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German Pages 228 Year 2016
Artur Pełka Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels
Theater | Band 85
Artur Pełka (Dr. phil.), Theaterwissenschaftler und Germanist, Humboldtianer, ist Dozent am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Lodz.
Artur PeŁka
Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama
Gefördert durch die Alexander von Humboldt-Stiftung sowie das Österreichische Kulturforum Warschau
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Inhalt
Vorwort | 7
1. Einleitung 1.1 Das Spektakel der Bilder | 11 1.2 Fragestellung | 20
2. Das Spektakel des Terrorismus 2.1 9/11 als »Trauma des Denkens« | 25 2.2 9/11 als (theater-)ästhetische Zäsur? | 40
3. Theater – Text – Politik 3.1 3.2 3.3 3.4
Drama vs. (postdramatischer) Theatertext | 45 Das Theater und das Politische | 57 Postdramatik und das Politische | 72 Theater – Text – Gewalt | 85
4. Angriff 4.1 Werner Fritschs Hydra Krieg. Traumspiel | 97 4.2 Kathrin Rögglas fake reports | 109
5. Amok 5.1 Amoklauf als ›privater Terrorismus‹ | 119 5.2 Andres Veiels & Gesine Schmidts Der Kick | 121 5.3 Thomas Freyers Amoklauf mein Kinderspiel | 129
6. Flucht 6.1 Dirk Lauckes Für alle reicht es nicht | 139 6.2 Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen | 149
7. ›Erinnerte Zukunft‹. Ein Exkurs 7.1 Theater(-Text) als Geschichts- und Gedächtnisraum | 175 7.2 Marius von Mayenburgs Der Stein | 179
8. Anstelle eines Fazits | 195 9. Danksagung | 201 10. Literatur | 203
Vorwort
Im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses stehen seit Jahren das deutschsprachige Gegenwartstheater und seine Texte. Leitend war für mich von Beginn an die Frage nach dem Politikum des Theaters, nach seiner Fähigkeit, den Zuschauerinnen und Zuschauern Erlebnisse, aber auch Reflexionen zu ermöglichen, die sich in eine positive Energie zugunsten eines humanen Gemeinwohls verwandeln könnten. Seit einiger Zeit geht ein Gespenst um in Europa, und in weiteren Teilen der Welt. Es ist kein guter Geist, sondern ein Schreckgespenst der Selbstsucht, des Fanatismus und der Xenophobie. Die aktuellen politischen Ereignisse machen zum einen deutlich, dass das Theater kein völlig autonomer, vom politischen Geschehen hermetisch abgeschirmter Schutzraum ist. Zum anderen zwingt die aktuelle Lage zum Nachdenken über die Rolle der Kunst, darunter die des Theaters und der Theatertexte, und nicht zuletzt aber auch über die der zuständigen Wissenschaften in einer unberechenbaren Zukunft. Als polnischer Theaterwissenschaftler und Auslandsgermanist betrachte ich die deutschsprachige Theaterlandschaft zwangsläufig mit ›fremden Augen‹, die nicht unbedingt mehr sehen, allerdings anders sehen. Bei dieser interkulturellen Betrachtung versuche ich, die historischen wie tagespolitischen Kontexte nicht aus dem Blick zu verlieren. Während vor allem in den ›östlichen‹, post-sozialistischen Teilen Europas die Demokratie gefährdet ist und eine explosive Stimmung angesichts der Massenflucht herrscht, zeichnet sich Deutschland – das offensichtlich aus der Geschichte gelernt hat – durch seine demokratischen Werte und seine partielle Willkommenskultur aus. Aber auch im flüchtlingsfreundlichen Deutschland lauern Gespenster der Vergangenheit, die immer lauter werden. Das vorliegende Buch ist weder ein Plädoyer für das ›dramatische‹ Drama noch für ein Theater, das der ›Bebilderung‹ von Literatur dienen soll. Genauso wenig liegt ihm die (naive) Vorstellung zugrunde, dass das Theater im Stande wäre, die Menschen und ihre Wirklichkeit radikal zu verändern. Nichtsdestotrotz gründen sich die Ausführungen auf meiner festen Überzeugung, dass sich das politische Potential des Theaters – trotz der postdramatischen Prophezeiungen – auch aus der seinen Theatertexten
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immanenten Politizität und dem ihr zugrunde liegenden Engagement der Autorinnen und Autoren konstruktiv speisen kann. Zudem bin ich der Auffassung, dass gerade die Gewalt der literarischen Sprache zu einem geeigneten Antidoton gegen das menschenverachtende Gebrülle in unserer mediendominierten Realität sein kann. In dieses Buch habe ich einige Teile meiner bereits publizierten Texte integriert, welche ich angesichts der letzten politischen Entwicklungen neu durchdacht habe. Artur Pełka, im Frühjahr 2016
»Falls die Geisteswissenschaften eine Zukunft als Kulturkritik haben, und die Kulturkritik zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Aufgabe hat, dann ist es zweifellos die Aufgabe, uns zum Menschlichen zurückzuführen, wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein.« JUDITH BUTLER GEFÄHRDETES LEBEN
»Es ist keine Zeit, um am kalten Gestade zu verweilen. Das Foto ist gemacht, es wird der Welt gezeigt und aus. Grade nur einer, ein kleiner Bub. Was ist das schon.« ELFRIEDE JELINEK DIE SCHUTZBEFOHLENEN – APPENDIX
1. Einleitung
1.1 DAS SPEKTAKEL DER BILDER In ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten revidiert Susan Sontag 2003 ihre Analyse der Leidensfotografie in dem 30 Jahre zuvor publizierten Buch Über Fotografie, in dem sie den von Schreckensbildern evozierten Voyeurismus anprangerte.1 In Bezug auf die Kriegsfotografie unterstreicht sie nunmehr die von ihr evozierte Mischung aus Schrecken und Schaulust sowie misst den Gräuelbildern eine Zeugniskraft wider das Vergessen zu. Da es bei dem Erinnerungspotenzial der Fotografie entschieden auf das Unsichtbare, d.h. darauf, was das Foto nicht zeigt, ankommt, ist eine Kontextualisierung des Bildes unentbehrlich, damit es zu einem mnemonischen Medium mit einer ethischen Wirkung werden kann.2 Diese kontextuelle Einbettung verlangt nach der Verortung des stummen Standbildes in einer Geschichte, die es beschreibt – oder mit Sontags Worten: »jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht«.3
1
Vgl. Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/Main 162004.
2
Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 52007, S. 103: »Auch im Zeitalter der Cyber-Modelle wird der Geist noch so gesehen, wie ihn sich schon die Antike vorstellte – als ein Innenraum, ähnlich einem Theater, in dem wir uns Bilder machen. Und es sind diese Bilder, die uns das Erinnern ermöglichen. Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos erinnern.«
3
Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 11.
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Die Zwiespältigkeit der Kontextualisierung von Leidensfotografien, das Oszillieren zwischen ihrer Plausibilisierung und Klitterung belegt eindrücklich ein höchst aktuelles Foto, das mittlerweile zur Ikone des gegenwärtigen Flüchtlingsdramas wurde.4 Am 2. September 2015 fotografierte die türkische Fotojournalistin Nilüfer Demir die Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi, die an die ägäische Küste angespült wurde. Beim Versuch der syrischen Familie Kurdi in einem Schlepperboot nach Griechenland zu gelangen, mit der Hoffnung von Europa zu den Verwandten nach Kanada auszuwandern, ertrank der Junge zusammen mit seiner Mutter und dem fünfjährigen Bruder in den Fluten des Mittelmeeres. Die aus Syrien stammende Familie, von der bei dem Unglück nur der Vater verschont wurde, lebte seit einiger Zeit in der Türkei, nachdem es ihr gelungen war, aus ihrer Heimat vor dem Islamischen Staat zu flüchten. Das Foto vom toten Aylan ging weltweit durch die Medien und weckte große Bestürzung sowie starkes Mitgefühl, die offensichtlich zu entschlossenen politischen Handlungen in Flüchtlingsfrage beitrugen.5 So ist der tote Junge »auch zur Ikone einer Hilfskampagne geworden.«6 Parallel zu der empathievollen Kontextualisierung wurde das Foto jedoch inhuman missdeutet und missbraucht. Vor allem in den Sozialen Netzwerken tauchten skandalös menschenverachtende Kommentare zu der Fotografie auf, die von einer abscheulichen ›Bildle-
4
So die Ansicht des Medientheoretikers Alexander Filipović: »Aus einer tieftraurigen Ästhetik heraus entwickelt sich diese Szene zu einem symbolträchtigen Foto für die ganze Flüchtlingskrise. Vieles spricht dafür, dass das Bild des ertrunkenen Jungen zur Fotoikone wird.« Peter Maxwill: Bild des toten Alan Kurdis: »Solche Bilder brennen sich in die Netzhaut ein«. Interview mit Alexander Filipović, unter: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/medienethiker-alexan der-filipovic-foto-ist-kaum-auszuhalten-a-1051262.html (Stand: 01.04.2016).
5
Unter dem Druck der Öffentlichkeit und ihrer Kampagnen wie »Niemand soll mehr ertrinken« intensivierte die internationale Politik die Maßnahmen angesichts der Flüchtlingskrise. Regierungen einiger Länder – wie die britische – entschieden sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
6
Schulz, Malin: Ein kurzes Erschaudern. Müssen wir wirklich wissen, wie ein totes Flüchtlingskind aussieht? Nein!, in: Die Zeit vom 10.09.2015, S. 60.
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gende‹ begleitet wurden.7 Das Bild löste eine xenophobe Hasswelle aus, die der türkische Ministerpräsident unmittelbar nach dem Unglück prophezeite: Der Schock wird zum Schrecken führen und der Schrecken zur Angst – und diese Angst wird den Rückzug auf sich selbst befeuern. Eine solche Kaskade wird im besten Fall zum Aufschubsdrang, im schlimmsten Fall zu Hass und noch mehr Fremdenfeindlichkeit führen. Und das unschuldige Kind Alyan zusammen mit der humanitären Katastrophe, zu deren Symbol sein unerträglicher Tod geworden ist, werden nicht nur vergessen werden, sondern möglicherweise auch die Geister zurückrufen, die wir längst begraben glaubten.8
Die Fotografie von toten Aylan, die jegliche Formen von Gewalt ikonographisch bündelt,9 bezeugt einerseits eine politisch konstruktive Zündkraft der Schreckensfotografie, andererseits beweist sie die Fragilität ihrer ethischen Aussage. Es handelt sich dabei nicht nur um die Abstumpfung,10 die die tägliche Bilderflut in den Medien verursacht, sondern um eine Potenzierung der Gewalt. Dies geschieht entweder als »Vollendung der Gewalt«11 –
7
Für den Tod der Familie machten die hasserfüllten Hetzer den Vater des Jungen verantwortlich, der vermeintlich unbedingt nach Kanada wollte, um sich dort Zahnimplantate einsetzen zu lassen.
8
Ahmet Davutoğlu: Der Verlust der Unschuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.09.2015. Bei diesem Zitat wird hier von der politischen Lage in der Türkei unter der Präsidentschaft von Erdoğan Abstand genommen.
9
Die Naturgewalt als Gewalt der Meeresfluten überschneidet sich hier mit der kulturellen Gewalt als einer in ein ikonografisches Zeichensystem eingelagerten gewaltförmigen Machtausübung der Fotografie, die wiederum an eine sprachliche Verletzung in Form von hate speech gebunden ist, die dieses Bild auslöste.
10 So die These Sontags, die sie in folgenden Sätzen subsumierte: »Bilder lähmen. Bilder betäuben.« Sontag: Über Fotografie, S. 26. 11 »Nun vollendet sich die Gewalt […] immer in einem Bild. Wenn bei einem Kraftakt die Hervorbringung von Wirkungen zählt […], so zählt für den Gewaltsamen, daß die hervorgebrachte Wirkung von der Äußerung der Gewalt nicht zu trennen ist. Der Gewaltsame will sein Zeichen auf den, dem er Gewalt angetan hat, sehen, und die Gewalt besteht gerade darin, ein solches Zeichen zu prägen.« Jean-Luc Nancy: Bild und Gewalt. Von absoluter Offenbarung und dem unendlich Bevorstehenden, in: Lettre Internationale 49 (2000), S. 86-89, hier S. 87.
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so Jean-Luc Nancy – oder als ihre Verdopplung durch die Wiedergabe im Bild, die – wie Sloterdijk ausführt – den Beobachter strukturell zu ihrem Komplizen macht.12 Diese Komplizenschaft im Falle des toten Aylan bekommt reale Züge, denn sein fotografisches Bild stachelt offensichtlich zur verbalen Gewalt an, die in der Regel auch physische Gewaltakte einleitet. Nicht nur erzeugen bildhafte Darstellungen von Gewalt eine sehr ambivalente Wirkung, sie werden auch in der Theorie sehr gespalten aufgefasst. Dabei kommt es darauf an, ob ein Bild bzw. Foto primär als Repräsentation einer realen Begebenheit wahrgenommen wird, die einen politischethischen Impuls hervorbringen kann, oder ob es als reine Präsenz in den Fokus gerät, wodurch die fotographisch fixierte Gewalt gleichsam ästhetisch transzendiert und letztlich entpolitisiert wird. In seinem Buch Todesarten widmet sich der Soziologe Wolfgang Sofsky dem Phänomen der Gewalt im Bild und verfolgt deren Geschichte von Höhlenmalereien bis zu aktuellen Kriegsfotografien. Die Kernthese, die seinen Ausführungen zu Grunde liegt, trennt kategorisch die dargestellte Gewalt des Bildes von der realen Gewalt: Der dargestellte Schrecken ist kein realer Schrecken. Pixel oder Pinselstriche bluten nicht. Ein Gemälde, das amputierte Gliedmaßen zeigt, stinkt nicht nach Verwesung. […] Bilder der Gewalt sind niemals Gewalt selbst. Solange der Betrachter der Realität entrückt ist, kann er Bilder des Schreckens goutieren, die Schönheit des Furchtbaren genießen, sich den Ekstasen der Gewalt hingeben, mit dem Grauen sympathisieren.13
Sofsky verherrlicht die von den Gewaltbildern ausgehende imaginative Kraft, die verloren geht, wenn sie zu Dokumenten geschichtlicher Kontexte degradiert werden.14 Mit der Entrückung des Betrachters von der Realität wird stark auf die Präsenz des Bildes insistiert: »Die Welt des Bildes erschöpft sich in dem, was das Bild vor Augen führt.«15 Auf diese Weise
12 Vgl. Peter Sloterdijk: Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder. Von der antiken Mythologie zur postmodernen Bilderindustrie, in: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 334-347. 13 Wolfgang Sofsky: Todesarten: Über Bilder der Gewalt, Berlin 2011, S. 18. 14 Vgl. Sofsky: Todesarten, S. 22. 15 Sofsky: Todesarten, S. 19.
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werden Bilder der Gewalt entrealisiert, ihrer Kontexte und geschichtlichen Verortung beraubt, die sich im Auge des Betrachters subjektiv auflösen. Auf diese Weise tragen Bilder laut Sofsky zur Entmachtung realer Gewalt bei.16 Das Präsentische der Bilder steht auch im Mittelpunkt des Konzepts von Horst Bredekamp, der jedoch ganz anders als Sofsky ein performatives Modell entfaltet, in Rahmen dessen den Bildern eine aktivierende Lebendigkeit verliehen wird. In Anlehnung an die Sprechakttheorie führt Bredekamp den Begriff des ›Bildaktes‹ ein, womit Bildern ein kommunikatives Handeln zugeschrieben wird. Sie erlangen dadurch Autonomie und Akteurstatus und werden zu »Erzeuger[n] von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen«.17 Daraus ergibt sich laut Bredekamp »eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […], die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.«18 In dieser Konzeption, die die aktive Potenz des Bildes aufwertet und die Interaktion zwischen dem Artefakt und dem Betrachter umdefiniert, wird bezeichnenderweise der Sprache als »Verbündeter« der »Reflexion« gerade »in der Ära ihrer visuellen Herausforderung« ein hominisierender Vorrang zugemessen.19 Auch wenn Bredekamp die Rolle der Sprache angesichts des Bildaktes nicht präzisiert,20 scheint sich seine Wendung zur Sprache vor dem Hintergrund der Aufwertung des Bildaktes gewissermaßen mit der Überzeugung Sontags zu überschneiden. In Leiden anderer betrachten betont sie dezi-
16 Vgl. Sofsky: Todesarten, S. 18ff.: »Bildlichkeit trennt die Sichtbarkeit eines Sachverhalts von der materiellen Anwesenheit der Tatsache. […] Bilder entmachten die Gewalt, rauben ihr die sinnliche Substanz und überwältigende Kraft«. 17 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 326. 18 Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 52. 19 Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 55. 20 Bredekamp ästimiert die Möglichkeiten der Sprache, die »im Konflikt mit der Sphäre des Visuellen zur höchsten Entfaltung ihrer selbst zu gelangen« (ebd., S. 54) vermag, ohne diese Entfaltung näher zu bestimmen. Vgl. die kritische Polemik von Daniel Hornuff: Bildwissenschaft im Widerstreit: Belting, Boehm, Bodekamp, Burda, München 2012, S. 9.
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diert, dass die Präsenz der Fotografie im Verstehensprozess kaum wirksam ist und dass sie als mnemonisches Medium »andere Formen von Verstehen und Erinnern [verdrängt]«.21 Damit wertet sie die Sprache dem BildhaftFotografischen gegenüber auf: »Quellende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen nicht mehr los.«22 Das Schockartige im Sinne Sontags deutet Malin Schulz im Kontext der Fotografien, die das Flüchtlingsdrama dokumentieren, als eine Reduktion ihrer Wirkung auf ein quasi-kathartisches, ephemer-unproduktives Erschaudern: Was kommt nach dem medialen Höhepunkt, dem Angst-Bild des toten Kindes? Ein neues Bild von einem neuen Kind. Das Bilderspektakel wird vom nächsten Spektakel abgelöst und überlagert. […] Komplexe Informationen werden reduziert auf die dramatische Erzeugung eines Gefühls. Und die abgebildeten Leichen sind in dem Drama die Statisten. […] In den meisten Fällen bleibt es wohl bei einem kurzen Erschaudern. […] Und die nächsten Bilder werden kommen.23
Indem Schulz auf die Theatralisierung des medialen ›Bilderspektakels‹ hinweist, erinnert sie ungewollt an die Herausforderung des Theaters durch die neuen Medien, die sich die Kategorie des Dramatischen aneignen und raffiniert anverwandeln. Das durch diese Bilder-Dramatik erzeugte ›Erschaudern‹ generiert jedoch nichts anderes als ein falsches, unproduktives Mitgefühl im Sinne Sontags, das die privilegierten Betrachtenden letztlich in einen ohnmächtigen Zustand versetzt.24 Zwischen der Fotografie als ›leblosem‹ Bildmedium und dem Theater als ›lebendiger‹, inter- und transmedialer Kunst liegen Welten. Bezeichnenderweise wendet sich aber das Theater unter postdramatischem Vorzeichen, gerade weil es sich gegen die Omnipräsenz der virtuellen Realität be-
21 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 103. 22 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 104. 23 Schulz: Ein kurzes Erschaudern. 24 Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 119.
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haupten muss, seiner Bildlichkeit zu.25 Die postdramatische Wende korreliert mit dem iconic turn26 und verschiebt die Theaterwahrnehmung »zu einer Raum und Bilderfahrung [als] Erfahrung einer globalen Theaterzeit«.27 Das Insistieren auf der Erzeugung einer spezifischen Seherfahrung in postdramatischer Theorie wie Praxis geht mit der Umwertung der politischen Brisanz des Theaters einher. Sein Politikum wird zur »Wahrnehmungspolitik« umgedeutet, die ermöglichen soll, »den zerrissenen Faden zwischen Wahrnehmung und eigener Erfahrung sichtbar werden lassen«.28 Solch eine »Politik des Sehens«29 verschiebt das Politische des Theaters zu einer Neuverteilung der Wahrnehmung und zu einer »Aufteilung des Sinnlichen« als einer Politik der Ästhetik.30 Als Illustration theatraler Sehmuster im postdramatischen Modus wird paradigmatisch auf Heiner Müllers Bildbeschreibung rekurriert, mit der der Autor »die Bildhaftigkeit des Theaters in den Theatertext zurückzunehmen«31 bemüht war. In dem 1984 verfassten Text wird eine reale Bildvor-
25 In diesem Sinne erklärt Hans-Thies Lehmann wie folgt: »Warum muss Theater unbedingt eine Handlung haben? Ein Bild muss das auch nicht! Bei einem Bild mit Äpfeln von Cézanne frage ich nicht danach, welche Handlung abgebildet wird.« In: »Für jeden Text das Theater neu erfinden.« Videokonferenz mit Pia Janke, Karen Jürs-Munby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pełka, in: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): »Postdramatik« – Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 33-45, hier S. 39. 26 Die postdramatisch orientierte Theaterwissenschaft integriert vor allem die Erkenntnisse zur ikonischen Wende von Boehm. Vgl. z.B. Kati Röttger, Alexander Jackob: Einleitung: Theater, Bild und Vorstellung. Zur Inszenierung des Sehens, in: Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierung des Sehens, Bielefeld 2009, S. 7-42. 27 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999, S. 341. 28 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 471. 29 Vgl. die Beiträge des Bandes: Röttger, Jackob (Hg.): Theater und Bild. 30 Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. 31 Ulrike Haß: Die Frau, das Böse und Europa. Die Zerreißung des Bildes im Theater von Heiner Müller, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Heiner Müller, München 1997 (= Text & Kritik 73), S. 103-118, hier S. 103.
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lage32 durch einen einzigen Kettensatz beschrieben, der die harmlose Abbildung in viele gewaltbeladene Bilder, die sich zudem durch Konjunktionen und Konjunktivformen ständig relativieren, zerspringen lässt. Die imaginären Sprachbilder, die das Ursprungsbild quasi-übermalen, bieten disparate Deutungsalternativen, die sich einer eindeutigen interpretatorischen Synthese entziehen. Nicht nur der Sinn der Vorlage, sondern auch das entstehende (Sprach-)Gebilde wird damit in statu nascendi destruiert. Thematisiert wird dabei »eine konfliktuöse – dramatische – Begegnung zwischen einem Blick und einem Bild, in dem der eine das andere zum Sprechen bringt.«33 Aus diesem eigenartigen Dialog ergibt sich die Infragestellung der Sinnstiftung im Akt des Sehens, die mit dem Anzweifeln eines sinnhaften und zielgerichteten Geschichtsverlaufs korrespondiert. So wird die lähmende Statik der Geschichte mit dem Versuch der Dynamisierung des Bildes konfrontiert, die ein Drama des betrachtenden Ich als ein »Drama zwischen zwei Blicken«34 erzeugt. Der fragende Blick, der das Bild zersplittert und seine Bruchteile auf ihre Bedeutung befragt, wird selbst zum Objekt der Befragung, was letztlich zur Introspektion des betrachtenden Ich führt. Das Spektakel der Bilder in Bildbeschreibung mutiert zur SelbstBeschreibung des Betrachters in einem Gedächtnistheater,35 in dem das Ich
32 Es handelt sich um eine kolorierte Zeichnung der bulgarischen Bühnenbildstudentin Emilia Kolewa, die eine sommerliche Genreszene mit Frau und Mann vor einem Haus darstellt. Der Text, welcher in der Suhrkamp-Ausgabe unter der Rubrik Prosa erschien (Heiner Müller: Bildbeschreibung, in: Heiner Müller: Werke 2: Die Prosa, Frankfurt/Main 1999, S. 112-119.), wurde von Müller als Theatertext konzipiert, den seine Frau Ginka Tscholokowa beim Steirischen Herbst 1985 uraufführte. 33 Hans-Thies Lehmann: Theater der Blicke. Kommentar zu Heiner Müllers Bildbeschreibung, in: Ulrich Profitlich (Hg.): Dramatik der DDR, Frankfurt/Main 1987, S. 186-202, hier S. 189. 34 Lehmann: Theater der Blicke, S. 190. 35 Zu Bildbeschreibung als »eine meta-theatralische Reflexion auf das Theater als Gedächtnis von Verdrängtem« vgl. Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996 (= Forum modernes Theater, Bd. 20), S. 290-309.
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sich selbst begegnet und sich mit den für das Selbst konstitutiven Gewaltreminiszenzen36 und -phantasien auseinandersetzt. Müllers Text inszeniert nicht nur modellhaft eine (Selbst-)Wahrnehmungspolitik, sondern thematisiert eine mediale Kollision zwischen Bild und Sprache, die das erstere »durch Beschreibung [auslöscht]«.37 Diese sprachliche Auslöschung korrespondiert mit Müllers medienkritischer Diagnose von der »Auslöschung der Welt durch die Abbildung der Welt«.38 In dieser Hinsicht könnte Bildbeschreibung als ein ferner Kommentar zum aktuellen Spektakel der Bilder um das Flüchtlingsdrama, das das reale Leiden durch Abbildung auslöscht, dienen. Die Aktualität des Textes, der in der hoffnungslosen Zeit des Kalten Krieges entstanden ist, liegt aber vor allem darin begründet, dass er trotz eines tiefen Geschichtspessimismus eine vage Hoffnung auf geschichtliche Dynamik und Restitution eines politischen Subjekts vermittelt, die mit dem finalen Bild des »ICH [als] gefrorener Sturm«39 impliziert wird. Die suggerierte Möglichkeit eines Austritts aus einer in sich kreisenden Geschichte wird dabei mit dem Bild der »Savanne«40 als eine (afrikanische) »Utopie von morgen«41 konkretisiert, wo-
36 Die Gewaltbilder im Zeichen der atomaren Bedrohung beziehen sich nicht nur auf Geschichte als eine allgemeine Gewaltspirale, sondern beschwören die Gespenster der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts herauf, darunter – wie Zenetti eruiert – die Barbarei der Shoah. Vgl. Thomas Zenetti: Auf der Suche nach dem Anderen in der Wiederkehr des Gleichen. Heiner Müllers »Bildbeschreibung« zwischen post-historischen Endzeitfantasien und Hoffnung auf Geschichte am Ende des Kalten Krieges, in: Studia Germanica Posnaniensia XXXIV (2013), S. 67-83, hier S. 76. 37 »Bild-Beschreibung heißt ja auch, daß ein Bild beschrieben wird: es wird ausgelöscht durch Beschreibung.« Heiner Müller: Das Nilpferd ist ein Text, in: Heiner Müller: Werke 8: Schriften, Frankfurt/Main 2008, S. 339-245, hier S. 340. 38 Reiner Crone, Heiner Müller: Fünf Minuten Schwarzfilm. Reiner Crone spricht mit Heiner Müller, in: Heiner Müller: Werke 11: Gespräche 2, Frankfurt/Main 2008, S. 354-370, hier S. 355. 39 Müller: Bildbeschreibung, S. 119. 40 Müller: Bildbeschreibung, S. 112. 41 Zenetti: Auf der Suche…, S. 75.
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bei »ein neues geopolitisches Spannungsfeld«42 zwischen dem Norden und dem Süden antizipiert wird. Bezeichnenderweise hat Müller 1995 unmittelbar nach dem Verfassen von Bildbeschreibung in seiner Büchnerpreisrede Die Wunde Woyzeck den Wieder-Beginn der Geschichte durch eine Initialzündung »aus dem Süden«43 vorausgesehen. Die in diesem Zusammenhang prophezeite »Stunde der Weißglut«44 ruft die glühenden Türme des New Yorker WTC wie den glühenden gegenseitigen Hass der Kulturen, der sich mit 9/11 und seinen Folgen potenzierte, in den Sinn. Auch wenn die Geschichtsstunde noch nicht wirklich schlägt, wird sie vom »Kreuzweg in die Geschichte«45 der aus dem Süden Flüchtenden angekündigt. Die Konsequenzen des neuen Geschichtsdramas sind – auch für das Theater und seine Texte, »die auf Geschichte warten«46 – noch nicht abzuwägen. Die aktuelle Lage mit dem Spektakel der Gewalt zwingt aber notgedrungen zum Nachdenken über das Politikum des Theaters und seiner Literatur.
1.2 FRAGESTELLUNG Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach dem Politikum der zeitgenössischen Theatertexte, die als Reaktionen auf reale Gewaltereignisse – den Angriff und die aus ihm resultierende Flucht – entstanden sind. Damit wird das Repräsentationspotential der für die Bühne geschriebenen
42 Zenetti: Auf der Suche…, S. 81. 43 Heiner Müller: Die Wunde Woyzeck, in: Heiner Müller: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 261-263, hier S. 263. 44 Müller: Die Wunde Woyzeck, S. 263. 45 Müller bezeichnet in seiner Rede die Unterdrückten aus der sog. Dritten Welt antonomasisch als Woyzeck, wobei seine Beschreibung angesichts des Flüchtlingsdramas an Aktualität gewinnt: »Noch geht er in Afrika seinen Kreuzweg in die Geschichte, die Zeit arbeitet nicht mehr für ihn, auch sein Hunger ist vielleicht kein revolutionäres Element mehr, seit er mit Bomben gestillt werden kann, während die Tambourmajore der Welt den Planeten verwüsten.« Müller: Die Wunde Woyzeck, S. 261. 46 Heiner Müller: Verabschiedung des Lehrstücks, in: Heiner Müller: Werke 8: Schriften, Frankfurt/Main 2008, S. 187.
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Texte, das im Zuge der postdramatischen Wende zugunsten der Präsenz herabgesetzt wurde, auf den Plan gerufen. Die sich aus der Referenz zum real Geschehenen speisende Repräsentierbarkeit impliziert einen konstruktiven Realismus, der zumindest potentiell »hilft, die Welt begreifen und sich ihre Veränderbarkeit vorstellen zu können.«47 In dieser Hinsicht sollen die zu untersuchenden Theatertexte nicht nur als künstlerische Dokumente der vollzogenen Gewalt und ihrer Konsequenzen betrachtet werden, sondern als Instrumente einer politisch motivierten, ästhetischen Mitwirkung an der Konstituierung sozialer Wirklichkeit in den Fokus geraten.48 Dabei gilt das Augenmerk den unterschiedlichen Modi, derer sich die zeitgenössischen Theatertexte bedienen, um die Realität mit ihren Schrecken mittels des Mediums der (Bühnen-)Sprache anschaubar(er) zu machen. Vorausgesetzt wird damit eine zur ›Politik des Sehens‹ komplementäre ›Politik des (verstehenden) Hörens‹, die im Stande ist, die theatrale Bildlichkeit durch eine reflexionsfördernde Kontextualisierung konstruktiv zu ergänzen. Diese politische Potenz der Sprache, die die Theatertexte mit ihren Inhalten zu generieren vermögen, wird im Folgenden an einigen Beispielen ausgelotet. In den letzten Dekaden hat sich das Verständnis von der Politizität des Theaters und seiner Texte diametral verändert. Obwohl das Theater nach wie vor für ein politisches Medium per se gehalten wird,49 verschiebt sich der Schwerpunkt in der Bühnenpraxis, vor allem aber in der theaterwissenschaftlichen Reflexion, von Inhalten auf eine spezifische Politik des Ästhetischen, die »den Zuschauer zu einer Reflexion seines eigenen politischen
47 Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 8. 48 Mit der Mitwirkung ist nicht nur die Infragestellung der »Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt«, sondern, wie Gilcher-Holtey anmerkt, die Auslösung von entsprechenden Debatten gemeint. Vgl. Was ist politisches Theater? Eine Debatte mit Zeitzeugen, in: Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus, Franziska Schößler (Hg.): Politisches Theater nach 1968: Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt/Main, New York 2006, S. 19-124, hier S. 36. 49 So z.B. ist das Politische nach Lehmann dem Theater »eingeschrieben, durch und durch, strukturell und ganz unabhängig von seinen Intentionen«. HansThies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: Hans-Thies Lehmann: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11˗21, hier S. 14.
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Standorts zwingt«.50 Generell betrachtet wird das Politische des Theaters zum »Politischen im Theater«51 umgedeutet, das sich in »Ästhetiken des Performativen«52 bzw. in der »Unterbrechung des Politischen«53 als »Infragestellung gewohnter Wahrnehmungs- und Denkweisen«54 manifestiert. Solch ein Politikbegriff, der die Selbstreflexivität des Zuschauers/der Zuschauerin als politischen Akt verabsolutiert, ist nicht nur seiner Verschwommenheit55 wegen äußerst problematisch, sondern auch deswegen, weil er den Text als Träger der Inhalte marginalisiert und damit auch nicht zuletzt die Heterogenität der Theaterformen und Regiestile verkennt. Indes korrespondiert dieser offensichtliche Theater-Pluralismus mit der »Pluralität unter Menschen«, die Hannah Arendt in ihrem das Theater als »politische Kunst par excellence«56 glorifizierenden Essay zur »Bedingtheit« der »Politik unter Menschen« erhebt.57 Zu fragen wäre in diesem Kontext, ob der im Rahmen der Politik des Ästhetischen ästimierte autoreflexive, »emanzipierte Zuschauer«58 nicht geradezu die ›Unemanzipierten‹ programmatisch (und politisch inkorrekt) ausschließt und letztlich zur Verfestigung einer »Klassentheatergesellschaft«59 beiträgt.
50 Erika Fischer-Lichte: Politisches Theater, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 242-245, hier S. 242. 51 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 17. 52 Fischer-Lichte: Politisches Theater, S. 245. 53 Vgl. Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater? 54 Patrick Primavesi: Beute-Stadt, nach Brecht, Heterotopien des Theaters bei René Pollesch, in: The Brecht Yearbook/Das Brecht Jahrbuch 29 (2004), S. 367376, hier S. 368. 55 In ihrer äußerst sensiblen Analyse des politischen Theaters weist Focke auf die Undifferenziertheit des Begriffs »Unterbrechung des Politischen« und hebt zudem zu Recht hervor, dass die Unterbrechung überhaupt ein Grundmerkmal von Theater ist. Vgl. Ann-Christin Focke: Unterwerfung und Widerstreit. Strukturen einer neuen politischen Theaterästhetik, München 2011, S. 228-241. 56 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigem Leben, München 2001, S. 233. 57 Arendt: Vita activa, S. 17. 58 Vgl. Jean Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2015. 59 Muriel Ernestus: Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten: Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch, Berlin 2012, S. 92.
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Die Ausführungen spannen einen Bogen vom 11. September 2001, der als die »Stunde Null des 21. Jahrhunderts«60 mittlerweile auch in der theaterwissenschaftlichen Reflexion die Rolle einer Quasi-Zäsur spielt, bis zum aktuellen Flüchtlingsdrama als mittelbare Konsequenz der grausamen Ereignisse, die vor 15 Jahren die Welt erschüttert haben. Die Studie erhebt keinen Anspruch auf eine systematisierende und synthetisierende, ›enzyklopädische‹ Bilanz deutschsprachiger (Post-)Dramatik dieses Zeitraums. Der Analyse werden nur einige wenige Texte unterzogen, die sich exemplarisch als künstlerische Interventionen auszeichnen, womit auch die im Verruf geratene Kategorie einer engagierten Dramatik restituiert wird. Was die Kriterien der Auswahl der Theaterstücke betrifft, so sind zum einen ihre Repräsentativität und Originalität im opulenten Ertrag der zeitgenössischen Theatertexte, zum anderen ihre Ergiebigkeit im Sinne des vorliegenden Erkenntnisinteresses ausschlaggebend. Die Analysen und Interpretationen der einzelnen Theatertexte werden in drei Themenkomplexe – Angriff, Amok und Flucht – gefasst, wobei den Signaturen lediglich eine strukturierend-ordnende Funktion zukommt, die inhaltlich-motivische Überschneidungen zwischen den Analysekapiteln nicht ausschließt. Angesichts der offensichtlich dokumentarischen Dimension der behandelten Texte wird ihre Literarizität bzw. Fiktionalität nicht aus den Augen verloren. Zwangsläufig bleiben die Erörterungen stark textzentriert, nichtsdestotrotz wird der Aspekt der Aufführung im Sinne einer ›Texttheatralität‹61 stets mitbedacht. Dem analytisch-interpretatorischen Hauptteil der Studie gehen zwei einführende Kapitel voran. Im Zentrum des zweiten Kapitels steht der Elfte September als epochenmachendes Ereignis, das zugleich zu einer kulturellen Zäsur avanciert. Dabei wird der Fokus vordergründig auf eine Wende in
60 Hans-Peter Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007, S. 1-14, hier S. 6. Ernestus behauptet sogar, dass »die Verschärfung der weltpolitischen Lage in Folge der Anschläge vom Elften September« entschieden zur Politisierung des deutschsprachigen Gegenwartstheaters beigetragen hat. Ernestus: Von politischem Theater, S. 76. 61 Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, hier S. 42ff.
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den Humanwissenschaften gerichtet, die eine spürbare Rückkehr zum Realen sowie eine Entzauberung der durch das postmoderne Denken diagnostizierten Undurchschaubarkeit der Machtverhältnisse kennzeichnet. Vor diesem Hintergrund wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern der Elfte September als das ›Trauma des Denkens‹, das zugleich zum kunstvollen Faszinosum erklärt wurde, als ein ästhetischer Einschnitt – insbesondere für das deutschsprachige Theater und seine Texte – gelten kann. Das dritte Kapitel ist den Interdependenzen von Theater, Text und Politik gewidmet. Im ersten Schritt wird der Stellenwert des Theatertextes im Gegenwartstheater ermittelt sowie seine Devaluation im Rahmen des postdramatischen Modells kritisch beleuchtet. Im zweiten Schritt folgt ein kurzer Überblick über das Politikum des Theaters seit der Antike bis heute, der zum einen die Permanenz des Politischen in der Bühnenkunst, zum anderen die Heterogenität seiner Manifestationen veranschaulichen soll. Das darauffolgende Unterkapitel erörtert polemisch die durch das postdramatische Paradigma forcierte Politizität, die zwar für das Nachdenken über Theater anregend wirkt, aber durch die Verabsolutierung des einen Modells andere politisch fruchtbare Modi hegemonial diskreditiert. Das Kapitel schließen Überlegungen über die Funktion der Gewaltdarstellungen im Text und Theater, die in der Vorstellung einer politisch brisanten ›Gewalt des Textes‹ münden. Die Ausführungen schließt ein Exkurs über das Theater als mnemonisches Medium. Angesichts des Geschichtsschwunds in der deutschsprachigen Dramatik der Gegenwart wird auf die politische Potenz der den Theatertexten inkorporierten Geschichte im Sinne einer ›erinnerten Zukunft‹ verwiesen. Diese Brisanz wird am Beispiel eines Theatertextes, der die Geschichte in Szene setzt und das Dramatische restituiert, resümierend veranschaulicht.
2. Das Spektakel des Terrorismus
2.1 9/11
ALS
»T RAUMA DES D ENKENS «
In seinem Essay Der Kaiser ist nackt analysiert Peter von Becker 2008 das Politikum des (deutschsprachigen) Gegenwartstheaters bezeichnenderweise vor dem Hintergrund der Terroranschläge am 11. September 2001.1 Zu Beginn seiner Ausführungen unterstreicht der Kulturjournalist, dass »[k]ein Tag […] die Welt zuletzt tiefer verändert[e]« und dass seine militärischen Konsequenzen »einen politisch-kulturellen Ausnahmezustand« verursacht hätten.2 In der Tat wurde 9/11 als »Kultur-Schock«3 zum epochenmachenden Ereignis und zur wohl signifikantesten Zäsur in der jüngsten Zeitgeschichte, wofür ausdrücklich die immer wieder zitierte traumatisch-prophetische Formel »Es wird nichts mehr so sein, wie es war«4 steht. Zum Sinnbild der
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Im Folgenden wird für das Ereignis sein Datum in der amerikanischen Schreibweise (9/11) verwendet, was in der einschlägigen Literatur zum Thema üblich ist.
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Peter von Becker: Der Kaiser ist nackt. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschich-
3
Vgl. Matthias N. Lorenz: Nach den Bildern – 9/11 als »Kultur-Schock«. Vor-
te 42 (2008), S. 3-7, hier S. 3. wort, in: Matthias N. Lorenz (Hg.): Narrative des Entsetzens: künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004, S. 7-16. 4
So das Leitcredo der Schlagzeilen in der internationalen Presse am Tag nach den Anschlägen. Vgl. Michael C. Frank: Zur Karriere eines Topos in Politik, Me-
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Katastrophe und ihrer weltpolitischen Folgen wurden die einstürzenden Türme des den Weltkapitalismus symbolisierenden5 World Trade Centers, die auf realer wie symbolischer Ebene den friedlichen Fall der Berliner Mauer quasi-ersetzten, welcher als Quasi-Ikone der postkommunistische Wende-Epoche fungierte. So wie der Zusammenbruch des Kommunismus einschneidende politisch-ökonomische Umwälzungen mit sich brachte, die sich nicht nur auf den alten Kontinent beschränkten, sondern eine globale Dimension annahmen, zogen die Anschläge in New York und Washington gewaltige Konsequenzen nach sich. Alleine aus dem Grunde, dass den – pauschal betrachtet – gewaltfreien Mauerfall eine humanisierende Sprengkraft kennzeichnet, während dem blutigen 9/11 eine unvorstellbar traumatische Dimension anhaftet,6 sind die Folgen der beiden historischen Weltereignisse per se unvergleichbar. Nichtsdestotrotz lassen sich zwischen ihnen als Marksteinen der Geschichte und komplexer globaler Veränderungen gewisse Parallelen aufspüren,7 zumal beide eine allgemeine Unsicher-
dien und akademischem Diskurs, in: Ursula Hennigfeld, Stephan Packard (Hg.): Abschied von 9/11? Distanznahmen zur Katastrophe, Berlin 2013, S. 15-34. 5
Die enorme symbolische Dimension der beiden New Yorker Wolkenkratzer, die zum Ziel des spektakulären Terroranschlags wurden, unterstreicht Jean Baudrillard: »[D]ie beiden Türme sind gleichzeitig ein körperlicher, architektonischer und ein symbolischer Gegenstand (der die finanzielle Potenz und den globalen Liberalismus symbolisiert). Der architektonische Gegenstand wurde zerstört, aber man zielte auf den symbolischen: Diesem galt die Zerstörungsabsicht.« Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, Wien 2002, S. 41.
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9/11 als »The Spectacle of Trauma« analysiert u.a. Heide Reinhäckel: Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2012, hier insbesondere S. 56-69.
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Eine symbolische Parallele zwischen dem »Kollaps der kommunistischen Regime 1990 in Osteuropa« und 9/11 unterstreicht Slavoj Žižek: »An einem bestimmten Punkt begriffen die Menschen plötzlich, dass das Spiel vorbei war, dass die Kommunisten verloren hatten. Der Bruch war rein symbolisch; ›tatsächlich‹ änderte sich nichts – und dennoch war von diesem Moment an der finale Zusammenbruch der Regime bloß noch eine Frage der Zeit. […] Was wäre, wenn sich am 11. September etwas Ähnliches ereignet hat? Vielleicht war dann eine gewisse Figur des Großen Anderen das letztendliche Opfer des Einsturzes
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heit und konkrete politische Ängste auslösten und nicht zuletzt Gewaltwellen initiierten. Das Ende des Kalten Krieges und der Untergang des Ostblocks aktivierte den im Sozialismus unter dem Deckmantel internationalistischer Gleichheits- und Solidaritätsideen versteckten (ethnischen) Fremdenhass, der sich nunmehr in rassistischen bzw. neonazistischen Tendenzen entlarvte und in gewalttätigen Auseinandersetzungen eskalierte, wofür die Bürgerkriege in Jugoslawien (1991-1999), aber auch die Attentate von Hoyerswerda (1991) und Rostock (1993) Extrembeispiele liefern. Dagegen verursachten die Ereignisse von 9/11 eine pauschalisierende Stigmatisierung der islamischen Welt als die »Achse des Bösen« und zündeten den rücksichtslosen »War on Terror« an, dessen Brennpunkte der Afghanistanund Irakkrieg markieren. Die Entstehung der Organisation Islamischer Staat 2003 als Folge der amerikanischen Invasion im Nahen Osten und vor allem der Irak-Besatzung löste eine neue Gewaltwelle aus, die gegenwärtig im IS-Terrorismus eskaliert und einen immer höheren Tribut an Menschenleben fordert. Die Flüchtlingsmassen, die zur Zeit Europa überfluten, stoßen besonders in postsozialistischen Ländern auf rassistisch motivierte Abneigung, wodurch sich die Konsequenzen der beiden Ereignisse letztendlich verzahnen. Sowohl 9/11 als auch der Mauerfall wurden zu Signaturen radikaler geschichtlicher Umwälzungen, etablierten sich aber zugleich auch als kulturell-ästhetische Zäsuren.8 Während die politische Wende in Mittel- und Osteuropa neue Inhalte und Formen in künstlerischer Praxis nicht nur er-
des World Trade Centers: die amerikanische Sphäre.« Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien 2004, S. 54 (Hervorhebung im Original). 8
Für Wilfried Barner markieren die beiden Ereignisse »ein besonders ›langes‹ Jahrzehnt« für die deutsche Literaturgeschichte. Vgl. Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, zweite, erweiterte und aktualisierte Ausgabe, München 2006, S. 925. Mit 9/11 wurde im deutschsprachigen Pressefeuilleton nicht nur das Ende der »hedonistischen« Popkultur und -literatur verkündet, sondern analog dem ground zero sogar ein »Nullpunkt der Literatur« proklamiert. Vgl. Christoph Deupmann: Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001, Göttingen 2012, S. 393f.
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möglichte, sondern geradezu erzwang,9 beeinflusste 9/11 spezifische artistische Darstellungsmodi und avancierte zugleich als ein »punktuell datierbare[s] Trauma des Denkens« in der philosophischen und wissenschaftlichen Reflexion »zu einer epistemologischen Zäsur«.10 Das Verständnis von 9/11 als einer »kulturellen Zäsur« wurde von einer mittlerweile nicht mehr überschaubaren Publikationsflut, in der »theoretische Denkmodalitäten neu verhandelt«11 werden, belegt. Umstritten bleibt allerdings, ob wir es hier mit einem absoluten Einschnitt, der einen Paradigmenwechsel verursachte,12 zu tun haben, oder ob es sich dabei lediglich um eine politische, mediale und künstlerische Konstruktion handelt, die zur Legitimation unterschiedlicher – und vorwiegend machtpolitischer – Interessen instrumentalisiert wird.13 Auch wenn 9/11 »[k]ein Tag [war], der die
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Es wurde nicht nur zu bislang systempolitisch unerwünschten, tabuisierten oder verbotenen Inhalten und Formen gegriffen, sondern die neue politische Wirklichkeit generierte gesellschaftliche Phänomene von enormer Brisanz, die die Kunst geradezu herausforderten.
10 Thorsten Schüller: Kulturtheorien nach 9/11, in: Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. Septembers in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld 2009, S. 21-38, hier S. 21. 11 Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler: Vorwort, in: Poppe, Schüller, Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 7. 12 Diese These legt Schüller nahe, der in Anlehnung an Bachmann-Medick die Relation zwischen den »cultural turns« und den Anschlägen untersucht. Vgl. Schüller: Kulturtheorien. 13 Diese Instrumentalisierungsthese vertritt Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/Main 2003. Auch Žižek weist auf die Instrumentalisierung der Anschläge hin: »Der 11. September wird bereits für ideologische Zwecke in Beschlag genommen: von der Behauptung der Massenmedien, dass Antiglobalisierung nun kein Thema mehr sein könne, bis hin zur Vorstellung, der Schock der Anschläge enthülle den substanzlosen Charakter der postmodernen Cultural Studies, ihren Verlust des Kontakts zum ›wirklichen Leben‹. […] Es ist wahr, dass der relativ oberflächliche Charakter der kritischen Standartthemen in den Cultural Studies enthüllt wurde: Was ist eine politisch unkorrekte Äußerung mit möglicherweise rassistischen Untertönen, verglichen mit dem qualvollen Tod von Tausenden? Das ist das Dilemma der Cultural Studies:
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Welt veränderte«14, hat er nicht nur deutliche real-materielle, sondern auch gedankliche Spuren hinterlassen. Folgt man den unzähligen Analysen und Statements zu diesem Ereignis seitens Intellektueller jeglicher Provenienz,15 wird seine immense Gewichtigkeit allein in der Tatsache ersichtlich, dass nach einer weitgehenden Entsubjektivierung des Menschen und der Abstrahierung des Lebens im postmodernen Denken, das den Menschen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« verschwinden lässt,16 gerade das ›Menschengesicht‹ aus Schutt und Asche der Katastrophe ausgegraben und angesichts der Erfahrung von physischer Gewalt die menschliche Verletzbarkeit statt seiner diskursiven Formierung zunehmend verhandelt wird.17
Bleiben sie weiterhin ihren Themen verhaftet, mit dem Bekenntnis, dass ihr Kampf gegen Unterdrückung ein Kampf innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Systems der Ersten Welt ist – was, in dem weitergefassten Kontext des Konflikts zwischen der westlichen Ersten Welt und ihrer Bedrohung von außen, zugleich bedeuten würde, erneut die Treue zum liberal-demokratischen System Amerikas zu bekunden? Oder werden sie den Schritt riskieren, ihre kritische Haltung zu radikalisieren? Werden sie das System selbst in Frage stellen?« Žižek: Willkommen, S. 55. 14 So die Leitthese des Bandes von Michael Butter, Birte Christ, Patrick Keller (Hg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte, Paderborn 2012. Eine kulturellen Distanzierung zur Sprengkraft von 9/11 konstatieren auch Ursula Hennigfeld, Stephan Packard (Hg.): Abschied von 9/11? Distanznahmen zur Katastrophe, Berlin 2013. 15 Fast alle renommierten Intellektuellen sowie Künstler in Europa und den USA haben sich in der einen oder anderen Weise zu den Attentaten öffentlich geäußert. Vgl. den enzyklopädischen Überblick von Peter Moser: Der 11. September und die Philosophen. Stellungnahmen von Philosophen in deutschen Medien, in: Information Philosophie, H. 5 (Dezember 2001), S. 16-21 sowie den Band von Heinz Peter Schwerfel (Hg.): Kunst nach Ground Zero, Köln 2002. 16 Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 1974, S. 462. 17 Dies betrifft sowohl die Opfer als auch die Täter, was Boris Groys in seiner gespenstisch-grotesken Analyse provokativ zum Ausdruck brachte: »Wir schauen gebannt auf ihre Porträts [d.h. der Attentäter – A.P.] und denken über die Gründe ihres Handelns nach. Wir versuchen uns geistig in sie hineinzuversetzen – und zu erraten, was hinter ihren Gesichtern verborgen sein mag. Und die Angst, die wir dabei empfinden – die Angst, definitiv konsumiert zu werden – ist be-
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Symptomatisch in dieser Hinsicht sind Ausführungen von Jacques Derrida, der in seinem Buch Schurken die weltpolitischen Konsequenzen von 9/11 hinsichtlich der nationalstaatlichen Souveränität überdenkt. Der Titel geht auf die von der amerikanischen Regierung unter George W. Bush eingeführte Kategorie der Schurkenstaaten (rogue states) zurück, mit der pauschal alle diktatorisch regierten und den Terrorismus unterstützenden Länder stigmatisiert wurden. Die Genealogie des Begriffs verbindet Derrida bezeichnenderweise nicht mit 9/11, sondern mit dem Ende des Kalten Krieges.18 Laut ihm hat 9/11 die »Epoche der Schurkenstaaten«19 nicht initiiert, sondern genau umgekehrt »das Ende dieser Epoche […] besiegelt«20, einerseits weil die USA durch ihre militärischen Angriffe selbst zu einem »Schurken« geworden sind,21 andererseits weil »die absolute Bedrohung nicht mehr in staatlicher Gestalt auftritt«22, so dass der Terrorismus sich nicht mehr mit einem Staat verbinden lässt.23 Auf diese Weise entdämonisiert Derrida den Terror als Instrument intransparenter Kräfte und verleiht dem Unmenschlichen ein menschliches Gesicht, und zwar das Gesicht eines Durchschnittsmenschen.24 Das Menschliche krönt auch Derridas Ana-
kanntlich ebenfalls ein konstitutiver Teil einer jeden Liebesgeschichte.« Boris Groys: Szenen einer Liebesbeziehung, in: Schnitt 28 (2002), S. 94. 18 »Sehr bald nach dem Einsturz der Sowjetunion (›Einsturz‹ deshalb, weil darin eine der Voraussetzungen, eine erste Wendung der Ereignisse lag, die zum Einsturz der beiden Türme führten), begann Clinton ab 1993 […] mit der Politik der Repressalien und Sanktionen gegen die Schurkenstaaten.« Derrida: Schurken, S. 145. 19 Derrida: Schurken, S. 135. 20 Derrida: Schurken, S. 145. 21 In Anlehnung an die Argumentation Noam Chomskys (The Attack. Hintergründe und Folgen, Hamburg, Wien 2002) betont Derrida, »dass der schurkischste der Schurkenstaaten ebenderjenige ist, der einen Begriff wie den des Schurkenstaates folgenreich in Umlauf gebracht hat.« Derrida: Schurken, S. 136. 22 Derrida: Schurken, S. 147. 23 Der Terrorismus verliert nach Derrida »seine Triftigkeit, weil er […] mit Auseinandersetzungen [verbunden war], die immer um einen Staat, in dessen Horizont und auf dessen Boden geführt wurden.« Derrida: Schurken, S. 149. 24 »Die ›Terroristen‹ sind manchmal amerikanische Staatsbürger, und die des 11. September waren es wohl mit Gewissheit.« Derrida: Schurken, S. 64.
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lyse in Form einer Wunschvorstellung von einer grundsätzlichen politischen Umwälzung. Er beharrt mit ethischer Forderung auf eine »kommende Demokratie«, die er als eine »weltweite, internationale, zwischenstaatliche und vor allem überstaatliche Demokratisierung«25 definiert. Diese globale Demokratie sollte im Begriff sein, die Differenz zwischen den vermeintlich Guten und Bösen zu nivellieren und von einem Solidaritätsanspruch geleitet sein. Dabei verurteilt der Denker die bis jetzt herrschenden »Diskurse über Menschenrechte und Demokratie«, da sie zum obszönen Alibi verkommen, wenn sie sich mit dem entsetzlichen Elend von Milliarden Sterblicher abfinden, die der Unterernährung, Krankheit und Erniedrigung preisgegeben sind, die nicht nur in erheblichem Maße Wasser und Brot, sondern auch Gleichheit und Freiheit entbehren.26
Der falschen Humanität sowie der Spirale von Aggressionen setzt Derrida eine Intervention als Desiderat entgegen, die sich nicht nur im »unbedingte[n] Mitgefühl«27 für die Opfer der Anschläge, sondern auch in der Vermeidung einseitiger Schuldzuweisungen und der Polarisierung zwischen Gut und Böse manifestieren soll.28 Ein ähnlicher ethischer Impuls begleitet auch Slavoj Žižeks Deutung von 9/11.29 Wie Derrida bekundet er sein solidarisches Mitleid jenseits von Funktionalisierungen, Schuldzuschreibungen und Vergeltungsgedanken: »Die einzig angemessene Haltung ist die bedingungslose Solidarität mit allen Opfern. Anderenfalls wird die richtige moralische Haltung von einer moralisierender Mathematik von Schuld und Schrecken ersetzt«30. Žižek
25 Derrida: Schurken, S. 115. 26 Derrida: Schurken, S. 123. 27 So Derrida in der Rede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises am 22.09.2001 in Frankfurt am Main, in: Jacques Derrida: Fichus. Frankfurter Rede, Wien 2003, S. 37. 28 Diese Polarisierung meidet Derrida kategorisch: »Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemanden.« Derrida: Fichus, S. 37. 29 Er beruft sich auch direkt auf Derridas Rede. Vgl. Žižek: Willkommen, S. 64. 30 Žižek: Willkommen, S. 58 (Hervorhebung im Original).
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kritisiert dabei die Rolle Amerikas als »Weltpolizisten«31 und macht für die Anschläge »den Zusammenstoß der ökonomischen […] und der geopolitischen Interessen der USA«32 sowie die »Antagonismen des globalen Kapitalismus«33 verantwortlich, womit die ominöse Phrase »nichts mehr wird so sein wie vorher« als »leere Geste«34 entlarvt wird. Dabei relativiert er gewissermaßen das Umwälzungspotential und die Tragweite der Anschläge, zugleich aber betont er die wuchtige und in doppelter Hinsicht symbolische Dimension von 9/11. Zum einen wird das Ereignis – gekoppelt mit dem Ende des Kommunismus – als ein insignifikantes Zeichen des Anfangs vom Ende antizipiert, zum anderen als eine symbolische Zerstörung des symbolischen Universums der westlichen Kultur, wofür suggestiv der Titel seines Buches Willkommen in der Wüste des Realen steht, der Larry und Andy Wachowskis Film The Matrix (1999) zitiert.35 Die virtuelle Matrix der abendländischen Kultur samt ihren medialen Phantasmen wird, zumindest für die New Yorker, die die »Wüste des Realen« erleben,36 zur Wirklichkeit:
31 Žižek: Willkommen, S. 56: »Amerika sollte sich bescheiden, die eigene Verwundbarkeit als Teil dieser Welt zu akzeptieren und die Bestrafung der Verantwortlichen als traurige Pflicht, nicht als anregende Vergeltung auf sich zu nehmen – stattdessen aber bekommen wir die gewaltsame Wideraufnahme der amerikanischen Ausnahmerolle des Weltpolizisten; als wäre der Grund der Abneigung gegen die USA nicht das Übermaß an Macht, sondern ihr Mangel.« 32 Žižek: Willkommen, S. 49. 33 Žižek: Willkommen, S. 55f. 34 Žižek: Willkommen, S. 53. 35 Der Filmheld Morpheus, der mit einer Gruppe von Verbrüderten gegen die Herrschaft der Maschinen und der virtuellen Realität rebelliert, begrüßt mit »Welcome to the desert oft the real!« den aus dem Cyberspace befreiten Helden Neo. Vgl. Žižek: Willkommen, S. 23. 36 Žižek unterscheidet deutlich zwischen dem traumatischen Erlebnis der Einwohner von New York und denen, die »von Hollywood verdorben, […] in den Bildern der zusammenklappenden Türme nichts anderes als Reminiszenzen an die atemberaubendsten Szenen der Katastrophenfilme zu sehen [vermochten].« Žižek: Willkommen, S. 23.
