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German Pages 355 Year 1994
AXEL ISAK
Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Alexander Hollerbach . Josef Isensee . Joseph Listl Wolfgang Losehelder . Hans Maier' Paul Mikat . Wolfgang Rüfner
Band 24
Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts
Von
Axellsak
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg Schriftleitung der Reihe "Staatskirchenrechtliche Abhandlungen": Prof. Dr. Joseph ListI, Lennestraße 15, D-53113 Bonn
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Isak, Axel: Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts / von Axel Isak. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen; Bd. 24) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07954-X NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7247 ISBN 3-428-07954-X
Für Dorothee
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Dissertation, die von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Sommersemester 1993 angenommen wurde. -- Die Thematik berührt die Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirchen, von Staat und Religion. Sie ist mir erstmals im Rahmen eines von Herrn Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde im Sommersemester 1985 abgehaltenen Seminars begegnet und hat mich seither - aus juristischem wie aus persönlichem Interesse - beschäftigt. Das Manuskript wurde im Mai 1992 abgeschlossen. Soweit zugänglich, wurden Rechtsprechung und Literatur bis Juni 1993 eingearbeitet. Hingegen konnte die im Herbst 1993 erschienene Arbeit von Morlock (Selbstverständnis als Rechtskriterium) leider keine Berücksichtigung mehr finden. Zu danken habe ich zuallererst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Alexander Hollerbach, für die Betreuung und Begleitung meiner Arbeit. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Konrad Hesse, der im Rahmen des Promotionsverfahrens das Zweitgutachten übernommen hat. Die Arbeit wurde vom Land Baden-Württemberg im Rahmen seiner Graduiertenförderung mit einem Promotionsstipendium unterstützt. Auch hierfür habe ich zu danken. Mein Dank gilt ferner den Herausgebern der Schriftenreihe "Staatskirchenrechtliche Abhandlungen", ganz besonders Herrn Prof. Dr. Joseph Listl, sowie Herrn Verleger Prof. Norbert Simon und dem Verlag Duncker & Humblot. Die Aufnahme meiner Arbeit in diese anspruchsvolle Reihe betrachte ich als große Auszeichnung. Zu ganz besonderem Dank bin ich der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg verpflichtet, die es mir mit einem großzügigen Druckkostenzuschuß sehr erleichtert hat, meine Arbeit in einem so renommierten Haus zu veröffentlichen. Ich danke von Herzen meinen Eltern. Sie haben mir Ausbildung und Studium ermöglicht und mich bei meiner Arbeit stets mit Interesse und Ermutigung begleitet. Und schließlich, aber keineswegs zuletzt, danke ich meiner Frau. Sie hat am Zustandekommen dieser Arbeit immer interessiert Anteil genommen. Vor allem aber hat sie sich der Mühe unterzogen, das Manuskript korrekturzulesen. Manche Klarstellung verdanke ich ihren Hinweisen. Ihr widme ich dieses Buch. Sinzheim, im Dezember 1993
AxelIsak
Inhaltsverzeichnis Einführung ..............................................................................
19
Erster Hauptteil: Bestandsaufnahme ...............................................
26
Erstes Kapitel: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung ........
26
Einleitende Hinweise ...............................................................
26
I. Die Rechtsprechung zur Zeit der Weimarer Republik ....................
27
11. Die 1. 2. 3.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ...................... Der "Tabak-Fall": BVerfGE 12, 1 ..................................... Der "Gemeindeteilungs-Beschluß": BVerfGE 18,385 ............... Die Entscheidung zur Umsatzsteuerpflicht der Wachtturmgesellschaft: BVerfGE 19, 129 ................................................ 4. Die "Lumpensammler-Entscheidung": BVerfGE 24, 236 ............ 5. Die Entscheidung zur Kirchenmitgliedschaft: BVerfGE 30, 415 ... 6. Der "Eides-Fall": BVerfGE 33, 23 ..................................... 7. Der "Kruzifix-Fall: BVerfGE 35, 366 ............................... . . 8. Die "Bremer-Pastoren-Entscheidung": BVerfGE42, 312 . .... ....... 9. Die "Goch-Entscheidung": BVerfGE 46,73 .......................... 10. Die Entscheidung zum nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetz: BVerfGE 53,366 .......... .............. ..... ............ ............... 11. Die "Volmarstein-Entscheidung": BVerfGE 57, 220 ................. 12. Die Entscheidung zum Konkursausfallgeld: BVerfGE 66,1 ......... 13. Die Entscheidung zum Kündigungsschutz für kirchliche Arbeitnehmer: BVerfGE 70, 138 .................................................. 14. Die Entscheidung zur Berufsbildung im kirchlichen Bereich: BVerfGE 72, 278 ........................................................ 15. Die Entscheidung zum Religionsunterricht: BVerfGE 74, 244 ...... 16. Die "Baha'i-Entscheidung": BVerfGE 83, 341 ....................... 17. Die Entscheidungen der Vorprüfungsausschüsse und Kammern .... Zusammenfassung .............................................................
29 29 32
III. Die Rechtsprechung der übrigen Gerichte .................................. A. Die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte der Länder........ B. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ..................... 1. zum staatlichen Rechtsschutz im kirchlichen Bereich ....... 2. zur Auslegung des § 11 WPflG ................................
69 69 70 70 75
35 35 39 40 42 43 46 49 53 54 55 60 61 63 66 68
Inhaltsverzeichnis
10
3. zur Auslegung der Begriffe "Kirche", "Religionsgemeinschaft" usw. ...................................................... 4. zur Zuordnung rechtlich selbständiger Einrichtungen zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. zu Fragen des Religionsunterrichts und der Theologischen Fakultäten ........................................................ 6. zur wirtschaftlichen Betätigung von Religionsgemeinschaften 7. zur Anwendung straßenrechtlicher Vorschriften ............. 8. zur Förderung kirchlicher Ersatzschulen und Kindergärten. .. . 9. zur Befreiung von Verwaltungsgebühren für kirchliche Zwecke ........................................................... 10. zur Berücksichtigung "gottesdienstlicher und seelsorgerlicher Erfordernisse" gern. § 1 Abs. 5 Nr. 6 BauGB ............... 11. zum Begriff der "Pfründestiftung" .......................... .. 12. Die "Kardorff-Entscheidung" des VGH Mannheim ......... 13. zur Bedeutung der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ............... Zusammenfassung ....................................................
79 81 82 84 86 86 87 87 87 87 88 88
C. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ........................... 1. zum Kündigungsschutz für kirchliche Arbeitnehmer ........ 2. zur Zuordnung rechtlich selbständiger Einrichtungen zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ........................... 3. zu Streitigkeiten aus dem kirchlichen Mitarbeitervertretungsrecht .............................. ................................ Zusammenfassung ....................................................
88 89
D. Die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte ................... 1. zum Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich ............. ................... ................... ..... ... 2. zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ............... 3. zur wirtschaftlichen Betätigung von Religionsgemeinschaften 4. zu Problemen kirchlicher Vereine ............................. 5. zu strafrechtlichen Fragen...................................... 6. zur Problematik des "Schächtens" als Form der Religionsausübung ......................................... ............... ..... 7. zum Stromzahlungsboykott aus religiösen Gründen ......... Zusarnrnenfassung ................................................... .
95
100 100 100
E. Die Rechtsprechung der Sozialgerichte ........................... .
100
F. Die Rechtsprechung der Finanzgerichte .......................... .
101 102
Zweites Kapitel: Der Meinungsstand im Schrifttum..... ............................
102
I. Der Meinungsstand unter der Weimarer Reichsverfassung ............... I. Die Auffassung von Gerhard Anschütz ................................ 2. Die Auffassung von Godehard Josef Ebers ...........................
102 103 104
Fazit
92 94 94
95 96 97 99 99
Inhaltsverzeichnis
11
11. Der Meinungsstand unter der Geltung des Grundgesetzes ................
105
A. Der Grundrechtssubjektivismus .................................. ... 1. Die Auffassung von Peter Häberle ............................ 2. Die Auffassung von Albert Bleckmann .......................
106 107 108
B. Befürworter einer selbstverständnisorientierten Auslegung ...... 1. Die Auffassung von Willi Geiger ............................. 2. Die Auffassung von Martin Heckel ........................... 3. Die Auffassung von Konrad Hesse............................ 4. Die Auffassung von Klaus G. Meyer-Teschendorf .......... 5. Die Auffassung von Klaus Schlaich .......................... Zusammenfassung....................................................
110 110 112 115 120 121 122
C. Einschränkende Tendenzen: Die Auffassung von Axel Frhr. v. Campenhausen .....................................................
123
D. Gegner einer selbstverständnisorientierten Auslegung ........... 1. Die Auffassung von Friedrich Müller......................... 2. Die Auffassung von Josef Isensee ............................. 3. Die Auffassung von Walter Hamei............................ 4. Die Bereichsscheidungslehre (Helmut Quaritsch, Herrnann Weber) ............................................................ 5. Die Auffassung von Joachim Wieland ........................ 6. Die Auffassung von Ulrich K. Preuß ......................... Zusammenfassung ....................................................
