Wahlmöglichkeiten der Bildproduktion mit einer sie übersteigenden Erkenntniserwartung untrennbar verbunden bleiben.25 Dies gilt gerade im Bereich technischer Bilder, in welchem kognitive Faktoren auf konkrete bildtechnologische Lösungen stoßen, etwa wenn eine bestimmte Verteilung von Punkten intuitiv als „Häufung" interpretiert, vom Autor mit einer Beschriftung versehen und vom Grafiker für den Druck umgearbeitet wird. Ohne diese verdichtende, verstärkende, abstrahierende oder überhöhende Verwendung und Wirkung hätten Bilder nicht den Demonstrations- oder Diskussionswert, den sie als diagnostisches wie als didaktisches Mittel benötigen. Für das Feld der Kunst wurde die Frage nach den genuin bildnerischen Mitteln und ihren Leistungen schon einmal mit der kunstwissenschaftlichen Herangehensweise um 1900 entwickelt. Die Kunstwissenschaft hat dabei im Austausch mit der psychologischen Forschung die Frage verfolgt, in welcher Weise das intellektuelle Vermögen visueller Darstellungen auch jenseits der Hochkunst zum Tragen kommt und ob sich hierbei besondere Faktoren und Traditionen identifizieren lassen, die Heinrich Wölfflin als Ausdruck einer „Geschichte des Sehens" und seiner Gesetze verstanden hat. 26 Wölfflins Suche nach ästhetischen Polen und Gestaltungsoptionen wie Klarheit/Weichheit oder Hell/Dunkel als den unumgänglichen Kategorien jeglicher Wahrnehmung wurde in den 1970er Jahren wieder aufgegriffen und auf den Bereich der wissenschaftlichen Bildgebung übertragen.27 In ausdrücklicher Bezugnahme auf ein solches bildhistorisches und geistesgeschichtliches Verständnis von Kunstgeschichte formierten sich Zeitschriften wie Leonardo oder Einrichtungen wie die Ars Electrónica oder das Zentrum für Kunst und Medientechnologie, um das zeitgenössische Elemente auch der hochtechnisierten Bildproduktion einzufangen und der Analyse zu erschließen.28 Auch wenn entgegen der Wölfflin'schen Hoffnung offen bleibt, was vor zweihundert Jahren „gesehen" wurde, ist allein in der historischen Rückschau zu verstehen, dass Dinge anders gesehen werden könnten, als es der eigenen Zeit vorstellbar ist und lassen sich technische Bilder unterschiedlicher Machart und Provenienz identifizieren, die auch als

Zellbilder

24 Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1972.

25 Ernst Cassirer: Form und Technik [1930], In: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1 9 2 7 - 1 9 3 3 , hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1995 (2. Aufl.), S. 3 9 - 9 2 .

26 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel 2 0 0 4 [1915]. 27 So bei Dieter Lübeck: Das Bild der Exakten - Objekt: Der Mensch. Zur Kultur der maschinellen Abbildungstechnik, München 1974, in ausdrücklicher Anlehnung an Wölfflin.

28 Die Diskussion ist einschlägig dokumentiert in der Publikationsreihe Interface, hg. von Klaus Peter Denckec, 5 Bde., Hamburg 1 9 9 2 - 2 0 0 2 .

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Zellbilder 29 Michael Hampe: Sichtbare Wesen, deutbare Zeichen, Mittel der Konstruktion: Zur Relevanz der Bilder in der Wissenschaft. In: Angewandte Chemie 118 (2006), 7, S. 1044-1048, hierS. 1044. 30 Vgl. Wolfgang Coy: Die Konstruktion technischer Bilder. In: Horst Bredekamp, Sybille Krämer (Hg.): Bild Schrift Zahl, München 2003, S. 143-153 und die Beiträge in Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München/Paderborn 2005.

Bildbeschreibungen, S. 36

31 Der Band von Caroline Jones und Peter Galison (Hg.): Picturing Science, Producing Art, New York/London 1998 behandelt in einigen Beiträgen daher bereits auch die Stilfrage, so der Historiker Carlo Ginzburg. 32 Die Diskussionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts resümiert Philip C. Ritterbusch: The Shape of Things Seen: The Interpretation of Form in Biology. In: Leonardo 3 (1970), S. 305-317.

MATTHIAS B R U H N

komplexe Schnittmenge von Interessen und Kompetenzen, Apparaturen und Konventionen eine allmähliche Evolution erfahren. Der Aufbau einer bildgebenden Apparatur, bestehend aus Geräteteilen, Programmen und Messbildern, ist Ausdruck eines längeren visuellen Denkens, das zu dieser Technologie der Introspektion und Diagnose geführt hat. Vor diesem Hintergrund wäre nicht ausschlaggebend, ob im Bereich der Bildgebungsverfahren Monitore oder Messwerte den Vorrang haben oder ob hier anstelle von analogen Zeichen oder Motiven vor allem errechnete oder „metrische Bilder"29 vorliegen. Die mit der Industrialisierung fortschreitende Aufzeichnung in diskreter wie grafischer Form verlangt vielmehr nach einer gemeinsamen Betrachtung von Bild, Schrift und Zahl, welche die Visualität der Bildgebungsverfahren als wesentliche Form der Umweltwahrnehmung, neben Mathesis und Begrifflichkeit, versteht.30 Sobald Wissenschaft in Bildern denkt oder sichtbare Spuren hinterlässt, wird sie damit Entwicklungen freilegen.31 Auch die Zellforschung hat eine solche Bildgeschichte mit identifizierbaren Stilen. Ihre Phase um 1800 steht zwar einerseits für eine bestimmte Auffassung von Leben und Entwicklung, für eine revolutionäre Umbruchssituation, die napoleonische Umordnung Europas, den Aufstieg neuer optischer Instrumente, die internationale Konkurrenz von Wissenschaft und Technologie. Doch auch wer über derartige größere Kontexte spricht, ist mit Phänomenen konfrontiert, die formal beschrieben werden müssen. Die Beschreibung von Form und Funktion bleibt, als Morphologie oder Stilfrage, eine Aufgabe, die scheinbar so unterschiedliche Fächer wie Biologie und Kunstgeschichte verbindet.32 Die historiografische Kernfrage besteht dagegen in der Bestimmung des Einzugsgebietes. Die Darstellungen Besemanns sind nur ein winziger Ausschnitt aus einer jahrhundertelangen Tradition botanischer und anatomischer Illustration. Sie unterliegen dem Prozess der Standardisierung der wissenschaftlichen Darstellung im Hinblick auf Anordnung und Papierformate, auf die Verwendung von Skalen und Legenden, auf die schwarzweiße oder kolorierte Darstellung, die als constraints und „bildgebende" Faktoren zu verstehen sind. Die Beschäftigung mit diesen Prozessen der Herstellung und Umsetzung, auch mit dem oft unkodifizierten Erfahrungswissen von Zeichnern (oder Fotografen, Gerätebauern, Softwareentwicklern), ist eine Beschäftigung mit den Formen wissenschaftlichen Denkens und eine eigenständige Form der Wissenschaftsgeschichte. Hieraus ergibt sich unmittelbar die Aufgabe, eine neue Kunstgeschichte der Wissenschaften zu schreiben. Diese bestimmt durch ihre Aufarbeitung zugleich mit, was als intellektuell verfügbar gelten kann, da es letztlich einem besonderen Interesse zu verdanken ist, wenn überhaupt bemerkt wird, welche Bildmengen in den Naturwissenschaften, in Technik und Medizin auf Dauer verschwinden. Die Frage, wie mit

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M A T T H I A S BRUHN

Zellbilder

ephemeren Bildern oder interaktiven Computermedien umzugehen sei und wie diese als besonderer Teil einer Kultur zu erhalten und zu dokumentieren seien, ist ein historisches Problem, das nicht auf ein bestimmtes Kulturerbe begrenzt ist.

Kunst als Wissenschaft Die kaum eingrenzbare Spezifik des „Wissenschaftlichen" scheint eine der ersten Hürden der Aufarbeitung. 33 In hoch ausdifferenzierten Sektoren wie Medizin und Technik liegen „Bilder" zudem in so verschiedenen Aggregatzuständen, Verdichtungsstufen und Formaten und in so großen, extensiv und automatisiert erzeugten Mengen vor, dass sie jede bisherige Größenordnung von historischer Überlieferung überschreiten. Doch was als „Kunst" oder „Wissenschaft" zu gelten hat, unterliegt schon deshalb Wandlungen, weil es nicht absolut definierbar ist. Technische Darstellungen sind nicht dadurch von künstlerischen geschieden, dass sie besonders operabel wären oder eine eindeutige Semantik besäßen. Denn gerade ihre Bildlichkeit durchkreuzt derartige Grenzziehungen und setzt neue Marken. 34 Um die Formenwelt von Weltraumforschung, Chemie oder Mathematik überhaupt fassen zu können, bedarf es nicht nur modernisierter Sammlungstrategien oder eines interdisziplinär erweiterten Horizonts, sondern vor allem eines Begriffs von Bildgebung, der ihre ästhetische Eigenart wahrnimmt und ihren konstruktiven Gehalt nachweist. 35 Daher ist der Blick auf die Formen wissenschaftlicher Visualisierung auch keine ästhetisierende Ausblendung epistemologischer, sozio-ökonomischer oder politischer Kontexte. Denn wenn entgegen ihrer offenkundigen intellektuellen Bedeutung die technisch-naturwissenschaftliche Bildgebung immer wieder im Verdacht steht, einen kurzlebigen informationellen Wert zu besitzen, so perpetuieren sich hier Vorstellungen, die zu einem Topos der Kulturtheorie geworden sind, wonach aus der Industrialisierung visueller Kommunikation eine Entmündigung der Betrachter und Trivialisierung des Bildes folgte. Dies mündete in die bekannten Dichotomien von Schund und Schönheit, Ernst und Unterhaltung, Kunst und Kommerz, bei denen das Bedeutungsvolle gegen das Nützliche, die gewählte Bildform gegen die Stereotypien der Kulturindustrie verteidigt werden: Vor den flüchtigen Eindrücken des Live-Fernsehens und den interaktiven Produkten der Multimedia-Industrie muss der akribischste Historiker kapitulieren. Dagegen stand jedoch nie zur Debatte, dass eine technische Darstellung - etwa eine zoologische oder anatomische Aufnahme oder eine schlichte Bedienungsanleitung - auch in massenhafter Auflage ein Träger von produktivem Wissen bleibt. 36 Gegen die nachwirkende Rede von der Bilderinflation steuert daher, wenn auch mit verschiedenen Ak-

33 Alexander Vögtli, Beat Ernst: Wissenschaftliche Bilder. Eine kritische Betrachtung, Basel 2 0 0 7 . Vgl. den Definitionsversuch bei James Elkins: The Domain of Images, Ithaca/New York 1999, S. 7 sowie Horst Bredekamp, Angela Fischel, Birgit Schneider, Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens. In: „Bilder in Prozessen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,1 (2003), S. 9 - 2 0 . 34 Wie beschrieben von Karin Knorr-Cetina: Viskurse der Physik. Wie visuelle Darstellungsformen ein Wissenschaftsgebiet ordnen. In: Jörg Huber, Martin Heller (Hg.): Konstruktionen Sichtbarkeiten, Wien u.a. 1999, S. 245-263. 35 Vgl. Martina Heßler: Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderung für die Forschung. In: Geschichte und Gesellschaft 3 (2005), S. 2 6 6 - 2 9 2 ; dies.: Einleitung. Annäherungen an Wissenschaftsbilder. In: Dies. (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten: Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, Paderborn/München 2 0 0 6 , S. 1 1 - 3 7 ; vgl. auch Matthias Bruhn, Vera Dünkel: The Image as Cultural Technology. In: James Elkins (Hg.): Visual Literacy, London u.a. 2 0 0 8 , S. 1 6 5 - 1 7 8 .

36 Lewis Mumford: Kunst und Technik, Stuttgart 1959.

63

Zellbilder

37 Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilde^ Köln 2 0 0 4 . 38 Mit der Idee einer „ikonischen Differenz" wurde der Gegensatz von Einzel- und Massenobjekt von Gottfried Boehm dahingehend modifiziert, dass jegliche Bilder^ die nicht allein auf ihre Abbildungsfunktion beschränkt seien, sich von „schwachen Bildern" der Technik oder Medizin unterscheiden könnten; diese Position wurde jüngst vom Autor wieder aufgegriffen (Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007).

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MATTHIAS BRUHN

zenten, der Diskurs vom „iconic turn" an, der in einigen Publikationen wiederum als „neue Macht der Bilder" gedeutet wird37 oder sich auch an individuellen Bildleistungen orientiert.38 Die wissenschaftliche Bildgebung ist allerdings nicht nur deshalb kulturhistorisch relevant, weil sie namhaften Künstlern wie Leonardo da Vinci überlassen gewesen wäre, welche vermeintlich „naturnäher" gearbeitet und damit „bessere" Darstellungen vorgelegt hätten: Eine solche Erfolgsgeschichte der naturwissenschaftlichen Illustration wäre aus kunsthistorischer Sicht schon deshalb unplausibel, weil die Geschichte der Perspektivdarstellung, der Farbgebung und der Linienzeichnung stetige Umbrüche erkennen lässt, die von Leonardo auch zur Naturferne eines künstlich eingefärbten, computertomografischen Schnittbildes führen. Eine historische Untersuchung der technischen Bilder bezweckt deshalb nicht, den Beitrag der bildenden Künste zu einem anderen System zu ermessen - vor allem eingedenk der gemeinsamen Ding- und Sichtbarkeitswelt, die die Wissenschaften und Künste im Bereich der anatomischen Studien oder des naturkundlichen Sammlungswesens seit Jahrhunderten verbindet - oder zu zeigen, dass Kunst auch Wissenschaft sein kann oder dass Bilder aus Wissenschaft und Technik als Kunstwerke im autonomen Sinne des 19. Jahrhunderts anzusehen wären. Das technische Bild ist aufgrund seiner formalen wie medialen und funktionalen Eigenart aber so ernstzunehmen, als wäre es autonomes Kunstwerk. Es formt Kommunikation und produziert Wissen, wie auch das Andachtsbild oder das politische Flugblatt. Es ist Erfahrungs- und Austragungsort für die systemischen Konflikte, die sich aus seiner Herstellung ergeben, und das Produkt einer Evolution, welche quer zu wissenschaftlichen Disziplinen und sozialen Systemen verläuft. Als techne ist es im vollen Umfang des Wortes bildend.

MATTHIAS BRUHN

Zellbilder

ABB. I: Ludolph Christian Treviranus: Vom inwendigen Bau der Gewächse und von der Saftbewegung in denselben. Göttingen 1806, Tafel 1 (Foto: Autor); ABB. Z: Carl Asmund Rudolphi: Anatomie der Pflanzen. Berlin 1807, Tafel 3 (Foto: Barbara Herrenkind); ABB. 3: Wie Abb. 2; ABB. 4: Johanna Höög / EMBL Heidelberg 2 0 0 7 .

65

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Fallstudien

MARGARETE PRATSCHKE

Interaktion mit Bildern

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Smalltalk auf dem Alto, ca. 1975.

Interaktion mit Bildern. Digitale Bildgeschichte am Beispiel grafischer Benutzeroberflächen Margarete Pratschke In der Geschichte des Computers markiert die Entwicklung der grafischen Benutzeroberfläche den Wendepunkt des Computers von einer Expertenmaschine zu einem von jedermann intuitiv handhabbaren Massenmedium, Sie ersetzt die Programmierkenntnis und das kommandozeilenorientierte Interagieren durch die grafische Interaktion und damit durch technologie-spezifische Bildkompetenz. Seit Beginn der 1980er Jahre geschieht die Kommunikation des Benutzers mit der Maschine zunehmend über Bildstrukturens die sich auf dem Screen als

Interaktion mit Bildern

MARGARETE PRATSCHKE

Introducing Macintosh, for therestof us.

Interaktionsschnittstelle zeigen. Die Erfolgsgeschichte der massenhaften Verbreitung des Computers wurde ausgelöst durch einen Wandel der Interaktion vom Text zum Bild. Sie beruht auf der mit dem Bild verbundenen Vorstellung seiner gegenüber dem Text und komplexer Sprache vorzüglichen Eigenschaft, Sachverhalte leichter und anschaulich, intuitiv und auf einen Blick zu vermitteln. In ihrer fast alle Facetten des digitalen Alltags durchdringenden Prägekraft stehen die standardisierten Bildstrukturen der Benutzeroberflächen exemplarisch für die Verfasstheit des digitalen Bildes und für dessen historische Entwicklung. Als am weitesten verbreitete Anwendung von Computergrafik sind grafische Benutzeroberflächen zudem Beispiele digitaler Bildlichkeit, bei der es sich nicht um digitalisierte Bilder handelt, die in ihrer formalen Gestalt beziehungsweise als Ausgabeform von Daten stets wandelbar bleiben, sondern um eine digitale Bildform, die durch das Medium Computer genuin hervorgebracht wurde und auf dem Screen formal fixiert erscheint. Einzelne Elemente dieser visuellen Organisation der Bildfläche des Screens, wie etwa sich überlagernde Fenster, lassen einen spezifischen Stil entstehen und bilden formal-ästhetische Merkmale, deren bildliche Logik sich nicht allein aus ihrem instrumenteilen Charakter erklärt.

ABB. IA U. B: Anzeige für den Apple Macintosh in Newsweek, Dezember 1983, Seite 1 und S. 2 - 3 .

Digitale Bilder, S. 82

Bildbeschreibungen, S. 36

Der Screen als Interaktionsbild Als Ende des Jahres 1983 die Einführung des Macintosh-Rechners von Apple in einer 18-seitigen Anzeige in Newsweek angekündigt wurde, geschah dies mit den Worten: „Of the 2 3 5 million people in America only a fraction can use a computer. - Introducing Macintosh for the rest of us [...]" (Abb. l a u. l b Der Slogan „for the rest of us" machte

Zum Apple Macintosh siehe Steven Levy: Insanely Great. The Life and Times of Macintosh, the Computer That Changed Everything, New York 1994.

69

I n t e r a k t i o n mit Bildern

2 Zur

MARGARETE PRATSCHKE

Veranschaulichung

wird

Screenshots der jeweiligen

auf

Systeme

zurückgegriffen, die zwangsläufig das interaktive M o m e n t der Oberflächen beschneiden. Z u m Problem der Bildquellen, der Rekonstruktion, Bewahrung von digitalem Bildmaterial vgl. die Diskussion u m die Erhaltung v o n Software: D o r o n Swade: Preserving Software in an Object-Centered Culture. In: E d w a r d Higgs (Hg.): History and

Electronic

Artifacts,

Oxford

1 9 9 8 , S. 1 9 5 - 2 0 6 ; M a r t i n CampbellKelly: Think Piece: Software preservation: Accumulation and Simulation. In: Annals of the History of C o m p u ting, J a n u a r y - M a r c h 2 0 0 2 , S. 9 5 - 9 6 ; J o h n G. Zabolitzky: Preserving Software: W h y and H o w . In: Iterations: An Interdisciplinary Journal of Softw a r e History 1 (September 2 0 0 2 ) , S.

deutlich, dass sich dieser Computer nicht mehr allein an Technikexperten richtete. Das Mittel, um neue Nutzer, den „rest of us", zu erreichen, stellte eine spezifische Interaktionsform dar: Die grafische Organisation der Benutzeroberfläche beziehungsweise des Screens als interaktive Schnittstelle (Abb. 2).2 Dabei wies die Benutzeroberfläche des Macintosh folgende strukturelle, vom Betriebssystem abhängige, grundlegende Bildelemente auf: Innerhalb der Monitorgrenzen sind vor einem grauen Hintergrund am oberen Rand der Bildfläche des Screens eine Menüleiste, einzelne Icons und ein schwarzer Pfeil als Indikator des Mauszeigers sowie zwei einzelne rechteckige weiße, in sich visuell und typografisch gegliederte Bildfelder zu sehen, die sich überlagern und beschneiden. Durch die Schichtung der Felder und die Schattenränder an ihrer unteren und rechten Umfassung entsteht ein illusionistischer, tiefenräumlicher Eindruck. Die Fläche des Screens wird zum Bild(raum) - zu einem äußerst erfolgreichen Bild beziehungsweise einer bildlichen Struktur, deren bildräumliche Gesamtform von den sich überlagernden Fenstern gekennzeichnet ist.

1 - 8 ; Ulf Hashagen: Der C o m p u t e r als Ausstellungsobjekt: Eine kurze

Ge-

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Edit

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Special

schichte von Ausstellungen zur Geschichte des Computers. In: Arnold Vogt,

Hans

U.

Niemitz,

Mac System Software 227K in disk

Adelheid

173K available

Straten (Hg.): Technik - Faszination und Bildung. Impulse zur Museumspraxis,

Dialektik

und

Museologie,

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System Folder

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M ü n c h e n 2 0 0 8 , S. 1 1 2 - 1 3 0 . S y s t e m Folder 21 IK in folder Sys Version

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ABB. 2: Screenshot der Benutzeroberfläche des Apple M a c i n t o s h , 1 9 8 4 .

Siehe M a r t i n Campbell-Kelly: F r o m airline reservations to Sonic the H e d gehog.

A

history

of the

software

industry, Cambridge u . a . 2 0 0 3 , besonders S. 2 3 I f f . ( „ N o t only M i c r o soft").

70

Bereits in den achtziger Jahren befanden sich zahlreiche weitere grafische Benutzeroberflächen auf dem Markt, deren Systeme fensterbasiert verfuhren.3 Die zunehmende Ähnlichkeit der Grundstrukturen der visuellen Systeme führte zwischen Apple und Microsoft zu einem jahrelangen Rechtsstreit, der insbesondere die Form der „overlapping windows", wie Microsoft sie 1987 mit dem Betriebssystem Windows 2.0 einführte, betraf (Abb. 3). Als ein kalifornisches Gericht den Streit zwischen Apple und Microsoft 1992 entschied, wurde Apples Klage mit der Begründung zurückgewiesen, dass es sich bei der grafischen Benutzeroberfläche beziehungsweise den betreffenden Elementen um ein zum Standard gewordenes, allgemeines Prinzip handele, das daher nicht

Interaktion mit Bildern

M A R G A R E T E PRATSCHKE

schützbar sei.4 Die visuelle Form der Oberflächen, ihre formalen Strukturen, hatte sich zu einer veritablen Gattung digitaler Bildlichkeit entwickelt, mit deren Hilfe die Benutzer neben der Interaktion mit dem Betriebssystem jede Anwendung beziehungsweise Aufgabe, ob das Verfassen von Texten oder das Bearbeiten von digitalen Fotografien, ausführen konnten. 5 Die Grundlagen für diese Form interaktiver Bildlichkeit, die eine Art infrastrukturelles, visuelles System verschiedener Anwendungen bildet, wurden in den siebziger Jahren im Forschungslabor Xerox PARC gelegt.

MS-DOS Executiue Special ¡tallation

noe.TXT

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Control Panel Setup Preferences -Date 3/09/83

4 Z u m Rechtsstreit siehe das Urteil: Apple Computer, Inc. v. Microsoft Corp., (CA N o . Dist., 1992) (799 F. Supp. 1006), Court opinion: Judge Walker. 5 Z u m Wandel verschiedener Tasks zu strukturgleichen Bildern und der damit einhergehenden Synchronisierung von Kulturtechniken in grafischen Benutzeroberflächen siehe Margarete Pratschke: Jockeying Windows - Die bildräumlichen Strukturen grafischer Benutzeroberflächen als visuelle Grundlage von Multitasking. In: Multitasking. Synchronität als kulturelle Praxis, Ausst.kat., Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlin 2 0 0 7 , S. 16-24.

"Double Click Slow

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ABB. y. Screenshot der Benutzeroberfläche von Microsoft Windows 2.0, 1987.

Technikkompetenz durch/als Bildkompetenz Der Kopier- und Büromaschinenhersteller Xerox hatte 1970 das Palo Alto Research Center (PARC) gegründet, um das computergestützte Potenzial eines „Office of the Future" zu erforschen. Hierfür waren Computerwissenschaftler angeworben worden, die als Elite ihres Faches galten. Unter den bei PARC arbeitenden Wissenschaftlern war Alan Kay mit seiner Learning Research Group der zentrale Motor; der die Grundsätze der bildlichen Interaktion mit dem Computer in Gestalt der grafischen Benutzeroberfläche im Kontext der Programmiersprache Smalltalk als Lernumgebung entwickelte.6 Zu dieser Zeit bestand die übliche Rechnerform immer noch aus gemeinsam genutzten Großcomputern (Time-Sharing-Systemen), deren Gebrauch Ingenieuren und Programmierern vorbehalten blieb. 7 Die Interaktion an Großrechnern, die seit den siebziger Jahren aufgrund der erhöhten Prozessorenleistung durch erste Mikrocomputer Konkurrenz

6 Als Überblick über die Arbeit der Learning Research Group und die Entwicklung der Programmiersprache Smalltalk siehe Alan Kay, Adele Goldberg: Personal Dynamic Media. In: IEEE Computer, Bd. 10, Nr. 3 (1977), S. 3 1 - 4 1 ; zur Geschichte der Arbeit von Alan Kay siehe dessen retrospektive Zusammenfassung: Alan Kay: The Early History of Smalltalk. In: A C M SIGPLAN Notices, Bd. 28, Nr. 3 (1993), S. 6 9 - 9 5 ; vgl. Michael Friedewald: Der Computer als Werkzeug und als Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin/Diepholz 1999, S. 2 4 9 f f . , 31 I f f . 7 Zur Computergeschichte siehe allge-

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Interaktion mit Bildern mein: Paul E. Ceruzzi: A history of modern computing, 2. Aufl., Cambridge u.a. 2003.; zur Geschichte des Personal Computers siehe den hervorragenden Band von Michael Friedewald (s. Anm. 6).

MARGARETE PRATSCHKE

erhielt, erfolgte über Terminals a n h a n d k o m p l e x e r P r o g r a m m i e r s p r a chen und kommandozeilenorientierter Eingabe. 8 Ein Meilenstein der W e n d e v o n t e x t l i c h e r / p r o g r a m m i e r s p r a c h l i c h e r zu bildlicher Interaktio n bildete jedoch bereits Ivan Sutherlands P r o g r a m m Sketchpad

von

1 9 6 3 , das grundlegende M o m e n t e einer grafischen, über Z e i c h n u n g gestalteten Interaktion aufzeigte. 9

8 Zur Ideengeschichte der MenschComputer-Interaktion siehe Jörg Pflüger: Konversation, Manipulation, Delegation: Zur Ideengeschichte der Interaktivität. In: Hans Dieter Hellige (Hg.): Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin/Heidelberg/New York 2 0 0 4 , S. 367-408. Bildanordnungen, S. 1 1 6

Basierend auf Alan Kays Idee eines Dynabooks,

das unter a n d e r e m

die Vorstellung eines t r a g b a r e n N o t e b o o k - C o m p u t e r s formulierte, wurde bei X e r o x P A R C ab 1 9 7 2 mit d e m Alto ein leistungsfähiger C o m p u ter für den Einnutzerbetrieb (Personal C o m p u t e r ) für ein lokales N e t z w e r k entwickelt, der mit Tastatur, M a u s und einem Grafikbildschirm (bit-mapped) ausgestattet w a r und der Learning R e s e a r c h G r o u p für ihre F o r s c h u n g e n und die Entwicklung v o n Smalltalk diente. D e r Screenshot einer frühen Smalltalk-Oberfläche des A l t o v o n e t w a 1 9 7 5 (Abb. 4 ) zeigt unterschiedlich g r o ß e , weiße R e c h t e c k e , die d u r c h einfache dunkle Linien sowohl u m r a n d e t als a u c h binnengegliedert sind; die einzelnen

9 Ivan Edward Sutherland: Sketchpad. A man-machine graphical communication system. PhD Thesis MIT 1963 (= University of Cambridge Computer Laboratory Technical Report No. 574), with a new preface by Alan Blackwell and Kerry Rodden, http: / / w w w . c l . cam. a c . u k / T e c h R e p o r t s (Stand: 11/2006); zu Sketchpad vgl. Frieder Nake: The Display as a Looking Glass: Zu Ivan E. Sutherlands frühen Visionen grafischer Datenverarbeitung. In: Hellige (s. Anm. 8), S. 3 3 9 - 3 6 5 . Vgl. auch André Reifenrath: Die Geschichte der Simulation, Geschichte des Computers von den Anfängen bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Themas der Visualisierung und Simulation durch den Computer, Humboldt Universität zu Berlin, 2 0 0 0 . io Die Aufteilung des Screens für verschiedene Anwendungen in nebeneinander gestellten „Fenstern" erfolgte bereits in Douglas Engelbarts NLSSystem (ca. 1968). Zu Engelbart siehe Thierry Bardini: Bootstrapping: Douglas Engelbart, Coevolution, and the Origins of Personal Computing, Stanford 2 0 0 0 ; vgl. Friedewald (s. Anm. 6), S. 191 ff. ABB. 4: Screenshot der Benutzeroberfläche von Smalltalk auf dem Alto, ca. 1975.

72

Bildfelder überdecken sich und scheinen sich in ihren Beschneidungen zu überlagern. U m der Begrenzung der relativ kleinen Bildfläche des Screens des A l t o zu begegnen, die d u r c h sogenannte tiled windows,

die

den Bildschirm in einzelne Felder aufteilten, nicht hatte gelöst werden k ö n n e n , 1 0 entwickelte K a y die Analogie der einzelnen D o k u m e n t e n - beziehungsweise Anwendungs-Bildfelder zu Papierblättern, die überein-

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MARGARETE PRATSCHKE

andergelegt beziehungsweise gestapelt werden konnten: die overlapping windows. Sie beruhen in ihrem Ursprung auf der Vorstellung des Screens als Schreibtischfläche in einer Büroumgebung, auf der Papier abgelegt wird. Das visuelle Prinzip, um das sich in den achtziger Jahren der Streit zwischen Apple und Microsoft entspann, ging also auf keinen der beiden Kontrahenten zurück, sondern war bereits in Kays Bildkonzept der Interaktion für Nicht-Experten mittels der Programmiersprache Smalltalk angelegt. Bereits in seiner Dissertation hatte Alan Kay 1969 nicht nur seine Vorstellung, was Computer leisten, sondern insbesondere auch, an wen sie sich künftig richten sollten, entworfen: „It must be simple enough so that one does not have to become a systems programmer (one who understands the arcane rites) to use it." 11 Mit dem Ziel, diese geheimen Riten der spezialisierten Programmierer hinter sich zu lassen, trat auch die von Kay geleitete Learning Research Group bei Xerox PARC an, mit der Programmiersprache Smalltalk die Interaktion zu vereinfachen und somit die Zielgruppe der Computertechnik neu zu definieren.12 Indem die Learning Research Group die Nutzung von Smalltalk durch Kinder fokussierte, mit denen die Interaktion insbesondere experimentell getestet wurde, bezog sich die Forschung der Gruppe um Kay vor allem auf Lern- und Entwicklungstheorien aus Psychologie und Pädagogik, etwa von Jean Piaget und Jerome Bruner^ Maria Montessori und John Dewey. Kay formulierte: „[...] millions of potential users meant that the user interface would have to become a learning environment along the lines of Montessori and Bruner." Dies sollte erreicht werden durch „large scope, reduction in complexity, and end-user literacy".13 Angelehnt an Jerome Bruners Stufenmodell der kognitiven Entwicklung des Kindes, das zwischen einer enaktiven beziehungsweise sensomotorischen, einer präoperationalen beziehungsweise ikonischen und schließlich einer symbolischen Entwicklungsstufe unterschied, beruhte Kays Konzept intuitiver Erlernung und Nutzung des Mediums darauf, nicht nur zu versuchen, die Interaktion direkt auf die symbolischen, sondern neben der sensomotorischen vor allem auf die ikonischen, kognitiven Fähigkeiten des Menschen, seine ikonische Mentalität („iconic mentality") hin anzulegen.14 Um die Nutzergruppe von Computern zu erweitern, wurde ein weitreichendes Konzept bildhafter Interaktion, insbesondere in Form des ikonischen Programmierens („iconic programming") entworfen, welche die Komplexität der Programmierung beziehungsweise der Schnittstelle als Interaktionsmoment reduzieren und den Umgang mit dem Medium einfacher gestalten sollte.15 Bei den ursprünglichen Überlegungen über die Interaktion von „Novizen "/„Nicht-Experten" mit Computern schienen weniger Konzepte wie die Desktop-Metapher als vielmehr Fragen von Repräsentation und Illusion - mithin zentrale Bildbegriffe - eine Rolle zu spielen. Dies drückte sich auch im Interesse an Wahrnehmungs- und Gestalttheorien der Learning Research Group aus, das stark durch die Rezeption von

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II Alan Kay: The Reactive Engine. PhD Thesis, Electrical Engineering and Computer Science, University of Utah 1969, S. 75. ι ζ Siehe Adele J. Goldberg: The Community of Smalltalk. In: Peter H. Salus (Hg.): The Handbook of Programming Languages, Bd. 1: ObjectOriented Languages, Indianapolis 1998, S. 51-94, hier besonders S. 59. 13 Kay: Early History (s. Anm. 6), S. 69; vgl. auch die Experimente Seymour Paperts am ΜΓΓ, insbesondere dessen Programmiersprache Logo, die die Arbeit der Learning Research Group wesentlich beeinflusste. Zu Logo siehe Seymour Papert: Mindstorms. Children, Computers, and Powerful Ideas, New York 1980 (2. Aufl.). 14 Zu Alan Kays Rezeption von Jerome Bruners „Toward a Theory of Instruction" (1966) und dem daraus entwickelten Leitspruch „Doing with Images makes Symbols" siehe: Alan Kay: User Interface. A Personal View. In: Brenda Laurel (Hg.): The Art of Human-Computer Interface Design, Reading, Cambridge, Mass. u.a. 1990, S. 191-207, hier S. 194 ff., S. 196. 15 Zum Prinzip des „iconic programming" siehe vor allem David C. Smith: Pygmalion. A computer program to model and stimulate creative thought, Basel u.a. 1977.

Interaktion mit Bildern 16 Insbesondere der Apple Macintosh ist in seiner Konzeptionalisierung stark von wahrnehmungs- und gestalttheoretischen Vorstellungen geprägt. So berief sich Apple nicht nur im Marketing, sondern auch im oben erwähnten Gerichtsverfahren mit Microsoft zur Verteidigung der genuinen Form des Interfaces des Macintoshs mehrfach auf dessen „look and feel" und „gestalt theory". Zu Einflüssen der Gestalttheorie auf die Entwürfe grafischer Mensch-Maschine-Interaktion siehe Margarete Pratschke: Windows als Tableau. Zur Bildgeschichte grafischer Benutzeroberflächen, Diss., in Vorbereitung. 17 Alan Kay: Computer Software. In: Scientific American, Bd. 251, Nr. 3 (September 1984), S. 4 0 ^ 7 , hier S.42. 18 Kay: Computer Software (s. Anm. 17), S. 43. 19 Kay: User Interface (s. Anm. 14), S. 199. 20 Zur „Bildmagie", im Sinne einer Kritik eines dem Rationalismus verpflichteten, sprachlich fixierten Weltverständnisses, zusammenfassend Gerhard Wolf: Bildmagie. In: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 4 6 - 4 8 . Zum semantisch-ästhetischen Überschuss des Bildes im Verhältnis zur Sprache, im Sinne des Mannigfaltigen, Vieldeutigen, Sinnlichen und Mehrwertigen als Bildeigenschaften, siehe zusammenfassend Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bildet; Köln 2 0 0 4 , S. 28^13. 21 Zur Kritik der Ähnlichkeitstheorie siehe Oliver Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, Frankfurt a.M. 2 0 0 4 (2., vollst. Überarb. Auflage). Zum Wissenserwerb mit Bildern

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Bildtheorien Rudolf Arnheims und Ernst H. Gombrichs geprägt war. Nicht zuletzt schlugen sich Vorstellungen bildhafter Intuition sowie anschaulichen Denkens auch in der phänomenologisch anmutenden Devise „what you see is what you get" (WYSIWYG) nieder^16 die Kay als eine der Leitideen für den Entwurf einer grafischen Schnittstelle charakterisierte: „Perhaps the most important principle is WYSIWYG: the image on the screen is always a faithful representation of the user's illusion. Manipulating the image in a certain way immediately does something predictable to the state of the machine (as the user imagines the state)." 17 Kay betont jedoch nicht nur die Erzeugung einer „Illusion" durch das Bild auf dem Screen („image on the screen"), sondern fordert darüber hinaus neben einer „neuen Ästhetik" 18 als Eigenschaft des Interface „magische Momente", welche sich eben gerade nicht durch Metaphern herstellen lassen: „One of the most compelling snares is the use of the term metaphor to describe a correspondance between what the users see on the screen and how they should think about what they are manipulating. My main complaint is that metaphor is a poor metaphor for what needs to be done. At PARC we coined the phrase user illusion to describe what we were about when designing user interface. [...] it is the magical part that is all important and that must be most strongly attended to in the user interface design." 19 Indem Kay neben einer grundlegenden Ästhetik einerseits eine „magische Illusion" fordert und andererseits zugleich eine Korrespondenz zwischen dem Gesehenen und seiner kognitiven Referenz verlangt, spielt er implizit auf weitere grundlegende, mit dem Bild verknüpfte Eigenschaften an: Bildmagie und Abbildhaftigkeit beziehungsweise Analogiebildungen. Während mit der Bildmagie in der Kunstgeschichte ein bestimmter Eigensinn oder auch semantischer Überschuss des Bildes angesprochen wird, 20 der eben jenen konkreten, instrumenteilen Absichten der vereinfachten Mensch-Maschine-Interaktion beziehungsweise deren eindeutigen Erlernens als Technikkompetenz zu widersprechen scheint, gebührt der Abbildtheorie unter dem Gesichtspunkt des Lernens mit Bildern eine nicht minder kritische Rolle. Denn der Wende vom Text zum Bild in der Interaktion mit dem Computer liegt die Annahme zugrunde, Bilder seien aufgrund ihrer Ähnlichkeitsbeziehung zu einer bestimmten Referenz beziehungsweise einem Sachverhalt, den sie „abbilden", leichter erlernbar als Text, da sie intuitiv auf einen Blick zu verstehen seien.21 Wird die Benutzeroberfläche - jedoch nicht als metaphorisches Desktop, sondern in ihrer ursprünglichen Konzeption als Bild, als „visuelle Form" ernst genommen, stellt sich die Frage nach der „Referenz" aber auch im Verhältnis ihres strukturell-formalen Ähnlichkeitsbezugs zu anderen Bildern jenseits des Digitalen, deren Bedeutung und Entstehungskontext.