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Vor dem Zusammenbruch des Word Trade Center lebten wir in unserer Realität mit der Auffassung, dass der Horror der Dritten Welt nicht Teil unserer sozialen Wirklichkeit ist, sondern (für uns) als geisterhafte Erscheinung auf dem (Fernseh-) Bildschirm existiert – doch am 11. September geschah es, dass diese phantasmagorische Bildschirmerscheinung in unsere Realität eindrang. Nicht die Realität fand Eingang in unser Bild: das Bild drang ein und zerstörte unsere Realität.37
Auf diese Art und Weise werden die Vereinigten Staaten von einer monströsen Gewalt eingeholt, die sie selbst als mediale Repräsentation produziert haben. Die Horrorszenarien der Hollywoodfilme, die in der ganzen Welt perpetuiert werden, kehrten an ihren Ausgang mit einem brutalen Potential des Faktischen zurück. Mit einem nicht weniger kritischen Duktus, obwohl mit einer ganz anderen Perspektive analysiert Judith Butler die Ursachen und Folgen von 9/11. In ihren Aufsätzen, die unter dem signifikanten Titel Gefährdetes Leben versammelt sind, plädiert die Autorin für eine »gewaltfreie Ethik«, die »auf einem Verständnis davon aufbaut, wie leicht ein Menschenleben ausgelöscht werden kann«38. Die Ausführungen Butlers, die ein feministischer und körperpolitischer Fokus auszeichnet, gründen auf der Bedrohung des menschlichen Lebens durch seine Verwundbarkeit:
37 Žižek: Willkommen, S. 24. Im Sinne Žižeks bewertet die Ereignisse die Kunstkritikerin Silke Müller: »Am 11. September 2001 ist kein Krieg der Kulturen ausgebrochen und auch kein Anschlag auf die gesamte westliche Welt verübt worden, sondern Mitglieder einer terroristischen Vereinigung haben mindestens 3000 Menschen umgebracht, indem sie ein Symbol US-amerikanischen Selbstverständnisses medienwirksam vernichteten. Die Inszenierung des Anschlags verdeutlicht jedoch noch einen weiteren, auf anderer Ebene gewalttätigen Akt: Die Terroristen haben sich der Bilder bemächtigt. Sie haben ihre nihilistische Botschaft in einer bildhaften Sprache inszeniert und gleichzeitig den Bildern die brutale Macht des Faktischen zurückgegeben. Die von den Fernsehsendern in Schleife eingespielten Filmsequenzen der einstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center und des brennenden Pentagons wurden zum Bestandteil des Anschlags.« Silke Müller: Der Streik der Ereignisse, in: Schwerfel: Ground Zero, S. 43-50, hier S. 43. 38 Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/Main 2005, S. 13.
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[J]ede (jeder) einzelne von uns [ist] zum Teil aufgrund der sozialen Verwundbarkeit unserer Körper politisch verfaßt […] – als ein Ort des Begehrens und der physischen Verwundbarkeit, als Ort einer öffentlichen Aufmerksamkeit, der durch Selbstbehauptung und Ungeschütztheit zugleich charakterisiert ist. Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar daraus, daß wir sozial verfaßte Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit.39
Das Bewusstsein dieses grundlegenden Gefährdetseins konstituiert nach Butler unser Selbst, das durch äußere Faktoren bedingt ist, »weil wir in einer Welt von Wesen leben, die per definitionem physisch voneinander abhängig sind und wechselseitig physisch verletzbar sind«40. Vor diesem ethischen Hintergrund kritisiert Butler auch den Trauerdiskurs nach 9/11, der sich einer Erzählung in der ersten Person Plural bedient und die imperialistische Gewalt-Politik der USA als Vorgeschichte der Anschläge tilgt. Mit dieser Erzählung, die die USA als Nationalkollektiv rezentriert, »[soll] die tiefe narzisstische Wunde kompensiert werden […], die durch das öffentliche Sichtbarmachen unserer physischen Verwundbarkeit geschlagen wurde.«41 Die »große Trauer« sei nicht »entpolitisierend«, sondern sie bringe ganz im Gegenteil eine politische Gemeinschaft hervor, die letztlich eine »Knechtschaft«42 bedeute. Stattdessen postuliert die Philosophin eine andere Verbundenheit, in der die Trauer produktiv zur tiefgreifenden Reflexion und zum Verständnis dessen führen würde, warum »bestimmte Menschenleben verletzbarer sind als andere und demzufolge auch betrauernswerter«43. Dieses Überdenken – als »Aufstand auf der Ebene der Ontologie«44 – sollte sich auf Fragen nach dem Realen konzentrieren (»Was ist real? Wessen Leben ist real? Wie ließe sich die Realität neu gestalten?«45), denn die Dehumanisierung beginnt mit dem UnwirklichMachen der Menschen: »Wenn Gewalt gegen diejenigen verübt wird, die
39 Butler: Gefährdetes Leben, S. 37. 40 Butler: Gefährdetes Leben, S. 44. 41 Butler: Gefährdetes Leben, S. 23. 42 Butler: Gefährdetes Leben, S. 40. 43 Butler: Gefährdetes Leben, S. 47. 44 Butler: Gefährdetes Leben, S. 50. 45 Butler: Gefährdetes Leben, S. 50.
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unwirklich sind, dann kann die Gewalt aus ihrer Perspektive deren Leben weder verletzen noch negieren, weil diese Menschenleben bereits negiert sind«46. Die Negation hat zur Folge, dass die betroffenen Menschen nicht erinnerbar und nicht betrauernswert sind. Bei dem Diskurs der Entmenschlichung handle es sich nicht darum, dass die Gewalt das vollzieht, was der Diskurs bereits legitimiert, sondern das ein anderer Diskurs – durch Verbot und Verwerfung – verweigert wird, was eine weitgehende Dehumanisierung zur Folge habe.47 Dieser Verweigerung widersetzt sich das Bewusstsein der Gefährdetheit des Lebens aller Menschen, der »›gemeinsamen‹ körperlichen Verletzbarkeit«, was Butler zu einem ethischen Postulat erhebt. Die Verletzbarkeit kann zur »Vorbedingung für die Vermenschlichung« nur dann werden, wenn sie anerkannt wird, bzw. sie wird durch die Anerkennung, die von bestimmten Normen abhängig ist, erst konstituiert. Die Etablierung entsprechender Normen, »die Macht, Bedeutung und Struktur der Verletzbarkeit«48 ändern, gilt daher als eigentliches Postulat Butlers. Ähnlich wie bei Derrida, der die ›kommende Demokratie‹ heraufbeschwört, führen Butlers Reflexionen »zum Menschlichen«49, das sich im Projekt einer »empfundenen Demokratie«50 manifestiert. Viel radikaler als Butler, Derrida und Žižek lastet Jean Baudrillard den USA die Terroranschläge 9/11 an, indem er die Vereinigten Staaten als
46 Butler: Gefährdetes Leben, S. 50. 47 Vgl. Butler: Gefährdetes Leben, S. 53f. Dies geht mit Butlers Unterscheidung zwischen »Prekarität« und »Prekarisierung« einher. Während die ›Prekarität‹ eine konstitutive Bedingung von Lebendig-Sein ist, zielt die ›Prekarisierung‹ auf einen politisch zu verantwortenden Zustand der Gefährdung bestimmter Bevölkerungsgruppen als Praxis ihres Ausschlusses. Vgl. Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/Main, New York 2010. 48 Butler: Gefährdetes Leben, S. 61. 49 Butler: Gefährdetes Leben, S. 67. Allerdings impliziert das »Menschliche« für Butler nicht »das Insistieren auf dem Subjekt als einer Vorbedingung für politische Handlungsfähigkeit« (ebd.), nichtsdestotrotz ruft sie jenseits »unvereinbarer erkenntnistheoretischer und politischer Überzeugungen« zum solidarischen »Aktivismus« auf. Vgl Butler: Gefährdetes Leben, S. 66. 50 Butler: Gefährdetes Leben, S. 177.
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»Komplizin ihrer eigenen Zerstörung«51 entlarvt. Als »Supermacht« – unterstreicht Baudrillard – haben sie »nicht nur all diese Gewalt geschürt, von der die Welt erfüllt ist, sondern – ohne es zu wissen – auch jene terroristische Imagination, die in uns allen wohnt.«52 In dieser Hinsicht markiert 9/11 einen epochalen Einschnitt; eine Form der »Maximalhypothese«, die »die maximale Wucht des Ereignisses hervorhebt« und dem der Philosoph die »Nullhypothese« gegenüberstellt, die besagt, es sei »eigentlich nichts passiert […] nur ein Unfall, ein kleiner Zwischenfall auf dem Weg zur ohnehin unvermeidlichen Globalisierung«53. Die Anschläge mutieren dabei zu einem »Vierten Weltkrieg«, »der als einziger wirklich global ist, da in ihm die Globalisierung selbst auf dem Spiel steht.«54 Darüber hinaus wird dem Ereignis eine radikale Veränderung der Relation von medial vermittelten Bildern und konkreter Referenz zugeschrieben. Die Sintflut der Bilder in dem durch die Massenmedien beherrschten Zeitalter führte nach Baudrillard zu einer »grenzenlose[n] Indifferenz gegenüber der realen Welt«55. Diese Gleichgültigkeit, die aus dem Verschwimmen von Wirklichkeit, Repräsentation und Manipulation resultierte, wandelt sich mit 9/11 in ein neues Bewusstsein um: Die Ereignisse von New York haben nicht nur die globale Situation, sondern auch das Verhältnis von Bild und Realität radikalisiert. Während wir es mit einer ununterbrochenen Flut von banalen Bildern und Scheinereignissen zu tun hatten, erweckt der Terrorakt von New York sowohl das Bild als auch das Ereignis zu neuem Leben.56
Anders als Žižek verkündet Baudrillard den Einbruch der Wirklichkeit in die indifferente Virtualität. Das, was ein Durchbrechen der medialen Verblendung in der omnipotenten und -präsenten Hyperrealität suggeriert und eine gesellschaftspolitische Relevanz des Ereignisses verspricht, erweist sich letztendlich nur als Schein:
51 Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, Wien 2002, S. 13. 52 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 12. 53 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 65. 54 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 17. 55 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 45. 56 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 29.
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Das Spektakel des Terrorismus zwingt uns den Terrorismus des Spektakels auf. Und gegen diese unmoralische Faszination (selbst wenn sie eine universelle moralische Faszination auslöst) ist die politische Ordnung machtlos. Es ist unser Theater der Grausamkeit, das einzige, was uns bleibt.57
Baudrillards höchst umstrittene58 Diagnose mündet zwar in einer »katastrophischen« Vision59, doch seine bewusste Selbstpositionierung »jenseits von Gut und Böse«60 ist keineswegs auf einen nihilistischen Gestus reduzierbar, sondern hinterfragt radikal und provokativ die Omnipotenz der Hyperrealität, die mit der Globalisierung kollaboriert. Was an den Ausführungen Baudrillards auffällt, ist ein starker Zugriff auf ein theatrales Vokabular: Der Terrorismus wird für ihn zum ›Spektakel‹ in einer Wirklichkeit, die zu einem ›Theater der Grausamkeit‹ mutiert.61 Mit dieser Rhetorik wird nicht nur wiederholt und verstärkt die »Agonie des Realen«62 heraufbeschworen, sondern werden zwei andere relevante Phänomene indirekt aufgegriffen. Zum einen korrespondiert das Spektakelhafte des Terrorismus mit der fortschreitenden Theatralisierung des politi-
57 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 75. 58 Baudrillard wird gefährliche Kulturkritik und Verblendung durch den neuen Terrorismus und das Fehlen jeder ethischer Perspektive vorgeworfen, vgl. Andreas Hetzel: Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September, in: Lorenz: Narrative des Entsetzens, S. 267-286, hier S. 271-276. 59 Vgl. Jean Baudrillard im Gespräch mit Peter Engelmann, in: Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 79-95, hier S. 95. 60 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 18. 61 Signifikanterweise bedienen sich auch die übrigen Theoretiker einer ähnlichen Rhetorik, so verleiht auch Derrida dem 9/11 das Attribut »theatralisch« (Derrida: Schurken, S. 145) und Žižek spricht in diesem Kontext von einer »gespenstische[n] Show« (Žižek: Willkommen, S. 56). 62 So der Titel eines seiner zahlreichen Bücher (vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1987). Baudrillards Simulationstheorie verkündet seit 1980er Jahre eine katastrophische Diagnose der postindustriellen Gesellschaft, in der sich alles Lebendige in der virtuellen Realität auflöst.
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schen Geschehens,63 zum anderen wird hier das Problem der ästhetischen Affirmation von realer Gewalt angesprochen, die im Kontext von 9/11 verstärkt zum Ausdruck kam und eine heftige Diskussion über die Verantwortung von Kulturschaffenden entzündete, die anscheinend noch nicht abgeschlossen ist. Eine Woche nach den Anschlägen bezeichnete der Komponist Karlheinz Stockhausen in einem Interview für den Norddeutschen Rundfunk das einstürzende WTC als »das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat«.64 Knapp zehn Jahre später sprach der Maler Anselm Kiefer in seiner Vorlesung am renommierten Collège de France vom »perfekteste[n] Bild […], das wir seit den Schritten des ersten Mannes auf dem Mond gesehen haben.«65 Vor dem Hintergrund mannigfaltiger intellektueller Reaktionen auf die verheerenden Anschläge gehören die höchstkontroversen Aussagen von
63 Zur Theatralisierung der Wirklichkeit vgl. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung, in: Erika Fischer-Lichte, Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel 2000, S. 11-27. 64 Zit. nach: Christel Fricke: Kunst und Öffentlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Reflexion über die Terrorattacken auf das Word Trade Center in New York am 11. September 2001, in: Ursula Franke, Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie. Positionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2003, S. 1-18, hier S. 3. 65 Lena Bopp: Anselm Kiefer am Collège de France – Bin Ladin – eine KunstPerformance?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.02.2011. Bopp kommentiert in demselben Artikel die Aussage des Künstlers folgendermaßen: »Denn für Kiefer erfüllen die Bilder des 11. September alle Parameter der Kunst, als da seien: Schönheit, ein einzigartiger Charakter, Einfachheit, Homogenität und Vieldeutigkeit, die Interaktion mit dem Betrachter und zu guter Letzt auch die Provokation.« Nach einem Medienskandal versuchte Kiefer seine Aussage mit dem Argument zu rechtfertigen, »es gibt schreckliche Bilder, die gleichzeitig schön sind.« Anselm Kiefer, Matthias Döpfner, Manfred Bissinger: Kunst und Leben, Mythen und Tod. Ein Streitgespräch, in: Manfred Bissinger: Kunst und Leben, Mythen und Tod. Ein Streitgespräch, Berlin 2012, S. 13-94, hier S. 20. Vgl. auch Christoph auf der Horst: Das Erhabene und die reale Gewalt – Eine Einleitung, in: Christoph auf der Horst (Hg.): Ästhetik und Gewalt. Physische Gewalt zwischen künstlerischer Darstellung und theoretischer Reflexion, Göttingen 2013, S. 9-18.
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Stockhausen und Kiefer zu extremen Positionen, aber selbst als Ausnahmefälle bestätigen sie die Regel, dass die künstlerische Szene in Bezug auf die tragischen Ereignisse polarisiert ist. Während viele Kunstschaffende auf diese neue Dimension von Gewalt spontan mit ihren Werken reagierten, distanzierten sich andere von dem Ereignis im Namen einer Autonomie der Kunst der außerkünstlerischen Realität gegenüber. Stellvertretend für die Distanznahme kann die Aussage des französischen Kunstkritikers Éric Troncy angeführt werden, der sich mit einem nicht unprovokativen Ton zu den künstlerischen Reaktionen auf 9/11 folgendermaßen äußerte: Es gibt keinerlei Anlass für die Kunst, sich mit den Anschlägen gegen die Türme des World Trade Center zu befassen, denn Kunst beschäftigt sich nur selten mit tragischen Ereignissen der zeitgenössischen Welt – was im Übrigen auch nicht zwingend zu ihren Aufgaben gehört.66
Troncys Statement wirft die ewige und scheinbar nicht eindeutig beantwortbare Frage nach dem Politischen der Kunst auf. Dabei scheint es ihm weniger um eine Banalisierung der New Yorker Tragödie zu gehen, sondern um eine Hierarchisierung der Ereignisse, durch die andere Zustände letztlich verharmlost werden. So setzt er weiter mit der Frage fort, ob die Kunst von 9/11 stärker betroffen sei als von Bombenanschlägen in der Pariser Metro oder dem Schicksal der Kinder, die in asiatischen Ländern NikeSportschuhe zusammennähen.67 Generell betrachtet lassen sich die künstlerischen Reaktionen auf 9/11 auf keinen gemeinsamen Nenner bringen, auch wenn ihnen eine spürbare Überforderung angesichts der totalen und globalisierten Gewalt sowie angesichts der Gewichtung der mit ihr verbundenen Betroffenheit anhaftet. Der gegenwärtige Massenexodus aus den von Terrorismus geplagten Gebieten Afrikas und des Nahen Ostens verkompliziert die Sachlage, zumal seine Opfer hinsichtlich der neuen Welle des Terrors in Europa zunehmend schuldig gesprochen werden, was die Anschläge am 13. November 2015 in Paris und am 22. März 2016 in Brüssel spektakulär gezeigt haben.
66 Éric Troncy: »Es gibt keinerlei Anlass für die Kunst, sich mit den Anschlägen gegen die Türme des World Trade Center zu befassen«, in: Schwerfel: Ground Zero, S. 152-158, hier S. 153. 67 Vgl. Troncy: »Es gibt keinerlei Anlass…«, S. 153f.
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2.2 9/11 ALS (THEATER-)ÄSTHETISCHE ZÄSUR? Trotz mannigfaltiger kunsttheoretischer Kontroversen rief die Spektakularität von 9/11 eine Welle von künstlerischen Reaktionen68 hervor, die selbstverständlich am intensivsten in den Vereinigten Staaten geäußert wurden. Dies betrifft auch den amerikanischen Theaterbereich und vor allem seine Off-Szene, für die der 11/9 zu einem deutlichen Einschnitt wurde, der dazu führte, dass »[sich] das amerikanische Theater« – wie Anneka Esch-van Kan überzeugt – »nachhaltig gewandelt [hat]«69. Nach der ersten Phase, in der Theaterstücke und Aufführungen entstanden, die Zeugenschaft ablegten, auf Authentizität beharrten und die Bühne zu einem Ort der Erinnerung und der kollektiven Trauer machten, folgten Theaterprojekte, die sich der Fiktion bedienten und sich kritisch mit der politischen Instrumentalisierung von 9/11 sowie der US-amerikanischen Politik auseinandersetzten. Diesen Prozess beschreibt Esch-van Kann als eine ikonische Wende, in der sich 9/11 »als visuelle Chiffre, als ein Bild der zusammenstürzenden Türme […] nach einem verhältnismäßig kurzen Moment der Andacht metaphorisch in Bilder der politischen Folgen und Kriege verwandelt«70. Generell betrachtet wurde 9/11 zweifellos zu einer »ästhetischen Herausforderung«71, die das Theater geradezu überforderte bzw. es in eine
68 Vgl. detaillierte Beiträge zu Fotografie, Film, Comic, bildender Kunst und Literatur in: Lorenz: Narrative des Entsetzens sowie in: Poppe, Schüller, Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Zur Literarisierung des Ereignisses vgl. Deupmann: Ereignisgeschichten, S. 392-428 und speziell zur deutschen Literatur: Reinhäckel: Traumatische Texturen, S. 71-160. 69 Anneka Esch-van Kann: Der 11. September und das amerikanische Theater, in: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.): Nine eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg 2008, S. 127-142, hier S. 142. Vgl. auch Anneka Esch-van Kann: Ein-Brüche/Trotz allem. Zur »Politik der Bilder« im amerikanischen Theater seit dem 11. September 2001, in: Poppe, Schüller, Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 259-278 sowie Robert Brustein: Theater after 9/11, in: Ann Keniston, Jeanne Follansbee Quinn (Hg.): Literature after 9/11, New York, London 2008, S. 242-245. 70 Esch-van Kann: Der 11. September, S. 142. 71 Vgl. Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen: Einleitung, in: Irsigler, Jürgensen (Hg.): Nine eleven, S. 9-14, hier S. 10.
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»aggressive Ratlosigkeit«72 versetzte. In seiner bündigen Darstellung des breiten Panoramas von theatralen 9/11-Verarbeitungen in den USA und Europa resümiert Walter Uka: Der Terror gegen die Weltmacht USA ist kein Stoff, über den sich in der Tradition Lessings und Schillers moralische Belehrungen erteilen ließen. Die Formen, die das aktuelle Theater bisher für eine ästhetische Bewältigung des realen Schreckens hervorgebracht hat, sind ehrliche und hilflose, wütende und zynische, überdrehte und persiflierende Stücke, in denen sich die große Katastrophe in ›kleinen‹ Beziehungsdramen spiegelt, die Unübersichtlichkeit der medial vermittelten Lebenswelten zu Beginn des 21. Jahrhunderts lustvoll inszeniert wird und immer wieder der Diskurs um die Wirkungsmacht der Kunst aufscheint.73
Eine ähnliche Diagnose stellt auch Tom Kindt, der sich gezielt den Repräsentationen von 9/11 im deutschsprachigen Drama nähert. Kindt konstatiert nicht ohne Erstaunen, dass das Ereignis im Theater – verglichen mit anderen Kunstbereichen – kaum Spuren hinterlassen habe.74 Seine skizzenhafte Erkundung widmet sich drei Theatertexten als »Ausnahmen von der […] Regel«75, für die als ordnende Modi entsprechende interpretatorische Signaturen eingeführt werden: »anthropologisch« (für Werner Fritschs Hydra Krieg. Traumspiel), »psychologisch« (für Carsten Brandaus Wir sind nicht das Ende) und »kaleidoskopisch« (für Ralf-G. Krolkiewicz’ abu dhabi oder der erste apokalyptische Tag). Anhand der eher kargen Analysen zieht
72 So bezeichnet Jordan Meijas die Versuche der theatralen Bewältigung von 9/11 und setzt damit im Endeffekt den ästhetischen Wert entsprechender künstlerischer Bemühungen herab. Vgl. Jordan Meijas: Und zum Nachtische einen Terroristen. Schreckensgrütze mit Vanillesauce: Die fortgesetzten Mühen des amerikanischen Theaters mit dem 11. September, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.11.2003. 73 Walter Uka: Der 11. September auf dem Theater. Betroffenheit, Zynismus, stumme Bilder und lärmende Absurdität, in: Lorenz (Hg.): Narrative des Entsetzens, S. 151-160, hier S. 151. 74 Vgl. Tom Kindt: Bleibt alles anders, wird alles gleich. Der 11. September im deutschsprachigen Drama, in: Irsigler, Jürgensen (Hg.): Nine eleven, S. 117126, hier S. 117. 75 Vgl. Kindt: Bleibt alles anders, S. 118.
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Kindt das Fazit von einer »poetologische[n] Folgenlosigkeit«76 des Anschlags auf das WTC für die Theaterautoren im deutschsprachigen Raum.77 Der Kurzschluss von epochalen Ereignissen mit poetologischen Folgen, der Kindts Aufsatz als Impuls zur entsprechenden Spurensuche in puncto 9/11 zugrunde liegt, leuchtet ein. Die Dramengeschichte kennt viele Fälle, in denen die politische Wirklichkeit mit ihren einschneidenden Ereignissen neue Poetiken erzeugt, ja erzwungen hat. Für solch eine Relation zwischen Politik und Theater im 20. Jahrhundert können sowohl das politische Theater Erwin Piscators als auch das Dokumentardrama der 1960er als Paradebeispiele gelten: das erste als Reaktion auf die Konsequenzen des 1. Weltkrieges und die Zustände in der Weimarer Republik, das zweite als eine Abrechnung mit der Barbarei des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges sowie mit dem neuen Imperialismus und dem Vietnam-Krieg. Der Unterschied zu 9/11 liegt darin, dass Theatertexte, die von den obigen Ereignissen provoziert wurden, direkte Interventionen im Sinne eines politisch engagierten und aktiven Theaters mit einem klaren Ziel und klarer Frontenbildung waren. Im Falle der Terroranschläge 9/11 verschwimmen diese Kriterien, denn ihre Genese und Folgen werden – auch wenn man die Angriffe allgemein als barbarische Akte anprangert – sehr gespalten beurteilt, was in erster Linie mit dem ambivalenten Amerikadiskurs zusammenhängt.78 Darüber hinaus müssten die theatralen Reaktionen auf 9/11 im äußerst relevanten Kontext einer Entpolitisierung des Theaters bzw. einer Verwandlung der Kategorie des Politischen, die sich seit mindestens zwei
76 Kindt: Bleibt alles anders, S. 126. 77 Der Befund einer »Zäsur ohne Konsequenzen« veranlasst Kindt abschließend dazu, die »allzu steilen kulturphilosophischen Interpretationen der Ereignisse des 11. September mit Skepsis zu begegnen.« Kindt: Bleibt alles anders, S. 126. 78 Vgl. Reinhäckel: Traumatische Texturen, S. 37 sowie Alexander Stephan: Vom Antiamerikanismus zum Systemkonflikt. Deutsche Intellektuelle und ihr Verhältnis zu den USA, in: Jochen Vogt, Alexander Stephan (Hg.): Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, München 2006. In diesem Kontext spricht Gumbrecht von »zwei Arten von Fundamentalismus [auf beiden Seiten des Atlantiks], welche beide in Anspruch nehmen, die normative Wirklichkeit des Westens zu sein.« Hans Ulrich Gumbrecht: Freunde Amerikas, in: Literaturen 7/8 (2006), S. 18-22, S. 22.
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Dekaden vollzieht, gesehen werden, wovon in den nächsten Kapiteln ausführlicher die Rede sein wird. Im Allgemeinen ist Kindts Betrachtung zutreffend und seine Diagnose keine vereinzelte.79 Als problematisch erscheint jedoch, dass der Interpret die besprochenen Texte nicht in den breiten Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik stellt sowie mit der Erwartung einer grundlegenden poetologischen Innovation an sie herangeht, ohne dass dieses zu erwartende Neue wenigstens angedeutet wird. Dahingestellt bleibt auch, inwiefern ein Theatertext als innovativ gelten kann, gerade angesichts einer enormen Vielfalt an Stilen und Tendenzen in der Gegenwartsdramatik. Während bezüglich des Prosabereichs sogar die These vom »spezifischen Genre[…] deutscher ›9/11‹-Literatur«80 verlautbart wird, trifft dies auf das deutschsprachige Theater schwerlich zu. Abgesehen von einigen wenigen Texten, die das Ereignis direkt thematisieren, müsste eher von einem »Hintergrundgeräusch«81 – so Löffler über die deutsche Gegenwartsprosa – des 9/11 die Rede sein. Es wäre ein naives Unterfangen, 9/11 als eine absolute Zäsur in der Geschichte des Gegenwartstheaters, geschweige denn der deutschsprachigen Dramatik bestimmen zu wollen. Nichtsdestoweniger scheint es evident, dass 9/11 eine Tendenz, die sich zumindest seit Mitte der 1990er Jahre sichtbar machte, symbolisch besiegelte, was Brincken und Engelhart folgendermaßen auf den Punkt bringen: Insbesondere seit dem 11. September scheint sowohl in der Dramenlandschaft als auch in der Regiepraxis wieder das handlungsfähige Individuum und sein anthropo-
79 Ähnlich schlussfolgert Franziska Schößler: Drama und Theater nach 1989: prekär, interkulturell, intermedial, Hannover 2013, S. 16: »Allerdings ist festzuhalten, dass 9/11 in der deutschen Theaterszene, anders als in anderen europäischen Kulturen und in den USA, wo sich das Off-Theater im Anschluss an den TerrorAngriff deutlich politisiert, lediglich Spuren hinterlässt.« 80 Michael König: Poetik des Terrors: Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2015, S. 11. 81 Sigrid Löffler: Literaturen, Literaturkritik und Leser um 2000, in: Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld 2008, S. 435-445, hier S. 436. Nicht ohne Ironie fügt Löffler hinzu: »Offenbar glauben Autoren, durch die Erwähnung dieser Anschläge ihre kritische Zeitgenossenschaft ablegen zu können.«
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logisch grundiertes Motiv, Geschichten zu konstruieren und die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt zu suchen, gefragt zu sein, während die Postmoderne zunehmend historisiert wird.82
Auch wenn im Falle von theatralen Inszenierungen des 9/11 von keinem »dramenpoetologischen Neubeginn«83 – so Kindt – die Rede sein kann, hat dieses schreckliche Epochenereignis den Zeitgeist wesentlich geprägt. Darunter fällt eine deutliche Rückbesinnung der geisteswissenschaftlichen Theorien auf das Reale, die den Menschen gewissermaßen zu ›entdiskursivieren‹ und die politische Macht transparent zu machen versuchen bzw. die Kategorie der Verantwortung konkreter Menschen restituieren, statt an undurchschaubaren und unbewussten Strukturen festzuhalten, was die exemplarischen Beispiele im vorigen Kapitel gezeigt haben dürften. In dieser Hinsicht avanciert 9/11 tatsächlich zum »Höhe- und Scheitelpunkt der postmodernen Ästhetik«, seit dem »die Versprechungen der nachmodernen Spaß- und Inszenierungsgesellschaft mit ihrer Anything-goes-Haltung ihre Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft [verloren].«84 Die Historisierung der Postmoderne, für die 9/11 eine symbolische Zäsur bildet, als Abschied von der Annahme, das Leben sei eine Performance, führt unvermeidlich zu einem anthropologisch grundierten Theater, das zwangsläufig re-politisiert wird. Diese Repolitisierung ist sichtbar auf der Textebene, sie generiert aber auch kritische Fragen an das postdramatische Modell und sein vermeintliches Politikum, wovon im Folgenden die Rede sein wird.
82 Jürgen von Brincken, Andreas Englhart: Einführung in die moderne Theaterwissenschaft, Darmstadt 2008, S. 98. 83 Vgl. Kindt: Bleibt alles anders, S. 126. 84 Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013, S. 92.
3. Theater – Text – Politik
3.1 D RAMA VS . ( POSTDRAMATISCHER ) T HEATERTEXT Das Verhältnis zwischen Text und Theater ist wegen seiner historischen Variabilität genauso problematisch wie eine generelle und überzeitliche Definition des Dramas,1 das mit der Etablierung der Theaterwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin in eine prekäre Stiefkindlage gedrängt wurde:2 Im Blickfeld der Literaturwissenschaft erscheint das ›Drama‹ in erster Linie bekanntlich als Gattungstext, der sich im Gegensatz zu lyrischen und epischen Texten durch die Figurenrede konstituiert. Obwohl die Literaturwissenschaft mittlerweile einstimmig anerkennt, dass »der schriftliche Text
1
Zu der variierenden Beziehung zwischen Drama und Theater im Spiegel der Theorie vgl. u.a. Horst Turk: Theater und Drama: Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt, Tübingen 1992 sowie Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 22001, S. 75-82. Zum Problem der DramaDefinition vgl. Bernd Graff: Grundlagen szenischer Texte, in: Heinz L. Arnold, Heinrich Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 308-322 sowie Hans-Peter Bayerdörfer: Drama/Dramentheorie, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 72-80.
2
Auf den Umstand der »stiefmütterliche[n] Behandlung der Dramatik bei der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur« weist Poschmann in ihrer vielbeachteten Untersuchung hin. Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 13.
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Drama, doch seine wahre Bestimmung [...] erst auf der Bühne [findet]«3, ist sie nach wie vor auf die Literarizität des dramatischen Textes fixiert und vernachlässigt gewöhnlich dessen Aufführungsaspekt, den sie generell als Gegenstand der Theaterwissenschaft betrachtet. Für die aus der Literaturwissenschaft hervorgegangene Theaterwissenschaft hingegen ist das (literarische) Drama primär ein »aufzuführender Text«, »ein im Hinblick auf seine Inszenierung konzipiertes literarisches Artefakt«4. Dabei wird der dramatische Text als lediglich eins der Inszenierungselemente des eigentlichen ›Dramas‹ – des transitorischen Bühnenereignisses – betrachtet und – unter dem postdramatischen Zeichen zunehmend – zu einer unverbindlichen bzw. irrelevanten Spielvorlage reduziert. In diesem Zusammenhang hat sich in der theaterwissenschaftlichen Forschung der Begriff ›Theatertext‹ etabliert, der nicht nur die traditionelle Kategorie des (literarischen) Dramas ersetzt, sondern jegliche Spielvorlagen bis zur gesamten Aufführung umfasst.5 Im engeren Sinne wird mit dem Begriff der Schwerpunkt auf die postdramatische Texttheatralität, d.h. auf die Materialität der Zeichen des aufzuführenden Textes statt ihrer Bedeutung gelegt. Darüber hinaus fungiert die Bezeichnung als ein pragmatischer Oberbegriff, der den doppelten Charakter des Theatertextes als »Bestandteil der Inszenierung« und »literarische Gattung mit Textstatus« unterstreicht und die »beiden Aspekte […] zu integrieren [versucht]«, um »die vielbeschworene Einheit von Dramen- und Thea-
3
Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, Stuttgart 1980, S. 10.
4
Andreas Höfele: Drama und Theater: Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines problematischen Verhältnisses, in: Forum Modernes Theater 6/1 (1991), S. 3-23, hier S. 11.
5
Für diese Terminologie plädiert u.a. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 3: Die Aufführung als Text, Tübingen 31995, S. 10: »Wir können daher die Aufführung in epistemologischer Hinsicht als Text und, da wir ihre Zeichen als theatralische Zeichen qualifiziert haben, genauer als theatralischen Text bezeichnen.« Vgl. dazu auch Balme: Einführung, S. 74. Als Theatertexte im engeren Sinne werden auch nicht-narrative Musik- und Tanztheaterformen (Partitur, Choreographie) sowie alle anderen Inszenierungsvorlagen bezeichnet.
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tertheorie in einer Theatertext-Theorie zu ermöglichen, die zugleich Theatertheorie und Texttheorie ist.«6 Dem Doppelsinn des Begriffs ›Theatertext‹ entspricht im Grunde die doppelte Semantik des Begriffs ›Drama‹, der »Lese- und Aufführungstradition, Schriftkultur und performative Kultur [verbindet].«7 Mit dem Theatertext-Begriff nun wird der Umbruch im Verhältnis von Text und Theater, den die Theaterreform um 1900 initiierte8 und die postdramatische Wende in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Spitze trieb, reflektiert. Seit Beginn der Neuzeit war das Theater bekanntlich überwiegend eine Domäne der Literatur und somit eine auf das literarische Werk verpflichtete »After-Kunst«9. Mit Ablehnung der tradierten Theaterästhetik, die dem Prinzip der Repräsentation folgte und die Theatralität in erster Linie mit einer spezifischen Qualität der Dramensprache verband, entwickelte sich im letzten Jahrhundert eine neuartige Autonomie des Theaters als eigenständige künstlerische Praxis, die die Theaterkunst von der dienenden Rolle der Literatur gegenüber entlastete10 bzw. das Dramatische zugunsten des Performativen in den Schatten stellte. Auch das auf dem ›traditionellen‹ dramatischen Text basierende Schauspieltheater, das in der heutigen Theaterlandschaft stets eine dominierende Rolle spielt, geht mit der literarischen Textvorlage souverän und experimentell um. Der Dialog – »im Drama der grundlegende Darstellungsmodus«11 – wird zunehmend totgesagt12, umge-
6
Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnen-
7
Bayerdörfer: Drama/Dramentheorie, S. 72.
8
Zur Entliterarisierung des Theaters im Rahmen der Theaterreform vgl. detail-
stücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 41.
liert: Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas: Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen, Basel 1999, S. 163-191. 9
Höfele: Drama und Theater, S. 7.
10 Der Aufstand der Theaterreformer – wie Gordon Craig – gegen den Text wurde bis zur Verbannung des menschlichen Darstellers als Refugium des ›unechten Bühnenrealismus‹ vorangetrieben. Vgl. Turk: Theater und Drama, S. XV. 11 Manfred Pfister: Das Drama: Theorie und Analyse, München 1988, S. 24. 12 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment. Symptome der ›Umsetzung‹ im modernen Schauspieltheater, in:
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schrieben, zerstückelt, collagiert oder in Bilder umgesetzt.13 Dabei vertieft sich die Kluft zwischen Text und Theater: In postdramatischen Theaterformen wird der Text, der (und wenn er) in Szene gesetzt wird, nunmehr als gleichberechtigter Bestandteil eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs begriffen. Der Spalt zwischen dem Diskurs des Textes und dem des Theaters kann sich öffnen bis zur offen ausgestellten Diskrepanz und sogar Beziehungslosigkeit.14
Der Umstand, dass das traditionelle Drama im Rahmen der postdramatischen Logik als ästhetische ›Lüge‹15 denunziert wird, impliziert zwangsläufig die Existenz einer ästhetischen Wahrheit, die ihren theatralen wahren Ausdruck – so die logische Schlussfolgerung – nur in der postdramatischen Form finden kann. In dieser Hinsicht will das postdramatische Theater – dem offensichtlich eine Dekonstruktion der etablierten Dramensprache zugrunde liegt – paradoxerweise den Status eines Zentrums erlangen. Indem das postdramatische Theater die Theatermittel enthierarchisiert, dekonstruiert es das Gewebe einer traditionellen dramatischen Aufführung. Das Paradoxe besteht darin, dass diese immanente Enthierarchisierung eine neue Hierarchie als ästhetische Dominanz und Überlegenheit des Postdramatischen schafft. Während die umstrittene Postmoderne grandiose pluralistische Energien freilegte, werden die Energien des postdramatischen Theaters im Grunde zu einem Mainstream. Indessen herrscht in der zeitgenössischen Theaterlandschaft eine enorme Heterogenität, die es wohl in der ganzen Theatergeschichte im lokalen (deutschsprachigen, europäischen)
Erika Fischer-Lichte (Hg.): TheaterAvantgarde: Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen, Basel 1995, S. 242-290. 13 So etwa die Bearbeitungen von ›Klassikern‹, die – wie in den Inszenierungen von Frank Castorf – nur als Ausgangsmaterial behandelt werden. 14 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999, S. 73. 15 »Das Drama, exemplarische Form der Diskussion, setzt auf Tempo, Dialektik, Debatte und Lösung. Aber schon lange lügt das Drama«. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 126.
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Kontext in diesem Ausmaß nie gab.16 Nicht zu übersehen ist auch, dass das postdramatische Theorem, welches das neue Politikum des Theaters in Theorie und Praxis perpetuiert, an der Jahrtausendwende mit einem »Autorenboom«17 konfrontiert wurde, der eine Zunahme des dramatischen Elements mit sich brachte und neue politische Qualitäten aufscheinen ließ. Beeinflusst von der neuen britischen Blood-and-Sperm-Dramatik mit ihren naturalistisch-drastischen Szenarien der prekären Existenzweisen zeichnete sich etwa ab Mitte der 1990er Jahre eine Tendenz zur Wiederbelebung des Dramas ab. In ihrer Bilanz der deutschsprachigen Dramatik der 1990er Jahre weist Franziska Schößler zurecht darauf hin, dass neben den Sujets »Mythos« und »Erinnerung« besonders in der zweiten Jahrzehnthälfte in den neuen Theatertexten soziale Geschichten zu dominieren begannen,18 die thematisch vor allem um »Familiendesaster« und »Arbeitslosigkeit« kreisen.19 Dieses zeit- und problembezogene Engagement der neuen Stücke geht formal mit einem »neuen Realismus« einher, den Thomas Ostermeier 1999 in seinem vielerorts zitierten Manifest Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung proklamierte. Der Intendant der Berliner Schaubühne beklagt darin die »Krise der zeitgenössischen deutschen Dramatik« als »eine Krise der Inhalte, der Form und des Auftrags«20 und führt aus: Diese Krise spiegelt die Krise unserer Gesellschaft: Die Wohlstandsgemeinschaft der westlichen Sieger über den Kommunismus hat nicht mehr den Anspruch, das
16 Dies illustriert sehr anschaulich die komplexe wiewohl überblicksartige Darstellung von Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013. 17 Vgl. Friedemann Kreuder, Sörgel, Sabine (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd. 39), Tübingen 2008. 18 Vgl. Franziska Schößler: Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004 sowie Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne. Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende, Bielefeld 2012. 19 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, Kapitel 3.1 und 3.2, S. 243-309. 20 Thomas Ostermeier: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 7/8 (1999), S. 10-15, hier S. 11.
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Unglück und die Unfreiheit, in der viele in ihr leben, zu erkennen und zu analysieren, um diesen Zustand zu ändern und zu überwinden.21
Angesichts dieses Befundes plädiert der Theatermann für einen »engagierten Realismus«, für Geschichten, »die von der Grausamkeit dieser Welt und ihrer Opfer erzählen«22 mit formalen Mitteln beschleunigter Erzähl- und Wahrnehmungsweisen der neuen Medien sowie des Films und Fernsehens. Die Erneuerung des Theaters ist laut Ostermeier vor allem durch den »unkorrumpierten, realitätsnahen Blick der Autoren«23 zu bewerkstelligen. So drückt Ostermeiers Plädoyer für »einen neuen Realismus«24 zugleich seinen Wunsch nach Rückkehr des Autors an die Theaterhäuser aus: Die Verbindungslinie des Theaters zur Welt ist der Autor. [… W]ir brauchen […] Autoren, die ihre Augen und für Ohren die Welt und ihre unglaublichen Geschichten öffnen und schärfen; Autoren, die eine Sprache finden für Stimmen, die noch nicht zu sehen waren, Konflikte für Probleme finden, über die noch nicht nachgedacht wurde, Fabeln finden für Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind.25
Ostermeiers Aufwertung des Autors, signifikanterweise zeitgleich mit Lehmanns Essay veröffentlicht, bestätigt nicht nur die von Kreuder und Sörgel artikulierte These, dass das Theater »gerade in Momenten kultureller Identitätskrisen nach dem Autor und seiner Sicht auf die Welt zu rufen scheint«26, sondern entblößt einen tiefen Riss zwischen theatraler Praxis und Theorie. Während das postdramatische Paradigma den Autor zwangsläufig marginalisiert,27 wird das Schreiben fürs Theater in Deutschland durch das För-
21 Ostermeier: Theater, S. 11. 22 Ostermeier: Theater, S. 12. 23 Ostermeier: Theater, S. 10. 24 Ostermeier: Theater, S. 13. 25 Ostermeier: Theater, S. 12f. 26 Friedemann Kreuder, Sabine Sörgel: Einleitung, in: Kreuder, Sörgel (Hg.): Theater seit den 1990er Jahren, S. 7-17, hier S. 7. 27 Lehmann nennt am Rande seiner Ausführungen »Autoren, deren Werk mindestens teilweise dem postdramatischen Paradigma verwandt ist: im deutschsprachigen Raum zumal Heiner Müller, Rainald Goetz, die Wiener Schule, Bazon
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dersystem sowie entsprechende Studiengänge stark institutionalisiert.28 Vor dem Hintergrund dieser etwas schizophrenen Lage wäre es notwendig, das Verhältnis zwischen der zeitgenössischen Autorschaft und der (postdramatischen) Aufführungspraxis in synchroner und diachroner Perspektive zu überdenken. Detailliert müsste über folgende Aspekte reflektiert werden: Welcher Stellenwert kommt der Autorin/ dem Autor eines Theatertextes im Prozess der Vorbereitung einer Aufführung eigentlich zu? Geht die Enthierarchisierung des Textes mit einer völligen Marginalisierung seiner Autorin/seines Autors einher? Wie ist die Relation zwischen der Autorin/dem Autor eines (auch und gerade »nicht mehr dramatischen«) Theatertextes und der Regisseurin/dem Regisseur zu bestimmen? Markiert der Gestus eines »Machen Sie, was sie wollen« (Jelinek) und das Insistieren auf eigene Autorenrechte (Dea Loher) zwei nicht zu vereinbarende Pole des Gegenwartstheaters? Als besonders virulent erscheint dabei das Problem der politischen Positionierungen von Autorinnen und Autoren im Hinblick auf die Inszenierung ihrer Texte. Es geht vor allem um die Frage, ob politische Anschauungen der Autoren einen Einfluss auf die Gestalt der Aufführung haben bzw. sie bei ihrer Analyse berücksichtigt werden sollen? Bei dieser Frage könnte Jelineks politisches Engagement Pate stehen. Die sehr komplexe Frage nach dem Status der Autorschaft im Gegenwartstheater erscheint nicht nur zwingend, sondern erzwingt auch eine zumindest partielle biographistisch-soziologische Perspektive, zumal Autorinnen und Autoren wohl oder übel immer noch einen nicht unwesentlichen Teil des Theatersystems ausmachen, ihre Verortung in diesem System sich als kompliziert wie prekär abzeichnet,29 und nicht zuletzt die Wiederbele-
Brock, Peter Handke, Elfriede Jelinek…« (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 25), generell lässt er die Frage der Autorschaft außer Acht. 28 Seit einiger Jahren häufen sich Autorenwettbewerbe, -theatertage und -labore, Schreibwerkstätten, Lesungen, Stückemärkte, Stipendien sowie universitäre Kurse und Studiengänge für Szenisches Schreiben und nicht zuletzt Dramatik[sic!]-Preise. Vgl. Andreas Englhart, Artur Pełka: Junge Autoren und das deutschsprachige Gegenwartstheater – eine Einleitung, in: Andreas Englhart, Artur Pełka (Hg.): Junge Stücke: Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater, Bielefeld 2014, S. 11-26, hier S. 12. 29 Vgl. Engelhart, Pełka: Junge Autoren.
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bung des totgesagten bzw. -theoretisierten Autors nicht nur institutionell, sondern auch textimmanent spürbar ist.30 Ostermeiers Postulate, die den Autor als einen entscheidenden Faktor zur Überwindung der Krise aufwerten, blieben nicht ohne Resonanz und lösten Diskussionen aus, die in eine große Kontroverse um das Autorenbzw. Regietheater mündeten, d.h. um das Was und Wie gegenwärtiger Theateraufführungen. Die Streitigkeiten, die parallel zu der eher akademischen Debatte um die Stichhaltigkeit des von Lehmann gefeierten postdramatischen Theaters geführt wurden, dauern bis heute – vorwiegend als Kritikerschlachten – fort und nehmen bisweilen skandalträchtige Formen an. So diagnostizierte etwa Christopher Schmidt, Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, 2006 sogar eine faschistoide Ästhetik der gegenwärtigen Aufführungspraxis in Deutschland, die das bürgerliche Einfühlungstheater diskreditiere. Seine bissige Kritik schließt Schmidt mit dem Postulat eines »moderaten Realismus«31 in Anlehnung an den Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee: »Wenn [das Theater] wieder auf konkrete Details und Menschen achtete und weniger auf abstrakte Ideen und Konzepte, hätte [es] nicht unbedingt mehr zu sagen. Aber wenigstens mehr zu erzählen.«32 Tatsächlich scheint es, dass sich das Theater bzw. die Theatertexte zu Beginn des neuen Jahrtausends von abstrakten Inhalten abwenden und zu erzählen beginnen. Dabei werden neue Bereiche entdeckt, die mit aktuellen Phänomenen zusammenhängen, wobei vor allem die fortschreitende Globalisierung und die New Economy samt Neoliberalismus universelle Themen liefern. Zu neuen Helden werden Unternehmer und Manager, die von Ausbeutung und Arbeitslosigkeit als Top Dogs – so der Titel des inzwischen zum Klassiker des Genres und des neuen politischen Theaters33 geworde-
30 Und zwar durch ausgeprägte diegetische Techniken, durch berichtendes Erzählen meist in Form von inneren Monologen, in denen eine quasi-auktoriale Stimme hörbar ist. 31 Christopher Schmidt: Im Verführerbunker. Das deutsche Theater hat Gefühle verboten und ist dabei total auf den Hund gekommen. Ein Manifest, in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12.11.2006 (= SZ am Wochenende), S. I. 32 Schmidt: Im Verführerbunker. 33 Vgl. Martin Halter: Warten uff de Godot. Feuerwehrmann der Utopie: Urs Widmer als Theaterautor, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Urs Widmer, München 1998 (= Text und Kritik X), S. 30-39, hier S. 39.
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nen Textes von Urs Widmer – betroffen sind. Die moderne Ökonomie wird – verstärkt seit der Weltwirtschaftskrise ab 2007 – zum großen Thema des Theaters, das ihre Mechanismen zu dekuvrieren versucht.34 Trotz eines auffallenden sozial-politischen Engagements der aktuellen Theatertexte und einer Zunahme des dramatischen bzw. literarischen Elements handelt es sich bei dieser Erscheinung keineswegs um eine völlige Restitution des traditionellen politischen Dramas bzw. die Geburt eines ›neodramatischen‹ Theaters. Vielmehr wird durch die Konfrontation von Literatur, Bühne und Theorie seit einiger Zeit auf eine produktive Art und Weise eine innovative Formensprache als Antwort auf aktuelle politische Herausforderungen generiert. Die Suche nach zeitgemäßen Darstellungsmodi produziert Politiken des Ästhetischen, die in der Regel nach bereits vorhandenen Modellen greifen und diese modifizieren.35 Die Heterogenität der Formen lässt sich nicht von einer theoretischen Position aus einseitig in den Blick nehmen, was sich mindestens partiell in der Forschung widerspiegelt. In Bezug auf die evidente Verwandlung von strikt dramatischen Textformen in die »Nicht-Mehr-Dramatischen-Texte« entstand seit Poschmanns einleuchtender und neue Begrifflichkeiten etablierender Studie eine Reihe von Untersuchungen zu Fallbeispielen, die sowohl dem Zerfall der dramatischen Textstruktur auf den Grund gehen36 als auch eine Rückbesinnung auf die traditionellen Dramenelemente mit Figuration, Handlung und Dialog
34 Vgl. Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009. 35 Signifikant ist in dieser Hinsicht beispielsweise die Tendenz zu chorischen Formen sowie der Rekurs auf das Genre der Tragödie, wobei der massive Einsatz von chorischen Elementen das Verhältnis von Schauspielern und Zuschauern sichtlich redefiniert. Der Chor fungiert als eine interne Öffentlichkeit und darüber hinaus verkörpert er die Kondition der zeitgenössischen Gemeinschaft(en), was die Arbeiten Einar Schleefs mustergültig veranschaulichen. Vgl. Hajo Kurzenberger: Chorisches Theater der neunziger Jahre, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kollesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen – Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 83-91. 36 Vgl. z.B.: Schößler: Augen-Blicke.
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untersuchen.37 Parallel dazu wurden bis dato und werden immer wieder zahlreiche konstruktive Forschungsdesiderate formuliert38 sowie neue Interpretationsverfahren erprobt. Angesichts der »an Differenzierung und innovativer Risikofreude zunehmenden dramatischen Produktion der letzten beiden Jahrzehnte«39 schlägt beispielsweise Hans-Peter Bayerdörfer eine erfrischend innovative Sichtweise auf die Kooperation zwischen Literatur und Bühne vor: Unter dem Aspekt einer Kontinuität der Entwicklung von Spieltexten, die sich schrittweise Terrain erobern, das nach alten Regeln als a-dramatisch und theaterfern gelten müsste, ist daher eine erweiterte literarische Analyse angezeigt, wenn der eminente Vorrat von anti- oder a-dramatischen Schreibweisen gesichtet werden soll, über den die Textschreiber für die Bühne heutzutage verfügen. Dass sie bei aller Varianz der sprachlichen Textur den Anforderungen der Bühne Rechnung tragen und diese zu neuen Verfahren zu provozieren vermögen, dürfte ein Tatbestand sein, der nicht weniger gegenwartsrelevant ist als die kreativen Angebote der entsprachlichten Bühnen. […] So steht zu vermuten, dass die Flexibilität der Theatermacher wie die Findigkeit der Literaten zahllose Wege aufgetan hat, auf denen Literatur, d.h. Text, und Bühne, d.h. Spiel, auf neue und konstruktive Weise kooperieren.40
37 Vgl. z.B.: Nikolaus Frei: Rückkehr der Helden: deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994-2001), Tübingen 2006. 38 Stellvertretend kann an dieser Stelle das Postulat von Tigges genannt werden, der vorschlägt, »(post)dramatische Ästhetiken auf ihren von der Theaterwissenschaft möglicherweise voreilig verabschiedeten dramatischen Grund- oder Restgehalt hin zu befragen bzw. die anhaltenden dramatischen Transformationsprozesse zu orten und andererseits die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Text bzw. die (künstlerische) Sprache zu lenken, ohne dabei in traditionelle längst überwundene Muster zurück zu fallen.« Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung, in: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008, S. 9-27, hier S. 10. 39 Hans-Peter Bayerdörfer: Erzähldramatik: Spieltexte jenseits der Gattungsgrenzen, in: Engelhart, Pełka (Hg.): Junge Stücke, S. 29-66, hier S. 30. 40 Bayerdörfer: Erzähldramatik, S. 34.
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Auf der Textebene äußert sich die Kooperation einerseits in der Einverleibung von postdramatischen Elementen durch die Texturen, andererseits erzwingen viele Texte selbst eine nicht dramatische In-Szene-Setzung. In diesem Sinne ist es berechtigt, die Kategorie des Postdramatischen auf entsprechende Theatertexte selbst zu übertragen,41 auch wenn eine scharfe Trennung zwischen dramatischen und postdramatischen Texten eine grobe Vereinfachung bedeuten würde, zumal das Gros der Gegenwartsstücke die beiden Aspekte mit unterschiedlicher Intensität integriert. Abgesehen davon, wie stark performative bzw. postdramatische Elemente einen Theatertext konstituieren, scheinen Inhalte als Träger einer politischen Botschaft in der Gegenwartsdramatik wieder an Relevanz zu gewinnen. Theatertexte reagieren seismografisch auf aktuelle politische Begebenheiten, und zwar nicht nur auf spektakuläre Ereignisse wie der 11. September 2001 oder die Finanzkrise 2008, die die Weltpolitik erschütterten, sondern auf lokale Vorkommnisse, die eine politischen Brisanz kennzeichnet (wie der Dokumentartext Der Kick 2005 von Andres Veiel und Gesine Schmidt). Prominent ist in dieser Hinsicht Elfriede Jelinek, die mit einer Akribie akute Gegenwartsprobleme (Bankenskandale in Die Kontrakte des Kaufmanns, Fukushimaer Katastrophe in Kein Licht, Wiener Sexagentur-Affäre in Über Tiere oder Flüchtlingstragödien in Die Schutzbefohlenen) in Szene setzt und durch permanente Rekurse auf den Nationalsozialismus zur Reflexion über historische Parallelen zwingt. Der für Jelinek spezifische Dokumentarismus als ein neues Modell politischen Theaters erlebt eine Renaissance in verschiedensten Facetten. Die enorme Entwicklung neuer Formen des Dokumentartheaters hängt mit einem allgemeinen Trend zum ›Authentischen‹ zusammen, der die alles diskursivierende Postmoderne historisiert. Die Realität dringt wieder in Texte und Inszenierungen als sozial-politische ›Repräsentation‹ mit einer spürbaren Stärke ein. Auf der Aufführungsebene äußert sich das Dokumentarische durch Einbezug von Laien, die ausgebildete Schauspieler ersetzen.42 Diese ›Verfrem-
41 Opel betont, dass »durchaus auch Theatertexte und nicht nur Aufführungen als postdramatisch zu bezeichnen sind«. Anna Opel: Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik – Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane, Bielefeld 2002, S. 33. 42 Exemplarisch für die Inszenierung von Realität und Authentizität steht die Tätigkeit des sog. Rimini Protokolls, einer Gruppe von TheatermacherInnen, die
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dung‹ geht zwangsläufig mit einer Politisierung einher, denn die Darsteller bringen ihre ›echten‹ Geschichten auf die Bühne, deren Authentizität den politischen Zustand der Gesellschaft widerspiegelt. Eine andere Spielart des aktuellen politischen Theaters besteht in Ausstellung und Hinterfragung von komplexen politischen Gegenwartsdiskursen. In Form eines ›Diskurstheaters‹43 werden soziopolitische und ökonomische Mechanismen analysiert, die die Kondition des zeitgenössischen Menschen determinieren. Unter der Prämisse der Intertextualität der Kultur werden Elemente der populären Kultur sowie wissenschaftliche Versatzstücke in die Inszenierungen eingefügt, dabei vor allem philosophische Texte, die eine kritische Analyse der Gegenwart liefern. Das Diskurstheater konstituiert sich durch Reden, die keine traditionellen Dialoge bilden, sondern in sich dialogisch sind, in dem Sinne, dass im Redefluss unterschiedliche, oft einander widersprechende Diskurse aufeinandertreffen und derart zu Repliken geraten. Eine solche Dialogizität kennzeichnet die Theatertexte von Elfriede Jelinek und ist für die Arbeiten von René Pollesch konstitutiv, der gnadenlos Muster und Idole der manipulierten Konsumgesellschaft demontiert.44 Nach wie vor greift das politisch involvierte Theater auf Formen des Happenings, der Performance und der szenischen Installation zurück. Para-
seit 2000 im Stil eines neuen Reality Trends arbeiten und anstelle von SchauspielerInnen Laien als »Experten des Alltags« einführen. Vgl. dazu ausführlich die Beiträge des Sammelbandes: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007. 43 Der Begriff geht auf einen Aufsatz von Andrzej Wirth zurück, der das Theater im Gefolge Brechts als ein dialogloses Theater bezeichnete, in dem »die Bühnenfiguren […] von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen werden oder […] das Publikum ihnen seine innere Stimme verleiht.« Andrzej Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte, in: Theater heute 1 (1980), S. 16-19, hier S. 19. 44 Vgl. hierzu u.a. Franziska Bergmann: Enacting Theory. Zur theatralen Rezeption humanwissenschaftlicher Diskurse bei René Pollesch am Beispiel von »Das purpurne Muttermal«, in: Astrid Hackel, Kaspar Renner, Mascha Marlene Vollhardt (Hg.): Theorie und Theater. Zum Verhältnis von wissenschaftlichem Diskurs und theatraler Praxis, Wiesbaden 2014, S. 53-68. Polleschs Inszenierungen widmen sich auch der Theaterpolitik kritisch und entblößen die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse von Bühnenkünstlern.