124 124 126 130
Zweiter Hauptteil: Begriftliche Grundlagen...... ... .............................
140
132 135 137 138
Drittes Kapitel: Der Begriff des kirchlichen Selbstverständnisses und seine Handhabung in der Rechtspraxis ........................................................ 140 I. Der Begriff des kirchlichen Selbstverständnisses .......................... 1. Selbstverständnis als Grundlage der Selbstbestimmung..............
2. Zur Wandelbarkeit des Selbstverständnisses .......................... 3. Die zur Äußerung des Selbstverständnisses berufenen Stellen ...... 4. Relevanz nur des "gelebten Selbstverständnisses"? ..................
141 143 144 146 148
11. Das kirchliche Selbstverständnis als Tatsachenfrage ...................... 1. Das Problem der Feststellung des Selbstverständnisses.............. 2. Die möglichen Erkenntnisquellen ...................................... a) kirchliche Rechtssätze ............................................... b) kirchenamtliche Verlautbarungen................................... c) Rückfrage im Einzelfall ............................................. 3. Probleme der Beweiswürdigung ........... .... .. . ....... . .............. 4. Zu Fragen der Beweislast ...............................................
149 151 152 153 159 160 162 163
12
Inhaltsverzeichnis
Dritter Hauptteil: Die Verbindlichkeit des kirchlichen Selbstverständnisses für die Auslegung staatlichen Rechts ..........................................
169
Viertes Kapitel: Das Selbstverständnis der Vereine und Verbände................
169
I. Begriffliche V orklärungen ..... . ................. . ........ . ........ . ..........
170
H. Die Bedeutung des Selbstverständnisses der Vereine und Verbände .... 1. Das Selbstverständnis der Vereine ..................................... 2. Das Selbstverständnis der Großverbände ..............................
171 171 174
III. Religionsgemeinschaften und andere Vereine und Verbände: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ...................................................... 1. Allgemeine vereinsrechtliche Regelungen in bezug auf Religionsgemeinschaften ........................................................... 2. Die Relevanz des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften im Bereich verfaßter Staatlichkeit ...................................... 3. Legitimation einer stärkeren Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Kirchen und Religionsgemeinschaften........................
179 179 180 181
Fünftes Kapitel: Säkularität - Neutralität - Parität..............................
191
I. Die Säkularität des Staates ...................................................
192
II. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates .....................
195
III. Die religionsrechtliche Parität.... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .
198
IV. Das Neutralitätsgebot und das kirchliche Selbstverständnis .............. 1. Vorfrage: Das Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht ................................................. 2. Überprüfung materieller Konkretisierungsversuche aus Rechtsprechung und Literatur ...................................................... a) Der christlich - europäische Religionsbegriff ................... b) Das Erfordernis thematischer Geschlossenheit und Breite....... c) Das Erfordernis der Eigenständigkeit gegenüber anderen Bekenntnissen.......................................................... ........ d) Das Erfordernis des Glaubens an einen persönlichen Gott ...... e) Die Bereichsscheidungslehre ........................................ 3. Die Formulierung formaler Rahmendefinitionen für religiös geprägte Rechtsbegriffe ............................................................ 4. Das Kriterium der "Natur der Sache" .................................. 5. Die Maßgeblichkeit des Sachverständigenurteils ..................... 6. These: weitgehende Maßgeblichkeit des kirchlichen Selbstverständnisses ...................................................................... 7. Keine Gleichheitswidrigkeit der selbstverständnisorientierten Auslegung ................. .......................................... ..........
200 201 204 205 206 207 208 209 210 215 218 219 222
Inhaltsverzeichnis
13
Sechstes Kapitel: Die Selbstverständnisproblematik im Kontext der allgemeinen Grundrechtslehre ................................................................... 224 I. Die staatliche Souveränität ...................................................
224
I. Der Bedeutungsgehalt staatlicher Souveränität ........................
224
2. Die Wahrung staatlicher Souveränität gegenüber der Gesellschaft
225
3. Die These von der Gleichordnung von Staat und Kirche ............
226
4. Keine Beeinträchtigung der staatlichen Souveränität durch Inbezugnahme des kirchlichen Selbstverständnisses ...........................
227
11. Die Schranken der religiösen Freiheitsrechte ...............................
228
A. Die Schranken des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ........
230
I. Die Schranken des für alle geltenden Gesetzes ..............
230
a) Die herrschende Meinung der Weimarer Zeit............
230
b) Die "Heckel'sche Formel" ....... ...........................
231
c) Die Formel des Bundesgerichtshofs .......................
233
d) Die Bereichsscheidungs1ehre ............................... e) Die ,,Jedermann-Formel" .............. . ................ . ...
234 234
f) Die Güterabwägung .........................................
235
aa) Zur grundsätzlichen Kritik der Güterabwägung .....
236
bb) Die Frage nach möglichen Alternativen .............
237
cc) Exkurs: Der Aussagegehalt des Wortlauts der Schrankenklausel ...............................................
237
dd) Die Frage nach der Rationalität der Güterabwägung ee) Die Güterabwägung im Rahmen der Schranken der für alle geltenden Gesetze .............................
242
2. Weitere Schranken des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts
248
245
3. Abwägung primär durch den Gesetzgeber....................
250
4. Exkurs: Die Möglichkeit vertraglicher Einigung.............
251
B. Die Schranken der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. I u. 2 GG als korporativem Recht ..............................................
253
1. Bisherige Vorschläge zur Schrankenziehung .................
254
2. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts .................. a) Die Grundrechte anderer ....................................
255 256
b) Andere mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsgüter ....... ........................ ............ ..... ..........
257
Ergebnis
258
III. Die Rechtslage bei anderen Freiheitsrechten ...............................
259
A. Die übrigen Rechte des Art. 4 GG .............. . .......... . .......
259
1. Die individuelle Religionsfreiheit .............................
259
2. Die Gewissensfreiheit ...........................................
260
14
Inhaltsverzeichnis B. Andere Freiheitsrechte ............................................... 1. Gemeinsame Aspekte ........................................... 2. Die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ..... . ........ . .......... 3. Die Meinungsfreiheit ........................................... 4. Die Berufsfreiheit ............................................... 5. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ..........................
264 265 267 272 272 273
IV. Die Praktikabilität einer selbstverständnisorientierten Grundrechtsauslegung ............................................................................
274
Zusammenfassung .............. . ........ . ........ . ......................... . ..
280
Siebentes Kapitel: Ausgewählte Einzeljragen ................................... . ....
281
I. Begriffliche Grundlagen ...................................................... 1. Der Religionsbegriff ..................................................... 2. "Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft" .................... 3. "Religionsausübung" .................................................. . .. 4. "Eigene kirchliche Angelegenheiten" ..................................
281 281 283 284 285
11. Einzelne Sachfragen .......................................................... 1. Die subjektive Reichweite der religiösen Freiheitsrechte ............ 2. Probleme der sogenannten "Neuen Jugendreligionen" ............... a) Einordnung als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften b) Die Möglichkeit des Verbots nach Art. 9 Abs.2 GG ............. c) Die Beschränkbarkeit einzelner Modalitäten der Religionsausübung .................................................................. 3. Ab~~nzung zwischen religiöser und wirtschaftlicher bzw. politischer Betatlgung ................................................................. 4. Vereinsrechtliche Probleme ............................................. 5. Voraussetzungen der Verleihung des Körperschaftsstatus (besonders: Der Islam in Deutschland) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Probleme der Wehrdienstbefreiung für Geistliche .................... 7. Probleme des Eherechts ................................................. 8. Arbeitsrechtliche Fragestellungen (besonders: Probleme des Kündigungsschutzes kirchlicher Arbeitnehmer) .............................. 9. Probleme des Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich .................................................................... 10. Probleme der res mixtae ................................................. a) Fragen des Religionsunterrichts .................................... b) Fragen der Theologischen Fakultäten........................... ...
287 287 289 289 291
Zusammenfassung und Schluß .................................... . ........ . ........
316
Literaturverzeichnis ...................................................................
325
Personenverzeichnis ...................................................................
346
Sachverzeichnis.........................................................................