Interaktion mit Bildern

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Unordentliche Bild(an)ordnung Grafische Benutzeroberflächen sind seit den Anfängen bei Xerox PARC bis in die jüngere Zeit in ihrer Form durch das Prinzip der overlapping windows bestimmt, bei der rechteckige Bildfelder innerhalb des Bildformats, das durch den Rahmen des Screens begrenzt wird, angeordnet werden (Abb. 5 . In ihrer formalen Gestalt entsteht durch die Überlagerungen und Überschneidungen einer Vielzahl rechteckiger „Fenster" auf der Bildfläche des Screens ein bildräumlicher Eindruck, der die einzelnen Fenster-Bildfelder jedoch nicht tiefenräumlich, perspektivisch verkürzt wiedergibt. Vielmehr scheinen die einzelnen Fenster wie Bildtafeln bezugslos zueinander auf räumlich nicht exakt definierbaren Tiefenebenen voreinander zu schweben. Einerseits ergibt sich damit ein collagierender Gesamteindruck der Bildfläche, deren Bestandteile jedoch andererseits in relativer Ordnung orthogonal ausgerichtet sind und in ihrer Rechteckform nicht aufgelöst oder unwiederbringlich zersetzt werden. Die partiell collagierte Gesamtform ist zudem wieder aufhebbar und die Ordnung und Konzentration auf ein bestimmtes Fenster oder mehrere nebeneinander gestellte, intakte Fenster durch die Interaktion des Benutzers jederzeit wieder herzustellen. Damit knüpft die bildliche Form der Benutzeroberflächen weniger allein an die Collage als vielmehr an Fragen von Bild-Anordnungsprinzipien und an das Darstellungsprinzip von Tableaus an, bezieht man vor allem die Vorgängervariante der overlapping windows, die nebeneinander gestellten Fenster, tiled windows, in die Überlegung mit ein, bei denen wie beim klassischen Tableau einzelne Bildelemente auf einer Bildfläche zur Übersicht

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allgemein: Bernd Weidenmann (Hg.): Wissenserwerb mit Bildern. Instruktionale Bilder in Printmedien, Film/Video und Computerprogrammen, Bern u.a. 1993; Steffen-Peter Ballstaedt: Bildverstehen, Bildverständlichkeit. Ein Forschungsüberblick unter Anwendungsperspektive. In: Hans Peter Krings (Hg.): Wissenschaftliche Grundlagen der technischen Kommunikation, Tübingen 1996, S. 1 9 1 - 2 3 3 .

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ABB. 5: Screenshot einer Benutzeroberfläche von Microsoft Windows 2 0 0 0 mit multiplen, sich überlagernden Fenstern, 2006.

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zz Vgl. dazu das Prinzip der tiled windows, bei dem im Gegensatz zu den overlapping windows die einzelnen Fenster nur nebeneinander positioniert werden können. Siehe: Sara A. Bly, Jarrett K. Rosenberg: A comparison of tiled and overlapping windows. In: Proceedings of the SIGCHI conference on Human factors in computing systems, N e w York 1986, S 1 0 1 - 1 0 6 ; Brad Myers: Window interfaces. A taxanomy of window manager user interfaces. In: IEEE Compu-

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beziehungsweise zum Zweck des Vergleichs nebeneinander angeordnet sind.22 Formal wie theoretisch bildeten Interaktionsmomente von Betrachtern/Benutzern und Bildtafeln ein Zentrum des Interesses der klassischen Avantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Durch die selbst in Bewegung geratenen oder durch den Betrachter, dessen Blickoder Standortveränderung, bewegten Bildanordnungen changiert der bildräumliche Eindruck zwischen Einzel- und Gesamtansicht, Zweiund Dreidimensionalität. Experimentelle zeit-räumliche Bildanordnungsverfahren spielen mit der Desorientierung des Betrachters, der umso stärker zur Interaktion herausgefordert wird.

ABB. 6: Mies van der Rohe: Collage für den Entwurf des Hauses Resor, 1 9 3 7 - 1 9 3 9 . ter Graphics and Applications, Bd. 8, Nr. 5 (September 1988), S. 6 5 - 8 4 . 2.3 Zu Mies van der Rohe siehe Wolf Tegethoff: Zur Entwicklung der Raumauffassung im Werk Mies van der Rohes. In: Daidalos 13 (1984),

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Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe entwarf Ansichten seiner künftigen Bauten nicht nur anhand von Zeichnungen und Modellen, sondern insbesondere durch Collagen, welche die bildhafte Inszenierung seiner Architektur unterstrichen.23 So entstand etwa für das Haus Resor, ein Ferienhaus in Wyoming, im Jahr 1939 eine Collage, die den Ausblick aus dem Gebäude auf ein Flusstal visualisiert (Abb. 6). Wäh-

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rend die architektonische Form als negative Leerstelle nur angedeutet bleibt, konzentriert sich der Entwurf auf den räumlichen Eindruck, der durch drei sich überschneidende Rechtecke entsteht. Der im Hintergrund angebrachte Streifen einer Naturfotografie wird links von einer überdimensionalen Farbreproduktion eines Gemäldes von Paul Klee überschnitten, vor der wiederum rechts davor ein flaches, querformatiges, holzfurniertes Rechteck als innenarchitektonisches Element platziert ist. Fensterausblick, Gemälde und Raumteiler werden gleichberechtigt als frei im Raum schwebende Tafeln gezeigt, die ihre Position im architektonischen Raum nicht eindeutig zu erkennen geben. Es entsteht ein Spiel aus Distanz und Perspektive, die der Betrachter als Bild wahrnimmt, dessen illusionistisches Potenzial zwischen zweiter und dritter Dimension changiert. Mies' Architektur selbst ist dabei auf die in der Bewegung stattfindende Rezeption gestaffelter Schichten angelegt, welche die collagierte Blickführung stets aufzuheben vermag. Die Dynamisierung des Motivs schwebend-schwingender Rechtecke und damit des bildräumlichen Eindrucks wurde auch im experimentellen Film erprobt. Bereits in den zwanziger Jahren hatte der Maler Hans



S. 114-123; Neil Levine: Die Bedeutung der Tatsachen: Mies' Collagen aus nächster Nähe. In: Arch+ 146, (April 1999), S. 59-75. Vgl. Ulrich Müller: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004.

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ABB. 7: Hans Richter: Rhythmus 21, Filmstills, 1921.

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24 Hans Richter: Film ist Rhythmus, hg. v. Freunde der Deutschen Kinemathek, Berlin 2003 (= Kinemathek 95); vgl. Stephen C. Foster (Hg.): Hans Richter. Activism, Modernism, and the Avant-Garde, Cambridge u.a. 1998. 25 Hans Richter: Prinzipielles zur Bewegungskunst. In: De Stijl, Bd. 4, 7 (1921), S. 109-112; wiederabgedruckt in: Richter: Film ist Rhythmus (s. Anm. 24), S. 18-20.

M A R G A R E T E PRATSCHKE

Richter begonnen, mit Filmmaterial zu experimentieren, was unter anderem die abstrakte, animierte Sequenz Rhythmus 21 von 1921 zum Ergebnis hatte • Ikonologische Analyse, S. 48 25 Während in der Diskussion und Reflexion wissenschaftlich-technischer Bilder seitens der Kunstgeschichte zumeist die Analyse von Bildtraditionen in den Mittelpunkt gestellt wird, setzen wissenschaftshistorische Analysen häufig bei den Dynamiken experimenteller Prozesse und damit der Erzeugung von Differenzen an; diese Positionen vertraten beispielsweise explizit Horst Bredekamp, Gabriele Werner einerseits und Michael Hagner anderseits, vgl. Bildunterschätzung - Bildüberschätzung. Ein Gespräch der „Bildwelten des Wissens" mit Michael Hagner. In: „Bilder in Prozessen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,1 (2003), S.103—111. Während die beiden Positionen in diesem Gespräch noch als Widerspruchspaar erschienen, wurden sie in diesem Beitrag zusammengeführt, um den vielfältigen Facetten wissenschaftlicher Bildpraxis gerecht zu werden.

ABB. I: Gerd Binnig, Heinrich Rohrer: Scanning Tunneling Microscopy. In: Helvetica Physica Acta 55 (1982), S. 731; ABB. 2: IBM-Labor Rüschlikon; ABB. 3: Privatbesitz Hans-Rudolf Hidber; ABB. 4: Markus Ringger: Tunnelmikroskopie in Basel. Dissertation, Universität Basel 1986, S. 75, Abb. 3.2/8; ABB. 5: B. C. Crandall, James Lewis: Nanotechnology. Papers from the First Foresight Conference on Nanotechnology, Cambridge, Mass. 1992, Farbtafel 1; ABB. 6: http://www.wtec.org/loyolaynano/ IWGN.Public.Brochure/IWGN.Nanotechnology.Brochure.pdf (Stand 07/2008); ABB. 7: Wie Abb. 4, S. 93, Abb. 3.4/la und b; ABB. 8: Wie Abb. 4, S. 102, Abb. 3.5/3a und b; ABB. 9: Wie Abb. 4, S. 101, Abb. 3.5/2.

Repräsentationsketten

Abb. la, b, c: Eine Repräsentationskette i m Latour'schen Sinne rekonstruierte Julia Voss in ihrem 2007 erschienenen Buch „ D a r w i n s Bilder. A n s i c h t e n der Evolutionstheorie 1 8 3 7 - 1 8 7 4 " (S. 8 0 - 8 1 ) am Beispiel von Charles Darwins Galápagosfinken. 1835 von D a r w i n und seinen Gefährten auf den pazifischen Galápagosinseln geschossen, w u r d e n die Vögel zu Bälgen präpariert (Abb. 1a: Ein Fink der Galápagosinseln m i t von D a r w i n beschrifteter M u s e u m s e t i k e t t e aus d e m Natural History M u s e u m London). Nach ihrer Versendung 1837 nach London identifizierte J o h n Gould, Kurator der Zoological Society, die Bälge als Finken einer Gattung und skizzierte sie erstmals. Auf der Grundlage dieser ersten Skizzen fertigte Goulds Frau Elizabeth Zeichnungen an, die sie auf den Stein übertrug, der dann als Vorlage im lithografischen Druckverfahren genutzt w u r d e . Die so entstandenen Lithografien (Abb. 1 b: Geospiza strenua. Elizabeth Goulds lithografische Tafel aus „ T h e Zoology of t h e Voyage of H.M.S. Beagle, 1841 ") f ü h r t e n die Finken als A r t e n einer neuen Gattung, in Farbe und m i t Landschaftsausschnitt vor. Diese Drucke sichtete, beschnitt und arrangierte D a r w i n neu und schuf so eine vergleichende Bildfolge von vier der auf den Galápagosinseln ges a m m e l t e n Finkenarten (Abb. 1c: Die Galápagosfinken in der deutschen Ausgabe von Darwins „ R e i s e eines Naturforschers u m die W e l t " , 1899). Erst in dieser Gesamtschau w u r d e die graduelle Modifikation der Finken sichtbar, w e l c h e Darwin den W e g für seine Theorie der evolutionären Artaufspaltung ebnete.

Einem traditionellen Verständnis zufolge erhalten Wissenschaftsbilder ihren Zweck außerhalb von sich selbst, indem sie auf Phänomene und Daten verweisen. In der Wissenschaftsforschung ist seit den 1980er Jahren jedoch vermehrt darauf hingewiesen worden, dass sich die traditionelle Vorstellung einer Korrespondenz zwischen einem Wissenschaftsbild und einem davon unabhängigen Gegenstand nicht halten lässt, da eine klare Zuordnung von Repräsentation und Repräsentiertem nicht möglich ist. Die Frage nach dem Referenten ist in den Wissenschaften nicht im Sinne von einfachen Abbildungsverhältnissen und Wirklichkeitsbezügen zu stellen. Einen wesentlichen Anstoß hat der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking Anfang der 1980er Jahre mit seinem Buch Representing and Intervening gegeben, in dem er hervorhob, dass mitunter erst durch das Eingreifen des Experimentators eine Repräsentation möglich werden kann, sodass das Repräsentierte erst in der intervenierenden Erstellung einer Repräsentation entsteht (Hacking 1983) (-• Fallstudien Franziska Brons, S.152, Vera

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Dünkel, S. 136, Jochen Hennig, S. 86). Repräsentation ist demnach nicht im Sinn von Wirklichkeitsbezügen oder Korrespondenzen zu einem unabhängigen Gegenstand zu verstehen, sondern im Sinne von Konstruktionsprozessen (Hagner 1997). Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger hat daher vorgeschlagen, im Zusammenhang mit der experimentell-instrumentellen Gewinnung von Erkenntnissen auf den Begriff der Repräsentation zu verzichten und stattdessen von Sichtbarmachungen zu sprechen (Rheinberger 2001) (-• Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132). Aus der Betrachtung experimenteller Praktiken hat die Wissenschaftsgeschichte des Weiteren den Bezug von Repräsentationen auf andere Repräsentationen hervorgehoben: sie stellten Verweise dar, die von komplexen Praktiken der Referenz geprägt seien. Mehrere Autoren der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie verwenden daher den Begriff der „Repräsentationsketten" (Pickering 1995, Latour 1996), mit dessen Hilfe die Transformation einer Repräsentation in eine andere bildhaft

Repräsentationsketten

Abb. 2a-h: „ It is a cartoon of representation in which scientific accuracy is impossible. " Mit diesen Worten kommentierten die Neurochirurgen Wilder Penfield und Theodore Rasmussen ihre berühmt gewordenen Bilder des sensorischen und motorischen Homunkulus (Abb. 2f u. g), in denen sie die zentralen Ergebnisse ihrer Studie „The Cerebral Cortex of Man. A Clinical Study of Localization of Function" von 1950 zusammenfassten. Tatsächlich steht Penfields und Rasmussens „cartoon of representation" am Ende einer „Repräsentationskette". Die Abbildungen 2a-c veranschaulichen am Beispiel einer Operation unter lokaler Betäubung am offenen Gehirn eines Patienten (Abb. 2a), der aufgrund eines Tumors unter epileptischen Anfällen litt, die Methode, mit der Penfield und seine Kollegen die der Studie zugrunde liegenden Daten erhoben. Um während der Entfernung des Tumors keine sensorischen und motorischen Funktionen des Gehirns zu beschädigen, wurden sie durch Stimulation mit einer Elektrode lokalisiert. Erhielten die Ärzte auf eine Stimulation eine positive Reaktion des Patienten, zum Beispiel ein Gefühl in der Zunge oder eine Bewegung der Hand, wurden an diesen Stellen Indexierungen in Form kleiner Papiertickets mit fortlaufender Nummerierung angebracht (Abb. 2b). Parallel dazu diktierte der operierende Arzt jede positive Reaktion einer Sekretärin, die sich in einer an den Operationsraum angrenzenden und mit diesem über ein Mikrofon verbundenen Kabine mit Fenster befand (Abb. 2a, links). Abschließend dokumentierte der Arzt die Positionen aller Papiertickets, indem er sie in eine Gehirnkarte einzeichnete

gefasst werden soll. Dieser Ansatz ist seit jeher in der Kunstgeschichte praktiziert worden, wo Werke auf ihre Vorstudien hin bezogen werden. Bei Skizzen, Entwürfen oder Modellen stellt sich ebenso die Frage, wie die Transformationsschritte von den Vorstufen zum endgültigem Werk zu interpretieren sind. Einen zentralen Beitrag zum Konzept der Verkettung von Repräsentationen hat der Ethnologe und Wissenschaftssoziologe Bruno Latour mit seiner Feldstudie einer Urwalduntersuchung im Amazonas geliefert, in der er detailliert aufzeigt, wie die Wissenschaftler zunächst Pflanzen- und Bodenproben nehmen und sortieren, um sie dann in mehreren Schritten in Skizzen und Grafiken zu überführen. Latour hebt hervor, dass es bei jeder dieser Transformationen einerseits zum Bruch kommt und andererseits Anknüpfung und Ähnlichkeit gegeben sein müssen. Die Referenz sieht Latour nicht im direkten Bezug zwischen dem Anfangs- und Endglied dieser Kette also in seinem Beispiel im Urwald auf der einen Seite und dem letztlich publizierten Diagramm des Urwalds auf der

anderen Seite - , sondern in den Eigenschaften der Kette. Jedes Kettenglied muss sich notwendigerweise auf ein vorhergehendes Glied beziehen und die Kette muss sich zurückverfolgen lassen (Latour 1996). Die Universalität des Ansatzes liegt in der Beschreibung der Überführung und Transformation zwischen unterschiedlichen medialen Repräsentationsformen wie Sammlungsobjekten, Graphen, Zeichnungen und diagrammatischen Bildern (Abb. 1 a, b, c u. 2 a-h). Dabei hebt Latour durchaus die Existenz von spezifischen Konventionen für unterschiedliche Darstellungsformen hervor. Dieser Hinweis deutet auf die medialen Eigenarten unterschiedlicher Repräsentationsformen hin, durch die auch das jeweilige Wissen eine mediale Prägung erfährt. Zu untersuchen wäre demnach, welche Veränderung das dargestellte Wissen bei solchen medialen Transformationen erfährt (Mersch 2004). Für eine historische Bildwissenschaft wird dieser Ansatz fruchtbar, indem einzelne wissenschaftliche Bilder als Teil einer Repräsentationskette aufgefasst werden

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Repräsentationsketten uojsovg

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(Abb. 2c). Sie blieb über die Fotografie (Abb. 2b) im Nachhinein überprüfbar. Neunzehn Jahre lang sammelten Penfield und seine Kollegen bei nahezu vierhundert Operationen Daten über die Lokalisierung sensorischer und motorischer Funktionen im Gehirn in Form von schriftlichen Protokollen, Gehirnkarten und Fotografien. Sie werteten die Daten in diagrammatischen und schließlich figürlichen Darstellungen aus. Die Abbildungen 2d und 2e fassen die Daten in zwei Balkendiagrammen zusammen. Die vertikale Achse markiert dabei jeweils die Rolando-Furche des Gehirns, entlang derer die entsprechenden Reizfelder ausgewählter Körperteile ihrer Reihenfolge nach angeordnet sind. Die Balkenlänge verhält sich proportional zur Anzahl positiver Reaktionen im Bereich des Gyrus postcentralis bzw. Gyrus praecentralis. So wird deutlich, dass die sensorischen Funktionen primär im Gyrus postcentralis des Gehirns repräsentiert werden (Abb. 2d), die motorischen Funktionen hingegen vorrangig im Gyrus praecentralis (Abb. 2e). Schließlich wurden diese Ergebnisse in figürliche Darstellungen überführt (Abb. 2f u. g). Für die sensorischen und motorischen Funktionen wurden, jeweils getrennt voneinander, die einzelnen Körperteile entsprechend ihrer Repräsentation im Kortex entlang eines Querschnittes der Hemisphäre angeordnet. Ihre Größe verhält sich dabei proportional zur Anzahl positiver Reaktionen, woraus eine verzerrte Darstellung gegenüber der Anatomie des Körpers resultiert. Das Ergebnis ist ein sensorischer (Abb. 2f) und motorischer Homunkulus (Abb. 2g).

und ihr epistemischer Status durch diesen Bezug bestimmt wird. Diese Betrachtung lässt sich dann mit der Untersuchung einzelner Bilder verbinden, indem etwa durch den Bezug zu Bildern außerhalb der Repräsentationskette ihr visueller Mehrwert bestimmt wird. (JA/JH)

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Repräsentationsketten

Diese beiden figürlichen Darstellungen von 1950 referieren wiederum auf den sensomotorischen Homunkulus von Wilder Penfield und Edwin Boldrey aus dem Jahr 1937 (Abb. 2 h). Diese frühe Version eines Homunkulus verdeutlicht, dass das grundlegende Prinzip der auf den Kortex projizierten, proportional verzerrten Körperteile bereits 1937 entwickelt war. Indem jedoch in der Version von 1950 die Darstellungen der sensorischen und motorischen Funktionen voneinander getrennt wurden, kamen Penfield und seine Kollegen zu einer Differenzierung der früheren Version.

Literatur und Bildquellen Horst Bredekamp, Franziska Brons: Fotografie als Medium der Wissen-

Dieter Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik.

schaft. Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration.

In: Martina Heßler (in Zusammenarbeit mit Jochen Hennig und

In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 365-381.

Dieter Mersch): Explorationsstudie im Rahmen der BMBF-För-

Ian Hacking: Representing and Intervening. Introductory Topics in the

derinitiative „Wissen für Entscheidungsprozesse" zum Thema

Philosophy of Natural Science, Cambridge 1983. Michael Hagner: Zwei Anmerkungen zur Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte. In: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hag-

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Andrew Pickering: The Mangle of Practice, Chicago 1995.

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Hans-Jörg Rheinberger: Objekt und Repräsentation. In: Bettina Heintz,

Bruno Latour: Der Pedologenfaden von Boa Vista - eine photo-philo-

Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbar-

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gen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 191-

2001, S. 55-61.

248. Abb. 1 a: Julia Voss: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874, Frankfurt a. M. 2007, Abb. 13; Abb. 1 b: The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle, Part III: Birds, London 1986 (Nachdruck der Ausg. London 1841; = The Works of Charles Darwin, hg. v. Paul H. Barrett, R. B. Freeman, Bd. 5), S. 150; Abb. 1 c: Charles Darwin's gesammelte Werke, Bd. 1 : Reise eines Naturforschers um die Welt, Stuttgart 1899 (2. durchges. Aufl.), S. 413; Abb. 2a: Wilder Penfield, Theodore Rasmussen: The Cerebral Cortex of Man. A Clinical Study of Localization of Function, New York 1955 (3. Aufl.), S. 8. Foto: Charles Hodge, H. S. Hayden; Abb. 2b: Wie Abb. 2 a, S. 6. Foto: Charles Hodge, H. S. Hayden; Abb.2c: Wie Abb. 2a, S. 9; Abb.2d: Wie Abb. 2a, S. 22; Abb.2e: Wie Abb. 2a, S. 46; Abb.2f: Wie Abb. 2a, S. 44. Zeichnung: H. P. Cantlie; Abb.2g: Wie Abb. 2a, S. 57. Zeichnung: H. P. Cantlie; Abb. 2h: Wilder Penfield, Edwin Boldrey: Somatic Motor and Sensory Representation in the Cerebral Cortex of Man as Studied by Electrical Stimulation. In: Brain. A Journal of Neurology, Bd. 60, Heft 4 (1937), S. 432. Zeichnung: H. P. Cantlie.

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Bilderreihen der Technik

HEIKE WEBER

ABB. I: Bild 1 der Mappe „Glas", Foto: Deutsches Museum.

Bilderreihen der Technik. Das Projekt Technik im Bild um 1930 am Deutschen Museum Heike Weber

Bildanordnungen, S. 116

Durch eine aufeinander bezogene Abfolge ihrer Einzelbilder kann die Bildreihe - sei es im Comic, Bilderbuch oder Film - eine Narration erzeugen. Das Prinzip einer solchen Bilderzählung machte sich auch die Bildkompilation Technik im Bild zunutze, die in den 1930er Jahren am Deutschen Museum in München entstand: Zu unterschiedlichsten technischen Sachgebieten wurden historische und zeitgenössische Bilddokumente gesammelt und im vertrauten Format des Fotoalbums als Serie mit vermutlich rund 150 Titeln präsentiert. In diesen Alben stellen chronologisch geordnete Bildreihen die Entwicklung einer jeweiligen Tech-

HEIKE WEBER

Bilderreihen der Technik

nik als sukzessive Fortschrittsgeschichte dar, an deren Ende die ausdifferenzierten Verfahren der modernen Industrie- und Massenproduktion stehen; Bildreihen zeitgenössischer Werksfotografien wiederum führen den Betrachter vom Rohstoff bis zum Endprodukt virtuell durch die industriellen Produktionsprozesse. Das Medium des Bildes wurde eingesetzt, um Technik leicht verständlich zu präsentieren: Die Bildreihen zerlegen technische Abläufe in verstehbare Etappen; Einzelbilder verschaffen einen ersten Eindruck von Apparaturen und Arbeitsprozessen oder schematisieren technische Prinzipien. Das Bild versprach, selbst den Blick des Techniklaien auf sich zu lenken und somit weite Volksschichten an technische Wissensinhalte heran- und durch technische Prozesse hindurchführen zu können; die Fotografie wiederum galt als präzises Dokumentationsmittel und war zugleich eine billige Technik der Reproduktion.

ABB. Z: Bild 18 der Mappe „Glas" - eine Frontaufnahme eines Spiegelglas-Hafenofens, Foto: Deutsches Museum.

Ein abfotografierter Stich zweier überquellender Behältnisse auf einem Feuer \bb. 1 leitet eine Fotostrecke ein, die in einer Mappe mit dem Titel Glas zusammengestellt wurde. Der Betrachter blättert abwechselnd durch Schwarzkartonagen, die beidseitig mit Fotos beklebt sind, und Papierseiten, welche die Bilder um einen knappen, maschinengeschriebenen Text ergänzen. Nach einigem Blättern folgt Bild Nr. 18 - eine handschriftliche Nummerierung ist links über dem Foto erkennbar: die Werksfotografie einer Ofenbatterie in einer menschenleeren Fabrikhalle (Abb. 2). Isoliert betrachtet haben die beiden Aufnahmen kaum mehr als die Präsentation eines irgendwie technischen Sachverhaltes gemein, zumal es sich um unterschiedliche Bildgattungen handelt; selbst die Größe des Abzugs ist uneinheitlich. Einen zusammenhängenden

Bilderreihen der Technik

HEIKE WEBER

1 An dieser Stelle möchte ich mich beim Archivleiter des Deutschen Museums, Dr. Wilhelm

Füßl,

bedanken,

der

mich nicht nur auf „Technik im Bild" aufmerksam machte, sondern auch bei der Suche nach weiteren Quellen half. Im Folgenden werden zwei der im Bildarchiv erhaltenen Technik ßi'W-Mappen vorgestellt: Glas

im

(ohne

Mappen-Nr.; Bearbeiter: Studienprofessor Dr. Ludwig Springer, Leiter der chemisch-technischen

Abteilung

an

Sinn erhalten sie erst als wohlgeordnete Glieder einer langen Bilderkette, die beim Blättern der Mappe entfaltet wird. In rund 120 Fotografien veranschaulicht sie die historische und zeitgenössische Glasproduktion. Aus unterschiedlichsten Bildvorlagen von einem Studienprofessor einer glastechnischen Fachschule kompiliert, ist die Mappe selbst ein Unikat. Zugleich ist sie Teil eines fortlaufenden Bildkorpus, der seit 1933 am Deutschen Museum unter der Bezeichnung Technik im Bild [T.Í.B.] angelegt und zur allgemeinen Einsichtnahme in der Bibliothek gezeigt wurde.1 Machart, Wirkung und Ziele der so entstandenen Bildreihen der Technik werden im Folgenden vorgestellt.

der Staatlichen Fachschule für Glasindustrie in Zwiesel, Bayern):

Deut-

sches Museum, Archiv, BA 0 6 5 1 und BA 0 6 5 2 ; Brauerei

(Mappe Nr. 88;

Bearbeiter: Brauereichemiker a. D. Dr. F. Eckhardt): Deutsches Museum,

Technikpopularisierung über das Bild: Zur Idee von Technik im Bild

Archiv, BA 0 7 8 2 . 2 Der Begriff der „Bilderschau" fällt u.a. in der Ausschusssitzung von Mai 1 9 3 2 , in der von Miller seine Idee vorstellte, vgl. Oskar von Miller: Bericht über

die Museums-Bibliothek.

In:

Verwaltungs-Bericht über das 2 8 . Geschäftsjahr Mai 1 9 3 1 bis Mai 1 9 3 2 und Bericht über die 2 1 . AusschussSitzung

des

Deutschen

Museums,

S. 2 7 - 3 2 , hier S. 3 0 . 3 Die Zahlen

sind

unterschiedlichen

Dokumenten der für Technik im Bild überlieferten Verwaltungsakten entnommen, vgl. Deutsches

Museum,

Archiv, VA 5 0 4 3 .

-»• Wissenschaftspopularisierung, S. 208 4 Vgl. die Transkription „Besprechung mit Herrn Dr. von Miller am 2 6 . 9 . 3 2 nachmittags 4 . 3 0 " . Thema war die Bilderschau. In: Deutsches Museum, Archiv, VA 5 0 4 3 .

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Technik im Bild wurde 1932 durch Oskar von Miller (1855-1934) initiiert. Er hatte 1903 das Deutsche Museum als naturwissenschaftlich-technische Volksbildungsstätte gegründet, dessen etablierte Wege der Wissensvermittlung, Ausstellung und Bibliothek Technik im Bild um eine dezidiert bildbasierte Präsentationsform ergänzen sollte. Die „Bilderschau"2 sollte einzelne Wissensbestände, vorrangig der Technik und nur nachgeordnet der Naturwissenschaften, in kommentierten „Mappen" mit je 50 bis 100 Fotografien abhandeln. Diese würden ihren Platz in der Museumsbibliothek finden, die zu den besten technisch-wissenschaftlichen Bibliotheken der Zeit zählte. Obwohl Oskar von Miller eine Anzahl von immerhin 300, gar 500 Mappen, also ein Bildbestand von bis zu 35.000 Fotografien vorschwebte,3 sollte Technik im Bild nicht sämtliche Technikfelder abdecken. Vielmehr sollten solche Sachgebiete aufgegriffen werden, „deren Bildmaterial, ohne wissenschaftlichen Einschlag und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, als richtige .Bilderbücher für Erwachsene' das große Publikum wirkungsvoll unterhalten" könne, wie eine Besprechungsnotiz vom 26. September 1932 festhielt.4 Das Enzyklopädische wurde zugunsten des unterhaltsamen Beispiels zurückgestellt. Wie viele Mappen welchen Titels schließlich in der Bibliothek standen, lässt sich nicht genau sagen. Als Oskar von Miller im Mai 1933 sein Amt als ehrenamtlicher Museumsdirektor niederlegte, konnte er Technik im Bild als sein letztes großes Museumsprojekt mit rund 100 Mappen eröffnen; weitere Titel waren in Vorbereitung. Die meisten Mappen wurden von externen Fachleuten aus Industrie, Verbänden und Universitäten erstellt, die für die konkrete Anfertigung der Mappen eine museale Unterstützung erhielten. Darüber hinaus konzipierten auch Mitarbeiter des Deutschen Museums einige Titel. Bis Mitte der 1930er Jahre dürfte der Mappenbestand auf circa 150 Titel angewachsen gewesen sein. Allerdings wurde die Bildserie nach dem Rücktritt von Millers nicht mehr systematisch weiterverfolgt, was sie zugleich vor einer

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Instrumentalisierung für eine nationalsozialistische Technikpropaganda bewahrte.5 Technik im Bild wurde in der Bibliothek der Nachkriegszeit nicht mehr eingerichtet. Im heutigen Bildarchiv des Museums sind 51, teils mehrteilige Bildserien überliefert, von denen lediglich eine den Originalzustand aufweist.6 Die restlichen wurden in Büro-Ordner überführt. Seitlicher Falz, Kordelbindung und Einband der Bildmappen wurden hierzu entfernt; die einst querformatigen Papiere und Pappen, die zum leichten Umwenden einen eingearbeiteten Falz und abgestufte Blätterhilfen aufwiesen, wurden zurechtgestutzt. Nur die Reste eines textilen Klebestreifens, der an zahlreichen Pappenrändern haftet, verrät die aufwendige Handarbeit der einstigen Gestaltung. Um kompatibel für die normierten DIN-A-4-Ordner zu werden, wurden außerdem sämtliche Blätter gelocht - allerdings am oberen Rand statt an der seitlichen Bindungskante. Obwohl stets von „Mappen" gesprochen wurde, handelte es sich also ursprünglich um Fotoalben mit fest eingeklebten Bildern.

Die Bildreihe als Bild(ungs)programm Zur konkreten Umsetzung der Idee einer Technik im Bilde liegen kaum Unterlagen vor. Die erhaltenen Mappen beziehungsweise Alben geben aber durch Inhalt und Machart Aufschluss über Ziele und Rhetorik der einstigen Bilderschau. Auch wenn manche Fotografien von den Pappen gerissen wurden, so liegt die ursprüngliche Abfolge von Bildpappen und Textblättern in fast jedem Album unverändert vor, die ein relativ fest gefügtes formales Schema aufweist. Jede Bildmappe wird von einem einheitlich gedruckten Titelblatt eröffnet. Unter der Zuordnung „Deutsches Museum - Bibliothek Technik im Bild" war darauf ein nicht immer ausgefülltes Feld für die Mappennummer vorgesehen, und der jeweilige Mappenbearbeiter wurde benannt. Dem Titelblatt folgen oft, aber nicht durchgängig ein „Inhaltsverzeichnis" mit den Kurztiteln aller Bilder oder auch ein „Bildnachweis", der ohne genaue Angaben zur Originalquelle die Reproduktions- beziehungsweise Lieferstelle der Fotografie nennt. Bei einigen Mappen befinden sich diese Verzeichnisse am Schluss, wo teilweise auch eine themenspezifische Bibliografie angefügt wurde. Die durch das Album materialisierte Reihung bildet das formale Grundprinzip der eigentlichen Bilderschau. Das gebundene Album fordert dazu auf, es durchzublättern, die Einzelbilder zu betrachten und diese gemäß ihrer Abfolge zu kombinieren. Über das beliebige Vor- und Zurückblättern können darüber hinaus nach eigenem Interesse weitere Bezüge hergestellt und die Bildrezeption kann dem eigenen Tempo und Verstehen angepasst werden. Zwar sind die Bild- und Textarrangements von Mappe zu Mappe und teilweise auch innerhalb einer Mappe dispa-

Bilderreihen der Technik

5 Ausführlicher hierzu Heike Weber: Technik im Fotoalbum: Die Bilderschau Technik im Bild am Deutschen Museum. In: Alexander Gall (Hg.): Konstruieren, Inszenieren, Präsentieren. Göttingen 2 0 0 7 , S. 3 9 7 - 4 3 4 . 6 Der Bau des Deutschen Museums, Mappe Nr. 59, bearbeitet vom Architekt Karl Bäßler.

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7 Vgl. Detlef Hoffmann (Hg.): Erzählende Bilder, Oldenburg 1998. Bildanordnungen, S. 116

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rat: Die Formate der Fotografien sind unterschiedlich; mal wurde ein großes Bild, mal bis zu vier kleinere Fotografien auf einer Pappseite angeordnet; die Bilder haben oft, aber nicht immer, aus Papierstreifen gefertigte Untertitel; die Texte wiederum unterscheiden sich je nach Bearbeiter erheblich in Stil, Länge sowie in ihrem Bezug zum Bild. Stets durchgehalten werden jedoch der seitenweise Wechsel von Bild und Text und die regelmäßige Anordnung der Fotografien auf der Pappe, die das Album als Informationsinstrument ausweist. Dem Format des Fotoalbums entsprechend, sind die Bilder chronologisch sowie nach Unterthemen geordnet und oftmals zusätzlich durchnummeriert. Um eine Bildreihe zum Erzählen einer Geschichte zu bringen, müssen ihre Einzelbilder eine für Auge und Verstand sinnvolle Abfolge aufweisen. 7 Die Herausforderung für die Mappenbearbeiter bestand also darin, den für die Abhandlung des jeweiligen Themas notwendigen Bildbestand in einen argumentativen Zusammenhang zu fügen. Die gelungene Bildreihe benötigt ein Verbindungsglied zwischen dem Vorher und Nachher der Bilder, das diese wie Glieder einer Kette aneinander knüpft. Damit eignete sie sich in besonderer Weise für zwei bis heute geläufige Erzähllinien der Technikpopularisierung: für die Schilderung der technikhistorischen Entwicklung als linearen Fortschritt, bei dem eine nachfolgende Erfindung auf die vorherige aufbaut, sowie für die Beschreibung einer Produktwerdung vom Rohstoff bis zum Endprodukt.

Technikgeschichte als eine Entwicklungsreihe in Bildetappen

ABB. I: Bild 1 der Mappe „Glas", Foto: Deutsches Museum.