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debeispiele liefern die happeningsartigen Aktionen von Christoph Schlingensief, die programmatisch die Grenze zwischen Theater und Politik verwischen und das repressive System einer politischen Normierung bloßstellen.45 Wie bereits mehrmals hervorgehoben, herrscht in der zeitgenössischen Theaterlandschaft eine enorme Heterogenität an Formen und Tendenzen vor, die angesichts der Kontroverse, ob sich das wahrhaft Politische im performativen Akt der Unterbrechung vom politisch determinierten Alltagsbewusstsein oder in der dramatisch kommunizierten politischen Botschaft manifestiert, eine verbindliche Definition des ›Politischen Theaters‹ wesentlich erschwert. Es scheint, dass sowohl das Insistieren auf der Ästhetik des Performativen als Medium der einzig wahren und wirksamen Polizitität im Gegenwartstheater als auch das Lob des dramatischen Realismus46 gegen die Ideologisierung des Theaters im neoliberalen Geiste zu kurz greifen. Auch wenn im Allgemeinen Konsens darüber herrscht, dass nicht alleine die Inhalte über das Politische im Theater entscheiden, sondern eine bestimmte Form ausschlaggebend ist,47 kann die politische Brisanz schwerlich nur auf die neuen Ästhetiken des Performativen reduziert werden. Dass Inhalte immer noch politisch durchschlagend sind, beweisen eindrücklich Theatertexte, die sich unterschiedlicher Modi zwischen traditioneller Dramatik und Postdramatik bedienen und als bewusste Reaktion auf die Ereignisse in der Makro- und Mikropolitik der letzten Jahre entstanden sind.
3.2 D AS T HEATER
UND DAS
P OLITISCHE
Das Politische ist dem Theater vordergründig als eine strukturelle Politizität inhärent. Unabhängig von variablen historisch-kulturellen Kontexten gene-
45 Zum Politischen im Theater von Schlingensief vgl. Franziska Schößler: Wahlverwandtschaften: Der Surrealismus und die politischen Aktionen von Christoph Schlingensief, in: Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus, Franziska Schößler (Hg.): Politisches Theater nach 1968: Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt/Main, New York 2006, S. 269-293. 46 Vgl. Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015. 47 Vgl. Franziska Schößler: Politisches Theater nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2008), S. 16-22.
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riert jede Aufführung zwangsläufig eine politische Konstellation, die aus der anthropologisch-sozialen Grundbedingung des Theaters als einer öffentlichen Interaktion von Akteuren und Zuschauern resultiert. Ein derart weit aufgefasstes Politikum manifestiert sich auch in diversen Ausprägungen in institutioneller Hinsicht durch die Wirkungsansprüche des Theaters, die auf die Veränderbarkeit des Menschen bzw. auf die realpolitische Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände abzielen. Als Institution ist das Theater per se ein politisches Phänomen, weil es wohl oder übel in einem politischen System verankert, d.h. mit einer bestimmten Form der Machtausübung verbunden ist.48 Das offizielle Theater wird nicht nur von den Machthabern ideologisch beeinflusst, sondern ist auch in finanzieller Hinsicht auf sie angewiesen. Auch die Subventionen seitens des Publikums gestalten sich zu einem quasi-politischen Akt, der die sog. Repertoirepolitik steuert. Aus dieser Verwicklung resultiert allerdings eine deutliche politische Ambivalenz des Theaters. Einerseits zielen die in einer bestimmten Kultur und einem konkreten historischen Moment dominierenden Theaterformen auf die Verfestigung eines Weltbildes ab, das dem herrschenden Diskurs entspricht. In diesem Fall fungiert das Theater als relevantes Mittel der kulturellen Indoktrination, die anerkannte Werte tradiert und alles Unerwünschte tabuisiert. Symptomatisch dafür ist etwa der lange andauernde Ausschluss der Frauen aus dem Schauspielerberuf bzw. ihre spezifische Darstellung in dramatischen Texten.49 Andererseits funktionieren von alters her an den Rändern des offiziellen Theaters unkonventionelle, nonkonformistische Formen, die oft einen stark subversiven Charakter aufweisen, da
48 Die These mag sehr vage und gerade vor dem Hintergrund der fortgeschrittenen Demokratisierung und der mit ihr einhergehenden ›Kunstfreiheit‹ gewagt erscheinen, doch auch die liberale Gegenwart liefert immer wieder Beispiele für den Druck der Macht auf die Theater. Als aktuelles Exempel kann der Versuch der Verbots von Jelineks Der Tod und das Mädchen, das im Breslauer Teatr Polski in der Regie von Ewelina Marciniak am 21.11.2015 Premiere hatte, durch die neue polnische Regierung genannt werden. Vgl. Florian Kellermann: Theaterskandal in Polen. Sex auf der Bühne geht dem Kulturminister zu weit, unter: http://www.deutschlandradiokultur.de/theaterskandal-in-polen-sex-auf-der-bueh ne-geht-dem.1013.de.html?dram:article_id=337734 (Stand: 01.04.2016). 49 Vgl. Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt/Main, Leipzig 2000.
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sie auf verschiedene Weisen die Prinzipien und Werte der offiziellen Kultur unterminieren. Dezidiert äußert sich das politische Engagement des Theaters durch den Rekurs auf aktuelle gesellschaftspolitische Phänomene und insbesondere auf die Tagespolitik mit einem kritischen bis interventionistischumstürzlerischen Impetus. Diese thematische Politizität, die auf unterschiedliche Theaterformen in diachroner und synchroner Perspektive zutrifft, bringt nicht nur innovative und ›politisch‹ effektive Darstellungsmodi hervor, sondern überschneidet sich – seit dem 20. Jahrhundert verstärkt – mit der Ideologisierung des Theaters. Paradoxerweise bleibt das Theater auch und gerade dann politisch, wenn seine Entideologisierung gezielt angestrebt wird. Eine markant politische Dimension kennzeichnete bereits das griechische Theater, weil es stark in die politische Ordnung der Polis integriert war.50 Die antiken Aufführungen, die in großen Amphitheatern stattfanden, verbanden rituelles Festspiel mit politischer Festveranstaltung, die dem Publikum zu einer Identität verhalf, die es auf das staatliche Gemeinwesen verpflichtete.51 Die Tragödien setzten sich mit politischen Phänomenen wie Krieg oder Herrschaft auseinander und hinterfragten die Gesetzgebung wie es bspw. Sophokles in Antigone tat.52 Hingegen griff die Komödie die aktuelle Tagespolitik auf, kommentierte kritisch das politische Leben, spottete über Politiker und brandmarkte die Mängel der Demokratie, was eindrück-
50 Zur Verschränkung von Politik und Theater im antiken Griechenland vgl. z.B. Frank Kolb: Agora und Theater, Volks und Festversammlung, Berlin 1981 sowie Bernard van Wickevoort Crommelin: Die Rolle des Theaters im politischen Leben Athens, in: Gerhard Lohse, Solveig Malatrait: Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne, München, Leipzig 2006, S. 13-44. 51 Die Verpflichtung bedeutete auch eine Teilnahmepflicht an den Theaterveranstaltungen. Vgl. Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 31991, S. 32f. 52 Die Figur Antigone mit ihrer »vor-politischen Opposition« (Judith Butler: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt/Main 2001, S. 14) bildet die Bedingung der Möglichkeit aller Politik und gilt so als Modell der politischen Positionierung schlechthin.
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lich die Werke von Aristophanes dokumentieren.53 So förderte das Theater von Anbeginn an eine Debatte über kontroverse politische Themen. Zum politischen Modus des antiken Theaters gehörte formal der Chor als im gewissen Sinne das Sprachrohr des Publikums, das die Bühne letztlich in eine politische Diskussionsplattform verwandelte. Stand das antike Theater im Zeichen von Demokratie und Mythos, wurde das mittelalterliche Theater maßgeblich durch die Liaison zwischen Zepter und Tiara bestimmt. Die religiösen Schauspiele, die im Mittelalter dominierten und vordergründig Glaubensinhalte vermittelten, besaßen einen lehrhaften Charakter zwecks Verfestigung der Glaubensgemeinschaft, die sich mit der Gemeinschaft der Untertanen deckte. Mit der allmählichen Einbeziehung von weltlichen Inhalten in die Mysterienspiele wurde die christliche Verkündigung zunehmend politisiert. So zeichnete die mittelalterlichen Moralitäten ein deutlich erzieherischer Duktus aus, der im Jesuitentheater der Barockzeit einer starken Ideologisierung unterlag,54 die nicht zuletzt auf die bedingungslose Bekehrung der Andersgläubigen abzielte.55 Pauschal betrachtet, war das europäische Theater der Neuzeit in thematischer Hinsicht immer wieder politisch gesinnt. Die Stücke des spanischen Theaters des Siglo de Oro, des klassischen französischen Theaters und des
53 Zur Reflexion politischer Realität in Werken von Aristophanes vgl. Daniela Hüttinger: Zum Begriff des Politischen bei den Griechen, Würzburg 2004, hier S. 40-110. 54 Den politisch-agitatorischen Hintergrund des Jesuitentheaters unterstreicht u. a. Elida Maria Szarota: Das Jesuitendrama als Vorläufer der modernen Massenmedien, in: Daphnis 4 (1975), S. 129-143. Vgl. auch Christof Wolf: Das Jesuitentheater in Deutschland, in: Rüdiger Funiok, Harald Schöndorf (Hg.): Ignatius von Loyola und die Pädagogik der Jesuiten. Ein Modell für Schule und Persönlichkeitsbildung, Donauwörth 2000, S. 172-199. 55 Die über das Mittelalter hinausgehende Überschneidung von Politik und Religion spiegelt die postreformatorische Formel »Cuius regio eius religio« wider. Trotz fortgeschrittener Verweltlichung der heutigen Welt kommt es immer wieder zu politischen Interventionen der Kirche bzw. ihrer Angehörigen, die die säkulare Macht vereinnahmen, um umstrittene Aufführungen zu boykottieren, wie im Falle von Golgotha Picnic des Argentiniers Rodrigo Garcia 2011 in Frankreich und 2014 in Polen.
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elisabethanischen Theaters beziehen sich nicht selten auf politische Fragestellungen und weisen oft einen – auch wenn nur verdeckten – Bezug zur damaligen Politik auf, wie im Falle von Pierre Corneille, der in die Machtspiele vom Kardinal Richelieu involviert war.56 Vor diesem Hintergrund sticht insbesondere Shakespeare hervor, der in seinen Werken leidenschaftlich Macht- und Klassenkämpfe (Macbeth, King Lear, Coriolanus) auslotete und die menschliche Herrschaftsgier zu seinem großen Sujet, das bis heute ein enormes politisches Potential aufweist,57 machte. Eine spezifisch politische Dimension weist das bürgerliche Theater in Deutschland auf, das den Widerstreit zwischen privaten und gesellschaftlichen Interessen in Szene setzt und mit seinem Ideendrama die Ideale der Freiheit und Humanität bildungsbürgerlich propagiert (z.B. Lessings Nathan der Weise). Als einer der ersten deutschen politischen Dramatiker gilt Friedrich Schiller, der bereits in seinem Erstlingsdrama Die Räuber offene Kritik am Feudalsystem übte, was während der Prämiere 1782 bekanntlich einen Skandal auslöste. Schillers Schilderung der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit in Kabale und Liebe veranlasste Friedrich Engels, den Text als »das erste deutsche politische Tendenzdrama«58 zu loben.59 Schillers berühmter Anspruch von Theater als »moralische Anstalt« (1784) geht insofern mit einer Politisierung des Theaters einher, als dass dem Theater die Rolle der Wiederherstellung der Totalität des zersplitterten bürgerlichen Menschen durch das Spiel mit der die Freiheit gewährleistenden Schönheit zugeschrieben wird, »weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Frei-
56 Vgl. z.B. Katharina Krings: »Horace« – Wie Corneille anhand der Figur Camille in einem Richelieu gewidmeten Theaterstück Staatskritik üben konnte, München 2007. 57 Die enorme politische Dimension von Shakespeares Œvre hebt vor allem Jan Kott in seinen Essays (Shakespeare heute, Berlin 1989) hervor. 58 Friedrich Engels: Brief an Minna Kautsky, 26. November 1885, in: Hartmut Steinecke (Hg.): Romanpoetik in Deutschland von Hegel bis Fontane, Tübingen 1984, S. 224-226, hier S. 224. 59 Zur politischen Dimension von Schillers Dramenwerk vgl. z.B.: Walter MüllerSeidel: Friedrich Schiller und die Politik: »nicht das Große, sondern das Menschliche geschehe«, München 2009.
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heit wandert.«60 Zum avancierten politischen Dramatiker im Gefolge Schillers wird Georg Büchner, dessen aktives politisches Engagement sich in seinem dramatischen Schaffen widerspiegelt, wie etwa in Dantons Tod, seiner kritischen Analyse der Französischen Revolution.61 Hinter dem Deckmantel bloßer Unterhaltung war auch die Komödie im vorwiegend restaurativ-konservativen 19. Jahrhundert ein wichtiger Träger von politischen Inhalten. Als Paradebeispiel kann das Alt-Wiener Volkstheater mit seinen scharfen politischen Anspielungen, vor allem in den Possen von Johann Nestroy dienen. Im 19. Jahrhundert etabliert sich allmählich das moderne politische Theater, angetrieben von der proletarischen Kunst, die sich bewusst gegen offizielle Werte richtete, welche mit den Anschauungen und dem Geschmack der herrschenden Gruppen assoziiert wurden. Anfänglich wurde die Nutzung der realistischen Konvention der Guckkastenbühne bei einer umfassenden Änderung der Thematik für den effektivsten Weg der politischen Aufklärung gehalten. So brachte der Naturalismus zwar die Unterprivilegierten und das Thema des sozialen Elends und der Ungerechtigkeit auf die Bühne, deren Guckkasten-Konvention jedoch wurde durch die ›vierte Wand‹ radikalisiert. Seit den theaterreformatorischen Bestrebungen an der Jahrhundertwende unterliegt das Politikum des Theaters durch Experimente der Theaterkünstler, die sich der Konvention der Guckkastenbühne und der mit ihr verbundenen Ästhetik widersetzen, einer radikalen Veränderung. Das Theater verwandelt sich zunehmend aus dem Schauspiel, das bloß angeschaut wird, in ein Ereignis und eine Begegnung, deren Ziel eine bewusste Einwirkung der Schauspieler auf das Publikum ist. Während in der jahrhundertelangen Tradition des europäischen Theaters der Schauspieler bzw. Performer im Mittelpunkt einer Aufführung stand, gewinnt im politischen
60 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke auf Grund der Originaldrucke, Bd. 5: Erzählungen/Theoretische Schriften, München 91993, S. 570-669, hier S. 573. 61 Allerdings wird Büchner als politischer Dramatiker in der Forschung sehr kontrovers diskutiert. Vgl. Wolfgang Lange: Literatur im Extrem. Georg Büchners »Woyzeck«, in: Leonhard Fuest, Jörg Löffler (Hg.): Diskurse des Extremen. Über Extremismus und Radikalität in Theorie, Literatur und Medien, Würzburg 2005, S. 107-132.
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Theater die unmittelbare Relation zwischen Zuschauer und Schauspieler an Bedeutung. So eröffnen sich »besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern«, die die Bühne in einen »performativen Raum«62 verwandeln, was andererseits auch mit einer Demokratisierung der Theaterarchitektur einhergeht, die äußerste Zweckmäßigkeit des Zuschauerraums und der Bühne voraussetzt. Bereits die Beseitigung des Logenprinzips nivellierte die Standesschranken und die ›Entschmuckung‹ und Verdunklung des Zuschauerraums lenkte die Konzentration auf das aufgeführte Werk, was in dem 1876 eröffneten Bayreuther Festspielhaus vorbildlich realisiert wurde. Mit der Theaterreform um die Jahrhundertwende bekam die Bühnenarchitektur eine politische Dimension, was in den 1920er Jahren in der nicht verwirklichten Idee des volksverbindenden Totaltheaters von Walter Gropius gipfelte.63 Die Entstehung eines dezidiert politischen Theaters war mit epochenmachenden Umwälzungen in Europa in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eng verbunden und manifestierte sich markant in verschiedensten Massenspektakeln. Ausschlaggebend hierfür waren insbesondere Experimente, die in Sowjetrussland nach der Revolution 1917 intensiv erprobt wurden. Die damalige Avantgarde – mit Wsewolod E. Meyerhold an der Spitze – lehnte völlig alte Konventionen ab und strebte nach einem systemgemäßen Theater für den neuen, bolschewistischen Zuschauer. Zur deutlichsten Demonstration des proletarischen Theaters wurden Massenveranstaltungen, die in den Jahren 1919-1920 äußerst populär waren und als Medium zur Vermittlung und Verbreitung der bolschewistischen Ideologie dienten. Sie fanden in den Riesenräumlichkeiten der öffentlichen Plätze unter Teilnahme von tausenden Darstellern statt und bedienten sich verschiedener Mittel, um starke kollektive Emotionen zu wecken. Zu den spektakulärsten Projekten gehört Nikolai Evreinovs Die Erstürmung des
62 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004, S. 187. Laut Wihstutz belebt das Gegenwartstheater die antike Idee des Theaters als Raum der Öffentlichkeit, womit das Politische räumlich gedacht wird. Vgl. Benjamin Wihstutz: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich 2012. 63 Zur Idee des Totaltheaters und seinen politischen Konnotationen vgl. Guido Hiß: Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000, München 2005.
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Winterpalastes (1920), in dem der Beginn der russischen Revolution nachinszeniert wurde. Die Massenspektakel verwischten die Grenzen zwischen Theater und Leben und wurden zu Ereignissen, die zugleich einen Fest- und Demonstrationscharakter hatten. Es ging nicht nur um ein bloßes Reenactment der Revolution und das Zelebrieren der kommunistischen Gemeinschaft, sondern um die Aufhebung der Trennung von Publikum und Schauspielern, um die Theatralisierung des Lebens.64 Die Theatralisierung des Alltags durch Massenspektakel wurde auch zum Wahrzeichen der anglosächsischen Pageant-Bewegung, die in den zwei ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts bemüht war, ihre kommunale Identität unter Berufung auf lokale Geschichte mit theatralen Mitteln herzustellen.65 Einen anderen Charakter hatten Experimente, die Erwin Piscator in den 1920er Jahren in Berlin in seinen Inszenierungen (u.a. Revue Roter Rummel, Trotz alledem!) verwirklichte und in zahlreichen Aufsätzen theoretisch fundierte, die in dem Band Das politische Theater (1929) gesammelt wurden. Piscator, der als Urheber des Begriffs »politisches Theater« gilt, schuf eine originelle Version des engagierten Theaters, das als Element des Klassenkampfes konzipiert war und als »episches Theater«66 bezeichnet wurde. Das Theater im Dienste der proletarischen Klasse griff Themen auf, die die Revolution und konkrete Zustände in der Weimarer Republik betrafen und die im Rahmen einer neuen kollektiv geschaffenen Dramaturgie bearbeitet wurden. Dabei entwickelte Piscator durch die Sprengung der Guckkastenbühne sowie das Brechen mit der literarischen Fiktion eine innovative Ästhetik. Seine politischen Ziele verwirklichte er durch die Nutzung einer ganzen Palette technischer Mittel (Foto- und Filmprojektionen, Radiomittschnitte etc.) sowie durch die Konstruierung von Aufführungen, die auf Dokumenten und anderen historischen Quellen basierten. Die politische
64 Vgl. Nikolaj Evreinov: Theater für sich, Berlin 2014. 65 Zur gemeinschaftsstiftenden Rolle der Massenspektakel vgl. Erika FischerLichte: Massenspektakel der Zwischenkriegszeit als Krisensymptom, in: Henning Grunwald, Manfred Pfister (Hg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, Paderborn, München 2007, S. 114-142. 66 Der Begriff, der Brecht zugeschrieben wird, wurde durch Piscator anlässlich der Inszenierung von A. Paquets Fahnen am 06.05.1924 an der Berliner Volksbühne verwendet. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen, Basel 21999, S. 333f.
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Problematik wurde zusätzlich durch unmittelbare Ansprache an das Publikum akzentuiert. Parallel dazu entwickelte Bertolt Brecht, der zwischenzeitlich mit Piscator zusammenarbeitete, die Idee eines Theaters, das eine kritische Reflexion zur politischen Wirklichkeit durch Verstärkung der Distanz zur dargestellten Handlung mittels Verfremdungs-Effekten aktivieren sollte. Auch Brecht konstruierte seine Dramen und Aufführungen unter Einbeziehung von historischen Stoffen, schuf dabei eine spezifische Form des antiaristotelischen, parabelhaft-offenen Dramas, dessen Verlauf programmatisch durch V-Effekte (z.B. Songs, Publikumsanreden etc.) unterbrochen wurde, um dem Publikum kritisches politisches Bewusstsein einzuüben. Brechts »episches Theater« erwächst gewissermaßen aus dem expressionistischen Geist, der ihn offensichtlich beeinflusste und inspirierte. Der deutsche Expressionismus trug ganz starke politische Merkmale sowohl in ideologischer als auch in motivischer Hinsicht. Die Idee des neuen Menschen schreibt sich in das politische Projekt der Strömung genauso ein wie ihre offen revolutionären Akzente, wofür exemplarisch die Dramatik von Ernst Toller steht.67 Das Streben nach politischem Einfluss auf den Zuschauer führte zwangsläufig zur Instrumentalisierung des Theaters als Propagandamittel. Als Vorläufer gilt das sowjetische Theater, das unter dem Zeichen der Agitprop-Doktrin stand, die die Vermittlung von kommunistischen Ideen leninistischer Ausprägung zum Ziel hatte. Auch in der Weimarer Republik waren kommunistische Agitproptruppen tätig, die die Tradition der freien Volksbühnenbewegung fortsetzten und oft mit dem Internationalen Revolutionären Theaterbund in Moskau verbunden waren.68 Die Zielsetzung der Bewegung fasste manifestartig Friedrich Wolf 1928 in seiner Rede Kunst ist Waffe69 zusammen. Nach Hitlers Machtübernahme bekämpfte das NaziRegime nicht nur das kommunistisch gesinnte Theater entschieden, sondern alle Formen der oppositionell-nonkonformistischen Kunst, wie das berühm-
67 Vgl. Stefan Neuhaus, Rolf Selbmann, Thorsten Unger (Hg.): Ernst Toller und die Weimarer Republik: ein Autor im Spannungsfeld zwischen Literatur und Politik, Würzburg 1999. 68 Vgl. Richard Weber: Proletarisches Theater und revolutionäre Arbeiterbewegung 1918˗1925, Köln 21987. 69 Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe! Eine Feststellung, in: Gesammelte Werke in 16. Bänden, Bd. 15: Aufsätze 1919-1944, Berlin, Weimar 1967, S. 76-96.
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te Münchner Kabarett »Die Pfeffermühle«. Das offizielle Theater wurde massiv durch die rassentheoretisch begründeten Maßnahmen politisiert, was zum Kampf gegen die ›entartete‹ Kunst und Künstler und folglich zur Dezimierung der Theaterensembles wie der Spielpläne führte. Dabei entfaltete der Nationalsozialismus seine eigene propagandistisch-völkische Massentheaterform. Die sog. Thing-Spiele waren Freilichtspiele, die Fest und Kundgebung verbanden und vorwiegend die mythologisierte deutsche Geschichte in Szene setzten. In diesen Massenspektakeln ging es primär um die Dar- und Herstellung der Volksgemeinschaft. Da sie aber den Machthabern als zu kultisch vorkamen, waren sie schnell unerwünscht bzw. wurden durch andere Propagandamedien ersetzt. Dabei kam es zur zunehmenden Theatralisierung aller parteipolitischen Veranstaltungen, was Riefenstahls Triumph des Willens, der Dokumentation des Reichsparteitages in Nürnberg 1934, eindrücklich veranschaulicht. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und mit der neuen Teilung Europas spaltet der Eiserne Vorhang das politische Theater auf dem alten Kontinent. Im sog. Ostblock wurde das offizielle Theater zwangsläufig zu einer politischen Institution, die im Sinne der sozrealistischen Doktrin ihren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus durch Erziehung des sozialistischen Menschen leisten sollte. Diese didaktische Funktion kam in erster Linie der sozialistischen Gebrauchsdramatik in Form der sog. Produktionsstücke zu, in denen die sozialistische Arbeit als revolutionärer Vorgang gefeiert wurde. Neben einer Unmenge von platten, schablonenhaften Propagandatexten gab es ambitionierte Werke, die die sozialistische Wirklichkeit mehrdimensional und kritisch in Szene setzten. Dazu gehören vor allem die umstrittenen Texte von Heiner Müller (Der Lohndrücker 1957, Die Korrektur 1958, Die Umsiedlerin 1961), der nicht zuletzt durch eine poetisch-allegorische Verfremdung die Reflexion der Zuschauer zu aktivieren versuchte. Indes generierte die ideologische Bevormundung oppositionelle Bestrebungen, die entweder in Form von Untergrundaufführungen oder als Theater der politischen Allusion auf offiziellen Bühnen zum Ausdruck kamen. Als Paradebeispiel für die gegen das System gerichtete Kraft des Theaters können die Proteste der Warschauer Studierenden dienen, die sich 1968 gegen das Absetzen der Inszenierung von Mickiewicz’ Totenfeier vom Spielplan auf-
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grund vermeintlicher antisowjetischer Anspielungen auflehnten, was zu einer spektakulären Demonstrationswelle in ganz Polen führte.70 Im kapitalistischen Westen wurde die neue Welle des politischen Theaters in den 1960er und 1970er Jahren durch die Intensivierung der Tätigkeit von linken Intellektuellen und Künstlern ausgelöst, die nach einer antibürgerlichen Revolution strebten, die gegen Kapitalismus, Sexismus, Rassismus und Militarismus gerichtet war. Dominierende Strömungen dieser Bewegung waren der linke Anarchismus und Pazifismus, der unmittelbar mit dem Protest gegen den Vietnam-Krieg zusammenhing. Die umstürzlerischen Wallungen kulminierten in der Pariser Revolte 1968 sowie in den Unruhen an den amerikanischen Universitäten in den Jahren 1968-1970. Diese Gegenkultur schlug eine radikale Veränderung der Welt vor, die nicht nur das innere, alltägliche Leben des Individuums, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Relation zwischen Mensch und Natur umfassen sollte. All diese Tendenzen fanden ihren Ausdruck in der Tätigkeit der so genannten Off-Theater, die zum Sprachrohr der Protestbewegung wurden. Herausragend waren in dieser Hinsicht die Aufführungen des amerikanischen Living Theatre (Paradise Now 1968 und der Zyklus The Legacy of Cain 1973-1975) und des Bread and Puppet Theatre (The Cry of the People for Meat 1969) sowie die des französischen Regisseurs und Gründers der Avignoner Off-Szene André Benedetto (Napalm 1968). Auch Künstler, die nicht direkt in die Protestbewegung involviert waren, schufen kritische, politisch orientierte Aufführungen, wie der Brite Peter Brook mit seiner berühmten Antikriegsinszenierung US (1966) oder die Französin Ariane Mnouchkine mit ihrem Reenactment der Französischen Revolution 1789 (1970). Eine besondere Stellung nimmt vor diesem Hintergrund der italienische Autor und Regisseur Dario Fo ein, der seit 1950 eine bissige Kritik an weltweiten politischen Zuständen übt. Er rekurriert auf die Tradition des volkstümlichen Lachtheaters und des Narren, der seit alters her in verschiedenen Figurationen als eine soziale Institution zulässiger politischer Kritik fungierte, und bedient sich der Konvention des »versteckten« Theaters, d.h. einer künstlerischen Aktionsform in der Öffentlichkeit. Seine Stücke reagieren gnadenlos und höhnisch auf aktuelle politische Ereignisse
70 Vgl. Dariusz Kosiński: Polnisches Theater: eine Geschichte in Szenen, Berlin 2011, S. 205.
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(politische Morde, Mafia, Korruption, Berlusconi), weswegen er oft bedroht, schikaniert und verhaftet wurde.71 In der Bundesrepublik brachte die allmähliche Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Themen als Reaktion auf restaurative Tendenzen ein besonderes Phänomen des aufklärerischen Dokumentartheaters hervor. In den 1960er Jahren modifizierten Autoren wie Rolf Hochhuth, Heiner Kipphardt und Peter Weiss das konventionelle Geschichtsdrama und schufen ein dokumentarisches Theater, das heikle Themen berührte und sich dabei eng an historische Dokumente lehnte. Zur Zielscheibe des Dokumentartheaters wurde in erster Linie die Verharmlosung des 2. Weltkrieges bzw. des Nationalsozialismus sowie die Auseinandersetzung mit dem neuen Imperialismus. Nach Weiss, der zum Theoretiker der Strömung avancierte, wird das Dokumentartheater zur Stätte »der Berichterstattung« und »enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder«72. So wurde das Theater als Verhandlungsort politischer Fragen restituiert und die Szene verwandelte sich nicht zuletzt durch den Rekurs auf die Konvention der Gerichtsverhandlung in ein Tribunal. Seine Sprengkraft verdankt das dokumentarische Theater Piscator, der die wichtigsten Stücke an der Berliner Freien Volksbühne uraufführte (Hochhuths Der Stellvertreter 1963, Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer 1965 und Weissʼ Die Ermittlung 1965) und somit seine politische Mission fortsetzte. Sowohl die unbequemen Fragestellungen als auch die provokante Agitationsform der Aufführungen führten zu heftigen Kontroversen und sorgten für einen großen Wirbel. Als spektakuläres Beispiel kann Der Stellvertreter fungieren, der dem Papst Pius XII. die Mitschuld am Holocaust vorwirft. Seine Berliner Prämiere löste einen Skandal mit internationalen Folgen aus.73
71 Zum politischen Theater von Dario Fo vgl. Birgid Gysi: Dario Fo: Theater, Politik, Kultur, Berlin 2000. 72 Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, in: Peter Weiss: Das Material und die Modelle. Dramen, Bd. 2., Frankfurt/Main 1968, S. 464-472, hier S. 465. 73 Zur politischen Brisanz des Stücks vgl. Nadine Wickert: »Der Stellvertreter« und seine Umsetzung in Theater und Film. Das Politische in Rolf Hochhuths Drama, Erwin Piscators Bühneninszenierung und Constantin Costa-Gavrasʼ Film, Hamburg 2014.
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Innerhalb der Tendenzen der starken Politisierung des Theaters in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts kristallisierte sich eine radikale Form heraus, die in Anlehnung an Che Guevara als Guerilla-Theater bezeichnet wurde. Der Kurzschluss von Partisanenkrieg und performativer Kunst bedeutete eine programmatische Nutzung der künstlerischen Mittel, um eine unmittelbare politische Reaktion hervorzurufen und wirkliche Veränderungen in der gesellschaftlichen Realität zu verursachen. Der entscheidende Impuls kam von Ronnie Davis, dem Leiter von The San Francisco Mime Troupe, der das theatrale Agieren in der Öffentlichkeit als eine Art Zündung für die politische Aktion verstand. Das Guerilla-Theater als politisches Straßentheater etablierte sich vor allem in den USA,74 obwohl seine Methoden weltweit zum Einsatz kamen, wie im Falle des brasilianischen Teatro de Arena von Augusto Boal. Während das Guerilla-Theater generell eine Trennung zwischen den Schauspielern und dem Publikum voraussetzte, entwickelte Boal das Modell des »Unsichtbaren Theaters«, das darin bestand, dass auf öffentlichen Plätzen Ereignisse kreiert wurden, in die zufällige Menschen verwickelt wurden, die sich dessen nicht bewusst waren, dass sie sich in einem theatralen Experiment befanden. Boal tarnte sein Theater als Alltagssituation und verwischte die Grenze zwischen den Zuschauenden und den Schauspielenden wie auch zwischen der künstlerischen und politischen Tätigkeit.75 Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen den Schauspielenden und den Zuschauenden sowie das Abschaffen der Grenze zwischen den inszenierten und zufälligen Ereignissen wurde zu dem wichtigsten Maßstab für das politische Theater Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. Stark beeinflusst wurde die Entwicklung auch durch das Phänomen der Live und Performance Art, die festgelegte, verbindliche Grenzen, Begriffe und Konventionen negierten. Sie hatten eine starke gesellschaftliche und politische Sprengkraft und etablierten neue Theaterformen,
74 Kohtes bestimmt das Guerilla-Theater streng »geographisch als U.S.amerikanisch«. Vgl. Martin M. Kohtes: Guerilla-Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965-1970), Tübingen 1990, S. 24. Neben The San Francisco Mime Troupe gehörte das kalifornische El Teatro Campesino von Louis Valdez zu den produktivsten amerikanischen GuerillaTheatern. 75 Vgl. Augusto Boal: Theater der Unterdrückten, Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt/Main 1989.
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die vor allem Minderheiten bzw. Benachteiligte aktivierten und Phänomene wie Gender Performance bzw. Feministisches Theater hervorbrachten. Die Dekonstruktion der stereotypen Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die sich nunmehr auf Text- und Aufführungsebene vollzieht, wird von einem politischen Impuls zur Befreiung von hierarchischen Geschlechterverhältnissen geleitet. Infolge einer Evolution, die das Theater im 20. Jahrhundert erlebte, wurde es zum Instrument einer permanenten Subversion von Diskursen, die verschiedene Formen des Unrechts und der Unterdrückung verfestigen. Darin schreibt sich auch das Postkoloniale Theater ein, das eine kritische Auseinandersetzung mit dem menschenverachtenden Diskurs der Kolonisation führt, genauso wie das Migrantentheater bzw. das Postmigrantische Theater, das nach dem Status der ›Fremden‹ in einer vermeintlich autochtonen Gesellschaft fragt. Das Theater interveniert in gesellschaftliche Verhältnisse, indem es eine kritische Einstellung zur sozialen Wirklichkeit fördert und die Denkselbstständigkeit anspornt. In diesem Rahmen verlagert sich das Politische des Theaters deutlich von den Inhalten auf die spezifische Ästhetik, die mit stereotypen Darstellungsmodi bricht und das Wahrnehmungsmuster des Zuschauers stört, an dem die Reflexion seines eigenen politischen Standorts erzwungen wird. Diese neue Politik des Ästhetischen macht die Bühne zu einem (Ver-)Handlungsort, an dem ›Normalitäten‹ als Produkt von Ausgrenzung hinterfragt werden. Im extremen Fall werden Situationen kreiert, die auf äußerste Provokation abzielen, um das Publikum aus der bequemen und sicheren Rolle herauszureißen und eine unmittelbare Reaktion hervorzurufen. Die Methode wird auch bei strikte politischen Aktionen angewendet, die dadurch eine paratheatralische Struktur erhalten, wie z.B. die Proteste der Greenpeace-Bewegung oder die Auftritte feministischer Aktivistinnen wie die der russischen Gruppe Pussy Riot. Generell betrachtet, etablierte sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA ein neues politisches Theater, zu dessen prominentesten Vertretern Giorgio Strehler (Piccolo Teatro), Ariane Mnouchkine (Théâtre du Soleil), Richard Schehner (Performing Garage), Julian Beck und Judith Malina (Living Theatre), Jerzy Grotowski (Teatr Laboratorium), Peter Brook oder in Deutschland Peter Stein (Berliner Schaubühne) und Claus Peymann gehören. Die von den Theaterkünstlern erarbeiteten Ästhetiken und Methoden sind zwar sehr unterschiedlich, verbinden aber das Streben nach künstlerischer Freiheit und der Autonomie des Theaters mit
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dem politischen Bemühen um die Autonomie des von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Menschen. Dieser Gestus charakterisiert auch das Nachkriegsdrama, das – wie vor allem die Texte aus dem Bereich des absurden Theaters – auffallend verstärkt relevante philosophische Fragen stellt, die sich mittelbar auf den politischen Alltag beziehen. Als eine neue Form des strikte politischen Dramas verfestigte sich in den 1970er Jahren das neue Volksstück, das seinen Fokus auf marginalisierte Lebensexistenzen richtete und eine drastische Sozialdramatik auf die Bühne brachte.76 Die 1980er Jahre standen unterm Zeichen einer gewissen Stagnation des politischen Theaters in inhaltlicher Hinsicht und kennzeichneten sich vorwiegend durch Erkundung neuer Theatermittel. Erst der Zusammenbruch des Kommunismus löste zwangsläufig eine neue Welle an politischen Themen aus, die vorher aus systemideologischen Gründen ausgeblendet waren oder nunmehr neue gesellschaftliche Phänomene berührten. Es etablierte sich ein neues Zeittheater, das durch den Bezug auf die veränderte Wirklichkeit und ihre Probleme deutlich re-politisiert wurde. Im vereinigten Deutschland waren es Texte und Aufführungen, die die Wende als »erzwungene ›Hochzeit‹ der beiden deutschen Staaten«77 darstellten und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen analysierten. Zu einem politischen Theaterzentrum wurde die Berliner Volksbühne unter der Leitung von Frank Castorf, die kompromisslos die Spezifik des östlichen Teils Deutschlands zeigte und die deutsch-deutsche Befindlichkeiten auslotete.78 Die Volksbühne wurde auch zum Hort einer neuen Verknüpfung von Politik und Theater, die in Form von Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen gepflegt wurde. Castorfs provokatives Dekonstruktionstheater mit der Ablösung vom literarischen Text und dem Illusionismus spitzte zum einen die allgemeine Tendenz der Entliterarisierung des Theaters im 20. Jahrhundert
76 In diesem Kontext ist vor allem Franz Xaver Kroetz zu nennen. Zum neuen kritischen Volksstück vgl. Ursula Hassel, Herbert Herzmann (Hg.): Das zeitgenössische deutschsprachige Volksstück, Tübingen 1992. 77 Birgit Haas: Theater der Wende – Wendetheater, Würzburg 2004, S. 143. 78 Tobias Hockenbrink: Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank Castorfs Theater, Marburg 2008.
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zu, zum anderen avancierte es zu einem der Paradebeispiele79 des sog. Postdramatischen Theaters.
3.3 P OSTDRAMATIK
UND DAS
P OLITISCHE
Der Begriff des Postdramatischen wurde in der deutschen Theaterwissenschaft geprägt und durch den 1999 erschienenen Essay Postdramatisches Theater von Hans-Thies Lehmann untermauert. Dem Theaterwissenschaftler ist es gelungen, das in Ansätzen bereits präsente Theorem wissenschaftlich so zu etablieren,80 dass es nachhaltig in den Mittelpunkt theaterwissenschaftlicher Reflexionen rückte und die Disziplin polarisierte. Nach wie vor scheint es, dass jeder Beitrag, der dem Gegenwartstheater gewidmet ist, in irgendeiner Form auf die von Lehmann entfaltete »ästhetische Logik des neuen Theaters«81 Bezug nimmt.82 Das Spektrum der Rezeption reicht von
79 So wird er in der Liste der 40 »postdramatischen« Regisseure von Lehmann angeführt. Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 24. 80 Lehmanns Buch geht bekanntermaßen auf den Aufsatz Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien von Andrzej Wirth [in: Gießener Universitätsblätter 2 (1987), S. 83-91] zurück. Wirth als Gründer der Angewandten Theaterwissenschaft, die als Opposition zu dramenzentrierten Schauspielschulen konzipiert war, konstatierte Veränderungen in den Theaterformen unter dem Einfluss der globalen Medialisierung, die auf eine Loslösung des Theaters von der Vorherrschaft des Sprechtheaters, d.h. mitunter des Dramas, hinauslaufen. Die Kategorie bezieht sich vor allem auf die Entwicklung des Theaters seit den 1970er Jahren, lässt sich aber auch mit den theaterreformatorischen Tendenzen um 1900 in Verbindung bringen. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Basel 1997, S. 33. 81 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 15 (Hervorhebung im Original). 82 Es gehört fast zum Standard, dass in Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten zum zeitgenössischen Theater das ›postdramatische Paradigma‹ in einem separaten Kapitel besprochen wird.
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Affirmation (ggf. mit Korrekturvorschlägen83) über Ignoranz84 bis zu vernichtender Kritik. In dem Theoriegewebe wird die Etablierung von postdramatischen Theaterformen vordergründig auf die Expansion der neuen Medien mit ihrer Simulation von Wirklichkeit zurückgeführt, gegen die sich das Theater wehren und behaupten muss, indem es auf seine Liveness, seine Ereignishaftigkeit und Korporalität setzt. Insbesondere dem »Jetzt der fleischlichen Präsenz des Körpers«85 kommt im postdramatischen Theater eine Schlüsselrolle zu: Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Körper zum Zentrum. Das zentrale Theaterzeichen, der Körper des Schauspielers, verweigert den Signifikantendienst. Weithin stellt postdramatisches Theater sich dar als Theater einer autosuffizienten Körperlichkeit, die in ihren Intensitäten, gestischen Potentialen, in ihrer auratischen ›Präsenz‹ und inneren wie nach außen übermittelten Spannungen ausgestellt wird.86
Mit der Ablösung des mimetischen Schauspieltheaters durch ein selbstreferenzielles Körper-Theater wird das Drama, das als Text jahrhundertelang mit unterschiedlicher Intensität zu den Grundkonstituenten des theatralen Ereignisses gehörte und als relevanter Träger der sozialen Repräsentanz und damit auch der ›politischen‹ Botschaft fungierte, aufgekündigt. Seine Abwertung als obsoletes Medium, dessen V-Effekte zu TV-Effekten verflachten,87 setzt zwangsläufig seine Grundkonstituenten – die Dialogizität, die Figuration und nicht zuletzt die Handlung – herab, an deren Stelle als
83 So schlägt Wirz hedonistisch seine eigene Definition des postdramatischen Theaters vor: »Es ist ein Theater, das von Zeichen in allen möglichen Hinsichten Gebrauch macht.« Benno Wirz: Das Problem des postdramatischen Theaters, in: Forum Modernes Theater 20/2 (2005), S. 117-132, hier S. 126 (Hervorhebung im Original). 84 Gemeint als bibliographische Absenz, wie es in einigen einschlägigen Publikationen zum Gegenwartstheater der Fall ist. Solch ein Ausklammern bedeutet letztlich auch eine Art Stellungnahme. 85 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 262. 86 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 163 (Hervorhebung im Original). 87 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 126.
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Essenz der Aufführung das Ereignis tritt. Unter dieser Prämisse schwindet die Mimesis bzw. Repräsentation zugunsten einer Präsenz, die letztlich auf performativer Ebene den Sinn ersetzt, was den traditionellen Begriff des Politischen ins Wanken bringt. Während die (reale) Wirklichkeit samt der Politik zum Theater wird,88 soll sich das Politikum des Theaters durch die Unterbrechung des Politischen, d.h. als Störung der gängigen Darstellungsund Wahrnehmungsmuster konstituieren.89 Dieses neue Politikum gründet sich auf der Reduktion der Bedeutung bei einer gleichzeitigen Steigerung der Erfahrung. Gerade dieser Sinnverlust zugunsten eines sinnlichen Gewinns führte in der wissenschaftlichen Debatte zu heftigen Kontroversen. In seiner höchst polemischen Kritik des Theaters, die die postdramatische Tendenz als Missstand anprangert, formulierte Bernd Stegemann 2013 provokant folgenden quasi-theaterapokalyptischen Gedanken: Von seiner Bedeutung her bezeichnet der Begriff der ›Postdramatik‹ zuerst eine Theaterform nach dem Drama. Wenn mit dem Drama die dramaturgische Darstellung von Handlungen gemeint ist, stellt sich die Frage, was nach einem Theater der Handlungen auf der Bühne passieren kann.90
Stegemann baut seine radikale Kritik des Theaters auf einer kulturpessimistischen Diagnose der Gegenwart auf. Der Dreh- und Angelpunkt seiner Ausführungen ist die Annahme der Omnipotenz des Neoliberalismus und der »Produktion egoistischer Subjekte durch den emotionalen Kapitalismus«91, die sich seit Jahren auch des Theaters bemächtigt. In vielen Punkten stimmt Stegemanns Argumentation mit der scharfen Polemik von Birgit Haas überein, die mit ihrem Plädoyer für ein dramatisches Drama von 2007 der »Postdramatik« als »postanthropozentrische[m] Theater« gnaden-
88 Zur Theatralisierung der Wirklichkeit vgl. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung, in: Erika Fischer-Lichte, Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel 2000, S. 11-27. 89 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: Hans-Thies Lehmann: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11˗21. 90 Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 273. 91 Stegemann: Kritik des Theaters, S. 9.
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los »Entmenschlichung« attestierte.92 Ihre Verortung des postdramatischen Theaters »in gefährlicher Nähe zum sinnlosen Konsum«93 greift Stegemann auf, indem er den postdramatischen »Exzess und die Intensität« als »narzisstischen Genuss«94 dekuvriert. Im Hinblick auf die Genese des Postdramatischen leuchtet es durchaus ein, dass die Erschütterung der ›Gutenberg-Galaxis‹ durch die Expansion der neuen Medien deutliche Spuren im Theater hinterlassen musste, zumal es als Literatur-Theater in der ›Graphosphäre‹ fest verwurzelt war. Der Soziologe Dirk Baecker beschreibt die Folgen der Emergenz von neuen Medien fürs Theater als einen spannungsvollen Umbruch, in dem sich das Körper-Medium alle elektronischen Medien einverleibt, um den Menschen im Körper-Theater auf die Probe zu stellen: Das Theater wird von einer neuen Unruhe erfasst. Es wird zum Medientheater. Es stellt auf die Bühne, was an elektronischen Medien zu haben ist, und schaut sich an, wie sich Körper und Räume, Stimmen und Gesten jetzt noch bewähren. Es verwandelt sich in ein Medium, in dem ausprobiert werden kann, wie sich das Verhalten der Menschen modifiziert, wenn es mit der Hilfe von Kamera und Mikrofon, Leinwand und Lautsprecher, Licht und Ton unterstützt und unterlaufen, zerlegt und wieder zusammengesetzt, gespiegelt, verzerrt und verschoben wird. Es stellt den Computer, der die elektronischen Medien steuert, neben den Menschen und zeigt, dass beide nach Regeln funktionieren, die determiniert sind und auf dieser Grundlage ihr Verhalten unvorhersehbar machen.95
Somit wird das zeitgenössische Theater zum »Medientheater« auf dem Selbstprüfstand, zu einer Autokontrollinstanz. Diese prüfende Selbstreferenz hängt laut Baecker mit der Sorge um die Zukunft des Theaters zusammen, mit der Frage nach der Tauglichkeit seiner Formen »in einer neu-
92 Vgl. Birgit Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007, S. 31. 93 Haas: Plädoyer, S. 115. 94 Stegemann: Kritik des Theaters, S. 59. In dieser Hinsicht wird das Theater laut Stegemann auf eine Ware reduziert: »Die Entfremdung des Lebens erzeugt ihre eigene Sehnsucht nach einem authentischen Ursprung, der im Konsum zu einem Markenzeichen wird, das eine Ware attraktiver macht.« Ebd., S. 58. 95 Dirk Baecker: Medientheater, in: Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/Main 2007, S. 81-97, hier S. 81.
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en, nächsten Gesellschaft, von der man was ahnt«.96 Was damit antizipiert wird, ist die Omnipotenz der Computertechnik, die sich bereits jetzt des Theaters bemächtigt: »Handlung, Wille und Bewusstsein werden ergänzt durch Technik, Zufall und Prozess.«97 Die Unvorhersehbarkeit, die dem Computer wie dem Menschen laut Baecker eigen ist, verwandelt letztlich die Akteure in »Indikator[en] eines Geschehens, das weder rätselhaft von Geistern und Gespenstern noch rächend und erlösend von den Göttern und erst recht nicht leidenschaftlich und berechnend von ihm selbst gesteuert wird.«98 Was auf den ersten Blick als schwarzseherisch anmutet, schreibt sich in eine systemtheoretisch grundierte Vision einer medialen Gesellschaft ein, in der das Theater »den Akzent nicht mehr auf Texte, sondern auf Medien legen und […] die Welt in Ton-, Text-, Bild- und Codespuren zerlegen und allenfalls verwirrend wieder zusammensetzen [wird].«99 Signifikanterweise überschneiden sich Baeckers Überlegungen mit der Argumentationsführung von Lehmann. Auch in seiner Konzeption wird das Theater zu einem Versuchslabor, zu einem »Ort des Trainings […], in dem die Individuen üben, wie sie angesichts ihres Zusammenwirkens mit ihrer Abhängigkeit von technologischen Strukturen eine Sicherheit, persönliche Resistenz und Selbstbewußstsein behaupten.«100 Bei dem Einsatz von neuen Medien handelt es sich also nicht um eine »Effektemaschinerie«, sondern um eine Theatralisierung der »Technologie der Medien«: »Das Mechanische, die Reproduktion und Reproduzierbarkeit werden zum Spielmaterial und müssen der Gegenwärtigkeit des Theaters, dem Spiel, dem Leben zum Besten dienen.«101 Die Kollision von technisch Erzeugtem und körperlich Vorgeführtem in einer Theateraufführung, »das Spiel mit der Erfahrung zwischen dem anwesenden Körper und seiner immateriellen Bilder-
96
Baecker: Medientheater, S. 96.
97
Baecker: Medientheater, S. 84.
98
Baecker: Medientheater, S. 84.
99
Dirk Baecker: Wozu Theater?, Berlin 2013, S. 3. Hier auch: »[I]m ›nächsten‹ Theater wird das Spiel selber auf seine Unvermeidlichkeit zurückbuchstabiert, ohne dass zwischen Sein und Schein irgendein verlässlicher Trennstrich zu ziehen wäre.«
100 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 431. 101 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 424.
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scheinung«102 wirkt nach Lehmann der fortschreitenden Medialisierung bzw. Virtualisierung der menschlichen Existenz entgegen und macht das Theater zum Ort der realen intersubjektiven Körper-Erfahrung, die durch die Performanz der real anwesenden Akteure sowie durch die Irritationen der Wahrnehmung des sinnlich überwältigten Publikums generiert wird. Die Präsenz des Körpers, die in den Mittelunkt des Theaters als Ereignis gerät, geht zwangsläufig mit der Erfahrung von Sterblichkeit und Verletzlichkeit einher oder mit Lehmanns Worten: Das Theater wird zu »einem gemeinsamen Zeit-Raum der Sterblichkeit«, die die »kategoriale Differenz zwischen Theater und Medien« ausmacht.103 Die existentielle Erfahrung des Sterblich-Verletzlichen hat weniger mit dem Empfinden »der sozialen Verwundbarkeit«104 zu tun, sondern scheint stark an ein mystisch-spirituelles Erlebnis zu grenzen. Es könnte sogar die These gewagt werden, dass das Theater in der säkularisierten, zunehmend atheistischen westlichen Welt zu einem Quasi-Religionsersatz wird. In diese Tendenz schreibt sich auch und gerade die Amputation des Dramas aus dem Theatergewebe ein, die den Versuch einer Restitution des Prädramatischen, das Bemühen nach der Belebung eines modernen Mythentheaters impliziert. In der Tat lässt sich in den letzten Jahren eine deutliche Rückkehr der Tragödie auf die Theaterbühnen beobachten, wobei es sich weniger um eine Wiederherstellung des traditionsreichen Genres im Sinne der Reliteralisierung aktueller Theatertexte, sondern um eine Liaison von tragödienhaften Inhalten und postdramatischen Darbietungsformen handelt, d.h. um ein »Zusammenspiel von neuen Formen und alten Fragen.«105 Bei dem Rekurs auf die Grundprobleme menschlicher Existenz im zeitgenössischen Theater erweist sich die Tragödie – so Franziska Schößler – »als be-
102 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 405. 103 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 410. 104 Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/Main 2005, S. 37. 105 Franziska Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Tragödie bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher, in: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin, New York 2010, S. 319-337, hier S. 321.
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sonders taugliches Medium, um die Theatralität von Dramen, um das Jenseits der Sprache, den Körper im Schmerz, erfahrbar zu machen.«106 Vor dem Hintergrund des postdramatischen Paradigmas offenbart die Ausstellung des unter Schmerz leidenden Körpers, der in seiner »auratischen ›Präsenz‹«107 zum Vorschein kommt, jedoch ein gravierendes Paradox. Einerseits zeigt der Körper »nichts anderes als sich selbst«108 und verweigert die Signifikation, andererseits wird er »mit einer das gesamte gesellschaftliche Dasein betreffenden Bedeutsamkeit«109 aufgeladen, was mit einem politischen Moment der Unterbrechung herkömmlicher Wahrnehmungs- und Denkweisen, d.h. der Unterbrechung des »Theater[s] als Schaustellung«110 einhergeht.111 Diese Stockung soll ein neues Politikum des Theaters generieren, das dem Theater der Politik die Politik des Ästhetischen gegenüberstellt bzw. der Logik des politischen Diskurses die Logik des (postdramatischen) Körper-Theaters entgegensetzt. Diese Volte impliziert eine generelle und im Grunde dem (postdramatischen) Theater immanente Politisierung als Antidoton gegen die Politik, die in ihren theatralen Masken auftritt. Es mag stimmen, dass die Zuschauenden durch den theatralen Akt der Unterbrechung ihren eigenen politischen Standpunkt und -ort zu finden vermögen. Wenn aber die Theatermasken der (realen) Politik – wie behauptet wird – deren völlige Intransparenz bewirken,112 drängt sich
106 Schößler: Wiederholung, 337. 107 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 163. 108 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 164. 109 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 164f. 110 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 19. 111 »Theatrale ›Unterbrechung des Politischen‹ nimmt […] vorzugsweise die Form einer Erschütterung der Gewohnheit/Enttäuschung des Wunsches an, auf der Bühne analog zum Alltagserleben dramatisierte Simulakra der sogenannten politischen Realitäten vorzufinden.« (Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 18.) Die »Unterbrechung des Politischen« ist in Lehmanns Denken eine Unterbrechung von ästhetischen Regeln des Theaters und somit eine Störung der »trügerische[n] Unschuld des Zuschauens« (ebd., S. 19). 112 Vgl. Hans-Thies Lehmann in: »Für jeden Text das Theater neu erfinden.« Videokonferenz mit Pia Janke, Karen Jürs-Munby, Hans-Thies Lehmann, Monika Meister, Artur Pełka, in: Pia Janke, Teresa Kovacs: »Postdramatik« – Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 33-45, hier S. 37.
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die Frage auf, ob die Politik des Ästhetischen diese Intransparenz nicht geradezu unterstützt, statt sie zu demaskieren. Ähnlich wie theoretische Reflexionen werden künstlerische Artefakte nie in einem gesellschaftlich-historischen Vakuum geboren, sondern sind ständig in dem jeweiligen Hier und Jetzt verortet. Allein aufgrund dieser Tatsache bleiben sie referentiell in dem Sinne, dass sie per se mit der Kondition der Welt und der Menschen zusammenhängen. Auch wenn künstlerische Realität als reine Präsenz gefeiert wird, ist solch eine Gegenwärtigkeit immer noch mimetisch mit der Welt gekoppelt, und zwar durch die Verankerung der Beteiligten (KünstlerInnen wie RezipientInnen) in historischpolitische Kontexte. Auch religiöse Rituale, die mit der Präsenz operieren, sind nicht imstande, den Status des Gläubigen als eines bestimmten homo socialis zu leugnen. Das postdramatische Theater, das auf seine körperliche Autosuffizienz insistiert und die notgedrungene Semiotik des Körpers verwirft,113 droht die soziale Verfasstheit des Körpers zu entpolitisieren. Indessen scheint die aktuelle geisteswissenschaftliche wie kulturphilosophische Rückbesinnung auf das Reale, die 9/11 und seine politischen Folgen erzwungen haben, den
113 Den Körper, der die Grundlage der theatralen Inszenierung ausmacht [»Theater braucht für seine Inszenierungen weder besondere Materialien noch besondere Zeichensysteme. Der menschliche Körper und vielleicht noch einzelne Objekte aus seiner Umgebung sind alles, dessen es bedarf, um eine theatrale Inszenierung hervorzubringen«. Erika Fischer-Lichte: Theater, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie, Weinheim und Basel 1997, S. 985-996, hier S. 987.], charakterisiert eine ontologische Doppeldimension. Er gilt gleichzeitig als phänomenal und semiotisch, ist ein Teil der Natur und Kultur. In diesem Zusammenhang fungiert der Körper des Schauspielers als das Material für die Inszenierung und deren bedeutendes Element zugleich, d.h., er wird in seiner Physis als Träger von Sinn in Szene gesetzt (vgl. FischerLichte: Semiotik des Theaters, Bd. 3, S. 28f.). Diese Ambivalenz zwischen ›Körper-Sein‹ und ›Körper-Haben‹ konnte sich allerdings in der europäischen Theatergeschichte nicht in Balance halten. Während der Schauspielleib jahrhundertelang auf der Bühne hauptsächlich als dramatisches Zeichen präsent war, das den phänomenalen Körper quasi-überlagerte, insistiert das postdramatische Theater auf die körperliche Präsenz, die die Semiotik des Körpers instabil macht.
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Glauben an Erkennbarkeit und Veränderbarkeit zu restituieren. Dieser politische Elan könnte gewiss das Denken über das postdramatische Theater, das den Menschen als eine bestimmte diskursive Formation voraus- und in Szene setzt und somit an einer Kontingenz der undurchschaubaren Strukturen festhält, befruchten. In diesem Sinne wäre das »neu erwachte Interesse an der Realität«114 im Stande, eine theatrale Erfahrung zu generieren, »die den Menschen ein gemeinsames Erlebnis ermöglicht, das sie momentweise davon befreit, ihr eigenes Leben als unverständliche Folge von Zufällen zu erleiden«115 und dabei behilflich, »die Welt begreifen und sich ihre Veränderbarkeit vorstellen zu können.«116 Jede Institution – somit auch das Theater wie die Theaterwissenschaft – ist per se auf ihr eigenes Wohl auch im Sinne einer Optimierung ihrer Wirkung bedacht. Die Crux besteht darin, ob (und wie) der Gedanke einer ästhetischen Progression mit diesem Verbesserungswillen kompatibel sein kann.117 Gewiss hat die (Theater-)Kunst seit alters her immer wieder nach neuen Formen, die dem jeweiligen Zeitgeist gemäß wären, gesucht. In dieser Hinsicht ist die Prämisse, dass die Emergenz der neuen Medien das zeitgenössische Theater herausfordert, ebenso plausibel wie selbstverständlich. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob die in diesem Zusammenhang intendierte Infragestellung herkömmlicher Wahrnehmungs- und Denkweisen im postdramatischen Theater durch seine ›Unterbrechungen‹ letztlich doch nicht die Logik bzw. Wirkung der neuen Medien zumindest teilweise wiederholt und unterstützt.