351
293 294 297 299 300 300 301 306 311 312 313
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. abI. ABIEKD Abs. abw. AfP AG ähnI. AK Anm. AöR ArbG ARSP
Art. Aufl. AuR BAG BAGE BayLSG BayObLG BayObLGE BayVBI. BayVerf BayVerfGH BayVGH BayVGHE Bd. bes. BeschI. BetrVG
BFH
BFHE BGB BGH BGHZ
= am angegebenen Ort = ablehnend = Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland = Absatz = abweichend = Archiv für Presserecht = Amtsgericht; Aktiengesellschaft = ähnlich = Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz = Anmerkung = Archiv des öffentlichen Rechts = Arbeitsgericht = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie = Artikel = Auflage = Arbeit und Recht = Bundesarbeitsgericht = Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (amtliche Sammlung) = Bayerisches Landessozialgericht = Bayerisches Oberstes Landesgericht = Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts (amtliche Sammlung) = Bayerische Verwaltungsblätter = Bayerische Verfassung = Bayerischer Verfassungsgerichtshof = Bayerischer Verwaltungsgerichtshof = Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (amtliche Sammlung) = Band = besonders = Beschluß = Betriebsverfassungsgesetz = Bundesfinanzhof = Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (amtliche Sammlung) = Bürgerliches Gesetzbuch = Bundesgerichtshof = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (amtliche Sammlung)
16 BImSchG BK Brem.StGH BRRG BSG BSGE BVerfG BVerfGE
Abkürzungsverzeichnis
= Bundesimmissionsschutzgesetz = Bonner Kommentar zum Grundgesetz = Bremischer Staatsgerichtshof
Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts (amtliche Sammlung) Bundesverfassungsgericht = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung) BVerfGG = Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerwG = Bundesverwaltungsgericht BVerwGE = Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (amtliche Sammlung) CIC = Codex Iuris Canonici = derselbe ders. DÖV = Die Öffentliche Verwaltung DRiZ = Deutsche Richterzeitung DVBI. = Deutsches Verwaltungsblatt EFG = Entscheidungen der Finanzgerichte EGBGB = Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch EKD = Evangelische Kirche in Deutschland Entsch. = Entscheidung etc. = etcetera e.V. = eingetragener Verein EvStL = Evangelisches Staatslexikon EzA = Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht f. = für, folgende FamRZ = Zeitschrift für das gesamte Familienrecht = folgende (Plural) ff. FG = Finanzgericht FN = Fußnote FS = Festschrift GeschOBT = Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gew.Arch. = Gewerbearchiv = Gewerbeordnung GewO = Grundgesetz GG GmbH = Gesellschaft mit beschränkter Haftung HdbKathKR = Handbuch des katholischen Kirchenrechts HdbStKirchR = Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland HdbStR = Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland = Herausgeber Hrsg. = im Ergebnis i.E. LS. = im Sinne LV. = in Verbindung JöR N.F. = Jahrbuch des öffentlichen Rechts, neue Folge
Abkürzungsverzeichnis JuS JZ kath. KirchE krit. KSchG LAG LG LS LSG m. MDR MK m.w.N. Nr. NJW NVwZ NZA ÖTV OLG OVG ParteienG PStG Preuß.OVG Preuß.OVGE RdA RdJB RG RGZ RN RPflG RVO S. SG sog. StGB StGH
StL
TVG
u.
UFITA Urt. UStG 2 Isak
17
= Juristische Schulung = Juristenzeitung = katholisch = Entscheidungen in Kirchensachen = kritisch = Kündigungsschutzgesetz = Landesarbeitsgericht = Landgericht = Leitsatz = Landessozialgericht = mit = Monatsschrift für Deutsches Recht = Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch = mit weiteren Nachweisen = Nummer = Neue Juristische Wochenschrift = Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht = Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht = Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr = Oberlandesgericht = Oberverwaltungsgericht = Parteiengesetz = Personenstandsgesetz = Preußisches Oberverwaltungsgericht = Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (amtliche Sammlung) = Recht der Arbeit = Recht der Jugend und des Bildungswesens = Reichsgericht = Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (amtliche Sammlung) = Randnummer = Der Deutsche Rechtspfleger = Reichsversicherungsordnung = Satz, Seite = Sozialgericht = sogenannt = Strafgesetzbuch = Staatsgerichtshof = Staatslexikon der Görres-Gesellschaft = Tarifvertragsgesetz = und = Archiv für Urheber-. Film-, Funk- und Theaterrecht = Urteil = Umsatzsteuergesetz
18
Abkürzungsveneichnis
= und so weiter = von, vom = Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg = Vereinsgesetz = Verfasser = Verwaltungsarchiv = Verwaltungsgericht = Verwaltungsgerichtshof = vergleiche = Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer = Verwaltungsverfahrensgesetz VwVfG VwGO = Verwaltungsgerichtsordnung WPflG = Wehrpflichtgesetz = Weimarer Reichsverfassung WRV Zeitschr. = Zeitschrift ZevKR = Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht = Zeitschrift für Arbeitsrecht ZfA = zitiert zit. ZPO = Zivilprozeßordnung ZRG Kan.Abt. = Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung zust. = zustimmend usw. v. VBlBW VereinsG Verf. Verw.Arch. VG VGH vgl. VVDStRL
Einführung "Nur die Religionsgesellschaft selbst kann authentisch sagen, welches die ihr eigentümlichen Angelegenheiten (,ihre Angelegenheiten') sind." Diese Aussage traf der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts 1 im Hinblick auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG LV. mit Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV, wonach die Kirchen und Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbst ordnen und verwalten. Mit ihr scheint eigentlich alles gesagt: Was eigene Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften 2 im Sinne von Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV sind, bestimmen die Kirchen oder - genauer gesagt - bestimmt sich nach ihrem Selbstverständnis. Gleiches müßte dann konsequenterweise (zumindest) für die kollektivrechtliche Seite 3. 4 des Grundrechts der Religionsfreiheit 5 aus Art. 4 GG gelten: Was "Religionsausübung", ja sogar was ,,Religion" ist, bestimmt sich nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft. Schließlich ist es dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat verwehrt, Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten 6 , er ist in religiösen Fragen inkompetent. Und in der Tat hat Andreas Hamann 7 schon 1956 konstatiert: "Was zur Religionsausübung gehört, bestimmen die in Betracht kommenden Religionsgemeinschaften (Kirchen usw.) selbst." Besch!. v. 6.12.1977 - 1 ABR 28/77 - BAGE 29, 405 (410). Wenn im Folgenden von "Kirche", ,,kirchlichem Selbstverständnis" etc. die Rede ist, so sind die übrigen Religionsgemeinschaften stets mitgemeint. Der Begriff ,.Religionsgemeinschaft" ist dabei dem Begriff ,.Religionsgesellschaft" vorzuziehen, weil er dessen historischen Ballast (Behandlung der Kirchen als Gesellschaften im Sinne bloßer privatrechtlicher Vereine: vg!. v. Campenhausen. Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 23) von vorneherein nicht zu tragen hat. 3 Zu den verschiedenen Aspekten des Grundrechts aus Art. 4 GG vg!. etwa Listl. HdbStKirchR I, S. 363 ff., bes. S. 365 ff. 4 Art. 4 GG als Individualgrundrecht ist nicht zentraler Gegenstand dieser Arbeit. Die individualrechtliehe Seite wird daher nur insoweit berücksichtigt, als sie nach Auffassung des Verfassers für die - den kollektivrechtlichen Bereich betreffende - ThemensteIlung von Bedeutung ist. 5 Der Begriff ,.Religionsfreiheit" wird im Folgenden in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 24, 236) als zusammenfassende Kennzeichnung für die Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG verwandt (vg!. dazu Listl. HdbStKirchR I, 1974, S. 363 ff. [365]). Jedenfalls für die Problematik dieser Arbeit bedarf die Frage, ob und wie diese Einzelgewährleistungen voneinander abzugrenzen sind, keiner Klärung. Ebenso v. Campenhausen, HdbStR VI, 1
2
1989, § 136, RN 36. 6 BVerjG, Besch!. v. 8.10.1960 7
2*
1 BvR 59/56 - BVerfGE 12, I (4) und öfter. In: Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, 1956, Anm. C 5 zu Art. 4 GG.
20
Einführung
So weit, so gut. Doch schon die Tatsache, daß das Bundesarbeitsgericht aus seinem so eindeutig erscheinenden Grundansatz keineswegs immer die naheliegenden Konsequenzen gezogen hat und mehrfach vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts korrigiert werden mußte 8 , zeigt, daß die Probleme ungleich komplexer sind als es der eingangs zitierte Grundsatz glauben macht. Eine Vielzahl von Fragen stellt sich: Muß nicht das, was für die kollektivrechtliche Seite der Religionsfreiheit gilt, auch für deren individualrechtliche Seite gelten? Und wird Art. 4 GG damit nicht zu einem schrankenlos garantierten Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit?9 Und: Was für den Religionsbegriff gilt, muß das nicht auch für andere Rechtsbegriffe gelten, die auf außerrechtliche Lebensbereiche verweisen: "Gewissen", "Kunst", "Wissenschaft", vielleicht sogar "Beruf'? Läuft am Ende alles auf einen allgemeinen Grundrechtssubjektivismus hinaus, der Ernst macht mit jenem Wort earl Schmitts, daß in letzter Instanz nur derjenige, der frei sein solle, bestimmen könne, was Freiheit sei. \0 Isensee 11 faßt alle diese Fragen und Einwände in dem Satz zusammen: "Es geht ... um die Kompetenz, die Rechtsinhalte verbindlich festzustellen, genauer: Es geht um die Kompetenz-Kompetenz, die Letztentscheidung über die Reichweite des Eingriffsgesetzes und über den Schutzbereich des Grundrechts, mithin über den Grundrechtskonflikt. Es stellt sich auf dem Feld der Grundrechte die Urfrage der Staatsrechtslehre: Quis iudicabit?" Und in der Tat hat etwa Herzog die Konsequenz aus dem so befürchteten Dammbruch gezogen, wenn er schreibt: "Selbst wenn man weiterhin einräumt, daß Art. 4 Abs. 2 trotzdem oft nicht ohne Rückgriff auf das Selbstverständnis der konkreten ,Religionsgesellschaft' mit Leben erfüllt werden kann, und zwar schon deshalb, weil anders ja gar nicht festgestellt werden kann, welche Verhaltensweisen als ,religiös' oder ,kultisch' zu betrachten sind, so kann doch andererseits nicht hinweggeleugnet werden, daß ein zu weitgehendes Zurückgreifen auf das Selbstverständnis der jeweiligen ,Religionsgesellschaft' gerade in Zeiten, in denen neue weltanschauliche Systeme wie Pilze aus dem Boden schießen, im Extremfall zu einer Verlagerung jener Kompetenz-Kompetenz führen kann, die der modeme Staat seit Generationen gegenüber der Gesellschaft beansprucht ... Der modeme Staat, dessen Betätigungsfeld ein Vielfaches von dem umfassen muß, was noch der Staat der vergangenen Generationen bearbeitet hat, kann durch diese Auslegung des Art. 4 Abs. 2 im Extremfall völlig depossediert wer8 Aus neuerer Zeit: BVerfGE 46, 73 (Goch); 57, 220 (Volmarstein) und 70, 138 (Kündigungsschutz). 9 So etwa Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Bd. 1, 3. Auf!. 1985, RN 34 zu Art. 4 GG; ähnlich Leisner, Essener Gespräche 17 (1983), S. 9 ff. (12). 10 C.Schmitt, in: Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25-jährigen Bestehen der Handelshochschule Berlin, 1931, S. 1 ff. (27). 11 Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 10.