Fast alle Mappen werden mit einer Bildstrecke zur historischen Entwicklung der jeweiligen Technik eröffnet. So visualisiert das Eingangsbild der G/as-Mappe (Abb. 1 den schriftlichen Erstnachweis der Glaserzeugung im alten Ägypten (um 1600 v. Chr.). Sand und Soda wurden über einem Feuer zusammengeschmolzen. Nach einem abermaligen Erhitzen konnten aus der Schmelze Glasgegenstände geformt werden. Da hierfür keine Bildüberlieferung vorliegt, griff der Mappenbearbeiter auf eine schematische Darstellung der gängigen Glasliteratur zurück, nannte als Bildnachweis jedoch nur die Lichtbildstelle des Deutschen Museums. Sie fertigte zahlreiche Reproduktionen dieser Mappe an; weitere Fotografien lieferten Glasproduzenten, Industrieverbände und technische Lehranstalten. Die abfotografierte Zeichnung reduziert das altägyptische Verfahren auf die grundlegenden Elemente des offenen Holzfeuers und der flachen Schmelzpfannen; erst der gegenüberliegende Begleittext informiert über die Inhalte der Pfannen und die einzelnen Verarbeitungsschritte. Auf den nächsten Seiten sind Fotografien von antiken Glasobjekten zu sehen, darunter flaschenartige, durchsichtige, also entfärbte Gläser. Dem

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HEIKE W E B E R

i auΒ e i n e r Hraba.iua

.bsohrif

folgen rund zehn Bilder, welche die Glasherstellung im gemauerten Ofen zeigen, der höhere Schmelztemperaturen ermöglichte. Bei der als Bild Nr. 7a reproduzierten „Malerei" Abb. 3, links) handelt es sich um eine Miniatur aus einer 1023 n. Chr. angefertigten Handschrift des Traktates De Universo von Hrabanus Maurus (9. Jh.). Es ist die älteste bekannte Abbildung des gemauerten Ofentyps. Daneben ist als Bild Nr. 7 b (Abb. 3, rechts) außerdem die Reproduktion einer spätmittelalterlichen Glashüttendarstellung aus den Reisebeschreibungen des Jean de Bourgogne aufgeklebt worden. Die Vorlage dürfte ebenfalls der gängigen Fachliteratur entnommen worden sein, was auch die dort gleichermaßen anzutreffende falsche Datierung ins 14. statt ins frühe 15. Jahrhundert nahe legt.8 Durch ihre Anordnung auf derselben Pappe werden die beiden Bilder als Repräsentanten der gleichen Technikstufe behandelt. Der Betrachter sucht und findet ähnliche Werkzeuge und Arbeitsschritte wie die gemauerten Ofenanlagen, das Benutzen des Blasrohrs oder das Abstellen geformter Gläser in abgetrennten Ofenbereichen. Gerade weil sich dem Laien zahlreiche Bildinhalte wie die Handgriffe des in der Miniatur links porträtierten Mannes (Abb. 3, links' verschließen, wird seine Aufmerksamkeit auf markante Merkmale und Veränderungen der Technik gelenkt. In der Sukzession der Bilder von Pappe Nr. 1 zu Pappe

ABB. 3: Zwei nebeneinander auf einer Pappe arrangierte Reproduktionen mittelalterlicher Handschriftenillustrationen zur Glasfertigung, Foto: Deutsches Museum.

8 So ist das Bild ohne nähere Quellenangabe abgedruckt und „um 1 3 4 0 " datiert in Hans Schulz: Die Geschichte der Glaserzeugung, Leipzig 1 9 2 8 , S. 3 1 . Auf den Datierungsfehler verweist

bereits

deutschen

F. Rademacher:

Gläser

des

Die

Mittelalters.

Berlin 1 9 3 3 . In Tafel A, S. 1, ist der Malereiausschnitt mit exakter Herkunftsangabe aus einer Handschrift des British Museums zu finden.

ios

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ABB. 4: Vereinheitlichte und zu einer Pappe zusammengestellte Reproduktionen aus „De re metallica", Basel 1556, Foto: Deutsches Museum.

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Nr. 7 wird so das Argument erzeugt, die Glasproduktion habe sich über die Zeit hinweg schrittweise fortentwickelt, wobei die zeitlich spätere Technik als eine folgerichtige Verbesserung der früheren erscheint. Dabei wird nicht nur eine zeitliche Kontinuität des Technikfortschritts suggeriert, sondern ebenso die Existenz eines Wissensraums, der die geografischen Räume Ägypten und Europa als eine Einheit umspannt. Das Seherlebnis des Technikfortschritts setzt sich in den weiteren Bildern fort. Beim Umblättern der Pappe Nr. 7 erscheinen auf der Rückseite zwei fotografisch reproduzierte Holzschnitte aus Georg Agrícolas Berg- und Hüttenhandbuch De re metallica \bb. 4). Im zwölften Buch dieser reich bebilderten Schrift behandelt Agricola auch das Glas, und sämtliche Illustrationen, die er zur Erklärung der Öfen, Werkzeuge und Arbeitsprozesse hinzuzog, sind in der Glas-Mappe - vage zitiert als Techniken „aus der Zeit Agrícolas" - anzutreffen. Bild Nr. 8a Abb. 4, links verdeutlicht das Zerschlagen der erkalteten, ersten Schmelze. Seitlich des zweistöckigen Ofens stehend, holt ein Arbeiter zum Hammerschlag aus. Das daneben geklebte Bild Nr. 8b (Abb. 4, rechts) zeigt weitere Ofenanlagen mit davor platzierten Gefäßen und Behältnissen. Die reproduzierten Holzschnitte erwecken nicht zuletzt durch ihren Stil den

Bilderreihen der Technik

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ABB. 5: Schnitte durch einen Hafenofen mit

Oberflammfeuerung,

Foto:

Deut-

sches Museum.

Eindruck, eine weitere Etappe des technischen Fortschritts zurückgelegt zu haben: Im Unterschied zu den vorhergehenden Malereien sind die Anlagen perspektivisch gezeichnet; einer der Öfen ist sogar im Aufriss dargestellt, so dass der Blick auf das Innere fallen kann, und selbst Details wie die stützenden Außenbögen der Schmelzöfen werden präzise festgehalten. Die G/as-Mappe verzichtet auf die textliche Erläuterung solcher im Bild sichtbaren Technikdetails, während Agrícolas Buch als eng verflochtenes und detailreiches Text-Bild-Werk ausgelegt war. So wies eine Bildlegende die mit „H" indizierten Behältnisse als Tongefäße aus, über die der Text berichtete, dass die geformten Gläser in sie hineingestellt wurden, um sie dann zum langsamen Abkühlen in die Öffnungen (F) des Ofenanbaus einzubringen. Technik im Bild jedoch will kein Spezialistenwissen zu den Bildern und den vergangenen Techniken vermitteln, sondern schlaglichtartig die in Einzelbildern festgefrorenen Etappen des Technikfortschritts vor Augen führen. Kaum ist ein Sechstel der Bildmappe Glas durchgeblättert, wird eine Vielzahl von Ingenieurszeichnungen und fotografischen Aufnahmen ausgebreitet, um die hochgradig ausdifferenzierte Produktionsweise der zeitgenössischen Glassorten zu demonstrieren. Nachdem beispielsweise Schnittzeichnungen (Abb. 5) das Prinzip des Hafenofens mit Oberflammfeuerung visualisiert haben, folgt das eingangs dem Kontext entrissen vorgestellte Bild Nr. 18 Abb. 2). Die Werksfotografie zeigt die Front dreier Ofenbatterien dieses Schmelzprinzips, das für die Spiegelglasschmelze eingesetzt wurde. Das Panorama der zeitgenössischen Herstellungsverfahren wird mit fotografischen Aufnahmen wie beispielsweise der manuellen Herstellung von Flaschenglas, mit Reproduktionen von Maschinen für die Pressglasfabrikation, von solchen für die Glühkolbenfabrikation oder für das automatische Flaschenblasen

ABB. 2: Bild 18 der Mappe „ G l a s " - eine Frontaufnahme eines Spiegelglas-Hafenofens, Foto: Deutsches Museum.

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ABB. 6: Darstellung einer automatischen Glasblasmaschine für die Flaschenproduktion, Foto: Deutsches Museum.

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fortgesetzt. Neben Zeichnungen aus dem Ausbildungs- und Berufsalltag des Ingenieurs und Werksfotografien werden auch Vorlagen aus Firmen- und Maschinenkatalogen reproduziert. So wurde die Abbildung der 15-armigen Owens-Maschine für das automatische Blasen von Flaschen Abb. 6) vom Europäischen Verband der Flaschenfabriken beigesteuert. Durch die Fülle der zeitgenössischen Bilder entsteht der Eindruck eines rasanten Anstiegs des technischen Wissens und Könnens zur Gegenwart hin. Allerdings geht der Bilderfolge durch den Fokus auf die Spezialisierung die narrative Funktion weitgehend abhanden. Sie dient nun der Kompilation unterschiedlichster Herstellungsvarianten und versucht sich an einem kataloghaften Überblick über das mannigfach Aufgegliederte.

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Vom Rohstoff zum Produkt: Eine Bildreise durch die idealtypische Fabrik Während die G/es-Mappe in ihrem zeitgenössischen Teil den Schwerpunkt auf die Mannigfaltigkeit der zeitgenössischen Fertigungsmethoden setzt, visualisieren zahlreiche Technik im Bild-Mappen den idealtypischen Fertigungsweg eines Produktes vom Rohstoff bis zum Endprodukt. In dieser narrativen Bildstruktur, die sich bereits in Diderots und d'Alemberts Enzyklopädie (1762-1772) findet, ist die sich sukzessiv zum Endprodukt hin wandelnde Ware das verknüpfende Element der Bilderkette. Im Falle der arbeitsteiligen Massenproduktion entspricht sie einem virtuellen Gang durch die Fabrikanlage.

So tritt der Betrachter der Mappe Brauerei eine Bildreise durch eine idealtypische Großbrauerei seiner Zeit an. Auf Bildnummerierungen, Untertitel sowie Bild- und Inhaltsverzeichnisse hat der Bearbeiter, ein ehemaliger Brauereichemiker, verzichtet. Nach zehn Textseiten beziehungsweise Pappen zu Braugeschichte und verschiedenen kulturellen Praxen des Brauens setzt die Bildstrecke zur industriellen Bierproduktion ein. Sie beginnt mit einer Grafik, welche die Bedeutung des Produktionszweiges für die deutsche Wirtschaft veranschaulicht (Abb. 7). Die visuelle Brauereibegehung beginnt in der Gerstenputze und endet nach rund 50 Bildetappen mit dem Verladen des fertigen Bieres in

Bilderreihen der Technik

Bilderreihen der Technik

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Schuttheiss-Patzeññofer

Gtrsietlpulze

ABB. 8: A u f n a h m e a u s d e r „ G e r s t e n p u t z e " einer

Schultheiss-Patzenhofer-Brau-

erei, F o t o : D e u t s c h e s M u s e u m .

ABB. 9: E i n b l i c k in d i e P r o d u k t i o n s s t u f e des Einweichens der Gerste, Foto: Deutsches M u s e u m .

Eisenbahn-Kühlwaggons (Abb. 8 bis 12 . Bei den Bildern handelt es sich um aktuelle Industrieaufnahmen unterschiedlicher Bierhersteller, die in ihrer Zusammenstellung jedoch den Gang durch einen einzigen Betrieb

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Bilderreihen der Technik

ABB. IO: Aufnahme einer zeitgenössischen Kastenmälzerei, Foto: Deutsches Museum.

suggerieren. Sie porträtieren die Maschinenanlagen, und zwar zumeist in Weitwinkelaufnahme, so dass die Architektur der Produktionsräume den Bildrahmen vorgibt und die an den Maschinen tätigen Arbeiter aus der Ferne, distanziert, bei ihrem Tun beobachtet werden; in einigen Aufnahmen werden sie beziehungsweise ihre Handgriffe aber auch näher fokussiert. Die Werksfotografie von Schultheiss-Patzenhofer (Abb. 8 versetzt den Betrachter in die Gerstenputze, in der die Unreinheiten der Gerste, Staub oder zu kleine Körner, maschinell ausgeschieden werden. Im Hintergrund ist die mechanische Reinigungsanlage zu sehen; im Vordergrund sind drei Männer mit dem Weitertransport der zwischenzeitig in Säcke abgefüllten Gerste beschäftigt. Blättert man die Pappe um, so gibt die nächste Fotografie Einblick in eine weitere Abteilung der Brauerei: die Einweiche \ b b . 9). Für mehrere Tage in Wasser eingelassen, lagert die Gerste in hintereinander gereihten, großen Bottichen und wird so auf das anschließende Keimen beziehungsweise Vermälzen vorbereitet. Die weiteren Bilder stellen unterschiedlich stark automatisierte Vermälzungsweisen vor, darunter auch eine mechanisch-pneumatische Kastenmälzerei [Abb. 10). Die Fotografie fängt das Verschaufeln des offensichtlich fertigen Grünmalzes durch drei Männer ein; im Hintergrund ist eine Rohranlage zu sehen, welche das Grünmalz pneumatisch der nächsten Produktionsstufe, dem Trocknen auf der Darre, zuführt. Wie das Putzen, Weichen und Mälzen der Gerste wird im Folgenden jede weitere Etappe der Bierfertigung bebildert, und auch vorbereitende Arbeiten wie das Reinigen zurückgegebener Leerfässer vor der aberma111

Bilderreihen der Technik

ABB. I I : A u f n a h m e der Reinigung von leeren Bierfässern, F o t o : Deutsches M u seum.

ABB. 9: Einblick in die Produktionsstufe des Einweichens der Gerste, F o t o : Deutsches M u s e u m .

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ligen Abfüllung Abb. 11) werden vorgeführt. Die abgelichteten Arbeitsschritte sind leicht nachvollziehbar, weil sich jeweils ein Element des werdenden Produkts aus dem vorherigen Bild im nächsten wieder finden lässt. Wo dem Auge das unmittelbare visuelle Verbindungsglied fehlt, kann der Bezug gedanklich ergänzt werden: Bei der in den Bottichen eingeweichten Masse (Abb. 9) wird es sich logischerweise um Gerste handeln, die im Bild zuvor als Sackinhalt auftauchte. Die zwischen den Bildpappen eingefügten Textseiten müssen zum Verständnis nur selten studiert werden; sie bieten dem neugierigen Betrachter aber immer die Möglichkeit, seine Kenntnisse lesend zu vertiefen.

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Vom Album zum Archiv Für das Museum war die Albenserie Technik im Bild nicht nur ein weiterer Weg der Technikpopularisierung, sondern sie stellte auch eine effiziente Gelegenheit dai; die eigene Bildersammlung, die bisher in der hausinternen Sammlungspolitik zurückgestanden hatte, deutlich auszuweiten. Darüber hinaus ließen sich jene Techniken und Exponate, die der Objekt-Sammlungsbestand nicht abdeckte oder für deren Anschaffung die nötigen Ressourcen fehlten, zumindest fotografisch dokumentieren. Das für die Bilderschau gewählte Albenformat erlaubte den Mappenbearbeitern zudem ein schnelles Kompilieren und Ordnen des zu präsentierenden Materials. Hätte das Schreiben eines Sachbuches mindestens mehrere Monate in Anspruch genommen, so war das Album im Idealfall in wenigen Wochen erstellt. Die Mappenbearbeiter waren zunächst Bildjäger, ohne jedoch selbst zu fotografieren. Vornehmlich in Technik und Wissenschaft geschult, sahen sie in der Fotografie ein objektives, wissenschaftlichen Standards genügendes Reproduktions- und Dokumentationsverfahren. Nicht nur Originalfotos wurden als „Beweisstücke im historischen Prozeß"9 benutzt, sondern ebenso die fotografisch reproduzierten Malereien und Zeichnungen der Vergangenheit. Geeignete Vorlagen fanden die Bildjäger in fachspezifischen Sammlungen von Museen, Unternehmen oder Verbänden sowie in der publizierten Sachliteratur, deren Bilder sie mit der Reprokamera wie mit einer Schere „ausschneiden" ließen. Die Fotografien wurden nicht weiter didaktisch aufbereitet. Lediglich wenige Schemazeichnungen ließ das Deutsche Museum eigens für Technik im Bild anfertigen. Mit der festgelegten Bildauswahl und -abfolge sowie den Textentwürfen ausgestattet, setzten vermutlich Hilfskräfte des Museums die Bildmappen in kleinteiliger Handarbeit um. Dem Bilderjagen folgte das Basteln: Texte, Unterschriftenschnipsel und Bilder wurden abgetippt und ausgeschnitten beziehungsweise arrangiert und festgeklebt, bis die fertige Mappenkollage schließlich zum Binden gegeben wurde.10 In dieser Einzigartigkeit eines jeden Albums mag auch zugleich das Problem von Technik im Bild gelegen haben: Längst nicht alle Bildmappen wurden mit der gleichen Sorgfalt hergestellt wie die Glas- und Brauerei-Titel. Die collagenhaft-kompilierende Machart der Alben lud zu einem allzu schnellen, gar schlampigen Zusammenfügen ein, bei dem eine narrative Struktur nicht mehr zustande kam. Der überlieferte Bestand ist inhaltlich äußerst heterogen, und manche Alben sind ohne Textlektüre nicht zu verstehen. Zudem blieb die Rezeption von Technik im Bild durch ihren Unikatcharakter an den Aufenthalt in der Bibliothek gebunden. Spätestens in der farbigen und elektronischen Medienlandschaft der Nachkriegszeit dürfte die handgefertigte Albumcollage mit SchwarzWeiß-Fotos als nicht mehr zeitgemäße Form der Technikvermittlung ge-

->· Objektivität und Evidenz, S. 1 4 8 9 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1977, S. 7-44, hier S. 21. 10 Zur Praxis eines solchen „Cut and Paste" zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Anke te Heesen (Hg.): Cut and paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, Berlin 2002.

Bilderreihen der T e c h n i k

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ABB. 12: Szene des Bierverladens in die zur Abweisung von Sonnenstrahlen weiß gestrichenen Eisenbahn-Waggons bei Löwenbräu, Foto: Deutsches Museum.

gölten haben. Auch schien die Ordnungslogik des Albums nicht mehr mit der Funktion übereinzustimmen, die den am Museum gesammelten Bildern inzwischen beigemessen wurde. So wurde allein durch das - vermutlich in den 1960er Jahren vorgenommene - Umheften in Standardordner, welche die Seiten nicht am ursprünglichen Falz, sondern am oberen Seitenrand bündelten, die Blickführung zerstört. Will man jede Seite in der normalen Ausrichtung sehen, muss man den Ordner ständig drehen. Zahlreiche überlieferte Mappen weisen zudem Spuren des Ausschlachtens auf. Vielen Mappen fehlen Fotografien, kaum jedoch Textseiten. Die von den Kartonagen gerissenen Fotografien wurden dem Bildarchiv andernorts einverleibt. Das Album wurde vom Archiv - und damit die Eindeutigkeit des Albenbildes von der Vieldeutigkeit des Einzelbildes - abgelöst. Heute ist das Bildarchiv darum bemüht, den Technik im Bí/á-Bestand wieder nach Provenienz ordnen und zeigen zu können: Das Unikat ist nun selbst zum singulären Sammlungsstück geworden.

ABB. I - 1 2 : Foto: Deutsches Museum, München.

114

Bildanordnungen Ί. vivxx*

Abb. 1: Tafel 18: „Von der Schraube" aus Jacob Leupolds „Theatrum

Abb.2: Kolorierter Kupferstich aus Martin Frobenius Ledermüllers „Mi-

machinarum Generale", Leipzig 1724. In Fig. 1 wird eine Schraube

kroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung", 1763. Er zeigt zum

als ein Keil definiert, der um eine Welle gewunden ist. Die Tafel zeigt

Vergleich nebeneinandergestellt im zentralen kreisförmigen Aus-

in weiteren Abbildungen verschiedene Maschinen zur Berechnung

schnitt, der den Blick durch das Mikroskop simuliert, verschiedene

der Kraft von Schrauben in unterschiedlichen Ansichten, Maßstäben

Entwicklungsstadien des Flohs sowie zwei kleinere Kreise mit dem

und Detailgenauigkeiten.

Präparat in Originalgröße. Die Bildecken füllen vier Flohköpfe.

Das formale Prinzip, mehrere Bilder bzw. Bildmotive auf einer Tafel bzw. Bildfläche grafisch anzuordnen und damit zueinander in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen, ist für wissenschaftliche und technische Bilder bislang nur punktuell untersucht worden. Durch die Analyse solcher formalen Anordnungen von Bildern zu Bildübersichten geraten ikonische Argumentationsstrukturen in den Blick, die in Form sogenannter Bildtableaus eine spezifische Tradition wissenschaftlich-technischer Bildformate ausbilden, welche bis in die Frühe Neuzeit zurückreicht (Abb. 1).

bei die einzelnen Teile nebeneinander auf der Bildfläche positioniert werden (Abb. 2). Dies ermöglicht die simultane Darstellung von zeitlich oder räumlich getrennten Sachverhalten zum vergleichenden Sehen (-»• Vergleich als Methode, S. 24). Tableaus dienen damit der Ubersicht und Vermittlung und finden sich etwa als Lehrtafeln oder Schulwandbilder, als Bildtafeln in naturwissenschaftlichen Texten, oft in pädagogischem Kontext (Te Heesen 1997) und tragen damit auch zur Popularisierung wissenschaftlichen Wissens bei (Abb. 3) (->· Wissenschaftspopularisierung, S. 208).

Der Begriff des Tableaus wurde in der Kunstgeschichte für das Tafelbild bzw. das Gemälde verwendet (Stoichita 1998), umfasst jedoch in seinerzweiten Bedeutung besonders seit dem 19. Jahrhundert im naturwissenschaftlichen Kontext Übersichtsbilder, in denen einzelne Bildelemente nebeneinander auf einer Bildtafel angeordnet sind. Derartige Übersichtstafeln zeigen etwa einen zoologischen Gegenstand in verschiedenen Entwicklungsstadien, Ansichten, Größenverhältnissen etc., wo-

In einem erweiterten Verständnis umfasst der Begriff der Bildanordnung auch das Nebeneinanderstellen von Bildtafeln bzw. -feldern zum Zweck visuellen Argumentierens und Vergleichens (Tufte 1997). Diese Form der Bildanordnung rückte insbesondere anhand von Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne ins Interesse kunstgeschichtlicher Forschung (Abb. 4). Warburgs visuelle Organisation einzelner fach- und zeitübergreifender Bildthemen in Form von Fotografien bildet den vieldiskutier-

116

Bildanordnungen

Abb.4: Tafel 45 aus Aby Werburgs Atlas „Mnemosyne". Die Tafel aus Abb. 3: Die Wandtafel „Echinoidea" von Paul Pfurtscheller, um 1890,

Werburgs unvollendetem Atlasprojekt, an dem er seit 1924 arbeite-

zeigt den Bauplan eines regulären Seeigels in vier verschiedenen An-

te, vereint „Superlative der Gebärdensprache" in Reproduktionen

sichten und Darstellungsmodi. Die Tafeln des Wiener Gymnasial-

von Gemälden, Fresken, Plastik und Medaillen italienischer Künstler

lehrers Pfurtscheller wurden von ihm ursprünglich für den eigenen

vornehmlich um 1500. Die beiden großen Reproduktionen in der Mit-

Unterricht gezeichnet, sie waren also zur Verwendung an Schulen

te etwa zeigen Fresken Domenico Ghirlandaios, den „Bethlehemini-

gedacht. Dennoch fanden sie rasch Eingang in die zoologische Ausbil-

schen Kindermord" sowie die „Verkündigung an Zacharias" aus der

dung an den Universitäten. Das liegt an der sowohl wissenschaftlich

Capella Tornabuoni in S. Maria Novella, Florenz, entstanden ca. 1485-

als auch künstlerisch hervorragenden Qualität der Tafeln. Pfurtscheller

1490. Letztere Szene wird in kleinerer Version im linken Register im

fertigte insgesamt 38 Tafeln an.

Kontext weiterer Fresken erneut aufgenommen.

ten Nukleus bildwissenschaftlicher Forschung, die sich an der Form orientiert. Visuelles Argumentieren durch Bildanordnung kann dabei auch, wie etwa bei Lavaters Physiognomiedarstellungen, anhand einer Rasterstruktur geschehen (Abb. 5) oder in Form von sukzessiven Bildserien, wie dies etwa in Bildkatalogen (z. B. Comenius' Orbis sensualium Pictus) und Bildenzyklopädien, z.B. in Diderots Encylopédie, erfolgt. In ihrer abstraktesten Form dienen solche Anordnungen der visuell-grafischen Ordnung von Daten in einzelnen Feldern Diagrammatik, S. 192), ihrem grafischen Erfassen und Verwalten in Tabellen oder Rastern (Campbell-Kelly et al. 2003). Die Bildanordnung bildet damit auch den Ausgangspunkt für das symbolische Ordnen in Form des Sammeins und Klassifizierens von Bildern und Objekten, wie es sich im sich Überblick verschaffenden Akt des Anordnens von Materialien der Feldforschung oder in Archiven und Sammlungen ausdrückt (Latour 2000).

werden, sind dabei noch nicht hinlänglich untersucht worden: Fragen des argumentativen Zusammenhalts des Gezeigten und der Blickführung, etwa in Form verschiedener Ausschnitte, Ansichtigkeiten, Fragmente, Profilschnitte, verschiedene Größenordnungen, perspektivische Ansichten sowie Fragen von Konstanz und Varianz des Dargestellten, flächigen oder räumlichen Darstellungsprinzipien, der Komposition etc. können Aufschluss geben über die suggestiven Argumentationsund Kommunikationsstrategien, die im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich mit Bildern verfolgt werden (-> Fallstudie Heike Weber, S. 100). Hierfür gilt es insbesondere die kunstgeschichtliche Forschung zum visuellen Argumentieren, im Bezug auf Narrationsstrukturen von Bildern, Bildanordnungen - etwa in Glasfenstern oder Comic-Strips - , und das Prinzip von Bildern in Bildern fruchtbar zu machen. Solche Ansätze finden sich unter anderen bei Wolfgang Kemp, Steffen Bogen oder Scott McCloud (Kemp 1989 u. 1994, Bogen 2005, McCIoud 1995).

Die verschiedenen Argumentationsprinzipien, die durch unterschiedliche Bildanordnungen transportiert

117

Bildanordnungen

Abb. 5: Sechzehn ¡dealische Profilköpfe nach Chodowiecki, wieder-

Abb. 6: Etienne-Jules Marey: Chronofotografie eines an einem Seil

gegeben in Lavaters „Physiognomische Fragmente", 1776, unter

ziehenden Mannes aus „Études de Physiologie Artistique faites au

dem Titel „schwache, thörichte Menschen". Lavater macht den Cha-

moyen de la Chronophotographie", 1893. Die serielle Abfolge der Fo-

rakter der Menschen an Gesichtsmerkmalen fest, die er hier seriell

tografien mit kurzem zeitlichem Abstand erlaubte die Analyse des

von Fig. 1-16 variiert und in Reihen so anordnet, dass sich die Merk-

Bewegungsablaufes und ist hier zu einem Tabelau mit eindeutiger

male des „thörichten Menschen" sukzessive steigern.

Leserichtung angeordnet.

Darüber hinaus entstehen spezifische Bildanordnungen in Form von Bildübersichten im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich auch durch zeitlich bzw. sukzessiv verfahrende Bildtechniken, deren Messdaten bzw. Bildergebnisse in Reihen dargestellt werden, wie etwa in der Chronofotografie (Abb. 6) oder auch in den Schichtenbildern der Computertomografie. Die Einzelbilder werden dabei zu Tableaus zusammengestellt, die eine bestimmte Leserichtung besitzen bzw. vorgeben. Neben solchen im Labor oder für experimentelle Zusammenhänge eingesetzten Bildtechniken entstehen in der Forschungskommunikation neue Optionen des visuellen Argumentierens mit Bildern durch die Möglichkeit der Dynamisierung von Bildanordnungen mittels digitaler Verfahren. (MP)

118

Bildanordnungen

Literatur und Bildquellen Steffen Bogen: Verbundene Materie, geordnete Bilder. Reflexion diagrammatischen Schauens in den Fenstern von Chartres. In: „Diagramme und bildtextile Ordnungen". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2,2 (2005), S. 72-84.

Scott McCIoud: Comics richtig lesen, Hamburg 1995. Le Rond d'Alembert, Denis Diderot u.a.: Enzyklopädie. Eine Auswahl, hg. v. Günter Berger, Frankfurt a.M. 1989. Charlotte Schoell-Glass: „Serious issues". The last plates of War-

Martin Campbell-Kelly, Mary Croarken, Raymond Flood, Eleanor Robson

burg's picture atlas „Mnemosyne". In: Richard Woodfield (Hg.):

(Hg.): The History of Mathematical Tables. From Sumer to

Art history as cultural history. Warburg's projects, Amsterdam

Spreadsheets, Oxford 2003. Wolfgang Kemp: Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987. Wolfgang Kemp: Mittelalterliche Bildsysteme. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989), S. 121-134. Wolfgang Kemp: Bilderzählung. In: Michael Glasmeier (Hg.): Erzählen, Stuttgart 1994, S. 55-69. David Kunzle: The Early Comic Strip. Narrative Strips and Picture Stories in the European Broadsheet from c. 1450 to 1825 (History of the Comic Strip, Bd.1), Berkeley/Los Angeles/London 1973. Bruno Latour: Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.

u.a. 2001, S. 183-208. Victor I. Stoichita: Das selbstbewusste Bild. Der Ursprung der Metamalerei, München 1998 (zuerst frz.: L'instauration du tableau). Anke Te Heesen: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997. Anke Te Heesen: Verbundene Bilder. Das Tableau in den Erziehungswissenschaften des 18. Jahrhunderts. In: Hanno Schmitt u.a. (Hg.): Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn 1997, S. 7-90. Edward R. Tufte: Visual Explanations. Images and Quantities, Evidence and Narrative, Cheshire, Conn. 1997. Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000 (= Aby Warburg : Gesammelte Schriften. Zweite Abteilung, Band 11.1).

2000, S. 36-95. Abb. 1: Jacob Leupold: Theatrum Machinarvm Generale. Schau-Platz Des Grundes Mechanischer Wissenschafften, Das ist: Deutliche Anleitung Zur Mechanic oder Bewegungs-Kunst [...], Leipzig 1724, Taf. 18; Abb.2: Martin Frobenius Ledermüller: Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung. Bestehend in ein Hundert nach d. Natur gez. u. mit Farbe erleuchteten Kupfertafeln sammt deren Erklärung, Nürnberg 1763, Taf. 20; Abb. 3: Humboldt-Universität zu Berlin, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät I, Institut für Biologie, Vergleichende Zoologie; Abb. 4: Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Bd. 2/1, hg. v. Horst Bredekamp u.a., Berlin 2000 (=Gesammelte Schriften, Studienausgabe), S. 83, Taf. 45; Abb. 5: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur 1776, Sechzehntes Fragment, Tafel VI; Abb. 6: Ich sehe was, was du nicht siehst. Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Ausst.kat., Museum Ludwig Köln, 2 7 . 9 . - 2 4 . 1 1 . 2002, hg. v. Bodo v. Dewitz u.a., Göttingen 2002, S. 372, Abb. 7.

119

Interpretation und Illusion

REINHARD WENDLER

MONTHLY

NOTICES OF THE FLG. 1, 1 7

Marskanal-Zeichnungen von Kindern, 1892, nach der Vorlage von Giovanni Schiaparelli, 1890.

ROYAL ASTRONOMICAL

(Mt.

SOCIETY

VOL. L X H I . .

PLATE

19

F L , . 2, 2 2 1 r.NT

Photographe of the A c t u a l Drawing· made by Boy« placed at the Indicated dletancea from the original drawing.

Interpretation und Illusion. Probleme mit teleskopischen Bildern am Beispiel der Marskanäle Reinhard Wendler In Bildern der Teleskopie finden sich bisweilen Strukturen, deren Ursachen schwer zu bestimmen sind. Der vorliegende Aufsatz schildert den Fall der Bilder von Marskanälen, die von den einen für Spuren intelligenter Baumeister und von den anderen für Spuren optischer oder wahrnehmungspsychologischer Einflüsse gehalten wurden. Anhand der Be-

REINHARD WENDLER

Interpretation und Illusion

mühungen zweier Forscher, die geraden Linien in den Bildern der Marsoberfläche auf wahrnehmungspsychologische Ursachen zurückzuführen, soll ein zentrales Problem teleskopischer Bilder dargestellt werden. Sterne in gezackter Form, wie sie in einem Manuskriptblatt aus dem 14. Jahrhundert dargestellt sind, finden sich in zahllosen Darstellungen aus vielen Jahrhunderten (Abb. 1 ). Wie die Astronomen wissen, sind die Himmelskörper selbst nicht gezackt, sondern kugelförmig, wie auch die Sonne. Die charakteristische Form der Sterne geht im Wesentlichen auf einen Effekt der Augenlinsen zurück, den der Mediziner und Nobelpreisträger Allvar Gullstrand (1862-1930) beschrieben hat: Die Linse wird durch die Muskulatur an der sie befestigt ist, minimal verformt, wodurch der Lichtpunkt in die bekannte gezackte Form aufgefächert wird.1 Dem Maler des Manuskriptblatts war dieser Effekt vermutlich nicht bekannt. Er glaubte möglicherweise, die Sterne in ihrer eigenen, charakteristischen Form darzustellen; er ahnte wohl nicht, dass er stattdessen einen Streuungseffekt des menschlichen Auges im Bild festgehalten hat. In seinem Bild bezeugt sich daher ein spezifischer Blick auf die Himmelskörper, der die Wahrnehmung sternförmiger Sterne nicht in eine kugelförmige Lichtquelle einerseits und die von den Augenlinsen verursachte Streuung andererseits zergliedert, sondern als Folge einer einzigen Ursache ansieht. Ein partiell ähnliches, allerdings wesentlich komplizierteres Phänomen kommt in den Bildern der Marskanäle zur Erscheinung. Bei diesen handelt es sich um seit 1877 beobachtete gerade Linien auf der Oberfläche des Mars, die für künstliche Bauwerke und damit für Zeugnisse einer extraterrestrischen Zivilisation gehalten wurden.2 Ihre Sichtungen wurden in zahlreichen Zeichnungen und Karten dokumentiert, so etwa in der in Abbildung 2 wiedergegebenen Darstellung von Percival Lowell (1855-1916). Das Bild zeigt eine helle, runde Scheibe, die als die Oberfläche des Mars zu verstehen ist, umgeben von einer schwarzen Fläche, die den Weltraum repräsentiert. Die Scheibe ist unterhalb der Mitte von konstanten, zumeist leicht gebogenen, in drei Fällen doppelten Linien überzogen. Es sind diese Linien, die in den Augen Lowells und einiger anderer Astronomen gigantische Kanalbauten einer extraterrestrischen Zivilisation darstellten. Sie entfachten die Fantasie weiter Teile der Gesellschaft auf beispiellose Weise. Wie man seit der Marssonde Mariner 4 von 1965 weiß, befinden sich die Marskanäle ebenso wenig auf dem Mars wie die Zacken an den Sternen.3 Woher kommen dann aber die Linien in den Bildern? Die naheliegende Vermutung wäre, dass es sich bei dem Phänomen um ein Hirngespinst handelt. Doch diese Vermutung wird durch die Tatsache widerlegt, dass die Marskanäle mit geeigneten Teleskopen noch heute gesehen werden können.4 Hieraus ist zu folgern: Wenn die Marskanäle weder Strukturen auf dem Mars sind noch bloße Ausgeburten der Fan-

ABB. I: Darstellung von beobachtenden und rechnenden Astronomen, 14. Jahrhundert. ι Minnaert Marcel: Licht und Farbe in der Natili Basel/Boston/Berlin 1992, S. 131.

PHÍSON AND Kl'PHRATES {Both double) Noi'Utttlt 18, 1894

ABB. 2: Die Zeichnung von Lowell dokumentiert eine Beobachtung der Kanäle Phison und Euphrates vom 18.11. 1894 auf dem Mars. Es handelt sich um die gleiche Region, die auch in Abb. 3 u. 4 dargestellt ist. ζ Allgemein zum Thema: William Graves Hoyt: Lowell and Mars, Tucson, Arizona 1976; William Sheehan: The Planet Mars. A History of Observation and Discovery, Tucson 1997; David Strauss: Percival Lowell. The

Interpretation und Illusion

REINHARD W E N D L E R

Culture and Science of a Boston Brahmin, Harvard 2 0 0 1 ; Thomas A. Dobbins, William Sheehan: The Canals of Mars Revisited. In: Sky and Telescope, M ä r z ( 2 0 0 4 ) , S. 1 1 4 - 1 1 7 ; Κ. Maria D. Lane: Mapping the Mars Canal Mania. Cartographic Projection and the Creation of a Popular Icon. In: Imago Mundi, Vol. 5 8 , Part 2 , S. 1 9 8 - 2 1 1 . 3 Die Bilder von Mariner 4 können unter

http://solarsystem.nasa.gov/

multimedia/gallery.cfm?

tasie, dann müssen die Bilder der Marskanäle zwangsläufig von anderen Einflüssen zeugen, etwa der Mars- oder Erdatmosphäre, des Teleskops, des Auges, der Interpretation der visuellen Information, vermutlich aber das Zusammenwirken mehrerer dieser Faktoren. Aber welcher? Diese Frage wurde durch die Forschung bis heute nicht abschließend beantwortet.5 Im vorliegenden Aufsatz soll nicht die Frage nach den Ursachen des Phänomens der Marskanäle im Zentrum stehen, sondern die Bemühungen zweier Astronomen um die Wende zum 20. Jahrhundert, die wahren Ursachen des Phänomens zu erkunden und damit die schrankenlose öffentliche Begeisterung für die Marsianer einzudämmen.

Category=

History&Page=5 betrachtet werden (Stand: 0 5 / 2 0 0 8 ) .