114 Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 7. 115 Stegemann: Lob des Realismus, S. 8. 116 Stegemann: Lob des Realismus, S. 8. 117 Fraglich ist auch, ob ein ästhetischer Fortschritt überhaupt denkbar ist. Die Kunstgeschichte kennt zwar regressiv-stagnierende Momente, die mit der starken Ideologisierung (etwa im Nationalsozialismus oder Sozialistischen Realismus) verbunden waren, nichtsdestotrotz würde der universelle Gedanke einer permanenten ästhetischen Progression den ästhetischen Wert bestehender Kunstwerke – wie etwa der realistischen Malerei – in Frage stellen. Wenn aber mit der ästhetischen Progression eine Zweckmäßigkeit im Sinne der Veränderbarkeit der Welt mitgedacht wird, dann sind politisch wirksamere und so auch fortschrittlichere Ästhetiken durchaus vorstellbar.
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Die Wirkung der neuen Medien besteht nicht nur in der perfekten ›Simulation der Welt‹, sondern auch in einer beschleunigenden Fragmentierung und verflachenden Bebilderung. Der permanente Umschalt-Effekt als Konsequenz der omnipotenten Medialisierung trägt zu einer deutlichen Abkehr von Linearität, Kohärenz und Komplexität eines textuellen Zusammenhangs zugunsten von Unterbrechungen und Verkürzungen (Schlagwörterei, Emotikonisierung) bei, sprich zu einer generellen Kursorität. Zu fragen wäre, ob das sich immer mehr abzeichnende Unbehagen jüngerer Generationen am Lesen, ihre gelegentliche Unfähigkeit bzw. Unlust an einer reflektierten (hermeneutischen) Aufnahme von längeren und komplexeren (literarischen) Textsegmenten in gewisser Hinsicht nicht mit der entliterarisierten bzw. den entliterarisierenden Unterbrechungen des postdramatischen Theaters korrespondiert.118 Es lässt sich nicht leugnen, dass für das Politische des (zeitgenössischen) Theaters nicht nur Inhalte, sondern auch spezifische Ästhetiken des Performativen ausschlaggebend sind.119 Nichtsdestotrotz scheint die moderne Theaterwissenschaft in ihrem etwas esoterischen Insistieren auf die Selbstreferenz des Theaters ihre eigene Referenz zur Wirklichkeit zu verlieren und in einer selbstbefriedigenden Selbstgenügsamkeit zu verharren, wo doch gerade der Kollision zwischen Theorie und Praxis – genauso wie den Kollisionen zwischen dramatischem Text und aktueller Aufführung sowie zwischen erkannter Repräsentation und unbewusster Präsenz – ein enorm konstruktives Potential innewohnt.120 In dieser Hinsicht tendieren übrigens
118 Diese Korrespondenz wäre selbstverständlich nicht konsekutiv-kausaler Art, sondern ein signum temporis. 119 Vgl. Franziska Schößler: Politisches Theater nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42 (2008), S. 16-22, hier S. 16. 120 Stegemann pointiert die Kollision zwischen Theorie und Praxis des Theaters wie folgt: »Theater und Wissenschaft stehen […] beleidigt voreinander und versäumen dabei das Potential ihrer gegenseitigen Inspiration. Das künstlerische Theater empfindet die Beleidigung, dass es von seiner zuständigen Wissenschaft geringgeachtet wird. Und die Wissenschaft hält das konventionelle Theater für theorieunwürdig und für wenig lernbereit. So verpassen beide Seiten die Chance, das Verhältnis von Theorie und Praxis anders denken und agieren zu können, als allein aus der Selbstreferenz der Theorie oder der Tradition der Praxis.« (Stegemann: Kritik des Theaters, S. 239f.) Vor dem Hintergrund des vermissten
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beide Positionen – die Verfechtung des »dramatischen Dramas« wie des »postdramatischen Theaters« – zu einer problematischen Einseitigkeit121, die die Komplexität der Wirklichkeit wie der politisch ambitionierten Kunst vernachlässigt und letztlich auf ein Monopol hinsichtlich ästhetischer Wahrheit hinausläuft. Ihr Verfahren basiert grundsätzlich auf einem deduktiven Vorgang: Mit der Annahme eines allgemein vorherrschenden Phänomens – sei es der Privilegierung des Performativen, sei es des Dramatischen – wird auf das Besondere, d.h. einschlägige Inszenierungs- bzw. Textbeispiele geschlossen. Solch eine Schlussfolgerung klammert zwangsläufig alle Gegenbeispiele aus bzw. marginalisiert ihren Erkenntniswert und impliziert so den – zumindest latenten – Wunsch nach einer allgemeingültigen, normativen Regel, auch wenn beteuert wird, dass die Zielsetzung (lediglich) kognitiv-deskriptiver Art ist.122 Indessen erfordert die immense Heterogenität des Gegenwartstheaters geradezu eine unvoreingenommene, wertfreie Beschreibung der einzelnen
inspirativen Potentials müsste auch der Konnex zwischen Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft neu überdacht werden. 121 Problematisch sind übrigens auch die terminologischen Ungeschicktheiten. Während das Präfix ›post‹ in Lehmanns Schlüsselbegriff eine Art Sukzession impliziert, wirkt Haasʼ »dramatisches Drama« nicht nur pleonastisch, sondern gezwungen pathetisch. 122 So betont Lehmann ausdrücklich im Auftakt seiner Studie, das Ziel sei »das Gewordene auf Begriffe zu bringen, nicht es als Norm zu postulieren« (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 27), während Haas von einer »propositionalen Poetik« (Haas: Plädoyer, S. 72) spricht. Trotz dieser Versicherungen ist es schwierig sich des Eindrucks zu erwehren, dass die Forscherin wie der Forscher ihre ›Paradigmen‹ zum ästhetischen Maßstab erklären, zumal in der Argumentationsweise beider ein plädierend-affirmativer Ton mitklingt. Das Problem besteht jedoch nicht in einem möglicherweise ›falschen‹ Duktus, sondern in der generellen Einseitigkeit bzw. Pauschalisierung. Weder Lehmann noch Hass führen positive Gegenbeispiele an, d.h. je nach Position etwa ästhetisch gute Inszenierungen dramatischer Texte bzw. ästhetisch gute postdramatische Aufführungen. In der ohnehin sehr wertvollen Studie von Stegemann mangelt es gänzlich an konkreten Beispielen aus der Aufführungspraxis oder sie werden nur zwischen den Zeilen angedeutet, was seine Kritik dem Vorwurf einer Generalisierung aussetzt.
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Phänomene, die erst dann zu einer konstruktiven Synthese und Gewichtung führen kann. Nur eine dezidierte Multiperspektivität in theoretischanalytischer Reflexion kann mit der Vielfalt der Theatererscheinungen Schritt halten. Mit der Voreingenommenheit der wissenschaftlichen Perspektiven den Phänomenen gegenüber, die in das bevorzugte Welt- und Theatermodell nicht passen, geht – wie bereits angedeutet – eine Pauschalisierung einher, die letztlich eine Globalisierung in der theatralen Praxis und Reflexion voraussetzt. Gewiss transzendiert die Sprache des Theaters als eine Kunstsprache alle Nationalsprachen,123 nichtsdestoweniger divergieren die einzelnen Theaterkulturen trotz einer zunehmenden Multikulturalisierung. Bezeichnenderweise wird der nationale bzw. transnationale Kontext in der postdramatischen Perspektive in der Regel marginalisiert. So bedient sich Lehmann zwar einer Referenznennung von Theatermachern und -gruppen aus aller Welt,124 die zwar das postdramatische Paradigma universalisieren, nichtsdestoweniger wird die Länderspezifik bei dieser Darstellung so gut wie ausgeklammert. Dabei liegen riesige Unterschiede in den einzelnen Theaterlandschaften auf der Hand, die auf der einen Seite stark mit den nationalen Traditionen, auf der anderen mit den national-staatlichen institutionellen Kontexten zusammenhängen.125 Auch wenn von dem Postdramatischen als einer globalen Erscheinung ausgegangen wird, ist eine na-
123 Vgl. Andrzej Wirth: Theaterkultur in Deutschland und in Polen. Konvergenzen und Unterschiede, in: Małgorzata Sugiera (Hg.): Ein schwieriger Dialog. Polnisch-deutsch-österreichische Theaterkontakte nach 1945, Kraków 2000, S. 2736, hier S. 28. 124 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 24. 125 Die nationalen Faktoren hängen eng mit historischen Erfahrungen zusammen, die die Spezifik der jeweiligen Theaterlandschaft entscheidend mitprägen. Vgl. z.B. Hans-Peter Bayerdörfer: Prinzen, Prinzessinnen, Mannequins – Polnisches Theater in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der siebziger Jahre, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, Tübingen 1998, S. 13-45, hier S. 40. Der nationale Habitus generiert nicht zuletzt spezifische Politiken des Theaters. Vgl. Artur Pełka: Zwei Theater. Das ›romantische Paradigma‹ und die ›Generation Porno‹, in: Zeitschrift für Slawistik 3 (2015), S. 432-445.
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tional-lokale Differenzierung unerlässlich.126 Im transnationalen Kontext wäre es nützlich, sich der Frage zu widmen, inwiefern das postdramatische Theater als Theorem eine deutsche Erfindung ist und ob es sich nicht mit dem so genannten Regietheater als (vermeintliche) deutsche ›Exportware‹ aus ausländischer Sicht überlappt.127 Der Fragenkatalog bezüglich Länderdifferenzen müsste um weitere Aspekte ergänzt werden, beispielsweise um die kontrastive Frage nach dem jeweiligen Umgang mit dem nationalen Dramenkanon sowie mit geschichtlichen Inhalten im Kontext der Postdramatik. Die aktuelle Kontroverse um das postdramatische Theater und sein Politikum, die nach knapp anderthalb Dekaden nicht nur nicht nachgelassen hat, sondern mit gesteigerter Heftigkeit fortgesetzt wird, vermittelt auf jeden Fall den Eindruck, dass es sich bei der Meinungskollision viel weniger um ästhetische Fragen als um weltanschauliche (politische) und institutionelle Positionen handelt. Die Frage nach dem Politischen des zeitgenössischen Theaters müsste auch unter dieser Prämisse reflektiert werden.
126 Eben diese Perspektive nimmt Stegemann ein, indem er das Spezifikum des deutschen Stadttheatersystems und seiner Liaison mit postmodernen Ästhetiken detailliert analysiert. Vgl. Stegemann: Kritik des Theaters, S. 230ff. 127 Als prägnantes Beispiel für eine solche Gleichsetzung, ohne sie hier zu gewichten, kann das manifestartige Statement von Tadeusz Słobodzianek (Dramatiker, Regisseur und Direktor des Warschauer Teatr Dramatyczny) angeführt werden: »Im deutschen Theatermodell dominiert ein Inszenator-Diktator, der mit Hilfe des Theatertheoretikers, genannt ›Dramaturg‹, eine Dekonstruktion der dramaturgischen Textstruktur vollzieht oder ideologische Thesen im Geiste einer vorläufigen gesellschaftlich-politischen Kritik exemplifiziert, indem er Auszüge aus verschiedenen Werken, Sketchen und Improvisationen zusammenklebt, was als ›Postdramatik‹ bezeichnet wird.« Tadeusz Słobodzianek: Oferta dla Teatru Dramatycznego M. St. Warszawy im. Gustawa Holoubka, unter: http://www. um.warszawa.pl/sites/default/files/attach/aktualnosci/t._slobodzianek_-_oferta_ dla_td_2012_1.pdf (= Webseite der Warschauer Stadtverwaltung) [Übersetzung A.P.] (Stand: 01.04.2016).
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3.4 T HEATER – T EXT – G EWALT Die ›postdramatische Wende‹ geht bereits seit den 1960ern verstärkt mit einer spektakulären Explosion von Körperlichkeit auf den Theaterbühnen einher. Signifikant für dieses anschwellende Körperspektakel ist ein enormes Potenzial an inszenierter (Selbst-)Aggression, was Fischer-Lichte folgendermaßen zusammenfasst: Die Akteure fallen, stürzen, krümmen sich auf engstem Raum zusammen; sie wiederholen endlos ermüdende Übungen, schlagen und treten sich gegenseitig, verbrennen und verletzen sich selbst, ja schneiden sich selbst buchstäblich ins eigene Fleisch. Dabei lassen sich zwischen der Gewalt, welche die Akteure sich selbst bzw. einander zufügen, und der Rollenfigur, die sie »verkörpern«, kaum Beziehungen herstellen.128
Solche gewalthaften Bühnenszenarien sind deutlich auch den modernen (nicht mehr) dramatischen Textkorpora eingeschrieben. Es kann die These gewagt werden, dass mit der ›Wiederkehr des Textes‹ in den 1990er Jahren ausgerechnet die Aggression zum Hauptgestus und -thema der jungen Dramatik erhoben wurde. Als besonders innovativ in dieser Hinsicht erwies sich die britische Theaterlandschaft, in der sich mit der jungen Generation von Autorinnen und Autoren eine neue Bühnenstilistik herauskristallisierte, die bezeichnenderweise als »In-Yer-Face Theatre« getauft wurde.129 Aleks Sierz bietet folgendes Charakteristikum der neuen Ästhetik der sog. Blood and Sperm Generation an:
128 Erika Fischer-Lichte: Theater, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997, S. 985-996, hier S. 990. 129 Bereits mit diesem Terminus wurde die Aggressivität der neuen Theaterästhetik hervorgehoben, da das Bedeutungsspektrum dieser umgangssprachlichen Wendung zwischen Provokation und Aggression oszilliert. Das Oxford Dictionary liefert folgende Erklärung der Phrase: »used to describe an attitude, a performance, etc. that is aggressive in style and deliberately designed to make people react strongly for or against it«. Sally Wehmeier, Colin McIntosh, Joanna Turnbull: Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English, Oxford, Berlin 7
2005, S. 820.
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[W]hat the best young writers of the past ten years did was to transform the language of theatre, making it more direct, raw and explicit. They not only introduced a new dramatic vocabulary, they also pushed theatre into being more experimental, more aggressively aimed at making audiences feel and respond. What characterised the cutting-edge theatre of the 1990s was its intensity, its deliberate relentlessness and its ruthless commitment to extremes. Qualities such uncompromising, dangerous and confrontational became universally praiseworthy.130
Die britische Dramatik der 1990 Jahre bediente sich der Aggression auf eine doppelte Art und Weise, d.h. sowohl auf der formalen als auch inhaltlichen Ebene: Aggressive Handlungen des »life being lived on the edge«131 werden aufgegriffen und mit einem aggressiven Gestus der dramatischen Provokation dargestellt. Dieser ›New Brutalism‹ in den Theatertexten von Autorinnen wie Sarah Kane und Autoren wie Mark Ravenhill wurde rasch zur kulturellen Exportware Großbritanniens. Vorwiegend dank der Tätigkeit des Londoner Royal Court Theatre verbreitete sich die Stimme der britischen Dramatikerinnen und Dramatiker in ganz Europa und beeinflusste dort das Schreiben für das Theater, darunter auch beträchtlich die deutschsprachige Dramatik.132 Oliver Held betont in dieser Hinsicht, dass »die englischen Stücke [...] für einen harten Realismus [standen] und [vor]führten, was so auf deutschen Bühnen noch nicht zu sehen war, nämlich dass man
130 Alex Sierz: In-Yer-Face Theatre. Mark Ravenhill and 1990s Drama, in: Annelie Knapp (Hg.): British Drama of the 1990s, Heidelberg 2002, S. 107-121, hier S. 110f. (Hervorhebung A.P.). 131 Sierz: In-Yer-Face, S. 110. 132 John von Düffel bezeichnet dies wie folgt: »Diese englischen Stücke haben auch für neue Autoren in Deutschland ein Tor aufgestoßen, haben vielen deutschen Dramatikern den Weg bereitet. Spürbar wurde, dass es nicht reicht, Sprachhorizonte zu eröffnen oder mithilfe des Regietheaters bekannte Dramen zu inszenieren, sondern wichtig wurden diejenigen, die eine Nabelschnur zur Wirklichkeit legten, und das waren die Autoren. Diese Botschaft wirkte wie eine Art Urknall, der eine große Zahl junger Talente auf den Weg brachte, jedes auf seinen eigenen. Doch die gemeinsame Aufgabe bestand darin, Themen der Wirklichkeit aufzugreifen.« Schößler: Augen-Blicke, S. 315f.
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Geschichten in dieser Härte erzählen und in dieser radikalen Form auf die Bühne bringen kann.«133 Die Explosion der aggressiven Formen und Inhalte in Theatertexten junger Autorinnen und Autoren ist an und für sich nichts ganz Neues. Als ein ›natürlicher‹ und derart konstanter anthropologischer Handlungsfaktor war Aggressivität samt ihren Erscheinungsformen als Aggression und Gewalt134 im literarischen Diskurs schon immer präsent. Jürgen Nieraad beleuchtet diesen Umstand sogar gattungspoetologisch: [L]ebensweltliche Gewalt, von ihrer massiven physischen Realität bis hin zu ihren verborgensten symbolischen Manifestationen, war seit je das Thema der Literatur und hat sich ihre spezifischen, bis hin in die Gegenwart repräsentativen Gattungen und Darstellungsformen geschaffen. Dazu zählen insbesondere die Dramenliteratur von den griechischen Tötungsmythen über das mittelalterliche Märtyrerdrama und die barocke Haupt- und Staatsaktion bis hin zum modernen Theater der Grausamkeit [...], die Kriegsepik aller Zeiten, die Genozid- und Holocaust-Literatur unserer Zeit.135
133 Schößler: Augen-Blicke, S. 332. 134 Zur Vereinfachung werden die beiden Begriffe – nicht zuletzt wegen ihrer Komplexität, Ambiguität sowie Unschärfe – parallel verwendet, und zwar im Sinne von Machtausübung als »eine auf die physische oder psychische Verletzung oder die Schädigung eines anderen zielende manifeste Handlung«. Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57, hier S. 33. Zur Komplexität des Begriffs Gewalt vgl. Christian Gudehus, Michaela Christ: Gewalt – Begriffe und Forschungsprogramme, in: Christian Gudehus, Michaela Christ (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 1-15. 135 Jürgen Nieraad: Gewalt und Gewaltdarstellungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Heitmeyer, Hagan (Hg.): Internationales Handbuch, S. 1276-1294, hier S. 1276.
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Es ist signifikant, dass in Nieraads Aufstellung ausgerechnet dramatische Genres136 dominieren, was geradezu darauf schließen lässt, dass die Dramenliteratur für die In-Szene-Setzung von Gewalt bzw. Aggression prädestiniert ist. Dieses Potential gründet sich offensichtlich auf die gattungsspezifische Beschaffenheit von dramatischen Texten, besonders auf die ihnen inhärente Performativität und Korporalität. Das Drama als Literatur- und Theatertext zugleich enthält bekanntlich Hinweise nicht nur auf referentielle, sondern auch auf performative Funktionen. Wie Roman Ingarden mustergültig formuliert, wird im Dramentext die theatralische Umsetzung bereits »intentional entworfen«.137 Während die »konstituierende Eigenschaft des Dramas [ist], aufführbar zu sein«138, liegt jeder Theateraufführung der Körper des Schauspielers zugrunde, der – wie Fischer-Lichte argumentiert – »sozusagen die Bedingung der Möglichkeit von Theater dar[stellt]«139. Besonders im postdramatisch gedachten Theater avanciert der Körper – sogar bei seiner Absenz – zum artbildenden Merkmal, das das transitorischlebendige Medium Theater von anderen Medien unterscheidet: Ganz schlicht und eine differentia specifica des Theaters gegenüber Literatur, Malerei, Plastik, auch Kino markierend, ist zu sagen, daß Erfahrung des Theaters wesentlich eine Erfahrung von Körpern ist – lebendigen atmenden Körpern, die auch dann noch die Erfahrung konstituieren, wenn sie durch Medieneinsatz, Avatare, körperliche Abwesenheit für den Betrachter pointiert und ausdrücklich als fehlend thematisch werden.140
So wie der menschliche Körper als Instrument des Theaters unabdingbar erscheint, ist er auch im Kontext der Aggressionsausübung nicht wegzudenken. In dieser Hinsicht ist Theater als Medium unmittelbarer Erfahrung besonders geeignet, um Gewalt leibhaftig-präsentisch in Szene zu setzen,
136 Nieraads Aufzählung müsste allerdings um andere Strömungen wie das expressionistische Drama oder das Dokumentartheater der 1960er Jahre ergänzt werden. 137 Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Tübingen 41972, S. 339. 138 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, München 1987, S. 175. 139 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 41998, S. 98. 140 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2015, S. 165.
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wobei sich die Intensität dieser Praxis in der gesamten Theatergeschichte je nach der vorherrschenden Doktrin unterschiedlich gestaltete.141 Selbst der Semiotisierung des Körpers, dem Zum-Zeichen-Machen des Körpers liegt ein gewaltsamer Akt zugrunde: Wenn der Körper zum Zeichen gemacht wird, wenn in ihn, wie bei Nietzsches Mnemotechnik, Zeichen eingeschrieben werden, ist das nicht ohne Gewalt möglich. Es ist auch der fundamentale Prozeß der theatralen Arbeit, den Körper zum Zeichen zu machen, der seine Gewaltsamkeit in der Regel hinter der fertigen Rolle verbirgt.142
Das 21. Jahrhundert kennzeichnet in dieser Hinsicht eine deutliche Dominanz der Gewalt auf der Bühne und in den für die Bühne geschriebenen Texten, wobei die Brisanz der Erscheinung sich unter dem Vorzeichen von 9/11 sogar verstärkt zu haben scheint.143 Ihre Konjunktur hängt sicherlich
141 Dies hängt mit der Einstellung zum Schauspieler-Körper in seiner phänomenalen Dimension zusammen. Seit Beginn der Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert war der Schauspieler-Körper immer wieder der Semiotisierung unterworfen und fungierte vor allem als Zeichen, wodurch er ›entnaturalisiert‹ und ›entsinnlicht‹ wurde, was folglich jegliches Körpergewaltspektakel ausschloss. Zur Semiotisierung des Körpers vgl. Fischer-Lichte: Theater; sowie Beiträge des Bandes von Erika Fischer-Lichte, Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen 2000. Lehmann verbindet den Ausschluss des Körpers, die »Abhebung des Leibs als Träger des Geistigen von der Sphäre der tot-lebendigen Ding- und Körperwelt« eng mit der »Abstraktionsleistung des dramatischen Paradigmas«. Lehmann: Tragödie, S. 166. 142 Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas (= Forum modernes Theater, Bd. 20), Tübingen 1996, S. 113. 143 Die auffallende Dominanz der Gewalt in zeitgenössischen Theatertexten in inhaltlicher wie formaler Hinsicht könnte eine Eskalation des Themas und seiner Darstellung implizieren, was aber in historischer Perspektive als umstritten erscheint. In diesem Sinne behauptet Englhart, dass es »in der Dramengeschichte weder eine Zunahme noch eine Abnahme der Gewalt [gibt]; feststellen kann man tatsächlich weder eine Verrohung noch eine Zivilisierung im Umgang mit Figuren miteinander.« Andreas Englhart: Ästhetik der Gewalt im aktuellen Re-
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mit dem durch den literarischen und kulturkritischen Diskurs allgemein diagnostizierten »eminenten Zuwachs an Gewalt und Radikalität«144 in der Realität zusammen. Darüber hinaus bestätigt sie einen auffallenden Bedarf an einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt bzw. ein enormes Interesse an der Ästhetisierung realer sowie der Ästhetik fiktionaler Gewalt.145 In dieser Hinsicht erscheint nicht die Intensität der den dramatischen bzw. postdramatischen Texten inkorporierten Gewalt als ein Novum, sondern ihre Dimension in Bezug auf die Motive, Darstellungsmodi sowie Zielsetzungen, nicht zuletzt auch der Deutungen ihrer Wirksamkeit. Auf den neuen Umgang mit dem Phänomen Gewalt im zeitgenössischen Regietheater, der das traditionelle Theatermodell quasi-erschüttert, macht Englhart aufmerksam: Theater als Medienerfahrung ist […] generell mit einer Gewalterfahrung in dem Sinn verbunden, dass der Körper und damit die Verletzlichkeit sowie Sterblichkeit jedes Menschen in der Liveness der Aufführung nicht ignoriert werden kann. Durch die Fokussierung auf die Präsenz der lebendigen SchauspielerInnen wird die Grenze zwischen Rolle und RollenspielerIn, die eigentlich Theater erst definiert, im Gegenwartstheater vermehrt in Frage gestellt.146
gietheater zwischen Repräsentation und Präsenz, in: Christoph auf der Horst (Hg.): Ästhetik und Gewalt, Göttingen 2013, S. 85-97, hier S. 88. 144 Franziska Schößler: Gewalt und Macht im Gegenwartsdrama – Zu Elfriede Jelinek und Sarah Kane, in: Freia Anders, Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, New York 2006, S. 258278, hier S. 258. 145 In diesem Sinne stellt Christoph auf der Horst fest: »Mit den Bildern des 11. September 2001 ist nicht nur terroristische Gewalt allgegenwärtiger geworden, sondern ist auch eine Welle der künstlerischen Auseinandersetzung mit Gewalt insgesamt, allgemein ein Ästhetisieren von Gewalt einhergegangen.« Christoph auf der Horst: Das Erhabene und die reale Gewalt – Eine Einleitung, in: Horst (Hg.): Ästhetik und Gewalt, S. 9-18, hier S. 9. 146 Englhart: Ästhetik der Gewalt im aktuellen Regietheater, S. 94.
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Die Überlegungen Englharts kreisen um das (postdramatische147) Theater, das seinen Schwerpunkt von einer kognitiven Bedeutungszuweisung auf eine sinnliche Überwältigung verlagert. Das Spektakel der Gewalt wird so zur Gewalt des Spektakels, der die Zuschauenden anheimfallen. Bei der »Gewalt im Akt des Zuschauens«, handelt es sich – so Englhart – »um eine gewalthaltige Theatererfahrung, die sich von der Vorherrschaft des Dramas befreit hat, um ein Theater, das eher Präsenz als Repräsentation, eher geteilte als mitgeteilte Erfahrung […], eher Energetik als Sinn bzw. Information bedeutet.«148 Daraus resultieren zwei gravierende Konsequenzen: Zum einen kommt es zu einer bewussten Störung der rationalen Erkenntnis der Gewaltmechanismen und damit letztlich zur Zerstreuung des Wissens. Zum anderen – als Folge dieser Destruktion – wird das bewusste Erkennen durch eine unmittelbare Erfahrung verdrängt, die die Gewalt auf unterbewusster Ebene vermittelt und eine ›kathartische‹ Wirkung erzielt. Die auf diese Weise generierte Katharsis – wie Englhart sie darstellt – weicht von der »Reinigung von [...] Erregungszuständen«149 ab, die seit der Poetik zu den zentralen wiewohl umstrittensten150 Begrifflichkeiten der Theatertheorie gehört und von der Psychoanalyse in verschiedenen Varianten als Terminus
147 Es ist bezeichnend, dass der Autor die Bezeichnung meidet bzw. sie als eine der vielen Erscheinungsformen des zeitgenössischen Theaters verwendet. 148 Englhart: Ästhetik der Gewalt im aktuellen Regietheater, S. 96. 149 Aristoteles: Die Poetik. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1994, S. 19. 150 An der Auslegung des Begriffs scheiden sich immer noch die Geister, wobei er grundsätzlich entweder in einem ethisch-moralischen oder medizinischen Kontext gedeutet wird. Bezogen auf das Gewaltproblem handelt es sich in beiden Fällen um eine ethisch relevante Wirkung, d.h. um eine Reduktion der Aggressionsbereitschaft als Befreiung von Affekten oder ihre Verwandlung in positive, vernunftgemäße Energie. Vgl. z.B. Matthias Luserke-Jaqui: Die Aristotelische Katharsis: Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich, New York 1991; sowie Martin Vöhler, Dirck Linck (Hg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin 2009. Auch Engelhart erwähnt als eine der Aufgaben der Gewaltdarstellung im Theater das »katarktische[…] Erlebnis, das die Verdrängung aufhebt und einem plötzlichen Ausbruch der Gewalt in der Zivilisation wie das Ventil eines Dampfkochtopfs vorbeugt.« Englhart: Ästhetik der Gewalt im aktuellen Regietheater, S. 93.
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für die Abfuhr von Triebenergie angeeignet wurde.151 Anstelle von Sublimierung bzw. einer sittlich-geistigen Verwandlung tritt eine Erfahrung des Tragischen, die laut Englhart mit der dionysischen Grenzüberschreitung im Sinne Nietzsches zusammenfällt.152 Die Transgression als ›dionysische Erfahrung‹ steht auch im Zentrum der Ausführungen zum Wesen der Tragödie von Hans-Thies Lehmann, der die »Besonderheit einer tragischen Erfahrung«153 auslotet und sie »strikt an eine performative Wirklichkeit, an ein Theater (nicht ein Drama) der Tragödie«154 bindet. Diese Erfahrung konstituiert sich durch gewaltbestimmte Wahrnehmungen von »Schmerz und Leiden, drohender oder tatsächlich eintretender Vernichtung, Schrecken, Verlust, Verrat, Tod«155, die zu einer Katharsis führen, die in Lehmanns entrationalisierender156 Umdeutung über ein persönlich-individuelles Erlebnis hinausgeht und primär als »kollektive Widerfahrnis«157 einer »passagere[n] Gemeinschaft«158 zustande kommt.
151 Vgl. Paul Leuzinger: Katharsis. Zur Vorgeschichte eines therapeutischen Mechanismus und seiner Weiterentwicklung bei J. Breuer und in S. Freuds Psychoanalyse, Opladen 1996. Das psychoanalytische Konzept der Katharsis wurde in der späteren Forschung durch John Dollard in eine Aggressions-FrustrationsTheorie integriert und von anderen Wissenschaftlern weiterentwickelt. Einen Überblick über die Geschichte des Konzepts bietet Daniel Hug: Katharsis. Revision eines umstrittenen Konzepts, London 2004. 152 »Die Erfahrung des Tragischen ereignet sich auf der Ebene der Grenzüberschreitung und Ent-Subjektivierung in der Ausschreitung, im Exzess, im Schmerz, in der Gewalt gegen sich und andere sowie in der Todesnähe.« Englhart: Ästhetik der Gewalt im aktuellen Regietheater, S. 91. 153 Lehmann: Tragödie, S. 25. 154 Lehmann: Tragödie, S. 19. 155 Lehmann: Tragödie, S. 217. 156 Lehmann weist auf eine falsche Rationalisierung der Katharsis durch ihre philosophische Individualisierung und betont dabei die Relevanz der kollektiven Dimension dieser Erfahrung. Vgl. Lehmann: Tragödie, S. 210. 157 Lehmann: Tragödie, S. 210 (Hervorhebung im Original). 158 Lehmann: Tragödie, S. 216. Die Verbindung der tragischen Erfahrung »mit einer nicht individuell erlebten Situation« (ebd., S. 218) unterstreicht zwar zu Recht das kollektive Moment, welches das Theaterereignis konstituiert, zugleich aber verleiht die Verknüpfung vom »Verstehen des Nicht-Verstehens« als Wir-
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Zum »Herz der tragischen Theatererfahrung durch den Zuschauer«159 wird jedoch erst die Anagnorisis, die als »Zäsur des Verstehens«160 fungierend, zum »Verstehen des Nicht-Verstehens«161 führen soll: »Es geht in keinem Fall um die Übermittlung eines Wissens, sondern um ein Spiel der Plötzlichkeit von Einsichten, die im nächsten Moment schon wieder dahin sein können und so das Theater als fortwährenden Möglichkeitsraum konstituieren.«162 Solch ein kathartisches Erlebnis des Tragischen, dem eine unterbrechende Anagnorisis163 angesichts der Präsenz der Gewalt zugrunde liegt, entzieht sich jeglicher Sinnstiftung und bringt im Grunde eine bezuglose Differenz hervor. Diese wird im ›postdramatischen Paradigma‹ – wie im vorigen Kapitel dargelegt – als Unterbrechung vom politisch determinierten Alltagsbewusstsein gefeiert, die die Beteiligten in einen Zustand der Freiheit von allem Politisch-Ideologischen versetzt, wobei einem solchen Befreiungsakt ein konstruktives Potential der politischen Selbstverortung zugeschrieben wird. Ob ›Ästhetiken des Performativen‹, die auf Präsenz statt Repräsentation setzen, in der Tat der »Transzendierung jeglicher Ideologie«164 fähig sind, ist genauso umstritten wie die Möglichkeit einer politi-
kung der tragischen Erfahrung mit seiner Kollektivität dem Theatererlebnis einen quasi-spirituellen Zug. 159 Lehmann: Tragödie, S. 213. 160 Lehmann: Tragödie, S. 211. 161 Lehmann: Tragödie, S. 214. 162 Lehmann: Tragödie, S. 216. 163 Die Unterbrechungen betreffen das Ästhetische im Allgemeinen und das Dramatische im Besonderen: »Anagnorisis fände […] in der Unterbrechung des Ästhetischen und noch der Ausgrenzung der kategorialen Ordnung statt, die uns das Ästhetische vom Realen, vom Ethischen usw. streng zu unterscheiden erlaubt. Wiederum ein Verstehen des Nicht-Verstehens, das aber als Erfahrung gebunden ist an das Exponieren, Aussetzen, Unterbrechen (nicht das Abschaffen) der ästhetischen Schließung des Dramatischen selbst, an das Aussetzen seiner Repräsentationstechniken, seiner Gefühlswirkungen und institutionalisierten Regeln.« Lehmann: Tragödie, S. 216. 164 Erika Fischer-Lichte: Politisches Theater, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 242-245, hier S. 245.
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schen Wirksamkeit des Theaters, das auf inhaltliche Bezüge bzw. konkrete Kontexte bewusst verzichtet und auf eine Destruktion des Wissens pocht, geschweige denn ob ein radikaler Ausschluss der Repräsentation in Theateraufführung wie -text überhaupt vorstellbar ist. Bei der Konfrontation des zeitgenössischen Theaters mit der fortschreitenden Virtualisierung des menschlichen Lebens spielt die omnipotente Mediengewalt offensichtlich eine gravierende Rolle. Während das Theater auf die Virtualität der Gewalt reagiert, indem es auf die Authentizität der Präsenz setzt, scheint es aber mit realer Gewalt bzw. seiner Repräsentation überfordert zu sein; gerade dann, wenn es sich um radikale Formen der Gewalt handelt, die zudem in ihrem Vollzug quasi-theatralisiert werden. Im Kontext von 9/11 weist Gerrit-Jan Berendse auf die theatrale Beschaffenheit des terroristischen Aktes hin und diagnostiziert die enorme Crux seiner literarischen Inszenierung: Nach wie vor steht das terroristische Kalkül im Zeichen des Spektakels. […] Das terroristische Agens ersetzt jedwede Verbalisierung von Zweck und Ziel der politisch motivierten Gewalt. Diese Verschiebung in der Kommunikationsmethode bietet gerade für Schriftsteller in dem Moment eine gigantische Herausforderung, da das Medium Sprache nicht (mehr) ausreicht, den Rezipienten in einen kathartischen Schreckenszustand zu versetzen. Der Terrorist wird zum Rivalen des Autors.165
Die Diagnose von Berendse, die der Literatur ihre Unzulänglichkeit angesichts drastischer Gewalterfahrungen attestiert,166 schließt auch Theatertexte mit ein. Berendses Logik folgend, kann die textuelle Undarstellbarkeit bzw. literarische Nicht-Kommunizierbarkeit von Gewalt in Theatertexten durch den Regisseur gelöst werden, der – metaphorisch zugespitzt – mit der Gewalt seines Spektakels zum ›Komplizen‹ des Terroristen avancieren
165 Gerrit-Jan Berendse: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAFTerrorismus, München 2005, S. 18f. Die Affinität zwischen Terror und Spektakel thematisieren die Aufsätze des Bandes von John Orr, Dragan Klaic (Hg.): Terrorism and Modern Drama, Edinburgh 1990. 166 Dies korrespondiert mit dem Dilemma der Undarstellbarkeit des Holocaust, die durch ›Nicht-Sprache‹ zur Darstellung gebracht wird. Vgl. Georgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/Main 2003.
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würde. Bei dieser ›Lösung‹ bleibt allerdings die Frage offen, wie die Darstellbarkeit der realen Gewalt durch die Gewalt des Spektakels, das jegliche Repräsentation und Sinnstiftung verweigert, einen Bezug zum konkreten Gewalt-Ereignis behalten könnte. Oder anders formuliert: Auf welche Weise kann »im Wie der Darstellung […] das Politische, die politische Wirkung, die Politische Substanz«167 ohne eine eindeutige Referenz und Kontextualisierung eines politischen (Gewalt-)Ereignisses manifest werden? Vor diesem Hintergrund drängt sich auch die Frage auf, ob – analog dem Spektakel – eine Gewalt des Theatertextes vorstellbar wäre, und zwar eine sprachliche Gewalt, die im Stande wäre, die reale Gewalt so zu inszenieren, dass der Text ›einen kathartischen Schreckenszustand‹ generieren würde, ohne die Referenz zum realen Ereignis zu verlieren. Und – last but not least – kann durch die Repräsentation im Theatertext überhaupt ein kognitiver Mechanismus, eine Reflexion in Gang gesetzt werden, die mit dem ›Verstehen des Nicht-Verstehens‹ kompatibel wäre und sogar eine konstruktive politische Qualität ergeben würde? Der literarische Diskurs – zu dem auch Theatertexte gehören – bedient sich selbst einer ›Gewalt‹, die sich in der Destruktion von Alltagssprache und tradierten Denkmustern manifestiert.168 Im Rahmen der aktuellen Diskussion über Gewalt und Ästhetik analysiert Karl-Heinz Bohrer die europäische Literatur von Homer über Shakespeare bis Kafka und konstatiert zu Recht, dass »[f]ormale Innovation und gehaltliche Aggression […] zusammen treten«169. Dabei erinnert der Literaturtheoretiker daran, dass der »Zu-
167 Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 17. 168 Mustergültig formulierte dies Jakobson, der die Literatur als »organisierte Gewalt, begangen an der einfachen Sprache« bezeichnete. Vgl. Roman Jakobson: Über den tschechischen Vers unter besonderer Berücksichtigung des russischen Verses, Bremen 1973. Zit. nach Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Frankfurt/Main 52012, S. 2. Zur Gewalt als wesentlicher Form von literarischer Aneignung der Realität vgl. Andrea Geier: Repräsentationen der Gewalt. Literatur, in: Christian Gudehus, Michaela Christ (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 263-268, hier S. 263. 169 Karl-Heinz Bohrer: Warum ist Gewalt ein ästhetisches Ausdrucksmittel?, in: Horst (Hg.): Gewalt, S. 21-39, hier S. 38. In diesem Kontext stellt Bohrer fest, dass »Gewalt dem Künstler ein privilegiertes Mittel seines formalästhetischen und imaginativen Ausdruckswillens ist.« Ebd., S. 21. Im gewissen Sinne über-
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sammenfall von Gewaltthematik und Kunst im Charakter des künstlerischen Akts selbst liegt«170. Auch dieser Aspekt müsste bei dem Verhandeln der Relation zwischen Text und Gewalt mitberücksichtigt werden.
schneiden sich die Ausführungen Bohrers mit der Position Kristevas, die den literarischen Diskurs als gewalthaft und gewaltbestimmt charakterisiert und ›psychoanalytisch‹ darauf hinweist, dass sich in den Texten das Ringen mit gewaltsamen Trieben des schreibenden Subjekts gestaltet. Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/Main 1978, S. 30. 170 Karl-Heinz Bohrer: Warum ist Gewalt…, S. 37.
4. Angriff
4.1 W ERNER F RITSCHS H YDRA K RIEG . T RAUMSPIEL Unter einigen wenigen deutschsprachigen Theatertexten, in denen 9/11 deutlichere motivische Spuren hinterlassen hat,1 ist das 2003 am Landestheater Linz uraufgeführte Stück Hydra Krieg. Traumspiel2 von Werner Fritsch besonders bemerkenswert, nicht nur weil es sich in diesem Falle um einen etablierten Theaterautor handelt,3 sondern weil sein Text das für die zeitgenössische Schreibpraxis für die Bühne signifikante Mythentheater4 zu restituieren versucht. Nach Aussage des Autors ist Hydra Krieg als eine
1
Neben den im Kapitel 2.2. genannten Theatertexten wären vor allem noch Kathrin Rögglas fake reports (2002) sowie David Lindemanns Koala Lumpur (2003) zu nennen.
2
Werner Fritsch: Hydra Krieg, in: Werner Fritsch: Schwejk? Hydra Krieg. Stücke und Materialien, Frankfurt/Main 2004, S. 107-182. Der Text wird mit der Sigle HK zitiert.
3
Vgl. Norbert Otto Eke: »Muß ich wirklich durch alles durch?« Werner Fritschs »Theater des Todes«, in: Norbert Otto Eke: Wort/Spiele: Drama – Film – Literatur, Berlin 2007, S. 57-74 sowie Anna Opel: Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik – Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane, Bielefeld 2002, S. 44-86.
4
Franziska Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Tragödie bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher, in: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin, New York 2010, S. 319-337, hier S. 321.
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unmittelbare Reaktion auf die tragischen Ereignisse entstanden, die er mittels CNN während seines Asienaufenthalts erlebte: 2001 war ich in China und filmte die Yangtse-Durchbrüche […]. Irgendwann im Hotel, also am 11. September, sagte mein Tonmann, er möchte kurz CNN sehen… […] Und zack: Wir sahen, wahrscheinlich in Realzeit […] das Aufprallen des zweiten Flugzeugs im zweiten Turm. Ein Event, der als Endlosschleife um die Welt ging. Im Hotel-Korridor trompetete ein amerikanischer Tourist in sein Handy: »There will be a war«. Da war mir klar, daß ich noch einmal über Krieg schreiben muß, quasi gezwungen von der Weltgeschichte.5
Wie dieses Statement bereits nahe legt, nahm sich Fritsch mit seinem Theatertext vor, über den konkreten Fall des terroristischen Attentats hinaus das Phänomen der permanenten Kriege als Schlüssel zur Erkenntnis der »Geschichte, [der] Welt und [der] menschliche[n] Natur«6 dramatisch zu ergründen. Dem Krieg – so Fritsch – »ins Auge zu sehen[,] heißt für mich, von der Vision erfüllt zu sein, das Zerstörerische durch das Schöpferische in uns zu bannen.«7 Seinem Theaterprojekt scheint also nicht nur ein anthropologisch-axiologischer Gestus8 im Sinne der ›moralischen Anstalt‹9 zugrunde zu liegen, sondern ihm ist auch deutlich eine – wie auch immer aufgefasste – katharktische Wirkung eingeschrieben. Als Hypotext von Hydra Krieg dient die mythische Argonautensage, die gleichsam palimpsestartig so überschrieben wird, dass sich Archaik und Aktualität ständig überlappen. Mit diesem Rekurs auf die Bestände der an-
5
Stefan Pokroppa, Werner Fritsch: Bis die Zeichen erloschen sind. Zu »Hydra Krieg«. Werner Fritsch im Gespräch mit Stefan Pokroppa, in: Fritsch: Schwejk?, S. 205-210, hier S. 208.
6
Pokroppa, Fritsch: Bis die Zeichen…, S. 209.
7
Pokroppa, Fritsch: Bis die Zeichen…, S. 205.
8
Vgl. Tom Kindt: Bleibt alles anders, wird alles gleich. Der 11. September im deutschsprachigen Drama, in: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.): Nine eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg 2008, S. 117-126, hier S. 118-121.
9
Vgl. Stefan Pokroppa: Hydra Krieg: Medea Reloaded, in: Fritsch: Schwejk?, S. 194-205, hier S. 203.
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tiken Mythologie wird zwangsläufig das Genre der Tragödie10 aufgegriffen. Dabei findet eine Verschiebung auf der Ebene der Zeit statt, die ein markantes Merkmal der zeitgenössischen Dramatik bildet.11 Signifikant ist in dieser Hinsicht die Zeitangabe »Ein Ring of Fire ums Jetzt« (HK 110) in den Eingangsdidaskalien, die nicht nur eine Vergegenwärtigung des mythischen Stoffes impliziert, sondern auch eine Implosion der Zeitebenen, ein temporales Sich-Im-Kreise-Drehen und somit eine ununterbrochene Gewaltspirale andeutet. Das Feuer fungiert dabei deutlich als eine dialektische Chiffre, als prometheisches und infernalisches Zeichen zugleich, und darüber hinaus steht es für »wild desire« der Liebe, welche Johnny Cash in seinem gleichnamigen Lied besingt,12 wodurch die Utopie der Liebe mit dem Inferno des Krieges kontrapunktiert wird. Die bereits im Vorfeld angedeutete Dialektik spiegelt auch die Struktur des Textes wider, der einem Diptychon ähnelt, das von einem Vorspiel und einem Nachspiel umrahmt wird. Die zwei einem Akt ähnelnden Hauptteile sind in durchnummerierte und mit Überschriften versehene Szenen und Unterszenen gegliedert, welche expressionistische Stationen in Erinnerung rufen, zumal der Untertitel – »Traumspiel« – diese Konnotation evoziert. Anders als im Expressionismus fügen sich die Stationen allerdings in eine mehr oder weniger kausale Ereigniskette. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Jason, der im ersten Teil zusammen mit den Argonauten in den Krieg als Konsequenz eines terroristischen Angriffs auf das von seinem Vater Aison regierte Land zieht. Die einzelnen Szenen werden zu Stationen seiner Kriegswanderung und zugleich seiner inneren Verwandlung, denn im zweiten Teil wird Jason als Jonas wiedergeboren, der nunmehr auf der Seite der Terroristen steht und die Stationen in umgekehrter Reihenfolge wiederholt.
10 Als literarische Prätexte von Hydra Krieg weist Pokroppa die Argonautika des Apollonios von Rhodos sowie Medea von Euripides aus. Vgl. Pokroppa: Hydra Krieg, S. 199. 11 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: Erzähldramatik: Spieltexte jenseits der Gattungsgrenzen, in: Andreas Englhart, Artur Pełka (Hg.): Junge Stücke: Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater, Bielefeld 2014, S. 29-66, hier S. 53. 12 In der ersten Strophe des Liedes wird die Leidenschaft der Liebe als ein Feuerring metaphorisiert: »Love is a burning thing/ And it makes a fiery ring/ Bound by wild desire/ I fell in to a ring of fire/ I fell in to a burning ring of fire«.
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So werden Spiegelung bzw. Repetition und Doublierung nach einem expressionistischen Schema zu Hauptkonstituenten der dramatischen Welt, die eine metastasische Dimension aufweist. Diese ist bereits deutlich im Titel des Stücks durch die Nennung des mythischen Ungeheuers Hydra, dem die abgeschlagenen Köpfe nachwachsen, angedeutet. Darüber hinaus wird mit dem Cluster ›Hydra Krieg‹ auf die journalistische Metapher von Al Quaida als »Hydra des internationalen Terrorismus«13 angespielt, wodurch ein pessimistisches Szenario eines sinnlosen »War on Terror« entworfen wird. Das archaische Personal wird aus der antiken Mythensphäre in den modernen Medienraum verortet, wodurch es selbst medialisiert wird, was die ständig zum Einsatz kommenden technischen Requisiten (»Fernseher«, »Kamera«, »Aufnahmegerät«, »Laptop«, »Monitor«, »Digitalkamera«, »Funkgerät«) als »Prothesen« (HK 134) und Extensionen14 der Figuren betonen.15 Durch diese medialen Verdoppelungen erscheinen sie gleichsam wie Simulakren, wie Kopien, die vom Original schwer zu unterscheiden sind. In dieser Hinsicht korrespondiert Jonas als »das abgespaltene Spiegelbild Jasons« (HK 111)16 mit den übrigen Double-Paaren.17 Auch der Text selbst wuchert durch unzählige Intertexte und Querverweise aus, die vom mythischen Repertoire über Bibel- und Literaturzitate bis zu den Versatzstücken der Popkultur reichen.18 Diese dichte Intertextualität konstruiert
13 Erich Follath, Gerhard Spörl: Der entfesselte Gulliver, in: Der Spiegel 12 (2003). Zit. nach Susanne Kirchhoff: Krieg mit Metaphern. Mediendiskurse über 9/11 und den »War on Terror«, Bielefeld 2010, S. 252. 14 Signifikant sind in dieser Hinsicht die Aussagen vom Argonauten III »Mein Gehirn, wie eine Kamera« (HK 135) sowie von Jason »Mein Kopf ist zugleich Kommando-, Schnitt- und Sendezentrale.« (HK 136). 15 Dies ruft medientheoretische Reflexionen über »Extensions of Man« (McLuhan) wie zum »Prothesengott« (Freud) auf den Plan. 16 Laut Bühnenanweisungen ist es »vom Darsteller des Jason zu spielen« (HK 111). 17 Und zwar: Herakles – Hassan, Orpheus und sein Kopf, Medea – Eurydike, Argonauten – Gotteskrieger, Sirenen – Huris. 18 Vgl. dazu Günther A. Höfler: Medien/Krieg in deutschsprachigen Stücken des 21. Jahrhunderts am Beispiel von Elfriede Jelineks »Bambiland/Babel« und Werner Fritschs »Hydra Krieg«, in: Claudia Glunz, Artur Pełka, Thomas F.
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eine einzigartige Traumpoetik mit, die ihr Pendant im Drogenrausch besitzt. Das Vorspiel des Stücks ereignet sich »nachts auf dem Gipfel eines Berges« (HK 113), auf den Jason zusammen mit Medea und Orpheus vor dem terroristischen Angriff auf »[d]ie Zwillingstürme, die […] Feinde ›die Brüste der Hure Babylon‹ nannten« (HK 126), geflüchtet sind. Die prologartige Sequenz eröffnet eine Allegorie, die zugleich den Charakter einer negativen Apotheose aufweist: »In der Mitte eines Rings aus Feuer sitzt Medea in einem mohnroten Kleid, ihre Brüste sind bloß, aber so mit Blut beschmiert, daß deren Blöße kaum ins Auge sticht. In jeder Hand hält sie eine schwarze Schlange…« (HK 113). Die Heldin wird hier zu einer ambivalenten Ikone stilisiert,19 die gleichermaßen Gewalt und Opfer repräsentiert, was eindrücklich das Blut bzw. das Rot sowie die Schlangen versinnbildlichen. Ähnlich wie die Reptilien ist auch die rote Farbe, die das Eingangstableau beherrscht, polysem, denn ihre Intensität verweist nicht nur auf eine blutige Täter- bzw. Opferschaft, sondern zitiert die Farbe der Revolte herbei. In der Tat ist Medea eine Art sittliche Revoluzzerin, die aus dem totalitären, dem Westen feindlich gesonnenen Staat ihres diktatorischen Vaters Aites geflohen ist und »zum Supermodel und schwarzen Sexsymbol mit goldblonder Mähne« (HK 111) wurde. Darüber hinaus wird mit dem Rot der Mohnblume auf ihrem Kleid das Attribut des Morpheus heraufbeschworen, das in diesem Kontext Vergessen und Rausch auf den Plan ruft. Vor diesem Hintergrund wird das mythische Trio zu einer anarchistisch-hedonistischen Hippie-Kommune stilisiert, was sowohl die Erscheinung Medeas als auch der Habitus von Jason und Orpheus mit ihren »lange[n] Haare[n]« (HK 113) hervorheben. Vor diesem Hintergrund erweist sich ihre gemeinsame Flucht aus der bedrohten Zivilisation in die nächtli-
Schneider (Hg.): Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der Kriegsdarstellung und -deutung, Göttingen 2007 (= Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, Bd. 22), S. 501-512, hier S. 506. 19 Zur Ambivalenz der Figur vgl. Inge Stephan: Medea: multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln, Weimar, Wien 2006.
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che Bergnatur letztlich als ein betäubender narkotisch-orgiastischer Trip.20 Die Rauschphantasien des Vorspiels oszillieren zwischen poetischtraumhaften Visionen und apokalyptischen Bildern. So wird bereits zu Beginn eine ominöse Szenerie deliriös ausgemalt: JASON:
Wenn ich die Augen schließe, schlagen Meteore aus purem Gold in meine Netzhaut ein…
ORPHEUS:
Der Zauber der Pilze ist der Kurzschluß mit allem, was lebt.
JASON:
Jetzt sehe ich Pfauen mit Schwänzen, die zu Regenbögen werden am Horizont…
MEDEA:
Und ich sehe Pilze am Horizont: Pilze, zu denen Wälder beten, Pilze zu denen Städte beten, Pilze, zu denen Menschen beten…
JASON:
Wenn ich an all die Idioten denke… Die an nichts anderem arbeiten als an der Beschleunigung des Untergangs! Lacht
ORPHEUS: JASON:
Dein Vater ist Präsident dieses Landes! Da hilft nur LSD ins Trinkwasser von New York City! (HK 113)
Im Duktus einer narkotischen Flower-Power-Poetik kommt es in der Eingangspassage zur Zerstreuung des Sprachsinns als Pendant zur Erschütterung der Weltordnung. In dieser Hinsicht stehen die angebeteten Pilze gleichermaßen für halluzinogene Substanzen wie für atomare Katastrophen, womit die Drogenekstase mit dem Rausch des Gewaltspektakels kurzgeschlossen wird. Hinter dieser anarchistischen Geste verbirgt sich mehr als eine Anything-Goes-Haltung: eine Bloßstellung der Sprache als trügerisches Konstrukt, was das dem Stück vorangestellte Motto »Die Wahrheit ist ein bewegliches Heer von Metaphern« (HK 109),21 das aus Nietzsches
20 In diesem Rahmen wird auch ›Freie Liebe‹ thematisiert. Auf den Seitensprung Medeas mit Orpheus reagiert Jason, wie es einem Sexrevoluzzer ziemt, gelassen mit der Hippie-Parole »Make love not war – mit meiner Frau!« (HK 117). 21 Mit dem Motto paraphrasiert Fritsch Nietzsches Duktus, der die trügerische Konventionalität der Sprache entlarvt, denn im Original heißt es buchstäblich: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern«. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd. 3, München, Wien 1977, S. 309-322, hier S. 309.
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Über Wahrheit und Lüge entnommen wurde, suggeriert. Der narkotische Hippie-Kalauer wird so zum Ausdruck einer Sprachskepsis als Weltskepsis, wovon eine evidente Anspielung auf den Chandos-Brief in der Klage Jasons »Mein Zungenfleisch gleicht modrigem Pilzfleisch« (HK 115)22 zeugt. Der Sprachohnmacht bzw. der Disparatheit von Sprache und Wirklichkeit setzt Orpheus allerdings seinen Glauben an die schöpferische Kraft der Kunstsprache entgegen: »so wird meine Dichtung die Sprache der Schöpfung entschlüsseln – Eurydike und all die Toten zum Leben erwecken, das Paradies wieder heraufbeschwören!« (HK 114) Den göttlichen Ehrgeiz des Dichters entzaubert jedoch Medea mit ihrer kassandrischen Diagnose: »Niemand wirst du mehr erreichen mit Worten, die Gehirne sind zerfressen vom Vergessen.« (HK 114) Die von der Protagonistin verkündete Amnesie impliziert einen Verfall der Kultur, der sich vordergründig im Verlust des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, vor dem Jason in seiner apokalyptischen Vision, die deutlich auf die traumatischen Ereignisse von 9/11 anspielt, warnt: »Noch so ein September – und auch wir in den Bergen sind betroffen. Dann ist alles verstrahlt, die Zukunft unserer Kinder Asche, unser kulturelles Gedächtnis, deine Dichtung, Orpheus, im Orkus…« (HK 114f.) Alle drei Figuren als symbolträchtige Vertreter der europäischen Kulturtradition mit ihrer Klage über den Untergang der Zivilisation werden zu einer Quasi-Postfiguration des antiken Tragödienchors.23 Mit ihren Rollen treten sie jedoch nicht als ›tragische Helden‹ aus dem Kollektiv heraus, sondern in dieser Konstellation erscheinen sie lediglich als archetypische Schablonen, als sinn-leere Relikte24 der Vergangenheit, die das moderne Mythentheater als grotesk-absurdes Tableau inszenieren. Ihr Lamento, das an die von Haschisch ausgelöste Bewusstseinsverschiebung (zumal Lachsalven die Dialoge unterbrechen) erinnert, drückt keine individuelle Zerris-
22 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe, Frankfurt/Main 1991, S. 45-55, hier S. 48: »[D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.« 23 Bezeichnend ist, dass sie auch »im Chor« sprechen. Vgl. z.B. HK 116. 24 In diesem Sinne subsumiert Medea: »Wir sind Knochen, aus denen jeder Sinn gesaugt ist.« (HK 117).