Einführung
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den, und zwar nicht zugunsten des Individuums oder der gesamten Gesellschaft, sondern zugunsten einzelner, nicht kontrollierbarer Gruppen." 12 Daher müsse es für Art. 4 Abs. 2 GG einen allgemeinen staatlichen Ordnungsvorbehalt geben, um die genannten Gefahren abzuwehren. 13 Ähnliche Befürchtungen hat wohl Starck 14 im Auge, der die Religionsausübung über Art. 4 GG nur insoweit schützen will, "als die Ausübungsmodalitäten den zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes in Deutschland praktizierten Religionen und Weltanschauungen vergleichbar sind." Das Problem scheint in die Aporie zu führen: Der Staat darf nicht definieren, was Religionsausübung, eigene kirchliche Angelegenheiten etc. sind, weil ihm seine religiös-weltanschauliche Neutralität dies verbietet; die Kirchen und Religionsgemeinschaften dürfen es nicht, weil die Kompetenz-Kompetenz dem Staat zusteht. Für die Frage nach der Definition des zentralen Begriffs "Religion" hat Böckenförde 15 exemplarisch aufgezeigt, daß jeder der theoretisch möglichen Lösungswege (staatliche Definitionsmacht; Rückgriff auf das Selbstverständnis der betroffenen Gemeinschaften; Rückgriff auf den gesellschaftlichen Konsens oder den Religionsbegriff der Religionswissenschaft) eine Vielzahl ungelöster Folgefragen und -probleme nach sich zieht. Eine befriedigende Lösung scheint jedenfalls auf den ersten Blick nicht in Sicht. Einen bescheidenen Beitrag zu einem Ausweg aus diesem - jedenfalls scheinbaren - Dilemma zu leisten, ist das Ziel dieser Arbeit. Sie will herausarbeiten, was der im Zusammenhang der aufgezeigten Problematik zentrale Begriff des kirchlichen Selbstverständnisses bedeutet und ferner untersuchen, wo und mit welchem Maß an Verbindlichkeit der staatliche Rechtsanwender auf eben dieses Selbstverständnis verwiesen ist. Daß der staatliche Jurist dabei weder von irgendwelchen abstrakten Theorien über das Staat-Kirche-Verhältnis ausgehen, noch die "Soll-Beschaffenheit" dieses Verhältnisses aus kirchlicher Sicht 16 zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machen kann, sollte sich von selbst verstehen. 17 12 Herzog in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 4 GG (Zweitbearbeitung 1981) RN 103 f. zu Art. 4 GG (ebenso schon Erstbearbeitung 1971 RN 104). 13 A. a. O. RN 114 (Erstbearbeitung 1971). In der Zweitbearbeitung von 1988 findet sich diese Formulierung nicht mehr. 14 A. a. O. (FN 9) RN 34. 15 In Essener Gespräche Bd. 19 (1985), S. 156 ff. 16 Vgl. dazu aus katholischer Sicht Mikat, HdbStKirchR I, 1974, S. 143 ff. sowie (auf der Grundlage des neuen Codex Iuris Canonici von 1983) Listl, Essener Gespräche 19 (1985), S. 9 ff. sowie Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983, 1993; aus evangelischer Sicht Sirnon, HdbStKirchR I, 1974, S. 189 ff. 17 Dennoch scheint gerade das Staatskirchenrecht allzu häufig an einer Vermengung von kirchenpolitischem Wunschdenken und juristischer Norminterpretation zu leiden. Beispielhaft seien einerseits Walter Harnel mit seinem Postulat des christlichen Staates (etwa in Bettermann u. a. [Hrsg.], Die Grundrechte IV /1, 1960, S. 37 ff.) und andererseits Erwin Fischer mit seiner ins Ideologische übersteigerten Forderung nach strikter "Trennung von Staat und Kirche" (vgl. sein gleichnamiges Werk, 3. Aufl. 1984) genannt.
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Vielmehr kann der staatliche Jurist nicht anders, als vom staatlichen Recht auszugehen, durch den "Schleier der Verfassungsnormen zu sehen"18, also, um mit Jurina 19 zu sprechen, insofern "einseitig" zu sein. 20 In einem ersten Teil soll es dabei um eine Art Bestandsaufnahme gehen: Anhand der Rechtsprechung soll aufgezeigt werden, welche Sachfragen und welche Normen die Frage nach der Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses aufgeworfen haben und wie diese Frage jeweils gelöst wurde. Ein solches Vorgehen erscheint in mehrfacher Hinsicht lohnend: Zum einen dürfte eine rein abstrakte Abhandlung ohne Blick auf die praktischen Probleme wenig gewinnbringend sein. Die (veröffentlichte) gerichtliche Kasuistik kann hier einiges Anschauungsmaterial liefern, gleichsam Fleisch an das dogmatische Skelett bringen. Dabei wird deutlich werden, daß nicht nur die Verfassungsnormen der Art. 4 und Art. 140 GG LV. mit Art 137 Abs. 3 WRV, sondern auch eine ganze Reihe einfachgesetzlicher Normen und Rechtsbegriffe Probleme in dem hier interessierenden Zusammenhang aufwerfen. Selbstverständlich sollen aber auch die Lösungsansätze der gerichtlichen Praxis herausgearbeitet und im weiteren Verlauf der Untersuchung stets im Auge behalten werden. Naturgemäß steht dabei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Mittelpunkt des Interesses. Aber auch die obersten Gerichte der einzelnen Fachgerichtsbarkeiten, besonders das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesarbeitsgericht, sowie zahlreiche Untergerichte waren wiederholt mit interessanten Fragen im Zusammenhang mit der Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses befaßt. In jedem Fall werden die anband der Rechtsprechung herausgearbeiteten Fragestellungen und Lösungen zu einer Differenzierung und Strukturierung des Problems für die weitere Untersuchung Anlaß geben. Im Anschluß an diese "Sichtung" der Rechtsprechung sollen - noch im Rahmen der Bestandsaufnahme - die Stellungnahmen des Schrifttums zu den Lösungen der Rechtsprechung sowie die Lösungsansätze, die sich in der Literatur finden, jedenfalls in ihren Grundströmungen dargestellt werden. Nach dieser Bestandsaufnahme wird es sodann darum gehen, den Begriff des kirchlichen Selbstverständnisses im Rahmen der staatlichen Rechtsanwendung näher zu betrachten. Dabei soll die Frage nach dem Verbindlichkeitsgrad dieses Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337 ff. (358). 19 Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten, 1971, S. 5 (Vorwort). 20 Ähnlich Quaritsch / Weber, in: dies. (Hrsg.), Staat und Kirche in der Bundesrepublik, 1967, S. 9 ff. (11); H.Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, 1966. S. 18; ders., Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970, S. 22; Scheuner, HdbStKirchR I, 1974, S. 5 ff. (37 f.); Sachs, DVBI. 1989, S. 487 f. Zur Irrelevanz des kirchlichen Selbstverständnisses für die Stellung der Kirchen im Staat als solche vgl. auch Meyer-Teschendorj, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979, S. 77 ff. Das schließt aber natürlich nicht aus, daß der Staat dieses Selbstverständnis in einzelnen Aspekten in Bezug nimmt. 18