Die „Small Boy Theory"

4 Dobbins, Sheehan (s. Anm. 2). 5 Ergiebige Ansätze hierzu bei Dobbins, Sheehan (s. Anm. 2).

Beobachtungstechnik, S. 178 6 Experimente von

wurden

Maunder

durchgeführt

(Edward

Walter

Maunder: The Canals of Mars. In: Knowledge

1,

November

(1884),

S. 2 4 9 - 2 5 2 , hier S. 2 5 1 ) , vgl. Sheehan (s. Anm. 2), S. 1 2 0 f.), desweiteren von Ellicot Andrew Douglass im Jahre 1 9 0 1 (vgl. Hoyt (s. Anm. 2), S. 123f.), von Percival Lowell im Jahre 1 9 0 3 (vgl. Hoyt (s. Anm. 2), S. 1 6 5 ) und im Jahre 1 9 0 7 (Percival Lowell: The Canals of Mars, optically and pyschologically considered. A reply to Professor Newcomb. In: The Astrophysical Journal

3,

Vol.

XXVI,

Oktober

( 1 9 0 7 ) , S. 1 3 1 - 1 4 0 ) , desweiteren von Slipher/Lampland im Jahre 1 9 0 3 , von Simon

Newcomb

im Jahre

1907

(Simon Newcomb: The Optical and Psychological Principles Involved in the Interpretation

of the

so-called

Canals of Mars. In: The Astrophysical Journal, Vol. X X V I , Nr. 1, July 1 9 0 7 , S. 1 - 1 7 und Susanne Utzt: Astronomie und Anschaulichkeit. Die Bilder der populären Astronomie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2 0 0 4 . ) und schließlich von Camille Flammarion (vgl. Hoyt (s. Anm. 2), S. 1 6 5 ) . 7 Maunder (s. Anm. 6).

122

Die Astronomen um das Jahr 1900 hatten keine von Marssonden produzierten Fotos zur Verfügung, um die Frage nach der Existenz der Marskanäle eindeutig zu beantworten. Dies bereitete vor allem den Zweiflern an den Marskanälen und an der extraterrestrischen Zivilisation Probleme, denen es aufgrund der mangelhaften teleskopischen Beobachtungen kaum gelingen konnte, den verführerischen Bildern der Kanäle irgendeine schlagkräftige Widerlegung entgegenzusetzen. Da der Mars selbst nicht heranzuholen war, um ihn einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, wurde die Beobachtung des Mars zum alles entscheidenden Kriterium. Diese versuchte man in zahlreichen Experimenten nachzustellen, indem man Planetenmodelle beziehungsweise Bilder aus großer Entfernung oder durch ein Teleskop beobachtete. Zuerst unternahm dies der Astronom und Bibelforscher Edward Walter Maunder (1851-1928) 6 im Jahre 1884, also sieben Jahre nach der ersten Beobachtung der Marskanäle. Maunder versuchte, mittels der experimentellen Betrachtung von speziell angefertigten Bildern, das Phänomen zu simulieren und damit wahrnehmungspsychologisch zu erklären.7 Sein Aufsatz über die Ergebnisse dieses Versuchs bremste jedoch kaum die Euphorie um die Marskanäle, die ihren absoluten Höhepunkt erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben sollte. Im Juli des Jahres 1902, fünf Jahre nach der Veröffentlichung von H. G. Wells Buch The War of the Worlds, in dem die Erbauer der Marskanäle die Erde angreifen, unternahm Maunder einen zweiten Versuch. Um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen, änderte Maunder, nunmehr zusammen mit seinem Kollegen Joseph Edward Evans, diesmal das Design seines Experiments. Der entscheidende Unterschied lag darin, dass er die Illusion der Marskanäle nicht in seiner eigenen Wahrnehmung nachzustellen versuchte, sondern in der von zwanzig Schulkindern der Royal Hospital School im englischen Greenwich.8 Der

Interpretation und Illusion

REINHARD W E N D L E R

Erfolg gab Maunder recht, denn es waren diese Schulkinder, die dem Experiment einen großen Bekanntheitsgrad und den darin erbrachten Ergebnissen Gehör verschafften. Die Plakativität des Versuchs und die Suggestivität der Publikation war so groß, dass sie die Tatsache überdeckte, dass Maunders Ergebnisse wesentlich schlechter belegt waren als die Beobachtungen der Marskanäle selbst. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, setzten Maunder und Evans mit ihrer Veröffentlichung dem Bilderzauber der Marskanäle nicht etwa eine wissenschaftliche Widerlegung entgegen, sondern einen zweiten Bilderzauber.

Vgl. Sheehan (S. Anm 3.), S. 124ff.; Hoyt (s. Anm. 2), S. 164f.. Dank an Susanne Utzt für den Hinweis auf diese Experimente!

Maunder und Evans suchten zunächst geeignete Darstellungen der Marsoberfläche und der Marskanäle aus den Händen der Astronomen Antoniadi, Schiaparelli und Lowell, die in gedruckten Werken erschienen waren. Nach diesen Bildern fertigten die Experimentatoren Zeichnungen an, die den gedruckten Vorlagen teilweise nachempfunden waren, sich teilweise von diesen aber auch gezielt unterschieden. Diese eigenhändigen Zeichnungen wurden in einem Klassenzimmer aufgestellt, auf dessen Plätze die zwanzig Schulkinder der Royal Hospital School verteilt wurden. Anschließend wurden die Kinder angewiesen, die ihnen präsentierte Darstellung abzuzeichnen, auch wenn sie zum Teil zu weit entfernt saßen, um das Bild deutlich zu erkennen. In insgesamt dreizehn Versuchen wurden den Kindern acht verschiedene Bilder präsentiert. Die obere Darstellung in Abbildung 3 zeigt eine solche, den Kindern präsentierte Zeichnung. Darunter befindet sich das Bild von Schiaparelli, das in Flammarions Buch La planète Mars et ses conditions d' habitabilité von 1892 abgedruckt worden war und Maunder und Evans zur Vorlage für die obere Zeichnung diente. Die Experimentatoren machten folgende Angaben: „Drawing 6.25 inches [etwa 15,8 cm] based upon one by Professor Schiaparelli made 1890 May 16 (La planète Mars, p. 474). In this experiment none of the canals shown by Professor Schiaparelli were inserted, but a number of small irregular markings were inserted at haphazard. River-like marks were drawn flowing into Dave's Forked Bay and the smaller marking of the same character which Schiaparelli has represented some 30° from it at the mouth of the Phison. The region of Meroe Island was put in half-tone. " 9 Mit anderen Worten: Maunder und Evans haben sich ein Bild von Giovanni Schiaparelli (1835-1910) zum Vorbild genommen, auf dem Marskanäle dargestellt waren Vbb. 3 unten). Dieses Bild zeichneten sie ab, wobei sie jedoch folgende Veränderungen vornahmen: Statt die Marskanäle nachzuzeichnen, die auf Schiaparellis Bild zu sehen sind, zeichneten sie nach Zufall unregelmäßige Punkte und flussähnliche Linien ein, eine Region gaben sie schattiert wieder. Das solcherart erzeugte Bild (Abb. 3 oben) wurde in den Versuchen 8, 9 , 1 0 und 11 von den Schülern abgezeichnet, die von Mal zu Mal auf anderen Plätzen postiert wurden. Maunder und Evans wählten von den hierbei angefertigten Schülerzeichnungen sechs aus, um sie in ihrem Bericht in den

ABB. y. Als „key m a p " bezeichnete Vorlage von Giovanni Schiaparelli, 1 8 9 0 (unten); die veränderte Nachzeichnung von Maunder und Evans, die den Schulkindern 1 9 0 2 präsentiert wurde (oben).

9 Edward Walter Maunder, Joseph Edward Evans: Experiments as to the Actuality of the „Canals" observed on Mars. In: Monthly Notices of the Royal

Astronomical

Society,

Vol.

LXIII ( 1 9 0 3 ) , S. 4 8 8 - 4 9 9 , S. 4 9 3 .

123

Interpretation und Illusion

IO Fig. 2, 3, 4; in Fig. 1 eine Punktreihe statt einer Linie, in Fig. 5 fehlt die linke Linie.

I i Maunder Evans (s. Anm. 9), S. 488.

I i Maunder, Evans (s. Anm. 9), S. 4 9 8 .

Monthly Notices of the Royal Astronomical Society abdrucken zu lassen Abb.4). Fünf der sechs Bilder zeigen gerade Linien, die in der abzuzeichnenden Vorlage nicht existierten. Drei Zeichnungen verschiedener Schüler weisen ein aus zwei geraden Linien bestehendes, umgedrehtes, leicht gekipptes V auf.10 Diese Linien sind der zentrale Punkt in Maunders und Evans Argumentation. Die beiden Wissenschaftler folgerten aus diesen Linien, dass alle Schüler, die Linien in ihre Zeichnungen setzten, denselben optischen oder wahrnehmungsbedingten Einflüssen unterworfen gewesen sein müssten. Wie die Experimentatoren versicherten, sei jegliches Abschauen streng unterbunden worden, so dass sich die Entsprechungen nicht auf diese Weise erklären ließen.11 Für die Linien in den Zeichnungen werden zwei verschiedene Ursachen angegeben: zum einen die unwillkürliche Interpretation der Grenzen der dunkleren Flächen als gerade Linien, zum anderen die Tendenz, kleine punktförmige Strukturen unterhalb der Wahrnehmungsgrenze als kanalartige Linien zu sehen. Maunder und Evans machten die Beobachtung, dass die Kanäle am klarsten von knapp außerhalb der Grenze der deutlichen Wahrnehmung gesehen werden konnten: „The canals were best seen a little outside the limit of distinct vision."12 Wie die Entfernungsangaben über den Schülerzeichnungen erkennen lassen, lag dieser Bereich im hier besprochenen Versuch zwischen 22,5 und 28,5 Fuß (etwa 6,7 und 8,7 Meter) Entfernung vom Bild.

14 Maunder, Evans (s. Anm. 9), S. 499.

Maunder und Evans folgern aus diesem, auch in den anderen Versuchen beobachteten Phänomen: „It appears to us in reviewing the entire series of the experiments that it is impossible to escape the conclusion that markings having all the characteristics of the canals of Mars can be seen by perfectly unbiassed and keen-sighted observers upon objects where no markings of such character actually exists."13 Diesen Befund übertragen sie auf die Beobachtung des Mars: „Our conclusion from the entire experiment is that the canals of Mars may in some cases be, as Mr. Green suggested, the boundaries of tones or shadings, but that in the great majority of cases they are simply the integration by the eye of minute details too small to be seperately and distinctly defined."14

15 Report of the Meeting of the Association Held on Dec. 30. 1903. In: Journal of the British Astronomical Association 14 (1904), S. 118; vgl. Sheehan (s. Anm. 2), S. 124.

Diese Schlussfolgerung begründete schließlich die in der Astronomie bis heute anerkannte Ansicht, die Illusion der Marskanäle werde durch Berge, Täler und Flussläufe erzeugt, also durch natürliche Strukturen und nicht durch die Spuren gigantischer Bauwerke einer extraterrestrischen Zivilisation. In den Augen von Percival Lowell allerdings, dem solventen und beredten Anwalt der Marsianer, der die Kanäle persönlich in monatelangen Beobachtungen am eigenen Teleskop studiert hatte, handelte es sich bei diesem Versuchsergebnis um nichts als eine „small boy theory".15 Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass Lowell mit diesem Urteil nicht ganz falsch lag.

13 Maunder, Evans (s. Anm. 9), S. 497.

124

REINHARD WENDLER

Interpretation und Illusion

REINHARD W E N D L E R

M O N T H L Y N O T I C E S OF T H E ROYAL ASTRONOMICAL S O C I E T Y Fig. t, 17 feet.

Fig. 3, 2 5 J feet.

VOL, L X I I I . , PLATE

19

Fig. 2, 2 2 J feet.

Fig. 4, 2 8 J feet.

P h o t o g r a p h s o f t h e A c t u a l D r a w i n g s m a d e by B o y s placed at t h e I n d i c a t e d d i s t a n c e s from the original drawing.

ABB. 4: Sechs ausgewählte Zeichnungen, die die Kinder angesichts der Zeichnung in Abb. 3 oben während des Experiments im Sommer 1902 anfertigten.

125

Interpretation und Illusion

REINHARD W E N D L E R

Wissenschaftlicher Pointiiiismus

16 Vgl. Michael F. Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991, Kap. IV. 17 Ernst H. Gombrich: Geschichte der Kunst, Berlin 2 0 0 1 (Orig. 1950), S. 544. ABB. 5: Studie von Georges Seurat für das Gemälde „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel ,La Grande Jatte'", 1884, National Gallery of Art, Washington D. C.

Der Effekt, mit dem es Maunder und Evans gelang, die Schulkinder gerade Linien sehen zu lassen, wo in den Vorlagen keine vorhanden waren, ist um 1902 bereits seit längerer Zeit in Form pointillistischer Bilder zu studieren gewesen. Schon die Impressionisten hatten sich in ihrer Malerei den Effekt zunutze gemacht, den Maunder und Evans herbeiführten. In impressionistischen Bildern sind die Pinselspuren bisweilen so deutlich zu sehen, dass sich der Betrachter aussuchen kann, ob er diese oder die Illusion sehen möchte, die sie erzeugen. Im Pointiiiismus schließlich wurde dieser Effekt auf der Basis der neuesten Theorien über das Farbsehen konsequent zur Anwendung gebracht.16 So befinden sich etwa auf einer Studie von Georges Seurat (1859-1891) für das Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel ,La Grande Jatte' aus dem Jahre 1884 bei näherem Hinsehen nur farbige Flecken Abb. 5). Die Wahrnehmungen eines Flussufers, von Bäumen, Personen, des Wassers, des Segelbootes und eines zweiten, gegenüberliegenden Flussufers entstehen erst in der Vorstellung des Betrachters. Seurat hatte die optischen Theorien studiert und mittels seiner mosaikartigen Gemälde versucht, die Farben nicht auf der Palette, sondern gewissermaßen erst in der Vorstellung des Betrachters zu mischen.17 Das Merkmal pointillistischer Bilder, dass sie aus der Entfernung betrachtet

REINHARD WENDLER

Interpretation und Illusion

etwas anderes zeigen als aus der Nähe, war auch die Grundlage des Experiments mit den Schulkindern. Wie sich zeigen wird, betätigten sich Maunder und Evans tatsächlich in gewisser Weise wie pointillistische Künstler, genau genommen übertrafen sie diese sogar. Sie erzeugten mit den Punkten auf ihrer Zeichnung nämlich nicht nur eine, sondern zwei verschiedene Interpretationen, eine für die Fernsicht und eine zweite für die Nahsicht. Zwar behaupten Maunder und Evans, die kleinen unregelmäßigen Flecken rein zufällig eingezeichnet zu haben: „Small irregular markings were inserted at haphazard."18 Doch es ist zu beobachten, dass dort, wo in Schiaparellis Bild der Kanal Euphrates fast senkrecht von unten nach oben verläuft, in Maunders und Evans Bild eine signifikante Häufung von Punkten auftritt. Zusammen mit den ebenfalls keineswegs zufällig eingezeichneten flussartigen Linien erzeugen diese Punkte aus der richtigen Entfernung betrachtet die vage Illusion einer Linie, die von den Schulkindern dann auch wirklich quer durch den Kontinent Aeria eingezeichnet wurde. Das Bild wurde also offensichtlich sehr gezielt auf die Wahrnehmung aus größerer Distanz hin gestaltet, sodass es den gewünschten Wahrnehmungseffekt auch wirklich erzeugte. Die Zeichnung, die in der Wahrnehmung der Kinder die Illusion von Linien erzeugt hatte, wurde in den Monthly Notices abgedruckt. Der Leser des Artikels sah die Illusion selbst allerdings nur dann, wenn es ihm gelang, die Versuchssituation nachzustellen, was eine Mühe darstellte, die wohl kaum ein Leser auf sich genommen haben dürfte. Dies bedeutet, dass der Leser des Artikels keine Linien, sondern nur die Punkte und damit die Ursachen der Illusion der Linien vorfand. Mehr noch: Er sah sich mit dem Bild einer recht gewöhnlichen Planetenoberfläche konfrontiert, die von Kontinenten und Ozeanen, Bergen und Flüssen übersät war. Das Bild ließ auf diese Weise wahrscheinlich werden, dass ein völlig normaler Planet, aus bestimmter Entfernung betrachtet, den Anschein erwecken konnte, als sei er von geraden Linien überzogen. Die abgedruckte Zeichnung von Maunder und Evans spielte also eine Doppelrolle: Zum einen erzeugte sie während des Versuchs in der Wahrnehmung der Schulkinder die Illusion von geraden Linien, zum anderen zeigte sie dem Leser des Artikels einen gewöhnlichen Planeten, der wiederum gewöhnliche Oberflächenmerkmale wie Bergketten, Ozeane und Flüsse aufwies. Der Leser des Artikels in den Monthly Notices konnte dieses Bild im Kontext einerseits zu Schiaparellis Bild der Marskanäle sehen und beurteilen, was geändert und was vorlagengetreu abgezeichnet wurde; andererseits konnte er das Bild im Kontext zu den Schülerzeichnungen sehen und verfolgen, welche Punkte und Linien welche Illusionen erzeugt hatten, welche Bildelemente die Kinder gerade noch auflösen konnten und welche nicht. Hieraus konnte er schließlich einen Zirkelschluss vollziehen, der die zentrale, das sprachliche Argument des Artikels überlagernde Suggestion erzeugte: Er betrachtete eine gewöhnlich erschei-

18 Maunder Evans (s. Anm. 9), S. 493.

Interpretation und Illusion

Vergleich als Methode, S. 24

ABB. 3: Als „key m a p " bezeichnete Vorlage von Giovanni Schiaparelli, 1 8 9 0 (unten); die veränderte Nachzeichnung von Maunder und Evans, die den Schulkindern 1 9 0 2 präsentiert wurde (oben).

Objektivität und Evidenz, S. 148

ABB. 4: Sechs ausgewählte Zeichnungen, die die Kinder angesichts der Zeichnung in Abb. 3 oben während des Experiments im Sommer 1 9 0 2 anfertigten.

128

REINHARD WENDLER

nende Planetenoberfläche in Maunders und Evans Zeichnung Abb. 3, oben , sah, dass und wo diese bei den Kindern die Illusion gerader Linien erzeugt hatte (Abb. 4) und verglich diese Bilder anschließend mit Schiaparellis Darstellung (Abb. 3, unten). Die Entsprechungen zwischen den Kinderzeichnungen und Schiaparellis Bild legten dann den - letztlich durch nichts gerechtfertigten - Schluss nahe, dass Schiaparelli und die Kinder derselben Illusion erlegen seien. Es kann mit großer Sicherheit angenommen werden, dass Maunder und Evans ihre Zeichnung kalkuliert auf diese Doppelrolle hin gestaltet haben. Die unregelmäßigen Punkte wurden nicht, wie angegeben, „at haphazard" in die Zeichnung gesetzt, sondern genau so, dass den Kindern eine gerade Linie dort erschien, wo auch Schiaparelli sie eingezeichnet hatte. Darüber hinaus wäre es für den vorgeblichen Kernpunkt der Argumentation, den Nachweis wahrnehmungspsychologischer Effekte, nicht nötig gewesen, dass die Zeichnung, die den Kindern präsentiert wurde, irgendeine Ähnlichkeit zu einem Planeten oder gar zum Mars selbst aufwies. Es hätte vollkommen genügt zu zeigen, dass einzelne Punkte aus der Entfernung zu Linien amalgamiert werden können. Maunder und Evans wählten als Vorbild jedoch keine punktierten Bildträger oder ein beliebiges Bild vom Mars, sondern ausgerechnet eines mit Marskanälen. Um die Ähnlichkeit zwischen Schiaparellis Bild und den Kinderzeichnungen vollends sicherzustellen, erhielten die Kinder obendrein Zeichenpapier, das mit einem Kreis versehen war, in den sie ihre Beobachtungen einzutragen hatten. Die Linien der Kinder wurden zudem suggestiv als „canal-like impressions" oder gar als „canals" bezeichnet, was den Linien der Kinder eine Bedeutung aufzwingt, die ihnen nicht zweifelsfrei zugeschrieben werden kann. All dies trug dazu bei, dass dem Leser des Artikels in den Monthly Notices eine scheinbar evidente Bildargumentation vorgelegt werden konnte. Je klarer jedoch wird, wie kunstvoll Maunder und Evans ihre Zeichnungen gestalteten, desto weniger kann das Ergebnis ihres Experiments als wissenschaftliche Erkenntnis hinsichtlich der Ursachen der Illusion der Marskanäle gelten. Der dargestellte Zusammenhang existiert allein auf der Ebene der Bildähnlichkeiten zwischen den im Aufsatz abgedruckten Darstellungen, nicht jedoch hinsichtlich eines Beweises im weiteren Sinn. Für diesen wäre es notwendig gewesen nachzuweisen, dass es sich bei dem an den Schulkindern beobachteten „pointillistischen" Effekt um denselben handelte, der auch dem Phänomen der Marskanäle zugrunde lag. Es liegt in der Natur der Problematik, dass dies unmöglich war, hätte ein solcher Nachweis doch genau auf denjenigen Kenntnissen über die wirkliche Beschaffenheit der Marsoberfläche aufbauen müssen, die man zu diesem Zeitpunkt nun einmal nicht besaß und die zudem die Theorie der Marskanäle ohnehin entkräftet hätten. Heute aber kann eine solche Überprüfung durchgeführt werden, etwa indem man die alten Marskanalkarten mit den Aufnahmen der

REINHARD WENDLER

Interpretation und Illusion

Marssonden bei GoogleMars vergleicht. Dabei wird schnell deutlich, dass die meisten Marskanäle keineswegs entlang von Berg- oder Kraterketten verlaufen, sondern durch weitgehend strukturlose Wüstenregionen. Folglich kann es kein „pointillistischer" Effekt gewesen sein, der in den Augen Schiaparellis, Lowells und anderen die Illusion von Linien auf dem Mars erzeugte. Die „small boy theory" von Maunder und Evans war also falsch. Bis heute konnte nicht restlos geklärt werden, auf welche Ursache die Illusion der Marskanäle zurückgeht.

Mit Bildern gegen die Macht der Bilder Maunders und Evans Experiment versetzte der Theorie der Marskanäle einen ersten ernsthaften Schlag. Dies lag jedoch nicht an der wissenschaftlichen Erkenntnis, die der Versuch zutage gefördert hätte, sondern daran, dass es die Bilder der Marskanäle und damit die Triebfeder der „Mars Canal Mania" 19 effektvoll in Zweifel zog. Die Bilder der Marskanäle suggerierten der Öffentlichkeit eine Erscheinung des Mars, wie sie im Teleskop niemals zu sehen war und ist. In den Darstellungen erscheinen die Linien klar, scharf und vor allem völlig stabil, wodurch die Tatsache verschleiert wird, dass im Okular niemals alle Kanäle gleichzeitig, sondern stets nur sehr wenige zu sehen waren, und dies zudem nur für wenige sehr kurze Augenblicke während tagelanger Observationen. Es handelt sich folglich stets um Kompilationen aus überaus zahlreichen Beobachtungen.20 Ein Betrachter der Bilder, der mit den Schwierigkeiten und Besonderheiten der teleskopischen Beobachtung und mit der Praxis solcher Kompilationen nicht vertraut war, musste jedoch den Eindruck bekommen, der Mars erscheine im Teleskop so, wie er auf den Bildern dargestellt war. Was die meisten Astronomen durch ihre Fachkenntnisse als schwache Spuren ungeklärter Ursachen interpretierten, erschien daher vielen wissenschaftlich ungebildeten Menschen als unzweifelhaft. Diese vermeintlich eindeutigen Beobachtungen trafen auf eine über Jahrtausende hinweg in der Gesellschaft verbreitete Vorstellungswelt von außerirdischen Wesen, verursacht durch Spekulationen über Götter und Engel, insbesondere die Vielheit der Welten bei Giordano Bruno und Camille Flammarion und die utopische Literatur. In den Linien der Bilder von Schiaparelli und Lowell schienen diese Spekulationen nun plötzlich einen eindeutigen Nachweis bekommen zu haben, indem man die gigantischen Bauwerke einer überlegenen Zivilisation erspäht zu haben glaubte. Vor dem Hintergrund dieses entscheidenden Einflusses der Bilder scheint es durchaus gerechtfertigt, wenn Maunder und Evans mit ihrem Experiment zunächst auf eine Demontage der Bilder der Marskanäle und damit auf die Wurzel des weit verbreiteten Glaubens an die Marsianer zielten. Um die Macht der Bilder der Marskanäle zu brechen,

19 Zur zentralen Rolle der Bilder der Marskanäle siehe auch Lane (s. Anm.2). zo Hierzu auch Dobbins, Sheehan (s. Anm. 2).

Beobachtungstechnik, S. 178

Ikonologische Analyse, S. 48

129

Interpretation und Illusion

Wissenschaftspopularisierung, S. 208

zi Johann Joseph von Littrow: Die Wunder des Himmels oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems, Neubearb. v. Dr. Paul Guthnick, Berlin 1 9 1 0 (9. Aufl.), S. 3 8 2 .

130

REINHARD WENDLER

boten sie Bilder auf, die suggerierten, dass es sich bei den Marskanälen um eine derart simple Illusion handele, dass es den Experimentatoren keine Schwierigkeiten bereite, sie in der Wahrnehmung von Schulkindern nachzustellen. Dass Maunders und Evans Bildargumentation erfolgreich war, belegt unter anderem Paul Guthnick in Johann Joseph von Littrows populärwissenschaftlichem Werk Die Wunder des Himmels oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems aus dem Jahre 1910. Er gibt die vorherrschende Erklärung für die Illusion der Marskanäle, „welche sich gegenwärtig die meisten Astronomen zu eigen gemacht haben", mit folgenden Worten wieder: „Demnach sind also die Kanäle des Mars wahrscheinlich Bergzüge oder auch reihenweise angeordnete einzelne Erhebungen, die unter gewissen Beleuchtungs- und Sehwinkeln als einfache beziehungsweise doppelte dunkle Linien erscheinen."21 Obwohl es für diese Erklärung des Phänomens der Marskanäle auch im Jahre 1910 noch keine belastbaren Belege gab, setzte sie sich durch und spielte eine wichtige Rolle in der Eindämmung der weit verbreiteten Überzeugung, der Mars beherberge eine intelligente Zivilisation. Es gelang Maunder und Evans also, die suggestive Kraft der Marskanalbilder durch eine in die entgegengesetzte Richtung wirkende Bildsuggestion zu brechen. Obwohl Maunders und Evans Versuch den Regeln der Wissenschaft keineswegs genügte, kamen seine Stoßrichtung und Wirkung dem Selbstverständnis der Astronomie entgegen. Hierin mag einer der Gründe gelegen haben, dass eine kritischen Prüfung entfiel.

REINHARD W E N D L E R

Interpretation und Illusion

ABB. I: British Library, Add. MS 2 4 1 8 9 f. 15. Abbildung aus: Peter Whitfield: The Mapping of the Heavens, San Francisco 1995, S. 48; ABB. Γ. Percival Lowell: Mars, Boston 1895, Taf. XXIII; ABB. 3: Edward Walter Maunder und Joseph Edward Evans: Experiments as to the Actuality of the „Canals" observed on Mars. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Vol. LXIII (1903), S. 4 8 8 - 4 9 9 , Taf. 18; ABB. 4: Wie Abb. 3, Taf. 19; ABB. 5: Michael F. Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991, S. 175.

131

Sichtbarmachung/Visualisierung

Abb. 1: A u f n a h m e des M o n d e s mit einer V e r m e s s u n g s k a m e r a von Kenneth Mattingly, Apollo 16, April 1972. Die A u f n a h m e e n t s t a n d b e i m Rückflug v o m M o n d aus e t w a 1600 k m Entfernung, in der Bildm i t t e verläuft die Grenze z w i s c h e n der M o n d v o r d e r s e i t e und der von der Erde aus nicht sichtbaren Rückseite.

Abb. 2: Die Analyse der Ozonverteilung über der Antarktis, aufgen o m m e n mit d e m Solar Backscatter Ultraviolet (SBUV/2) I n s t r u m e n t der N O A A , der Nationalen W e t t e r b e h ö r d e der USA, zeigt das „ O z o n loch" a m 15. Oktober 1987.

Zahlreiche Bild- und W i e d e r g a b e f o r m e n w e r d e n auch in den N a t u r w i s s e n s c h a f t e n in sehr allgemeiner W e i s e als „ R e p r ä s e n t a t i o n e n " (Darstellungen) v o n Dingen oder Sachverhalten verstanden und bezeichnet. W e i l der Begriff aufgrund seiner zahlreichen kulturhistorischen Konnotationen jedoch höchst vieldeutig ist und die spezifischen Probleme der naturwissenschaftlichen Fors c h u n g nur bedingt fassen kann, w u r d e er seit den 1980er Jahren verstärkt in Frage gestellt und v e r m e h r t durch alternative Bezeichnungen w i e „Sichtbarmac h u n g " oder „Visualisierung" ersetzt. Im Unterschied zur Vorstellung einer W i e d e r g a b e v o n Dingen und der daraus f o l g e n d e n Ähnlichkeit zu ihnen soll Sichtbarmachung den produktiv-konstruktiven A s p e k t der Bildherstellung in der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Praxis b e t o n e n (Huber, Heller 1999, Haupt, Stadler 2006): Zahlenwerte, k o m p l e x e Phänom e n e oder unsichtbare S y m p t o m e w e r d e n erst durch Bilder a n w e s e n d , sichtbar und handhabbar g e m a c h t . Ind e m zur Herstellung v o n e n t s p r e c h e n d e n Sichtbarkeiten ein H ö c h s t m a ß an Investitionen und an physikalisch-

m a t h e m a t i s c h e r Expertise a u f g e b o t e n w i r d , verbindet sich insbesondere m i t der Formenvielfalt der Visualisierung die Idee einer „ikonischen W e n d e " in der W i s s e n s gesellschaft. Sichtbarmachung beschreibt damit ein g r u n d l e g e n d neues Paradigma der Sichtbarkeit i m w i s senschaftlichen und technischen Bereich. D e m d e u t s c h e n W o r t s i n n nach kann „Sichtbarmac h u n g " zunächst jede Art der visuellen Darstellung einschließen, die einen aus physikalischen Gründen oder nach allgemeiner Vorstellung nicht sichtbaren Gegenstand in eine Form bringt, die das menschliche A u g e betrachten kann (Abb. 1). M i t h i n kann auch die künstlerischästhetische Manifestation v o n Emotionen, Ideen oder fiktiven S t o f f e n prinzipiell als eine A r t der Sichtbarmac h u n g v o n U n g e s e h e n e m gelten. A u c h die A u s r ü s t u n g des A u g e s mit optischen I n s t r u m e n t e n w i e M i k r o s k o p i e (-»•Fallstudie Stefan Ditzen, S. 168), oder Teleskopie (->• Fallstudie Reinhard Wendler, S. 120) erschließt neue Sichtbarkeiten, so w i e Fotografie und Film Flüchtigkeit und B e w e g u n g in unterschiedlicher Form fixieren. Eine

132

Sichtbarmachung/Visualisierung

2330EW1 i.7 DE6. Abb. 3: Radaraufnahme eines schweren Unwetters südwestlich des

Abb. 4: Ultraschallaufnahme eines Fötus in der zweiten Hälfte der

Spring Lake, New Jersey, 27. Juli 1944, aus dem Handbuch „ M F

Schwangerschaft, ca. 1988. Die Sonografie, wie hier in der Sagittal-

Manual 105-101-2 Radar Storm Detection" der US Army Air Forces

ebene durch Kopf und Oberkörper des ungeborenen Kindes, ermög-

Headquarters, August 1945.

licht der Gynäkologie eine eingriffsfreie Diagnostik zur Kontrolle der kindlichen Körper- und Organentwicklung noch im Mutterleib.

solche Lesart wird unterstützt durch den Umstand, dass das Pendant „Visualisierung" (engl, visualisation) auch gestalterische Lösungen und Bildschirmmedien aller Art umfasst, die vor allem der virtuellen Modellierung und Simulierung von Konstruktionen oder Oberflächen im Bauwesen und Industriedesign oder in der Spieleindustrie dienen oder bei denen aus umfangreichen Datenmengen plastische Figurationen generiert werden (Snyder 1998). Im Unterschied hierzu bezeichnet der Begriff in der jüngeren theoretischen Diskussion vor allem Verfahren und Gerätschaften des naturwissenschaftlich-technischen und medizinischen Bereichs, bei denen visuelle Umsetzungen von Aufzeichnungen und Messergebnissen etwas in den Sichtbarkeitsbereich bringen, das ein erweitertes Lichtwellenspektrum aufnimmt oder umrechnet (Abb. 2), außerhalb des elektromagnetischen Wellenspektrums liegt (Seismografie) oder auf der aktiven Aussendung von Impulsen beruht (Abb. 3,4). Hierunter fällt auch die elektronische Abtastung von Objekten in der Rastertunnelmikroskopie, bei der Vergleichswerte in

Wechselwirkung mit dem Objekt erzeugt werden —»· Fallstudie Jochen Hennig, S. 86) oder die Aufbereitung von radiologischen Daten in der Medizin (->· Fallstudie Vera Dünkel, S. 136), etwa bei der Untersuchung von Strukturen oder Stoffwechselvorgängen in der Tomografie (Abb. 5). Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger unterscheidet Sichtbarmachung begrifflich insbesondere von Formen der „Wiedergabe" oder „Abbildung", die einen mimetischen oder objektnahen Charakter suggerieren. Er versteht darunter in systematischer Hinsicht die konstruktiven Verfahren zur Herstellung von Wissen auf visuellem Wege (Rheinberger 1997 u. 2001). Der Prozess der Verbildlichung holt den Untersuchungsgegenstand erst ins Register des Sichtbaren und transformiert ihn zum Gegenstand von Operationen und Überlegungen. Als Ergebnis von Anordnungen, Experimenten und Parameterveränderungen erweist sich das sichtbare Bild als Produkt zahlreicher Interventionen (Hacking 1983). Es referenziert den Gegenstand nur indirekt als „Inskripti-

133

Sichtbarmachung/Visualisierung

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Abb. 5: Tafel aus e i n e m Lehratlas zur C o m p u t e r t o m o g r a f i e . Die Abbil-

Abb. 6: Schallwellenaufzeichnung mit d e m Phonodeik genannten, frü-

dung zeigt beispielhafte CT-Aufnahmen in axialer Schnittführung von

hen Oszillografen Dayton Clarence Millers, u m 1910. Von oben nach

sechs Patienten m i t intrazerebralen Blutungen; die H ä m a t o m e sind

unten: Blechblasmusik, Läuten einer Glocke, Geräusch einer Rakete.

in der Tomografie hell erkennbar.

on" von Messungen (Latour, Woolgar 1986). Die dabei erzeugten Bildformen unterliegen meist weiterhin den allgemeinen Regeln der Repräsentation im Hinblick auf Farbigkeit, Räumlichkeit, Perspektivität, Skalierung, Bewegung, Rendering u. a. und schließen an diese bewusst oder unbewusst zum Zwecke besserer Analyse oder Bewertung an (z. B. Lynch, Edgerton 1988). Durch den Erfolg der elektronischen Bildgebung und der Umrechnungsmöglichkeiten von Messdaten am Computer ergaben sich grundlegende Fragen der Interpretation visueller Befunde, die schließlich dazu führten, dass Sichtbarmachung vor allem mit digitalen Medien assoziiert wird (->· Digitale Bilder, S. 82). Davon unbenommen, kann Sichtbarmachung jedoch auch völlig analog erfolgen, etwa als Ausgabe von Schallkurven mit dem Oszillografen (Abb. 6! oder auch in den „Klangfiguren" von Ernst Chladni, der Ende des 18. Jahrhunderts akustische Schwingungen als Muster im Sand visualisierte (Abb. 7), und ist damit historisch weiter zurückzuführen. In vielem deckungsgleich sind „Sichtbarmachung" und

134

„Bildgebung" (-• Zellbilder, S. 54), wobei sich letztere vor allem in der Medizingeräteindustrie als Begriff durchgesetzt hat, da sie als „bildgebendes Verfahren" sehr präzise über den konstruktiven Status der sichtbaren Form aufklärt. Insofern durch Sichtbarmachung Daten am Computerbildschirm „aufgeführt" werden, gibt es außerdem weiterhin Berührungspunkte zur inszenatorischtheatralischen Bedeutung von Repräsentation. (MB)

Sichtbarmachung/Visualisierung

Abb. 7: Klangfigur nach Ernst Chladnis Methode von 1787. Schwingungen, die mittels Geigenbogen oder Lautsprecher an einer mit Sand bestreuten Metallplatte erzeugt werden, bringen frequenzabhängige Muster auf der Platte hervor.

Literatur und Bildquellen lan Hacking: Representing and Intervening, Cambridge 1983 (Dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996).

G. Fyfe, J. Law (Hg.): Picturing power. Visual depiction and social relations, London 1988, S. 184-220. Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practi-

Sabine Haupt, Ulrich Stadler (Hg.): Das Unsichtbare sehen, Zürich/ Wien/New York 2006.

ce, Cambridge/London 1990. Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.):

Jörg Huber, Martin Heller: Konstruktionen Sichtbarkeiten, Wien u.a. 1999 (= Interventionen, Bd. 8).

Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997.

Sybille Krämer, Werner Kogge, Gemot Grube (Hg.): Spurenlesen als

Hans-Jörg Rheinberger: Objekt und Repräsentation. In: Jörg Huber,

Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007,

Bettina Heintz (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sicht-

S. 95-120.

barmachung

Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986.

in wissenschaftlichen

und

virtuellen

Welten,

Wien/New York 2001, S. 55-61. Joel Snyder: Visualization and Visibility. In: Peter Galison, Caroline A.

Michael Lynch, Samuel ¥. Edgerton: Aesthetics and digital image processing: Representational craft in contemporary astronomy. In:

Jones (Hg.): Picturing Science, Producing Art, New York 1998, S. 379-397.