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senheit als einen tragischen Konflikt aus, sondern eine allgemeine Lebensabsurdität. In den widersprüchlichen bzw. locker-assoziativ verknüpften, sprunghaften Quasi-Dialogsequenzen tauchen immer wieder Chiffren auf, die als kulturelle Versatzstücke identifizierbar sind, darunter auffallend viele, die sich auf die religiösen – polytheistischen wie judenchristlichen – Wurzeln Europas beziehen. Mit ihren halluzinativen Assoziationsketten steigern sich die Figuren geradezu in eine quasi-mystische Rage, wobei ihre Sprachekstasen bezeichnenderweise frevlerisch auf die katholische Transsubstantiationslehre rekurrieren. Während Orpheus die Idee der Sakralisierung der Sprache in der Kunst proklamiert und sich süffisant als Erlöser aufspielt (»Ich bin die Hoffnung für sie [d.h. die Gläubigen]. Die Hostie!« HK 115f.), ergänzt der »illuminier[ende]« Jason: »Man kommuniziert unser Fleisch und Blut.« (HK 116) Die Polysemie des Verbs ›kommunizieren‹ ruft dabei die Theophagie der katholischen Kommunion wie das Zerreißen des Orpheus durch Mänaden auf den Plan. Auf diese Weise wird die Sphäre der Kunst mit dem Sakralen kurzgeschlossen und darüber hinaus die Idee eines Theaters der Grausamkeit heraufbeschworen, »das alle unsre begrifflichen Vorstellungen durcheinanderwirft, uns einen glühenden Magnetismus von Bildern einflößt und schließlich wie eine Seelentherapie auf uns wirkt«.25 Fritschs Anknüpfung an die Visionen von Antonin Artaud ist in Hydra Krieg mehr als evident, zumal der französische Theaterschamane im Text namentlich genannt wird.26 Im Gefolge Artauds erhebt Fritsch den Anspruch auf ein Theater als Ort der ›Seelentherapie‹, die im Stande wäre, ›das Zerstörerische durch das Schöpferische‹ zu bannen. Die Notwendigkeit, »neue Formen [zu] erfinden«27, angesichts der Instabilität der Welt führt den Autor zu einer totalen Hybridisierung der dramatischen Struktur. So schöpft er aus dem reichen Reservoir der europäischen Theatertradition von der antiken Tragödie über das barocke Welttheater, die expressionistische Traumdramaturgie, das Theater der Grausamkeit bis zum Theater des
25 Antonin Artaud: Das Theater und sein Double, in: Antonin Artaud: Werke in Einzelausgaben, Bd. 8, München 1996, S. 90. 26 »Der große französische Dichter Artaud glaubte in Mexiko bei den Tarahumaras, die Zusammensetzung gewisser Silben rette die Welt…« (HK 115). 27 Pokroppa, Fritsch: Bis die Zeichen…, S. 205.
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Absurden. Worauf es ihm dabei ankommt, ist die Wiederbelebung der Metaphysik im sakralen Mikrokosmos des Theaters, was programmatisch in seinem Manifest Hieroglyphen des Jetzt formuliert wurde: THEATER IST, seit der Gottesdienst an Bedeutung verloren hat und an Wahrhaftigkeit, in unserer Gesellschaft der letzte Ort für Metaphysik – durch das Fleisch und das Blut der Menschen und die Materialität der Requisiten beglaubigt. Die vieltausend Jahre des Theaters lassen aller Engstirnigkeiten zum Trotz mehr Freiheit zu, […] als die vom Markt gepeitschten Medien […].28
Fritschs Konzeption des Theaters als »Ort der Erleuchtung«29 widersetzt sich in erster Linie dem »phantasietötenden Alleszeigen im Film und Fernsehen«.30 In diesem Bestreben zieht der Autor alle texttheatralen Register, um (Traum-)Bilder zu evozieren, die die durchmedialisierte Wirklichkeit transzendieren und »eine neue Welt wahrnehmbar«31 machen könnten. Auch das in Hydra Krieg entfesselte Spektakel der Bilder richtet sich medienkritisch gegen die – wie es mit Orpheus metasprachlich exemplifiziert wird – »Vergiftung durch die Medien«, um »[i]hrer Logik der Lüge, dem Betrug ihrer Bilder« (HK 114) zu entfliehen. Im Kontext von 9/11 und des Dritten Golfkrieges als seiner Folge wird hier vor allem die Medienmanipulation im Rahmen von Information Warfare dekuvriert, worauf die Sekundärliteratur bereits deutlich aufmerksam macht.32 Was jedoch der Aufmerksamkeit der Forschung entgangen zu sein scheint, ist die genderspezifische Perspektive des Textes, die ihn auch spezifisch politisch profiliert. Mit der Figur Medea wird der Opfer-Status der Frau, der sich aus ihrer symbolischen wie realen Vergewaltigung ergibt, die
28 Werner Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt, in: Werner Fritsch: Aller Seelen. Traumspiel. Golgatha, Frankfurt/Main 2000, S. 227-235, hier S. 229. 29 Fritsch: Hieroglyphen, S. 228. 30 Klaus Völker: Es ist nicht wahr, daß wir in einer Zeit ohne Dramen leben. Zu den Theaterstücken von Werner Fritsch, in: Hans-Jürgen Drescher, Bert Scharpenberg (Hg.): Hieroglyphen des Jetzt. Materialien und Werkstattbericht. Werner Fritsch, Frankfurt/Main 2002, S. 99-101, hier S. 99. 31 Klaus Dermutz: Gottessuche in den Theaterinszenierungen von Andrea Breth, Christoph Marthaler und Peter Zadek, Wien, Berlin 2012, S. 35. 32 Vgl. Höfler: Medien/Krieg, S. 507.
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unabhängig vom kulturellen Kontext stattfindet, thematisiert. Medea, die über ihre Genitalverstümmelung klagt und somit ihre Heimat als barbarisch anprangert,33 wird in ihrem Zufluchtsland von dessen Präsidenten Aison – der als Sexprotz mit »sieben Schwänze[n]« (HG 120) in den Fokus gerät – sexuell missbraucht. So steht sie stellvertretend für das Schicksal anderer Frauen-Figuren, die an beiden Seiten der Front – die Sirenen durch die Argonauten und die Huris durch die Gotteskrieger – brutal vergewaltigt werden. Die sexuelle Gewalt deckt sich hier demonstrativ mit der soldatischen Gewalt, wobei sich beide aus einer ideologisch fundierten Überzeugung von der Omnipotenz des Mannes speisen. Diese Allmacht wird in Hydra Krieg immer wieder als entfesselte sexuelle Potenz inszeniert, wobei die sexuelle Erregung signifikanterweise mit religiöser Ekstase gekoppelt wird (vgl. HK 163). Mit der weiblichen Hauptprotagonistin knüpft Fritsch nicht nur an Heiner Müllers Medea-Projekt,34 sondern auch deutlich an dessen Die Hamletmaschine an. In vielerlei Hinsicht erweist sich Fritschs Medea als eine Reminiszenz an Müllers vielschichtige Figur Ophelia/Elektra/Medea, welche die unterdrückte Revolte symbolisiert. In diesem Kontext versinnbildlicht das Rot des Kleides von Fritschs Medea das Blut, in das Müllers Ophelia »gekleidet«35 ist. Darüber hinaus sind zwischen Müllers Endzeitstück und Fritschs Kriegsdeutungsdrama andere relevante genderspezifische Parallelen auffällig. So findet Müllers »Galerie der toten Frauen« ihre Entsprechung in dem Chor der vergewaltigten Huris, die sich als »Rachefurien« (HK 162) entpuppen. Analog zu Hamletmaschine kommt es in Hydra Krieg auch zu einem symbolischen Geschlechtertausch, den Herakles vollzieht, indem er »[wie Medea] ein mohnrotes Kleid« (HK 137) trägt. Wird mit Hamlets Cross-Dressing das Begehren nach einem revolutionären Kollektivsubjekt zum Ausdruck gebracht, erweist sich die Maskerade von Herakles als raffinierter Trick, denn hinter der Geste des sich als »Aufklärer« (HK 139) rühmenden Heros verbirgt sich nur pure Misogynie. Schließlich
33 »Ich war zugenäht! Meine Klitoris Spielzeug der Skorpione… Mein Vater, der Schlächter, überprüfte sie eigenhändig, die Fäden.« (HK 122). 34 Dies legt Höflers Analyse nahe. Vgl. Höfler: Medien/Krieg, S. 509. 35 Bei Müller heißt es: »Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.« Heiner Müller: Die Hamletmaschine, in: Heiner Müller: Mauser. Texte, Hamburg 1984, S. 89-97, hier S. 92.
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mutiert Herakles zur »Maschine Herakles« (HK 143) und nimmt mit den Argonauten an einer Massenvergewaltigung der Sirenen teil (vgl. HK 152). Last but not least übernimmt Fritsch von Müller das Motiv vom Einverleiben des Herzens. Während Müllers Hamlet in seiner Wunschprojektion Ophelias Herz verspeisen möchte, verschlingt bei Fritsch Medea das Herz von Jason, der nach diesem Akt von ihr als Jonas wiedergeboren wird. Aber auch dies erweist sich nur als eine scheinbare Geste der Emanzipation, denn als Gebärerin von Jonas erschafft Medea einen »Theologe[n] des Terrors« (HK 111) und wird zugleich zu seiner ihm unterlegenen Lebens- und Kriegsgefährtin. Wenn Müller in Hamletmaschine eine gescheiterte, aber durchaus latente Frauenrevolte heraufbeschwört, wird Frischs Medea letztlich als Komplizin ihres Mannes zur Terroristin. Kurz vor dem Finale rezitiert sie »im Chor« mit Jonas Auszüge aus Instruktionsbroschüren von Al Quaida, die als spirituelle Anleitung für das Selbstmordattentat auf das Word Trade Center dienten.36 Die Rolle einer ›positiven‹ Revoluzzerin übernimmt in Hydra Krieg allerdings Meta, die fünfjährige Tochter von Medea und Jonas vel Jason. In der Schlussszene befindet sich das kleine Mädchen, das im Verlauf der bisherigen Handlung eine periphere Rolle spielte, zusammen mit Medea, Jonas und den anderen Gotteskriegern in einem Flugzeug, mit dem ein Terroranschlag verübt werden soll. Plötzlich umhalst sie Jonas, der die Maschine steuert, was den Absturz des Flugzeugs verursacht und den Anschlag verhindert. Auf diese Weise scheint der Theatertext am Ende eine Utopie als Hoffnung auf zukünftige Generationen von Frauen, die wirksam gegen den Terrorismus agieren, zu evozieren. Die als »Nachspiel« überschriebene letzte Szene umschließt wie eine Klammer den Kreis des spiegelbildlich konzipierten Textes. Jason, Medea und Orpheus tauchen wie zu Beginn in einer Berglandschaft auf, mit dem Unterschied, dass sich nunmehr die kleine Meta im zentralen Feuerkreis befindet. Während die übrigen ihr »gebannt« zuhören, sagt sie folgenden Reim auf: »Das Meer das rauscht und rauscht – / Bis es lauscht…« (HK
36 Vgl. Himmel lächelt, mein junger Sohn, in: Der Spiegel 40 (2001), unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-20240167.html. Jonas selbst zitiert vorher das Testament des Terrorpiloten Mohammed Atta (vgl. HK 175f.). Vgl. Im Namen Gottes des Allmächtigen, in: Der Spiegel 40 (2001), unter: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-20240157.html (Stand: 01.04.2016).
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182) Da ausgerechnet Orpheus als Vertreter des »poetischen Humanismus«37 die Verse wiederholt und mit einem »Das ist es« (HK 182) bejaht, wird die poetische Sprache, kurz bevor der Vorhang endgültig fällt, abermals als Mittel gegen Gewalt ästimiert. Christa Karpenstein-Eßbach verbindet den Namen Meta mit Metastasen der Gewalt, die konstitutiv für Fritschs Text sind.38 Vor dem Hintergrund der Schlussapotheose scheint der Name aber eher auf eine rettende Metaphysik zu verweisen, die die Namensträgerin mit ihrer Poesie verkörpert. Liest man den Namen wiederum als einen Meta-Hinweis, der über die Fiktionalität des Textes hinausführt, kann seine biographische Dimension mitberücksichtigt werden, die eine zusätzliche Interpretationsperspektive ermöglicht. Der eigenartige Zweizeiler zitiert nämlich die Sprachspiele der Tochter des Autors, Johanna Fritsch, die vom Vater jahrelang wortgetreu aufgeschrieben und 2007 zur Grundlage eines Hörspiels wurden.39 Am Ende von Hydra Krieg stehen also die Poesie und das PrivatFamiliäre als Antidoton gegen die omnipotente Gewalt. Fritschs Text mit seiner markanten Kritik an der patriarchalen (Medien-)Gewalt balanciert zwischen politischer Intervention und poetischem Eskapismus. Es sei dahin gestellt, ob eine derartige Verbindung dem Trauma 9/11 angemessen ist und – darüber hinaus – inwiefern das Zersprengen bzw. Öffnen der Tiefenstrukturen40 durch die für Fritsch typische Traum-Poetik einen katharktischen Effekt bewirkt. Sein eigenartiges Politikum der (Traum-)Bilder ereignet sich in der Sprache, und auch wenn sie in Bühnenbilder transponiert wird, bleibt die Gewalt dieser Sprache, die ein konkretes Wissensreservoir als kulturelles Gedächtnis aktiviert, das eigentliche »Dynamit«41 seiner Strategie, die idealerweise eine andere (politische) Wahrnehmung erzwingt.
37 Vgl. Höfler: Medien/Krieg, S. 509. 38 Vgl. Christa Karpenstein-Eßbach: Orte der Grausamkeit. Die neuen Kriege in der Literatur, München 2011, S. 148. 39 Vgl. Johanna Fritsch, Werner Fritsch: Das Meer rauscht und rauscht – bis es lauscht. Hörstück, Paderborn 2008. 40 Vgl. Eke: »Muß ich wirklich durch alles durch?«, S. 67. 41 Dermutz: Gottessuche, S. 35.
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4.2 K ATHRIN R ÖGGLAS
FAKE REPORTS
Als »Deutschlands schnellstes 9/11-Buch«42 erschien im Dezember 2001 unter dem Titel really ground zero. 11. september und folgendes43 eine Sammlung von Quasi-Reportagen, die Kathrin Röggla als spontane Reaktion auf die tragischen Ereignisse verfasste. Die österreichische Autorin erlebte die Anschläge auf das WTC als Augenzeugin, da sie gerade als Stipendiatin des Deutschen Literaturfonds in New York weilte. Das Buch versammelt literarisierte Berichte über den amerikanischen »Ausnahmezustand«44, die Röggla direkt nach den Attentaten für die deutsche Presse45 schrieb und um zusätzliche Texte sowie Fotografien, die sie während ihrer Recherchestreifzüge durch New York parallel zu den Interviews gemacht hat, ergänzte. Das Textmaterial wurde zugleich zur Grundlage eines Features, das als really ground zero – anweisungen zum 11. september46 genau
42 Klaus Walter: Pop goes Krisenstablogik, in: die tageszeitung vom 11.09.2002, S. 21. Zit. nach: Volker Mergenthaler: »verständnisschwierigkeiten«. Zur EthoPoetik von Kathrin Rögglas »really ground zero. 11. september und folgendes«, in: Carsten Gansel, Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, Göttingen 2011, S. 231-245, hier S. 231. 43 Kathrin Röggla: really ground zero. 11. september und folgendes, Frankfurt/Main 2001. 44 So im Untertitel des Artikels, der drei Tage nach dem Attentat in der taz erschien. Vgl. Kathrin Röggla: really ground zero. Die meisten New Yorker wirken derzeit wie stillgelegt. Die Normalität hat derzeit immer noch hysterische Züge. Szenen aus dem Ausnahmezustand, in: die tageszeitung vom 14.09.2001, S. 7. 45 Zwischen September und November 2001 erschienen – vorwiegend in der taz – sieben Einzelbeiträge von Röggla, die sie anschließend in ihr Buch einmontierte. Vgl. Mergenthaler: »verständnisschwierigkeiten«, S. 231. 46 Ivanovic weist auf eine spezifische Modalität dieses Hörspiels hin, das »im Gegensatz zum Textbuch […] kein persönliches Zeugnis mehr, sondern – dem Radioapparat entsprechend – ein kollektives Dokument« darstellt. Christine Ivanovic: »Die Globalisierung scheitert voran.« Zum crossfading von Amerikaund Mediendiskurs im neuesten Hörspiel, in: Alexander Stephan, Jochen Vogt (Hg.): America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945, München 2006, S. 217-236, hier S. 234 (Hervorhebung im Original).
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ein Jahr nach der Katastrophe im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. In der Folge entstand auch ein Theatertext mit dem signifikanten Titel fake reports, der am 16.10.2002 am Wiener Volkstheater uraufgeführt wurde und fünf Monate später in Berlin seine deutsche Premiere in einer bearbeiteten Fassung47 hatte. Da sich Rögglas Theatertext aus der unmittelbaren Erfahrung der tragischen Ereignisse speist, unterscheidet er sich diametral von Fritschs Hydra Krieg, zumal fake raports ein dokumentarischer Gestus zugrunde liegt, der ohnehin für das Schreiben der Autorin konstitutiv ist.48 In Bezug auf den Band really ground zero würdigte Stephan Porombka Röggla als »die symptomatischste und zugleich avancierteste Dokumentaristin der deutschen Literatur an der Jahrtausendwende«.49 Porombka, der den Beginn des 21. Jahrhunderts als »Höhepunkt« der sich seit den 1990er Jahren markant abzeichnenden »Wiederkehr des Dokumentarischen« aus-
47 Bei der überarbeiteten und ergänzten Fassung des Textes, der am 11.04.2003 in den Berliner Sophiesälen aufgeführt wurde, erweiterte Röggla seinen Titel zu fake reports oder die 50mal besseren amerikaner. Im Folgenden stütze ich mich auf den Stückabdruck: Kathrin Röggla: fake reports, in: Kathrin Röggla: besser wäre: keine. Essays und Theater, Frankfurt/Main 2013, S. 39-88 und verwende für den Text die Sigle FR. 48 Rögglas Texte sind an der Schnittstelle zwischen journalistischer Dokumentation und fiktionaler Literatur zu situieren. Die Autorin selbst erläutert ihr Schreibverfahren wie folgt: »Ich arbeite mit dokumentarischen Mitteln. Aber wir bewegen uns auf einem ästhetischen Feld. Man versteht unter dokumentarisch ja oft 1:1, und das ist eben nicht der Fall. […] Was ich produziere, hat Rhythmus, hat Bildlichkeit, hat Gestik, ist immer Zuspitzung und Antwort auf das, was ich wahrnehme.« Eva Behrendt, Kathrin Röggla: »Ich will niemanden abhalten, Schulden zu machen.« Die Autorin Kathrin Röggla über ihr neues Stück »draußen tobt die dunkelziffer«, über gewollte Verschuldung, »Heuschreckenkapitalismus« und dokumentarische Mittel als ästhetische Instrumente, in: Theater heute 7 (2005), S. 40-43, hier S. 42. 49 Stephan Porombka: Really Ground Zero. Die Wiederkehr des Dokumentarischen, in: Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld 2008, S. 267279, hier S. 276.
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weist,50 hebt neue Qualitäten der dritten – nach den 1920er und 1960er Jahren – Welle von Dokumentarliteratur, die »am Nullpunkt [operiert]«,51 hervor: Der dokumentarischen Literatur an der Jahrtausendwende ist die politische Sicherheit abhanden gekommen. [Sie] versucht deshalb die Wirklichkeit entweder zu ertasten oder Verfahren ihrer Herstellung experimentell in Gang zu setzen, um von dort aus die strukturellen Mechanismen der kulturellen Produktion von Wirklichkeit zu verstehen. […] Sie muss seismographisch eine Gegenwart begleiten, in der die Herstellbarkeit von Realitäten auf verschiedenen Ebenen selbst zur Realität geworden ist. Unter diesen Bedingungen muss sich das Prinzip des Dokumentarischen notwendig verändern. Es muss selbstreflexiver werden. Es muss ironischer werden. Es muss mit den Mitteln des Dokumentarischen selbst zu spielen beginnen, um sich über das Spiel selbst zu erfinden. »Really ground zero« zu sein, heißt jetzt, alles vom Nullpunkt aus zu sehen, aber immer sich mittendrin.52
Mit diesem allgemeinen Charakteristikum des neuen Dokumentarismus wird auch die Poetik von Röggla aufgefasst, die Berichterstattung mit Literarizität, Authentizität mit Selbstreflexivität und spielerischer Experimentierfreude verbindet. Rögglas Arbeiten charakterisiert eine ausgeprägte Hybridisierung und eine markante Intermedialität, denn ihre Texte existieren quasi-mehrdimensional, wovon verschiedene Genreversionen eines Themas – wie im Falle von 9/11 – zeugen.53 Darüber hinaus zeichnet ihr Arbeitsverfahren ein akribisches Recherchieren aus, das ihren Texten eine gut fundierte publizistisch-dokumentarische Basis gewährleistet und somit ihre Bühnentexte als somit ihre Bühnentexte als »Recherchetheater«54 ausweist.
50 Porombka: Really Ground Zero, S. 267. 51 Porombka: Really Ground Zero, S. 278. 52 Porombka: Really Ground Zero, S. 279. 53 Ein anderes plakatives Beispiel dafür liefert der die New Economy und ihre Konsequenzen thematisierende Text wir schlafen nicht (2004), der als Prosa-, Theater- und Hörtext zugleich konzipiert wurde. 54 Kalina Kupczyńska: Nachhaltigkeit in der Literatur. Kathrin Rögglas poetologisches Programm, in: Text und Kritik IX (2015), Sonderband: Österreichische Gegenwartsliteratur, S. 208-216, hier S. 210.
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Der Theatertext fake reports besteht aus fünf Teilen, die in kurze Szenen, welche allesamt mit – zum Teil poetisch formulierten – besteht aus fünf Teilen, die in kurze Szenen, welche allesamt mit – zum Teil poetisch formulierten – Überschriften versehen wurden, untergliedert sind. Die sechs SprecherInnen bleiben namenlos und tauchen als Zahlen markiert in verschiedenen Konfigurationen auf. In der einleitenden Bühnenanweisung werden sie metaphorisch als »präsenzmaschinen«, »medienmaschinen« und »mythenmaschinen« bezeichnet55 und als Verkörperung eines modernen Jedermann charakterisiert: sie könnten fotografen, broker, moderatoren, kabelträger, pr-menschen, journalisten, politiker sein, […] alles eher im kleinformat. trotzdem: sie haben etwas mit den medien zu tun, aber auch haben umgekehrt die medien mit ihnen zu tun – und rhetoriken, formate, gesten, narrative strukturen sind für sie genauso bestimmend wie mentalitäten, politische haltungen oder auch kulturalismen und nicht zuletzt die ganz banalen alltagszwänge. sie sind uns also ähnlich. (FR 39)
Im Vorfeld hebt das Charakteristikum der Sprechfiguren ihre Verwicklung in die Macht der medialen Diskurse hervor, die sich mit den politischen Diskursen überlappen. In diesem Kontext wird das Mechanistische des modernen Menschen als dessen völlige Durchmedialisierung heraufbeschworen. Tatsächlich führt Rögglas Theatertext konsequent vor, wie das vermeintlich souveräne Subjekt in einem Kollektiv verschwimmt, das sich als Produkt medialer Diskurse entpuppt. Diese Entsubjektivierung spiegelt der Sprechmodus wider, denn die Einzelstimmen sprechen (von sich) fast durchgehend konjunktivisch bzw. in der dritten Person. Diese Indirektheit der Rede führt zu einer Trennung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Gesagten und zugleich erzwingt sie durch diese Verfremdung eine kritische Distanz seitens der Rezipienten. Darüber hinaus zeichnet die QuasiDialoge, welche aus einmontierten medialen Versatzstücken bestehen, ein harter Schnitt aus: Die relativ kurzen Szenen bestehen aus Aussagen und Repliken, die aneinander quasi-vorbeilaufen, d.h. sich nicht wie eine tradi-
55 Reiterer deutet die Bezeichnungen als »rhetorische Positionen«, die für Aufnahme, Produktion und Funktionalisierung der Nachrichten stehen. Vgl. Reinhold Reiterer: Vexierspiel mit Realität und Virtualität, in: Die Presse vom 19.10.2002, S. 16.
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tionelle Wechselrede gestalten. Die durch diese spezifische Montage im Modus der indirekten Rede verursachten Störungen und Brechungen der Kommunikation dienen der Hinterfragung sprachlicher Mechanismen, was zur Dekuvrierung der in der Sprache verankerten Herrschaftsstrukturen führt. Das montageartige Sezieren des authentischen Materials generiert letztlich eine Authentizitätsfiktion, die zur Instanz politischer Kritik wird. Wie really ground zero thematisiert fake reports in erster Linie die Reaktionen der amerikanischen Gesellschaft auf die Anschläge vor dem Hintergrund ihrer medialen und politischen Inszenierungen, die die »sprache der einsatzleitung« und »der betroffenheit« (FR 45) erzeugen. Dabei gerät 9/11 als eine radikale zivilisatorische Zäsur in den Fokus: 5:
also die welt ist ja schon nicht mehr dieselbe. […]
4:
es ist alles so ziemlich total anders. wir stehen vor einer total veränderten situ-
3:
»nichts ist mehr so, wie es zuvor war.« […]
5:
die welt ist nicht mehr dieselbe. (FR 49)
ation. […]
Exemplarisch vermittelt die Szene das Gefühl einer Umbruchssituation, das sich aber letztendlich als medial konstruiert erweist. Damit wird die Vereinnahmung des Individuums durch mediale Diskurse versinnbildlicht, deren Fetzen die Sprech- bzw. Stimmfiguren nachplappern. Wie bei Fritsch sind auch in fake reports unterschiedliche Medienapparate (»fernsehgeräte«, »radio« usw.) omnipräsent, die eine Art Zwangsabhängigkeit verursachen (»wie sie die medien nicht mehr aushalte und doch dableiben müsse« FR 45). Das Angewiesensein auf die Medien gerade angesichts der Katastrophe trägt zur Entmündigung der Betroffenen bei, die nicht im Stande sind, zwischen dem real Erlebten und medial Vermittelten zu differenzieren, was zur allgemeinen Verunsicherung und Ratlosigkeit führt (»und sie wisse jetzt oftmals nicht, ob sie etwas mit eigenen augen gesehen habe oder nicht. sie sage jetzt mal, das sei für sie nicht mehr feststellbar.« FR 43). Die Unsicherheit der eigenen Wahrnehmung geht dabei mit der Störung der Gefühlswelt einher (»aber sie wisse ja auch nicht, ob sie wirklich angst gehabt habe, bzw. sie habe eben nicht gewusst, ob sie angst hätte haben sollen oder nicht.« FR 43). Die Medien steuern nicht nur das Empfinden und die Emo-
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tionen, sondern auch die Vorstellungen und Meinungen,56 indem sie das real Geschehene und Geschehende als »eine neue vorstellung von dem geschehen« (FR 41) theatralisieren.57 Obwohl die Quasi-Dialoge vorwiegend in der Privatsphäre eines »wohnzimmerfake« (FR 79) stattfinden, sind die Figuren der Mediensprache samt ihren Bildern verhaftet. In dieser Hinsicht verschwimmt die Grenze zwischen dem Realen und Medialen,58 was Röggla als Implosion von Realität und Virtualität im Modus der »katastrophengrammatik«59 in Szene setzt. Dabei mutiert 9/11 durch ständige mediale Repetitionen zur permanenten Katastrophe, die im Übrigen mit der Permanenz des Krieges korrespondiert (»im prinzip sei nämlich immer krieg. es werde ja dauernd gebombt, aber als krieg empfinde man das nicht, man wisse eben nicht mehr, was krieg sei« FR 76). Diese Kontinuität bzw. Allgegenwart der Katastrophen führt allerdings zur abstumpfenden Gewohnheit60 und generiert so letztlich eine Banalität des Desasters.
56 Vgl. z.B.: »also man wisse ja gar nicht. man wisse ja gar nicht, was man jetzt denken solle, habe man dauernd gesagt. man habe ja nicht gewusst, was man habe fühlen sollen. bestürzung – sicher! betroffenheit – sicher! ›da ist nichts als betroffenheit in einem drin.‹ habe man ja fortwährend gesagt. und doch so eine unsicherheit, was weiter fühlen. wie geht es jetzt weiter, habe man sich ständig gefragt.« (FR 50). 57 Die allumfassende Theatralisierung der Wirklichkeit spiegelt sich in dem gesamten Text auch in Begriffen wie »bilanz- und börsentheater« (FR 63) und »kündigungstheater« (FR 67) wider. 58 Vgl. z.B.: »2: eher sagen: das hast du jetzt aber im tv gesehen. Das hast du jetzt aber wirklich im tv gesehen./ 1: und das doch nicht entscheiden können./ 2: beginnen zu sagen, dass man es im tv gesehen hat. beginnen zu überlegen: wo jetzt? schließlich sei man dabei gewesen.« (FR 41). 59 Im Modus des Katastrophischen, das »fantastisch real ist, ganz im gegensatz zu der quälenden unwirklichkeit unseres alltagslebens«, ist laut Röggla die Transparenzmachung der gesellschaftlich-politischen Vorgänge besonders ergiebig. Vgl. Kathrin Röggla: die rückkehr der körperfresser, in: Kathrin Röggla: desaster awareness fair, Graz, Wien 2006, S. 31-51, hier S. 35. 60 Vgl. z.B.: »4: es heiße, man solle sich wieder an die normalität gewöhnen./ 3: dabei, an so viele explodierende autos hat man sich inzwischen gewöhnt./ 5: so viele explodierende häuser hat man um sich gehabt.« (FR 85).
ANGRIFF | 115
Der leitende medienkritische Gestus ist in fake reports an eine scharfe politische Kritik gekoppelt, die zwar im Modus der Indirektheit, aber umso deutlicher formuliert wird (»das müsse […] ins öffentliche bewusstsein[,] wie […] zu beginn des 21. jahrhunderts politik gemacht werde! die werde nicht normal gemacht, die werde unter deckmänteln gemacht.« FR 66). Die Kritik beschränkt sich nicht auf die Anprangerung der Intransparenz politischer Strategien, sondern fordert geradezu eine »klanforschung« (FR 66), womit die Verschränkung von Ökonomie und Politik ins Visier genommen wird. Der Text enthüllt diese Allianz immer wieder stellenweise durch direkte Nennung von entsprechenden Akteuren – wie »alan greenspan« (FR 66) oder »herr wolfowitz« (FR 62) – sowie Institutionen mit usamerikanischen Consulting-Firmen und Banken an der Spitze (»mckinseyking«, »morgan-stanley-kanone«, »merill-lynch« FR 68). Die Machenschaften der Finanzwelt werden im Übrigen mit der Finanzierung des AlQuaida-Terrors in Verbindung gebracht (»von der börse ist dieses geld gekommen, das für den anschlag notwendig gewesen sei, dieses geld komme aus spekulationsgewinnen« FR 51), wobei wiederum 9/11 als »tor […] für businessmöglichkeiten« (FR 61) dekuvriert wird. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der Irak-Krieg, der als »präventivschlag« (FR 75) in Folge von 9/11 inszeniert wird, als »sekundärer wirtschaftszweig« (FR 61). Es ist signifikant, dass Röggla in fake reports die us-amerikanische Sicht mit der europäischen bzw. deutschen Perspektive verschränkt. In dieser Hinsicht wird zunächst die Solidarität und das Mitgefühl der Deutschen inszeniert, die ohnehin »ein inniges verhältnis zu amerika« (FR 52) kennzeichnet und die »amerikanischer als die amerikaner« (FR 70) sein wollen. Diese Affinität kippt aber nach und nach in einen (nationalen) Stolz über die deutsche Demokratie, die Sicherheit garantiert (»in deutschland könne ja überhaupt nichts geschehen. da sei ja alles zuzementiert. sozialdemokratisch zuzementiert.« FR 59).61 Vor diesem Hintergrund wird der amerikanische Ausnahmezustand herablassend mit dem Deutschen Herbst konfrontiert (»in deutschland habe es nur ein paar toter bedurft, um einen totalen überwachungszustand herbeizuführen, die absolute gleichschaltung, das müssten die amerikaner uns erst einmal nachmachen« FR 71f.). Diese
61 Diese Sicherheit wird allerdings medial vermittelt: »lieber einfache menschen aus dem deutschen fernsehen werden. ein deutsches fernsehen gebe immer ein stabileres sicherheitsgefühl her als ein amerikanisches« (FR 49).
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Überheblichkeiten werden allerdings relativiert, insbesondere wenn von dem »alte[n] völlig verdrehte[n] antisemitismus« der Deutschen als »direktimport aus eigener geschichte« (FR 60) die Rede ist. In diesem Kontext weist Röggla auf die historische Amnesie als vermeintlichen Motor des Fortschritts hin (»deutschland habe ja immer weniger vergangenheit und immer mehr zukunft« FR 60). Der Verlust des historischen Bewusstseins, das zum Fundament von einem solidarisch-friedensstiftenden »wir-gefühl« à la »horst-eberhard richter« (FR 59) werden könnte, betrifft – wie der Text nahe legt – nicht nur die Deutschen, sondern alle Europäer. In diesem Sinne gerät das vereinigte Europa als eine passive und unbeholfene Gemeinschaft in den Fokus: die europäer […] könnten nur fortwährend quasseln, […] aber sonst nichts tun. Zuerst einigten sie sich nicht, und dann einigten sie sich wieder nicht, […] und dann beschwörten sie ihre einigkeit, und das einzige, zu dem es komme: magere UNOkontingente, das sei europa. dabei sei die kacke am dampfen. am irak-dampfen, am iran-dampfen, und: nord-korea, nordkorea! (FR 75)
Rögglas Theatertext wendet sich mit einem dezidiert politischen Impetus dem Realen zu und ist bemüht, das Zeitgeschehen um 9/11 mit einer »Grammatik der Verzerrung«62 zu hinterfragen. Wie in anderen Texten der Autorin wird in fake reports primär die »Zurichtung der Sprechenden durch die Sprachwelt«63 in Szene gesetzt, wodurch zwangsläufig auch die Sprache des Theatertextes um der spezifischen Authentizität willen zugerichtet wird. Diese Zurichtung bzw. Verzerrung, die auf das Ausstellen des Konstruktionscharakters der medialen Diskurse und ihrer Beteiligung an der Produktion vorherrschender Mentalitäten abzielt, ist nicht mit einer Desemantisierung zugunsten von Präsenzeffekten gleichzusetzen. An der Schnittstelle von Literatur und Zeitdokument erzeugt Röggla ein engagier-
62 Kathrin Röggla: Das Wissen der anderen. Über Geheimwissen, Verschwiegenheitserklärungen und den normalen Redefluss, in: Angelika Reizer (Hg.): Sehnsucht und Revolution. Wie im echten Leben, Wien 2015, S. 71-89, hier S. 83. 63 Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015, S. 173.
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tes »Theater der Stimmen«64, das zwar die traditionelle dramatische Struktur verwirft, nichtsdestotrotz jedoch sprachzentriert – auch im Sinne der Vermittlung von (politischen) Inhalten – bleibt. In diesem Sinne bleibt Röggla der reichen Tradition des deutschsprachigen Dokumentartheaters verpflichtet, dessen Politikum sie in einer neuen Form restituiert.
64 Danijela Kapusta: Personentransformation. Zur Konstruktion und Dekonstruktion der Person im deutschen Theater der Jahrtausendwende, München 2011, S. 155.
5. Amok
5.1 AMOKLAUF
ALS › PRIVATER
T ERRORISMUS ‹
Die im vorigen Kapitel exemplarisch besprochenen Texte, die sich direkt auf 9/11 als politisches Weltereignis beziehen, bilden in der deutschsprachigen Theaterlandschaft des 21. Jahrhunderts eher eine Ausnahme. Das Theater ist wie bereits in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts vorwiegend an privaten und sozialen Geschichten interessiert,1 die die zeitgenössischen Theatertexte mannigfaltig arrangieren. Und doch wird in den Jahren nach 9/11 ein neuer Trend in der deutschsprachigen Dramatik sichtbar. Die Theatertexte thematisieren Amokläufe2 und andere Formen schwerer Gewalt, die sich tatsächlich ereignet haben, in der Öffentlichkeit Aufsehen erregten und heftige Diskussionen entzündeten. Auffallend ist dabei, dass
1
Vgl. Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne. Sozialdramatik und
2
Das Phänomen in seiner modernen Ausprägung bezeichnet Gewalthandlungen,
Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende, Bielefeld 2012. bei denen mehrere Personen durch einen einzelnen körperlich präsenten Täter getötet werden. Diese Mehrfachtötungen ereignen sich im öffentlichen Raum und werden fast immer von langer Hand geplant. Vgl. z.B. Herbert Scheithauer, Rebecca Bondü: Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe und Prävention, Göttingen 2011, S. 15. Der Begriff ›Amoklauf‹ beinhaltet allerdings abweichende Definitionselemente, was nicht zuletzt mit der historischen Variabilität des Phänomens zusammenhängt. Vgl. André Grzeszyk: Unreine Bilder. Zur medialen (Selbst-)Inszenierung von school shootern, Bielefeld 2012, hier S. 17-35.
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solch eine dokumentarische In-Szene-Setzung von spektakulärer Gewalt verstärkt mit dem Problem des modernen Rassismus bzw. der Xenophobie verkoppelt und verhandelt wird. In dieser Hinsicht korrespondiert der Angriff von 9/11 mit den Angriffen von school shootern oder Rechtsradikalen, da in den beiden Fällen die Fremdenfeindlichkeit und die damit einhergehende Rachsucht wie auch die kompensatorische Selbstüberhöhung eine gewaltstimulierende Rolle spielt, auch wenn das Gewaltvolumen hier und dort selbstverständlich unvergleichbar sind. Die in den Theatertexten dokumentierten (privaten) Tötungsakte können aufgrund der Selbstinszenierung3 der Täter als amokähnliche Delikte bezeichnet werden, die als Akte des quasi-privaten Terrorismus zu deuten sind. Eine Überschneidung der brutalen individuellen Gewalt mit terroristischen Akten betont Bannenberg: In virtuellen Welten und unter dem Eindruck der Macht von Schusswaffen werden [die Gewalt- und Hassphantasien] zur Lösung der eigenen Probleme. Amoktaten sind erst vor dem Hintergrund medialer Berichtserstattung zu verstehen, die diese Taten mit Bedeutung auflädt und Nachahmer anregt. Hier entsteht eine Parallele zu terroristischen Selbstmordattentaten, die eher als Botschaft der Verunsicherung denn als politische Zielsetzung zu begreifen sind.4
Während die Mechanismen des Amoklaufs in der früheren Forschung in der Regel ohne Einbeziehung von rassistischen Bewegründen ausgelotet wurden,5 wird nach dem spektakulären Fall Breivik (2011) auch der ideologisch fundierte Hass zu den relevanten Ursachen von amokartigen (Mehr-
3
Nach Weilbach strebt der Amokläufer als »der vernichtungsorientierte Akteur […] nach glorifizierender Selbstaufwertung«. Karl Weilbach: Autogene Mehrfachtötung – Mord als Handlungswahl, in: Jens Hoffmann, Karoline Roshdi (Hg.): Amok und andere Formen schwerer Gewalt. Risikoanalyse – Bedrohungsmanagement – Präventionskonzepte, Stuttgart 2015, S. 68-89, hier S. 76.
4
Britta Bannenberg: Amok, in: Christian Gudehus, Michaela Christ (Hg.): Gewalt: ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 99-104, hier S. 99.
5
Lothar Adler: Amok. Eine Studie, München 2000, S. 51: »Die Tat durfte nicht durch politische, ethnische, religiöse oder kriminelle Motive bestimmt sein.«
AMOK | 121
fach-)Tötungen gerechnet.6 Dieser Kurzschluss von Rassismus und Mordlust stellt eine wichtige Komponente von Theatertexten dar, die solchen Gewalttaten im Modus eines modernen Dokumentartheaters auf den Grund gehen.
5.2 ANDRES V EIELS & G ESINE S CHMIDTS D ER K ICK Als Paradebeispiel des ›neuen Dokumentartheaters‹, das eine spektakuläre, rassistisch motivierte Tötung dokumentiert, ist Der Kick von Andres Veiel und Gesine Schmidt zu nennen. Der Theatertext hatte 2005 zugleich in Basel und Berlin Premieren und wurde ein Jahr später durch Veiel mit großem Erfolg verfilmt.7 Der in Buchform veröffentlichte Text des Stückes,8 erweitert um eine Art Reportage (Annäherungen), die den Umständen des Mordes auf die Spur geht, wurde 2008 in der Sparte Sachbuch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Thematisiert wird hier die brutale Misshandlung und Ermordung des 16-jährigen Marinus Schöberl im brandenburgischen Potzlow durch drei rechtsradikale Jugendliche aus demselben Dorf im Sommer 2002. Zusammen mit Sebastian Fink (17 J.) erniedrigten und folterten die Brüder Marco (23 J.) und Marcel Schönfeld (17 J.) das Opfer mehrere Stunden, bis sie ihn in einem Stall durch den sog. Bordsteinkick – als Nachstellung einer Sequenz aus dem Film American History X von Tony Kaye (1998) – ermordeten. In dieser Hinsicht – da wir es hier mit zwei Tätern und einem Opfer zu tun haben und da der Mord nicht in der Öffentlichkeit verübt wurde – handelt es sich in diesem Fall um keinen klassischen Amoklauf, auch wenn es
6
Vgl. Bannenberg: Amok, S. 101.
7
Ausgezeichnet wurde der Film u.a. mit dem Grand Prix des Festivals Visions Du Réel, Nyon, und dem New Berlin Film Award. Die Jury des Evangelischen Medienwerks wählte ihn zum ›Film des Jahres 2006‹. Daneben wurde er auch für den Deutschen Filmpreis 2006 vorgeschlagen.
8
Erstveröffentlicht in: Theater heute 6 (2005), S. 48-55; im Folgenden stütze ich mich auf die bearbeitete Buchausgabe: Andres Veiel, Gesine Schmidt: Der Kick, in: Andres Veiel: Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt, München 2007, S. 9-62. Der Text wird mit der Sigle K zitiert.
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etwa durch die Selbstüberhöhung der Täter gewisse Parallelen zu amokartigen Gewalthandlungen gibt. Die ›Annäherungen‹ von Veiel bestehen in einer subtilen Ermittlung, welche veranschaulicht, wie die Nachwende-Verhältnisse mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit, mangelndem staatlichen Engagement, Vernachlässigungen von Polizei und Justiz sowie die nicht vollzogene Verarbeitung des Nationalsozialismus in der Ex-DDR dem Mord einen Nährboden lieferten. In diesem Sinne ergänzt Veiel nicht nur sein dokumentarisches Stück, sondern liefert hierfür eine wichtige Interpretationshilfe. Bereits die Herangehensweise an das Ereignis ähnelt dem Muster für das Dokumentartheater der 1960er Jahre, d.h., dem Schreibprozess gehen langwierige Recherchen voran. Der Theatertext beruht auf 1500 Seiten von Gesprächsprotokollen, die Veiel zusammen mit der Dramaturgin Schmidt ein halbes Jahr lang vor Ort anfertigte. Der Text bedient sich auch der Lieblingskonvention des ›klassischen‹ Dokumentartheaters, d.h. der des Gerichtsprozesses. Die dialogischen Gerichtsverhandlungssequenzen, die den Hauptkorpus des Textes bilden, werden ständig von einer fragmentarisierenden Schnitttechnik durchbrochen. Eingeblendet werden sowohl längere Monologe von Familienangehörigen und Bekannten des Opfers sowie der Täter als auch eher kurze Stellungnahmen des Dorf-Establishments. Die Figurenkonstellation umfasst insgesamt 16 Menschen, die mit authentischen Namen oder mit ihren Amtsbezeichnungen genannt werden. Einige wenige wie die ›Frau aus dem Dorf‹ bleiben incognito und so stellvertretend für einen Teil der Dorfgemeinschaft oder tauchen wegen Personendatenschutz unter geänderten Namen auf. Durch die Konvention des bruchstückhaften Prozesses entgehen Veiel und Schmidt einer platten Sensationsästhetik. Die brutalen Ereignisse werden nicht im Sinne einer spektakulären Nachahmung des Mordes bzw. der Tatortbesichtigung im Krimi-Stil inszeniert, sondern durch die Mittel eines Erzähltheaters, d.h. mit einer zum Nachdenken zwingenden Distanz rekonstruiert. Obwohl im Mittelpunkt des Stücks eine bestialische physische Gewalttat steht, wird vordergründig die verbale Gewalt in ihrer Perlokutivität fokussiert. In ihrer Studie zur verbalen Gewalt im zeitgenössischen Drama unterstreicht Jeanette Malkin die perlokutionäre Kraft der dramatischen Sprache:
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Language is no longer depicted as absurd or isolated; rather it is shown to be actively domineering and dangerous, a force which controls and manipulates man, becoming the essence of his being and the limit of his world. [... L]anguage as an aggression. This aggression which, in many of the plays unter consideration, culminates in acts of language-motivated violence, signals a disturbed and threatening relationship between contemporary man and his language.9
Genau dieses aggressiv-gefährliche Potential der Sprache und seine schwerwiegenden Konsequenzen entblößt auf verschiedenen Ebenen Der Kick. Die durch den Alkoholkonsum stimulierte verbale Aggression eines der Täter aus dem Stück wird als Entzündung der Gewalt, die schließlich im Mord an Marinus eskaliert, ersichtlich. So illustriert Der Kick die »Entriegelungsfunktion des Sprachlichen für höhere Grade von Aggression«10. Die drei Täter dringen zusammen mit dem Opfer – alle bereits alkoholisiert – mitten in der Nacht in das Haus von Frau Meiners und ihrem Lebensgefährten ein und setzen nun zu sechst das Saufgelage auf der Veranda des Hauses fort. Marcel Schönfeld schildert vor Gericht den Verlauf der späteren tragischen Ereignisse in folgender Aussage: Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er oder dass er ein Jude sei. Frau Meiners sagte, Marinus solle doch zugeben, dass er ein Jude sei, dann wäre Ruhe. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann auch nicht. Dann ging es richtig los. (K 30)11
Dass Marco provokativ ausgerechnet nach dem Wort ›Jude‹ greift, erklärt sich durch seine rechtsradikale Gesinnung. Auf der an sich neutralen ethni-
9
Jeanette R. Malkin: Verbal Violence in Contemporary Drama. From Handke to Shepard, Cambridge 1992, S. 5 (Hervorhebung A.P.).
10 Dieter Cherubim: Sprache und Aggression. Krieg im Alltag – Alltag im Krieg, in: Karl Ermert (Hg.): Surgery Strike. Über Zusammenhänge von Sprache, Krieg und Frieden, Rehburg-Loccum 1992 (= Loccumer Protokolle, Bd. 58), S. 11-35, hier S. 15. 11 Hervorhebung im Original. Der Gebrauch des Konjunktivs I als indirekte Rede in dieser Passage bildet einen starken Kontrast zu der sonst saloppen Sprechweise von Marcel.
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schen und konfessionellen Bezeichnung ›Jude‹ lastet bekanntlich – verursacht durch den jahrhundertelangen global eingeschliffenen Antisemitismus – eine pejorative Bedeutung, die weltweit in mehr oder weniger breiten Gesellschaftsschichten unterschwellig bzw. in einer »Kommunikationslatenz«12 präsent ist oder durch bestimmte Individuen bzw. Gruppen bewusst – etwa als Schimpfwort – aufgerufen wird. Missbraucht als Pejorativum stellt die Bezeichnung nicht nur einen Paradeausdruck des verbalen Antisemitismus dar, sondern fungiert gleichzeitig wie ein universeller Code zur Diffamierung von Anderen, wobei nicht nur allerlei Fremde und (vermeintliche) Feinde gemeint sind, sondern auch unerwünschte oder als unterlegen imaginierte Menschen. Die Verschwommenheit und Unschärfe dieser perfiden Beschimpfung wird auch im Stück sichtbar, wenn die drei Täter das Opfer kollektiv in einem Zug mit folgenden Ausdrücken beleidigen: »Du Jude, du Penner, du Assi« (K 31). In diesem Sinne wird das Wort ›Jude‹ von Marco und später von seinen Komplizen als Ventil für ihre angestaute Aggressivität benutzt. Dabei erscheint Marcos ursprüngliche Strategie des Oszillierens zwischen Benennung und Frage illokutiv, perlokutiv und persuasiv zugleich. Mit dem mehrfachen Aussprechen des Wortes ›Jude‹ macht Marco gleichsam mit einer Zauberformel aus Marinus zwecks (primitiver) Selbsterhöhung einen ›Juden‹ und erzwingt bei selbigem gleichzeitig – nicht ohne Hilfe von Frau Meiners – einen verbalen Vollzug dieser Verwandlung als Bestätigung seines Phantasmas. Die Reaktion von Frau Meiners ist allerdings doppeldeutig: Ihr Zureden kann als Bagatellisierung der (antisemitischen bzw. menschenfeindlichen) Aggression zwecks Wiederherstellung der Ruhe oder als Ausdruck ihres eigenen Antisemitismus interpretiert werden. Ihr Wunsch nach »Ruhe« antizipiert jedenfalls Marinus’ Tod.
12 Mit dem Begriff ist die Verdrängung des Antisemitismus aus der öffentlichen Kommunikation gemeint, wobei seine Artikulation in einer codierten bzw. chiffrierten Form fortdauert. Vgl. Werner Bergmann, Rainer Erb: Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 209-222. Seit der Wiedervereinigung ist der Antisemitismus allerdings im öffentlichen Diskurs wieder präsent. Vgl. Lars Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zur Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Berlin, Hamburg 2001, S. 222.
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Wie unreflektiert und ungeniert Menschen in dem dramatischen Mikrokosmos mit der Aggressivität anderer umgehen bzw. ihre eigenen Aggressionen entladen, illustriert die Selbstverteidigung von Marco: Ich hab drei Jahre gesessen und solche Aggressionen aufgebaut. Die mussten raus. Det hätt jeden treffen können. Marinus kannte ich schon von vorher. Wenn ich gegen den wat gehabt hätte, dann hätt ich schon früher wat mit ihm gemacht. Jude, det habe ich schon zu vielen gesagt, und die hab ich auch nich umgebracht. (K 60)
Die aggressive Selbstbehauptung der Jugendlichen durch rechtsextremistisches Gehabe wird im Dorf notorisch und beinahe ausnahmslos – auch von den Vertretern der für die Erziehung Verantwortlichen – verharmlost. So versucht ein Ausbilder, Marcel Schönfeld zu entlasten: Ich möchte nicht irgendwie ’n Feindbild schaffen. Ich lehne es ab, ihn jetzt als Rechten einzustufen. So ist er in meinen Augen nie gewesen. Das sag ich heute immer noch: Leute wie Marcel, die haben doch von Politik keine Ahnung. Die wissen ja nicht was los ist, da kann ich nicht sagen, du bist en Nazi. Was er da zu Tina gesagt hat – Nigger auf’n Scheiterhaufen, die brennen besser wie Dachpappe –, da steht der nicht dahinter, das is einfach so blöd daher gesagt. (K 42)
Die Reaktionen auf den Mord und die Argumentationsweise der meisten Dorfbewohner sind inkohärent und widersprüchlich, wie der Monolog von Heiko Gäbler, einem Mitglied der örtlichen rechtsextremistischen peergroup, zeigt. Heiko stellt sich zwar verteidigend an die Seite der von Marcel als »Negerin« diffamierten dunkelhäutigen Tina, da sie »hier geboren [is]« (K 38), und erhebt die Geburt in Deutschland zum Garanten für das Bleiberecht, gleichzeitig aber spricht er sich für Maßnahmen aus, die verhindern sollten, dass Kinder ausländischer Eltern in der BRD geboren werden: »Besser von vornherein was machen und nich erst danach, wenn die Kinder schon da sind, ja.« (K 38). Ähnlich diffus verhält es sich mit seiner Einstellung zur Shoah: Einerseits bestätigt Heiko den Genozid (»ich glaub das schon, dass die die ganzen Juden umgebracht haben« K 39), andererseits entlastet er Hitler und seine Massenhelfer durch die Schuldzuschreibung an den Reichsführer-SS (»Der Himmler der hat’s ja organisiert, alles... Hitler hat das gar nich groß gewußt... « K 39). Jeder wohlwollenden
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humanitären These folgt eine rassistische Antithese, was synthetisierend eine verkappte naiv-rechtsnationale Weltanschauung ergibt: Klar trag ich mein T-Hemd mit ›88‹. Ich meine, Klamotten tragen is doch was anderes als, als was man im Kopp hat. Heil Hitler... denkt man an die Zeit des Reiches, ja... Dass man dafür steht, dass man deutsch denkt. Deutsch denken, für die Zukunft denken, für die Familie da sein, arbeiten. (K 39)
Das rechtsextremistische Gedankengut samt entsprechendem Habitus und passenden Handlungen werden unter und von den Jugendlichen als pubertäres Spiel inszeniert und so auch von der Erwachsenenwelt weitgehend ignoriert. Das Erschreckende besteht darin, dass selbst die offiziellen Instanzen die Sachlage verharmlosen. In der Analyse der Vorkommnisse durch den Staatsanwalt kommt es sogar beinahe zu einer Umdeutung der Schuld: Die Täter Marco und Marcel Schönfeld sowie Sebastian Fink hatten ein dumpfes rechtsextremistisches Gedankengut und den unbedingten Willen, das in Gewaltform auszuleben. Am Tatabend war weder ein Asylbewerber, ein Jude oder irgendjemand, worauf das Feindbild zutraf, vorhanden. [...] Nach unserer Auffassung hat das Opfer Schöberl nach den ganzen Misshandlungen sein eigenes Todesurteil gesprochen, indem er gesagt hat: Ich bin Jude. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gesagt, spinnt hier nicht rum, ich bin doch euer Kumpel Marinus, ich glaube nicht, dass der Tötungsakt dann über die Bühne gegangen wäre. Das ist kein Vorwurf, sondern einfach eine Feststellung. (K 23)
Der Pluralis-Majestatis-Tenor des Juristen, das Opfer sei direkt an seinem Tod schuld, entpuppt sich nicht nur als fragwürdig, sondern auch als absurd-grotesk, und zwar spätestens dann, wenn der Anwalt hinzufügt: Der Tötungsakt wurde erleichtert, weil Marinus Schöberl aus Sicht der Täter auf einer niedrigeren geistigen Stufe stand. Man kann in die Reihe der potentiellen Opfer neben Asylbewerbern auch behinderte Menschen einreihen. Und das traf auf das Opfer zu. Marinus Schöberl stotterte, besonders wenn er aufgeregt war. (K 23)
Der Kick entlarvt auf mehreren Ebenen eine Unfähigkeit oder gar Borniertheit im Umgang mit den rechtsradikalen Tendenzen im Dorf. Der Vater der Täterbrüder erinnert sich, wie er den Sohn Marco umerziehen wollte und
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ihm seine Skinheadglatze auszureden versuchte mit dem Argument, im KZ »is keiner von den Nazis mit ner Glatze rumgelaufen, die haben alle nen vernünftigen Haarschnitt gehabt. Die Einzigsten [...] mit ner Glatze [...] waren die Kommunisten [...], die Juden und alles« (K 56). Solche Reminiszenzen von Jürgen Schönfeld an die in der DDR kanonisierte Schulvorstellung des Films Nackt unter Wölfen als Erziehungsmaßnahme bewirken einen grässlich komischen Effekt, der die Elterngeneration bloßstellt. Der Theatertext veranschaulicht beinahe eine Omnipotenz der xenophobischen Aggressivität im Dorf. Es gibt keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Anwendung der (nicht nur verbalen) Gewalt,13 und selbst die betroffenen Eltern äußern ein Fremdheitsgefühl gegenüber Ausländern.14 Der Filmemacher, Dramaturg und Psychologe Veiel liefert mit Der Kick eine äußerst subtile dramatische Studie des Dorfmilieus, die wegen ihrer Polyperspektivität – wie Kurzenberger zu Recht anmerkt15 – kein allgemeingültiges ›Modell‹ im Sinne der Postulate von Peter Weiss liefert.16 Veiel selbst distanziert sich von der angestrebten Objektivität des klassischen Dokumentartheaters und betrachtet den Theatertext als eine subjektive Darstellung, die keine schlüssige Erklärung und eindeutige Lösung anbietet, sondern eine Diagnose stellt, ohne eine konkrete Behandlung nahe-
13 Beispielsweise Marcos Freundin: »[I]ch bin dann auch eingefahren. Hab so ner Eule, war auch in der rechten Szene, is aber mit nem Fidschi verheiratet, und das hab ich alles nich kapiert, nicht gerafft, ne, denn hat’s geknallt. Ich hatte 2,8 Promille, und ich kam überhaupt nicht klar, weiss nich, was wir mit der Eule gemacht ham. Dann war es ein bisschen doll, dann haben wir ihr das Nasenbein gebrochen und alles so.« (K 57). 14 Wie die Mutter des Opfers: »Ist’n Deutscher weniger wert als ’n Ausländer?« (K 43). 15 Hajo Kurzenberger: Verfahren und Strategien des politischen Gegenwartstheaters (am Beispiel von Veiels »Der Kick« und Rimini Protokolls »Wallenstein«), in: Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld 2009, S. 245-258, hier S. 251. 16 Vgl. Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, in: Peter Weiss: Das Material und die Modelle. Dramen, Bd. 2., Frankfurt/Main 1968, S. 464-472, hier S. 465.
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zulegen.17 Das Authentische der Fakten und der gesprochenen Sprache lädt paradoxerweise nicht zur Einfühlung ein, sondern verursacht vor allem durch den harten Schnitt und den schnellen Perspektivenwechsel sowie die offene Form eine Irritation, die jedoch im Endeffekt zum kritischen Nachdenken anregt. Bei der bitteren Diagnose, die das Stück beinhaltet, fällt auf, dass der westdeutsche Dokumentarfilmer Veiel kaum herablassend – etwa aus einer »Zoo-Perspektive«18 – die Verhältnisse in den neuen Bundesländern fokussiert, sondern die Monstrosität des Mordes in seiner Singularität als exemplarisch aufzeigt, denn »[w]öchentlich passieren ähnliche gewalttätige Vorfälle in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und anderswo«19. Nichtsdestotrotz bleibt die Dimension des Mordes im brandenburgischen Potzlow sehr (landes-)spezifisch, insofern als die Mechanismen der Tat deutlich auf den Mikrokosmos des Dorfes bzw. der ganzen Region zurückzuführen sind, was sowohl der Theatertext als auch die begleitenden Materialien plausibel machen. Damit wird aber keinesfalls behauptet, dass die Aggression unter den Jugendlichen in den neuen Bundesländern größere Ausmaße oder brutalere Formen annimmt als die in westlichen Teilen der BRD. Statistiken um die Jahrtausendwende belegten jedoch ausdrücklich, dass Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern verbreiteter ist und dass rechtsradikale ausländerfeindliche »Gewalttaten ein besonderes ostdeutsches Phänomen darstellen.«20 Diese Tendenz scheint sich weiterhin zu halten, was die Tatsache belegt, dass die rechtspopulistische Organisation PEGIDA in den neuen Bundesländern gegründet wurde und dort auch floriert.