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Selbstverständnisses zunächst außer Betracht bleiben. Bekanntlich sind Begriffe in der Lage, durchaus verschiedene sachliche Inhalte in sich aufzunehmen. Und gerade der Jurist tut gut daran, zunächst die sachliche Bedeutung eines Begriffs zu klären und so für eine klare Begrifflichkeit zu sorgen, ehe er aus .einem möglicherweise mehrdeutigen Begriff Folgerungen zieht. 21 Gerade im Staatskirchenrecht erfreuen sich ja derartige schillernde Schlagworte und Zauberformeln ("Eigenständigkeit"22 , "ursprüngliche Hoheitsgewalt" , ,,Koordination", "Neutralität", "Öffentlichkeitsauftrag", "öffentlich-rechtlicher Gesamtstatus" , "Trennung von Kirche und Staat" usw.) besonderer Beliebtheit. 23 Was also ist ,,kirchliches Selbstverständnis"? Der Sachvortrag der kirchlichen Seite in einem Prozeß, den sie (natürlich) gewinnen will? Oder das (und nur das?) was in kirchenamtlichen Verlautbarungen und kirchlichen Rechtssätzen seinen Niederschlag gefunden hat? Oder am Ende die Quintessenz des theologischen Schrifttums? Eng mit dieser Frage nach der Bedeutung des Begriffs ,,kirchliches Selbstverständnis" verbunden ist die Frage nach dem rechtlich richtigen Weg zur Feststellung dieses Selbstverständnisses. Hier will die Arbeit auch dem Richter oder Verwaltungsjuristen eine Hilfestellung geben, für den Fälle mit staatskirchenrechtlichen Bezügen ja nicht eben zum täglichen Brot gehören, der aber doch nie sicher sein kann, nicht einmal mit einem solchen Fall konfrontiert zu werden. 24 Und in der Tat zeigt eine ganze Reihe gerichtlicher Entscheidungen, daß die rechtsdogmatischen Probleme den betroffenen Richtern weniger Schwierigkeiten bereiteten als die Anwendung der rechtlichen Grundsätze auf den konkreten Fall, daß ihnen also eine Antwort auf die Frage nach der Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses leichter fällt als die Feststellung eben dieses Selbstverständnisses. Im Anschluß an diese grundlegende inhaltliche und begriffliche Klärung rückt dann aber endgültig die Frage nach der Relevanz dieses Selbstverständnisses der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Anwendung staatlichen Rechts in den Blickpunkt. Dabei gilt es zweierlei zu untersuchen: Zum einen, auf welcher Stufe (oder welchen Stufen) staatlicher Rechtsanwendung die Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses geboten ist (das Bundesverfassungsgericht will etwa im Rahmen des Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV dem kirchlichen Selbstverständnis nicht nur bei der Auslegung des Begriffs "ihre Angelegenheiten", sondern auch bei der Prüfung der "Schranken des für alle geltenden Gesetzes" Gewicht beimessen 25); zum anderen ist zu fragen, welcher Grad an Verbindlichkeit dem kirchlichen Selbstverständnis dabei jeweils zukommt. 21 Die geradezu babylonische Sprachverwirrung um den zivilrechtlichen Begriff der ,,Anwartschaft" bzw. des ,,Anwartschaftsrechts" möge als mahnendes Beispiel dienen (vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, 15. Aufl. 1991, RN 456 ff.)! 22 Klarstellend dazu Zippelius. ZevKR 9 (1962/63), S. 42 ff. 23 Ebenso Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 129. 24 Zu den dabei auftretenden besonderen Problemen vgl. Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, 1991, S. 4 ff. 25 BVerfGE 53, 366 (Leits. 2) und öfter.
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Die Arbeit will diese Fragen von verschiedenen Seiten her angehen: Zunächst soll ein kurzer Seitenblick darauf geworfen werden, ob und inwieweit das Selbstverständnis anderer gesellschaftlicher Großgruppen (Vereine und Verbände) für die Anwendung des diese Gruppen betreffenden staatlichen Rechts Bedeutung gewinnt. Anschließend gilt es, die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, wie sie durch das Grundgesetz und die Konkordate und Kirchenverträge, aber auch durch eine Reihe einfachgesetzlicher Regelungen ausgestaltet ist, mit der Stellung anderer Vereine und Verbände zu vergleichen. Möglicherweise lassen sich aus den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die ein solcher Vergleich ergeben wird, bereits erste Hinweise für die Lösung der ,Selbstverständnisproblematik' gewinnen. Ein weiterer wichtiger Abschnitt soll der Frage gewidmet werden, welche Auswirkungen der säkulare Charakter des Staates und das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität sowie das damit untrennbar zusammenhängende Postulat der paritätischen Behandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für das Thema dieser Arbeit hat. Ergibt sich daraus ein Definitionsverbot 26 für den Staat im Hinblick auf Rechtsbegriffe mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug? Oder ergibt sich aus dem Charakter dieser Begriffe als Rechtsund Gesetzesbegriffe per se ein Definitionsgebot 27 an den staatlichen Rechtsanwender, das lediglich an dem Verbot, Glauben oder Unglauben zu bewerten 28 seine Grenze fmdet und deshalb notwendig zu sehr formalen Definitionen führen muß? Wären aber solche rein formalen Auslegungen geeignet, in den wirklich problematischen Fällen zu befriedigenden Ergebnissen zu führen? All diese Fragen bedürfen einer sorgfältigen Prüfung. Soweit sich aus den vorangegangenen Prüfungsschritten Ansätze zur Beantwortung der Frage nach der Relevanz des kirchlichen Selbstverständnisses ergeben haben, bedürfen diese der Einbettung in den Gesamtzusammenhang der Grundrechtslehre, ja sind ihre Rückwirkungen auf die Rechtsordnung überhaupt zu untersuchen. Die zu Beginn dieser Einführung aufgeworfenen Fragen müssen wieder aufgegriffen werden: Welche Konsequenzen hat die Antwort auf die Frage nach dem Stellenwert des kirchlichen Selbstverständnisses für die Auslegung anderer Grundrechte? Zieht sie etwa zwingend einen allgemeinen Grundrechtssubjektivismus, also die Definition der Schutzbereiche aller oder doch einiger Grundrechte durch die Rechtsträger selbst nach sich, wie ihn Isensee 29 befürchtet? Steht also der erwähnte Dammbruch, die zumindest partielle Verlagerung der Kompetenz-Kompetenz, wirklich zur Debatte? Die Lösung der konkreten Problematik dieser Arbeit muß 26 Kritisch zu diesem Begriff etwa Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S.l7f. 27 In diesem Sinn Isensee a. a. O. S. 35 f. 28 BVerfGE 12, 1 (4). 29 A.a.O. (FN 26) passim.
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sich diesen Anfragen stellen; sie kann nur dann wirklich eine Lösung sein, wenn sie sich in die allgemeine Grundrechtsdogmatik einfügen läßt. Sie kann aber auch nur dann wirklich eine Lösung sein, wenn sie sich anhand praktischer Probleme bewährt. Und damit soll sich der Kreis der vorliegenden Untersuchung schließen: Anhand einiger Beispiele aus der anflinglichen Bestandsaufnahme muß das Ergebnis der dogmatischen Erwägungen seine Praxistauglichkeit unter Beweis stellen. Dabei sollen exemplarische Probleme aus dem Bereich der Großkirchen (etwa zum kirchlichen Arbeitsrecht oder zum Religionsunterricht) ebenso betrachtet werden wie Fragen im Zusammenhang mit den (inzwischen nicht mehr ganz so neuen) sogenannten Jugendsekten. 30 Soweit die gewonnenen Lösungsansätze diesen Praxistest bestehen, sollen sie ganz am Ende der Arbeit - gleichsam als deren Summe - nochmals in aller Kürze zusammengefaßt werden.
30 Vgl. etwa BVerwGE 61, 152 und BVerwG NJW 1985, 393: Scientology-Kirche kein "Bekenntnis" i. S. des § 11 Abs. 1 WF.'flG.