Abb. 1: Michael Light (Hg.): Full Moon. Aufbruch zum Mond, Sonderdruck der Erstausgabe, München 2002, S. 109; Abb. 2: NOAA In Space Collection, http://www.photolib.noaa.gov/htmls/spac0111.htm

(Stand: 06/2008); Abb. 3: NOAA National Weather Service

Collection,

http://www.photolib.noaa.gov/htmls/wea01238.htm (Stand: 06/2008); Abb. 4: Pränatale und gynäkologische Sonographie. Atlas und Lehrbuch für die Praxis, hg. v. Thomas Schramm, Karl-Philipp Gloning; Stuttgart 1989, S. 67, Abb 5.25a; Abb. 5: Sebastian Lange u.a.: Zerebrale und spinale Computertomografie, Basel/München/London u.a. 1987 (2. Aufl.), S. 95, Taf. 38; Abb. 6: V. J. Phillips: Waveforms. A history of Early Oscillography, S. 58, Abb. 2.53; Abb.7: Alexander Lauterwasser: Wasser Klang Bilder. Die „schöpferische Musik des Weltalls", Aarau/München 2003 (2. Aufl.), S. 43.

135

R ö n t g e n b l i c k u n d Schattenbild

VERA

DÜNKEL

Oha« Remdw

ABB. I: Wilhelm Conrad Röntgen: Röntgenbild der H a n d des Anatomen Albert von Kölliker, aufgenommen im Physikalischen Institut der Universität W ü r z b u r g a m 23. J a n u a r 1896.

Hand des Anatomen Geheimrath von Kölliker in Würzburg. am

Im Physikalischen Institut der Universität Würzburg 33. J a n u a r 1&96 mit X - S t r a h l e n a u f g e n o m m e n P r o f e s s o r D r . W . C. R ö n t g e n .

Verbi; d«r St » hel'schcn k. Hof- und l'n i versili ts-Buch- und Kunsthandlung in Würiburg

Röntgenblick und Schattenbild. Zur Spezifik der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen um 1900 Vera Dünkel Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen Ende des Jahres 1895 wurde ein bildgebendes Verfahren erfunden, dessen Anwendungsgebiete zunächst keineswegs

136

klar festgelegt waren. Die Bedeutungsoffenheit1

und

VERA DÜNKEL

die immense Faszination an einer neuen Sichtbarkeit förderten ein sich auf die verschiedensten kulturellen, sowohl wissenschaftlichen als auch populären Gebiete ausdehnendes, zum Teil spielerisches Experimentieren mit der Technik. Es hatte die Herstellung von Bildern zum Ziel, während die Räume möglicher Anwendungen erst noch ausgelotet wurden1. Ebenso offen war in dieser Anfangszeit die Frage danach, wie die besondere Erscheinungsweise dieser Bilder visuell und begrifflich zu fassen sei. Was zeigten diese Bilder? Handelte es sich um Aufsichten, Durchsichten, Projektionen? Wie konnte das Neue an ihnen gezeigt werden und ihr Verständnis zugleich an bekannte Repräsentationsformen anknüpfen? Oer Beitrag stellt anhand zeitgenössischer Artikel und Abhandlungen sowie erster Röntgenatlanten verschiedene Deutungen vor. Er behandelt das Aufkommen der neuen Technik dabei im Spannungsfeld zwischen der euphorischen Idee eines durch sie scheinbar verwirklichten Röntgenblicks einerseits und dem kritischen Bewusstsein über die Konstruiertheit der Bilder als Schattenprojektionen andererseits. Um der spezifischen Art und Weise näher zu kommen, in der diese Bilder in verschiedenen Kontexten Sinn erzeugen, muss der Blick sowohl auf ihre formalen Eigenschaften und ihre visuelle Erscheinung als auch auf Bedeutungszuweisungen im Umgang und im Argumentieren mit ihnen gerichtet werden.

Röntgenblick und Schattenbild ι Diese ist möglicherweise typisch für das Aufkommen neuer Techniken, vgl. dazu David Gugerli, Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, insbes. S. 10 f. Zur Rezeption neuer Medien und Techniken im 19. Jahrhundert vgl. Carolyn Marvin: When old Technologies were new. Thinking about electric Communication in late Nineteenth Century, New York u. a. 1990. 2 Vgl. Vera Dünkel: Die Fotografie mit Röntgenstrahlen. Hermann Krones Rezeption des Mappenwerks von Walter König und die Ikonographie der frühen Röntgenbilder. In: Wahrzeichen. Fotografie und Wissenschaft, Ausst.kat., hg. v. Andreas Krase und Agnes Matthias, Dresden 2006, S. 4 5 - 4 6 .

Die Hand mit schwebenden Ringen Am 23. Januar 1896 hielt der Physikprofessor Wilhelm Conrad Röntgen einen Vortrag über eine „neue Art von Strahlen" 3 vor der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft der Würzburger Universität. 4 Vor applaudierendem Publikum entstand während dieses Vortrags das Bild der Hand des anwesenden Anatomen Albert von Kölliker ^bb. 1 ). Auf einem diffus monochromen Hintergrund ragt die Hand von links unten in den Bildausschnitt und ist ab dem Handgelenk vollständig zu sehen. Ihre Erscheinung setzt sich aus drei Ebenen zusammen: Aus dem helleren Handumriss treten die dunkleren Knochen hervor. Scheinbar über diesen beiden Ebenen sind die ovalen, scharf abgegrenzten Formen von Ringen zu sehen. Während der deutliche Umriss der Hand als Silhouette auf deren bekannte Erscheinung verweist, schafft das Hervortreten der Knochen als ihre innerste Schicht einen völlig neuartigen Anblick. Deren lose Einbettung in den Handumriss verstärkt den Eindruck, durch eine schleierartige Schicht hindurch auf etwas tiefer Liegendes zu blicken, als wäre die fleischliche Hülle der Hand transparent geworden. Nichts verbindet die äußere Begrenzung des Handumrisses mit den Knochen, so dass diese in der Hauthülle der Hand eine Art Schwebecharakter erhalten. Zugleich wirken die Knochen dort plastisch, wo ihr Inneres heller erscheint als ihre dunkleren Konturen. Auf

3 Vgl. Wilhelm Conrad Röntgen: Über eine neue Art von Strahlen (Vorläufige Mittheilung). Sonderdruck, aus den Sitzungsberichten der Würzburger Physik.-medic. Gesellschaft, Würzburg 1895. Röntgen hatte diesen zusammen mit einer Reihe von Bildern am 1. Januar 1896 an Kollegen im In- und Ausland verschickt. Vgl. Otto Glasser: Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Berlin 1959 [1931], S. 24. 4 Zu Röntgens Vortrag vgl. Glasser (s.Anm.3), S. 3 7 - ^ 0 .

137

Röntgenblick und Schattenbild

VERA DÜNKEL

einer dritten Ebene scheinen die Ringe zu schweben. Diese wirken flächig und sind zugleich perspektivisch verkürzt. Indem sie den spannungsvollen Abstand bewahren, den der fleischliche Handumriss vorgibt, werden sie als am Finger sitzend assoziierbar, gehen aufgrund ihrer dunkleren Tönung jedoch eine stärkere Beziehung zu den Knochen ein, ohne diese dabei zu berühren.

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 1 3 2

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Hand Geheimrat τ. Kölliker's.

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Bad Brückenau aaá sc:-.; H'jrffllttiL

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ABB. ζ: Werbung der Stahel'schen Universitäts-

Buch-

und

Kunsthandlung

in

Würzburg für das Bild der Hand des Anatomen Albert von Kölliker von Wilhelm Conrad Röntgen, 1 8 9 6 .

->• Wissenschaftspopularisierung, S. 2 0 8 5 Die Werbung befindet sich hinten im Deckblatt des Sonderdrucks der von der

Stahel'schen

Universitäts-Buch

und Kunsthandlung in Würzburg herausgegebenen

zweiten

Mitteilung

Röntgens vom 9. M ä r z 1 8 9 6 . Vgl. Wilhelm Conrad Röntgen: Über eine Neue Art von Strahlen (II. Mittheilung). Sonderdruck, aus den Sitzungsberichten der Würzburger

Physik.-

medic. Gesellschaft, Würzburg 1 8 9 6 .

138

Das befremdliche Verhältnis der unterschiedlichen Teile des Körpers zueinander wurde mit Bezug auf die Ringe in einem der frühen Zeitungsartikel als „Schweben um die Finger" bezeichnet, was die Unsicherheit dieses Anblicks verdeutlicht. Einerseits suggeriert das Bild einen Blick in den Körper, durch seine äußerste Schicht hindurch auf etwas dem Blick normalerweise Verborgenes, von dessen Existenz man jedoch weiß. Indem die Hand dabei als Hand erkennbar bleibt, schwankt die Wahrnehmung des Betrachters zwischen Wiedererkennung und Befremdung. Durch die Umkehrung des Bildes vom Negativ ins Positiv wurde das Verständnis des Bildes als Blick auf Etwas - einer allgemein vertrauten Lesart entsprechend - gefördert. Auch der durch die unterschiedlichen Hell- und Dunkelwerte im Bild erzeugte Eindruck von Räumlichkeit lässt an visuelle Erfahrungen anknüpfen. Andererseits bleibt aber diese vermeintlich gegenständlich-räumliche Wahrnehmung des Körpers eine recht unsichere, will man die einzelnen Elemente im Bild genau zueinander verorten: Wie genau befindet sich der Ring am Finger? Sind die Knochen im, über oder unter dem Schatten der Hand? Sieht man vom Erfahrungswissen gegenüber der Hand ab, so bleiben die genaue Lage der Körperteile und ihre Beziehung zueinander förmlich in der Schwebe. Es entsteht ein geradezu surrealer Anblick: Ringe, Knochen und Hand überlagern und durchdringen sich. Die dem Körper äußerlich aufgesteckten Schmuckformen verbinden sich mit seinem Innersten, den Knochen, indem das dazwischen Liegende, die Muskeln, Venen und Adern zur Auflösung gebracht wurden. Innen und Außen des Körpers fallen auf der Bildfläche in eins. In der Folge kam es zu einer schnellen Auratisierung des Bildes: Kurz nach Röntgens Vortrag konnten Originalabzüge dieses Bildes, auf einen rahmenden Karton aufgeklebt, mit gedrucktem Titel und einem an eine Denkschrift erinnernden Verweis auf seine Entstehung versehen, bei der Stahel'schen Universitätsbuchhandlung käuflich erworben werden. Die dazu erschienene Werbung (Abb. 2 pries das Bild mit folgenden Worten an: „Diese Aufnahme ist umso interessanter, als sie von Professor Röntgen selbst und in jener denkwürdigen Sitzung [...] aufgenommen wurde, [...] und, weil es sich hier um die Hand des berühmten Anatomen und Nestors der Universität v. Kölliker handelt."5 Die Bildunterschrift verleiht dem Bild die Aura eines Beweisstücks und Erinnerungsbildes. Durch sie wird das Ereignis der „denkwürdigen Sitzung" aufgerufen und die namhafte Persönlichkeit des Anatomen als Zeugnis der stattgefundenen Vorführung benutzt. Das Handbild wird durch den Verweis auf den lebenden Anatomen (dem mit Hilfe der neu-

Röntgenblick und Schattenbild

VERA DÜNKEL

en Technik nun selbst auf die Knochen geschaut werden konnte!) mit Sinn gefüllt und erhält darüber hinaus memorativen Charakter. Gleichzeitig scheint auch der bezeugende Gestus mit Bedeutung aufgeladen zu werden, den der Anatom während des Vortrages durch das minutenlang gebannte Auflegen seiner beringten Hand vollbringen musste (Abb. 4 , um die Entstehung des Bildes technisch zu ermöglichen, und welcher sich auch in der sehr geraden Erscheinung der Hand im Bild spiegelt: Mit seiner Hand und damit seiner ganzen Persönlichkeit steht er für die Echtheit der Methode ein. 6 Durch die Bildunterschrift wird dem Bild dieses Ereignis quasi einverleibt. Mit der Bezeichnung des Bildes als „ H a n d " wird zudem eine Spannung erzeugt, die auf der Differenz zwischen dem allgemein bekannten Ausgangsobjekt, der Hand, und der im Bild sichtbaren neuartigen Erscheinung, dem Knochenskelett, beruht: Während das Skelett mit Zeichen des Todes in Verbindung gebracht wird, betont die Unterschrift, dass es sich hier um die Hand eines lebenden Menschen handelt. Die Bezeichnung „ H a n d " ruft ein vertrautes Bild auf, welches dann mit der Erscheinung im Bild auf eigentümliche Weise kontrastiert. Die Herstellung dieser Differenz durch die schriftliche Rahmung des Bildes ermöglicht es dem Betrachter, in einer Spannung aus Wiedererkennung und Überraschung bekannte und neuartige Erscheinung zu vergleichen und aus ihr das Besondere dieser Art von Bildern abzuleiten.

Erste Sinngebungen: Röntgenblick ... Die frühen Zeitungsberichte über Röntgens Entdeckung tragen Titel wie „Fotografie des Unsichtbaren", „new photography" oder auch „photographie à travers les corps opaques". Diese Bezeichnungen erscheinen als Hilfsbegriffe, das Verfahren als Neuheit zu fassen und zugleich Anknüpfungen an Bekanntes zu ermöglichen. Mit der Bezeichnung des Verfahrens als Fotografie fand eine Einordnung statt, innerhalb derer Fantastisches und wissenschafdiche Objektivität sich verbinden ließen: War die Fotografie im 19. Jahrhundert als ein natur- und detailgetreue Abbildungen der Wirklichkeit ermöglichendes Medium gefeiert worden, 7 so verband sich mit ihrer Eigenschaft der mechanischen Aufzeichnung auf einer lichtempfindlichen Schicht zugleich die Idee einer Wahrnehmungserweiterung gegenüber den mit dem bloßen Auge wahrnehmbaren Wirklichkeiten. 8 Mit dem Hinweis auf die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts wie Telefon und fotografische Momentaufnahmen verortete ein früher Zeitungsartikel das neue „fotografische" Verfahren dementsprechend zwischen Science und Fiction, indem er auf „phantastische Zukunftsspeculationen im Style eines Jules Verne" verwies und zugleich betonte, dass „die Sache von ernsten Gelehrten ernst genommen wird", ja dass „das photographische Beweismaterial für diese Entdekkung vor den Augen ernster Kritiker bisher Stand zu halten scheint".'

ABB. 4: Versuchsanordnung zur Aufnahme der Hand. Populäre Illustration, Ende 19. Jahrhundert.

6

Als Organ des Handelns kann die Hand für den ganzen Menschen und dessen Absichten stehen: „Die Hand vertritt somit die ganze Person; sie ist körperliche Manifestation ihrer geistigen Absicht." Das Handauflegen gilt im Rechtsgebrauch als Eides- und Bezeugungsgestus. Vgl. Artikel „ H a n d Π (ikonographisch)" und „Handauflegung". In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band ΧΠΙ, Stuttgart 1986, S. 4 0 3 , S. 483, S . 4 9 5 f . und Artikel „ H a n d " . In: Hanns BächtoldStäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band ΠΙ, Berlin/Leipzig 1930/31, S. 1379.

7 Vgl. etwa Ursula Peters: Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland 1 8 3 9 - 1 9 0 0 , Köln 1979, S. 2 2 f .

Objektivität und Evidenz, S. 148

8 Zur fotografischen Erschließung von Räumen des Unsichtbaren vgl. einführend Michel Frizot: Das absolute Auge. Die Formen des Unsichtbaren. In: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 2 7 3 - 2 8 4 und ausführlicher Peter Geimer: Bilder ohne Vorbild. Versuch über die Blackbox. In: Sabine Haupt, Ulrich Stadler (Hg.): Das Unsichtbare Sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur, Zürich 2 0 0 6 , S. 1 6 1 180.

139

Röntgenblick und Schattenbild

VERA DÜNKEL

9 „Eine sensationelle Entdeckung." In: Die Presse, 5. Januar 1896, Wien 1896, Original abgedruckt bei Klaus Hübner: Die ersten zwei Zeitungsberichte über Röntgens Entdeckung, Berlin 2000, S. 36-38, hier S. 37. 10 Vgl. Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963, Zürich 2003, S. 325 f. 11 Oskar Büttner, Kurt Müller: Technik und Verwerthung der Röntgen'schen Strahlen im Dienste der ärztlichen Praxis und Wissenschaft, Halle a. S. 1897. 12 Philander: Elektra. Ein physikalischdiagnostisches Märchen aus dem

Fotografie und literarische Fiktionen bereiteten den Boden für die euphorische Aufnahme des neuen Verfahrens und eröffneten den Raum für erste Einordnungen und Deutungsversuche.10 So zitierte sogar ein erstes Röntgenhandbuch, das 1897 erschien,11 einen Satz aus einem „medizinischen Märchen" von 1892: „Ach wenn es doch ein Mittel gäbe, den Menschen durchsichtig zu machen wie eine Qualle!" 12 Der in der fantastischen Erzählung formulierte, alte medizinische Traum vom durchsichtigen Menschen schien mit dem neuen Verfahren Wirklichkeit geworden zu sein. Die neue Technik wurde als Antwort auf die „Bestrebungen der Aerzte, das Innere des Körpers ohne Trennung der Gewebe zur optischen Wahrnehmung zu bringen" 13 verstanden. In Anknüpfung an das fünf Jahre früher erschienene Märchen wurde so die Qualle als Metapher für Transparenz und Durchsichtigkeit zu einem Sinnbild des Röntgenverfahrens, das einen scheinbar uneingeschränkten Einblick in den lebenden Körper erlaubte und somit von den Tod bedingenden, anatomischen Techniken abgegrenzt werden konnte. 14 Die neuen Bilder suggerierten diesen distanzierten Blick in den Körper. Sie wurden dabei

7. 1896. Smphische Sarrteir^urch Jtontsenstrahlm _ : ^ f» & « -

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ABB. 3: Graphische Darstellung durch Röntgenstrahlen, 1896. Tafel 137 aus Hermann Krones „Historischem Lehrmuseum für Photographie".

VERA DÜNKEL

nicht in erster Linie als Schatten des Körpers, sondern als Abbilder des durchsichtig, transparent gewordenen Körpers aufgefasst. An sie knüpfte sich die Idee eines Röntgenblicks,15 der auch die ärztliche Macht über den staatlich kontrollierten und gesunden Körper, wie er dreißig Jahre später in der transparenten Plastikfigur des gläsernen Menschen sein Idealbild erhielt, versinnbildlicht.16 Die anfängliche Euphorie forderte alle Arten von Experimenten und Anwendungsversuchen heraus, von der Sichtbarmachung des Inneren seltener Lebewesen über die Prüfung der Echtheit von Mumien und Diamanten bis hin zur Kontrolle von Passagieren und Gepäckstücken am Bahnhofszoll.17 Zum Teil spielerisch, zum Teil sehr systematisch wurden die bildgebenden Möglichkeiten des neuen Verfahrens erforscht, wovon auch eine erstaunliche Vielfalt an Motiven zeugt. Eine Tafel aus Hermann Krones Historischem Lehrmuseum der Photographie (Abb. 3) kann paradigmatisch für diese Vielfalt stehen und zeigt zugleich, wie selbstverständlich die Röntgentechnik zunächst in die Reihe fotografischer Bildverfahren eingeordnet wurde.18 Die hier zusammengebrachten Abzüge versammeln auch aufgrund technischer Machbarkeit besonders beliebte frühe Motive wie Hände (Abb. 3, links und mittig), kleinere Tiere wie Schlangen und Frösche (rechts) und Alltagsgegenstände wie Kästchen mit Inhalt (links oben), Schmuck (oben mittig) oder Spielzeug (rechts oben).

... und Schattenbild Neben der Motiwielfalt gab es eine Begriffsvielfalt, die davon zeugt, dass keineswegs Einigkeit darüber herrschte, wie diese Bilder genau zu charakterisieren wären. Ein über zehn Jahre andauerndes Begriffschaos hinsichtlich der Benennung des Verfahrens und seiner Bilder, das Bezeichnungsangebote wie „Diagraphie" (Transparentbild), „Skiagraphie" (Schattenbild), „Radiographie" (Strahlenbild) oder „Pyknographie" (Dichtebild) einschloss, kann als Ausdruck einer Verunsicherung gegenüber dieser Art von Repräsentationen gesehen werden.19 Die genannten Bezeichnungen spiegeln zugleich eine bildkritische Auseinandersetzung - ein Nachdenken darüber, was durch die neuen Bilder dargestellt wird und was diese erkenntnistheoretisch jeweils zu leisten vermögen. Dazu gehörte auch die eingehende Beschäftigung mit den Besonderheiten des Herstellungsprozesses: „Von einem photographischen Bilde unterscheidet sich nun ein Röntgenbild in doppelter Hinsicht. Zunächst sind es nicht die Lichtstrahlen, sondern die X-Strahlen, welche die lichtempfindliche Schicht, d.i. den Bromsilbergelatine-Überzug der Aufnahmeplatte zerlegen. Ferner ist die Photographie ein Lichtbild, die Röntgenaufnahme ein Schattenbild des abzubildenden Gegenstandes [...]." 2 ° Diese Feststellung aus einem frühen Zeitschriftenartikel nennt wesentliche, auf dem Prozess ihrer Herstellung gründende Eigenheiten

Röntgenblick und Schattenbild zwanzigsten Jahrhundert. In: Philander: Medizinische Märchen, Stuttgart 1892, S. 186-198. Vgl. dazu Monika Dommann: Die magische Büchse der Elektra. Röntgenstrahlen und ihre Wahrnehmung um 1900. In: Lorenz Engeil, Joseph Vogel und Bernhard Siegert: Archiv für Mediengeschichte - Licht und Leitung, Weimar 2002, S. 33-44.

Ikonologische Analyse, S. 48

13 Büttner, Müller (s. Anm. 11), S. 3. 14 Dommann (s. Anm. 12), S. 35 und Dommann (s. Anm. 10), S. 263. 15 Hier als utopische Idee übermenschlicher Sehkraft verstanden wie sie später etwa den Comic-Helden Superman aus den 1930er Jahren kennzeichnet. Vgl. einen der ersten Superman-Kurzfilme, produziert von den Fleischer Studios, 1941: „The Mechanical Monsters." 16 Zur Durchsetzung der Röntgendiagnose im Zusammenhang mit der Herausbildung des Gesundheitswesens vgl. Dommann (s. Anm. 10), insbes. S. 301 ff. 1928 wurde der erste gläserne Mensch vom Präparator des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, Franz Tschackert, hergestellt. Zur Geschichte des gläsernen Menschen und zur Entstehung von Sozial- und Hygiene-Museen im Zuge staatlicher gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen vgl. Rosmarie Beier, Martin Roth (Hg.): Der gläserne Mensch - eine Sensation. Zur Kulturgeschichte eines Ausstellungsobjekts, Stuttgart 1990, insbes. S. 44 ff. 17 Vgl. dazu Vera Dünkel: Das Auge der Radiographie. Zur Wahrnehmung einer neuen Art von Bildern. In: Matthias Bruhn, Kai-Uwe Hemken (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 207-220. 18 Dünkel (s. Anm. 2).

Röntgenblick und Schattenbild

VERA DÜNKEL

19 Monika Dommann hat die Breite der Begriffsangebote ausführlich

aufge-

führt und gezeigt, dass diese Bezeichnungen vom Kontext der Autoren abhingen und sich nach deren jeweiligem Fokus auf die verschiedenen Eigenschaften des Verfahrens richteten. Dommann (s. Anm. 10), S. 3 3 0 ff. und Monika Dommann: „Das RöntgenSehen muss im Schweisse der Beobachtung gelernt werden." Z u r Semiotik von Schattenbildern. In: Traverse 3 ( 1 9 9 9 ) , S. 1 1 4 - 1 3 0 .

der Röntgenaufnahmen und charakterisiert diese dabei in Abgrenzung zur herkömmlichen Fotografie: Nicht sichtbares Licht, sondern mit Hilfe von Funkeninduktor, elektrischer Spannung und einer Vakuumröhre künstlich erzeugte, unsichtbare Strahlen dienen zu ihrer Herstellung (Abb. 4). Zwar wirken diese Strahlen auf gewöhnliche Bromsilbergelatine-Negativplatten ein, es handelt sich hier aber um einen fotografischen Prozess, der ohne die Zwischenschaltung eines optischen Gerätes, also ohne Fotoapparat und ohne Linsen stattfindet, da die Strahlen nicht gebrochen werden können. Die Strahlen durchqueren die auf der Platte positionierten Objekte und projizieren deren Schatten auf die fotografische Schicht.

20 Dr. M a x Wiedemann: Über Entstehung und Verwendung der X-Strahlen nach dem heutigen Stande ihrer Erforschung. In: Neue und Alte Welt, 10. Heft ( 1 8 9 8 / 9 9 ) , S. 5 9 2 - 6 0 0 .

ABB. 4: Versuchsanordnung zur Aufnahme der Hand. Populäre Illustration, Ende 19. Jahrhundert.

2 1 The

Lancet,

26.

Dezember

1896,

S. 1 8 3 2 , zitiert nach Dommann (s. Anm. 19), S. 1 1 9 . 22 Vgl. Artikel „Schatte(n)". In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen

Aberglaubens,

Band DC, Berlin 1 9 3 8 / 4 1 , S. 1 2 6 f f . und Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte 1999.

142

des

Schattens,

München

Der Umstand, dass es sich bei den Röntgenaufnahmen um Schattenbilder handelt, schien bisweilen deren Erkenntniswert in Frage zu stellen. So konstatierte ein Artikel aus der medizinischen Zeitschrift The Lancet·. „We are utterly unable to obtain anything of the nature of a ,true image', the results are nothing more than photographic prints of shadows."21 Was in dieser Formulierung anklingt, ist die negative Konnotierung des Schattens als zweitrangigem, unkörperlichem und dunklem Abbild sowie bloßem Schein, wie sie in der Geschichte dieses Phänomens seit Piatons Höhlengleichnis immer wieder zu finden ist.22 Den Bildern wurde hier der Status von Wahrheit und Objektivität abgesprochen, weil sie „nichts weiter als Schatten" darstellen würden.

V E R A DÜNKEL

Röntgenblick und Schattenbild

Jedoch stellte das Röntgenbild als flächiges Schattenbild, in dem sich die verschiedenen Schichten eines Körpers unentwirrbar überlagerten, und das dabei trotzdem teilweise den Eindruck - wenngleich verwirrender - Räumlichkeit vermittelte (Abb. 1], die Anwender des Verfahrens tatsächlich vor erhebliche Deutungsprobleme. Dies führte zu verschiedenen Lösungsvorschlägen, welche zum Ziel hatten, die Lesbarkeit der Bilder im Hinblick auf bestimmte Anwendungen zu erleichtern. In äußerst aufwendigen Verfahren zur Verräumlichung der Röntgenbilder wie etwa der Röntgenstereoskopie zeigt sich dabei wieder der Wunsch nach einem uneingeschränkten Röntgenblick. Andere Zugänge zeugen von einem ausgeprägten Bewusstsein über die Begrenztheit eines solchen Blicks und die Konstruiertheit der Bilder. Deren Schattencharakter wurde dabei nicht immer negativ bewertet, sondern konnte auch zum festen Bestandteil einer positiven Bildkritik werden, bei der es um die Probleme ihrer Deutung im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Übertragung vom Bild in die physisch-räumliche Wirklichkeit ging. ABB. I: Wilhelm Conrad Röntgen: Rönt-

Schattenbildkritik: Schatten-Lesen-Lernen

genbild der Hand des Anatomen Albert von Kölliker, aufgenommen im Physikalischen Institut der Universität Würzburg

Ein hervorragendes Beispiel für diese Haltung ist der Chirurg Rudolf Grashey, Autor eines der ersten Röntgenatlanten, welche um 1900 erscheinen. Dieser verweist im Vorwort zu seinem Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen von 1905 auf grundsätzliche Schwierigkeiten bei der Deutung von Röntgenbildern, die aus der Differenz zwischen unbewaffneter Wahrnehmung und Bildwahrnehmung - dem eigentlichen Mehrwert des neuen Verfahrens - entspringen:

am 2 3 . Januar 1 8 9 6 .

„Manche im Röntgenbild hervortretende Umrisse und Linien entsprechen keinem abgeschlossenen anatomischen Begriff. [...] Darum ist es oft umständlich, die in die Ebene des Bildes zusammengedrängten Linien aufzulösen und zu entwirren."23 Der Arzt soll also bei der Deutung der Bilder auf anatomisches Wissen zurückgreifen, welches ihm dennoch nur bedingt hilft, eine Diagnose zu stellen. Die Übertragbarkeit des Bildbefundes auf den Körper ist damit klar in Frage gestellt. In seinem Atlas stellt Grashey das Röntgenbild je eines Körperteils in einen anatomischen Zusammenhang, indem er ihm eine plastische anatomische Knochenzeichnung sowie eine schematische Linienskizze, ergänzt durch schriftliche Erklärungen, beifügt (Abb. 5]. 24 Erst in dieser Zusammenschau wird das Röntgenbild lesbar und zum Erkenntnisgegenstand. Auf weitere Bedingungen einer Lesbarkeit der Röntgenbilder und ihrer Einordnung in Kategorien wie „normal" und „pathologisch" hatte Grashey schon im Vorfeld der Herausgabe seines „Normalatlas" verwiesen: „Man kann nicht genug Normalbilder betrachten und von Fall zu Fall wieder vergleichen, um den Begriff des Normalen zu beherrschen."25 Die Voraussetzung des Atlas war deshalb die Anfertigung unendlicher Bildreihen: „Je mehr Normalbilder wir von einer Region besitzen, desto

23 Rudolf

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132 Grashey:

Atlas

typischer

Röntgenbilder vom normalen Menschen, München 1 9 1 2 (2. Aufl.), Vorwort zur ersten Auflage 1 9 0 5 , S. III. 24 Bei dem Bild handelt es sich um eine Doppelseite aus der in Bildern und Text stark erweiterten zweiten Auflage des Atlas von 1 9 1 2 .

-»· Repräsentationsketten, S. 96 Bildanordnungen, S. 116

25 Rudolf Grashey: Fehlerquellen und diagnostische Schwierigkeiten Röntgenverfahren. Medizinische (1905) 1,S. 810.

In:

beim

Münchener

Wochenschrift

52

Röntgenblick und Schattenbild

V E R A DÜNKEL

Tab. l H 7 * , b (mit Skizze) Jahre. 41 cm, K a s s e t t e : l.atcraler Fuürand.

1 Fibula. I Tibia. 3 Spitze des inneren Xnbchels. 4 Spitze des rtuUelen Knishcls. 5 Processus posterior tali. 6 Cnepus (trochlea). 7 Collum tali. s Capot tali, Artlculus tnk.-alosneatis (setcrior lauagezoecnc l'arnìlclkontur). in Artieulus tuloeulcanearis anterior (punktierte PaiaUeikontur 11 Sustentaculum tali. 12 Processus anterior calcatici. 1.1 Os u.oicalarc |der nach hinten media] umnebogene Teil). 14 Os cuboides, 15 Tulstterrluui tibiale tuberia sit ane 15* Tulare, ffbolare tuberia caleanei. 17 Coepoe calcatici 21 Tuberositas naia ttavlcularis 21 Tulwrculnni oss. metatarsi V. zackit; abgesetzt. infolge tssimilation ilcs tls Yesalianuru -- inkonstant.

F u ß Von außen gesehen (am Sobotta).

ABB. 5: Doppelseite aus Rudolf Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen, München 1912. ζ6 Grashey (s. Anm. 23), S. III.

Vergleich als Methode, S. 24 2.7 Grashey (s. Anm. 23), S. III.

2.8 Grashey (s. Anm. 23), S. III. Vgl. dazu Dommann (s. Anm. 10), S. 2 8 6 f.

29 Grashey (s. Anm. 25), S. 810: „Genau nach den Normaltypen mache man die pathologischen Aufnahmen." 30 Rudolf Grashey: Atlas chirurgischpathologischer Röntgenbilder, München 1908.

144

breiter ist die Basis unseres Urteils."26 Diese mussten nach einheitlichen Aufnahmestandards hergestellt werden, damit, so Grashey, „die Aufnahmen derselben Region bei verschiedenen Individuen einander möglichst ähnlich werden und große übersichtliche Vergleichsreihen entstehen". 27 Nur so konnte ein Begriff des „Normalen" und mit ihm eine medizinische Röntgenbild-Ikonografie überhaupt festgelegt werden. Weil die Röntgenaufnahme dabei trotzdem immer nur einen besonderen, individuellen Einzelfall darzustellen vermag, bleibt das Normale dabei eine Kategorie, die eine schwer eingrenzbare Reihe von Abweichungen einschließen muss, welche Grashey „Varietäten" nennt und nach denen man bei jeder Gelegenheit „fahnden" solle.28 Grasheys „Normalatlas" kann deshalb nur eine Orientierung in einer Fülle von Bildern sein, die jeweils immer nur Einzelfälle zeigen können. Er bietet damit eine Grundlage für die Deutung auch pathologischer Aufnahmen, welche nach denselben Standards angefertigt werden sollen.25 Aber der Status der Bilder wird gerade im Falle pathologischer Aufnahmen prekär, wie sich anhand von Grasheys drei Jahre darauf veröffentlichtem Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder30 zeigen lässt (Abb. 6]. Hier tritt das Problem des individuellen Einzelfalls noch stärker hervor, da die Variationen der Krankheitsfälle eine fast unendliche Vielfalt möglicher Resultate bilden. Um möglichst viele Fälle vorzu-

R ö n t g e n b l i c k und Schattenbild

VERA DÜNKEL

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ABB. 6: Doppelseite aus Rudolf Grashey: Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder. München 1908.

stellen, hat Grashey das für die Diagnose jeweils relevante „Pathologische" ausgeschnitten, was den exemplarischen Charakter der Bilder verdeutlicht, deren schleierhaft-abstrakte Formen auf den Laien rätselhaft wirken. Die Ausschnitte wurden ohne die Hinzufügung von anatomischen Zeichnungen auf den Tafeln eng zusammengestellt und mit Nummern, Buchstaben und kleinen Pfeilen versehen, durch die sie der Text erklären kann. Um die Grenzen der Visualisierungstechnik vorzuführen, hat Grashey diagnostisch fragwürdige Bilder bewusst in den Atlas miteinbezogen: „Anfangs dachte ich nur Fälle mit anatomisch sichergestellter Diagnose zu bringen; andererseits lag mir daran, gerade an zweifelhaften Fällen dem Anfänger zu zeigen, dass hinter vielen Röntgendiagnosen ein Fragezeichen steht." 31 Bild 11 in Abbildung 6 zeigt Stücke einer Nadel, die dicht an einem Knochen gelagert sind (Abb. 6, links unten). Der Bericht vermerkt, dass die Nadel in „beginnende[r] Auflösung" begriffen sei: „Man sieht nämlich an mehreren Stellen der Nadel kleine halbrunde Dellen, an welche sich je ein tropfenförmiger, entsprechend prominenter hellerer Schatten

31 Grashey (s. Anm. 30), S. IV.

anlegt (partielle Verflüssigung)." 32 Diese Beschreibung zeugt von einem geschärften Beobachtungssinn, verweist aber in ihrer Souveränität auch auf Erfahrungen, die anhand anderer Fälle gemacht worden sind. In einem Aufsatz hatte Grashey auf einen frühen medizinischen Bericht aus

3z Grashey (s. Anm. 30), S. 127.

Röntgenblick und Schattenbild

VERA DÜNKEL

33 Grashey (s. Anm. 25), S. 809.

dem Jahre 1897 über den Fall vermeintlicher Nadelstücke im Vorderarm eines Mädchens verwiesen,33 dessen Mutter, obwohl keine Beschwerden vorlagen, die Durchleuchtung des Arms und dann die operative Entfernung der Nadelstücke forderte, „weil man nun wisse, wo sie seien und man sie so gut sehe".34 Bei der Operation war der Fremdkörper nicht aufzufinden gewesen, was dazu führte, dass Auflösungsprozesse von Metallen im Gewebe systematisch erforscht wurden. Aus den Untersuchungen ergab sich, dass Eisenrost „denselben Schatten gab wie eine kompakte Nadel".35

34 Vgl. Dommann (s. Anm. 10), S. 8.

35 Grashey (s. Anm. 25), S. 809.

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132 Repräsentationsketten, S. 96

36 Grashey (s. Anm. 30), S. IV. 37 Vgl. Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Geimer: Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt a. M. 2002, S. 29-99, hier S. 71. 38 Grashey (s. Anm. 30), S. IV.

-»• Objektivität und Evidenz, S. 148 39 Vgl. dazu Peter Galison: Judgement against Objectivity. In: A. Caroline Jones, Peter Galison: Picturing Science - Producing Art, New York 1998, S. 273-292. 40 Zur positiven Geschichte des Schattens vgl. Stoichita (s. Anm. 22), insbes. S. 151 ff. zum Schattenriss als physiognomisches Erkenntnismittel bei Lavater sowie um Schatten als Seele und essenziellem Teil des Menschen, ζ. B. in Adalbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte".