17 Andres Veiel: Mordfall als Theaterstück, in: Berliner Morgenpost vom 22.04.2005. 18 Frank T. Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Bd. 1: Untersuchungen, Berlin, New York 2003, S. 540. 19 Veiel: Kick, S. 283. 20 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, München 4
1999, S. 117.
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Aleks Sierz nennt das In-Yer-Face-Theater »drama’s answer to the fall of the Berlin Wall«21, womit vor allem das Aufblühen der künstlerischen Freiheit in den 1990ern gemeint ist. In Anlehnung an Sierz’ Feststellung könnte die These gewagt werden, dass das deutsche Drama auch noch im 21. Jahrhundert vorwiegend – ob nun intendiert oder nicht – eine Antwort auf den Fall der Berliner Mauer bleibt, auch wenn explizite Wende-Dramen nicht mehr geschrieben werden und die dargestellten Folgen der Wiedervereinigung immer mehr universellen Charakter bekommen, das Ost-WestGefälle und der Ossi-Komplex verwischt oder zumindest nicht exzessiv inszeniert werden. Nichtsdestoweniger entstehen immer wieder Theatertexte, die spürbar in der ostdeutschen Wirklichkeit verankert sind und eine entsprechende politische Dimension besitzen. Vor allem junge Autoren, die noch in der Ex-DDR geboren und sozialisiert wurden, thematisieren die Frustrationen des Alltags in den neuen Bundesländern, die meistens mit ausgelebten Aggressionen einhergehen. Exemplarisch hierfür wird im Folgenden ein Theatertext von dem 1981 in Gera geborenen Thomas Freyer erörtert.
5.3 T HOMAS F REYERS A MOKLAUF MEIN K INDERSPIEL Im April 2002 ereignete sich am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt ein Amoklauf, der zu einem Massaker führte. Der 19-jährige Robert Steinhäuser, der ein paar Monate zuvor wegen Fälschung eines ärztlichen Attests der Schule verwiesen wurde, betrat bewaffnet das Schulgebäude und erschoss innerhalb von einer knappen halben Stunde zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Danach verübte er Selbstmord. Der Amoklauf löste heftige Diskussionen in der Öffentlichkeit aus und führte zu Änderungen des Jugendschutzgesetzes, des Waffengesetzes sowie des Thüringischen Schulgesetzes und verursachte eine Reform der Landespolizeigesetze. Dem Ereignis, seinen Ursachen und Folgen sind einige Pu-
21 Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. Mark Ravenhill and 1990s Drama, in: Annelie Knapp (Hg.): British Drama of the 1990s, Heidelberg 2002, S. 107-121, hier S. 115.
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blikationen gewidmet.22 Vier Jahre nach dem Massaker erfolgte im Deutschen Nationaltheater Weimar in Kooperation mit dem Berliner Theater an der Parkaue die Premiere des Stücks Amoklauf mein Kinderspiel von Thomas Freyer, das den Erfurter Mord dramatisch dokumentiert.23 Das Stück ist eine gemeinschaftliche Arbeit des Autors mit dem Regisseur Tilmann Köhler und drei Schauspielern. Ausschlaggebend für die Entstehung und Konzeption des Textes waren neben dem Erfurter Massaker die Erfahrungen des jungen ostdeutschen Theaterteams in der Nachwendezeit: Der Ausgangspunkt war der Versuch, eine Verbindung zwischen dem, was in Erfurt passiert ist, und dem, was wir in unseren Geschichten erlebten, zu finden. Deshalb war es auch wichtig, mit Schauspielern zu arbeiten, die wie der Regisseur und ich aus dem Osten kommen. Die Geschichten kommen aus dem Osten der Nachwendezeit. Keiner von uns musste nach Erfurt fahren, um seine Geschichte erzählen zu können.24
Anders als in Der Kick findet in Amoklauf keine dokumentarisch faktentreue Rekonstruktion des Verbrechens und seiner Umstände statt. Obwohl das school shooting von Erfurt eine deutliche Folie für die Struktur des Textes bildet, wird das Gutenberg-Gymnasium als realer Tatort nur angedeutet, wenn die Rede von einer traditionsreichen 100-jährigen Schule ist, und das Lokalkolorit der thüringischen Hauptstadt kaum gezeichnet. Der Theatertext setzt sich aus den drei Teilen »Im Brei meiner Umwelt«, »Zwischenspiel« und »Amok« zusammen. Die Figurenkonstellation besteht aus drei Agierenden, die namenlos bleiben bzw. mit jeweils einem Buchstaben
22 Vgl. Freerk Huisken: Z.B. Erfurt: Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungssystem so alles anrichtet, Hamburg 2002; Ines Geipel: »Für heute reicht’s«: Amok in Erfurt, Berlin 2004; Jens Becker: Kurzschluß. Der Amoklauf von Erfurt und die Zeit danach, Berlin 2005. 23 Im Folgenden stütze ich mich auf den Stückabdruck: Thomas Freyer: Amoklauf mein Kinderspiel, in: Theater der Zeit 12 (2006), S. 59-68 und verwende für den Text die Sigle A. 24 Wolfgang Behrens: Aus Geschichten gepuzzelt. Thomas Freyer über Schreiben und Proben als ständige Überprüfung des Textes, in: Theater der Zeit 12 (2006), S. 58.
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– T, C und E – bezeichnet werden. Diese Anonymität impliziert sowohl eine Maskierung als auch eine Entpersonalisierung der Figur(en) bzw. ihre Bewusstseinsspaltung. Da die drei Buchstaben die Abbreviation ›etc.‹ ergeben, suggerieren sie zusätzlich eine (undefinierbare) Kette von weiteren potentiellen Täterfiguren. Gleichzeitig entstammen die Buchstaben T und C dem Counter-Strike, einem der zu dieser Zeit populärsten und meistgespielten Online-Actionspiele. Das Spiel besteht in einem Kampf zwischen einer Gruppe von Terroristen – als T bezeichnet – und einer polizeilichen Antiterroreinheit, die nach der englischen Bezeichnung Counter-Terrorists als CT abgekürzt ist. So wird die für das Stück konstitutive – bereits im Titel angedeutete – Spielkonvention unterstrichen. Die Rollen sind nicht konstant, d.h., sie ergeben keine Figuren als kohärente Charaktere oder Typen. Sie sind so konstruiert, dass die Schauspielenden in verschiedene Personen – Schüler, Lehrer, Eltern – schlüpfen und wie beim Fangen-Spiel ständig die Seiten wechseln. Dies fungiert einerseits als eine Art Verfremdungseffekt, andererseits exponiert es die Konvention des Spiels – als Schau-Spiel, als Spiel mit dem Publikum und nicht zuletzt als Spiel der Jugendlichen mit den Erwachsenen sowie mit dem sprichwörtlichen ›Feuer‹. Wird die Rollenkonzeption mit dem Psychodramamodell kurzgeschlossen, erweisen sich die drei Agierenden als ›Hilfs-Iche‹ eines einzigen Protagonisten.25 Wie Der Kick bedient sich Amoklauf der Umgangssprache, welche jedoch passagenweise poetisiert wird. Vor allem im ersten Teil herrscht eine düstere, fast schlaftrunkene Atmosphäre von Müdigkeit und Apathie (»Meine Augen für jeden Schlaf bereit. Müde längst.« A 60; »In meinem Gesicht, auf meiner Haut der Schlaf, aus dem ich geschreckt bin.« A 62), obwohl kurze Sequenzen, Satzäquivalente und Wiederholungen dem Geschehen immer wieder eine Dynamik verleihen, bis das Tempo im letzten Stückteil rasend wird. Der dominierende (spiel-)dynamische Rhythmus der stark expressiven Sprache gerät aber ständig ins Stocken und wird durch eine regelmäßig wiederkehrende Stille gedrosselt. Diese Stille seziert quasi die Sprachsequenzen, wirkt dabei wie eine beunruhigende Ruhe vor dem Sturm und provoziert Denkpausen, weist aber auch auf Kommunikationsstörungen zwischen den Generationen hin:
25 Jacob L. Moreno: Psychodrama und Soziometrie: essentielle Schriften, Köln 1989.
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Ab und zu kommen verschiedene Lehrer vorbei. Bleiben kurz stehen und gehen zum nächsten. Ihr wartet auf ein Wort aus meinem Mund. Aber da ist nichts. Ich habe euch nichts zu sagen. Nichts. Stille. Stille. [...] Die ersten Eltern ziehen sich in ihre Wohnzimmer zurück. Ich schreie in meinen Kragen. Stille. Nichts. (A 59)
Rede und Gegenrede finden in Amoklauf kaum statt, vielmehr ähneln die Sequenzen einem inneren Monolog, gestalten sich zu einer Art Introspektion der Figur(en), die sich wie im Selbstgespräch immer wieder mit dem Ich ansprechen. So erscheint das ganze Geschehen mit dem gewalttätigen Finale als intensive Selbstwahrnehmung, als Albtraum (»Nach dem dritten Stundenklingeln schrecke ich aus dem Halbschlaf.« A 59) und Imagination zugleich. In den einzelnen (Gedanken-)Sequenzen zeichnet sich ein Phantombild des Täters (der Täter) ab, das gleichzeitig ein psychologisches Portrait einer ganzen Generation ergibt. Die Nachwende-Jugendlichen zeigen sich als zerrissene, vereinsamte und durch Angst geplagte enfants terribles, deren tiefe Frustrationen zu gefährlichen Aggressionen mutieren. Genauso wie Der Kick liefert Amoklauf keine eindeutigen sozialpsychologischen Erklärungsmodelle zu dem Täter aus Erfurt sowie allen anderen (potentiellen) jugendlichen Tätern, aber das Stück legt sie sehr nahe. Vor allem der erste Teil des Theatertextes erstellt ein Psychosoziogramm, welches veranschaulicht, wie die Umwelt Ängste und Aggressionen junger Menschen stimuliert und potenziert. Alles in allem charakterisieren die Agierenden Weltschmerz und -ekel, die sich in einer Abscheu vor der Erwachsenengeneration manifestieren, sowie eine gewisse Heimatlosigkeit, die sich in der Vereinsamung und der Suche nach eigener Identität äußert. Während Der Kick den Frust des ostdeutschen (Provinz-)Alltags durch authentische Aussagen in Szene setzt, wird in Amoklauf eine städtische Nachwende-Trostlosigkeit entweder in realistischen Miniszenen gespiegelt oder durch düstere Wahrnehmungen inszeniert. Ein solch finsteres Bild er-
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öffnet den Theatertext und bleibt konstitutiv für seine gesamte Atmosphäre und Stilistik: »An den Mülltonnen vorbei zur Schule. Ball spielen verboten, steht auf dem Schild. Am Block gegenüber haben die Abrissarbeiten begonnen.« (A 59) In der Beschreibung der städtischen Nachwendelandschaft herrscht eine Ambivalenz zwischen Aufbruch und Abbruch, Ordnung und Dreck, die – nicht zuletzt durch das angedeutete Verbotssystem – bedrückend und beunruhigend wirkt. Allerdings wird die negative Wahrnehmung der Stadt im Laufe des Textes radikalisiert. Indem die Stadt zunehmend als eine Todeslandschaft imaginiert wird, erweist sie sich als Seelenlandschaft der Figur(en). In den Visionen von Selbstprojektionen dominieren Metaphern der Kälte (»In meine Zellen brennt sich der Frost.« A 60). Es wird immer wieder eine Endzeitstimmung beschworen, die an einer Stelle verblüffenderweise mit einer Reminiszenz an den Holocaust eingeführt wird: Vor meinen Augen dreht sich eine letzte Landschaft. Eine Stadt stirbt. Ein langsames Ausdünnen. Leichen hängen aus den geöffneten Fenstern. Kissen. Auf den Fensterbrettern. Eis. Vor den Eingängen werden die, die hier nicht mehr wohnen, verbrannt. Von denen, die geblieben sind. Die sich an den Flammen wärmen. Jeden Tag aufs Neue. (A 60)
Das apokalyptische Fantasma erscheint als eine aggressive Gegenreaktion auf die Aggressivität der Umwelt. Vor allem das Schulsystem wird in Amoklauf als Hochburg und Brutstätte der Aggressionen denunziert, was bereits am Anfang des Textes in der kurzen Szene eines Treffens mit der Schuldirektorin symbolisch angedeutet wird: »Sie kommen zu spät, sagt sie. Sieht mir dabei lächelnd ins Gesicht. Legt mir die Hand auf die Schulter, dass mir das Schlüsselbein bricht.« (A 59) Die Schule wird als strenge und unsensible Anstalt dargestellt (»Rabaukentum und Hottentottenverhalten werden hier nicht geduldet, Freundchen.« A 60) und die Lehrer als aggressionsgeladene Sadisten entlarvt (»Frau Wiese, unsere Ethiklehrerin, würde uns gern mit dem Zeigestock schlagen. Sie würde so gern mit dem Schlüsselbund nach den bösen Schülern werfen. Uns an den Haaren ziehen.« A 61). Dabei gerät die Autorität der Schule ins Wanken, da einige Lehrer als ehemalige Stasi-Mitarbeiter bloßgestellt und entlassen werden, was die Schüler zu Demütigungen als Racheakte veranlasst. Auch das familiäre Umfeld ist ein Auslöser von Aggressionen, was der Satz »Im Flur riecht es nach gebratener Jagdwurst« (A 61) metaphorisch
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zusammenfasst. Auf den ersten Blick erscheinen die Eltern als sehr fürsorglich, aber ihr Sorgen beschränkt sich hauptsächlich auf Essenkaufen und kochen, selbst »[a]m Tisch drehen sich die Gespräche ums Essen« (A 62). Jegliche Emotionen sind unerwünscht, Probleme werden verschwiegen oder verdrängt (»Wenn ich versuche, mich mit ihnen zu streiten, fängt meine Mutter an zu heulen. Mein Vater sieht zu, schweigt und geht zu seinem Auto in die Garage.« A 60). Die Kommunikation in der Familie ist auf Floskeln wie »Wie war’s in der Schule?« (A 62) sowie auf endlose litaneiartige Formeln wie »Man darf sich nicht beklagen. [...] Es ist nicht leicht. Es ist wirklich nicht leicht. Aber es geht uns gut. Man lebt. Man lebt.« (A 60) reduziert. Genau dieses Einreden erscheint als eine Gewaltanwendung dem (den) Jugendlichen gegenüber. Die Suggestionen der Eltern wirken sich auf die Verfassung des Kindes nicht im geringsten konstruktiv aus, sondern – im Gegenteil – führen zusammen mit dem »Knabberzeug« (A 61) und dem »Braten« (A 62) zur »Magenverstimmung« (A 62). Auf das kompensatorische Konsumverhalten der Eltern reagiert die Figur nicht nur psychosomatisch mit einem permanenten Brechreiz und gar Erbrechen, sondern mit Selbstaggression: »Mit einem Zirkel ziehe ich mir einen Spalt ins eigene Fleisch. Tief. Bis die Spitze gegen den Knochen drückt. Das Blut sammelt sich am Handgelenk und tropft unrhythmisch ins Waschbecken.« (A 60) Die performative Ausstellung des Körpers im Schmerz wird zum beklemmenden Sinnbild des inneren Leidens. Als Ventil für die durch Schule und Familie angestauten Aggressionen dient auch die Signierung der Umgebung mit Hakenkreuzen, die an die Schulmauer gesprüht (A 60) und in die Mülltonne geritzt (A 63) werden. Dabei bleibt offen, ob es sich bei dem (Nach-)Vollzug um einen Protest gegen die Erwachsenen durch ihre Diffamierung als verkappte Verfechter der NS-Ideologie oder um einen unreflektierten Neonazismus handelt. Für Ersteres spricht die bereits zitierte Reminiszenz an den Holocaust, für Zweites das Erscheinungsbild des Amokläufers (»Der mit der Lederjacke. Der Cargohose. Den Springerstiefeln.« A 64 und 68). Das Stück thematisiert zwar direkt keine Xenophobie, doch gewisse Ressentiments werden zumindest angedeutet (»Meine Eltern [...] vor der spanischen Mittelmeerküste. [...] Urlaub im Feindesland.« A 60). Der monologisierende Duktus des Textes, der rasche Wechsel von Miniszenen sowie die Überlappung der Zeitebenen wirken einer illusionistischen Einfühlung entgegen und intendieren eine emotionale Verwirrung
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beim Publikum. Das Stück erweckt den Eindruck eines Improtheaters, in dem kurze Szenen wie schauspielerische Etüden spontan improvisiert werden. Während Der Kick durch seine Montage der Wirklichkeitsausschnitte mit der Theaterillusion bricht, um primär kritische Reflexion zu erzeugen, scheint Amoklauf eine psychodramatische Funktion eingeschrieben zu sein. Bereits seine Struktur lässt Elemente des von Jacob L. Moreno konzipierten Psychodramamodells deutlich erkennen: der Monolog, das Sich-SelbstSpielen, die Doppelgängerei, der Rollenwechsel und die Spiegelung. Die Agierenden fungieren bei Freyer jedoch nicht als Patienten, sondern als ›Hilfs-Iche‹, die auf eine gleichsam therapeutisch-kathartische Wirkung bei den Zuschauenden abzielen. Ein therapeutisches Element ist auch dem »Zwischenspiel« inhärent, in dem die Schauspielenden aus ihren ›Rollen‹ schlüpfen und privat werden, dabei aber mit einem herausfordernden quasipsychologischen Blick den Zuschauenden spiegelartig in die Augen schauen (vgl. A 63). Ähnlich wie im Modell Morenos scheint in Amoklauf eine Zuschauerkatharsis beabsichtigt zu sein, die nicht aus der Illusion, sondern aus der Verstörung resultiert.26 Während der erste Teil des Theatertextes eine Art ›Erwärmung‹ darstellt, wonach im »Zwischenspiel« eine kurze Pause eingelegt wird, erfolgt im dritten Teil die eigentliche Aktion, welche den realen Amoklauf von Erfurt nachahmt, auch wenn die Darstellung der Ereignisse weitgehend fiktionalisiert bzw. verfremdet wird. Die Fiktionalisierung geschieht hauptsächlich durch den Einsatz aller drei Agierenden als Amokläufer, was zugleich auf die Vermutung anspielt, dass es bei dem realen Massaker einen weiteren Täter gab (T: »Zwei Täter?« Stille. E: »Zwei Täter.« A 65f.). Die Sequenzen der brutalen Erschießungen werden teils als »Fange« (A 64), teils als »Comic« (A 66) verfremdend inszeniert und mit ComputerspielKommandos wie »Roger that«, »Storm the front«, »Go«, »Sector clear«,
26 »Wir haben herausgefunden, dass Personen, die Zeugen einer psychodramatischen Aufführung sind, oft sehr verstört werden. Manchmal verlassen sie das Theater jedoch sehr erleichtert, fast als wenn es ihre eigenen Probleme gewesen wären, die auf der Bühne gerade durchgearbeitet wurden. Erfahrungen wie diese führen uns zur aristotelischen Sichtweise der Katharsis zurück – als einer, die im Zuschauerraum stattfindet –, aber aus einem neuen Blickwinkel und mit einer neuen Perspektive.« Moreno: Psychodrama, S. 98.
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»Regroup Team« und »Headshot« (A 65-68) durchsät,27 die dem Ablauf eine eigenartige Dynamik verleihen. Als Leitmotiv taucht immer wieder die Kinderfangenspielfrage »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« (A 6365) auf, die ironisch auf die unreflektierte Bezeichnung der Schüler als »Hottentotten« (vgl. A 60) anspielt und derart die Sprache des Lehrkörpers als xenophobisch entlarvt. Diese Frage impliziert aber auch wiederholt die Spielkonvention des Stücks, gleichzeitig weist sie auf die Unreife bzw. Infantilität des schwarz vermummten Täters (der Täter) hin. Zusätzlich stellt sie – als rassistischer Spruch – das Stereotyp vom Fremden als potentiellem Verbrecher auf den Kopf. Die Täter laufen im Finale bei ihrem kollektiven Amok wie um die Wette, imaginieren überheblich ihren Ruhm (»Ihr werdet die Kugel aus dem Kopf schneiden, in dem dieser Plan eine Heimat gefunden hat. Mein Name in aller Munde. Mein Gesicht in aller Augen.« A 64), zeigen aber durchaus auch ihre Zweifel und Ängste (»Ich zitter.« A 65). Der ganze Amoklauf endet mit einem chorischen, provokativ ans Publikum gerichteten Verzweiflungsschrei der Täter: Habt ihr Angst? Schießt! Schießt! Ich hab Angst. Ich hab Angst. Ich hab Angst. Schießt endlich!“ (A 68)
27 Ähnlich wie Der Kick thematisiert Amoklauf den Konnex zwischen der zunehmenden Mediengewalt und der Realgewalt. Ein Gleichheitszeichen zwischen den beiden Phänomenen ist allerdings wissenschaftlich sehr umstritten. Vgl. Helmut Lukesch: Gewalt und Medien, in: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 639675. Generell wird neuerdings davon ausgegangen, dass der Gewaltmedienkonsum mit den Computerspielen als ›Ego-Shootern‹ zu einer gefährlichen Identifikation mit Gewalttätern führt. Vgl. z.B. Frank Robertz: School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche, Frankfurt/Main 2004 sowie André Melzer: Digitale Spiele, in: Christ Gudehus (Hg.): Gewalt, S. 289-294.
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Sowohl Freyer als auch Veiel und Schmidt bedienen sich, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weisen, der Provokation. Dabei geht es in den beiden Texten weder um Befriedigung primitiver Gewaltgelüste noch um eine bloße Repräsentation der Gewaltlogik zwecks Aggressivitätssublimierung. Beide Theatertexte schreiben sich stark in die Tendenz zur Theatralisierung des Faktischen ein und greifen ›dokumentarisch‹ zwei Präzedenzfälle von Gewalttätigkeit unter Jugendlichen in der neusten Geschichte der BRD auf und setzen sie analytisch in Szene. Die spezifischen Darstellungsmodi der beiden Texte wirken illusionsbrechend und erzeugen dadurch Irritation bzw. Verstörung, die jedoch ein konstruktives Potential besitzen, indem sie kritische (Selbst-)Reflexion über die Gewaltmechanismen erzwingen. Daraus wird die höchst pädagogische Strategie des ›neuen Dokumentartheaters‹ ersichtlich, die eine starke politische Dimension offenbart, wobei jedoch die Impulse, Themen und Mittel ganz anderer Art als im ›klassischen‹ Dokumentartheater sind.
6. Flucht
6.1 D IRK L AUCKES F ÜR ALLE
REICHT ES NICHT
Am 27. August 2015 wurde an der A4 im österreichischen Burgenland ein Kühltransporter mit 71 Leichen syrischer Flüchtlinge entdeckt, den die Schlepper am Autobahnrand stehen ließen. Der Wagen, dessen Auflieger mit der angesichts der Tragödie besonders zynisch wirkenden Werbung »Pražská hydinová šunka« (Prager Geflügelschinken) verziert war, wurde zu einem der erschreckenden Symbole des Schicksals der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und Afrika auf ihrem Weg nach Europa. Dieser makabre Fund steht zugleich für eine Reihe von ähnlichen Grässlichkeiten, die den Menschen auf der Flucht in eine sichere Welt widerfahren sind. Im Sommer 2000 erstickten 58 chinesische Wirtschaftsflüchtlinge in einem Kühlcontainer auf ihrer Reise von Asien nach Europa. Diese grausame Geschichte rekonstruierte Maxim Biller in seinem Theatertext Kühltransport 2001 eindrucksvoll.1 Während Biller im Modus des Dokumentartheaters den makabren Vorfall wiedergab,2 griff Dirk Laucke acht
1
Vgl. Maxim Biller: Kühltransport, München 2001.
2
Zu Billers Text vgl. das Kapitel »Wirklichkeit ohne Rückfahrschein« in: Nikolaus Frei: Rückkehr der Helden: Deutsches Drama der Jahrhundertwende (19942001), Tübingen 2006, S. 177-184.
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Jahre später auf das Motiv in seinem Stück Für alle reicht es nicht3 zurück, das sich im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse als prophetisch erweist. Der Theatertext entstand im Rahmen des »After the Fall«-Projekts, welches zum 20. Jahrestag des Mauerfalls vom Goethe-Institut initiiert wurde.4 Ähnlich wie in dem polnischen »After-the-Fall«-Beitrag, in Andrzej Stasiuks Warten auf den Türken5, situiert Laucke die Handlung seines Stücks im Grenzgebiet: »Irgendwo nahe der Deutsch-Tschechischen Grenze« (F 5). Die Figurenkonstellation besteht aus VertreterInnen verschiedener Generationen und fungiert so als Quasi-Querschnitt der deutschen Gesellschaft: Der Westdeutsche Jo bzw. Johannes (»über 40«; »im heim groß geworden, in einem katholischen«; F 23), seine ostdeutsche Freundin Anna (»so 35 die Drehe«; F 5), die Jo »auf der inventur in bielefeld« (F 37) kennenlernte und in den Osten mitnahm; Heiner, ein ehemaliger NVA-Offizier (»irgendwas über 50«; F 5), seine (inzwischen verstorbene) Frau Martina, die mit »30« Heiner verließ (vgl. F 5) und mit der Tochter Ela bzw. Manuela in den Westen ausreiste, die nun als 30-jährige zusammen mit ihrer Tochter Chayenne (»12«; F 5) auftaucht. Die Zeit der Handlung wird als »From Dusk Till Dawn ... oder Auf der Flucht vor den Untoten« (F 5) festgelegt. Die Anspielung auf den gleich-
3
Dirk Laucke: Für alle reicht es nicht. Unveröffentlichtes Manuskript (Arbeitsfassung vom 2.10.2009), Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb 2009. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle F zitiert.
4
Im Rahmen dieses gesamteuropäischen Theaterprojekts wurden 17 DramatikerInnen aus 15 Ländern beauftragt, Theaterstücke zu schreiben, die gesellschaftspolitische Verwandlungen nach dem Ende des Eisernen Vorhangs in ihren Ländern thematisieren. Als Höhepunkt des Projekts fand im Herbst 2009 ein Doppelfestival – am Staatstheater Dresden und im Theaterbüro Mülheim – statt, bei dem ausgewählte Inszenierungen der Projekt-Stücke aus dem Ausland sowie Laukes Für alle reicht es nicht präsentiert wurden. Die Uraufführung in der Regie von Sandra Strunz fand am 31. Oktober 2009 im Staatsschauspiel Dresden statt und wurde von dem Publikum und der Kritik enthusiastisch aufgenommen. Die Inszenierung wurde für die Mülheimer Theatertage 2010 nominiert. Vgl. Pressestimmen unter: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/home/fuer_alle_ reicht_es_nicht/pressestimmen/ (Stand: 01.04.2016).
5
Andrzej Stasiuk: Warten auf den Türken, in: Theater heute 8 (2009) [Stückabdruck-Beilage].
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namigen Roadmovie- und Splatter-Film von Robert Rodriguez (1996),6 der über eine Vampirhorde, die die in einem Nachtclub absteigenden Gäste töten, erzählt, suggeriert eine entsprechende Horroratmosphäre. In Lauckes Theatertext wird eine unerhört-gruselige Begebenheit erzählt, die folgendermaßen zusammenzufassen wäre: Das Pärchen Jo und Anna finden auf ihrer gewöhnlichen Schmuggeltour aus Tschechien in die BRD einen im Wald abgestellten Transporter und entdecken in seinem Inneren nicht nur Schmuggelzigaretten der Marke »jin ling« (F 14), sondern einige halbtote Flüchtlinge aus Asien. Mit dem Fund kommen sie an einem Panzerfeld an, wo Jos Bekannter Heiner eine Panzerfahrschule betreibt.7 Die Dialoge der drei Figuren, die zu ihren Selbstprojektionen werden, kreisen um die Zukunft der Flüchtlinge. Während die ununterbrochen mit rassistischen Parolen um sich werfende Anna und der um sein Geschäft besorgte Heiner den Transporter ohne Rücksicht auf seine Insassen loswerden wollen, schwankt Jo zwischen Hilfe und Profit. Den Diskussionen schließt sich auch Heiners Tochter Ela an, die mit ihrer Tochter Chayenne zu Besuch kommt. Ela will den Flüchtlingen helfen. Als sie sie zu befreien versucht, wird sie von Anna in dem Laster eingesperrt, den Heiner schließlich wegfährt und mit den eingeschlossenen Asiaten sowie Ela »in der Pampa« (F 53) stehen lässt. In der Schlussszene begießt Jo einen halblebendigen Wolf, den Heiner vorher »aus notwehr« (F 21) zu erschießen versucht, mit Benzin und zündet ihn an. Den Hauptplot der gegenwärtigen Ereignisse ergänzen einige Analepsen und Prolepsen. Retrospektiv wird der desolate Zustand der Ehe von Heiner und Martina noch vor der Wende gezeigt, mit einer starken Fokussierung auf Heiners Antipathie für vietnamesische Gast- bzw. VertragsarbeiterInnen. Zwei Vorausdeutungen in der Konvention eines Kopfkinos zeigen eine Alternative
6
Auch in anderen Theatertexten zitiert Laucke mit Vorliebe Filme, vor allem das Genre roadmovie. Gewissermaßen ist auch die Ästhetik seiner Theatertexte filmisch, wobei einerseits die Keuschheit des Bühnenbildes, andererseits die zeitliche und lokale Authentizität den Stücken eine gewisse Dogma-Atmosphäre verleihen.
7
Solche Schulen existieren tatsächlich. So begrüßt eine ›Panzer Fun Fahrschule‹ in Steinhöfel (Brandenburg) die Besucher ihrer Homepage mit »Willkommen auf Deutschlands größtem Männerspielplatz!« Vgl. http://panzerkutscher.de/ (Stand: 01.04.2016).
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für Jos Zukunft: Einmal wird er bei einem brutalen Verhör in Untersuchungshaft wegen Missbrauchs der Flüchtlinge gezeigt, das andere Mal bei der Verleihung des Verdienstkreuzes für die Rettung der Asiaten. Auf der realistischen Ebene erweist sich Für alle reicht es nicht als eine Diagnose der deutschen Nachwende-Gesellschaft nach der Erweiterung der EU und des Schengen-Abkommens. Laucke spielt hier mit dem Stereotyp des rückständigen, ausländerfeindlichen Ossis und des aufgeklärten, agilen Wessis sowie der gegenseitigen Missachtung beider, um diese Differenzen schließlich auf den Kopf zu stellen. Besonders Anna brilliert mit ausländerfeindlichen Parolen wie »polacken« oder »fidschis« und wird von Jo auklärerisch unterrichtet: J O:
das ist ein rassistisches schimpfwort.
HEINER:
hauptsache die verschwinden schnell wieder.
J O:
habt ihr im osten nichts gelernt.
ANNA:
ich hab gelernt, das sind fidschis. die heißen so. (F 18)
Anna entwickelt zudem eine rassistische Evolutionstheorie (»erst nehmen die polen den deutschen die arbeit weg. dann nehmen die ukrainer den polen die arbeit weg. und die fidschis den ukrainern. die ganze evolutionsleiter runter«; F 39) und greift Ela im Namen ihrer xenophoben Vaterlandsliebe an: ANNA:
[…] willste noch eins in die fresse und noch eins. noch ein ausländer mehr und noch einer. reichts nich dass wir deutschen uns ankacken. haste immer noch nich genug.
ELA:
nee.
ANNA:
wer deutschland nicht liebt, soll deutschland verlassen. (F 51)
Davon, dass diese neue ›LTI‹ kein Fantasiegeschöpf ist, zeugen Anspielungen auf zeitnahe Ereignisse wie die NPD-Plakate zur Bundestagswahl 2009:8
8
Im Spätsommer 2009 hingen in den neuen Bundesländern aggressive NPDWahlplakate mit der rassistischen Parole »Ausländer raus!«, die durch das darüber platzierte, klein gedruckte, kaum sichtbare Adjektiv »kriminelle« raffiniert abgemildert wurde.
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J O:
sagst du doch immer. ausländer / raus.
ANNA:
ich sag kriminelle ausländer. (F 39)
Mit der Zeit übernimmt Jo aber Annas menschenfeindliches Vokabular und macht sich Gedanken über den Menschenhandel, selbst die immigrantenfreundliche Ela9 protestiert am Ende eingeschlossen in dem Transporter »ICH GEHÖR HIER NICHT REIN, ICH BIN NICHT WIE DIE--« (F 53) Die Botschaft des Stücks liegt auf der Hand und wird bereits mit dessen Motto – den Schlusszeilen des Songs The Great Wall von der USPunkband Dead Kennedys signalisiert:10 »Give us your poor,/ Your tired and your weak/ We’ll send ’em right back/ To their certain death« (F 3). Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs diagnostiziert Lauckes Stück eine neue Mauer, die nicht nur mental emporragt und den reichen (weißen)11 Norden von dem armen Süden mit brutalen Folgen trennt. Zudem entdeckt Für alle reicht es nicht aber auch die diesseits dieser Mauer Lebenden als verlorene Flüchtlinge.12 In einem der ersten Wendedramen, d.h. in MauerStücke von Manfred Karge, finden sich folgende Verse: »Es war an nem Novembertag/ Beginnen so nicht Märchen, sag?«13 Die Wende bzw. die Wiedervereinigung wird nicht nur in Karges Stück ironisch als ›Märchen‹ heraufbeschworen. Auch Laucke greift indirekt diese Verortung auf. Jo ist von den winterli-
9
In der 3. Arbeitsfassung des Textes vom 20.09.2009 (im Folgenden = FA) protestiert die Figur gegen den deutschen »einheitssud« (FA 50). Ich danke Dirk Laucke für die Bereitstellung des Manuskripts.
10 Songzitate und Bandnamen als Mottos oder Überschriften kommentieren Lauckes Stücke ständig und fungieren sogar oft als eigenständige Mitspieler. Auf diese Weise führt der Autor nicht nur unterschiedliche Pop- und Subkulturen ein, sondern betont ununterbrochen die fast existentielle Relevanz der Musik für (nicht nur junge) Menschen, ähnlich wie dies paradigmatisch im Leander Haußmanns Film Sonnenallee der Fall ist. 11 Dies pointiert ironisch die Parole »WHITE PRIDE/ GOOD NIGHT« (F 54) am Textende. 12 Insbesondere Heiner, der sich vor der Außenwelt in seinem Panzer wie ›in der ddr verschanzt‹. Vgl. FA 24. 13 Manfred Karge: MauerStücke, in: Programmbuch 52, Schauspielhaus Bochum (Spielzeit 1990/91), S. 31f.
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chen Wäldern vor der deutsch-tschechischen Grenze begeistert, voller Sehnsucht – filmzitatartig – nach einem »ostblockmärchen«, das es »wahrscheinlich die ganze zeit vorher, auf der deutschen seite auch schon« (F 8) gab. Das Märchen existiert nicht mehr, stattdessen gibt es »holland für arme« (F 8), ein »grenzenlose[s] paradies. diesen markt aus wellblechbuden« (F 9) mit »mädels dahinter« (F 8), ein »paradies«, aus dem man mit »voll[em] auto« und sexueller Befriedigung »in die festgefahrene [bundesrepublikanische – A.P.] ordnung« (F 10) zurückfährt. Jos Verklärung resultiert anscheinend aus seiner (zumindest imaginierten) Überlegenheit als Mann und (West-)Deutscher und erweist sich schließlich nur als Kompensation und Selbstlüge. Jo samt Anna suchen verzweifelt nach ihrem Paradies und machen sich vor, es in der eigenen Beziehung gefunden zu haben, die aber permanent scheitert, und zwar nicht nur an dem machohaften Habitus von Jo.14 In dieser Hinsicht erscheint das Paar symbolisch als – zwar nicht ›erzwungene‹, zumindest jedoch unglückliche – Liaison beider deutscher Staaten. Dieses ›paradise lost‹ wird eindringlich durch das Bild der »Strawberry fields« (F 45) symbolisiert, der Erdbeerfelder, die es nicht mehr gibt, seitdem »sich die polacken zu schade geworden sind« (F 38). Bilder des Mangels dominieren im Übrigen das ganze kritische ›Wintermärchen‹ Lauckes und entmythologisieren immer wieder aufs Neue das Wohlstandsparadies BRD wie in folgender Wende-Reminiszenz: HEINER:
GELD GELD GELD. habt ihr doch alle gedacht. HELMUT HELMUT HELMUT – – und jetzt jammern. wenn ihr mich fragt, die fidschis werden genau so eine fresse ziehen. am besten ist, die sehn das gar nicht hier. (F 28)
In dem durchaus realitätsnahen Szenario von Lauckes Stück – selbst eine Panzerfahrschule gehört längst zur Wirklichkeit – wirkt auch der Wolf als Figur nicht verblüffend, zumal –Tierschützer werden es wissen – die bedrohte, auf dem Gebiet Deutschlands fast ausgerottete Tierart wieder in Brandenburg und Sachsen vertreten ist, seitdem Wölfe in den 1990er Jahren aus Polen eingewandert sind. Darüber hinaus besitzt der Wolf – »[f]remd und verlaust“ (F 7), wie die Bühnenanweisungen lauten, ein wei-
14 Annas Schlussworte lauten: »das mit uns war mal. das grenzenlose paradies« (FA 52).
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teres symbolisches, bedeutungsschweres Potential, das angesichts des aktuellen Flüchtlingsdramas an prophetischer Brisanz gewinnt.15 In Heiner Müllers Büchnerpreisrede Die Wunde Woyzeck, die er 1985 hielt, avanciert Büchners Held – diesseits geographischer und ethnischer Differenzen – zur Metapher für alle Unterdrückten. Das revolutionäre Potential, das sich für Müller mit dem erniedrigten Woyzeck verknüpft, verschiebt sich in dieser Rede auf den »Süden« und damit auf die Länder der sogenannten Dritten Welt. Mit einem derart begriffenen Woyzeck der Gegenwart verbindet Müller revolutionäre Hoffnungen sowie Ängste: »Auf [Woyzecks] Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt.« Erst wenn der Hund als Wolf aufersteht und »aus dem Süden« zurückkommt, »beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte«16. Solch eine metaphorische Besetzung des Wolfmotivs besitzt eine signifikante Tradition. Bereits in Heines Wintermärchen (Caput XII) fungieren Wölfe als Revolutionäre, und selbst das lyrische Ich bezeichnet sich als »Wolf«.17 Heine war allerdings auch derjenige, der ein anderes originelles Bild für Unterdrückte, die zu Revolutionären werden: »Es giebt zwei Sorten Ratten/ Die hungrigen und satten./ Die satten bleiben vergnügt zu Haus,/ Die Hungrigen aber wandern aus«18 – heißt es in dem bekannten Parabelgedicht Die Wanderratten. Auch in Lauckes Stück werden Wölfe mit Ratten verglichen: »hast du einen wolf, hast du sie alle. das ist wie mit den ratten. einen wolf alleine gibts nicht« (F 23), sinniert Jo und erzählt mit Stolz, wie sein Kollege im Heim eine Ratte gefangen und »benzin drüber geschüttet und angezündet« hat, so dass
15 In hate speech werden die Flüchtlinge nicht nur entwürdigend animalisiert, sondern oft zusätzlich als Träger von Krankheitserregern diffamiert. 16 Heiner Müller: Die Wunde Woyzeck, in: Heiner Müller: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 261-263, hier S. 263. Vgl. auch S. 20 in der vorliegenden Studie. 17 »Ich bin ein Wolf geblieben, mein Herz/ Und meine Zähne sind wölfisch.« Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 4, Hamburg 1985, S. 89-157, S. 117. 18 Heinrich Heine: Die Wanderratten, in: Heine: Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 334336, hier S. 334.
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wir [sie] mit einem schlag […] alle los [waren]. die ganze verdammte rattenbande. die leiche hat der kollege noch da liegen lassen, damit das nächste rudel, oder wie sich das bei denen nennt, wenns vorbei kommt, bescheid weiß. (F 24)
Das Vokabular ruft Assoziationen mit dem wohl perfidesten NSPropagandafilm wach, in dem Ratten mit folgendem Kommentar eingeblendet werden: Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrungsmittel. [...] Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen, unterirdischen Zerstörung dar – nicht anders als die Juden unter den Menschen.19
Dass Ratten bzw. Wölfe feige sind, artikuliert auch Heiner, bevor er auf den Wolf schießt: »den schiss habt ihr wölfe doch vor uns. trotzdem kommt ihr. und wir knallen euch ab.« (F 10) Später verteidigt er seine Tat: »es war notwehr« (F 21). Ein Angriff auf den Schwächeren unter dem Vorwand der Abwehr, die Ausrottung von rattenähnlichen Bande(n), Transporter voller Leichen und schließlich die Verbrennung bei lebendigem Leibe – all dies ruft vor dem Hintergrund der rassistischen Hasswelle, die gegen Flüchtlinge gerichtet ist, allzu bekannte Greuelbilder in Erinnerung. Mit Für alle reicht es nicht greift Laucke bereits durch die Titelgebung deutlich auf Heiner Müllers Einsicht über das omnipotente Prinzip Selektion (Auschwitz) in der kapitalistischen Demokratie zurück.20 In der 3.
19 Vgl. Der Ewige Jude (D: 1940), Regie: Fritz Kippler. 20 In einem Gespräch mit Kluge formulierte dies Müller wie folgt: »Das Problem unserer Zivilisation ist eine Alternative zu Auschwitz zu entwickeln, und es gibt keine. […] Also wenn du mal Auschwitz nimmst als die Metapher – ja, Metapher ist ein sehr barbarisches Wort –, aber als die Realität der Selektion. Und Selektion ist global das Problem der Politik. Es gibt noch keine Alternative zu Auschwitz.« Alexander Kluge: Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche/Alexander Kluge/Heiner Müller, Hamburg 1996, S. 61. Vgl. auch Heiner Müller: Auschwitz und kein Ende: ein Gespräch, Berlin 1995. Lauckes Affinität zu Müller belegen auch überdeutlich Mikro-Zitate aus dessen Werk, die in anderen Theatertexten des Autors von Für alle reicht es nicht auftauchen, wie etwa
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Arbeitsfassung des Theatertextes wird allerdings explizit an Müllers dramatisches Werk angeknüpft. So variiert Ela die bekannte Eingangssequenz von Die Hamletmaschine mit folgenden Worten: »ich steh die ganze zeit an der brandung und spuck auf die festung europa. blabla.« (FA 47) Die Krise und Ohnmacht des Künstlers wird somit umgewandelt in ein sarkastisches Statement, welches letztlich Müllers geschichtspessimistische Position kritisch in Frage stellt. Die Transformation der ursprünglichen »Ruinen« in eine »Festung« impliziert eine neue Mauer, eine Mauer der Wohlstandsgesellschaft, die zugleich eine Festung – wie im gleichnamigen Stück von Rainald Goetz21 – des vereinigten Deutschland bzw. des vereinten Europa ist, das sich hinter hohlen Phrasen gegen die Geschichtserinnerung und -verantwortung verschanzt. Die ›Mauer‹ fungiert als ›barbarische Metapher‹ im Sinne Müllers und steht in Lauckes Theatertext prophetisch für aktuelle Bestrebungen des ›Schutzes‹ vor Flüchtlingen durch einen Stacheldrahtverhau. Lauckes Für alle reicht es nicht schreibt sich ein in die Tradition des engagierten Dramas, das seit der Wiedervereinigung intensiv die Frage
»landschaft mit argonauten« als Überschrift der 9. Szene in ford escort dunkelblau [in: Theater heute 5 (2007), S. 57] oder »Eiszeit« an mehreren Stellen im Stück zu jung zu alt zu deutsch (2009) als Anspielung auf das letzte Wort im 4. Abschnitt von Müllers Hamlet-Text. Laucke verwendet auch mit Vorliebe die für Müller typische Schreibweise in Majuskeln. Als indirekter Müller-Verweis werden in Für alle reicht es nicht an zwei Stellen Indianer genannt. Einmal urteilt Heiner über die Mayflower-Siedler: »die ersten in amerika haben die indianer kalt gemacht«, und das andere Mal wird der ungewöhnliche Vorname Chayenne ausgelegt: »die heißt wien pfeffer«, sagt Anna, und Jo ergänzt: »oder die indianer« (F 32). Angespielt wird hier auf die besondere Affinität der Deutschen zu den Indianern, die Heiner Müller selbst teilte und als »Sehnsucht nach Wildheit« bezeichnete: »Ich war zwar antifaschistisch erzogen, aber Deutscher sein, hieß auch Indianer sein. Diese Indianerromantik war antiplutokratische Propaganda, gegen die amerikanische Demokratie. Ja, die Nazis haben das genial benutzt; das antizivilisatorische Moment, die Sehnsucht nach Wildheit in diesen Geschichten.« – so Müller in: Friedrich von Gagern: Der Marterpfahl. Plus 3 Gespräche mit Heiner Müller, Berlin 2005, S. 48. Vgl. auch Thomas Kramer: Heiner Müller am Marterpfahl, Bielefeld 2006, insbesondere S. 7f. 21 Vgl. Rainald Goetz: Festung, Frankfurt/Main 2003.
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nach der Kondition der deutschen Gesellschaft vor dem Hintergrund seiner Relation zu ›Fremden‹ verhandelt.22 Anstelle von postmodernen Collagen mit einem chorischen Stimmengewirr greift der Autor auf eine stabile dramatische Form zurück, indem er den Dialog und eine lineare, kausalkonsekutive Handlung wieder belebt. Laucke entwirft im Grunde – auch wenn etwas verzerrt –realistische Lebensszenarien und schafft glaubwürdige Alltagsgeschichten, die in einem Hier und Jetzt verankert sind. Die einzelnen Szenen seines Theatertextes, die lehrstückhaft durchnummeriert und mit Überschriften versehen wurden, strotzen dabei vor allem dank der Sprache vor Authentizität. Der Autor bedient sich durchgängig einer Alltags- bzw. Umgangssprache mit einer sehr starken dialektalen Färbung, einer Art Kunstdialekt, in dem aber immer wieder das Anhalt-Sächsische als Sprache seiner Sozialisation mitklingt. Diese saloppe Sprache kippt oft in einen Jugendjargon bzw. Subkulturenslang um und ist mit Vulgarismen und Anglizismen übersät. Sie verstößt häufig gegen grammatische Regeln, bisweilen wirkt sie auch verstümmelt, denn die Sätze oder einzelne Worte werden immer wieder abgeschnitten. Durch die einfache Syntax und die dominierende Parataxe wirkt diese ›nuschelige‹ Ausdrucksweise jedoch sehr dynamisch. Nicht zuletzt wird die sprachliche Schnelligkeit durch sparsame Interpunktion bzw. kurze Phrasen erzeugt. Der Rhythmus der Szenen wird zusätzlich dadurch beschleunigt, dass die Figuren sich ständig ins Wort fallen, wodurch sich die Sprechsequenzen partiell quasiüberlappen. So spiegeln die Sprechakte die allgemeine Beschleunigung des heutigen Lebens wider, weisen aber zugleich auf die Nervosität der modernen Kommunikation sowie – last but not least – auf die existentielle Überforderung angesichts der Begegnung mit dem ›Fremden‹ hin. Für alle reicht es nicht bleibt aber vor allem eine höchst relevante Stimme hinsichtlich der Frage nach Exklusion und Integration, mit der sich Laucke bereits
22 Zu Theatertexten, die seit den 1990ern das Eigene und das Fremde mit einem Integrationsgestus thematisieren, vgl. ausführlich Helga Kraft: Das Theater als moralische Anstalt? Deutsche Identität und die Migrantenfrage auf der Bühne, in: Gaby Pailer, Franziska Schößler (Hg.): GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam, New York 2011 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 78), S. 121-139.
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bei seinem Debüt 2005 auseinandersetzte,23 und gewinnt angesichts der aktuellen Entwicklungen an politischer Sprengkraft.
6.2 E LFRIEDE J ELINEKS D IE S CHUTZBEFOHLENEN Im November 2012 verließen einige Dutzend Flüchtlinge das Aufnahmelager im österreichischen Traiskirchen und errichteten im Wiener SigmundFreud-Park ein Protest-Camp. Auf diese Weise verwahrten sie sich gegen die menschenunwürdigen Bedingungen des österreichischen Asylverfahrens.24 Da sie rechtsextremen Provokationen und Bedrohungen ausgesetzt waren, besetzten sie am 18.12.2012 die nahe gelegene Votivkirche, in der sie in einen Hungerstreik traten.25 Auf die Ereignisse reagierte Elfriede Jelinek mit dem Theatertext Die Schutzbefohlenen,26 den sie zunächst am
23 Für das Berliner Grips-Theater verfasste Laucke 2005 zusammen mit Reyna Bruns und Magdalena Grazewicz den Theatertext Hier geblieben! im Rahmen einer Aktion für das Bleiberecht minderjähriger Flüchtlinge. 24 Vgl. dazu Bärbel Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück »Die Schutzbefohlenen«, unter: http: //www.vermessungsseiten.de/luecke/die_schutzbefohlenen.pdf, S. 2f. (Stand: 01.04.2016). Zu Paradoxien des Asylverfahrens im Allgemeinen vgl. Julia Dahlvik, Christoph Reinprecht: Asyl als Widerspruch – vom Menschenrecht zum Auserwählten?, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek(Jahr)Buch. Elfriede JelinekForschungszentrum 2014-2015, Wien 2015, S. 43-54. 25 Zu dem Protestverlauf vgl. Luigi Reitani: »Daß uns Recht geschieht, darum beten wir.« Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen«, in: Janke (Hg.): Jelinek (Jahr)Buch, S. 55-71, hier S. 55-57. 26 Der Text ist im Zusammenhang mit »Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine«, einer Aktion von Nikolas Stemann, im Hamburger Thalia Theater entstanden. Nach einer Urlesung im September 2013 in der St. Pauli-Kirche fand die Uraufführung in der Inszenierung von Stemann am 23.05.2014 im Rahmen des Theater der Welt-Festivals Mannheim statt. Inzwischen avancierte Die Schutzbefohlenen zum Theatertext der Stunde und wird an renommierten, nicht nur deutschsprachigen Bühnen gespielt.
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14.06.2013 auf ihrer Webseite veröffentlichte.27 Der Text wurde in den nächsten Monaten zweimal modifiziert bzw. erweitert, vor allem unter dem Einfluss der tragischen Ereignisse vor der Küste von Lampedusa, wo am 3.10.2013 fast 400 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea bei einem Bootsunglück ertranken. Die letzte Fassung ist vom 14.11.2014 datiert. Darüber hinaus wurde der Kerntext zwischen September und Dezember 2015 um drei Zusatztexte ergänzt, die ebenso auf der Homepage der Autorin publiziert wurden (Appendix28 am 18.09.2015, Coda29 am 29.09/7.10.2015 und Die Schutzbefohlenen. Europas Wehr. Jetzt staut es sich aber sehr! [Epilog auf dem Boden]30 am 21.12.2015). Das gesamte Projekt als work in progress zeichnet eine generative Dimension aus, d.h. in den Vordergrund gerät das Prozessuale des Schreibaktes, der parallel zu den politischen Entwicklungen um das Flüchtlingsdrama stattfindet. Da der Schreibprozess sich direkt aus den realen Ereignissen speist, besitzt er einen ausgesprochen dokumentarischen Charakter, der sich jedoch nicht auf eine literalisierte Berichterstattung beschränkt, sondern als Intervention zu betrachten ist, der ein offensichtlich politischer Impuls der Inschutznahme von Bedürftigen zugrunde liegt. In der Tat setzt Jelinek mit Die Schutzbefohlenen ihren politischen Einsatz für die in der Gesellschaft Benachteiligten bzw. von ihr Ausgegrenzten fort, den sie seit den 1980ern stets und entschieden zeigte.31 Vor diesem
27 Als Stückabdruck wurde die Urfassung des Textes in: Theater heute 7 (2014) publiziert. Im Folgenden stütze ich mich auf die aktuellste Version, die unter: http://www.elfriedejelinek.com/ bzw. http://www.a-e-m-gmbh.com/ej/fschutzbe fohlene.htm (Stand: 01.04.2016) veröffentlicht wurde. Der Text wird mit der Sigle SB zitiert. 28 Vgl. unter: http://www.elfriedejelinek.com/ bzw. http://204.200.212.100/ej/ fsbappendix.htm (Stand: 01.04.2016). Der Text wird mit der Sigle A zitiert. 29 Vgl. unter: http://www.elfriedejelinek.com/ bzw. http://204.200.212.100/ej/ fschutzbefohlene-coda.htm (Stand: 01.04.2016). Der Text wird mit der Sigle C zitiert. 30 Vgl. unter: http://www.elfriedejelinek.com/ bzw. http://204.200.212.100/ej/feu ropas-wehr.htm (Stand: 01.04.2016). Der Text wird mit der Sigle E zitiert. 31 Vgl. dazu den Überblick von Pia Janke, Stefanie Kaplan: Politisches und feministisches Engagement, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek-Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 9-20.
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Hintergrund ist ihr literarisches Engagement für die MigrantInnen bzw. AsylbewerberInnen, das nunmehr angesichts der eskalierenden Flüchtlingskrise potenziert wurde, als eine Konstante ihres Schaffens zu betrachten. Dabei soll daran erinnert werden, dass ihre literarischen Interventionstexte immer von einer aktiven Teilnahme an politischen Aktionen, sei es mindestens in Form einer kritischen Stellungnahme in den Medien, begleitet wurden.32 Als 1994 das österreichische Asylgesetz verschärft wurde, unterstützte sie aktiv den durch die »Initiative Minderheitenjahr« organisierten ›Trauermarsch zum Asyl- und Aufenthaltsgesetz‹ als Mitglied des Protestkomitees und verfasste aus dem Anlass folgendes Statement: Wenn wir Künstlerinnen und Künstler in unseren Arbeiten die Moral vergessen, die Verpflichtung, die wir den Fremden gegenüber haben, die sich zu uns geflüchtet haben, dann wird sich unser scharfer Blick letztlich trüben und wir werden überhaupt nichts mehr sagen können, was wahr wäre. […] Jetzt haben wir noch eine letzte Chance bekommen: Es ist unsere Aufgabe, für diejenigen zu sprechen, für die kein anderer spricht. Denn auch unsere künstlerischen Werke werden uns nicht retten, wenn wir uns abschließen gegen diejenigen, die sich aus ihrer Bedrohung heraus zu uns gerettet haben.33
Diese und ähnliche Aussagen, die Jelinek immer wieder tätigt, sind nicht nur komplementär zu ihren literarischen Texten zu betrachten, sondern sie offenbaren die schriftstellerischen Beweggründe der Autorin, die das Politikum ihrer Literatur fundieren. Nicht das – wie auch immer begriffene – Ästhetische steht im Vordergrund von Jelineks Texten, sondern eine durch ›Verpflichtung‹ und ›Moral‹ motivierte, als ›Aufgabe‹ verstandene, nach
32 Der wohl spektakulärste Einsatz für Asylbedürftige bestand in ihrer Teilnahme an der 2000 von Christoph Schlingensief in einem neben der Wiener Staatsoper aufgestellten Container durchgeführten mehrtägigen Aktion »Bitte liebt Österreich!«, für die sie ein aus Texten von AsylbewerberInnen montiertes Kasperltheaterstück verfasste und selbst an einem Tag vor Ort anwesend war. Vgl. Pia Janke (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich, Salzburg 2002, S. 144-146. 33 Elfriede Jelinek: Stellungnahme zur Asyl- und Aufenthaltsgesetzgebung in Österreich, in: Broschüre zum Trauermarsch zum Asyl- und Aufenthaltsgesetz, Wien 1994. Zit. nach: Janke (Hg.): Die Nestbeschmutzerin, S. 79.
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›Wahrheit‹ strebende Botschaft im Namen der Sprach- bzw. Rechtlosen. In dieser Hinsicht entwerfen ihre für das Theater geschriebenen Texte die Bühne als Tribüne, wobei die Autorin-Instanz, indem sie sich selbst textimmanent durch ständige Selbstreflexionen bzw. auktoriale Einschübe ins Spiel bringt, in persona als Sprachrohr politischer Kritik fungiert bzw. als Urheberin der Spielvorlage im Sinne des Diskurstheaters34 eine (politische) Ansprache an das Publikum richtet. Als »Gesicht der Rede«35 ist die Autorin-Figur zwar nicht mit der realen Autorin Jelinek gleichzusetzen,36 nichtsdestotrotz verleiht solch ein sprachliches Maskenspiel37 der Selbstinszenierung ihren Theatertexten eine fiktionalisierte Authentizität bzw. authentifizierte Fiktion, die die Autorschaft als eine markante »Verbindungslinie zur Welt«38 notgedrungen aufwertet. Auch wenn ihre Theatertexte als Muster des Postdramatischen gelten mögen,39 so bringt Jelineks Konzept
34 Vgl. Andrzej Wirth: Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte, in: Theater heute 1 (1980), S. 16-19, hier S. 19. 35 Vgl. Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, Paderborn 2005. In Anlehnung an Paul de Man greift Annuß die Figur der Prosopopöie auf und weist sie als fundamental für Jelineks Figurenkonzeption aus. 36 Den künstlichen Charakter der Selbstinszenierungen der Autorin betont ausdrücklich Peter Clar: Selbstpräsentation, in: Janke (Hg.): Jelinek-Handbuch, S. 21-26. 37 Es handelt sich um eine prosopopoetische Maske im Sinne de Mans, der das Autobiographische als »Lese- und Verstehensfigur« definiert. Vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, in: Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/Main 1993, S. 131-146, hier S. 134. 38 Thomas Ostermeier: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 7/8 (1999), S. 10-15, hier S. 12. Die Verbindung von Theatertext, Autorschaft und Wirklichkeit hebt Jelinek in ihrem Essay Textflächen hervor, indem sie den Tod des Autors und die Vorstellung sich selbst schreibender Textflächen persifliert. Vgl. Elfriede Jelinek: Textflächen (17.02.2013), unter: http://www. elfriedejelinek.com/ (Stand: 01.04.2016). 39 Bereits 1997 hat Poschmann in ihrer neue Forschungsperspektiven eröffnenden Studie drei Bühnenstücke Jelineks als »nicht mehr dramatische Theatertexte« der Analyse unterzogen. Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen
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der AutorInnenschaft mit der ihm zugrunde liegenden Strategie des interventionistischen Einsatzes das postdramatische Modell bzw. die ihm inhärente Herabsetzung der AutorInnenschaft trotzdem ins Wanken. In Die Schutzbefohlenen und verstärkt in den dazugehörigen Zusatztexten wird deutlich die Stimme einer Autorin-Instanz vernehmbar, die das Schreiben sehr in Anspruch nimmt: »[das] kann ich jetzt nicht nachschlagen, hab keine Zeit, muß ja schreiben« (SB). Damit wird nicht nur eine Art Schreibzwang zum Ausdruck gebracht, sondern in den Fokus gerät der Schreibprozess selbst, der vom ständigen ›Nachschlagen‹40, ›Nachschauen‹41 bzw. ›Nachlesen‹42 begleitet wird, was sich als dokumentarische Recherche abzeichnet. Dieser Dokumentarismus beruht jedoch nicht – wie im ›klassischen‹ Dokumentardrama – auf einer unveränderten Wiedergabe des authentischen Materials. Das Faktische wird hier punktuell und verfremdet in den Text hineinprojiziert, wobei es immer wieder neue Assoziationsfelder aktiviert, die in längeren Textpassagen ausufern. Die Stimme der Autorin-Instanz bzw. des schreibenden Ich, das deutlich weiblich anmutet,43 vermischt sich in den Textfluten ununterbrochen mit einem Wir, das als kollektive Rede der Flüchtlinge identifizierbar ist.