1. Hauptteil: Bestandsaufnahme Wie in der Einführung bereits angedeutet, soll am Beginn der Untersuchung eine Bestandsaufnahme hinsichtlich des Diskussionsstandes in Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Relevanz des Selbstverständnisses der Kirchen und Religionsgemeinschaften stehen. Naturgemäß können dabei nicht alle Nuancen berücksichtigt werden. Es muß vielmehr genügen, daß der Diskussionsstand in seinen wesentlichen Strömungen dargestellt wird. Selbstverständlich verdient dabei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe des Bundes eine besonders eingehende Betrachtung. 1
Erstes Kapitel: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung Zwei einleitende Hinweise erscheinen angebracht, die es bei der folgenden Analyse der Rechtsprechung insbesondere zu beachten gilt: 1. Zur zentralen Frage dieser Arbeit, nämlich der nach der Verbindlichkeit des Selbstverständnisses der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Anwendung staatlichen Rechts, finden sich in der Rechtsprechung nur wenige ausdrückliche Stellungnahmen, und wenn sie sich finden, dann handelt es sich häufig um sogenannte obiter dicta und damit um nichttragende Teile der Entscheidungen. 2 Dies ist darauf zurückzuführen, daß der Selbstverständnisproblematik als solcher nie wirkliche Entscheidungserheblichkeit zukam, sondern meist nur Teilaspekte der Problematik zur Entscheidung standen und die Gerichte sich - wie es ihrer Aufgabe entspricht - darauf beschränkten, die entscheidungserheblichen Fragen zu klären. Wo sie dennoch weitergehende Aussagen trafen, handelte es sich meist um die erwähnten obiter dicta, die bei der Analyse der Rechtsprechung mit großer Vorsicht zu behandeln sind. Denn die Erfahrung lehrt, daß derartige 1 Ein freilich nicht mehr ganz aktueller - Überblick über die Rechtsprechung findet sich bei Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971. 2 So etwa in der Stellungnahme des OLG Köln, Vrt. v. 4.8.1987 22 V 57/87 NJW 1988, 1736: Für die Frage, ob eine Angelegenheit dem innerkirchlichen Bereich zuzuordnen ist, ist nicht entscheidend auf das Selbstverständnis der Kirchen abzustellen; es ist aber zu berücksichtigen.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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Anmerkungen meist nicht mit derselben Sorgfalt erwogen und formuliert werden wie die entscheidungserheblichen Urteilspassagen. Es wäre also verfehlt und würde auch der Funktion der Rechtsprechung als verbindlicher Streitentscheidung im Einzelfall nicht gerecht, wollte man von der Analyse der Rechtsprechung ein dogmatisches Lehrgebäude zur Selbstverständnisproblematik oder auch eine "neue Dogmatik der staatlichen Regelungsgewalt gegenüber der Kirche"3 erwarten. Ein typisches Beispiel für ein derartiges falsches Verständnis der Funktion der Rechtsprechung - einschließlich derer des Bundesverfassungsgerichts - ist es, wenn Starosta 4 bemängelt, das Bundesverfassungsgericht habe es versäumt, sich in einem obiter dictum zu einer bestimmten Frage zu äußern. Obiter dicta mögen bisweilen naheliegend sein, geboten sind sie - eben wegen der Aufgabe der Rechtsprechung, EinzeWille zu entscheiden - nie. 2. Die Rechtsprechung - insbesondere diejenige hoher und höchster Gerichte - neigt dazu, einmal gefundene griffige Formeln mit großer Regelmäßigkeit in Folgeentscheidungen zu wiederholen. Aber auch wenn eine derartige Formel gleichsam als Überschrift immer wieder auftaUCht, können die Kriterien, nach denen spätere Fälle tatsächlich entschieden werden, völlig andere sein. Die Formel kann also sozusagen zum Fossil ohne weitergehende inhaltliche Bedeutung werden. Ein gutes Beispiel bietet die sogenannte ,,Natur der Sache-Formel" für die Definition des Begriffs "ihre Angelegenheiten" in Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs.3 WRV5, die das Bundesverfassungsgericht seit BVerfGE 18, 385 (387) ständig wiederholt hat, obwohl es die Bestimmung des Bereichs der eigenen kirchlichen Angelegenheiten nach durchaus unterschiedlichen Kriterien vornahm. Daraus folgt, daß eine Analyse der Rechtsprechung, will sie gewinnbringend sein, nicht bei derartigen Formeln stehenbleiben darf, sondern versuchen muß, auch die wirklichen Entscheidungskriterien aufzuspüren.
I. Die Rechtsprechung zur Zeit der Weimarer Republik Bekanntlich hat das Grundgesetz in seinem Art. 140 weitgehend (mit Ausnahme des Art. 135 WRV, der seinen Nachfolger in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gefunden hat, und des Art. 140 WRV) die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Dies gilt insbesondere auch für das in Art. 137 3 So aber Leisner, Essener Gespräche 17 (1983), S. 9 ff. (10). Leisners Kritik (a.a.O. S. 11.), das Bundesverfassungsgericht habe im Staatskirchenrecht "eine voll formierte Systematik" (wie zur Berufsfreiheit oder im Medienrecht) nicht einmal versucht, braucht das Gericht daher nicht zu treffen. Sie verkennt seine Aufgabe. 4 Religionsgemeinschaften und wirtschaftliche Betätigung, 1986, S. 61. 5 Die Frage, ob eine Maßnahme dem innerkirchlichen Bereich zuzurechnen ist oder den staatlichen Bereich berührt, entscheidet sich danach, "was materiell, der Natur der Sache oder Zweckbeziehung nach als eigene Angelegenheit der Kirche anzusehen ist."
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1. Teil: Bestandsaufnahme
Abs.3 WRV geregelte kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Die Frage nach der Definition und Definitionskompetenz für den Begriff "ihre Angelegenheiten" in Art. 137 Abs. 3 WRV müßte sich also, so möchte man meinen, bereits unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung gestellt haben. Von daher erscheint ein kurzer Blick auf die Rechtsprechung der Gerichte in der Weimarer Zeit durchaus lohnend. Doch zeigt ein solcher Blick auf die wenigen veröffentlichten Entscheidungen zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht aus jener Zeit rasch, daß sich die Selbstverständnisproblematik aus der Sicht der damaligen Gerichte nicht oder doch nicht mit gleicher Schärfe stellte wie unter der Geltung des Grundgesetzes. Denn trotz der Regelungen des Art. 137 Abs. 3 und des Art. 137 Abs. 1 WRV gingen Rechtsprechung (und herrschende Lehre 6 ) vom Fortbestand einer staatlichen Kirchenhoheit im Sinne eines allgemeinen Aufsichtsrechts des Staates über die Kirchen aus. 7 Diese Kirchenhoheit des Staates stelle sich als ein "der besonderen Stellung der Kirche entsprechendes besonders geartetes Staatsaufsichtsrecht dar." 8. 9 In der Konsequenz dieser Auffassung liegt es, daß das Preußische Oberverwaltungsgericht in der eben zitierten Entscheidung IO feststellt, für die Abgrenzung des Bereichs der eigenen kirchlichen Angelegenheiten könnten "die Ansichten der einzelnen Religionsgesellschaften schon im Hinblick auf ihre Verschiedenartigkeit, sodann aber auch im Hinblick auf die Stellung des Staates als des Inhabers der höchsten Gewalt nicht von allgemeingültiger, auch für den Staat maßgebender Bedeutung sein." Vielmehr bedürfe es "für die Bestimmung des Kreises der eigenen Angelegenheiten der Kirche eines staatlichen, auf der Kirchenhoheit beruhenden Aktes", also eines Ausführungsgesetzes zu Art. 137 Abs.3 WRV.ll Und in einer anderen Entscheidung bezeichnet das Preußische OVG das kirchliche Mitgliedschaftsrecht unter Berufung auf eben dieses aus der Kirchenhoheit fließende Aufsichtsrecht als nicht ausschließlich eigene Angelegenheit der Kirche. 12 Durchaus konsequent überprüft das Gericht dann auch selbst anband des Katechismus der katholisch-apostolischen Gemeinde zu Berlin, ob deren Mitglieder evangelisch (und damit kirchensteuerpflichtig) sind. 13 6 Vgl. etwa Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Anm. 5 zu Art. 137 WRV. 7 Vgl. RG, Beschl. v. 26.10.1921 VII B 1/21- RGZ 103,91 (94); Preuß. OVG, Urt. v. 29.4.1924 - VIII A 10/23 - PreußOVGE 79,98 u. Urt. v. 14.6.1927 - VIII A 1/26 - PreußOVGE 82, 196. 8 PreußOVGE 82, 196 (LS 2). 9 Zu dieser speziell für die Großkirchen formulierten - sog. Korrelatentheorie ablehnend Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 312 ff. IO A.a.O. [FN 8] S. 204. 11 Anschütz (a. a. O. [FN 6]) hat dieser Entscheidung bescheinigt, sie sei von "echt wissenschaftlichem Geist getragen". 12 PreußOVGE 79, 98 (104). 13 A. a. O. S. 102.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Rechtsprechung unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung dem Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Auslegung des Begriffs "ihre Angelegenheiten" in Art. 137 Abs. 3 WRV keinerlei Verbindlichkeit beimaß, sondern die Kompetenz zur Definition dieses Begriffs unter Berufung auf die Kirchenhoheit des Staates ausschließlich diesem zuschrieb.
11. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Soweit die Rechtsprechung des· Bundesverfassungsgerichts 14 zur Frage der Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses bislang im juristischen Schrifttum einer näheren Betrachtung unterzogen wurde, setzte diese Betrachtung zumeist bei der Entscheidung zur "Aktion Rumpelkammer" 15 an. 16 Dieser Ansatz hat, wie noch zu zeigen sein wird, durchaus seine Berechtigung. Dennoch erscheint es lohnend, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch einen Schritt weiter zurückzugehen: 1. Im sogenannten "Tabak-Fall" 17, der die Glaubensfreiheit nach Art. 4Abs. 1 GG als Individualgrundrecht betraf l8 , hatte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals mit dem Begriff der Glaubensfreiheit und damit mit der Bestimmung des Schutzbereichs dieses Grundrechts zu befassen. Der Beschwerdeführer, ein Mitglied des "Bundes für Gotteserkenntnis (Ludendorff) e. V." 19, warb in der Strafhaft unter seinen Mitgefangenen für den Kirchenaustritt und bot einzelnen von ihnen Tabak für den Fall ihres Austritts an. In diesem Verhalten sah der Bundesgerichtshof2° einen solchen "Grad von gemeiner Gesinnung und morali14 Vg\. dazu Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971; ders., in: FS f. Klecatsky Bd. 1, 1980, S. 571 ff.; ders., in: FS f. Geiger, 1989, S. 539 ff.; ferner die Rechtsprechungsübersichten von Hollerbach in AöR 92 (1967), S. 99 ff. u. AöR 106 (1981), S. 218 ff. sowie Niebier, BayVB\. 1984, S. 1 ff. 15 BVerjG, Besch\. v. 16.10.1968 1 BvR 241/66 - BVerfGE 24, 236. 16 So etwa bei Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, 1980, S. 12 ff. und bei Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 22 f. 17 BVerjG, Besch\. v. 8.11.1960 1 BvR 59/56 - BVerfGE 12, 1; dazu Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, 1971, S. 54 ff.; ähnliche Problematik in BVerwG, Urt.· v. 9.12.1962 - 7 C 84/59 - BVerwGE 15,134 = KirchE 6, 154. Vg\. dazu Listl, a.a.O. S. 68 ff. 18 Trotz der grundsätzlichen Beschränkung der Arbeit auf die RechtssteUung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, werden zunächst auch diejenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die zu Art. 4 GG als Individualrecht ergangen sind, in die Betrachtung einbezogen. Denn es erscheint nicht unwahrscheinlich, daß sich aus diesen Entscheidungen Rückschlüsse auch für die koUektivrechtliche Komponente ziehen lassen. 19 Der Bund wurde 1962 verboten, vg\. dazu BVerwG, Urt. v. 23.3.1971 1 C 54/ 66 - BVerwGE 37, 344 u. dazu Oft, DÖV 1971, S. 763 f.; Listl, a.a.O. (FN 17), S. 362 ff.; Würtenberger, ZevKR 18 (1973), S. 67 ff. 20 Besch\. v. 28.12.1955 - StE 22/52 (AK 115/55) zitiert in BVerfGE 12, 1 (3).
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1. Teil: Bestandsaufnahme
scher Niedertracht", daß nicht erwartet werden könne, der Beschwerdeführer werde in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen. Der Bundesgerichtshof lehnte daher eine bedingte Entlassung aus der Strafhaft ab. Das Bundesverfassungsgericht umschreibt das Grundrecht der Glaubensfreiheit dahin, daß es dem Einzelnen einen Rechtsraum gewährleiste, "in dem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht, mag es sich dabei um ein religiöses Bekenntnis oder eine irreligiöse - religionsfeindliche oder religionsfreie - Weltanschauung handeln."21 Diese allgemeine Formel scheint auf eine subjektive, am Selbstverständnis des Einzelnen orientierte Auslegung des Begriffs "Glauben" hinzudeuten. Denn wer außer dem betroffenen Einzelnen kann schon sagen, welche Lebensform seiner Überzeugung entspricht? Diesen Ansatz führt das Gericht aber einstweilen nicht weiter, sondern stellt unter Berufung auf den "Sinn dieser im Grundgesetz getroffenen Entscheidung" ohne weitere Begründung fest, daß sich die Glaubensfreiheit auch auf die Werbung für den eigenen Glauben und die Abwerbung von einem fremden Glauben erstrecke. 22 Bei dieser weiten Umschreibung des Schutzbereichs bleibt das Gericht jedoch nicht stehen. Vielmehr versucht es sogleich, der in Anbetracht einer solch weiten Schutzbereichsbestimmung bei einem schrankenlos verbürgten Grundrecht bestehenden Gefahr der Ausuferung zu einem "schrankenlos garantierten Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit" 23 entgegenzusteuern. Auf die Glaubensfreiheit könne sich nämlich nicht berufen, "w~r die Schranken übertritt, die die allgemeine Wertordnung des Grundgesetzes errichtet hat. Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat."24 Das Gericht bezeichnet die konkrete Abgrenzung als schwierig und fährt dann fort.: "Kann und darf der weltanschaulich neutrale Staat den Inhalt dieser Freiheit nicht näher bestimmen, weil er den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten darf, so soll jedenfalls der Mißbrauch dieser Freiheit verhindert werden. Aus dem Aufbau der grundrechtlichen Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergibt sich, daß Mißbrauch namentlich dann vorliegt, wenn die Würde der Person verletzt wird." 25 Einen derartigen Rechtsrnißbrauch sah das Gericht im konkreten Fall durch das Versprechen von Tabak für den Kirchenaustritt als gegeben an und wies daher die Verfassungsbeschwerde zurück. 21 BVerjG a.a.O. S. 3. 22 A.a.O. S. 4. 23 So etwa Starck in v. Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 1985,
RN 34 zu Art. 4 GG; vgl. oben Einführung. 24 BVerjG, a.a.O. 25 A.a.O.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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Aus diesen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich zwei Grundaussagen entnehmen: a) Das Gericht sieht sich an einer inhaltlichen, materiellen Bestimmung des Inhalts der Glaubensfreiheit durch das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (Verbot, Glauben oder Unglauben zu bewerten) gehindert. Zu der Frage, ob daraus zwingend eine am Selbstverständnis des Grundrechtsträgers orientierte Auslegung folgt, äußert sich das Gericht allerdings nicht. b) Der Gefahr einer Ausuferung und Konturenlosigkeit des Grundrechts der Glaubensfreiheit versucht das Gericht über immanente Grundrechtsschranken, die gleichsam als Notbremse dienen, zu begegnen. Wie weit allerdings diese Einschränkung über die sogenannte "KulturvölkerFormel" reichen soll, bleibt zunächst unklar (und in der Tat bestand zu allgemeinen Ausführungen zu dieser Frage auch kein Anlaß). So verwundert es nicht, daß diese Formel in der Folgezeit als Beleg für durchaus unterschiedliche Auffassungen herangezogen wurde und wird: Einige Autoren wollen daraus eine Beschränkung der Religionsfreiheit 26 auf das Überkommene, zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes Bekannte oder diesem doch zumindest Vergleichbare herleiten 21, andere sehen in dieser Formel lediglich einen ordre-public-Vorbehalt. 28 Letzteres dürfte der Intention des Bundesverfassungsgerichts weit eher entsprechen als die Beschränkung auf das Traditionelle, die unter den Gesichtspunkten der religiös-weltanschaulichen Neutralität und Parität wohl kaum haltbar wäre. 29 Für diese Interpretation spricht insbesondere, daß das Gericht entscheidend auf den Gedanken des Rechtsmißbrauchs abstellt, der auch in anderen Bereichen unserer Rechtsordnung in Ausnahmefällen zur Begrenzung an sich bestehender Rechtspositionen herangezogen wird. 30 Es zeigt sich also, daß das Grunddilemma, das auch die Thematik dieser Arbeit bestimmt, nämlich das zwischen der Unmöglichkeit inhaltlicher Definition der Religionsfreiheit und dem andererseits in irgendeiner Form erforderlichen staatli26 Seit BVerfGE 24, 236 (245 f.) differenziert das BVerjG nicht mehr scharf zwischen Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit, sondern geht von einem einheitlichen Grundrecht der Religionsfreiheit aus. 27 In diesm Sinne wohl Starck, a.a.O. (FN 23), RN 18 u. 34 zu Art. 4 GG; mit ähnlicher Tendenz BVerwG (Urt. v. 14.1 L 1980 - 8 C 12/79 - BVerwGE 61, 152 [160 f.]), wo unter Berufung auf die "Kulturvölker-Formel" erwogen wird, der Scientology-Kirche den Charakter eines "Bekenntnisses" i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 3 WPflG mit der Begründung abzusprechen, bei einer Gemeinschaft, die überwiegend auf private Gewinnerzielung für sich oder bevorzugte Mitglieder ausgerichtet sei, handle es sich nicht um ein Bekenntnis. 28 In diese Richtung wohl BVerwG, Urt. v. 23.3.1971 1 C 54/66 - BVerwGE 37, 344 (364). 29 Vgl. unten 5. Kap., IV.2.a). 30 Vgl. für das Zivilrecht Palandt-Heinrichs, 52. Aufl. 1993, RN 38 ff. zu § 242 BGB und für das strafrechtliche Notwehrrecht Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl. 1991, RN 18 zu § 32 StGB.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