146

In aller Deutlichkeit tritt anhand dieses Falles die mögliche Differenz von Bild und abgebildetem Gegenstand hervor, der sich Grashey offenbar bewusst war, weshalb er den diagnostisch fragwürdigen Fällen besondere Bedeutung beimaß. Die Bilder sind Sichtbarmachungen, ohne dass aber damit immer eindeutig klar wäre, was genau sie zeigen. Sie bringen eine eigene Wirklichkeit hervor, deren Referenz zuweilen in Frage steht. Man muss dies wissen, damit die Röntgenbilder einen Erkenntniswert haben können. Jedes Bild soll deshalb in einen anatomischen und klinischen Zusammenhang gebracht und nur vor dem Hintergrund des Wissens um die Besonderheiten des jeweiligen Krankheitsfalls gedeutet werden. Vor allem aber muss sich jede Diagnose auf ein langwierig auf der Basis vergleichenden Sehens geschultes Bildgedächtnis stützen und kann selbst dann immer noch zu Fehlschlüssen führen: „Ich hoffe, dass der Atlas dazu beiträgt, die Röntgenstrahlen als diagnostisches Hilfsmittel schätzen zu lernen, aber doch auch die Grenzen zu schützen, in denen sich diese eigenartige Methode bewegt."36 Das Größte, was die Bilder in Grasheys Atlas leisten können, ist es daher, als Wegweiser zu dienen;37 der Atlas soll - wie Grashey im Vorwort betont - den „Blick schärfen" und „das Auge in der eigenartigen Aufgabe der Wahrnehmung feiner Schattenunterschiede üben und schulen".38 Rudolf Grashey ist damit Vertreter einer Auffassung von Objektivität, die dem Wissenschaftler als Beurteilendem eine zentrale interpretierende und intervenierende Rolle zuweist.39 Sein Umgang mit der Röntgentechnik wird so Teil einer positiven Geschichte des Schattens, in der dessen Erkenntniskraft betont und zugleich auch relativiert wird.40 Indem er die Grenzen und Schwächen des Verfahrens einbezieht, verweist Grashey auf das bis heute gültige Grundproblem dieser Bilder, nur mit Hilfe gestalterischer und interpretierender Intervention zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen zu können. Zugleich ebnet er den Weg zu einer heutigen bildkritischen Betrachtung der Erzeugnisse der Röntgentechnik, welche die Spezifik dieser Bilder, ihre Stärken und Schwächen durch die Analyse ihrer historischen Kontexte, ihrer Entstehung und ihrer Wirkungsweisen zu verstehen versuchen muss.

VERA DÜNKEL

Röntgenblick und Schattenbild

ABB. I: Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid-Lennep; ABB. Z: Wie Abb. 1 ; ABB. 3: Wolfgang Hesse (Hg.): Hermann Krone. Historisches Lehrmuseum für Photographie. Experiment. Kunst. Massenmedium. Dresden 1998, S. 291; ABB. 4: Albrecht Fölsing: Wilhelm Conrad Röntgen. Aufbruch ins Innere der Materie, München u.a. 1995, S. 183; ABB. 5: Rudolf Grashey: Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen, München 1905, Tafel 187a und Textseite zu Tafel 187a; ABB. 6: Rudolf Grashey: Atlas chirurgisch-pathologischer Röntgenbilder, München 1908, Tafel I und Textseite zu Tafel I.

147

Objektivität und Evidenz

Abb. 1: „Lacock A b b e y in W i l t s h i r e " . Das in s e i n e m Buch „ T h e Pencil

Abb. 2: Abdruck der rechten Hand Rajyadhar Konais auf e i n e m a m

of N a t u r e " auf Tafel XV abgebildete Haus ist laut William Henry Fox

28. Juli 1858 in Hugli-Chunchura, Indien, abgeschlossenen Vertrag.

Talbot das erste, „ t h a t w a s ever yet k n o w n t o have d r a w n its o w n

Sir William Herschel setzte als Mitarbeiter im britischen Staatsdienst

p i c t u r e " . Talbot bezeichnet seine fotografischen Bilder als „self-re-

in Indien erstmals Hand- und später Fingerabdrücke als Mittel zur ein-

presentations" der abgebildeten Dinge und begründet damit eine bis

deutigen Identifizierung unterzeichnender Vertragspartner ein und

heute w i r k s a m e Objektivitätsrhetorik.

begründete so die Daktyloskopie mit.

Objektivität bezeichnet den Anspruch der Wissenschaften auf Wahrheit. Sie stellt folglich eine übergeordnete Kategorie im Sinne eines wissenschaftlichen Ideals dar, das wandelbar und deshalb historisch zu betrachten ist, worauf Lorraine Daston und Peter Galison in einer grundlegenden wissenschaftshistorischen Studie hingewiesen haben (Daston, Galison 1992 u. 2007). Historisch betrachtet erweist sich das, was jeweils als „objektiv" angesehen wird, als Konvention (-> Fallstudie Angela Fischel, S. 212). Objektivität erscheint demgemäß als das Resultat von Übereinkünften, Aushandlungsprozessen und Normen, die von den Vertretern und Akteuren eines bestimmten wissenschaftlichen Bereichs festgelegt wurden und innerhalb dieser scientific community Verbindlichkeit beanspruchen (Fleck 1935).

wie der Fotografie Konjunktur erfahren. An das Ideal der „mechanischen Objektivität" knüpfte sich die Vorstellung einer technischen Aufzeichnung naturwissenschaftlicher Phänomene unter Ausschaltung jeglichen subjektiven Eingriffs. Dieses Ideal zeigt sich etwa anhand von Talbots Einschätzung der Fotografie als „pencil of nature" (Talbot 1844, ^bb. 1 ), aber auch im Einsatz von Abdruckverfahren für die kriminalistische Datenerhebung (Abb. 2,3). Zugleich erweist sich die Verwendung des Begriffs oftmals als - wohl bis heute gängige und wirksame - Rhetorik zur Unterstützung der Echtheit und Glaubwürdigkeit des Dargestellten (Abb. 4). Hinter dieser Rhetorik stehen die Konstruktionen der Apparate, die Bildherstellungen, -bearbeitungen und Inszenierungen, die jeder Produktion und Präsentation von Bildern eigen sind. Bezüglich wissenschaftlicher Bilder muss der Blick deshalb nicht nur auf schriftliche Zuweisungen, sondern - über Daston und Galison hinaus - insbesondere auch auf die Herstellungskontexte und -bedingungen, Praktiken und Umgangsweisen mit Bildern gerichtet werden. Durch

Wie Daston und Galison im Hinblick auf den Einsatz von Bildern zur Darstellung wissenschaftlicher Gegenstände zeigen konnten, hatte der Begriff der Objektivität im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Erfindung und Verwendung technischer Bildherstellungsverfahren

148

Objektivität und Evidenz Abb. 3: Franz Eichberg: Fotogrammetrische Aufnahme, Wien, um 1920. Die Fotogrammetrie, eine Methode zur Vermessung des auf der Fotografie Dargestellten mittels der Fotografie wurde im 19. Jahrhundert ausgehend davon entwickelt, dass das fotografische Bild perspektivisch aufzeichnet. Mit Hilfe verschiedener Verfahren sollten Räume, Architekturen und andere Gegenstände allein anhand des Bildes in ihren genauen Ausdehnungen und Maßen ablesbar werden. Voraussetzung dafür war die genaue Kenntnis der Aufnahmebedingungen

bzw.

das

Einbringen

von

Maßstäben ins Bild. In Wien erfand Franz Eichberg einen fotografischen Apparat, welcher ein dünnes Stahlgitter enthielt, das, mit dem fotografischen Bild zusammengebracht, erlauben sollte, alle Bestandteile von Wohninterieurs zum

Zweck

kriminalistischer

standsaufnahmen

vollständig

Tatberekon-

struierbar zu machen. Davon ausgehend konnten Planskizzen der Tatorte angefertigt werden, welche eine objektive Grundlage für die Rekonstruktion des Tathergangs bilden sollten.

präzise Fallstudien wurde auf diese Weise die These vom „Bild der Objektivität" bereits entscheidend differenziert, indem etwa ein bildkritisches Bewusstsein über die Konstruiertheit technischer Bilder innerhalb wissen-

Evidenz stattfindet, wie mit Bildern argumentiert und wie es jeweils möglich wird, dass ein Bild als Beweis fungieren kann. Einschlägige Studien dazu haben zum Beispiel Jennifer Tucker und Tal Golan geliefert (Tucker 2005, Go-

schaftlicher Kontexte selbst festgestellt wurde (ζ. B. Soojung-Kim Pang 2002, Hoffmann 2002).

lan 2004), die in diesem Band weitergeführt werden (->· Fallstudien Franziska Brons, S. 152, Stefan Ditzen, S. 168, Reinhard Wendler, S. 120). Die Schlüssel hierzu liegen im Bild selbst mit Blick auf seine formalen Merkmale, also in den spezifisch bildlichen Funktionsweisen der visuellen Sinnerzeugung, sowie in der Stellung eines Bildes innerhalb der Bildgeschichte. Zum anderen liegen sie in den Herstellungskontexten sowie den Ansprüchen, Sinnzuweisungen, Erwartungen und Umgangsweisen, die sich auf das Bild beziehen. (VD)

Mit dem Konzept von Objektivität als wissenschaftlichem Ideal sind die Begriffe „Evidenz" und „Beweis" eng verknüpft. Bilder haben sich als konstitutiver Bestandteil wissenschaftlicher Beweisführung erwiesen (Abb. 5), weil sie als solche offenbar in besonderem Maße geeignet sind, scheinbar „unhinterfragbare, offenkundige und unmittelbar einleuchtende Wahrheit" zu vermitteln. Der Begriff der „evidentia" im ursprünglichen philosophischen Sinn verweist hierbei selbst bereits auf das Sehen in seiner wörtlichen Bedeutung von „offensichtlich" und „augenscheinlich". So beruhen etwa Diagramme auf dem Anspruch, etwas offensichtlich zu machen (Abb. 6). Auch hier muss aber gefragt werden, wie innerhalb der spezifischen Kontexte die Erzeugung von

149

Objektivität und Evidenz OECD-LÄNDE» 1980=100

— — —

Bruttonationaleinkommen Hausmüll Bevölkerung

240 220 200

» Das Ministerium für Luftfahrt findet keine Erklärung dafür.

180

Diese UPOs wurden am 28. Man über Conisbrough, South Yorkshire, in England gesichrer und fotografiert.

160 140 120

» Dieses Bild wurde von Experten analysiert Es ist echt, sagen sie.

100

• WIR FRAGEN: Wieteingewagen wir es noch, Geschichten wie diese lächerlich zu machen?

Abb. 4: Ufos über Sheffield, ohne Angabe des Jahres und des Autors. Buchseite aus: Nigel Blundell, Roger Boar: Die größten UFO-Geheimnisse der Welt, engl. Originalausgabe: London 1983. Die leicht verschwommene Erscheinungsweise tellerförmiger Objekte am Himmel, kombiniert mit Beschriftungen im Stil einer Zeitungsmeldung, unterstützen den Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

ISO

Abb. 5: „Golden Event". Mit diesem Bild gelang 1973 ein innerhalb der größeren physikalischen Gemeinschaft überzeugender Nachweis neutraler Ströme. Die Möglichkeit eines einzelnen Bildes zu solcher Beweiskraft bezeichnet Peter Galison als die grundlegende Charakteristik einer abbildgeleiteten Forschungstradition in der Physik, welche - im Gegensatz zu einer an der statistischen Auswertung massenhafter Daten orientierten „Logiktradition" - die gelungene Aufzeichnung eines „golden events" anstrebt, um dann mit diesem einmal erhaltenen Bild zu argumentieren (vgl. Peter Galison: Image and Logic, Chicago 1997).

Abb. 6: „ M it der Wirtschaft wächst der M ü II ", statistische Kurve von Philippe Rekacewicz aus dem „Atlas der Globalisierung", 2006. Die Korrelation der drei Kurven legt die Behauptung nahe, dass der Hausmüll nicht in Abhängigkeit zur Bevölkerungsentwicklung, sondern mit dem Wirtschaftswachstum zunimmt.

Objektivität und Evidenz

Literatur und Bildquellen Franziska Brons: Sachverständige Fotografie. Der Mikrokosmos vor Gericht. In: Fotogeschichte 24, Heft 94 (2004), S. 1 &-29. Lorraine Daston, Peter Galison: The Image of Objectivity. In: Representations 40 (1992), S. 81-128.

Christine Karallus: Bildattacken. Die Fotografie vor Gericht u m 1900. In: Jean-Baptiste Joly, Cornelia Vismann, Thomas Weitin (Hg.): Bildregime des Rechts, Stuttgart 2007, S. 149-170. Alex Soojung-Kim Pang: Technologie und Ästhetik der Astrofotografie.

Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a.M. 2007.

In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, Fotografie in

Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen

Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M . 2002,

Tatsache. Einführung in die Lehre v o m Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M . 1980 (1. Aufl. Basel 1935). Tal Golan: Laws of M e n and Laws of Nature. The History of scientific expert testimony in England and America, Harvard 2004. Vgl.

S.100-141. William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844. Jennifer Tucker: Nature Exposed. Photography as Eyewitness in Victorian Science, Baltimore 2005.

auch Tal Golan: Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augen-

MiloS Vec: Defraudistisches Fieber. Identität und Abbild der Person in

zeugen. In: Peter Geimer: (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fo-

der Kriminalistik. In: Anne-Katrin Reulecke (Hg.): Fälschungen. Zu

tografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M .

Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frank-

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Abb. 1: William Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844, Tafel XV (Reprint hg. v. Beaumont Newhall, New York 1969); Abb. 2: Karl Pearson: The life, letters and labours of Sir Francis Galton, Bd. 3a: Correlation, Personal Identification and Eugenics, Cambridge 1930, Taf. 5, nach S. 146; Abb. 3: Nigel Blundell, Roger Boar: Die größten UFO-Geheimnisse der Welt. Mit zahlreichen authentischen Fotos, München 1993 [engl. Originalausgabe 1983], S. 51; Abb.4: F. J. Hasert u. a.: Search for Elastic Muon-Neutrino Electron Scattering. In: Physics Letters 4 6 B (1973), S. 121-124, hier S. 122, Abb. 1; Abb. S: Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, hg. v. Le monde diplomatique, Dietmar Bartz u.a., Berlin 2006, S. 27; Abb. 6: Nachlass Eichberg, Technisches M u s e u m Wien, © TMW-Archiv 2008.

151

Mikrofotografische Beweisführungen

FRANZISKA BRONS

ABB. I: Tafel IV aus Max Lautner: Wer ist Rembrandt?, 1891. Die Bildgruppe 17 zeigt Details der „Nachtwache".

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FRANZISKA B R O N S

Mikrofotografische Beweisführungen

Mikrofotografische Beweisführungen. Max Lautners Neubau der holländischen Kunstgeschichte auf dem Fundament der Fotografie Franziska Brons Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde mittels der Fotografie der Versuch unternommen, für das „unbewaffnete Auge" bis dato unsichtbare Phänomene anschaulich zu machen. Insbesondere der vergrößernden Fotografie kam in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, die Lücke zwischen einem Gegenstand und seiner Wahrnehmbarkeit zu schließen. Das Ideal der Objektivität, das sich von einer Intervention des Wissenschaftlers hin zu einem Ausschalten jeglicher Subjektivität gewandelt hatte, schien in den apparativen Bedingungen der Fotografie, von der angenommenen wurde, dass sie verborgene Wahrheiten mechanisch aufzeichnen könne, eine Entsprechung zu finden. Die universitäre Disziplin der Kunstgeschichte setzte sich intensiv mit dem neuen Medium auseinander, um es sowohl als Forschungsgegenstand als auch Lehrmittel in ihre Praxis zu integrieren. Die Ausbildung kunsthistorischer Interpretationsmuster ist daher untrennbar mit der Implementierung der Fotografie in die Wissenschaften verbunden. Neben der Verwendung der Fotografie als Reproduktionsmedium, das beispielsweise den simultanen Vergleich von Kunstwerken in der Doppelprojektion ermöglichte, wurde die Nutzbarmachung der vergrößernden Fotografie als analytischem Instrumentarium der Gemäldeuntersuchung vorangetrieben. Neben kennerschaftliche Methoden der Stilkritik und Formanalyse durch Kunstexperten, wie sie für vorangegangene Zuschreibungsfragen noch maßgeblich gewesen waren, traten mikrofotografische Untersuchungen, in denen zum einen der Schriftzug der Künstlersignatur und zum anderen das malerische Detail buchstäblich unter die Lupe genommen wurden.

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 1 3 2 O b j e k t i v i t ä t und Evidenz, S. 1 4 8

Vergleich als M e t h o d e , S. 2 4

Bildbeschreibungen, S. 3 6

In seinem grundlegenden Aufsatz zum Indizienparadigma hat Carlo Ginzburg dieses Interesse an latenten Bedeutungen, die dem Blick des Wissenschaftlers zunächst entgehen müssen, Disziplin übergreifend für Kriminalistik, Psychoanalyse und Kunstgeschichte beschrieben und damit Spuren, Symptome und Signaturen gleichermaßen als Gegenstände moderner Techniken der Entzifferung bestimmt. Das umstrittene Vorhaben des Breslauer Kunstgelehrten Max Lautner, mit Hilfe eines um 1890 entwickelten fotografischen Verfahrens geheime Signaturen in Gemälden des 17. Jahrhunderts aufzudecken, ist - wenngleich es ihm 153

Mikrofotografische Beweisführungen

FRANZISKA BRONS

nicht um die Manifestationen des Unbewussten, sondern um die Entbergung bewusst gelegter Spuren des Urbebers ging - im Kontext dieses Paradigmas zu verorten. An der Schnittstelle von Kunstgeschichte, Naturwissenschaften und Fotografie bietet der „Fall" Lautner die Gelegenheit, die Frage nach Evidenz, wissenschaftlicher Methodik und Erkenntniswert technischer Bilder exemplarisch zu verhandeln.

Unter der Lasur

ABB. I: Tafel IV aus Max Lautner: Wer ist Rembrandt?, 1891. Die Bildgruppe 17 zeigt Details der „Nachtwache".

ABB. Z: Rembrandt: Die Nachtwache, 1642, 363 χ 4 3 7 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.

154

Mit seinem im Jahre 1891 publizierten Buch Wer ist Rembrandt? stellte Max Lautner die Frage nach der Identität des niederländischen Malers und vermochte sie anhand zahlreicher Fotogravüren - und aus seiner Sicht zweifelsfrei - zu beantworten. Die Tafel IV des Buches zeigt 16 Fotografien zumeist rechteckigen Formats, die mit Ziffern und Buchstaben versehen sind Abb, 1 ). Lässt die Fotografie Nummer 14 in ihren Varianten R14 und 14a ein gegenständliches Motiv zumindest noch erkennen, so weisen die übrigen Aufnahmen lediglich Strukturen auf. Bei der Bildreihe 17,17c, R17 wurde ein nahezu identischer Bildausschnitt gewählt; eine unscharf konturierte, porös anmutende Fläche besiedelt den Großteil des jeweiligen Bildes. Voneinander unterschieden sind die drei Aufnahmen hingegen in ihren Kontrastwerten, mit deren Steigerung ein Mehr an visueller Information einherzugehen scheint: Während sich in dem trüben Grau der Aufnahme 17 lediglich am oberen und unteren Rand jeweils zwei horizontale Linien abzeichnen, treten diese in der Fotografie R17 deutlich als grafische Komponenten hervor und werden

FRANZISKA B R O N S

Mikrofotografische Beweisführungen

durch einen Schriftzug ergänzt, der das Wort „Bol" zu lesen gibt, und den man nun vermeint, auch in der Abbildung 17c ausmachen zu können. Mit dieser Abbildungsreihe war Lautner seines Erachtens den sicheren Beweis angetreten, dass die sogenannte Nachtwache Abb. 1 - wie auch diverse andere, Rembrandt zugeschriebene Gemälde - nicht von diesem, sondern von dessen Schüler Ferdinand Bol gemalt worden war. Die Tatsache, dass Rembrandts Name auf dem Bild stehe, so Lautner, beweise nichts, sondern sei vielmehr eine Fälschung.1 Mit einer „latenten Bezeichnung", die mit dem Pinselstrich in den Malgrund beziehungsweise die tiefer liegenden Farbschichten eingekratzt oder durch Lasurschichten verdeckt wurde, habe sich der eigentliche Urheber insofern unauslöschlich in das Werk eingeschrieben, als dass diese Signatur ausschließlich durch die Zerstörung des Gemäldes entfernt werden könne. Eine solche Signatur meinte der Kunstgelehrte auf dem Gewand (Abb. 3) der vielfach gedeuteten „Lichtgestalt"2 in der Nachtwache detektiert zu haben. Er hatte diese mit einem von ihm erfundenen fotografischen Verstärkungsverfahren visualisiert, um damit das

ι Vgl. Max Lautner: Wer ist Rembrandt? Grundlagen zu einem Neubau der holländischen Kunstgeschichte, Breslau 1891, S. 284. 2 In seiner Analyse der einzelnen Protagonisten der „Nachtwache" weist auch Peter Greenaway auf das Changieren dieser Figur zwischen „essential spirit", Zwerg und „entertainer from the Amsterdam Theatres" hin. Vgl. Peter Greenaway: Nightwatching. A View of Rembrandt's The Night Watch, Rotterdam 2 0 0 6 , S. 3 6 - 3 8 . In dem gleichnamigen Film stellt der britische Regisseur eine Verschwörungstheorie auf, nach der Rembrandt in seinem 1642 entstandenen Gemälde mit Hilfe von verdeckten Hinweisen auf einen Mord die dargestellte Amsterdamer Schützengilde öffentlich anprangern wollte und inszeniert zu diesem Zwecke ausgehend von allen dargestellten Personen ein enges Netzwerk aus Indizien, um Rembrandts Anklage zu dekodieren. Siehe dazu auch: „Rembrandt war kein Maler." Interview mit Peter Greenaway. In: Die Zeit, Nr. 1 (2006), S. 41.

ABB. 3: Detail der „Nachtwache" aus Peter Greenaways Buch „Nightwatching", 2006.

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Mikrofotografische Beweisführungen

Sichtbarmachung/Visualisierung, S. 132 3 Karl Vollrath, zitiert nach Anon.: Das Rembrandt-Narrenschiff. In: Sodom und Gomorrha oder der Untergang des guten Geschmacks in Kunst, Litteratur und Presse, Heft 1 (1891), 2. Aufl., S. 29. 4 New York Times, 19.05.1912.

5 Martin Hellmold: Rembrandt am Scheideweg. Max Lautner, eine Farce und die Autonomisierung einer Künstlerfigur. In: Ders.: Sabine Kampmann, Ralph Lindner, Katharina Sykora (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 79.

FRANZISKA B R O N S

kennerschaftliche Urteil der „berühmtesten Kunstgelehrten" 3 anzufechten. „False Rembrandts Found. Photography Shows Some of Them to be the Work of Ferdinand Bol - Another Blow to Dr. Bode's Reputation", titelt die New York Times später, um weiter auszuführen: „His [Bode's] connoisseurship, or rather his infallibility, is seriously challenged by M a x Lautner, who has devoted many years to the study of Rembrandt on a scientific basis [...]." 4 Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es wiederholt zu Neuzuschreibungen von Gemälden Rembrandts auf Grundlage bildtechnischer Materialanalysen. In der Konfrontation mit naturwissenschaftlichen Untersuchungsverfahren standen nicht nur Autorschaft und Datierung von Einzelwerken, sondern auch die kunsthistorische Methode der Kennerschaft selbst auf dem Prüfstand. Bekanntermaßen führten die Arbeiten M a x Lautners nicht dazu, dass Ferdinand Bol den Platz Rembrandts in der Kunstgeschichte eingenommen hat. Aus heutiger Perspektive kann das von dem Breslauer Privatgelehrten entwickelte fotografische Verfahren sogar als „Parodie auf naturwissenschaftliche Zuschreibungsmethoden des 20. Jahrhunderts avant la lettre" 5 bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Auseinandersetzung mit der Implementierung der Fotografie in die Kunstgeschichte und der anhaltenden Debatte um den epistemologischen Status und die Evidenz technischer Bilder, kann der Fall Lautner jedoch als paradigmatisches Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen medial gesteuerter Bildproduktion und kunsthistorischer Bildanalyse gelten - entfachte sein Opus unter den Gelehrten wie auch in der zeitgenössischen Tagespresse doch einen Disput, bei dem es um nichts Geringeres ging als die Etablierung beziehungsweise Verteidigung der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin.

Signaturen in der Silberschicht

6 Max Lautner: Die geheimen Autorzeichen der Künstler. In: Antiquitäten-Rundschau, Nr. 15 (1924), Jg. 22, S. 179. 7 Vgl. G. Göthe: Wer ist Rembrandt? In: Nordisk Tidskrift för Vetenskap, Konst och Industri, (1891), S. 524. 8 Vgl. Max Lautner: Fortsetzung und Erläuterungen zu „Wer ist Rembrandt?". In: Deutsche Revue, August (1900), Jg. 25, S. 178.

156

In seinem Versuch, den im Untertitel des Rembrandt-Buches angesprochenen Neubau der holländischen Kunstgeschichte auf Grundlage der Sichtbarmachung verborgener Schriftzüge vorzunehmen, entwickelte M a x Lautner ein fotografisches Verfahren, in welchem der Bildgrund gleichsam zur Bildoberfläche wurde: „Sieht nun schon die einfache Photographie in die Tiefe der Bilder", erklärte Lautner 1924, „so gab meine Erfindung, mittels deren man die zartesten Kontraste der Tönungen bis zu dem Unterschiede von Schwarz und Weiß rein phototechnisch erhöhen kann, die Möglichkeit, auch dem blödesten Auge wichtige Bestandteile eines Bildes, selbst eines dem gewöhnlichen Auge gleichmäßig getönt erscheinenden Hintergrundes deutlich vorzuführen". 6 Lautner zufolge potenzierte seine besondere Beobachtungsmethode der Fotografie die Stärke des Mediums, 7 um dabei trotzdem nichts als die im Gemälde gespeicherten Informationen in größerer Klarheit wiederzugeben 8 .

FRANZISKA BRONS

Mikrofotografische Beweisführungen

Die Grundlage seiner „photographischen Verdeutlichungen"' bildete in den meisten Fällen allerdings nicht das zu untersuchende Gemälde selbst, sondern eine Fotografie, die Lautner aus dem Hause Hanfstaengl oder von der Photographischen Gesellschaft Berlin bezog. Im Gegensatz zu den bereits bekannten Verstärkungsverfahren, die auf der Übereinanderlegung von Negativen basierten, erzielte Lautner die Steigerung des Kontrastes durch eine Positiv-Gewinnung. Das lichtempfindliche Papier wurde zwischen zwei aufeinander passende Glasnegative gelegt beziehungsweise von beiden Seiten in einem Zuge belichtet. Bei dieser doppelseitigen Belichtung verursachten die hellen Stellen des Negativs, also die Schwärzungen des Positivs, einen doppelt so starken Effekt.10 Dabei ist das Medium der Fotografie ihm zufolge in keiner Weise der Beliebigkeit unterworfen, sondern ein „objective[s] Princip"11. Die Kombination aus „denkbar grösste[r] Objectivität" bei „höchstgetriebener Verstärkung"12 sollte Lautners Vorgehen das Prädikat der Wissenschaftlichkeit verleihen, wie dies auch seitens der anerkannten Schlesischen Gesellschaft von Freunden der Photographie nach anfänglichen Zweifeln und Prüfung des Verfahrens bestätigt wurde.13

9 Max Lautner: Rembrandt. Ein historisches Problem, Berlin 1910, S. 92.

In Analogie zu der im späten 19. Jahrhundert oftmals aufgerufenen Metapher vom fotografischen Apparat als neuer leistungsstarker Retina des modernen Wissenschaftlers, läutete Lautner 1891 eine vermeintlich neue Phase in der Geschichte der Bildanalyse ein: „Erst seit Erfindung der farbenempfindlichen Platten ist es für den Kunsthistoriker möglich, seine Objecte so gründlich zu studiren wie ζ. B. der Astronom seinen Sternenhimmel, der Chemiker seine Elemente oder der Anatom den thierischen Körper."14 In seiner im Jahre 1910 publizierten Folgeschrift Rembrandt. Ein historisches Problem unternahm Lautner den Versuch, die hier für die Kunstgeschichte angelegte Analogie zu den Naturwissenschaften weiter zu untermauern, indem er seine vermeintliche Entdeckung latenter Signaturen in direkten Bezug zu Robert Kochs Entdeckung der „unbekannten geheimnisvollen Krankheitserreger"15 setzte, bei der die Fotografie eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Im Zuge seiner Bemühungen, die eigene Methode als wissenschaftlich auszuweisen und zu legitimieren, avancierten die Fotografien schließlich zu „photographischefn] Präparate[n]"16, denen ein entsprechender Stellenwert in einer durch die Fotografie revolutionierten Kunstgeschichte eingeräumt werden müsse, „die ihre Beweise aus objektiven Tatsachen herleitet"17 und damit den Maßstäben moderner Wissenschaftlichkeit genügen könne. Die durch den Mehrwert der fotografischen Platte visualisierten Signaturen hatten Lautner zufolge ein „völlig neues Erkennungs- und Beweis-Moment"18 in die Kunstwissenschaft eingeführt. Auf dieser Basis stellte er die Forderung auf, dass ein in Frage stehendes Bild „im Namen der Kunstwissenschaft und der Wahrheit [...] photographiert und so zur Kenntnis der kunst- und wahrheitsliebenden Menschheit gebracht werde".19

10 Vgl. Lautner (s. Anm. 8), S. 179. 11 Max Lautner: Das photographische Verstärkungsverfahren, welches in dem Werke „Wer ist Rembrandt?" von dem Verfasser desselben angewendet worden ist. In: Liesegang's photographisches Archiv, Nr. 674 (1891), S. 210. -»· Objektivität und Evidenz, S. 1 4 8 12 Lautner (Anm. 11), Nr. 677, S. 266. 13 Siehe Anon.: Protokoll der Sitzung vom 5. Juni 1891. In: Lautner (s. Anm. 9), S. 76f. Zur kritischen Prüfung des Verfahrens siehe auch den Bericht in der Breslauer Zeitung vom 6. Juni 1891, wiederabgedruckt in: Anon.: Die Rembrandt-Schlacht. In: Sodom (s. Anm. 3), S. 127. Beobachtungstechnik, S. 1 7 8 14 Lautner (s. Anm. 1), S. 38. 15 „Diese latenten Signaturen sind, obwohl latent, gleichwohl eben vorhanden, sind da und können auch photographisch erfaßt und verdeutlicht werden. Sie sind da, wie die von Robert Koch entdeckten Bazillen, jene bis zu Kochs Entdeckung unbekannten geheimnisvollen Krankheitserreger körperlich da sind, obwohl man sie früher nicht bemerkt hatte." Lautner (s. Anm. 9), S. 74. Siehe auch ebenda, S. 62. Lautner stellt auch einen Bezug zu Virchow her. Siehe Lautner (s. Anm. 1), S. 130f. 16 Lautner (s. Anm. 9), S. 92. Zu Lautners Argumentation, die sich der Autorität des Naturwissenschaftlers bedient, siehe auch Anja Zimmermann: Hände - Künstle^ Wissenschaftler und Medien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 8, Berlin 2004, S. 151.

Mikrofotografische Beweisführungen

FRANZISKA BRONS

R wie Retusche 17 Max Lautner: Die Autorbestimmung bei Werken alter Meister. In: Der Arbiter, Winter (1919/1920), S. 9. 18 Lautner (s. Anm. 9), S. 72. 19 Max Lautner: Rembrandt oder Ferdinand Bol? In: Deutsche Revue, Juni (1892), Jg. 17, S. 363. 20 Siehe hierzu Wilhelm von Bode. Mein Leben, hrsg. von Thomas W. Gaehtgens und Barbara Paul, Bd. 1, Berlin 1997, S. 251. 2 1 Zur Rolle Grimms siehe Catherine B. Seallen: Rembrandt, Reputation, and the Practice of Connoissewship, Amsterdam 2 0 0 4 , S. 116 f., Johannes Stiickelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 46 f.; Irene Geismeier: Rufmord an Rembrandt. Zu einem vergessenene Stück Rembrandt-Diskussion. In: Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte 29/30, Berlin 1990, S.218 22 Vgl. Lautner (s. Anm. 9), S. 39. 23 Anon.: Besprechung von Max Lautner: Wer ist Rembrandt? In: Allgemeine Zeitung, München, Abendblatt, 1. 9 . 1 8 9 1 , Beilage Nr. 203, S. 8. 24 Vgl. hierzu: E. W. Moes: Ein moderner Herostrat. Verweigert in der „Kunstchronik, Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe". Ein Beitrag zur heutigen deutschen Kunstforschung, Amsterdam 1891, S. 10 sowie Anon.: Rembrandts Radierungen und Max Lautner. In: RheinischWestfälische Zeitung, 2 8 . 6 . 1 8 9 1 , S.l. 25 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re-

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Der Berliner Museumsdirektor Wilhelm von Bode dürfte wenig erfreut gewesen sein, als Karl Frey bei ihm mit dem Ansinnen vorstellig wurde, sämtliche Rembrandt zugeschriebenen Bilder auf geheime Inschriften Ferdinand Bols hin zu prüfen. 20 Hermann Grimm, der selbst durch den innovativen Einsatz der Fotografie als Medium der Reproduktion wie Projektion zur Begründung der universitären Kunstgeschichte entschieden beigetragen und bei dem M a x Lautner während seines Studiums in Berlin gehört hatte, unterstützte Lautners Idee einer fotografischen Beweisführung und wollte mit der Entsendung Karl Freys der Sache auf den Grund gehen. 21 Karl Freys Besuch stellte nicht nur einen Affront gegen den Verfasser des zu diesem Zeitpunkt achtbändigen Rembrandt-Werkverzeichnisses, sondern auch einen Angriff auf die Methoden der traditionellen kunstwissenschaftlichen Kennerschaft dar. In Abgrenzung zu deren auf Erfahrung beruhenden Beurteilungen verortete sich Lautner im Bereich der wissenschaftlich-empirischen Forschung. 22 Er setzte sich zum Ziel, der Öffentlichkeit mittels der objektiven Wiedergabe der Fotografie über die mangelnde Wissenschaftlichkeit der Gegner die Augen zu öffnen. Die solchermaßen herausgeforderten Connaisseure entgegneten umgehend, dass Lautner seinerseits „die Bildung des Auges nicht besitzt, die zur Führung kunstkritischer Untersuchungen erste Bedingung ist", 2 3 hatte er Breslau doch nie zur Schulung des vergleichenden Sehens verlassen, sondern seine vermeintlich revolutionären Neuzuschreibungen auf Reproduktionen der Museumsoriginale gegründet. Darüber hinaus wurde in Zweifel gezogen, dass ein Künstler des 17. Jahrhunderts sich mit geheimen Signaturen in Erwartung posthumen Ruhmes so auf dem Malgrund verewigt habe, dass diese erst mit einer Visualisierungstechnik des späten 19. Jahrhunderts ans Licht gebracht werden könnten. 24 Noch schwerer wogen in diesem Zusammenhang Vorwürfe, die unmittelbar auf das fotografische Verstärkungsverfahren abzielten. Lautner hatte dieses zum Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation gemacht; gerade vor dem Hintergrund seiner Anlehnung an den naturwissenschaftlichen Einsatz neuer Bildmedien musste es tatsächlich erstaunen lassen. Lautners fotografische Bildproduktion kann insofern als eine allzu buchstäbliche Umsetzung der von Walter Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz getroffenen Feststellung gelten, dass Reproduktionsmedien ermöglichen, „des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild [...] habhaft zu werden", 2 5 als dem Breslauer Privatgelehrten Fotografien selbst zum Untersuchungsgegenstand wurden. Er trat an, geheime Signaturen in der Silberschicht einer fotografischen Wiedergabe eines Gemäldes sichtbar zu machen. 26 Zudem setzte Lautner in seinem Verstärkungsverfahren durch den Buchstaben „ R " offen als solche ausgewiesene

FRANZISKA BRONS

Retuschierungen ein, ohne dass dies der Schlagkraft der Argumentation seines Erachtens Abbruch tat. In diesem Zusammenhang hob er hervor, dass alle Geheimsignaturen „auf rein photographischem Wege und ohne Retouche"27 wiedergegeben seien und die ihnen zur Seite gestellten retouchierten Bilder lediglich der Kontrollmöglichkeit des Betrachters dienten. Wie Bode bemerkte, sind es aber nur die mit einem „R" versehenen Aufnahmen, die überhaupt etwas zu erkennen geben, das die Behauptungen des Textes stützen würde.28 Von einer wissenschaftshistorischen Warte aus betrachtet, bewegt sich Lautners Vorgehensweise damit in einem Spannungsfeld von Objektivitätsanspruch und Manipulation. Einerseits gibt er zu erkennen, dass die Retusche für ihn einen Verstoß gegen die Anforderungen des sich im 19. Jahrhundert etablierenden Objektivitätsparadigmas darstellt, das sich Lorraine Daston und Peter Galison zufolge dadurch auszeichnet, die Nicht-Intervention des Bildproduzenten und das Ausbleiben einer nachträglichen Bearbeitung des Bildresultats zum Standard von Wissenschaftlichkeit zu erheben.29 Andererseits argumentiert Lautner nichtsdestotrotz für den rein objektiven Status seiner fotografischen Entbergung von zuvor unsichtbaren Signaturen, selbst wenn sich diese ausschließlich mittels Retusche an das Auge des Betrachters vermitteln ließen - dienten sie seiner Auffassung nach doch lediglich dazu, den unbekannten Sachverhalt in aller Klarheit zu verdeutlichen. Sie stellten somit eine Akzentuierung der ohnehin im Bild vorhandenen Informationen, nicht aber einen unzulässigen Zusatz oder sogar eine Veränderung des Bildgehalts und dessen Beweiskraft dar. Damit steht Lautner in der Tradition eines Bildverständnisses, demzufolge der reproduzierte Gegenstand einer Fotografie gleichsam materiell präsent und nicht bloß durch ein technisches Aufzeichnungsverfahren repräsentiert werde. Die eigene Manipulation wird bei Lautner paradoxerweise sowohl zum Garanten der Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit als auch des von ihm bekämpften diametralen Gegenteils im Sinne einer subjektiven Beeinflussung der ins Bild gesetzten Gemäldeanalyse durch die Intention ihres Urhebers.