1997. Lehmann zählt Jelinek neben Heiner Müller, Rainald Goetz und Peter Handke zu »Autoren, deren Werk mindestens teilweise dem postdramatischen Paradigma verwandt ist«. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999, S. 25. Mittlerweile wird zunehmend über die Unzulänglichkeit des postdramatischen Modells für die Erörterung von Jelineks Theatertexten reflektiert. Vgl. dazu die Beiträge des Bandes von Pia Janke, Teresa Kovacs (Hg.): »Postdramatik«: Reflexion und Revision, Wien 2015, darin vor allem: Anne Fleig: Texttheatralität und dramatische Form. Plädoyer für eine historische Perspektivierung von Text und Aufführung bei Elfriede Jelinek, S. 283294 sowie Franziska Schößler: Dramatik/Postdramatik, Theatralität und Installation: Elfride Jelineks begehbare Landschaften, S. 297-307. 40 Z.B.: »das muß ich noch nachschlagen« (SB), »ich muß nachschlagen, wie das im Wasser funktioniert« (C). 41 Z.B.: »jetzt schaue ich doch mal nach« (SB), »Moment, ich muß nachschauen« (AX). 42 Z.B.: »aber ich habe nachgelesen, was mit ihnen passiert« (AX). 43 Vgl. z.B. den selbstironischen Kommentar »der Gott schwängert alle, mich aber nicht« (SB).
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Die beiden Stimmen decken sich partiell, überschneiden sich oder gehen sogar ineinander über (z.B.: »ja, das sagten wir schon, und ja […] das sagte ich auch« SB; »Ich gehöre, nein, das bin ja nicht ich, wir gehören hierher, können uns aber genausowenig [sic!] bewegen.« E). Diesen Stimmenüberschneidungen in einem Chormodus – der für Jelineks Theatertexte konstitutiv ist44 – kommt in Die Schutzbefohlenen eine besondere Funktion zu. Indem die Stimme des Ich in die Stimme des Wir einfließt bzw. aus ihr emportaucht, entsteht zwischen den beiden eine Koinzidenz, infolge der die Autorin-Instanz sich – trotz einer zeitlich-räumlichen Distanz – den Asylsuchenden angleicht und zu einer Quasi-Asylantin mutiert.45 Folgt man bei dieser Lesart zusätzlich den Ausführungen von Ulrike Haß, die die Kondi-
44 Mit dem Theatertext Wolken.Heim aus dem Jahre 1988 verabschiedet sich Jelinek von einer individualisierten Figurenrede zugunsten eines polyphonen Kollektivsprechens, das in Ein Sportstück (1998) als Postfiguration des antiken Theaterchors seinen Höhepunkt erreicht. Das Chorische konstituiert zunehmend Theatertexte der Autorin, die im 21. Jahrhundert entstanden sind. Der für die ausgeprägte Intertextualität von Jelineks Texten besonders adäquate Chormodus nivelliert die Figurenpsychologie sowie Individualität des Schauspielers und löst in der Folge den Text von einer einzelnen Sprecherinstanz zugunsten der Trennung von Sprache und Körper. Vgl. Ulrike Haß: Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks »Ein Sportstück« am Burgtheater durch Einar Schleef, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kollesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen – Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 71-81. Das Exponieren des Körpers macht ihn nicht zuletzt »zum Ort der Frage nach den politischen […] Bedingungen […], unter denen Menschen aufs bloß Physische reduziert werden.« Evelyn Annuß: Flache Figuren – Kollektive Körper, in: Thomas Eder, Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, München 2010, S. 49-69, hier S. 69. 45 In dieser Hinsicht ist es signifikant, dass Jelinek sich selbst aus Protest gegen die politischen Entwicklungen in Österreich mehrmals in die Position einer ›inneren Emigrantin‹ zurückzog. Vgl. Teresa Kovacs: »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus«. AußenseiterInnentum und innere Emigration bei Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, in: Marcin Gołaszewski, Magdalena Kardach, Leonore Krenzlin (Hg.): Zwischen Innerer Emigration und Exil. Deutschsprachige Schriftsteller 1933-1945, Berlin, Boston 2016, S. 205-217.
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tion des Chores im antiken Drama mit der Position eines »Migranten«46 vergleicht, wird die chorische Form in Die Schutzbefohlenen zur realisierten Metapher einer nach Verortung und Subjektivierung suchenden Masse der Marginalisierten. Allerdings – anders als in der antiken Tragödie – räumt hier nicht der Chor den einzelnen Protagonisten den Platz ein, sondern die Autorin-Instanz als Schreibprotagonistin ermöglicht das Auftreten des rechtlosen Kollektivs und gewährt ihm als ihrem ›Schutzbefohlenen‹ und »Verwandte[n] in Furcht«47 ein symbolisches Asyl im theatertextuellen Raum. Den Kreislauf des chorischen Textgeflechts von Die Schutzbefohlenen, das aus 29 Absätzen besteht, die keine homogenen Textsegmente ergeben, konstituieren zwei Hauptmotive. Zum einen bezieht sich der Theatertext durchgehend punktuell auf die tagespolitischen Ereignisse um die Proteste der Flüchtlinge in Wien sowie die Lampedusa-Tragödie und ihre Folgen, zum anderen kreist er um humanistische Werte und Grundsätze der europäischen Zivilisation, die verschiedene in das Textgewebe als Mikro- und Makrozitate eingeflochtene Kulturtexte repräsentieren. Gebündelt werden die beiden Leitmotive durch eine der ältesten erhaltenen Tragödien der griechischen Antike – Die Schutzflehenden (Hiketides) von Aischylos, die als Folie für Jelineks Theatertext dient, was bereits sein Titel als eine Variation der Vorlage andeutet. Wie bekannt, handelt Aischylosʼ Tragödie von den fünfzig Töchtern des Danaos, die aus Ägypten fliehen, um die erzwungene Heirat mit ihren Vettern, den Söhnen von Aigyptos zu verhindern. Auf der Flucht vor den unerwünschten Männern gelangen sie zusammen mit ihrem Vater nach Argos, wo sie bei König Pelasgos um Asyl flehen und ihm gegenüber dabei auf ihre Genealogie als Nachkommen der Argiverin Io verweisen. Der argivische König wird vor eine schwierige Alternative gestellt, denn entweder riskiert er einen Krieg mit den Aigyptiern oder er zieht den Zorn von Zeus Hikésios in seiner Funktion als Schutzgottheit der Flüchtlinge auf die
46 Ulrike Haß: Woher kommt der Chor, in: Maske & Koturn 3 (2012), Vol. 58, S. 13-30, hier S. 19. 47 Im Appendix heißt es: »Diese paar Männer aus der Kirche, die mir einmal so wichtig waren, so teuer, wie Verwandte in Furcht ob ihrer Flucht« (AX).
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Polis.48 Schließlich wird den Hiketiden durch eine von Pelasgos angeordnete Volksentscheidung in Argos Asyl gewährt. Auch wenn Aischylosʼ Text nicht ganz den damaligen politischen Gepflogenheiten entspricht bzw. der Tragiker »ein fiktives Asylrecht«49 entwirft, zeichnet Die Schutzflehenden eine tiefe Humanität aus, die sich im Sieg der Willkommenskultur über die Sicherheit der Polis manifestiert.50 Diese antike Humanität im Kurzschluss mit dem aktuellen Flüchtlingsdrama führt zu einem textimmanenten clash der Kulturen, der die Dehumanisierung der europäischen Zivilisation gnadenlos dekuvriert. Obwohl die gegenwärtigen ›Schutzflehenden‹ im Sinne der modernen Menschenrechte als ›Schutzbefohlene‹ gelten sollten – was der modifizierte Titel von Jelineks Theatertext nahe legt – wird ihnen der Rechtschutz verwehrt bzw. sie werden inhuman behandelt. Die Dehumanisierung wird auf mehreren Ebenen durchgespielt, darunter sehr stark als Devaluation der sog. christlichen Werte inszeniert. Während die mythischen Danaiden als Halbbarbarinnen die Repräsentanten der griechischen Zivilisation an ihre religiöse Pflicht51 erinnern und letztlich die Erfüllung dieser Pflicht erzwingen,52 versagen die christlichen
48 Zu Zeus Hikésios im Kontext von Hiketides vgl. Sabine Föllinger: Aischylos: Meister der griechischen Tragödie, München 2009, S. 99. 49 Martin Dreher: Hikesie und Asylie in den »Hiketiden« des Aischylos, in: Martin Dreher (Hg.): Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Weimar, Wien 2003 (= Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte), S. 59-84, hier S. 81. Zit. nach Silke Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen«, in: Pia Janke, Agnieszka Jezierska, Monika Szczepaniak (Hg.): Jelineks Räume, Wien [im Erscheinen]. Felber verhandelt Die Schutzbefohlenen primär vor dem Hintergrund der fremdenrechtlichen asylia, die verdienstvolle Fremde unter den Rechtsschutz stellte, und zieht somit kritisch eine Parallele zur aktuellen Einbürgerungspolitik in Österreich. 50 Vgl. Reitani: »Daß uns Recht geschieht…«, S. 61. 51 Es handelt sich um die Pflicht, die mit der Hikesie als Bitte um Schutzgewährung im Sinne des damals geltenden Sakralrechts zusammenhing. Vgl. Föllinger: Aischylos, S. 99. 52 Vgl. Rüdiger Bernek: Dramaturgie und Ideologie. Der politische Mythos in den Hikesiedramen des Aischylos, Sophokles und Euripides, München, Leipzig 2004, S. 59.
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Pflichten gegenüber den Flüchtlingen bzw. sie treiben die Befestigung eines Bollwerks gegen Andersgläubige und die ›Islamisierung des Abendlandes‹ an. Infolgedessen erweisen sich die christlichen Werte in Die Schutzbefohlenen als Fassade einer vermeintlich humanen Gemeinschaft, die sich letztlich als barbarisch erweist. Die Pervertierung der christlich fundierten Nächstenliebe wird in zahlreichen drastisch-grotesken, im Text verstreuten Bildern in Szene gesetzt, die mit dem Jesus-Spruch »lasset die Kindlein zu mir kommen« (SB) vor dem Hintergrund unzähliger Todesfälle von Kindern durch Ertrinken in den Mittelmeerfluten und der sie oft begleitenden hate speech in den Sozialen Medien auf die Spitze getrieben wird. Die Bloßstellung des Versagens von christlicher Moral im Umgang mit den Flüchtlingen geht in Jelineks Text mit der Entmetaphysierung der Religion und somit mit ihrer Entgötterung einher, was signifikanterweise durch Vergöttlichung weltlicher Idole ersetzt wird (»wer auch immer du bist, du, du, Jesus, Messias, Messie, egal« SB). Eine sakrale Aura wird vor allem auf die Herren des Geldes, die Machthaber der Finanzwelt als Götzen der Ökonomie übertragen, die in die Politik als deren Drahtzieher verwickelt sind. Als einen solchen ökonomischen Abgott führt Jelinek exemplarisch den österreichischen Multimillionär Frank Stronach vor, der – wie Bärbel Lücke ausführlich ausgelegt hat – durchgehend litanei-artig als »Stellvertreter-Gott«53 angebetet wird. Dass ausgerechnet dieser Konzerngott zum Repräsentanten der ›neuen Götter‹ von Jelinek ausgewählt wurde, hängt mit einem Skandal zusammen, den die sog. Blitz-Einbürgerung der Familie von Jelzins Tochter in Österreich hervorrief,54 zu der sein Interventionsschreiben, hinter dem obskure Geldinteressen standen, beigetragen hat.55 Der
53 Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste, S. 6. 54 Der Fall gehört zu den blitzartig abgewickelten Promi-Einbürgerungen, die in Österreich nach intransparenten Kriterien durchgeführt werden. Die Einbürgerung der Familie Januschewa fand bereits 2009 statt, ist aber erst 2013, d.h. zur Zeit der Flüchtlingsproteste in Wien, ans Licht gekommen. Eine andere PromiEinbürgerung, auf die Jelinek in Die Schutzbefohlenen Bezug nimmt, betrifft die russische Opernsängerin Anna Netrebko, die seit 2006 österreichische Staatsbürgerin ist. 55 Stronach als Besitzer des Magma-Konzerns wollte damit seine Geschäfte mit der russischen Sperbank abwickeln und plante in diesem Rahmen sogar den Kauf von Opelwerken in Bochum. Vgl. dazu ausführlich Lücke: Aischylos,
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Kurzschluss zwischen dem Flüchtlingsdrama und den Promi-Einbürgerungen verdeutlich besonders krass die Umwertung der Werte durch die Ökonomie-Götter, was der Flüchtlingschor folgendermaßen zum Ausdruck bringt: »Wir sind kein Wert, wir sind außerhalb der Werte, die andre geschaffen haben, die der Konzern geschaffen hat, die der Konzern geschafft hat, […] noch größerer Gott als Gott« (SB). Bei der Anprangerung von Stronach handelt es sich nicht nur um eine allgemeine Kritik an der menschenentwertenden Finanz-Welt, sondern um eine engagierte Geste des Transparentmachens von konkreten ökonomisch-politischen Machenschaften und ihren Akteuren, die der Überzeugung vom Spiel anonymer Strukturen in der Politik – welche nicht zuletzt die postdramatische Umdeutung des Politischen grundiert – zuwider läuft. Angesichts der zentralen Motive ›Asyl‹ und ›Einbürgerung‹ rückt in Jelineks Text die Frage nach der Verortung der Migranten in der Vordergrund, die zu einer symbolträchtigen Topographie führt, in der vor allem das (Mittel-)Meer als Ort des Dramas eine gravierende Rolle spielt. Mit dem Rekurs auf Aischylos aktiviert Jelinek den in der europäischen Kultur fest verankerten Topos vom Meer als Medium menschlicher Vereinigung und Solidarität.56 Das menschenfreundliche kulturelle Raumkonzept des
Aufklärung und Asylproteste, S. 3-6. Stronach gründete 2012 eine nach eigenem Namen genannte Partei (Team Stronach), die 2013 mit 11 Mandaten in das Österreichische Parlament einzog. Der Clubchef der Partei, Robert Lugar, tätigte im März 2016 im Rahmen einer Debatte zu den Auswirkungen der Flüchtlingspolitik eine skandalöse Äußerung (»Denn die meisten [Flüchtlinge, – A.P.] die kommen sind ungebildet, sind religiös verblendet, sind fanatisch, nicht integrierbar und haben ein Weltbild wie die Neandertaler, wo man die Frauenrechte mit Füßen tritt.«), die die Gesinnung der Partei widerspiegelt. Vgl. unter: http://kurier.at/politik/inland/lugar-fluechtlinge-mit-weltbild-wie-neandertaler/1 87.441.737 (Stand: 01.04.2016). 56 Diesen Topos bringt Simmel folgendermaßen auf den Punkt: »Das Meer ist aufs innigste in die Schicksale und Entwicklungen unserer Art hineingewachsen; es hat sich unzählige Male nicht als die Trennung, sondern als die Verbindung der Länder erwiesen.« Georg Simmel: Die Alpen, in: Carmen Schäfer, Wolfgang Storch (Hg.): Die Sprache der Landschaft. Texte von Friedrich Nietzsche bis Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart, Weimar 1993, S. 69-74, hier S. 73. Eindrucksvoll literarisierte Bachmann den Topos 1964 in ihrer poetischen Vision
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Mittelmeeres, welches Aischylos in Die Schutzflehenden entwarf, verkehrt sich bei Jelinek in sein Gegenteil: Während das Meer in dieser antiken Tragödie für die verfolgten Danaiden in ihrer Pentekontere zum rettenden Fluchtweg wird, verwandelt es sich in Die Schutzbefohlenen in einen unheilvollen Todes(wasser)trakt. Dem Mittelmeer wird die positive Dimension gnadenlos abgesprochen, der große Teich mutiert hier zum dystopischen Abgrund – »das Meer ist ein Loch, ein Schlund, eine Schlucht« (SB). Der glückverheißende locus maritimus wird zum schrecklichen locus mortis – »ein unwahres Meer, ein Meer zum Meer, ein Meer ins Meer, wo sie enden, wo sie endlich enden, und schon sind es einige weniger« (SB), wie es über die vor der Küste von Lampedusa Ertrunkenen heißt. Signifikanterweise überschneidet sich diese semantische Umpolung mit einer topologischen Opposition von Oben und Unten, die mit Bedeutungen im Sinne Jurij Lotmans aufgeladen wird.57 Die horizontale Perspektive als hoffnungsvolle Aussicht der Flüchtlinge wird abgeschnitten durch eine Vertikale der Berglandschaft: »Der Horizont wird zum Nichts, am Gebirge endet er« (SB). Die Dialektik von Gebirgs-Höhe und Meeres-Tiefe korrespondiert deutlich mit der Rangordnung zwischen denjenigen »dort oben, auf Ihrer Klippe, dort oben, auf Ihrem Berg« und den »Wilden«, die »keinen Anspruch […] auf [das] Gebirge« (SB) haben. Durch diese Polarisierung spaltet sich der Erzählraum in zwei Sphären – eine quasi-olympische als Freiheits- und Machtraum sowie eine ihm unterlegene Sphäre als Raum der Nichtigkeit. Diese Hierarchie spiegelt das umgedrehte Zitat aus Hölderlins Hyperion-Gedicht58 wider, in dem es über die Ertrunkenen heißt: »gewor-
der heilen Heimat aller Heimatlosen als eine mediterrane Utopia. Vgl. Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer, in: Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 1: Gedichte, München, Zürich 1978, S. 167f. 57 Vgl. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1981, S. 311-347. Lotman entwirft ein raumsemantisches Modell, in dem die Welt durch eine binäre Opposition zwischen Oben und Unten bzw. zwischen zwei Teilräumen strukturiert ist, zwischen denen eine schwer überschreitbare Grenze besteht. Diese »Sprache räumlicher Relationen [erweist sich] als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit« Ebd., S. 313. 58 Bei Hölderlin heißt es: »Die leidenden Menschen/ Blindlings von einer/ Stunde zur andren,/ Wie Wasser von Klippe/ Zu Klippe geworfen/ Jahr lang ins Ungewisse hinab.« Friedrich Hölderlin: Hyperions Schicksalslied, in: Friedrich Höl-
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fen von Klippe zu Klippe, selber wie Wasser geworfen« (SB), wodurch die Motive der mythologischen Prädestination und des existenzialistischen ›Geworfenseins‹ zusammengeführt werden. In diesem Kurzschluss wird das Urelement Wasser in seiner Ambivalenz als Urgrund des Seins und als Abgrund des Todes zum polysemen Sinnbild der Asylsuchenden. Als »Menschenfluten« (SB) werden die fremden Ankömmlinge auf die wilde und gefährliche Natur reduziert, die – wie die Meeresfluten – von der Kultur zu bändigen ist. In solch einer Reduktion auf die bloße Natur wird die Existenz der Flüchtlinge zum ›nackten Leben‹ herabgesetzt, wodurch sie folglich den Status eines homo sacer erlangen, dessen ausgeschlossenes Leben außerhalb des Rechts angesiedelt ist. Die Verortung jenseits des Rechts generiert nicht nur eine symbolische, sondern auch eine räumliche Grenze, was Jelinek kontaminatorisch zum Ausdruck bringt: »Wo das Recht aufhört, hört der Grund auf […], das ist die Rechtsgrundstücksgrenze« (SB). So konvergiert die Grundlosigkeit der Asylsuchenden quasi mit der Grundlosigkeit des Meeres, das als rechtsfreier Raum, als ein Ausnahmeraum des Rechts, ein Grenz- und Ausgrenzungsort erscheint.59 In der Rekonstruktion der Ausgrenzungsorte für die Rechtlosen rekurriert Giorgio Agamben auf die semantische Dualität des Terminus »sacer« und betont seine Konnotation mit dem Begriff »vogelfrei«.60 Bezeichnenderweise bedient sich auch Jelinek einer ornithologischen Umschreibung für die Asylbewerber im Kontext ihrer spektakulären Proteste um die und in der Wiener Votivkirche: [J]etzt ruf ich betend die Taube dort auf dem Dach an, anflehn wir sie, anflehen wir, vielerrettendes Sonnenauge im Dreieck, Sonnenauge, das im Dreieck springt, dich, ja, dich meinen wir! […] Wir haben an heilige Stätte uns gesetzt, wie ein Taubenschwarm, doch die hier kennen nur diese eine Taube, die dort droben auf dem Dach,
derlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, Frankfurt/Main 1992, S. 207. 59 Vgl. Julia Schulze Wessel: Vom Lager zur Grenze. Giorgio Agamben über Ausnahmeräume und Flüchtlinge, in: Miriam Aced u.a. (Hg.): Migration, Asyl und (Post-)Migrantische Lebenswelten in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven migrationspolitischer Praktiken, Berlin 2014, S. 11-28. 60 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002, S. 15.
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die wir sicher nicht kriegen werden, die ist zu hoch, vor keinem Falken muß die bang sein, die Taube, und wir? (SB)61
Abgesehen von dem raffiniert subversiven Spiel mit der christlichen Taubensymbolik (Heiliger Geist, Arche Noah62, Friedenszeichen etc.), das vor dem Hintergrund der Wiener Kampagne »Wer Tauben füttert, füttert Ratten!«63 an Drastik gewinnt, wird in dieser Passage wiederholt eine hierarchisierende Vertikale konstruiert. Im gewissen Sinne wird die Kirche zum Pendant des Berges bzw. des Gebirges, die samt der Klippe bzw. dem Fels eine ominöse Topologie ergeben. Ähnlich wie die Taube wird der Fels seiner biblischen Dimension beraubt und zu einer Hinrichtungsstätte pervertiert, von der »die Blutenden« (SB) niedergestürzt werden. Für die Ankömmlinge gibt es keinen Ersatz für den Fels, ein »gemeinsame[s] Fundament der Werte« (SB) bleibt ihnen verwehrt. Das Festland verspricht ihnen keinen Heiland und das »Kirchen-Schiff« (SB) kann sie in dem »stygischen Sumpf[…]« (SB), zu dem stellvertretend für Europa Österreich mutiert, nur scheinbar bewahren. Vor diesem Hintergrund bleiben die Flüchtlinge »in Schwebe«, die sich letztlich als »Leere« (SB) erweist, die mit dem Wasser
61 Mit dem »Taubenschwarm« wird wörtlich Aischylosʼ Tragödie zitiert, in der Danaos seine Töchter so tituliert, während Pelasgos in Bezug auf die Danaiden vom »Barbarenschwarm« spricht. Zu der komplexen Bedeutung und den vielschichtigen Figurationen des ›Schwarms‹ in Jelineks Text vgl. Silke Felber, Teresa Kovacs: Schwarm und Schwelle: Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen«, in: Transit 1 (2015), Vol. 10, unter: http://tran sit.berkeley.edu/2015/felber_kovacs/ (Stand: 01.04.2016). 62 Diese Konnotation verleiht den Flüchtlingen eine besondere Dimension. Wenn sie zu Beginn des Textes verkünden: »Wir haben hier so ein Gezweig für den Frieden […] vom Olivenbaum«, schlüpfen sie nicht nur in die Rolle der Hikediten, deren Attribut ein mit Wolle umflochtener Ölzweig war, sondern repräsentieren zugleich die Sintflut-Taube, womit sie sich letztlich als friedensstiftende Gerechte ausweisen. 63 Es handelt sich um die in der Stadt Wien zumeist in den Grünanlagen aufgestellten Verbotsschilder mit dieser Aufschrift und einem entsprechenden, etwas makaber anmutenden Piktogramm bzw. Bild.
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gleichgesetzt wird.64 Dadurch wird dem Fluid das Prinzip des ständigen Wandels, der Gegensätze dialektisch zu vereinheitlichen vermag, abgesprochen, stattdessen mutiert es zum Signum der Nichtigkeit. Damit stellt Jelinek die abendländische Philosophie auf den Kopf und revidiert vordergründig die Philosophie Heideggers: »Wir stehen in der Lichtung des Seins, sagt der Denker, nein, sage ich: des Wassers, das Lichtung selbst ist […]. Wir sind auf der unendlichen Lichtung des Unseins die Beschickten, die in den Zeit-Spiel-Raum Eingeräumten, ein winziger Raum im Unendlichen.« (SB).65 Die Heidegger’sche »Unbehausheit« bzw. seine Vorstellung von der Einräumung in den »Zeit-Spiel-Raum« wird hier konkretisiert und materialisiert als ein Fehlen des Domizils, »wo wir ein Zimmer beschickt hätten, wo wir eingeräumt wären und aufgeräumt hätten.« (SB) Die existenzphilosophischen Höhenflüge werden gnadenlos gegen das elementare menschliche Bedürfnis nach einer Behausung als dem Mikrolebensraum ausgespielt, was die Nennung eines »Haus[es] am See« (SB) im Kontext der skandalösen Blitz-Einbürgerung von Jelzins Tochter in Österreich als Kontrapunkt zum Heideggerschen »Haus des Seins« potenziert. Der Rekurs auf Heideggers Gedankengut,66 das Die Schutzbefohlenen philosophisch grundiert, verbindet Jelineks Text wiederholt mit den Ausführungen von Agamben. In Homo sacer forciert der italienische Denker in
64 »Verstehen werden Sie nicht, und unser Reden wird ins Leere fallen, in Schwerelosigkeit, unser schweres Schicksal wird plötzlich schwerelos sein, weil es ins Nichts fallen wird, in den luftleeren Raum, ins Garnichts, wo es dann schweben wird, in Schwebe bleiben wird, im Wasser, in der Leere, ja.« (SB). 65 Damit wird Heideggers Vorlesung vom Wintersemester 1955/56 travestiert: »Wir sind als die in der Lichtung des Seins Stehenden die Beschickten, die in den Zeit-Spiel-Raum Eingeräumten«. Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, in: Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt/Main 1997, S. 128. 66 Es sei zu erinnern, dass Rückgriffe auf den umstrittenen Philosophen zum festen Repertoire Jelineks gehören. Einerseits setzt sich die Autorin kritisch mit seiner Verwicklung in die nationalsozialistische Ideologie auseinander, andererseits eignet sie sich seinen existentialistischen Grundton an. Über Jelineks Auseinandersetzung mit Heideggers NS-Vergangenheit vgl. z.B.: Sabine Treude: Sprache verkehrt gekehrt. Das Gespenstische und die Philosophie in den Texten Elfriede Jelineks, in: Pia Janke, Peter Clar (Hg.): Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater«: mediale Überschreitungen, Wien 2007, S. 17-22.
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Anlehnung an Foucault und Hannah Arendt die These, dass das »Lager« zum »biopolitische[n] Paradigma der Moderne« avanciert,67 was mit der totalen Politisierung von biologischen Fakten zusammenhängt. Diese Einsicht begründet Agamben mit der Philosophie Heideggers, der den Menschen auf sein faktisches Dasein in der Welt zurückwerfe und die Möglichkeit einer Objektivation des »In-der-Welt-Seins« als Unterscheidung zwischen »Selbst« und »Welt« destruiere. Solch eine bloße Faktizität des Daseins reduziert nach Agamben den Menschen biologistisch auf einen bloßen Lebensvollzug, auf das »nackte Leben«, d.h. vor dem Hintergrund von Heideggers Philosophie erscheint der Mensch als die Summe seiner faktischen Lebensvollzüge, als bloß faktisches Leben ohne ein »Selbst«, das sich gegenüber der Welt behaupten kann, und aus diesem Grunde lässt er sich restlos politisieren. Mit dem Rückgriff auf Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erinnert Agamben daran, dass die Philosophin die Destruktion des »In-der-Welt-Seins« als Weltverlust bzw. Verlust des Vertrauens in die Welt interpretiert. Das Skandalon der Moderne sei für Arendt die Zunahme der Rechtlosen, »die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen.«68 Die Weltlosigkeit der Marginalisierten bedeutet letztlich die Auslöschung der Individualität, die im Schrecken des Konzentrationslagers kulminiert, das diejenigen, die sich außerhalb des Rechts befinden, auf ein Exemplar der menschlichen Tierart reduziert: »Menschen sind, gerade weil sie so mächtig sind, vollkommen nur dann zu beherrschen, wenn sie Exemplare der tierischen Spezies Mensch geworden sind.«69 Solch eine Reduktion auf das Animalische zieht sich wie ein roter Faden durch Die Schutzfbefohlenen hindurch. Der Chor der Flüchtlinge beklagt sich immer wieder, dass er als »fluchempörte Brut, Brut, Brut! Wie Tiere! Ausländerbrut!« (SB) und »Parasiten« (SB) diffamiert und »zur Einvernahme [wie Tiere] geführt« wird (SB). Jelinek veranschaulicht konsequent, wie die Verortung der asylsuchenden Flüchtlinge jenseits des Rechts zu ihrer symbolischen wie realen Auslöschung führt. Dabei offenbart ihr Theatertext eine signifikante Tiefenstruktur, die durch das Einlagern von Spuren traumatischer Geschichtser-
67 Agamben: Homo sacer, S. 128. 68 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2005, S. 938. 69 Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 937.
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eignisse unter der Textschwelle, ihr »Abdrängen in den Subtext«70 generiert wird. Die Schutzfbefohlenen samt der Zusatztexte implizieren permanent eine Koinzidenz zwischen den Flüchtlingen und den KZ-Häftlingen, die sich durch die an der Textoberfläche punktuell – wie Wasserleichen – auftauchenden Phrasen erschließt: »Macht nichts, wenn man steht, gehen mehr Leute in den Waggon hinein«, »Fundament aus Menschen […], zu dem wir hier zusammengepresst worden sind« oder »wie soll man uns bloß da rausholen durch die Bullaugen, […] ein Menschenkuchen, ein grober Menschenklotz« (SB). Damit setzt die Autorin in ihren ›Flüchtlingstexten‹ ihr Projekt vom »postraumatische[n] Theater des Nationalen«71 als »Theater des Nachlebens«72 fort, das sich in den »gespenstischen Manifestationen einer unbewältigten Vergangenheit«73 manifestiert. In dieser Hinsicht fungiert das sprechende Flüchtlingskollektiv zugleich als ein Gespensterchor, dem angesichts der Gräuel, die er vermittelt, es buchstäblich die Stimme verschlägt, so dass er nun zersplitterte Sinneinheiten herausartikuliert. In der Folge bringt das Gespenstische des Textes ein unheimliches Moment hervor: Das Vertraute als das Wissen um den Genozid, das im Prozess der (postmodernen) Verharmlosung entfremdet bzw. verdrängt worden ist, wird durch die literarische Sprache als Wiedergänger heraufbeschworen. Dabei wird der reale Schrecken durch seine Ästhetisierung quasi-potenziert und führt so zu einer kognitiven Dissonanz, die letztlich »das Unheimliche als
70 Axel Dunker: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz, München 2003, S. 12. Dunker vertritt hiermit die These, dass die Verdrängung des Holocaust aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein durch die Literatur als »Anwesenheit des Abwesenden« nachgeholt wird, d.h. als das, »was nur implizit […] ausgedrückt wird und dennoch eine zusammenhängende Bedeutungsschicht innerhalb eines Textes konstituiert.« Ebd. 71 Vgl. Katharina Pewny: Das Drama des Prekären. Über Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld 2011, S. 153-165. 72 Vgl. Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, Paderborn 2008. 73 Juliane Vogel: Intertextualität, in: Janke (Hg.): Jelinek-Handbuch, S. 47-55, hier S. 53.
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Gedächtnis des Heimeligen«74 aktiviert. Die »anwesende Abwesenheit«75 oder das »Anwesende ohne Anwesenheit«76 im Sinne Derrida’scher Hauntologie, die der Theatertext repräsentiert, fordert notgedrungen zu »lernen, mit den Gespenstern zu leben«.77 Es handelt sich dabei primär nicht um unbewusste Präsenz mit einer möglichen kathartischen Wirkung, sondern um erkannte Repräsentation, die die Integration der geschichtlichen Traumata78 in die heimelige Gegenwart sowie die Verifizierung des individuellen wie kollektiven politischen Bewusstseins anvisiert. Die ›hauntologisch‹ vergegenwärtigte Vergangenheit in Jelineks Text überlagert die Gegenwart und generiert auf diese Weise unheimliche Effekte, die das Fortwirken des Faschismus nicht nur unterschwellig spüren lassen, sondern es auf kognitiver Ebene dezidiert politisch bewusst machen. Mit einer besonderen Raffinesse wird solch ein unheimlicher Effekt in Coda, dem zweiten Zusatztext zu Die Schutzbefohlenen, erzeugt. Im Mittelpunkt steht hier eine Bootsfahrt durch das Mittelmeer, die exemplarisch für unzählige aktuelle Horrorszenarien der Flucht steht. Als Vorlage für diese literarische Rekonstruktion dient ein Dokumentarfilm des französischen Fernsehreporters Franck Genauzeau, der eine Gruppe von Flüchtlingen während der Überfahrt von der türkischen Küste auf die griechische Insel Lesbos begleitete. Seine Aufnahmen zeigen zusammengepferchte Menschen auf einem wackeligen Boot, dessen Motor defekt ist und hochgiftige Masut-Rauchschwaden absondert, die die Bootsinsassen – darunter viele
74 Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas (= Forum modernes Theater, Bd. 20), Tübingen 1996, S. 71. 75 Vgl. Dunker: Die anwesende Abwesenheit. 76 Jacques Derrida: Marxʼ Gespenster: der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main 2004, S. 20. 77 Derrida: Marxʼ Gespenster, S. 10. 78 Für eine solche Integration als Condicio-sine-qua-non der produktiven Bewältigung der Geschichte vor dem Hintergrund des psychoanalytisch begriffenen Unheimlichen plädiert Slavoj Žizek: Liebe dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 106: »Die Schatten ihrer Opfer [d.h. des Holocaust und des Gulag] werden so lange fortfahren, uns als ›lebende Tote‹ zu verfolgen, bis wir ihnen ein anständiges Begräbnis bereiten, indem wir diese Traumata in unsere Geschichte integrieren.«
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Kinder – einatmen müssen. Diese lebensgefährliche Irrfahrt »ins Aschgraue hinein, in dichte Schwärze hinein« (C) wird mit der Metaphorik und der atemlosen Parataxe einer Todesfuge wiedergegeben, was der Texttitel – der einen musikalischen Anhang bezeichnet – bereits suggeriert. Einige Sprachsplitter als Nachhall von Celans Shoah-Gedicht79 verstreut Jelinek in ihre Coda-Text-Strömung, die in verblüffenden Assoziationen ausschweift: wir fahren bei Tag, keine Nacht, keine Schwärze, die befindet sich tagsüber unter dem Wasser, in der Nacht sowieso, und wenn Sie da unbedingt hineinwollen, dann sehen Sie sie, die Schwärze, das Undurchdringliche, das außen irgendwie blau aussieht, ist das überhaupt blau, oder ist das AdBlue?, das können Sie googeln, wenn Sie keinen modernen Diesel mitsamt seinen Erstickoxiden fahren, müssen aber nicht. Dort drüben ersticken wiederum Menschen, weil sie nichts mehr zu atmen bekommen haben, ich kann es nicht genau sehen, ich sitze auf einem Stuhl und schaue auf das Foto von einem Geflügeltransporter, und auf Youtube gibts eine Menge mehr, mehrere Mengen, die würde sogar dieses Boot noch tragen, mich nicht, ich kann nicht schwimmen. (C)
Das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer wird hier assoziativ zum einen mit dem VW-Abgasskandal, zum anderen mit dem tragischen Tod durch Erstickung von Flüchtlingen im Kühltransporter an der österreichischen Autobahn gekoppelt.80 Damit projiziert Jelinek den Holocaust auf die Gegenwart bzw. ruft seine ›anwesende Abwesenheit‹ durch diese ›unheimliche‹ Kopplung ins Bewusstsein. Dies, was auf den ersten Blick als inkohärent erscheint, leuchtet bei näherem Betrachten als eine deutliche Korrespondenz ein. Wurden bei der VW-Affäre Abgasnormen umgangen und somit die menschliche Gesundheit gefährdet, werden angesichts der Flüchtlinge menschliche ›Normen‹ ignoriert, die das Leben der Betroffenen aufs Spiel setzen. Die in den Katalysatoren verwendete Flüssigkeit AdBlue, die
79 Z.B.: »es ist ein Luftboot, aber nicht in den Wolken« »zwischen Wolkenschwärze reibt sich das arme Boot«, »die dichte Schwärze, die wir später noch für anderes verwenden können, also das Wort dicht und das Wort schwarz« (C). 80 Dieser zu Beginn des Kapitels genannte Vorfall zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Flüchtlingszyklus hindurch. Vgl. z.B.: »Kühlwagen« (SB), »Tiefkühlwagen« (SB), »Kühllaster« (AX), »Geflügeltransporter« (C), »Viehtransporter« (E), »Platz im Transporter« (E) usw.
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aus Harnstoff-Granulat hergestellt wird, fungiert hier als ein QuasiPhantom vom Zyklon B, dem Blausäure-Granulat, das zum Signum der Technik und Systematik des Holocaust wurde. Durch dieses unheimliche tertium comparationis wird die Omnipräsenz des Prinzips ›Auschwitz‹ vergegenwärtigt bzw. ein ›neuer Holocaust‹ heraufbeschworen. Bei der Verbindung von Umweltverschmutzung und Massenvernichtung, die Jelinek bereits in früheren Texten vorwiegend in der Polemik mit Heidegger aufgegriffen hat,81 handelt es sich um finanzielle Gewinne, was gleichermaßen die menschenver- und entwertende NS-Maschinerie, die Schlepper wie die modernen Konzerne betrifft. Auf die Ausbeutung unter der allgegenwärtigen Prämisse ›Selektion‹ im Sinne von Heiner Müller weist Jelinek in Appendix provokativ im Zusammenhang mit der durch die Medien zelebrierten Bereitschaft des Daimler-Konzerns, Flüchtlinge in seinen Werken einzustellen: Es sind so viele, die müssen akzeptieren, daß sie es sich nicht aussuchen können, wo sie Schutz suchen wollen, unsere Hilfsbereitschaft darf nämlich nicht überstrapaziert werden, nein, nein, das ist wahr, weil es hier steht, sonst wüßte ich es nicht. Es soll etwas wieder eingeführt werden, was wir schon einmal ausgeführt haben, die Grenzkontrollen, damit nicht alles eingeführt wird, was wir nicht brauchen können, was auch Mercedes nicht brauchen kann, der Stern, der die Menschen gerecht in brauchbare und unbrauchbare einteilt. (A)
Diese vermeintlich ›humane‹ Geste wird im Text als »nationale Angeberei« (AX) bloßgestellt, hinter der in Wirklichkeit Geldinteressen stecken, und letztlich als Fortsetzung der nationalsozialistischen Exploitation denunziert (»Gestern noch ist Mercedes in den Lagern der Deutschländer gewesen und hat Brauchbares und Unbrauchbares an Menschen sortiert, das geht schnell bei denen, sonst wären sie nicht so erfolgreich […].« AX)
81 Jelinek setzte sich mehrmals mit Heideggers skandalöser Gleichsetzung von Motorisierung der Industrie und »Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern« (Martin Heidegger: Das Ge-Stell, in: Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 79, Frankfurt/Main 1994, S. 24-45, hier S. 27.) auseinander. Vgl. dazu auch Franziska Schößler: Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004, S. 40.
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Bei den Explorationen des Schreckens gerät ununterbrochen der Vorgang des Schreibens, der mit der Partizipation an medialen Welten einhergeht, in den Fokus (»ich sitze auf einem Stuhl und schaue auf das Foto« AX). Der Schreibprozess entpuppt sich somit als Verarbeitung von Medienberichten und -bildern. Die virtuelle Realität als ›Medienbrei‹, die die realen Tragödien abflacht, wird mittels sprachlicher Gewalt in eine neue, komprimierte Form (»Was Sie nicht fassen können, das fassen dann wir« C) umgewandelt, die das Un-Sichtbare unter der Oberfläche auslotet: ich bin einer neuen Form entsprungen, ich biete Ihnen hier Neues, sehen Sie das denn nicht, seien Sie froh, nur hier kriegen Sie das Neueste, sonst müßten Sie es sich aus Zeitungen oder dem Fernsehen oder dem Gesichtsbuch [sic!] holen, dem einzigen Ort, wo Sie mich nicht finden werden, mein Gesicht würde das nicht aushalten, so, das Radio sagt es Ihnen aber auch, ich sage immer das, was alle sagen, was die anderen sagen, ich warte, bis sich etwas Neues mir darbietet, und dann werfe ich es in denselben leeren Abgrund, in den auch Sie alles werfen, was Sie nicht brauchen können. Und ich flüchte mich schon wieder in meine neueste Anschauung, soll ich nicht besser die andre nehmen, die von gestern? (AX)
Die Berichte- und Bilderflut überfordert die Autorin-Instanz und verursacht eine Dissoziation der Wahrnehmung, die zur Diffusion der Anschauung führt: »es ist einfach furchtbar, was ich mir alles anschauen muß, jeden Tag, und jeden Tag ändere ich meine Anschauung« (AX). Mit dem Begriff ›Anschauung‹ rekurriert Jelinek abermals auf die Nomenklatur Heideggers und bedient sich diesmal seines Vortrags aus dem Jahre 1938 Die Zeit des Weltbildes, in dem Kritik an der neuzeitlichen Metaphysik geübt wird. Das Wesen der Neuzeit besteht für Heidegger darin, dass sie kein neues Bild von der Welt entwirft, sondern »daß überhaupt die Welt zum Bild wird«.82 Dieses Bildwerden der Welt führt Heidegger auf das Subjektwerden des Menschen innerhalb des Seienden zurück, welches »zum Gegenstand des erklärenden Vorstellens«83 wird und eine forschungsorientierte Wissenschaft fundiert, die »die Wahrheit zur Gewißheit des Vorstellens«84 wan-
82 Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt/Main 1977, S. 69-96, hier S. 90. 83 Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 87. 84 Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 87.
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delt. Der Mensch konstituiert sich als Subjekt, indem er sich alles Seiende zum bloßen Bild macht und es sich als Gegenstand unterordnet: »Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.«85 Das Seiende wird zum Verfügungsbereich des Menschen und Gegenstand seiner Beherrschung, damit verfällt der Mensch laut Heidegger jedoch auf das bloß Seiende, das ihn zwar als Subjekt konstituiert, aber ihn zugleich dem Sein entzieht, wodurch er selbst vergegenständlicht wird. Eine weitere Konsequenz des Zum-Bild-Werdens der Welt und der »Eroberung der Welt als Bild« liegt in der Selbstbehauptung des Menschen im Kampf um seine Stellung als Maßstab des Seienden und [w]eil diese Stellung sich als Weltanschauung sichert, gliedert und ausspricht, wird das neuzeitliche Verhältnis zum Seienden in seiner entscheidenden Entfaltung zur Auseinandersetzung von Weltanschauungen […]. Für diesen Kampf der Weltanschauungen setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel.86
Die ›Weltanschauung‹ im Sinne Heideggers greift Jelinek ironisch auf und bezieht sie – von ihrem philosophischen Gehalt abstrahierend – auf den Vorgang des bloßen Anschauens von Medien-Bildern, mit denen die virtuelle Realität die Betrachtenden bombardiert und Verwirrung wie Verunsicherung stiftet. Bezeichnenderweise wird dabei auf das ikonenhafte Foto des toten Aylan Kurdi87 verwiesen: Diese Menschen sind über die Ufer getreten, sie sind da, sie sind da, sie sind fremd, und sie sind dazwischen, nein, das Dazwischen ist der Bildschirm, dort schaue ich sie mir an, auf dem großen oder dem kleinen Schirm […]. Der Schirm, gestern beim Gewitter hätten wir ihn brauchen können, hat sich dazwischengeschoben, hat nicht gefragt, ich kann nichts dafür. Es ist keine Zeit. Das Kind ist tot. Das andre ist soeben geboren. Es ist keine Zeit, um am kalten Gestade zu verweilen. Das Foto ist gemacht, es wird der Welt gezeigt und aus. Gerade nur einer, ein kleiner Bub. Was ist das schon. (AX)
85 Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 89. 86 Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 94. 87 Zu dem Ikone-Status dieses Fotos vgl. die Einleitung dieses Buches.
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Mit diesem Fotozitat erreicht Jelineks Medienkritik88 in dem Flüchtlingszyklus ihren Höhepunkt. In einer komprimierten und eindrucksvollen Form bringen die Zeilen die Diagnose von Susan Sontag zum Ausdruck, die 1977 in ihrem Essay Über Fotografie überzeugte, dass Leidensfotografien ungeeignet sind, um menschliche Tragödien plausibel zu machen und Handlungsmuster zu aktivieren.89 Ähnlich wie Sontag führt Jelinek vor, dass die Bilder der Schreckens nur begrenzt fähig sind, Emotionen hervorzurufen, zumal die Empathie aufgrund der nicht enden wollenden Bilderflut, die Leiderfahrungen fixieren, nachlässt, was letztlich zur emotionalen Abstumpfung führt. Zugleich spielt die Passage deutlich auf das Ende von Die Zeit des Weltbildes an. Zum Schluss seines Vortrags warnt Heidegger vor der »Verblendung gegen den geschichtlichen Augenblick« und sieht die Rettung für den künftigen Menschen »im schöpferischen Fragen und Gestalten aus der Kraft der Besinnung« als einem »Zwischen, darin er dem Sein zugehört«.90 Dieses »Zwischen« als eine rettende schöpferische Sphäre mutiert bei Jelinek zu einem »Dazwischen« als virtuelle Realität, die den Menschen vom Realen abschirmt und sein politisches Bewusstsein abstumpft. Dabei paraphrasiert sie mit dem Satz »Es ist keine Zeit, um am kalten Gestade zu verweilen« Hölderlins Gedicht An die Deutschen, mit dem Heidegger als Pointe seines Vortrags die Hoffnung auf die Reaktivierung des wesenhaften Bezuges des Menschen zum Sein poetisch ausdrückt: Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit Sich, die sehnende, schwingt, trauernd verweilest du Dann am kalten Gestade Bei den Deinen und kennst sie nie.91
88 Jelinek setzte sich vielerorts mit der medialen Gewalt und der Verführungskraft der Bilder auseinander. Die Medienkritik wird besonders intensiv in den Theatertexten Bambiland (2003) und Babel (2005) geübt, die die mediale Darstellung des Irakkriegs sowie den Folterskandal in Abu Ghraib thematisieren. Vgl. dazu Natalie Bloch: Legitimierte Gewalt. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute, Bielefeld 2011, S. 273-294. 89 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/Main 162004. 90 Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 96. 91 Zit. nach: Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, S. 96. Neben dieser drittletzten Strophe pointiert Heideggers Vortrag noch die vorherige.
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Bekanntlich forderte Hölderlins Gedicht, das um die realhistorische Dialektik von Denken und Tat bei den Deutschen kreist, Anfang des 19. Jahrhunderts die deutsche Nation zur Veränderung der gesellschaftlichen Situation durch praktische Tat und politische Aktion auf. Angesichts der aktuellen Lage reaktiviert Jelinek die Botschaft Hölderlins, mit der sie nunmehr auf die Passivität angesichts des Flüchtlingsdramas verweist. Diese moderne ›Tatenarmut‹92 wird als Abgestumpftheit fokussiert, die aus einem ZumBild-Werden der Welt resultiert, die ein falsches Mitgefühl für die Leidenden erzeugt und somit ein falsches politisches Bewusstsein konserviert.93 Der von Jelinek im Gefolge Heideggers herbeizitierte Appell Hölderlins An die Deutschen artikuliert nicht nur eine politische Mahnung, sondern evoziert zugleich ein Selbst-Bild vom lyrischen Ich als verkanntem Fremdling im eigenen Land. Diese Position korrespondiert mit der Selbst-
92 In der ersten Strophe von Hölderlins Gedicht heißt es: »O ihr Guten! Auch wir sind/ Tatenarm und gedankenvoll!« Friedrich Hölderlin: An die Deutschen, in: Friedrich Hölderlin: Gesammelte Werke, Gütersloh 1954, S. 139-140, hier S. 139. 93 Dieses falsche Mitgefühl bringt Sontag folgendermaßen auf den Punkt: »Die imaginäre Nähe zum Leiden anderer, die uns Bilder verschaffen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen, in Großaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden Leidenden und dem privilegierten Zuschauer, die in sich einfach unwahr ist – nur eine Täuschung mehr, was unsere Beziehungen zur Macht angeht. Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es (unseren guten Absichten zum Trotz) zu einer impertinenten – und völlig unangebrachten – Reaktion werden. Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren Leiden verbunden sind, insofern etwa, als der Wohlstand der einen die Armut der anderen zur Voraussetzung hat – das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können.« Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 52007, S. 119.
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Verortung der Autorin Jelinek im Abseits94, mit ihrer ›anwesenden Abwesenheit‹95, die mit der Skepsis an der Möglichkeit der Weltveränderung durch die Literatur einhergeht. Ein deutlich resignativer Ton begleitet auch den ganzen Zyklus ihrer Flüchtlingstheatertexte und äußert sich vorwiegend in einem inszenierten Unwissen als Zeichen der Überforderung angesichts der politischen Entwicklungen.96 Die Schutzbefohlenen krönt ein pessimistisches Fazit: »Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.« So verlautbart der Chor der Flüchtlinge seine Exklusion als ›abwesende Anwesenheit‹. Beklagt wird damit die Gefährdetheit ihres Lebens, die nicht aus der körperlichen Verletzlichkeit resultiert, sondern von der Prekarisierung herrührt, die sich – wie Butler eruiert – mit der Verweigerung der Anerkennung und Anerkennbarkeit als ausbleibende Wahrnehmung ihres Lebens vollzieht, womit die Voraussetzung »des Schutzes dieses Lebens vor Beschädigung und Gewalt«97 zunichte gemacht wird. Mit dem dekonstruktiven Rekurs auf die vorgefundenen Kulturtexte – mit der Philosophie Heideggers an der Spitze – versprachlicht Elfriede Jelinek im Rahmen ihres dokumentarischen Diskurstheaters ihre politischen Einsichten, um nicht zuletzt die Rezipienten zu ihren eigenen Erkenntnissen durch kritische Reflexion zu bewegen. Die Sprachfluten ihrer Theatertexte
94 So der Titel von Jelineks Nobelpreisrede, die dem Stockholmer Publikum als Videomitschnitt auf großen Leinwänden präsentiert wurde. Vgl. Alexandra Tacke: ›Sie nicht als Sie‹. Die Nobelpreisträgerin spricht »Im Abseits«, in: Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007, S. 191-209. 95 In der Nobelpreisrede heißt es programmatisch »Ich bin fort, indem ich nicht fortgehe.« Elfriede Jelinek: Im Abseits, unter: http://www.nobelprize.org/nobel _prizes/literature/laureates/2004/jelinek-lecture-g.html (Stand: 01.04.2016). 96 Z.B.: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich kann das nicht mehr überschauen, nicht einmal überblicken, ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich muß aber auch nicht. Ich muß es nicht sagen, ich kann es aufsagen und dann fernsehn oder dahinbrowsen gehn, ich muß gar nichts, ich muß hier sitzen, endlos vor meinem Gerät, was, wie gesagt, gar nicht gut für mich und meinen Körper ist. Und für Sie wärs auch nichts.« (AX). 97 Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/Main, New York 2010, S. 11.
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machen hörbar, was im medialen Bilderstrom untergeht. Dabei erweist sich ihr vermeintliches Unwissen als eine existentielle Philosophie der mächtigen Ohnmacht bzw. der ohnmächtigen Macht,98 die im schöpferischen Schreibprozess ein gewaltiges Potenzial des Unheimlichen generiert. Indem ihre Theatertexte »gewaltsame Bedeutungsschichten freilegen«99, erzeugen sie ein Politikum des ethischen Appells, der auf die Veränderung des politischen Bewusstseins insistiert. Solch ein Appell – wie ein Nachhall des im Kontext von 9/11 prophezeiten Wandels – wird direkt in Appendix formuliert: Es wird nie mehr sein wie zuvor, allein daß es von diesen Menschen, von diesen Gegenständen weiß, wird einen Unterschied machen, das Bewußtsein wird, fürchte ich, sein Wissen ändern müssen, anders wird es nicht gehn, und dieses Wissen wird auch den Gegenstand selbst verändern, es wird uns alle verändern, bitte, hören Sie mir noch zu, solange ich die bin, die ich bin, solange ich noch spreche, solang ich diese Gegenstände, diese Menschen als Gegenstände, mein Wissen noch entsprechend finde, nicht entsprechend finde, nein, meinem Wissen entsprechend, und das ist sehr klein – ansprechend finde ich sie schon gar nicht, ich wüßte ja nicht, in welcher Sprache –, solang ich sie also überhaupt noch finde, die Menschen, nicht die Sprache, die hab ich hier, die hab ich immer bei mir, bitte, hier ist sie ja, grüß Gott! (AX)
Diese Textpassage lässt sich als ein Manifest für auktoriales Theater lesen, das die Sprache als politisches Mittel aufwertet. Während Sontag eine politische »Initialzündung [durch] schmerzliche, aufwühlende Bilder«100 erhofft, überträgt Jelinek Medien-Bilder in literarische Sprache, die zum Instrument gegen die abstumpfenden Verbilderung der Welt wird. Indem die
98
Die Ohnmacht als Macht wird sehr anschaulich in Jelinek Essay Theatergraben inszeniert: »Da man ohnmächtig ist, merkt man auch das nicht, aber man weiß auch in der Ohnmacht: man will wieder Macht. Wieder an die Macht kommen, um jeden Preis. Und wären es nur Figuren auf der Bühne, die an unserer statt damit ausgestattet werden, aber nur, weil wir es ihnen erlauben. Das ist unsre Macht.« Elfriede Jelinek: Theatergraben (danke, Corinna!), unter: http://www.a-e-m-gmbh.com/ej/fjossi.htm (Stand: 01.04.2016).
99
Vogel: Intertextualität, S. 51.
100 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 119.
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Gewalt des Textes gegen die Gewalt der Bilder ausgespielt wird, bekommen sie durch entsprechende Kontextualisierungen eine neue Dimension. Diese Strategie begünstigt die Konstitution einer »Neuverteilung der Wahrnehmung und des sinnlich Wahrnehmbaren«101 und die Erzeugung einer ›Politik des Sehens‹ in der Übersetzung des Textes in die bildhafte Sprache einer Theateraufführung, dabei bleibt die Sprache mit ihrer Semantik, die das Zeitgeschehen re-präsentiert und durch dessen Kurzschluss mit der Vergangenheit unheimliche Effekte evoziert, ein konstruktives Träger des Politischen als Vermittlung eines veränderten Wissens bzw. Bewusstseins.
101 Kati Röttger: Bilder-Schlachten im Bambiland. Zur Politik des Sehens im Theater, in: Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierung des Sehens, Bielefeld 2009, S. 61-76, hier S. 66.