Mikrofotografische Beweisführungen produzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1996, S. 15. z6 So kritisiert der französische Rembrandt-Kenner Émile Michel: „C'est un mirage pareil dont M. Lautner a été la victime, mais ce n'est pas sur les tableaux eux-mêmes qu'il a opéré. Toute photographie lui est bonne pour son travail [...]." Émile Michel: Les Biographes et les Critiques de Rembrandt. In: Revue des Deux Mondes (1891), Jg. 61, S. 662. zj Lautner (s. Anm. 1), S. 452 [Hervorh. im Orig.]. 2.8 Siehe Wilhelm von Bode: Besprechung von Max Lautner: Wer ist Rembrandt? In: Deutsche Litteraturzeitung, Nr.41 (1891), Jg. 12, Sp. 1505. 2.9 Zur Begriffsgeschichte der wissenschaftlichen Objektivität siehe Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 29-99.

Objektivität und Evidenz, S. 148

Zurück zur Zeichnung Die Aussagefähigkeit der Lautnerschen Signaturen wurde von kennerschaftlicher Seite vehement bestritten. Auf den retuschierten Fotografien vermögen „weder Auge noch Lupe etwas Anderes als Craqueliiren zu entdecken",30 heißt es beispielsweise in einer Rezension des Rembrandt-Buches von dem Bode-Schüler Hofstede de Groot aus dem Jahre 1891. Damit ist zum einen ein bildlicher Effekt des Fotografischen, der sich aus den hohen Kontrastwerten der von Lautner angefertigten „Präparate" ergibt und sich in einer Überfülle von Strichen, Rissen und Schattierungen zeigte sowie zum anderen der Umstand angesprochen,

30 Com. Hofstede de Groot: Besprechung von Wer ist Rembrandt? Von Max Lautner. In: Der Kunstwart (1890/91), Jg. 4, S. 268.

159

Mikrofotografische Beweisführungen

31 Z u diesem Verhältnis von Sichtbarmachung

und

Bedeutungsentzug

siehe Peter Geimer: Blow Up. In: Wolfgang Schaffner, Sigrid Thomas

Macho

(Hg.):

Weigel,

„Der

liebe

G o t t steckt im D e t a i l " . Mikrostrukturen des Wissens, M ü n c h e n

2003,

S. 1 8 7 - 2 0 2 . 32 H . J.: Besprechung von Wer ist Rembrandt von M a x Lautner. In: Literarisches Centraiblatt für Deutschland, Nr. 6 (1892), Sp. 192.

Bildstörung, S. 164 33 Siehe Michel (s. Anm. 26), S. 6 6 2 f.

34 Ρ. Α.: Besprechung von M a x Lautner: Wer ist R e m b r a n d t ? In: N e u e Preußische Zeitung, M o r g e n a u s g a b e , 2 0 . 5 . 1 8 9 1 , S. 1.

ABB. 4: R e m b r a n d t : 1663,

Rijksmuseum.

160

Die

1 9 1 , 5 χ 2 7 9 cm,

Staalmeester, Amsterdam,

FRANZISKA BRONS

dass sich die abstrakten Liniengefiige in diesen Aufnahmen willkürlich semantisieren lassen, 31 „je nach der Richtung der Phantasie [kann] jeder beliebige Name [...] herausbuchstabiert werden", 32 heißt es in einer weiteren Besprechung aus dem Jahr 1892. Im Bezug auf die Neuzuschreibungen, die Lautner zum Vorteil des Rembrandt-Schülers Bol vornahm, wurde darauf hingewiesen, dass die einzelnen Buchstaben der entsprechend kurzen wie einfachen Signatur in nahezu jedem Bildwinkel ausgemacht werden könnten. 33 Auch wenn der Namensschriftzug immer anders erschien und damit der Definition der Signatur als wiedererkennbarer Handschrift und Ausweis ein und desselben Urhebers nicht genügen konnte, meinte Lautner ihn allerorts mit Sicherheit als Beweis für die Autorschaft Bols entbergen zu können - die Fotografie avancierte insofern zum Medium der Kryptografie, als sie das zu erkennen geben sollte, was sie selbst als Rauschen produzierte. Das vermeintlich objektive Resultat der fotografischen Untersuchung einer Fotografie setzte mithin sowohl eine nachträgliche Retusche als auch eine damit einhergehende Selektion von Bildinformationen seitens des Interpreten voraus. Die Vielzahl positiver Reaktionen auf Lautners Buch erklären sich vor allem aus der Tatsache, dass Lautner mit der Fotografie dasjenige Medium zur Grundlage seiner Argumentation machte, welches als mechanisches Aufzeichnungsverfahren ein rein indexikalisches Verhältnis zwischen dem Bild und seinem Referenten suggerierte, selbst wenn die Aufnahmen lediglich abstrakte Formgebilde wiedergaben, die zudem durch nachträgliche Retuschen manipuliert worden waren. Dieser Umstand entging vielen Rezensenten, und sie stellten im Hinblick auf die Kritik der etablierten Kunstkenner fest, dass „Einwände wider die ins Schwarze treffenden Beweise des Verfassers [...] angesichts der Photogravüren mit Bols Namenszügen nicht gut möglich sein [dürften]". 34

FRANZISKA BRONS

Mikrofotografische Beweisführungen

In seinem zweiten Buch Rembrandt. Ein historisches Problem erweiterte Lautner den von der Retusche vorausgesetzten interpretativen Prozess der Auswahl von vermeintlich beweiskräftigen, bis dato aber unsichtbaren Bildelementen dahingehend, dass er das von ihm Erkannte zwecks Veranschaulichung in Form von eigenhändigen Zeichnungen seinen Fotografien zur Seite stellte. So meinte Lautner in dem Rembrandt-Gemälde Die Staalmeester Abb. 4) erneut die über den gesamten Bildgrund verstreuten Signaturen Ferdinand Bols ausgemacht zu haben. Während auf der Fotografie des Bildes links neben dem zur Seite gedrehten Kopf einer der Figuren nur ein dunkel geflecktes Feld zur

5¡\nel tí, 3rtftnuH9 in ,\i !;..

Ήηο t>?m $ entert. 0uI&ftt.'8Jat[. 3el(t}»u»9 411 3ït. m.

ABB. 5: Tafel VI aus Max Lautner: Rembrandt. Ein historisches Problem, 1910. Zeichnung und Fotografie Nr. 16 beziehen sich auf „Die Staalmeester".

Mikrofotografische Beweisführungen

35 Siehe dazu Franziska Brons: Das Versprechen der Retina. Zur Mikrofotografie Robert Kochs. In: „Instrumente des Sehens". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2,2 (2004), S. 1 9 - 2 8 .

36 Lautner (s. Anm. 1), S. 223.

162

FRANZISKA BRONS

Orientierung des Lesers in einem schwarzen Rahmen hervorgehoben ist, gibt Lautners Zeichnung den Schriftzug „Bol" an eben dieser Stelle deutlich zu sehen, um ihm nicht weniger als drei weitere, mit römischen Ziffern erfasste Signaturen verschiedenen Formats zur Seite zu stellen (Abb. 5). Mit dieser Vorgehensweise hatte Lautner die Retusche von fotografischen Aufnahmen in eine buchstäbliche Manipulation überführt. Im Bereich der naturwissenschaftlichen Versuche der Sichtbarmachung des Unsichtbaren war es zwei Jahrzehnte zuvor noch zu einem Paragone zwischen Zeichnung und Fotografie gekommen, aus dem das von Talbot als „pencil of nature" bezeichnete neue technische Bildmedium als eindeutig überlegenes Visualisierungsverfahren hervorging.35 Unter dem Eindruck der zunehmenden Zweifel an seiner großzügigen Auffassung der Retusche sah sich Lautner offensichtlich gezwungen, zum Medium der Handzeichnung zurückzukehren, entfernte sich damit aber umso weiter aus dem Bereich einer wissenschaftlich legitimierbaren Bildproduktion. Obwohl Wer ist Rembrandtf eine internationale Debatte über die Rolle der Fotografie in der Kunstgeschichte hatte auslösen können, blieb das zweite Buch Lautners weitgehend unbeachtet. Lautners Versuch, eine „allgemeine[...] exactef...] Bilderforschung"36 auf den Fundamenten der Fotografie zu entwickeln, war an den Grenzen des Sichtbaren und damit an der Notwendigkeit gescheitert, auch technische Bilder einer Analyse zu unterziehen, die Form, Bedeutung und mediale Genese produktiv aufeinander zu beziehen weiß.

FRANZISKA BRONS

M i k r o f o t o g r a f i s c h e Beweisführungen

ABB. I: M a x Lautner: Wer ist Rembrandt? Grundlagen zu einem Neubau der holländischen Kunstgeschichte, Breslau 1891, Tafel IV; ABB. z: Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Amsterdam 1997, S. 184, fig. 245; ABB. y. Peter Greenaway: Nightwatching. A View of Rembrandt's Night Watch, Rotterdam 2 0 0 6 , zwischen XLI/XLII; ABB. 4: Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Amsterdam 1997, S. 182, fig. 239; ABB. 5: M a x Lautner: Rembrandt. Ein historisches Problem, Berlin 1910, Tafel 6.

163

Bildstörung

Abb.1: „ B a k t e r i e n f r a ß " , aus Kurt Fritsches „ F o t o f e h l e r b u c h "

von

Abb. 2: Moirée-Effekt aus e i n e m Fotobildband. U m Fotografien druck-

1969. „ Kleine helle Vertiefungen in der Schicht lassen Bakterienfraß

technisch zu reproduzieren, m ü s s e n die Bilder gerastert w e r d e n .

v e r m u t e n . Aber auch Insekten - z.B. A m e i s e n - naschen gern an der

Raster e n t s t e h e n aber auch b e i m Scannen. Der Bildfehler taucht auf,

a u f g e w e i c h t e n Gelatine und verursachen m a n c h m a l ähnlich ausse-

w e n n sich z w e i Bildraster überlagern, w o b e i flirrende M u s t e r ent-

hende Schäden. [...] U m [...] Bakterien-oder Insektenschäden von an-

stehen.

deren Schichtverletzungen mit o f t recht ähnlichem A u s s e h e n unterscheiden zu können, vergleiche man .Löcher in der Schicht' und .Narben in der Schicht'."

In der Geschichte technischer Bilder ist mit dem Begriff der Bildstörung das unvorhergesehene Hervortreten der Materialität eines Mediums oder seiner apparativen Bedingungen bezeichnet, das in der anschaulichen Vermittlung eines Phänomens oder in der visuellen Übermittlung einer Botschaft unsichtbar bleiben soll. Ist das Medium, um den Bildgegenstand zur Erscheinung zu bringen, im Idealfall nur als Abwesendes anwesend, so tritt es in der Bildstörung sichtbar hervor. Zu den Effekten der Störung zählen - um nur einige zu nennen - Schlieren, Schleier, Unschärfen, abschmelzende Bildschichten, Verfälschungen der Perspektive, Kratzer, Flecken, Punkte [Abb. 1), falsche Farbwerte, Interferenzen, der Moirée-Effekt (Abb. 2) wie auch das Ausbleiben des Bildes. In der Bildstörung sind sowohl die Intentionen des Bildproduzenten durchkreuzt als auch die Wahrnehmung des Bildresultats irritiert. Die Bildstörung ist per definitionem unkalkuliert und unkontrollierbar und wurde in historischer Perspektive zumeist als mangelhafter Aus-

164

schuss verhandelt. So geht es Josef Maria Eder in seinem Ausführlichen Handbuch der Photographie aus dem Jahre 1930 mit der Kompilation fotografischer Unfälle sie werden analog zum Gelungenen klassifiziert und beschrieben - nicht um eine ästhetische Würdigung der Bildstörung, sondern vielmehr darum, die Fehlerquelle zu analysieren, um diese in Zukunft zu meiden. Derartige systematische Katalogisierungen finden bis heute eine Fortsetzung in sogenannten Fotofehlerbüchern oder Scan-Anleitungen, die dem nicht intendierten visuellen Effekt mit einer Ursache-Wirkung-Logik entgegentreten (Fritsche 1969). Lexikalischer Definition zufolge ist die Bildstörung gemeinhin mit dem Flackern des Fernsehbildes synonym (Abb. 3 , wobei hier „Rauschen" im Sinne von Schneegestöber als exponiertes Merkmal der Bildstörung gilt (Brockhaus 2006). Kommt es zu einem solchen Übertragungsfehler, tritt im Fernsehen an die Stelle der Störung das Testbild Abb. 4), das - obwohl als solches ungestört übertragen - ebenfalls als Störung wahrgenommen wird

Bildstörung B

Α β

Abb. 3: Rauschen bzw. Schnee auf d e m Bildschirm eines Fernsehers.

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Abb. 4: Tritt eine Störung im Fernsehen auf, w i r d bis heute ein Testbild

Die Physik versteht unter Rauschen eine Störgröße, die ein unspezi-

gesendet. A u s d i e s e m Grund ist das Testbild, w e l c h e s es in vielen

fisches Frequenzspektrum a u f w e i s t . Störquellen können i m Sender,

Versionen gibt, ein S y n o n y m für den gestörten P r o g r a m m e m p f a n g .

i m Empfänger und i m Kanal liegen.

Das „elektrische Farbtestbild" diente ursprünglich zur Prüfung von A n t e n n e n , Fernsehleitungen und Sendern, da der Aufbau des Testbildes aus Kreisform, Gitternetz, Rotkeil oder Graufeldern es erlaubt, die Helligkeit, den Kontrast s o w i e die Bildposition genauer einzustellen und Störungen unterschiedlicher Herkunft sichtbar zu machen.

(Schneider 2002). Für den Bereich des Films hat Joachim Paech den Filmriss als das „Erscheinen des Verschwindens im Film" beschrieben: „Im Bild der (Zer-)Störung wird der Film als materiales Medium sichtbar und wird in einer Form beobachtbar, die sich als Form des Mediums Film an die Stelle derjenigen Formulierungen setzt, zu denen auf ihrer anderen Seite ausschließlich die Transparenz, also die Unsichtbarkeit des Mediums zugunsten der dargestellten Form beigetragen hat" (Paech 1999, S.125f.). In diesem Sinne hat auch Friedrich A. Kittler im Anschluss an Marshall McLuhan und das Kommunikationsmodell von Claude Elwood Shannon dem Rauschen als Störung der Informationsübertragung von Sender an Empfänger (->• Digitale Bilder, S. 82) einen entscheidenden Platz in seiner Medientheorie zugewiesen (Kittler 1993). Darin folgt er Michel Foucaults These, dass die Botschaft eines Medium unabdingbar an die Asemantik der (Bild-) Störung gebunden sei: „Tatsächlich aber muss, damit es überhaupt .Botschaften' gibt, [...] ein Rauschen gegeben sein" (Foucault 1999, S. 140). In seiner Studie

Der Parasit etabliert Michel Serres die hiermit verwandte Figur des Dritten, welche, gleichermaßen Störenfried und Mittler, langläufige dichotomische Ordnungsprinzipien und dualistische Semantiken prekär werden lässt (Serres 1981). In dieser Perspektive erscheint es lohnend, nicht nur die Inkunabeln der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, sondern auch die Formen technisch gestörter Bilder zu analysieren. Für die Produktion und den Einsatz von Bildern im Bereich der Rastertunnelmikroskopie der 1980er und 90er Jahre konnte beispielsweise herausgearbeitet werden, dass Bilder im Anfangsstadium einer neuen Technologie durchaus Störungen aufweisen dürfen und diese sogar explizit thematisiert werden (-• Fallstudie Jochen Hennig, S. 86). Jedoch ist mit der Etablierung einer solchen Technik, obwohl diese nicht weniger Teil der Laborpraxis sind, ein Schwund an Bildstörungen in den Publikationen zu verzeichnen (Hennig 2006). In dieser Praxis der Eliminierung unzulänglicher Aufzeichnungen zeigt sich erneut, dass die Geschichte technisch erzeugter 165

Bildstörung

5Λ Abb. 5: Franz Gießibl: Innere Strukturen (einzelne Orbitale) des A t o m s , rasterkraftmlkroskoplsche A u f n a h m e . Gleßlbl und seine A u g s b u r g e r Kollegen publizierten Im Jahr 2 0 0 0 diese A u f n a h m e als erstes Bild, In d e m experimentell Inneratomare Strukturen sichtbar g e m a c h t w ü r d e n . Es kam daraufhin zu einer Kontroverse m i t Basler Wissenschaftlern, die behaupteten, dass es sich u m Störungen handeln w ü r d e , die der Elektronik des Instruments geschuldet seien. Im Jahr 2006 konnte eine Arbeitsgruppe In Kalifornien die Ergebnisse von Gleßlbl replizieren - ein Indiz dafür, dass hier keine Störung vorlag. Sieben Jahre lang blieb somit die Frage ungeklärt, o b es sich bei der wolkenartigen Form u m eine Störung oder u m die Spur Inneratomarer Strukturen handelt.

Bilder meist als eine teleologische Fortschrittserzählung immer besserer Apparaturen und immer genauerer Bildresultate geschrieben wird - obwohl Störungen Normalitäten im Alltag des Bildproduzenten sind. Insbesondere in Versuchen, die Grenze dessen, was durch optische Medien sichtbar gemacht werden kann, neu zu bestimmen (-»• Fallstudie Franziska Brons, S. 152), ist, wie im Falle der Mikrofotografien von Joseph Gerlach aus dem 19. Jahrhundert, die maximale Vergrößerung oftmals nicht von einer Aufnahme zu unterscheiden, in der das fotografische Verfahren sich im „Sichtbarwerden des Silberniederschlags" (Gerlach 1863, S. 11) selbst ins Bild setzt (Breidbach 1998). In seinen Arbeiten zur Bildstörung hat der Kunsthistoriker Peter Geimer dementsprechend dafür plädiert, diese vom Makel des Scheiterns zu befreien, weil die Grenze zwischen einer Bildstörung und der Entdeckung eines neuen Phänomens durch Visualisierungstechniken oftmals fließend ist (Geimer 2001 u. 2002). Die Erzeugung einer „Differenz" (Rheinberger 2001) macht im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess

166

daher Folgeuntersuchungen erforderlich, die über den Status eines zunächst irritierenden Bildelements ^ b . 5) als Signal oder Störung Aufschluss geben. (FB)

Bildstörung

Literatur und Bildquelien Arnold Benz: Das Bild als Bühne der Mustererkennung. Ein Beispiel

tunnelmikroskopie. In: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan

aus der Astrophysik. In: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem

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chitektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin/New

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York 2006, S. 377-391. Andreas Hiepko, Katja Stopka (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg 2001.

(Hg.): Der Photopionier Hermann Krone. Photographie und Appa-

Friedrich Kittler: Geschichte der Kommunikationsmedien. In: Jörg Hu-

ratur. Bildkultur und Phototechnik im 19. Jahrhundert, Marburg

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1993 (= Interventionen, Bd. 2), S. 169-188. Hugo Müller: Die Misserfolge in der Photographie und die Mittel zu ihrer Beseitigung. Ein Hilfsbuch für Liebhaber der Lichtbildkunst, Halle a.S. 1894. Joachim Paech: Figurationen ikonischer n...Tropie. Vom Erscheinen des Verschwindens im Film. In: Sigrid Schade (Hg.): Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 122-136. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsyteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001.

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7), S. 156-172. Peter Geimer: Was ist kein Bild? Zur „Störung der Verweisung". In:

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Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt a.M. 1981.

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Joseph Gerlach: Die Photographie als Hülfsmittel mikroskopischer Forschung, Leipzig 1863. Jochen Hennig: Instrumentelle Bedingungen in Bildern der Raster-

Fotografi-

schen. In: Alexandra Kleihues (Hg.): Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 69-93.

Abb. 1: Kurt Fritsche: Das große Fotofehler-Buch, Leipzig 1969 (6. Aufl.), Bild 50, S. 97; Abb. 2: Egon Jameson: Berlin, so wie es war, Düsseldorf 1988 (8. Aufl.), S. 87; Abb. 3: Privat; Abb.4: Informationsblatt des Sender Freies Berlin: Elektrisches Farbtestbild, 1. Ausgabe 1971, o. O.; Abb.5: Franz J. Gießibl u.a.: Subatomic Features on the Silicon (111)-(7x7) Surface Observed by Atomic Force Microscopy, in: Science 289 (2000), S. 4 2 2 ^ 2 5 , hier S. 425, Abb. 3.

167

Zeichnen mit der Camera lucida

STEFAN D I T Z E N

ABB. I: Optisches Prinzip der Camera lucida: Darstellung der Reflexionsverhältnisse an einer Glasscheibe, die dem Auge zugleich das Sichtbild der Reflexion und die Durchsicht durch das Glas erlaubt, aus Helmholtz' „Handbuch der Physiologischen Optik", 1911.

Zeichnen mit der Camera lucida. Von instrumenteller Wahrhaftigkeit und riesenhaften Bleistiften Stefan Ditzen

Siehe zur Frage nach der Objektivität eines wissenschaftlichen Bildes Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M.

2002.

168

Bereits vor der Erfindung der Mikrofotografie wurden in der Mikroskopie technische Hilfsmittel verwendet, mit deren Gebrauch mikroskopische Bilder objektiviert werden sollten.1 Anhand des Einsatzes von Zeichenprismen wird in diesem Zusammenhang deutlich, wie eine Technik zwar einerseits einen Legitimationsanspruch des Bildes zu generieren vermag, jedoch andererseits die Bedingungen des angewendeten Verfahrens zugleich auch immer die Grenzen der Legitimation defi-

STEFAN D I T Z E N

Zeichnen mit der Camera lucida

Zeichenkunst und spiegelnde Glasflächen Der Anspruch einer mikroskopischen Zeichnung, die direkte Repräsentation eines Untersuchungsobjekts zu sein, stand in der Geschichte der Mikroskopie vielfach in Zweifel. Einerseits limitierte das zeichnerische Vermögen des Mikroskopikers die Objektivität der Darstellung, insofern das Einflussmoment der Hand dem Ideal einer verzerrungsfreien Wiedergabe der Beobachtungen und damit auch der Beweiskraft der Zeichnung entgegenstehen konnte. Andererseits konnte das Bild einer mikroskopischen Struktur auf dem Weg vom Auge zur Hand Veränderungen erfahren, sei es durch Modifikationen gemäß theoretischer Prämissen des Mikroskopikers, sei es aufgrund eines schlechten Erinnerungsvermögens. Die Zeit des Zwischenmemorierens, bevor die Ansicht aus dem Gedächtnis zu Papier gebracht wurde, sollte möglichst gering sein oder gar gänzlich entfallen, denn die memoria kam einer das Bild verändernden Kraft gleich, die damit auch als weitere potenzielle Fehlerquelle betrachtet wurde. Als Reaktion darauf war es bis in das 19. Jahrhundert hinein gängige Praxis, mit dem einen Auge durch die Linse zu blicken und zugleich mit dem anderen Auge die Erstellung der Zeichnung zu verfolgen, ein Vorgehen, das in der Durchführung überaus kompliziert war und viel Übung erforderte.

-»· Objektivität und Evidenz, S. 148

Derartige Probleme bei der Fixierung einer mikroskopischen Beobachtung sollten durch die Anwendung von Zeichenhilfen wie der Camera lucida vermieden werden. Dieses Hilfsmittel wurde im Jahr 1806 von dem Chemiker^ Optiker und Physiologen William Hyde Wollaston (1766-1828) zum Patent angemeldet. Es bestand im Kern aus einem Glasprisma, das durch eine Reflexion der Lichtstrahlen dem Zeichner mit nur einem Auge das zu zeichnende Objekt und das Zeichenblatt simultan sichtbar machte. Das optische Prinzip dieses Hilfsmittels ist bereits deutlich in seiner einfachsten instrumentellen Form, einer spiegelnden Glasscheibe, nachvollziehbar, wie es im Handbuch der Physiologischen Optik von Hermann von Helmholtz (1821-1894) präsentiert wurde (Abb. 1 .2 Sofern die Glasscheibe in einem Winkel von 45 Grad zu dem beobachtenden Auge steht, wird es aufgrund der Reflexionen möglich, zugleich auf die horizontale Zeichenebene zu blicken als auch Gegenstände zu betrachten, die sich auf der Oberfläche der Scheibe spiegeln. In dieser Weise machte das Prisma einer Camera lucida, die an einem Mikroskop angebracht wurde, die Strukturen eines mikroskopischen Präparats zeitgleich mit der Sicht auf die Zeichnung beobachtbar. Das Prisma projizierte dabei nicht die Ansicht des Untersuchungsobjekts auf das Zeichenblatt, sondern die Überlagerung von mikroskopischer Sicht und Zeichnung fand ausschließlich im Auge des Beobachters statt. Dieser sah gleichzeitig das Präparat und die Zeichnung; die Strukturen erschienen seinem Auge auf dem Blatt, so dass die Linien nur noch von

ι Hermann von Helmholtz: Handbuch der Physiologischen Optik, Hamburg/Leipzig 1896 (2. Aufl.).

Beobachtungstechnik, S. 178

169

Z e i c h n e n m i t der C a m e r a lucida

STEFAN DITZEN

Hand nachzuziehen waren. Die Zeichnung sollte durch die Anwendung 3 Siehe J o h n H a m m o n d , Jil Austin: T h e C a m e r a Lucida in Art and Science, Bristol 1 9 8 7 . Als besonders handliche

des technischen Hilfsmittels an Objektivität gewinnen, denn das Bildgedächtnis des Mikroskopikers wurde dadurch übergangen und als eine potenzielle Fehlerquelle ausgeschaltet.

und im Kontrast zur C a m e r a obscura leicht zu transportierende Zeichenhilfe fand die C a m e r a lucida im

19.

Jahrhundert eine weite Verbreitung, doch die Anerkennung ihrer Stellung ist in der historischen Analyse weitge-

Adaptionen von Zeichenprisma und Mikroskop

hend überschattet von einem F o k u s auf die Geschichte der Fotografie. Als eine der wenigen Ausnahmen sind vor allem die Arbeiten von E r n a Fiorentini zu nennen, z.B. Erna Fiorentini: Subjective Objective: T h e C a m e r a Lucida and P r o t o m o d e r n Observers. In: „Instrumente des Sehens". Bildwelten des

Wissens.

Kunsthistorisches

J a h r b u c h für Bildkritik 2 , 2

(2004),

S. 5 8 - 6 6 . 4 Siehe H a m m o n d , Austin (s. A n m . 3 ) , S. 3 7 f . 5 Amici

trug

maßgeblich

zu

der

Verbesserung der C a m e r a lucida für den wissenschaftlichen Gebrauch bei, insbesondere für die Nutzung in der Mikroskopie. Amicis Arbeit „Sopra le c a m e r e lucide" erschien 1 8 1 9 und im J a h r 1 8 2 3 in der französischen Übersetzung unter d e m Titel „Sur la c h a m bre claire". Siehe auch E r n a Fiorentini: Instrument des Urteils. Zeichnen mit der C a m e r a lucida als Komposit. In:

Inge

Hinterwaldner,

Markus

Buschhaus (Hg.): T h e Picture's Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, M ü n c h e n 2 0 0 6 . 6 Wilhelm Julius Behrens:

Hilfsbuch

zur Ausführung mikroskopischer Untersuchungen im botanischen L a b o r a torium, Braunschweig 1 8 8 3 , S. 8 2 . 7 Cornelius Varley: Graphic Telescope. In: Transactions of the Society for the Encouragement

of Arts,

Manufac-

tures and C o m m e r c e , Vol. 5 0 , Pt. 1 ( 1 8 3 6 ) , S. 1 1 9 - 1 3 9 . Ebenso fertigte Varley ein Graphic Telescope. Siehe ebd.

sowie

Hammond,

A n m . 3), S. 6 1 .

Austin

(s.

Die Camera lucida erlaubte jedem Beobachter, in korrekter Weise perspektivisch zu zeichnen; sie war im Kontext wissenschaftlicher Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert häufig im Gebrauch. 3 Das Prinzip des Zeichenprismas wurde bald nach der Vorstellung des Instruments von diversen Instrumentenmachern, wie etwa Giovanni Battista Amici ( 1 7 8 6 - 1 8 6 3 ) , Gilberto Govi ( 1 8 2 6 - 1 8 8 9 ) und Camille Sebastien Nachet ( 1 7 9 9 - 1 8 8 1 ) , aufgegriffen und verbessert sowie den spezifischen Anforderungen einzelner Disziplinen angepasst. 4 Für die Mikroskopie mussten hierbei auch einige Veränderungen an der Zusammensetzung des Mikroskopkörpers vorgenommen werden, 5 denn in ihrer einfachsten Form würde diese Zeichenhilfe zwar - wie Wilhelm Julius Behrens ( 1 8 5 4 - 1 9 0 3 ) es ausdrückte - „zum Nachzeichnen mikroskopischer Bilder auch vollständig genügen, wenn sie nicht zwei Uebelstände hätte. Erstlich hat die Papierfläche eine sehr ungünstige Lage, da sie der zeichnenden Hand nicht den geringsten Stützpunkt gewährt, also die Nachzeichnung in rauen Contouren ausfallen würde, und zweitens ist das erzeugte Reflexionsbild sehr lichtschwach". 6 Die ungünstige Position des Zeichenblattes, die laut Behrens für die „rauen Contouren" verantwortlich war, ging auf die senkrechte Position des Tubuskörpers zurück, denn auf Grund der Spiegelungsverhältnisse am Prisma musste sich dann auch die Zeichenebene in einer senkrechten Position befinden. Dieser Umstand verhinderte einen kontrollierten Übertrag der beobachteten Strukturen in das Bild. Um hier Abhilfe zu schaffen, musste entweder der Strahlengang im Mikroskop mittels eines Spiegels oder Prismas und damit auch der gesamte Tubuskörper um 90 Grad abgeknickt oder der gesamte Tubuskörper in eine waagerechte Position gebracht werden. In den 1830er Jahren konstruierte Cornelius Varley ( 1 7 8 1 - 1 8 7 3 ) einen solchen Mikroskopaufbau in einer permanenten Verbindung von Zeichenprisma und einem dafür horizontal positionierten Tubuskörper. Bereits die Bezeichnung als „Graphic Microscope" wies auf den spezialisierten Gebrauch dieser Apparatur zur Erstellung mikroskopischer Zeichnungen hin (Abb. 2). 7 Mit diesem Aufbau war es möglich, in einer komfortablen Körperhaltung am Mikroskop mit der Zeichenhilfe zu arbeiten. Derart verbesserte Mikroskope, die eigens für die vereinfachte Anfertigung von Zeichnungen produziert wurden, verhalfen zu weit mehr

STEFAN D I T Z E N

als den beklagten rauen Konturen. Durch die verbesserte Einsetzbarkeit des Zeichenprismas konnten besonders akkurate Ergebnisse erzielt werden - wie Lionel S. Beale (1828-1906) es hervorhob. 8 Auch Robert B. Bate (1782-1847), der bereits im Jahr 1809 auf die vielversprechende Verbindung von Camera lucida und Mikroskop hingewiesen hatte,' betonte die Eignung des Instrumentenzusatzes, um die Untersuchungsobjekte in der korrekten Perspektive wiederzugeben und für die „perfekte Wahrheit" in der Abbildung zu sorgen: „[...] it represents objects with more brilliancy and distinctness than the camera obscura; and it represents them either singly or in combination with perfect truth and correctness of perspective".10

Zeichnen mit der Camera lucida 8 Beale stellte unter dieser Überschrift neben der Camera lucida eine Reihe von Instrumenten vor; die in der Hauptsache nach einem ähnlichen Prinzip funktionierten, nämlich die Steel Disc und den Natural Tint Glass Reflector. Lionel S. Beale: How to work with the Microscope, London 1865 (3. Aufl.). 9 „Dr. Wollaston has briefly adverted to the method of enlarging a drawing, or delineating minute objects as magnified; by bringing the eye piece to a vertical position and looking directly at the object through the eye-hole and the lens, which must be turned up likewise to the same position [...]. To this I beg to add, that a compound microscope may be used in the same manner, but more conveniently with the horizontal position of the eye hole, by bringing the microscope to the same position, and the face of the prism close to its first eye glass." R. B. Bate: On the camera lucida. In: Journal of Natural Philosophy, Chemistry and the Arts 24 (1809), S. 146-150, hier S. 149 f. io Bate (s. Anm. 9), S. 146. Siehe auch Hammond, Austin (s. Anm. 3).

ABB. Ζ: Das Graphic Microscope von Cornelius Varley in der Anwendung, 1830er Jahre.

Instrumentelle Einschreibungen in das Bild Der Anspruch auf einen erhöhten Wahrheitsgehalt der Repräsentation, die Evidenz des Bildes durch die Interaktion von Technik und Bildproduzent, wird anhand der Tafel XXII aus Richard Becks Treatise des Jahres 1865 augenfällig (Abb. 3 ,11 Die Abbildung zeigt ein Tableau von mikroskopischem Instrumentenzubehör zusammen mit der Anwendungsdarstellung einer Camera lucida und einer Zeichnung mikroskopischer Strukturen. Auf der linken Seite sind unter anderem ein Objektivrevolver und eine skalierte Mikrometerplatte in verschiedenen Ausführungen zu sehen. Rechts ist direkt unter der Darstellung einer aufsetzbaren Camera lucida die Verwendung dieser Zeichenhilfe vorge-

Richard Beck: A Treatise on the Construction, Proper Use and Capabilities of Smith, Beck & Beck's Achromatic Microscopes, London 1865.

171

Z e i c h n e n m i t der C a m e r a l u c i d a

STEFAN DITZEN

FJ-4 i

Í*ÍCM£

i so* u ABB. 3: Tafel X X I I aus R i c h a r d Becks „ T r e a t i s e " mit der Präsentation einer C a m e r a lucida in der Anwendung, 1 8 6 5 .

172

STEFAN DITZEN

führt. Der Zeichner ist hierbei fast vollkommen auf gerade jene Teile des Körpers reduziert, die bereits Robert Hooke ( 1 6 3 5 - 1 7 0 3 ) bei der Erstellung einer mikroskopischen Zeichnung hervorgehoben hatte, nämlich das Auge und die Hand. 12 Gebrochen wird diese Reduktion des Beobachters durch die Andeutung des Gesichts mittels Nase und Mundpartie sowie durch einen angedeuteten Hemdsärmel und Arm, mithin die Verbindung von Gesicht und Hand zu einer gesamten Person. Von besonderem Interesse ist jedoch das Verhältnis von der gerade entstehenden Zeichnung zu dem direkt darunter präsentierten Bild der Gewebestrukturen eines Binsengewächses, denn es handelt sich hierbei anscheinend um eben jene Zeichnung, die in der darüber stehenden Abbildung gerade entsteht. Das von der Hand gezeichnete Bild wurde nach der Fertigstellung so gekippt, dass es dem Betrachter der Tafel nun zeitgleich mit dem Prozess der Entstehung senkrecht vor Augen steht. In der unten rechts dargestellten Zeichnung wurde dabei selbst auf den Vorgang der Entstehung Bezug genommen: Einige Partien des Bildes werden als noch nicht vollständig ausgeführt repräsentiert. Dies betrifft die angefangenen Schattierungen, durch welche die netzartigen Strukturen der Strichzeichnung körperlich dargestellt sind, als auch die weißen Stellen in der unteren Hälfte der Zeichnung. Insbesondere die Übereinstimmung der Kantenlängen der beiden Bilder weist darauf hin, dass es sich um dasselbe Bild handelt. Damit wird ein Anspruch auf die korrekte Wiedergabe der Strukturen in der Zeichnung unten rechts aus dem Verhältnis zu der darüber befindlichen Darstellung gespeist: Dies ist die Zeichnung, die in der oben präsentierten Weise mittels einer Camera lucida erstellt wurde. Darüber hinaus ist am unteren Rand des Bildes eine Skalierung eingetragen, die auf die Kontrolle und Einschätzbarkeit der Größenverhältnisse verweist und dem Mikrometer von Figur 2 entstammt, dessen Einteilung in Figur 5 nochmals oben auf der Tafel vorgestellt ist. In der Betrachtung einer mikrometrischen Skala durch das Mikroskop kann diese Einteilung mit Hilfe des Zeichenprismas einfach und präzise auf ein Zeichenpapier übertragen werden. An dieser Zeichnung kann dann die Skalierung ausgemessen werden, so dass neben den Dimensionen der Objektstrukturen auch der Vergrößerungsfaktor des Mikroskops offenbar wird. 13 So verschränken sich in der Zeichnung am unteren rechten Bildrand die anderen Darstellungen der Tafel, der Einfluss der vorgestellten Instrumentenzusätze und mikroskopischen Hilfsmittel auf die Bildentstehung wird mit diesem Bild zusammenfassend repräsentiert. Es spiegelt nicht nur die anderen Teile der Tafel, sondern verkörpert gleichsam die weiteren Kompartimente des Tableaus. Der Repräsentationsanspruch des Bildes ist durchdrungen von der Dokumentation seiner Entstehungsbedingungen und der dabei angewendeten Techniken, die ebenfalls auf der Tafel aufgeführt sind; sie binden einen erhöhten Wahrheitsanspruch an diese Zeichnung an.

Zeichnen mit der Camera lucida

12 Hooke führte in der „Micrographia" die Entstehungsbedingungen eines idealen mikroskopischen Bildes aus: „[...] that there is not much requir'd towards it, any strength of Imagination, or exactness of Method, or depth of Contemplation (though the addition of these, where they can be had, must needs produce a much more perfect composure) as a sincere Hand, and a faithful Eye, to examine, and to record, the things themselves as they appear." Robert Hooke: Micrographia, or Some physiological descriptions of minute bodies, made by magnifying glasses: with observations and inquiries thereupon, London 1665, Einleitung.