7. ›Erinnerte Zukunft‹. Ein Exkurs
7.1 T HEATER (-T EXT ) ALS G ESCHICHTS -
UND
G EDÄCHTNISRAUM
Der für die geschichtsbesessene Autorin Jelinek spezifisch dokumentarische Gedächtnistheatertext als ein neues Modell politischen Bühnenstücks, das permanent Geschichte mit ihren Un-Toten heraufbeschwört, das Hierund-Jetzt mit der Vergangenheit koppelt und so zur Reflexion über historische Parallelen zwingt, bildet eine Ausnahme in der zeitgenössischen deutschsprachigen Theaterlandschaft. Das von Lehmann im postdramatischen Geiste geäußerte Misstrauen gegenüber dem überlieferten dramatischen Kanon und seiner Fähigkeit zur Kommunizierbarkeit von »Verpflichtung und Verantwortung«1 scheint sich auch in den aktuellen Theatertexten niedergeschlagen zu haben. Die Bühnenstücke der letzten Jahre belegen – mit einigen wenigen Ausnahmen2 – ein Desinteresse der jungen Autorinnen und Autoren an historischen Stoffen, was nicht zuletzt institutionelle Gründe zu haben scheint,3 darüber hinaus aber auch mit der ›hochinformierten
1
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt/Main 1999,
2
Dazu gehören einige wenige Texte, die sich mit dem RAF-Terrorismus ausei-
S. 351. nandersetzen. Vgl. Gerrit-Jan Berendse: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus, München 2005. 3
In diesem Sinne fragte der junge Dramatiker Martin Heckmanns, warum »es im zeitgenössischen Drama keine historischen, nicht einmal zeitgeschichtliche Stof-
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Unwissenheit‹ der jungen Generation zusammenhängt.4 Damit geht einher, dass in den literaturwissenschaftlichen Gedächtnisdebatten, die in den 1990er Jahren entbrannten und weiterhin andauern, und sich im Übrigen mit Vorliebe theatraler Begrifflichkeiten bedienen, Theatertexte beinahe gänzlich ausgeklammert werden. Dies erscheint paradox, nicht nur da das Theater seit jeher als ›Gedächtnisraum‹ fungierte,5 sondern auch, weil die für die Bühne geschriebenen Texte offensichtlich ein Doppelstatus zwischen Textliterarität und Texttheatralität kennzeichnet, wobei gerade diese ›Doppelgängerei‹ sie paradigmatischer als sonstige Gattungen für die Gedächtniskunst prädestinieren müsste.6
fe« gibt: »Warum lautet der Auftrag immer nur: Schreib was von heute für heute? Warum legt man junge Autoren so blindlings auf die Rolle von Generationssprechern fest?« In: Gerhard Jörder: Land in Sicht. »60 Jahre Deutschland« – das große Uraufführungsprojekt der Berliner Schaubühne, in: Die Zeit vom 07.02.2008, S. 41. 4
Bezogen auf die aktuellen Ereignisse spricht Peymann von der ›Geschichtslosigkeit‹ der jungen Theaterleute: »Die Schauspieler, die jungen Theaterleute sind so verdammt geschichtslos. Dies ist die bestinformierte Generation, die es je gab, mit ihrem Smartphone haben sie Zugriff auf alles, jeder hat in seinem Handy die British Library, und doch: Sie wissen nichts mehr. Es herrscht eine hochinformierte Blindheit und Unwissenheit.« Peter Kümmel: »Mir fehlen die Worte«. Flüchtlinge, deutsche Barmherzigkeit, Endzeitgefühle – ein Jahresschlussgespräch mit dem Intendanten Claus Peymann, der überrascht ist von seiner eigenen Ratlosigkeit, in: Die Zeit vom 30.12.2015, S. 42.
5
Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass das Medium Theater bereits im 16. Jahrhundert bewusst zur performativen Inszenierung von Wissen eingesetzt wurde. Zum sog. Gedächtnistheater vgl. dieses Stichwort in: Nicolas Pethes, Jens Ruchatz: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek b. Hamburg 2001, S. 208f.
6
In dieser Hinsicht schreibt Schröder vor allem den Geschichtsdramen ein enormes mnemonisches Potential zu: »Versteht man die Literatur als authentischste Gedächtniskammer der Menschen und der Menschheit, so sind die Geschichtsdramen poetische, und das heißt auch humane Destillationen des Geschichtswissens und der Geschichtserfahrung ihrer Zeit.« Jürgen Schröder: Geschichtsdramen: die ›deutsche Misere‹ – von Goethes »Götz« bis Heiner Müllers »Germania«? Eine Vorlesung, Tübingen 1994, S. 7 (Hervorhebung im Original).
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Zentral für die Mnemotechnik ist bekanntlich die Figur der Verdopplung bzw. Wiederholung, die das Urbild in einem Double entstellt und damit das Gedächtnis selbst zum ästhetischen Prinzip macht, was Renate Lachmann folgendermaßen subsumiert: »Die Doppelungsfigur ist Grundfigur der Gedächtnisarbeit. [...] Während es im Ritual keines Gedenkens bedarf, da das Ritual Handlung der Partizipation am Abwesenden ist, ist die Gedächtnishandlung als reine Bildhandlung, Vertretungshandlung, Verdopplung«7 zu betrachten. Die Prämisse, dass die »Figur der Verdopplung [...] die Figur des Gedächtnisses ist«8, liegt auch der semiotisch-psychoanalytischen Studie Theater als Gedächtnis von Gerald Siegmund zugrunde, in der das TheaterGedächtnis als »ästhetische Produktion im Sinne der schöpferischen Einbildungskraft«9 verhandelt wird. Mit einem Kurzschluss von Semiotik und Psychoanalyse, Gedächtnis und Einbildungskraft schreibt Siegmund der Bühne einen besonderen mnemonischen Status zu: Im Lichte der Orte und der Bilder, der Metaphern vom Raum, der Zeit und der Zeichen-Schrift erscheint das Theater als geradezu privilegierte Kunstform, um Gedächtnis und Erinnerung auf vielfältige Art zu thematisieren. Sind doch all jene Metaphern und mnemotechnischen Hilfsmittel konstitutive Elemente des Theaters selbst, das sich wie keine andere Kunst durch leibhaftige Bilder in einem Zeit-Raum erstreckt.10
Auch im Rahmen des postdramatischen Paradigmas wird das Theater als bedeutungsvoller Gedächtnisraum gefeiert. Hans-Thies Lehmann, der sich offensichtlich auf Siegmunds Ausführungen stützt, sinniert in dieser Hinsicht wie folgt:
7
Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/Main 1990, S. 25.
8
Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas (= Forum modernes Theater, Bd. 20), Tübingen 1996, S. 99. Vgl. auch Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 98.
9
Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 83.
10 Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 75f.
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Bedeutsam als Gedächtnisraum wird Theater dort, wo es den Zuschauer unversehens überrascht, den Reizschutz durchbricht, der auch ein Schutz vor der Begegnung mit dieser anderen Zeit ist, einer ›Un-Zeit‹, die nicht ohne den Schrecken des Unbekannten zu denken ist. […] Erfahrung findet […] in dieser ›anderen‹ Zeit statt, wenn Elemente der individuellen Geschichte mit solchen der kollektiven zusammentreffen und eine Jetzt-Zeit des Erinnerns entsteht, die zugleich unwillkürlich aufblitzendes Gedächtnis und, untrennbar davon, Antizipation ist.11
Während Siegmund das Gedächtnis als ›ästhetische Kategorie‹ gleichermaßen auf das traditionelle Theater und Drama wie auf postdramatische Theaterformen bezieht, betont Lehmann die Wirksamkeit des Gedächtnisses in einem Theater, das »gegen eingespielte und gut geölte soziale Verständigungsformen«12 Widerstand leistet und »die Geschichten der Schuld in bezähmter dramatischer Form«13 meidet. Damit wird das mnemonische Potential des Dramatischen in Frage gestellt bzw. der Verknüpfung von Drama und Geschichte eine »museale Funktion«14 unterstellt. Hingegen wendet sich Siegmund bewusst den Theatertexten zu und liest »das Drama als Erinnerungstext […], das eine Bühne der Erinnerung vorstellig macht.«15 Bei einer scharfen Trennung zwischen dem SchriftText und seiner In-Szene-Setzung avanciert der Theatertext in seinen Ausführungen »zum Gedächtnis der Szene«. Dabei werden die »Kategorien von Körper, Blick und psychischem Raum«, die das Theater-Gedächtnis konstituieren, »als Spuren innerhalb des sprachlichen Textes« fokussiert, »die ihr Anderes als Szene, die Szene als ihren anderen Schauplatz, zu artikulieren trachten.«16
11 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 348f (Hervorhebungen im Original). 12 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 351. Es handelt sich um »die neuen Theaterformen, die auf die Reaktivierung der Beteiligung der Zuschauer zielen, auf para-rituelle Formen, auf aggressive Ästhetiken der Verweigerung, auf die Öffnung des Theatervorgangs in Richtung Fest, auf Theater als Situation oder auf regionale, ethnische, politische Selbstverständigung [und], in verschiedenen Formen die Anwesenheit des Zuschauers ins Licht [heben]..« Ebd. 13 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 351. 14 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 347. 15 Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. S. 134. 16 Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 135.
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Der Theatertext als ›Gedächtnistext‹ sucht nach Siegmund »das nicht Erinnerbare zu erinnern«17 und »erinnert das, was er nicht darstellen kann«18. Dies verhilft zum Präsentmachen des Unsagbaren und Undarstellbaren, um schließlich das Ausgegrenzte ins Bewusstsein zu heben. Solch ein Gedächtnis wird zu einer schöpferischen Einbildungskraft, die in einem double bind von Unterbewusstem und Bewusstem, von Sinn und Sinnlichkeit eine ›erinnerte Zukunft‹19 generiert. Auf diese Weise könnte sich auch eine veränderte Relation zur Geschichte herauskristallisieren, die ein anderes Denken begründen würde, ein Denken nach Santayanas Leitsatz »Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«20
7.2 MARIUS VON MAYENBURGS DER STEIN Vor dem Hintergrund der Absenz von Theatertexten, die Geschichte in Szene setzen, sticht das 2008 im Rahmen der Salzburger Festspiele uraufgeführte Bühnenstück Marius von Mayenburgs Der Stein21 besonders hervor. Franz Wille, Hauskritiker von Theater heute, begrüßte das Stück als »ein deutsches Geschichtsdrama des 20. Jahrhunderts«22 und wies darauf hin, dass seit Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee niemand in
17 Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 11. 18 Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 97. 19 Durchaus im Sinne der Beiträge des Bandes von Wilfried F. Schoeller, Hartmut Böhme (Hg.): Erinnerte Zukunft. Was nehmen wir mit ins nächste Jahrtausend?, Reinbek b. Hamburg 2000. 20 Vgl. George Santayana: The Life of Reason, Bd. 1: Reason in Common Sense, New York 1905. Den Satz zitiert Christa Wolf (Kindheitsmuster, Berlin, Weimar 1976, S. 354), für die erinnerte Zukunft zum zentralen Begriff ihres Schreibens avanciert. Vgl. Wolfram Mauser (Hg.): Erinnerte Zukunft: 11 Studien zum Werk Christa Wolfs, Würzburg 1985. 21 Marius von Mayenburg: Der Stein, in: Theater heute 10 (2008) [StückabdruckBeilage]. Im Folgenden unter der Sigle S zitiert. 22 Franz Wille: Das Bedürfnis nach Lügen. Ein Gespräch mit Marius von Mayenburg über deutsche Geschichte, wie man sie sich erzählt und sein Stück »Der Stein«, in: Theater heute 10 (2008), S. 38-40, hier S. 39.
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Deutschland versucht habe, die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts so umfassend dramatisch zu thematisieren. Trotz ungünstiger Kritiken, die die Regie der Uraufführung tadelten,23 plädierte Jürgen Berger für eine Einladung der Aufführung zu den Mühlheimer Theatertagen 2009, und zwar aus dem Grunde, »weil Mayenburg [...] en passant darauf verweist, wie bar jeglicher historischer Einbettung das aktuelle Stückeschreiben in der Regel funktioniert.«24 Das als Auftragswerk im Rahmen des um die Frage nach kollektiver Erinnerung und identitätsstiftenden Ereignissen der deutschen Geschichte kreisenden Projekts »60 Jahre Deutschland – Annäherungen an eine unbehagliche Identität«25 geschriebene Bühnenstück Der Stein nimmt eine besondere Stellung in Mayenburgs Œuvre ein, nicht nur deswegen, weil der Autor bislang große geschichtliche Themen mied und mit sozialkritischen
23 Mayenburgs Text wurde in der Regie von Ingo Berk, der die Prämiere an der Berliner Schaubühne vorbereitete, sehr kritisch aufgenommen. Stadelmaier stellte in der FAZ fest, dass »unser Klischeenervengeflechtsbewusstsein [...] den zeithistorischen Braten [riecht], bevor er noch in die Röhre geschoben wird«, und zog das Fazit: »Man sieht nichts, was nicht jede Fernsehdokumentation oder jedes Schulfunkfeature besser gekonnt hätte.« Gerhard Stadelmaier: Lügen haben lange Weile. Wer zwischen 1943 und 1993 im Deutschen Geschichtshaus sitzt, sollte nicht mit Marius von Mayenburgs »Stein« werfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02/03.08.2008, S. 33. Hingegen attestierte Christine Dössel der Aufführung zwar eine »mustergültige, pädagogisch wertvolle Art«, derer sich der Regisseur jedoch »ausgiebig bis zur Schmerzgrenze bedient«, wodurch er letztlich »deutsches Betroffenheitstheater« schafft. Christine Dössel: Das Geisterhaus. Sechzig Jahre deutsche Familiengeschichte: Marius von Mayenburgs »Der Stein« beim Young Directors Projekt uraufgeführt, in: Süddeutsche Zeitung vom 02/03.08.2008, S. 16. 24 Jürgen Berger: Stein des Anstoßes. Marius von Mayenburgs »Der Stein« an der Berliner Schaubühne, inszeniert von Ingo Berk, in: Theater heute 5 (2009), S. 22. 25 Die Berliner Schaubühne nahm mit finanzieller Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes den sechzigsten Jahrestag der doppelten Staatsgründung 1949 zum Anlass, gemeinsam mit jungen Dramatikern ein zweijähriges Programm zur deutschen Nachkriegsgeschichte zu entwickeln, in dessen Rahmen unter anderem eine Vielzahl von verschiedenen Stückaufträgen erfolgte.
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Themen zum Erfolgsdramatiker wurde. In einem Interview legte Mayenburg folgendes Statement zu seiner Arbeit an dem Geschichtstext ab: Für mich war es ein Stoff, den ich schon lange schreiben wollte, weil er viel mit mir und meiner Familie zu tun hat. Es fließen viele Geschichten ein, die ich von meiner Großmutter kenne und von meinen Eltern, von befreundeten Familien. [...] Ich hatte nicht viel Zeit, das Stück zu schreiben, und denke im Nachhinein, dass das sehr gut war. Dadurch musste ich mich auf das Material beschränken, das ich sowieso im Gepäck hatte. Ich weiß nicht, ob man so Geschichte schreibt, aber für mich war es eine Annäherung, die nichts Akademisches hatte. Ich musste keine historische Distanz überbrücken und mich mit etwas Fremden auseinandersetzen, sondern konnte über etwas schreiben, das meine Identität heute ausmacht.26
Mayenburg unterstreicht hier die Rolle des kommunikativen Gedächtnisses sowohl für seine literarische Praxis als auch für seine eigene Identität und exponiert hiermit den Nexus von Geschichte, Erinnerung, Literatur und Identität und weist damit seinen Text als eine Art identitätsstiftenden Gedächtnisraum aus. Die Handlung von Der Stein umfasst 48 Jahre deutscher Geschichte. Der Text ist in 35 kurze Szenen gegliedert, die nicht chronologisch mit fünf Jahresangaben, welche relevante Phasen der deutschen Geschichte markieren, überschrieben sind: 1935, 1945, 1953, 1978 und schließlich 1993. Derart bruchstückhaft wird das Schicksal zweier deutscher Familien und einer jüdischen Familie erzählt. Die Figurenkonstellation besteht bezeichnenderweise aus fünf Frauen und lediglich einem nur peripher agierenden Mann: Wolfgang und Witha Heising, ihre Tochter Heidrun und Enkelin Hannah, Mieze Schwarzmann und Stefanie, deren Familienname ungenannt bleibt. Der Plot der Handlung – der um den Angriff auf die jüdische Familie und deren Fluchtversuch kreist – lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1935 beschließt Familie Schwarzmann im Zuge der ersten Judenverfolgungen Deutschland zu verlassen und verhandelt mit Familie Heising über den Hausverkauf. Während des Einmarsches der sowjetischen Armee 1945 nimmt sich Wolfgang Heising, der nicht nur das Haus, sondern auch die leitende Stelle im veterinärmedizinischen Institut von Schwarzmann übernommen hat, das Leben und hinterlässt einen Brief, in dem er sich als
26 Wille: Bedürfnis, S. 39.
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überzeugter Nazi entpuppt. 1953 verlassen Witha und Heidrun die DDR. Das Haus beziehen drei Familien, unter anderem Stefanie mit ihrem Großvater. 1978 besucht Witha mit ihrer schwangeren Tochter das ehemalige Eigentum, sie sind entsetzt über den Zustand des Hauses. 1993 ziehen Witha, Heidrun und ihre Tochter Hannah ins neue Bundesland um und in ihr altes Haus ein, das nun wieder ihnen gehört. Witha bekennt Hannah erst jetzt, dass die Schwarzmanns nie in Amerika angekommen sind. In Szene gesetzt wird die Handlung punktuell und nicht linear, quasi-analytisch; die Vorgeschichte kommt hier zwar zur unmittelbaren theatralen Darstellung, wird aber wegen ständiger Zeitsprünge allmählich, bruchstückhaft und inkohärent ver- und ermittelt. Mayenburgs Text stützt sich auf eine Topographie des Erinnerns. Als Erinnerungsort ist, obwohl der Name kein einziges Mal im Text fällt, leicht Dresden identifizierbar. Erwähnt werden authentische Plätze wie der Große Garten und die Südallee, die urbane Umgebung mit Ruppendorf und dem Elbsandsteingebirge sowie nicht zuletzt die Bombardierung der Stadt im Februar 1945. Für dieses Inferno steht suggestiv Heisings Familienporzellan, dessen »Glasur in der Hitze der Brandbomben geschmolzen ist und den Schutt eingeschlossen hat« (S 8). Dass Meyenburg als Gedächtnisort ausgerechnet Dresden wählt, ist kein Zufall. Die Toten und Ruinen, die das Bombardement im Elbflorenz hinterließ, wurden immer wieder instrumentalisiert: »von den Nazis gegen den Feind, von der DDR gegen die Nazis, von Helmut Kohl für die Wiedervereinigung und nicht zuletzt von den Dresdnern für ihr Selbstverständnis.«27 Der titelspendende Stein, der vor der biblischen Folie die Schuld bzw. Unschuld versinnbildlicht,28 wird zur Materialisierung des Gedächtnisses und seiner Umfälschung. Es ist ein Straßenpflasterstein, mit dem ein Fenster des ›jüdischen Hauses‹ von den Nazis eingeschlagen wird, während Familie Heising es bereits bewohnt. Als fremdes corpus delicti dient er zur Externalisierung der eigenen Schuld, wird zum Alibigegenstand und somit
27 Eva Behrendt: Fukuyamas Handtasche. Geht deutsche Geschichte nur noch als Revue?, in: Theater heute 4 (2009), S. 12-15, hier S. 15. Zu dem Bombenangriff-Mythos vgl. auch: Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/Main 2002, S. 195. 28 Vgl. Joh 8,7.
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zur Familienreliquie, zum kostbaren Träger eines Familiengedächtnisses. Aus diesem Grunde will ihn Heidrun bei der Ausreise nach Westdeutschland unbedingt mitnehmen: Ich weiß, aber du hast selbst gesagt, weil sie Vater damit beworfen haben, das ist ein besonderer Stein, du hast gesagt, der Stein ist ein Denkmal für Vater, weil er den Juden ihre Flucht bezahlt hat, ein kleines Denkmal, daß man Mut haben muß, und daß Vater Mut hatte, und daß wir das nie vergessen dürfen. (S 6)
Der Stein besitzt sein Pendant in kleinen Kiessteinchen, die sich in das Familienporzellan »eingebrannt« (S 8) haben. Wie Erinnerungen in das Gedächtnis brennt sich die Geschichte in die Gegenstände ein, die die Vergangenheit und in dieser Funktion zugleich den Besitz bezeugen. Als Stefanie 1993 die Ruhe der drei alten-neuen Besitzerinnen des Hauses, aus dem sie samt ihrem Opa ausziehen musste, mit dem Satz »Ich will mein Leben zurück« (S 7) und dem Hinweis auf den Tod ihres Großvaters, der über den Verlust seines Domizils verzweifelte, stört, missbraucht Heidrun das kulturelle Gedächtnis der Dresdner und instrumentalisiert das Porzellan als materialisiertes Eigentumsrecht: »Sie essen Ihren Kuchen vom zerstörten Haus meiner Großeltern. Verstehen Sie jetzt? Mit bloßen Fingern. Verstehen Sie jetzt, daß wir hier hingehören?« (S 8) Als Pendant der individuellen Erinnerungen der Figuren erscheint das überindividuelle Gedächtnis der Stadtarchitektur mit dem Haus, das buchstäblich wie ein mnemonisches Palimpsest mit symbolträchtigen Farben in den Fokus gerät: HEIDRUN:
Der Mörtel. Wenn Sie die Farbe runterwaschen von der Fassade, oder wenn Sie nur mit der Hand ein paarmal fest drüberstreichen, wenn alles naß ist vom Regen, dann haben Sie rote Farbpartikel an der Hand. Rot. Meinen Sie, das Haus war mal rot gestrichen?
STEFANIE:
Das Haus war immer weiß.
HEIDRUN:
Genau. Und trotzdem dieses Rot. Ich lüg Sie nicht an. Natürlich war das Haus immer weiß. Aber in den dreißiger Jahren sind Männer gekommen, mit Farbe und Pinseln, und sind mit Rot über die Fassade gegangen. Wußten Sie das?
STEFANIE:
Was für Männer?
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HEIDRUN:
Mein Vater hat eine jüdische Familie finanziert, die Flucht finanziert, hat ihr das Geld für die Emigration gegeben. Und dafür hat man ihm die Fassade mit Beschimpfungen zugeschmiert. Erst ist er immer wieder drüber, mit Weiß, zuletzt hat er das Geschmier mit Stolz getragen, wie einen Orden. (S 10)
Auch der »Gehweg« (S 8), die gepflasterte Straße29 vor dem Haus, aus der der titelspendende Stein gerissen wurde, markiert eine Spur des Gedächtnisses, so wie sie Karl Spamer im 19. Jahrhundert beschrieb: »Man kann [...] von einem Gedächtnis aller organischen Materie, ja der Materie überhaupt, sprechen, in dem Sinne, daß gewisse Einwirkungen mehr oder weniger dauernde Spuren an ihr hinterlassen. Der Stein selbst behält die Spur des Hammers, der ihn getroffen hat.«30 Die ›Einwirkungen‹ auf den Stein bei Mayenburg sind als ständige Umfunktionalisierung des bedeutungsschweren Requisits lesbar: Vom Naturstein wurde er einmal zum Pflasterstein, d.h. zum Artefakt für das Gemeinwohl, und in dieser Hinsicht versinnbildlicht er zunächst den Zivilisationsprozess. Bereits mit seinem Entreißen aus dem Straßenpflaster durch die Nazis wird hingegen symbolisch die gesellschaftliche Ordnung verletzt. Sein Einsatz als Wurfstein, d.h. seine Instrumentalisierung als Waffe deutet schon auf die Barbarei hin, die letztlich – und dafür steht das Umfunktionalisieren des Steins zuerst als »Briefbeschwerer« (S 8) und schließlich als »ein kleines Denkmal« (S 6), als familiäre Reliquie – verdrängt bzw. verharmlost wird.
29 Das mnemotische Potenzial einer mit Kopfsteinen gepflasterten Straße hebt Sebald in Austerlitz hervor. Der Ich-Erzähler berichtet über seinen Aufenthalt in Prag: Als ich »die unebenen Pflastersteine [...] unter meinen Füßen spürte, war es mir, als sei ich auf diesen Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir, nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lang betäubt gewesenen und jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung.« Winfried G. Sebald: Austerlitz, München 2001, S. 216. 30 Karl Spamer: Physiologie der Seele, Stuttgart 1877, S. 86. Zit. nach: Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 16-46, hier S. 26.
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Darüber hinaus fungiert die ›stumme‹ Stein-Materie als Sinnbild der verstummten Opfer der Geschichte, und zugleich wird sie zum moralischen Warnzeichen im biblischen Sinne der lapides clamabunt.31 Vor der Folie der neutestamentarischen Lukas-Erzählung über die Ereignisse bei dem Einzug Jesu in Jerusalem und seiner Ankündigung der Zerstörung der Stadt wird die Verwüstung Jerusalems, bei der kein »Stein auf dem anderen«32 gelassen werden sollte, mit der Bombardierung Dresdens kurzgeschlossen.33 Dank der tragödienartigen Einheit des Ortes avanciert das Dresdner Haus zum Brennpunkt des Dramas und einer Art Gedächtnismagazin. Seine Phantasie-Räume werden zu mnemonischen Räumen, wie Renate Lachmann sie beschrieben hat: Zum einen entwerfen [die literarischen] Texte selbst einen Gedächtnisraum und treten in einen sich zwischen den Texten erstreckenden Gedächtnisraum ein, zum anderen konstruieren sie Gedächtnisarchitekturen, in die sie mnemonische Bilder deponieren, die an Verfahren der ars memoriae orientiert sind.34
Mayenburgs Gedächtnisarchitektur ist ähnlich wie ihre Urversion in der Legende von Simonides durch eine Tafelordnung bestimmt: Die dramatis personea versammeln sich immer wieder um den Tisch, an dem nicht nur Kaffee und Kuchen serviert werden, sondern auch der titelspendende Stein wie ein Sakrileg zelebriert wird, mitunter dient er den Figuren als Schutz vor dem abfallenden Mörtel während der realen sowie imaginierten Bombardierung. Nach der Katastrophe der Stadt Dresden, die pars pro toto für die gesamteuropäische Katastrophe steht, entwirft Mayenburg das Haus mit seinen Räumen und Gegenständen als Gedächtnisarchitektur. In Analogie zum Gedächtnistheater bei Simonides, das aus zerschmetterten Leichen besteht, beschwört Mayenburg die Opferleichen in den Trümmern und an den Vernichtungsplätzen des Nationalsozialismus. Mayenburg gibt den Opfern
31 D.h. der ›schreienden Steine‹; vgl. Lk 19,40. 32 Vgl. Lk 21,6. 33 In diesem Sinne prophezeit auch Wolfgang 1945: »Wenn ich in den Keller gehe, stürzt hier das ganze Haus ein. [...] Irgendwann steigst du aus deinem Keller, aus den Trümmern, und alles ist weggebombt, unser ganzes Leben« (S 8). 34 Lachmann: Gedächtnis, S. 35.
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ihre Namen jedoch indirekt zurück. Durch die Vermischung der Zeitebenen, durch die Zeitlücken, die Unklarheiten und das Verschweigen entsteht ein Enthüllungsgeschehen, wobei die Wahrheit der Geschichte letztlich durch das Publikum aufgedeckt werden muss. Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer wird gezwungen, die dargestellten Theaterbilder mit ihrem/seinem Familienalbum zu konfrontieren. Ein brechtscher Gestus liegt hier auf der Hand. Darüber hinaus illustriert Mayenburgs Text fast lehrbuchhaft die fünf Strategien der Verdrängung, die Aleida Assmann der deutschen Erinnerungsgeschichte attestierte: »Aufrechnen, Externalisieren, Ausblenden, Schweigen und Umfälschen«.35 Mit »Aufrechnung« wird – so Assmann – »die eine Schuld durch die andere aufgewogen und damit gleichsam mathematisch annulliert«.36 So inszeniert sich Witha vor der Tochter als Opfer des kollektiven nationalsozialistischen Wahns: »Trotzdem mußte ich in die Partei. Schwarze Haare, und wie mein Gesicht geschnitten ist – in der Straßenbahn haben sie mich angespuckt und wollten mich aus dem Wagen schmeißen« (S 6). Am deutlichsten kommt jedoch die Strategie der »Umfälschung zum Passenden« zum Vorschein, die darin besteht, dass – so Assmann – »aus kompromittierten Familienmitgliedern moralische Lichtgestalten werden.«37 In diesem Sinne redet Witha ihrer zweifelnden Tochter ein: »Dein Vater war kein Held, aber im Widerstand ist er immer gewesen.« (S 6) Diese Umfälschung entlarvt eine Sequenz, in der Witha heimlich den Abschiedsbrief ihres Mannes vorliest, dessen Zerreißen genauso wie das Vergraben des NSDAP-Parteiabzeichens im Garten als Strategie der Ausblendung im Sinne Assmanns lesbar ist. Das Ausblenden der Teilhabe an der Extermination der Juden wird aber vor allem als Ablenkung inszeniert. Nach dem Auszug der Schwarzmanns empfindet Wolfgang Heising für einen Moment Unbehagen, welches von seiner Frau durch Naturtümelei nivelliert wird:
35 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 169. 36 Assmann: Der lange Schatten, S. 170. 37 Assmann: Der lange Schatten, S. 180.
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WOLFGANG:
Als ob man ins Leben von jemand anderem einzieht.
WITHA:
Ist es nicht besser so? Hier hätten sie ja doch nicht bleiben können. Schau wie der Rhododendron blüht.
WOLFGANG:
Der merkt nichts.
WITHA:
Was soll er auch merken?
WOLFGANG:
Nichts. Ist nur so ein Moment. (S 6)
Der von Wolfgang Heising hinterlassene Brief beinhaltet eine Botschaft an seine Tochter Heidrun: »Sag unsrer kleinen Tochter, wenn sie einmal alt genug ist, daß ich als aufrechter Deutscher gestorben bin.« (S 9) Der Wunsch des Vaters wird in einen Mythos verpackt und in dieser Form nicht nur der Tochter, sondern auch der Enkelin eingeimpft: Der Vater bzw. Opa wurde – so Witha – »[v]on einem Russen, der gar nicht hingeschaut hat, [...] mit einem Freudenschuß erschossen [...], grad wo der Krieg aus war« (S 10). Am Beispiel der 14-jährigen Hannah wird das Problem der Diskrepanz zwischen dem »Lexikon«, d.h. dem objektiven Wissen und dem »Album«,38 d.h. dem subjektiven Familiengedächtnis dargestellt. Trotz des Wissens um die Shoah und trotz ihres Pubertätswiderstands wird die Enkelin durch das kommunikative Familiengedächtnis beeinflusst und verklärt ihren Opa letztlich in einem Schulreferat: In meiner Familie spricht man eigentlich nicht darüber, aber mein Großvater hat eine jüdische Familie gerettet. Schwarzmann. Das war der Chef von meinem Großvater im veterinärmedizinischen Institut, bis er in der Nazizeit seinen Posten aufgeben mußte. Mein Großvater hat weiter zu ihm gehalten, und hat ihm 1935 die Flucht ins Ausland finanziert. Die Schwarzmanns sind über Amsterdam in die USA emigriert. [...] Mein Großvater ist für mich ein Vorbild, weil er zu seinen Freunden gehalten hat und dafür von den Nazis verfolgt wurde. (S 3)
38 Zum »Lexikon« als Wissensspeicher und »Album« als Familiengedächtnis vgl.: Volkhard Knigge, Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern: die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002.
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Ein Vorgang der »kumulativen Heroisierung«39, den die AutorInnen des Bandes Opa war kein Nazi akademisch diskutierten, wird bei Mayenburg zur Bühnenrealität. Mit der Tradierung der Lüge über den zufälligen Tod des Familienoberhaupts kommt es zugleich zur Externalisierung im Sinne Assmanns. Laut Witha hätten Russen nämlich »die Stadt befreit«, »Deutschland befreit [...] von den Nazis.« (S 9) Zudem geschieht das Externalisieren der Schuld leitmotivisch mit dem mehrfach wiederholten Satz: »Sie haben ihn mit Steinen beworfen«. Die Abspaltung der Schuld findet aber nicht nur ex post statt, sondern wird direkt vor dem Opfer inszeniert. Als Mieze zu Witha sagt: »Sie gehören ja zu denen«, reagiert diese mit einer Sequenz an der Grenze zum Verstummen: »Wir gehören nicht – wir sind keine – wir sind nicht –« (S 4). Dieses Nicht-Aussprechen erweist sich letztlich als Schweigen dem Opfer gegenüber. Ein unerträgliches Schweigen als »Verschweigen und damit auch Ausdruck fortgesetzter Macht«40 beherrscht das Haus auch, während die Männer über ihren Preis verhandeln: »Dieses Schweigen. Wie eine Ohrfeige« (S 8) – kommentiert Mieze die Stimmung. Die »Ohrfeige« fungiert hier nicht nur als eine Metapher der Demütigung, sondern evoziert den Körper als Gedächtnisspeicher in Nietzsches Sinne.41 Das Schweigen erreicht seinen Höhepunkt 1935 in der Endsequenz des Stücks, in der Mieze Witha das Du anbietet: MIEZE:
[…] Sie kaufen es gerade, ich heiße Mieze, wollen Sie mir Ihren Namen nicht sagen?
WITHA:
Wir sollten das nicht ohne unsere Männer, finde ich –
MIEZE:
[...] Unsere Männer erfahren das nie, morgen bin ich weg, wir stoßen mit einer Tasse Kaffee an, Witha, darf ich? Es wird keine peinliche Begegnung mehr geben. Sie sehen mich nicht wie-
39 Welzer, Moller, Tschuggnall: Opa, S. 205. 40 Assmann: Schatten, S. 176. 41 Zur Mnemotechnik des schmerzenden Körpers vgl. die vielerorts zitierte Passage in: Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral, in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin, New York ²1988, S. 245-412, hier 295. Zur Verbindung von Körper, Schmerz und Gedächtnis vgl. Siegmund: Theater als Gedächtnis, S. 98-116.
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der, es ist nur für heute abend, und daß ich weiß, daß du mich nicht vergißt, daß du deine Freundin Mieze nicht vergißt. (S 11)
Dem Angebot wird Schweigen entgegengehalten, das das gesamte Spektakel abschließt bzw. es im Sinne des offenen Dramas zum Publikum hin öffnet. Das Schweigen wird letztlich zum Signum einer Textgewalt, die sowohl auf der unterbewussten Ebene als schmerzliche ›Zäsur des Verstehens‹ erfahrbar wird als auch durch ihre Vehemenz bei der Unterbrechung der ohnehin fragmentarischen Handlung einen kognitiven Prozess erzwingt.42 Signifikant ist, dass der Tenor in Der Stein den Frauenfiguren gehört. Die patriarchalen Herrschaftsstrukturen sind in dem Stück zwar durchaus spürbar, jedoch erscheinen die Männerfiguren, auch wenn sie wie Wolfgang Heising direkt in Szene gesetzt werden, weitgehend als das Abwesende.43 Diese ›Verweiblichung‹ der Figurenkonstellation korrespondiert einerseits mit der historischen Tatsache der durch die geschichtlichen Wirren verursachten männlichen Absenz, andererseits schließt sie gewissermaßen an die seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland geführte Diskussion über die Täterrolle der Frauen in der NS-Zeit an.44 Vor allem aber entwirft Mayenburg eine Art »HerStory«45, worin Gedächtnis, Gender und Genozid kurzgeschlossen werden.46
42 Zur Verbindung von Schweigen und Gewalt vgl. Reika Hane: Gewalt des Schweigens: Verletzendes Nichtsprechen bei Thomas Bernhard, Kôbô Abe, Ingeborg Bachmann und Kenzaburô Ôe, Berlin, Boston 2014. 43 Zu den Abwesenden gehört allerdings – außer den Toten – auch Heidruns Mann und Hannahs Vater, der »nicht tot [...] ist [...]. Dieses Haus hier. Er sagt, Mama ist mit dem Haus verheiratet, und er will nicht« (S 4). 44 Vgl. z.B. Frigga Haug (Hg.): Frauen, Opfer oder Täter?: Diskussion, Berlin 1981 (= Argument-Studienhefte, Bd. 46). 45 Vgl. Ina Schabert: Gender als Kategorie einer neuen Literaturwissenschaft. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 162-205, hier S. 181. 46 Zur Notwendigkeit der Einführung der Kategorie Gender in die Gedächtnisdebatte über die Shoah vgl.: Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/Main, New York 2002.
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Mayenburgs Text entbehrt jeglichen Archivcharakters im Sinne eines peniblen, auf reinen Tatsachen basierenden Dokumentartheaters, vielmehr malt er die Geschichte des Genozids fragmentarisch und unscharf, in einem quasi-pointillistischen47 Stil aus. Der Autor bedient sich des historischen (Shoah-)Archivs eigenwillig und punktuell und fiktionalisiert in dieser Form seine Bestände. Vor der Folie der historischen Wahrheit erscheint die dargestellte Welt mit ihrer Figurenkonstellation und Handlung zwar durchaus paradigmatisch, faktografisch gesehen handelt es sich in dieser Hinsicht jedoch um ›pure Fiktion‹48 oder präziser um »Fiktion von Faktendarstellungen«.49 Die Bruchstückhaftigkeit bzw. das Fragmentarische des Textes sowie seine Simultaneität und Offenheit illustrieren musterhaft die Theorie der kommunikativen Tradierung von Vergangenheit, die in der Studie zum Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis umrissen wurde.50
47 Dieser Malstil wird von Breit metaphorisch für die Vorstellung von der Shoah verwendet: »Je weiter wir uns zeitlich von der Tat entfernen, umso mehr besteht die Gefahr, alles nur als Geschichte im Sinne von Fiktion zu betrachten. Die Tatsache aber, dass wir Namen und ein Winziges über jeden Menschen, der den Namen trug, wissen, könnte uns helfen, inmitten der Millionen von Punkten, die das pointillistische Bild des Massenmordes ergeben, ab und zu einen Menschen zu erkennen und ihn vor einer Sicht der Geschichte als purer Fiktion zu bewahren.« Peter. K. Breit: Geleitwort, in: Buch der Erinnerung. Juden in Dresden deportiert, ermordet, verschollen 1933-1945, hg. von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden e.V., Dresden 2006, S. 5-6, hier S. 6. 48 Die äußerst akribische Studie von Georg Möllers (Jüdische Tierärzte im Deutschen Reich in der Zeit von 1918 bis 1945, Diss. Hannover 2002) nennt unter den jüdischstämmigen Tierärzten weder den Namen Schwarzmann noch einen veterinärmedizinischen Professor aus Dresden. Zudem wurde die Tierärztliche Hochschule Dresden bereits 1923 als Veterinärmedizinische Fakultät der Universität Leipzig angegliedert. 49 Im Sinne von Edward E. Young, der in seiner Studie das Problem der Überlagerung von eigenen und fremden Erinnerungen an die Shoah sowie den hierauf erfolgenden Einfluss kultureller Erzählmuster analysiert. Vgl. Edward E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/Main 1997. 50 Vgl. Welzer, Moller, Tschuggnall: Opa, S. 195-210.
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Darüber hinaus meidet der Autor – wie dies oft bei älteren Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur der Fall war – einen schlicht pädagogischen Gestus des Totengedenkens als Betroffenheitstheater, er schafft hingegen – wohl in Überzeugung der Unmöglichkeit einer theatral angemessenen Darstellung der Shoah – ein ethisches ›Getroffenheitsdrama‹.51 So legt Mayenburg auch symbolisch ein Gedächtnissteinchen auf das Massengrab der nationalsozialistischen Opfer und fügt zugleich einen ›Stolperstein‹52 für die zukünftigen Generationen hinzu. Dabei beabsichtigt der Autor nicht nur des Schicksals der Dresdner Juden im Dritten Reich zu gedenken, sondern synekdochisch – wobei in erster Linie die Schwarzmanns für alle ›schwarzen (Opfer-)Schafe‹ bzw. Sündenböcke des Nationalsozialismus stehen – an die durch Hitler-Deutschland verursachte Leidenskette zu erinnern. Das Leiden betrifft allerdings nicht nur die jüdischen Opfer. Durch den Nationalsozialismus und seine Folgen ist nämlich auch die namenlos bleibende Familie von Stefanie betroffen, die nach der Wende – genauso wie die Schwarzmanns 1935 – das Haus verlassen muss, was ihren Opa ums Leben bringt. So thematisiert Der Stein die gewaltvolle Geschichtsspirale von Angriff und Flucht, ohne den Fokus einseitig zu verengen. Da der Text – trotz seiner Fiktionalität – in der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts verankert ist, kann er durchaus als Restitution des ›ausgestorbenen‹ Geschichtsdramas rezipiert werden.53 Auf
51 Zur Poetik der Getroffenheitsliteratur vgl. Bettina Bannasch: Die hohe Kunst des Verdrängens. Literarische Inszenierungen der Grenzen der Erinnerung, in: Bettina Bannasch, Almuth Hammer (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt/Main, New York 2004, S. 319-343. 52 Wie im Projekt des Künstlers Gunter Demning, der Stolpersteine als Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus verlegt. 53 Breuer führt die Diagnose vom Tod des Geschichtsdramas auf die »Veränderungen bei den dramatischen Formen, bei den ›Kollektiven‹ der Produzenten und Rezipienten und in der Geschichtsphilosophie« zurück. Den Begriff des Geschichtsdramas umformulierend plädiert er dafür, dass »ausreichend vorhandene verbale und nicht verbale, interne und paratextuelle Signale für Historizität über die Rezeption eines Werks als Geschichtsdrama entscheiden« können. Ingo Breuer: Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 462.
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jeden Fall deckt er das spürbare Manko des Gegenwartstheaters an historischen Themen ab und problematisiert das »Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, in dem wir selber zu ihnen stehen und um dessentwillen wir sie befragen«.54 Die besondere Leistung des Autors besteht darin, dass er die Tendenz des gegenwärtigen Geschichtsdeutungstheaters zu »Nummernprogramm und Revueformat«55 nicht teilt und einer starken Tendenz zur Mythologisierung der Deutschen als Opfer entkommt,56 die besonders in dem zeitgenössischen deutschen Film allzu deutlich spürbar ist57 und bisweilen an Geschichtsklitterung grenzt.58 Obwohl Mayenburg über die ästhetischen Methoden des postdramatischen Theaters souverän verfügt, widersetzt er sich mit Der Stein der Skepsis gegenüber den dramatischen Überlieferungen von Geschichte als einer zukunftsgewandten Verkündigung. Die scheinbare ›Banalität‹ seiner Story wird dabei durch die fragmentarische Struktur sowie den analytischen Gestus des Stücks überwunden und letztlich wird – statt eines platten Lehrstücks – eine Theatralität generiert, die den Text zu einem Gedächtnisraum ausdehnt, der das Hier-und-Jetzt mit der Vergangenheit koppelt und zugleich auf die Zukunft öffnet. Bei diesem Prozess handelt es sich in erster Linie nicht um ein Präsentmachen von Vergangenem, um keine Vermittlung von Geschichtswissen oder Schärfung histori-
54 Schröder: Geschichtsdramen, S. 7. 55 Behrendt: Handtasche, S. 12. 56 Über diese Tendenz reflektiert Mayenburg in historischer Perspektive wie folgt: »Die Generationen gehen mit Vergangenheit unterschiedlich um. Zuerst ein Prozess von Verdrängung, um weitermachen zu können; dann ab den Achtundsechzigern der Widerstand dagegen bis hin zum Terrorismus, und jetzt – und das finde ich völlig daneben – dieses merkwürdige Bedürfnis, sich in seiner deutschen Identität als Opfer zu sehen.« Wille: Bedürfnis, S. 40. 57 Vgl. Bert Rebhandl: Das Glück der Deutschen. In: Theater heute 4 (2009), S. 16-22. 58 Als ein Paradebeispiel für den skandalösen Umgang mit der Geschichte im deutschen Film der letzten Jahre gilt der Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter. Vgl. dazu ausführlich: Artur Pełka: »Warschau besser nicht« – Deutschpolnische Konfrontationen und Transformationen, in: Carsten Gansel, Monika Wolting (Hg.): Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989, Göttingen 2015, S. 305-316.
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schen Bewusstseins, sondern um ein durch die Textgewalt verursachtes Mit-Erleben von Exklusionsmechanismen, das ein ›kreatives Gedächtnis‹ als ›erinnerte Zukunft‹ aktiviert. In dieser Hinsicht zeichnet sich Der Stein als Spektakel der Gewalt durch eine positive »schöpferische Energie« aus, die Freddie Rokem den Aufführungen von Geschichte schlechthin attestiert, einer Energie, »die zu einem dialektischen Gegenmittel gegen die zerstörerischen Energien der Geschichte und ihre schmerzlichen Momente des Scheiterns wird«.59 Darin liegt auch die Brisanz des Theatertextes angesichts der ›zerstörerischen Energien‹, die im Kontext von 9/11, dem aktuellen Flüchtlingsdrama sowie den anschwellenden neonationalistischen Tendenzen immer deutlicher emergieren.
59 Freddi Rokem: Geschichte Aufführen: Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater, Berlin 2012, S. 251f.
8. Anstelle eines Fazits
»[D]as Geschichtsstück [ist] noch nicht für alle Zeit am Ende. So wenig wie die Geschichte. Denn selbst ein Ende bedeutet auch immer einen neuen Anfang.« PETER VON BECKER DER KAISER IST NACKT
In dem eingangs zitierten Essay Der Kaiser ist nackt, das sehr sensibel über die Kondition des politischen Theaters in Deutschland vor dem Hintergrund von 9/11 und seiner Folgen reflektiert, plädiert Peter von Becker dafür, »Menschen und Mächte im Theater wieder ernster zu nehmen als die selbstbezügliche Ausstellung nackter, schnell durchschauter, längst entleerter Formen«.1 Seinen Wunsch nach der Rückkehr engagierter Inhaltlichkeit auf die Theaterbühnen begleitet der Glaube an die unerschöpfliche Potenz von Theatertexten, »politische Funken [zu] schlagen«.2 Beckers Hoffnung auf das »neue enthüllende, Politik und Gesellschaft bewegende Zeitgeschichtsdrama«3 scheint zur Zeit – erzwungen vom aktuellen Geschehen, das eine geschichtliche Brisanz kennzeichnet – in Erfüllung zu gehen. Als ›Stück der Stunde‹ wird Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen an beträchtlich vielen, nicht nur deutschsprachigen Bühnen insze-
1
Peter von Becker: Der Kaiser ist nackt. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschich-
2
Becker: Der Kaiser ist nackt, S. 7.
3
Becker: Der Kaiser ist nackt, S. 5.
te 42 (2008), S. 3-7, hier S. 7.
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niert. Das real stattfindende Flüchtlingsdrama wie die es begleitende Xenophobiewelle thematisieren auch andere unzählige Theaterprojekte, die mit unterschiedlichsten Mitteln4 die derzeitige Situation in Europa im Sinne einer politischen Intervention zu bewältigen versuchen. Darunter fällt auch Ferdinand von Schirachs provokanter und umstrittener5 Theatertext Terror6, der – die Häufigkeit der Inszenierungen betrachtend – zum Erfolgsstück der Theatersaison 2015/16 avanciert. Mit seinem Theaterbeitrag greift von Schirach die Tradition des Justizdramas im Geiste des Dokumentartheaters der 1960er Jahre auf. Die Handlung des Stücks verläuft als Gerichtsverhandlung gegen einen Major der Luftwaffe. Lars Koch steht als Angeklagter vor dem Gericht, da er eine Lufthansamaschine mit 164 Menschen an Bord abgeschossen hat, die ein mutmaßlich islamistischer Terrorist entführte. Auf diese Weise hat er gegen den Befehl seiner Vorgesetzten einen Anschlag auf die vollbesetzte Münchner Allianz Arena verhindert. Das Stück wurde so konzipiert, dass das Publikum über das – in zwei alternativen Versionen vorliegende – Urteil des wegen 164-facher Tötung angeklagten Piloten, der möglicherweise Tausenden von Menschen das Leben gerettet hat, durch eine Art Abstimmung entscheiden soll. Mit diesem raffinierten Griff werden die ZuschauerInnen als Quasi-Schöffengericht nicht nur in das Bühnengeschehen involviert, sondern auch politisch aktiviert. Dabei stellt sich bei jeder Aufführung heraus, dass das Publikum mit seinen Entschlüssen sehr gespalten ist. Diese durch das Theaterstück evozierte Meinungsverschiedenheit, die sich offensichtlich aus konträren politischen Anschauungen ergibt, macht deutlich, dass es im Gegenwartstheater nicht nur in ästhetischer, sondern auch in politischer Hinsicht divergierende »Pu-
4
Das Spektrum reicht von Prosaadaptionen – wie im Falle von Anna Seghers Roman Transit – bis zu performanceartigen Inszenierungen wie das spektakuläre Stück Fear von Falk Richter.
5
Die Kontroversen spiegeln Theaterkritiken wider, vgl. Dirk Pilz: Im Namen des Volkes sowie die Kritikenrundschau, unter: http://www.nachtkritik.de/index. php?option=com_content&view=article&id=11582:terror-das-deutsche-theaterberlin-oeffnet-mit-ferdinand-von-schirachs-mega-nachspielschlager-in-der-ringu rauffuehrungs-regie-von-hasko-weber-die-schuldig-tuer&catid=38:die-nachtkrit ik-k&Itemid=40 (Stand: 01.04.2016).
6
Ferdinand von Schirach: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede, München 2015.
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blikümer«7 gibt. Zwangsläufig betrifft diese Zersplitterung auch künstlerische Strategien der Theaterleute und lässt sich nicht zuletzt auf wissenschaftliche Positionen beziehen. Zweifellos sind in den letzten zwei Dekaden höchst relevante und erfrischende Erkenntnisimpulse seitens der Theaterwissenschaft sowie verwandter Disziplinen hinsichtlich der Theaterontologie ausgegangen. Die breit gefächerten Erkundungen des Performativen verdeutlichen unter anderem, dass sich die Theatralität des Theaters – als das für die Spezifik des Mediums konstitutive Moment – weder durch Theatertexte noch durch die von ihnen getragenen Inhalte auffassen lässt. Mit der theoretischen ›Retheatralisierung‹ des Theaters durch die Hinwendung zu seiner Performativität wird auch sein Politikum als das ›Politische im Theater‹ redefiniert, was sich in unterschiedlichen Explorationen einer so begriffenen Politizität, die als Wirkung von ›Ästhetiken des Performativen‹, als ›Unterbrechung des Politischen‹ oder ›Politik des Sehens‹ bestimmt wird, manifestiert. Gewiss erweitern diese Befunde das Verständnis des Politischen und können so die Effektivität seiner praktischen Implikationen steigern, nichtsdestotrotz führt diese Schwerpunktverlagerung zu einer auffallenden Marginalisierung der Theatertexte und damit zur Devaluierung der Politik der Inhalte. Gerade angesichts der Komplexität der gesellschaftlichen Realität sowie der damit einhergehenden Spaltungen der politischen Positionen von Individuen erscheint solch eine Einseitigkeit nicht nur als fraglich, sondern erweckt den Verdacht einer durch den wissenschaftlichen Elitarismus generierten ästhetischen Exklusivität. In diesem Sinne zeichnet sich ein deutlicher Riss zwischen Theorie und Praxis ab. Nach wie vor nämlich stützt sich das Gros der Theateraufführungen auf Dramen bzw. Theatertexte, die zudem trotz enormer ästhetischer Heterogenität in der Regel ein hoher Repräsentationsanspruch und ein politischer Ehrgeiz charakterisiert, was die in dieser Studie analysierten Texte exemplarisch illustrieren dürften. Obwohl sie eine breite Palette von Darstellungsmodi – vom poetischen Mythentheater über das Recherchetheater bzw. Diskurstheater und andere Formen des neuen Dokumentarismus bis zum modernen Geschichtsdrama – repräsentieren, reagieren sie alle trotz formaler Divergenzen bewusst und dezidiert auf das Zeitgeschehen im Sinne eines engagierten Repräsentationstheaters. Ihr Poli-
7
So Becker über die Zersplitterung des Publikums in der »postindustriellen Gesellschaft«. Vgl. Becker: Der Kaiser ist nackt, S. 5.
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tikum gründet sich auf ästhetische Strategien, die aber ohne entsprechende Inhalte, die an das kognitive Vermögen des potentiellen Publikums appellieren, an ihrem Engagement einbüßen würden. Mit anderen Worten: Die von den Texten getragenen Inhalte erscheinen als komplementäre Elemente ihrer Formen und in dieser Verbindung gestalten sie erst ihre eminente politische Struktur mit. Ebenso symptomatisch für die untersuchten Texte ist, dass sie als ästhetische Interventionen die Geschichte aufleben lassen, auch wenn nur fragmentarisch bzw. als Hinweis auf ihren Verlust. Damit erhält die Kritik an aktuellen Verhältnissen eine historische Grundierung, die ihren politischen Gestus als Heraufbeschwörung einer ›erinnerten Zukunft‹ – als einer zukunftsweisenden Perspektive, die ihre Historizität miteinschließt – ausweist. Auffallend ist überdies, dass die Texte, auch wenn sie das Dramatische weitgehend dekonstruieren, keine Reduktion der Sprache auf schlichtes ›Klangmaterial‹ betreiben, sondern die Zeichenhaftigkeit des Textes im theatralen Zeichensystem aufwerten. Dabei fungiert die Sprache nicht als Vermittlerin politischer Inhalte expressis verbis, sondern durch ihre spezifische Gestaltung bzw. Gewalt leitet sie Verstehensprozesse ein, die gegebenenfalls einen Erkenntnisschock zu generieren vermögen. Alle in dieser Studie besprochenen Texte speisen sich aus spezifischen Erfahrungen ihrer Autorinnen und Autoren in Konfrontation mit dem Zeitgeschehen, und in diesem Sinne repräsentieren sie ihre politischen Positionen. Die Mitberücksichtigung solch eines ›autobiographischen Moments‹ kann nicht nur zum konstruktiven Element der Textanalyse, sondern auch der szenischen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text werden. Wenn auf diese Weise die in Verruf geratene Rolle des Autorsubjekts restituiert wird, so können auch die den Theatertexten zugrunde liegenden Impulse und Anschauungen zum relevanten Beitrag in den Debatten, die an der Effektivität des Politikums von Theater wesentlich mitwirken, werden. Seit 9/11 und insbesondere bei der aktuellen Eskalation des Flüchtlingsdramas gewinnt das Theater als Ort der Repräsentation auffallend an Bedeutung. Dies manifestiert sich nicht nur in unzähligen künstlerischen Reaktionen auf das Zeitgeschehen, sondern auch im außerästhetischen Bereich in Form von politischer Kundgebung, solidarischer Hilfeleistung für Flüchtlinge sowie ihrer Integration. Aber auch an dieser völlig neuen Rolle der Theater-Institution, die in der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg einen Präzedenzfall darstellt, scheiden sich die Geister, was der
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aktuelle, von dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis ausgelöste Eklat besonders krass bewusst macht. Nachdem Hermanis seine Zusammenarbeit mit dem Hamburger Thalia aus Protest gegen das Engagement des Theaters für die Flüchtlingshilfe abgebrochen hatte,8 entzündete sich eine brisante Diskussion über die Rolle des Theaters sowie über ästhetische wie politische Divergenzen zwischen den westlichen und östlichen Theaterkulturen. Folgt man der Argumentation, die die skandalöse Reaktion von Hermanis auf seine aus nationalgeschichtlichen Gründen spezifisch formierte ›fremdenfeindliche‹ OstMentalität zurückführt,9 könnte die humanitäre Mobilisierung der deutschen Theater als Produkt einer aufgeklärten Gesellschaft und reifen Demokratie interpretiert werden. Da aber – wie angedeutet – in der Diskussion auch auf ästhetische Differenzen zwischen West und Ost hingewiesen wird, müsste folgerichtig auch das in Deutschland seit Jahren forcierte Modell des postdramatischen Theaters und seiner Politizität genauso als ein Produkt dieses demokratischen ›Fortschritts‹ zu betrachten sein. Solch eine Feststellung würde – abgesehen davon, dass sie sich theatergeschichtlich nicht belegen lässt, zumal das osteuropäische Theater einen wesentlichen Beitrag für die Erneuerung des Theaters im 20. Jahrhunderts geleistet hat – die Komplexität und Heterogenität des Theaterlebens und die künstlerischen Positionen im gesamteuropäischen wie lokalen Kontext vereinfachen. Als provokante These könnte aber diese Konstatierung Fragen nach einer möglichen Dialektik dieses ›ästhetischen Fortschritts‹ sowie nach dem nationalen Moment der jeweiligen Theaterkultur aufwerfen. Wenn 9/11 keinen wirklichen ›Neubeginn‹ in der deutschsprachigen Theaterlandschaft initiierte, so sind angesichts der »Stunde der Weißglut« (Heiner Müller), die Europa momentan erlebt, neue Entwicklungen überdeutlich, welche bereits jetzt die Theaterwissenschaft vor neue Fragen und Aufgaben stellen. In diesem Rahmen müsste auch gewiss die Frage nach
8
Bei seinem Protest gegen das Theater in der Rolle eines »refugee welcome center« meinte der Regisseur unter anderem, »nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen, aber alle Terroristen Flüchtlinge oder deren Kinder« und bezeichnete Hamburg als eine »potenziell gefährliche Stadt«. Zit. nach: Jan Küveler: So paranoid sind ja nicht mal die von Pegida, in: Die Welt vom 06.12.2015.
9
Vgl. das Statement des Intendanten vom Thalia Theater, Joachim Lux, unter: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=55953 (Stand: 01.04.2016).
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der spezifisch begriffenen Gewalt des Theatertextes als ästhetischpolitisches Mittel gegen das reale Spektakel der Gewalt (neu) verhandelt werden.
9. Danksagung
Mein Dank gilt allen, die mich bei der Entstehung dieses Buches in irgendeiner Weise unterstützt haben. Besonders bedanken möchte ich mich bei all denjenigen, die mich im Rahmen gemeinsamer wissenschaftlicher Projekte, von Tagungen sowie Herausgeberschaften und nicht zuletzt in persönlichen Gesprächen zu Reflexionen und Recherchen inspirierten. Diese Studie wäre ohne den Zugang zur entsprechenden Fachliteratur nicht möglich gewesen. Verschafft wurde mir dieser vor allem durch großzügige Forschungsstipendien, für die ich der Alexander von HumboldtStiftung sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst überaus zu Dank verpflichtet bin. In diesem Zusammenhang danke ich Prof. Ilse Nagelschmidt sehr für ihre Betreuung während meiner Forschungsaufenthalte in Leipzig. Mein großer Dank gilt Prof. Dr. Joanna Jabłkowska für die Freiräume, die sie mir als Lehrstuhlleiterin stets gewährte. Für den Druckkostenzuschuss danke ich der Alexander von HumboldtStiftung sowie dem Österreichischen Kulturforum Warschau. Bei Dr. Evelyna Schmidt bedanke ich mich für ihr großes Engagement beim Korrekturlesen. Schließlich möchte ich mich herzlichst bei meiner Familie für ihre liebevolle Nachsicht in allen Herstellungsphasen des Buches bedanken. Dieses Buch sei Gudrun, Clara und Arek gewidmet.
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Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Juni 2017, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2
Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Mai 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit Oktober 2016, ca. 600 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3603-1
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Annika Wehrle Passagenräume Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart 2015, 388 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3198-2
Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« 2015, 336 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0
Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3054-1
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)
Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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