13 In dieser Verwendung ist die Camera lucida auch im 20. Jahrhundert noch im Einsatz beschrieben. Siehe T. E. Wallis: Analytical Microscopy, London 1957 (2. Aufl.), S. 152.

Bildanordnungen, S. 116

173

Z e i c h n e n m i t der C a m e r a lucida

STEFAN D I T Z E N

ABB. 4: Darstellung des geometrischen Stützgerüsts einer Radiolarie (Aulosphaera trigonopa) aus Ernst Haeckel: Die Radiolarien, 1862.

Haeckels plastische Bilder der Wirklichkeit 14 Ernst Haeckel: Die N a t u r als Künstlerin, Berlin 1913. 15 Ernst Haeckel: Kunstformen Natur, Leipzig/Wien 1904.

der

16 Georg Uschmann: Ernst Haeckel. Biographie in Briefen, Leipzig/Jena/ Berlin 1983, Brief Nr. 66 vom 29.2.1860. Ebenso sind die Briefe von Haeckels Italienfahrt auf http://www. zum.de/stueber/haeckel/italienfahrt einzusehen (Stand: 06/2006).

Objektivität und Evidenz, S. 148

174

So waren es auch gerade diese technischen Komponenten, die Ernst Haeckel (1834-1919) verwendete, um die Natur als Künstlerin14 zu offenbaren. Viele der mikroskopischen Zeichnungen von Haeckel entstanden mit Hilfe einer Camera lucida und die Zeichenhilfe diente als Garant für eine getreue Wiedergabe der Kunstformen der Natur.15 Die Kunstformen sollten nicht der Fantasie des Zeichners entstammen, sondern über die Gesetzmäßigkeiten der Optik mathematisch exakt abgebildet werden. Dies galt insbesondere für die komplexen Strukturen der Radiolarien (Abb. 4 , deren geometrische Gitternetze ohne ein solches Hilfsmittel nur sehr schwer in der korrekten Proportion und Perspektive darzustellen waren, so wie Haeckel es in seinen Briefen aus Italien schilderte: „Zum Zeichnen bediene ich mich durchgängig der Camera lucida, da die Formen alle genau mathematisch bestimmt sind und also auch mit mathematischer Treue wiedergegeben werden müssen, besonders was die Größe der Winkel und das relative Verhältnis der einzelnen Teile betrifft." 16 Trotz dieses Anspruchs auf eine instrumenteil erwirkte Objektivität seiner Darstellungen sah sich Haeckel immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, „[seine] Zeichnungen seien stilisiert und die von [ihm] wiedergegebenen Formen kämen so in der Natur nicht vor". 17 Haeckel reagierte auf derartige Vorwürfe mit dem Verweis auf die Zuverlässig-

STEFAN DITZEN

keit seines Mikroskops und auf die technischen Hilfsmittel, die auch über den Einsatz der Camera lucida hinaus die Kontrolle über die Bildentstehung garantierten: „Bekanntlich hat die erstaunliche Verbesserung der modernen Mikroskope - wie wir sie namentlich meinem verstorbenen Freunde und Kollegen Ernst Abbe verdanken - zu einer ungeahnten Erweiterung und Vertiefung der Naturerkenntnis geführt, und wir suchen in unsern mikroskopischen Abbildungen alle Formverhältnisse möglichst klar und scharf darzustellen. Wir beschränken uns bei der Widergabe des Gesehenen keineswegs auf einen optischen Durchschnitt, sondern können durch Drehung der Mikrometerschraube des Mikroskops alle Teile des Körpers genau beobachten und dadurch ein plastisches Bild der Wirklichkeit gewinnen."18 Haeckel zog Ernst Abbe (1840-1905) gleichsam als Bürgen für sein Vorgehen hinzu, seine Freundschaft mit Abbe stand in dieser Rhetorik als Garant für die Qualität des mikroskopischen Blicks. Ebenso wurde die Mikrometerschraube als Referenz für das „plastische Bild der Wirklichkeit" angeführt. Diese Schraube übersetzte die gleichmäßige Drehung ihres Gewindes auf den Objektträger, so dass über diese Relation eine präzise Vermessung der beobachteten Strukturen gewährleistet wurde. Der Instrumentenzusatz wird in dieser Rhetorik als Mediator für die Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit des Bildes angeführt. Diese Form der Argumentation verwendete Haeckel auch zur Verteidigung seiner Zeichnung des Radiolar Histriastrum Boseanum, denn gegenüber dem Vorwurf, die Zeichnung „sei nicht eine reine Naturbildung und verliere damit alle Glaubwürdigkeit und Beweiskraft", 19 unterstrich Haeckel die Verlässlichkeit seines Bildes mit dem Verweis auf den Gebrauch des Zeichenprismas bei der Bildfixierung. Seine Argumentation kulminierte in einem Vergleich der Bildtechniken von Camera lucida und Mikrofotografie als Medien der Evidenz: „Die starren, festen Formen dieses Gebildes kann man mit dem Zeichenapparat ebenso genau wiedergeben wie es die beste Photographie vermag." 20 Hier zeigt sich, dass die Camera lucida alles andere als eine optische Spielerei war, sie wurde vielmehr als ein wissenschaftliches Aufzeichnungsgerät verwendet, das den Vergleich mit der Fotografie nicht scheuen musste.

Zeichnen mit der Camera lucida 17 Haeckel: Natur als Künstlerin (s. Anm. 14), S. 13.

Beobachtungstechnik, S. 178

18 Haeckel: Natur als Künstlerin (s. Anm. 14), S. 13. Neben der Möglichkeit des Einbringens von Testobjekten in das Sichtfeld konnten die Objektdimensionen mit Hilfe des Schraubenmikrometers gemessen werden, wie es Schleiden in der methodologischen Einleitung seiner „Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik" darlegte. Dabei ging es darum, „das zu messende Object in einer gradlinigen stetigen Bewegung durch das Gesichtsfeld des Mikroskops durchzuführen und den zurückgelegten Weg zu messen". Die Messung konnte anhand der Umdrehungen der Schraube, die einen Schlitten durch das Gesichtsfeld schob, abgelesen werden. Als Messgröße wurde ein feiner Spinnwebfaden in dem Diaphragma des Okulars eingespannt. Matthias Jakob Schleiden: Grundzüge der Wissenschaftlichen Botanik nebst einer Methodologischen Einleitung als Anleitung zum Studium der Pflanze, Leipzig 1842, S. 130ff. 19 Haeckel: Natur als Künstlerin (s. Anm. 14), S. 14.

Der Körper als Grenze instrumenteller Objektivierbarkeit Doch ebenso wie im Fall der Mikrofotografie21 waren auch diesem Streben nach technischer Objektivierbarkeit des Bildes Grenzen gesetzt. Da der Vergrößerungsfaktor im Bild durch die Erhöhung des Abstands zwischen Prisma und Zeichenebene gesteigert werden konnte, schien es zunächst zweckmäßig, die Zeichenebene für Maximalvergrößerungen in möglichst weiter Entfernung von dem Prisma und damit auch dem

20 Haeckel: Natur als Künstlerin (s. Anm. 14), S. 13. zi Siehe hierzu Jutta Schickore: Fixierung mikroskopischer Beobachtung: Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie. In: Geimer: Ordnungen der Sichtbarkeit (s. Anm. 1), S. 2 8 5 - 3 1 0 .

175

Zeichnen mit der Camera lucida

22 John Quekett: A Practical Treatise on the Use of the Microscope, London 1848, S. 214f. Siehe hierzu auch Hammond, Austin (s. Anm. 3), 146f.

23 Quekett (s. Anm. 22), 214f.

STEFAN D I T Z E N

Auge des Mikroskopikers zu positionieren. So stellte John Quekett (1815-1861) im Jahr 1848 ein Verfahren vor, das in der Folge vielfach zum Einsatz kam, 22 eine einfache Methode der Distanzverlängerung zwischen Auge und Hand mittels eines überlangen Zeichenstifts: „If it be required to make a very large but accurate diagram of any microscopic object, a true outline of it may be drawn by following these directions. A large sheet of paper, attached by pins to a drawing-board, having been laid on the floor, and the microscope placed horizontally, with its compound body projecting as far over the table as possible, and the object and camera having been properly adjusted, a pencil fastened into a long piece of light but hollow cane must then be provided, and the artist, either standing or sitting, and looking down through the camera, will see the image on the paper, and after a little practice will be able to trace its outline as easily as when the paper was placed on the table only a few inches below it." 23

ABB. 5: Darstellung der Anwendung einer Camera lucida, um mittels eines verlängerten Zeichenstifts eine mikroskopische Zeichnung zu vergrößern, 1848. Fig. 136.

Die Zeichnung wurde also der Aussage von Quekett zufolge auch bei der Anwendung dieses Verfahrens nicht nur akkurat, sondern in ihren Umrissen auch vollkommen wahrheitsgetreu. 176

Zeichnen mit der Camera lucida

STEFAN D I T Z E N

Diese Einschätzung teilte ebenso Beale, der viele seiner Zeichnungen auf diese Weise erstellte: „By placing the diagram paper upon the floor, the object can be readily traced with a long pencil. In this manner many of my diagrams have been made. They must of course be accurate copies of the objects themselves, and are therefore far more truthful than diagrams, copied from drawings representing microscopical structure, can be." 24 In gleicher Weise bot dieses Zeichnen mit Camera lucida und verlängertem Zeichenstift die Möglichkeit der Nachvergrößerung einer mikroskopischen Zeichnung. Die Vorlage wurde dabei senkrecht auf einem Tisch aufgestellt und auf einem am Boden liegenden Zeichenblatt wurde eine vergrößerte Kopie des mikroskopischen Bildes erstellt (Abb. 5). Doch lagen die Grenzen dieser Anwendungen in der handwerklichen Umsetzbarkeit, denn es war alles andere als einfach, mit einem verlängerten Stift zu zeichnen. Je länger dieser wurde, umso problematischer wurde seine sichere Handhabung. Einige Mikroskopiker versuchten sogar, den Zeichenstift auf eine Angelrute zu montieren und ihn damit auf eine Länge von fünf Fuß zu bringen,25 was Quekett wiederum dazu veranlasste, ein Limit für die Verwendbarkeit des Verfahrens zu definieren: Die Praxis habe erwiesen, dass ab einer Distanz von vier Fuß zwischen Auge und Papier der Bleistift nicht mehr adäquat zu führen sei.26 Dem Einsatz der Camera lucida im Zeichen einer technischen Objektivierbarkeit waren durch den Körper des Mikroskopikers, durch den natürlichen Abstand von Auge und Hand, in der konkreten Anwendung Grenzen gesetzt. Obwohl die Camera lucida als Hilfsmittel der Bildaufzeichnung mit der weiten Verbreitung der Mikrofotografie zum Ende des 19. Jahrhunderts starke Konkurrenz bekam, wurde sie als Aufzeichnungshilfe nicht vollständig ersetzt. Gerade die Möglichkeit, Strukturen unterschiedlicher Tiefenschichten eines Präparats nach dem selektierenden Urteil des Betrachters in einem einzigen Bild zu präsentieren, machte den Einsatz der Camera lucida zur wissenschaftlichen Bildaufzeichnung auch noch im 20. Jahrhundert sinnvoll.27

24 Beale (s. Anm. 8), S. 2 8 .

25 Hammond, Austin (s. Anm. 3), S. 147.

26 Quekett (s. Anm. 2 2 ) , S. 2 1 5 .

27 Vgl. Fiorentini (s. Anm. 5), S. 5 3 ff.

ABB. I: Hermann von Helmholtz: Handbuch der Physiologischen Optik, 2. Band, Hamburg/Leipzig 1 9 1 1 ( 3 . Aufl.), S. 2 4 0 , Abb. 5 4 ; ABB. 2: John Hammond, Jil Austin: The Camera Lucida in Art and Science, Bristol 1 9 8 7 , S. 6 0 ; ABB. 3: Richard Beck: A Treatise on the Construction, Proper Use and Capabilities of Smith, Beck &c Beck's Achromatic Microscopes, London 1865, Tafel X X I I ; ABB.4: Ernst Haeckel: Die Radiolarien (Rhizopodia radiolaria). Eine Monographie, Berlin 1862, Tafel X , Detail; ABB. 5: John Quekett: A Practical Treatise on the Use of the Microscope, London 1 8 4 8 , S. 3 1 4 .

Beobachtungstechnik

Abb.t: Ein M a n n zeichnet m i t Hilfe einer Perspektivmaschine eine Ar-

Abb. 2: Helmholtz' Untersuchungsapparat für optische Täuschungen,

millarsphäre. Dabei zieht er die Umrisse der Sphäre auf einer Glas-

w o b e i ein Bild (g) an der Rückwand des Kastens durch ein kurz ein-

scheibe nach, die z w i s c h e n d e m Zeichner und d e m Bildgegenstand

w i r k e n d e s helles A u f licht m i t t e l s eines elektrischen Funken für einen

aufgestellt w u r d e , w ä h r e n d das A u g e des Zeichners durch ein Guck-

Sekundenbruchteil (von k aus) beleuchtet und s o m i t für den Be-

loch in e i n e m Brett f e s t g e l e g t w o r d e n ist. Zeichnung Leonardo da

trachter sichtbar g e m a c h t w u r d e . Durch die blitzartige Beleuchtung

Vincis, u m 1510, aus d e m „ C o d e x A t l a n t i c u s " , Mailand, Biblioteca

konnten

Ambrosiana, 6 χ 3,8 c m .

w e r d e n . Umzeichnung aus seinem „ H a n d b u c h der physiologischen

kompensatorische

Augenbewegungen

ausgeschlossen

O p t i k " von 1867.

Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte der Beobachtungstechniken ein zentrales Thema der Wissenschaftsgeschichte (Kuhn 1962, Feyerabend 1963, Hacking 1983). Diese anhaltende Aufmerksamkeit ist umso bemerkenswerter, als Konsens darüber herrscht, dass schon die Beobachtung mit dem bloßen Auge ein erlerntes Verfahren und somit eine Technik darstellt. Dabei ist die Verwendung von Beobachtungsinstrumenten seit der Frühen Neuzeit von einem spezifischen Konfliktpotenzial geprägt. Dieses erwächst aus dem Widerspruch zwischen der zunehmenden Ausrichtung der Naturwissenschaft auf die visuelle Wahrnehmung als Quelle von Naturerkenntnis und der Einsicht, dass diese Wahrnehmung maßgeblich von Instrumenten und Hilfsmitteln geprägt ist (->• Fallstudie Angela Fischel, S 212). Hans Blumenberg hat diese Spannung als „Grundkonflikt der Neuzeit" bezeichnet (Blumenberg 1979). In seinen Schriften taucht auch der Hinweis auf den „theoriebeladenen Charakter" naturwissenschaftlicher Beobachtung auf, der auch in der Wissenschafts-

178

theorie, etwa durch Thomas Kuhn, ausdrücklich untersucht wurde. Die seit den 60er Jahren vorangetriebene historische Analyse von Beobachtungstechniken thematisierte den epistemischen Weg wissenschaftlicher Beobachtung als historisch, technisch und sozial bedingten. Dazu gehörte auch die Reflexion der Technikphilosophie, welche die Technik als Erweiterung der menschlichen Organe begreift. Diese Tradition begann mit den Schriften Ernst Kapps; sie lässt sich über die Schriften von Oswald Spengler und Ernst Cassirer bis in die moderne Wissenschaftsgeschichte (Sarasin 2001) und die feministische Theorie (Haraway 1991) weiterverfolgen. Apparative Beobachtung, darauf verweisen Lorraine Daston und Peter Galison, verfährt selektiv (Daston, Galison 2002). Bereits im Instrument sei definiert, „welche Phänomene den Schlüssel zum Wesen der Dinge" darstellen. Zudem seien die klassischen Gegenstände der Beobachtung selbst Artefakte. In Atlasbildern, Präparaten oder Laborverfahren werden die Forschungsobjekte standardisiert, mit ihrer Hilfe werden Expertenaugen geschult.

Beobachtungstechnik

Abb. 3: Ein weiblicher A k t i m W a l d vor einer S t e r e o m e s s k a m m e r m i t Fotografen. Die S t e r e o m e s s k a m m e r g e n a n n t e Kamera erzeugt z w e i fotografische A b b i l d u n g e n v o n e i n e m O b j e k t aus verschiedenen Blickwinkeln, ein Stereobildpaar. D o k u m e n t a r b i l d zur Abbildungssituation, A n f a n g 1970er Jahre.

Abb. 4: Säulenstereoskop, u m 1870. Das Stereoskop w a r im 19. Jahrhundert die beliebteste B e t r a c h t u n g s f o r m von Fotografien. Z w e i ents p r e c h e n d den B e t r a c h t u n g s w i n k e l n der A u g e n leicht v e r s c h i e d e n e Bilder desselben Gegenstands w e r d e n im Stereoskop den z w e i A u g e n g e t r e n n t vorgeführt. Dabei e n t s t e h t der Eindruck v o n Dreidimensionalität, der die G e g e n s t ä n d e fast greifbar plastisch w i r k e n lässt.

Der Vorstellung, dass Beobachtungsinstrumente ihren Gegenstand verfälschen, w u r d e entgegengehalten, dass diese Gegenstände, da sie ohne die Beobachtungsinstrumente nicht existierten, weder verfälscht noch verzerrt werden könnten. Forschungsfelder und -gegenstände würden überhaupt erst durch Beobachtungsinstrumente und -techniken konstituiert. Was dabei aufgezeichnet werde, sei sowohl durch die Eigenschaften des Phänomens als auch durch die des Beobachtungsinstruments geprägt (Snyder 2002).

wobei auch Eigenschaften der Beobachtungstechnik selbst ins Bild einfließen. Dieser Aspekt wird besonders in der Dysfunktion von technischen Vorrichtungen, etwa in Bildfehlern und Unfällen sichtbar (->• Bildstörung, S. 164). Mit dem Ziel, künstlerische Arbeiten nicht als autonom e Objekte, sondern als Bestandteile eines Geflechts von Beziehungen und Prozessen zu erfassen, richteten Kunsthistoriker ihrerseits seit Mitte der 80er Jahre die Aufmerksamkeit auf den Betrachter und seine technische w i e soziale Konstitution. Dabei setzte Sevtlana Alpers Maßstäbe, als sie die Analyse von Aufzeichnungsund Beobachtungstechniken w i e etwa Perspektivmaschinen (Abb. 1] als Alternative zur ikonologischen Analyse nordeuropäischer Kunst der Frühen Neuzeit wählte (Alpers 1983). Ging es Alpers um den Künstler als Beobachter, so wurde hingegen mit dem „Betrachter" als Kunstrezipienten eine andere Position im System der „ K u n s t " bezeichnet. Sein Status ist Thema der Rezeptionsästhetik. Ausgehend von der These, dass d e m Kunst-

In jüngerer Zeit rückte die Frage nach der Referenz von technisch bedingten Beobachtungen in den Vordergrund (Rheinberger 1992 u. 2001, Hoffmann 2006). Dabei wurde thematisiert, dass Beobachtungsinstrumente selten sichtbare Phänomene, sondern in der Regel Messdaten bildlich darstellen, die aus der Wechselwirkung zwischen Darstellungsgegenstand und Messgerät entstehen (-> Fallstudie Jochen Hennig, S.86). Es werden also nicht nur Eigenschaften der Probe visualisiert, sondern die Interaktion zwischen Probe und Bildtechnik,

179

Beobachtungstechnik

Abb. 5: Darstellung der Praxis und eines beliebten M o t i v s des M u t o g r a p h e n von ca. 1897. Eine elektromagnetisch angetriebene Kamera erzeugte Bildsequenzen für den s o g e n a n n t e n Mutographen, ein Vorläufer des Filmprojektors, der ähnlich w i e das „ D a u m e n k i n o " funktioniert. Er besaß eine per Handkurbel angetriebene Bildrolle aus 8 0 0 - 1 0 0 0 Einzelbildern, die eigens für den W e t t s t r e i t m i t Edisons „ K i n e t o s k o p " erfunden w u r d e .

werk das Profil seines Betrachters bereits eingeschrieben ist, wurden sowohl die Prägung des Betrachters durch das Kunstwerk als auch die im Werk realisierten Theorien und Techniken der Wahrnehmung untersucht. Wichtige Impulse gingen dabei von der Fotografiegeschichte aus, welche die apparativen Bedingungen von Bildproduktion innerhalb der Kunstgeschichte zuerst ansprach (Kemp 1985). Viele wissenschafts- und technikhistorische Themen wurden auch von der Kunsthistorikerin Barbara Maria Stafford für die Kunstwissenschaft erschlossen (Stafford 1991). Mit dem Erscheinen von Jonathan Crarys Techniques of the Observer (Crary 1991) wurden die Begriffe „Beobachtungstechnik" sowie „das instrumentelle Sehen" endgültig zu feststehenden kunsthistorischen Begriffen, wobei Crary Wahrnehmungstheorien, wie etwa Helmholtz' sinnesphysiologische Forschungen (Abb. 2) mit der Geschichte der Beobachtungstechnik, vor allem der Fototechnik in Verbindung brachte (Abb. 3 , 4 u. 5).

180

Die Erschließung außerkünstlerischer Bilder für eine kunsthistorische Analyse zeichnet sich seit einigen Jahren als neue Forschungstendenz ab, wobei die Frage nach den Beobachtungstechniken eine wichtige Rolle spielt (Heintz, Huber 2001, „Instrumente des Sehens" 2004, Dupré 2005). Die zeichnerische Darstellung wissenschaftlicher Beobachtungen im Kontext von Beobachtungsinstrumenten stellt hierbei einen Schwerpunkt dar (Fiorentini 2006, Bredekamp 2007). Insbesondere die Geschichte der Mikroskopie und der Teleskopie gehören zu wichtigen Forschungsfeldern, an denen sich das Zusammenspiel von Bildtradition, der Visualisierung von Messdaten, die Fragen der Evidenz und Beweiskraft von Bildern sowie die Interpretation von instrumenten erzeugten Bildern exemplarisch untersuchen lässt (Ditzen 2006, Hennig 2006, Fischel 2005, Schickore 2007). (AF)

Beobachtungstechnik

Literatur und Bildquellen Vergleiche auch die Literaturangaben zu „Optische Instrumente des Sehens" in der Bibliografie, S. 228 Svetlana Alpers: The art of describing, Chicago 1983. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1979. Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007. Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-33, hg. v. Ernst Wolfgang Orth, Hamburg 1985 ^Philosophische Bibliothek, Bd. 372). Jonathan Crary: Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, Mass. 1991 (Dt.: Techniken des Betrachters. Über Sehen und Modernität im 19. Jahrhundert, Dresden 1995). Lorraine Daston, Peter Galison: Das Bild der Objektivität. In: Peter Gelmer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29-99. Stefan Ditzen: Der Satyr auf dem Larvenrücken. In: Martina Heßler (Hg.): Konstruierte Sichtbarkeiten, München 2006, S. 41-56. Sven Dupré (Hg.): Optics, Instruments and Painting, 1420-1720: Reflections on the Hockney-Falco Thesis. Early Science and Medicine, Vol. 10(2005). Paul Feyerabend: How to be a Good Empiricist. In: Bernard Baumrin (Hg.): Philosophy of Science, The Delaware Seminar, Bd. 2, New York 1963. Erna Fiorentini: Instrument des Urteils. Zeichnen mit der Camera Lucida als Komposit. In: Inge Hinterwaldner, Markus Buschhaus (Hg.): The Picture's Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 44-58. Angela Fischel: Bildtechniken. In: Anja Zimmermann (Hg.): Sichtbarkeit und Medium, Hamburg 2005, S. 19-46. Peter Gelmer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002. Ian Hacking: Representing and Intervening, Cambridge 1983 (Dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996). Donna Haraway: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and

Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: Dies.: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 149-181. Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001. Jochen Hennig: Lokale in globalen Kontroversen: Die heterogenen Bildwelten der Rastertunnelmikroskopie. In: Inge Hinterwaldner, Markus Buschhaus (Hg.): The picture's image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 243-259. Christoph Hoffmann: Unter Beobachtung. Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006. „Instrumente des Sehens". Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2,2 (2004). Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1962. Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.): Iconoclash. Beyond the image wars in science, religion and art, Karlsruhe 2002. Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg a. d. L. 1992. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M. 2001. Jutta Schickore:The Microscope and the Eye. A History of Reflections, 1740-1870, Chicago 2007. Joel Snyder: Sichtbarmachung und Sichtbarkeit. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 142-167. Barbara Maria Stafford: Body Criticism: Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge, Mass./London 1991. Barbara Maria Stafford: Good Looking. Essays on the Virtue of Images, Cambridge, Mass. 1996.

Abb.1: Peter Frieß: Kunst und Maschine. 500 Jahre Maschinenlinien in Bild und Skulptur, München 1993, S. 52, Abb. 17; Abb.2: Gerhard Kemner, Gelia Eisert: Lebende Bilder. Eine Technikgeschichte des Films, Berlin 2000 (=Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur, Bd. 18), S. 80; Abb. 3: Dieter Lübeck: Das Bild der Exakten - Objekt: Der Mensch. Zur Kultur der maschinellen Abbildungstechnik, München 1974, S. 58; Abb. 4: Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996, S. 138; Abb. 5: Wie Abb. 2, S. 45.

181

Programmierte Bilder

BIRGIT SCHNEIDER

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ABB. I: Seidensamit mit schreitenden Löwen, Reliqienhülle, Persien 9./10. Jh. Die gestuften Umrisse des Löwen zeigen deutlich die textile Struktur des Gewebes aus Zeilen (Schuss) und Spalten (Kette).

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ABB. Z: Tafel mit Notationen von zwanzig Schafteinzügen für die Einrichtung eines Webstuhls aus Marx Zieglers „Weber Kunst und Bild Buch", Ulm 1677.

Programmierte Bilder. Notationssysteme der Weberei aus dem 17. und 18. Jahrhundert Birgit Schneider -> Digitale Bilder, S. 82 ι Den Betrachtungen ist die Definition der Notation von Nelson Goodman zugrunde gelegt. Nelson Goodman bestimmt die Notation anhand der folgenden Erfordernisse: Sie muss syntaktisch und semantisch disjunktiv und endlich differenziert sein sowie unzweideutig. Insofern diese Bilder die Eigenschaften einer Notation erfüllen, werden sie mit Goodman auch den Erfordernissen von Bildcodes gerecht. Partituren sind die jewei-

182

Als vor-computergeschichtliches Fallbeispiel für den Zusammenhang von Bild und Bildcode, wie er sich bei „digitalen Bildern " darstellt, können die frühen Notationssysteme der Musterweberei aus dem 17. und 18. Jahrhundert dienen. Die Weberei steht für die tiefer liegenden Schichten der Wechselwirkungen zwischen Künsten und Medien, ist sie doch von einer speziellen, unauflösbaren Verschränktheit von Kunst und Technik bestimmt. Webstühle brachten von Beginn an in ihrer Struktur „gerasterte" Muster und Bilder hervor (Abb. , die heute als Pixelbilder der gängige Weg geworden sind, um Bilder für die Verarbeitung mit Geräten zu digitalisieren. Die Grundprinzipien technischer Bilderzeugung waren bei Geweben von Beginn an verwirklicht, so dass hier ein Quellpunkt der Digitalisierung liegt und eine Mediengeschichte technischer Bilderzeugung anschlussfähig wird.

BIRGIT SCHNEIDER

Im 17. Jahrhundert entwickelten Weber in Ulm Webschriften, um geometrische Muster als eindeutige Pläne für die Umsetzung auf Webstühlen zu notieren. Die Ulmer Aufzeichnungsformen für Gewebemuster müssen als früheste bekannte Versuche gelten, Bilder in einem begrenzten und eindeutigen Zeichenrepertoire zu codieren. Es ist jedoch zu vermuten, dass diese Praxis sehr viel älter ist, aber aufgrund der strengen Gildengeheimnisse lange nicht zum Gegenstand einer Veröffentlichung gemacht werden durfte. Die Notationsformen der Weberei werden im erweiterten Horizont einer Genese technischer, von Apparaten erzeugter Bilder in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Sie können als früheste eindeutige Speicherformen von Bildern einerseits sowie als Übertragung von Bildern in Maschinenanweisungen andererseits - und so in ihrer Funktion als Notationen und codierte Bilder sowie als Programm für den Webstuhl - diskutiert werden.1 Während der Entwicklung von Notationssystemen in Mathematik, Musik oder Kryptologie bereits zahlreiche Forschungen gewidmet wurden,2 ist die Komplexität der historischen Notationen von Bildmustern in der Weberei kaum bekannt; sie wurden noch keiner medien- und wissenschaftshistorischen Analyse unterzogen.3 Umso mehr ist zu fragen, wie die Webnotationen funktionierten und wie sie sich auf die Praxis der Weberei auswirkten.

Die Ulmer Gewebenotationen von 1677 Der strukturelle Zusammenhang von Weberei und Bildcodierung zeigt sich, wo Gewebe auf Papier geplant und aufgezeichnet wurden. Die frühen Formen solcher „Pläne" geben das Gewebebild mitunter auf eine Weise wieder, die der Notenschrift einer musikalischen Partitur gleicht (Abb. 2 . Die Abbildung eines Weberbuchs zeigt eine Linie, die in das Gerüst eines Systems aus „Notenlinien" eingespannt ist: Die Linie verläuft im Zickzack wie die Temperaturkurve eines Fieberkranken, Anfang und Ende jeder Zickzacklinie sind mit kleinen Kringeln versehen, in unregelmäßigen Abständen unterbrechen breite, schwarze Balken ähnlich Taktstrichen die parallelen Linien - auch sie sind an beiden Enden mit kleinen Kreiskonturen bestückt. Aus der stufenweise springenden Anordnung der Strichfolgen ergeben sich Figuren, die an die Abwandlung eines Grundthemas in der musikalischen Partitur einer Fuge erinnern, wobei Wiederholung, Spiegelung und Umkehrung als maßgebliche Ordnungssysteme ersichtlich werden. Eine weitere Abbildung aus demselben Buch präsentiert eine andere Darstellungsform \bb. 3). Sie zeigt in Kästchen getupfte Muster aus schwarzen Quadraten, die durch breitere Striche in neun Rechtecke von je sechzehn Kästchen im Quadrat unterteilt sind. Die Beispiele stehen für die zwei Typen von Schemata, von denen das Buch mehrere Tafeln in Abwandlung enthält. Die Notationen entstammen einer gedruckten Publikation, die gleichzeitig als erstes Handbuch der Weberei gilt: das von dem Ulmer

Programmierte Bilder ligen Ausführungen von Notationssystemen - in diesem Sinne bringt z.B. eine Klavierpartitur das Notensystem zur Anwendung. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1997 [1951], S. 125 ff. 2 Exemplarisch Sebastian Klotz: Tonfolgen und die Syntax der Berauschung. Musikalische Zeichenpraktiken 1 7 3 8 - 1 7 8 8 . In: Inge Baxmann et al. (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000; Ulrike Bergermann: Ein Bild von einer Sprache, Konzepte von Bild und Schrift und das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen, Berlin 2 0 0 1 ; Bernhard Siegert: Passagen des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1 5 0 0 - 1 9 0 0 , Berlin 2 0 0 3 ; Ursula Klein: Experiments, Models, Paper Tools: Cultures of Organic Chemistry in the Nineteenth Century, Stanford 2003. 3 Der Beitrag stellt Ergebnisse der Dissertation „Textiles Prozessieren" dar, die auch als Buch publiziert wurde: Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Berlin/Zürich 2 0 0 7 .

-»• Fallstudie Angela MayerDeutsch, S. 198

3» ABB. 3: Neun mögliche Notationen von Anschnürungen aus Marx Zieglers „Weber Kunst und Bild Buch", Ulm 1677.

Programmierte Bilder

BIRGIT SCHNEIDER

Vgl. Patricia Hilts: Roses and Snowballs: The Development of Block Patterns in the German LinenWeaving Tradition. In: Ars Textrina, Winnipeg, Kanada 1986, Bd. 5, S. 1 6 7 - 2 4 8 . Die Webereihistorikerin Patricia Hilts hat das Buch von Marx Ziegler zusammen mit dem Buch „Neu eingerichtetes Weber Kunst und Bild Buch" von Nathaniel Lumscher, Culmbach 1708, faksimiliert herausgegeben und kommentiert: Ars Textrina, Bd. 13 u. 14, Winnipeg, Kanada, Dezember 1990.

Vi Δ Λ , Α Α Α Α

Meisterweber Marx Ziegler im Jahr 1677 herausgegebene Weber Kunst und Bild Buch.4 Der auch im Fortgang des Buches für die Bildforschung auffällige Gebrauch des Wortes „Bild" innerhalb des Weberhandwerks muss hier kurz erläutert werden, da er sich auf einen bildtechnischen Aspekt bezieht. Marx Ziegler gebrauchte „Bild" einerseits in der frühen Bedeutung von „Vorbild" und „Gebilde" für die Produkte der Weberei, die Musterweberei bezeichnete er in dieser Weise als „Bild-Arbeit". Dabei setzte er „Bild" und „Boden" voneinander ab, um für gemusterte Gewebe die Notation von bildgebenden Effekten (Bild) und strukturgebenden Bindungen (Boden, sozusagen der „Bildgrund") zu unterscheiden. „Bild" war jedoch in der Musterweberei auch der generelle Begriff für die schematische Planung eines Gewebes auf dem Papier, und mithin die historische Bezeichnung für die Musternotationen der Weberei.5

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ABB. 4: Drei verschiedene Abbildungen aus frühen Musterbüchern; „Ein new Modelbuch", vermutlich Zwickau 1526; „Ein new getruckt model Büchli", Augsburg 1529; „Furm oder modelbüchlein", Augsburg gegen 1523. 5 Zum historischen Gebrauch des Begriffs „Bild" in der Weberei vgl. auch Walther v. Hahn: Die Fachsprache der Textilindustrie im 17. und 18. Jahrhundert. Herausgegeben vom Verein deutscher Ingenieure, Reihe: Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Heft 22, Düsseldorf 1971. 6 Als Produkt brachte diese Webereiform Muster mit den Namen „Spitzköper" und „Schachwitz" hervor.

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Die Musterformen, die Marx Zieglers Publikation behandelt, stehen für eine komplizierte Sonderform der Weberei, die vor allem in Süddeutschland praktiziert wurde.6 Dies waren geometrisch gemusterte Stoffe, mit denen die Weber Formen wie Quadrate, Linien und Dreiecke zu einem abstrakten Design verbanden und die sie auf sogenannten Schaftwebstühlen herstellten. Neben Zieglers Notationsform existierten noch andere Konventionen für die Notation von Gewebemustern, doch wurden diese erst im Zeitalter der Enzyklopädien, im 18. Jahrhundert, publiziert.7 Marx Ziegler muss so als einer der ersten gelten, der die Kunst und Technik des Webens zum Gegenstand einer Veröf-

BIRGIT SCHNEIDER

fentlichung machte und das bislang streng gehütete Wissen aus dem exklusiven Besitz der Gilden riss.8 All diese Aufzeichnungsformen für Gewebe unterscheiden sich stark von den bekannten Musterpatronen, welche für die Planung piktoraler Muster dienten und denen sie mitunter sehr ähnlich sehen Abb. 4). Diese fanden in Form von technikübergreifenden Mustersammlungen bereits seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts weite Verbreitung, boten jedoch im Unterschied zu den hier verhandelten Notationen keine Anleitung für die technische Umsetzung dieser Muster mit dem Webstuhl. Im folgenden Abschnitt wird deshalb auf die Technik der Weberei und die Frage, welches technische Wissen in den Notationen notiert ist, eingegangen.

Kettbaum

Programmierte Bilder Diese Gewebesorten wurden auch „Bauerndamast" genannt (heute: Block- oder Blöckchendamast). 7 Unter der Bezeichnung „translation" wurden in den französischen lexikalischen Darstellungen zur Weberei des 18. Jahrhunderts ebenfalls schematische Darstellungen gegeben. Eine dritte Konvention findet sich in einem italienischen Manuskript aus Lucca, welches auf die 1680er Jahre datiert wird und damit nur wenig Jahre jünger als Zieglers Weberhandbuch ist. Diese Aufzeichnungsform bedient sich Ziffern. 8 Die Gründe, weshalb sich Ziegler für eine Veröffentlichung entschied, sind vielfältig und hängen zum Teil mit seinem protestantischen Ideal von Ausbildung und Erziehung zusammen. Vgl. Patricia Hilts: Roses and Snowballs (s. Anm. 4), S. 1 6 7 - 2 4 8 , S. 170.

ABB. y. Schaftwebstuhl mit zwei Schäften und zwei Tritten im Schema.

Das technische Verfahren der Weberei mit Schäften Zieglers Notationen sind nicht ohne eine rudimentäre Kenntnis der Webstühle, für die sie geschrieben wurden, einzuschätzen. Dies waren die seit dem 13./14. Jahrhundert in Europa in Gebrauch gekommenen Schaftwebstühle. Wie bereits der Name sagt, bestand die Besonderheit dieser Webtechnik in einem System aus Schäften, die durch den Weber mittels Fußpedalen angehoben und gesenkt werden konnten. Das Schema eines solchen Webstuhls zeigt Abbildung 5. Um diesen Vorgang auf ein bestimmtes Muster abzustimmen, wurden die Kettfäden - das parallel in den Webstuhl eingespannte Fadensystem - in Gruppen eingeteilt und einzeln jeweils durch die Ösen (Litzenaugen) eines vertikal zwischen den Schäften gespannten Fadensystems gefädelt. Mit den Schäften können die Kettfadengruppen wie die Arme einer Marionette nach oben gehoben werden und öffnen auf diese Weise ein „Fach",

Programmierte Bilder

9 Vgl. Annemarie Seiler-Baldinger: Systematik der textilen Techniken, Basel 1991 [1973], S. 86.

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