chen Ordnungsvorbehalt bereits in der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Glaubensfreiheit offen zutage tritt. 2. Ähnlich knapp und ähnlich folgenschwer wie die Entscheidung im "TabakFall" war der sogenannte "Gemeindeteilungs-Beschluß", die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum staatlichen Rechtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten 3l , die den prägnanten Leitsatz trägt: "Öffentliche Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG umfaßt nicht rein innerkirchliche Maßnahmen." Eine evangelische Kirchengemeinde hatte gegen die Teilung der Gemeinde durch die Landeskirche sowie das die Beschwerde gegen diesen Teilungsbeschluß zurückweisende Urteil des kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Ergebnis (Verwerfung der Verfassungsbeschwerde als unzulässig) überrascht nicht. Handelte es sich doch evident um einen rein innerkirchlichen Organisationsakt, bzgl. dessen die Verletzung von (durch das staatliche Recht geschützten) Rechten der Beschwerdeführerin von vorneherein nicht in Betracht kam. Umso mehr Beachtung verdient die Begründung des Gerichts, die weit über den einzelnen Fall hinausreichende Grundsätze aufstellt. 32 Durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG LV. mit Art. 137 Abs. 3 WRV erkenne der Staat, so das Gericht, "die Kirchen als Institutionen mit dem Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten." 33 Der Staat dürfe daher nicht in ihre inneren Angelegenheiten eingreifen. Diese Anerkennung der Eigenständigkeit der Kirchen bedeutet den ersten Markstein dieser Entscheidung. Besagt sie doch nicht weniger als den endgültigen Abschied von der Korrelatentheorie der Weimarer Zeit. 34 Denn wenn die Kirchen ihre Gewalt nicht vom Staat herleiten, so sind damit eine besondere staatliche Kirchenhoheit oder ein staatliches Aufsichtsrecht über die Kirchen ihrer Grundlage beraubt. Aber weiter in der Begründung des Gerichts: Der Charakter als öffentlichrechtliche Körperschaften bedeute keine Modifizierung dieser Eigenständigkeit. Angesichts der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates bedeute diese Charakterisierung nämlich keine Gleichstellung mit anderen, in den Staat eingegliederten Verbänden, sondern lediglich die Zuerkennung eines öffentlichen Status ohne besondere Kirchenhoheit des Staates oder gesteigerte Staatsaufsicht (!). 3l BVerjG, Beschl. v. 17.2.1965 1 BvR 732/64 - BVerfGE 18,385; dazu Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, 1971, S. 383ff; kritisch Häberle, ZevKR 11 (1964/ 65), S. 395 ff.; Grundmann, JZ 1966, S. 81 ff.; v. Campenhausen, in: FS f. E. Ruppel, 1968, S. 262 ff. (272). 32 Vielleicht versperrte gerade die Selbstverständlichkeit des Ergebnisses den Blick auf die volle Tragweite der Begründung. 33 BVerjG, a.a.O. S. 386. 34 Dazu oben 1. Kap., I u. unten 2. Kap., I.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
33
Es folgt sodann die zentrale Formulierung: "Nur soweit die Kirchen vom Staat verliehene Befugnisse ausüben oder soweit ihre Maßnahmen den kirchlichen Bereich überschreiten oder in den staatlichen Bereich hineinreichen, betätigen die Kirchen mittelbar auch staatliche Gewalt mit der Folge, daß ihre Selbstbestimmung eine in der Sache begründete Einschränkung erfährt."35 Der erste Teil dieser Aussage ist noch unproblematisch: Mit den vom Staat verliehenen Befugnissen sind offensichtlich die sogenannten Korporationsrechte (Besteuerungsrecht 36, Organisationsgewalt, Dienstherrnfähigkeit, etc.) 37 gemeint. Wann aber überschreitet eine Maßnahme den kirchlichen Bereich? Oder wann reicht sie in den staatlichen Bereich hinein? Das Gericht versucht eine Konkretisierung: "Die Frage, ob eine Maßnahme dem innerkirchlichen Bereich zuzuordnen ist oder sich auf vom Staat verliehene Befugnisse gründet oder den staatlichen Bereich berührt, entscheidet sich - soweit nicht eine Vereinbarung zwischen Kirche und Staat erfolgt ist - danach, was materiell, der Natur der Sache oder Zweckbeziehung nach als eigene Angelegenheit der Kirche anzusehen ist. Ist die Kirche nur im Bereich ihrer innerkirchlichen Angelegenheiten tätig geworden, dann liegt kein Akt der öffentlichen Gewalt vor, gegen den der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gegeben sein könnte. Die von der Verfassung anerkannte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt würde geschmälert werden, wenn der Staat seinen Gerichten das Recht einräumen würde, innerkirchliche Maßnahmen, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Deshalb sind insoweit die Kirchen im Rahmen ihrer Selbstbestimmung an ,das für alle geltende Gesetz' im Sinne des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV nicht gebunden."38 Abschließend trifft das Gericht die Feststellung, daß die angefochtene Maßnahme im Bereich der Verfassung und Organisation der Kirche und damit im rein innerkirchlichen Bereich bleibe. An der zitierten Begründung fällt mehreres auf: a) Nach Auffassung des Gerichts kann die Frage der Abgrenzung von eigenen kirchlichen Angelegenheiten und sonstigen Angelegenheiten, also die Auslegung des Verfassungsbegriffs "ihre Angelegenheiten" (natürlich stets nur in Bezug auf einzelne Bereiche, nicht bezüglich des Verfassungsbegriffs als solchen) Ge35 BVerjG, a. a. O. S. 387. Diese Formel hat ihre Grundlage in der von Quaritsch. Der Staat 1 (1962), S. 175 ff. u. 289 ff. (295) begründeten sog. "Bereichsscheidungslehre" zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (vgl. unten 2. Kap., DA.). 36 Vgl. etwa BVerjG. Urt. v. 14.12.1965 - 1 BvR 329/63 - BVerfGE 19. 288 (289): "Da das Besteuerungsrecht den Kirchen vom Staat verliehen ist, gehört ein solcher (Steuer)Bescheid nicht zum innerkirchlichen Bereich." 37 Vgl. näher v. Campenhausen. Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1982, S. 129 ff.; H. Weber, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 108 ff. 38 BVerjGE 18, 385 (387). 3 lsak
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1. Teil: Bestandsaufnahme
genstand von vertraglichen Vereinbarungen zwischen Kirche und Staat sein. Die Konkretisierung dieses Verfassungsbegriffs ist also insoweit verhandlungsfähig und damit jedenfalls partiell auch der Einflußnahme durch das Selbstverständnis der kirchlichen Seite geöffnet. b) Das Gericht setzt eigene Angelegenheiten der Kirchen i.S. des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs.3 WRV mit rein innerkirchlichen Angelegenheiten gleich und definiert diese als solche, "die im staatlichen Zuständigkeitbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten." Dies ist nach dem Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 WRV keineswegs selbstverständlich. Dieser legt vielmehr die Deutung nahe, daß es gerade auch eigene Angelegenheiten gibt, die über den innerkirchlichen Bereich hinausragen und im staatlichen Bereich Rechtswirkungen erzeugen und eben deswegen den Schranken des für alle geltenden Gesetzes unterliegen. c) Noch mehr scheint der Wortlaut der Konsequenz zu widersprechen, die das Gericht aus dem eben Gesagten zieht: Da eigene Angelegenheiten nur rein innerkirchliche sind, kann es auch keine Bindung an das für alle geltende Gesetz geben. Der Wortlaut der Verfassungsnorm sagt aber gerade, daß bei der Ordnung und Verwaltung eigener Angelegenheiten eine solche Bindung besteht. Die Frage soll einstweilen (noch) nicht vertieft, sondern zunächst einmal nur aufgeworfen werden. Immerhin sei aber soviel schon gesagt: Die Konsequenz aus dieser Konzeption des Bundesverfassungsgerichts ist eine Alles-oder-Nichts-Lösung: Wenn eigene (= innerkirchliche) Angelegenheit, dann völlige Freiheit ohne jede Bindung; wenn hingegen keine rein innerkirchliche Angelegenheit, dann keinerlei Selbstbestimmung. d) Von zentraler Bedeutung für das Thema dieser Untersuchung ist aber das Kriterium, das das Gericht für die Abgrenzung von eigenen und anderen Angelegenheiten anbietet: Die Natur der Sache bzw. die Zweckbeziehung. 39 Die Frage drängt sich geradezu auf: Ist dieses Kriterium nicht darauf beschränkt, die ohnehin klaren, unstreitigen Fälle zu lösen? Versagt es nicht geradezu zwangsläufig dann, wenn es zu Streit über die Zuordnung kommt, weil schon das Vorhandensein unterschiedlicher Auffassungen zeigt, daß offenbar keine Zuordnung bereits in der Natur der Sache liegt?40 Und in der Tat zeigt ein Blick in die Rechtsprechung der Instanzgerichte, besonders zur Frage des Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, daß die Natur der Sache als Abgrenzungskriterium wenig hilfreich ist. Die oft monierte Unsicherheit der Gerichte in der Rechtsschutzproblematik 41 hat in der Unergiebigkeit des genannten Abgren-
39 So schon Mikat, in: Bettennann u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte IV /l, 1960, S. 111 ff. (182) unter Rückgriff auf Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, 1894, S. 284. 40 So etwa Hesse, HdbStKirchR I, 1974, S. 409 ff. (427); ähnl. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 81.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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zungskriteriums eine wesentliche Ursache. Vieles mutet nach reinem Dezisionismus an, was auf der Basis der ,Natur-der-Sache-Formel' aber nicht weiter verwundert. Auf die Rechtsprechung der Instanzgerichte wie auf die Rechtsschutzproblematik im allgemeinen wird noch einzugehen sein. 42 Festzuhalten bleibt: Auch die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht offenbart - wie schon jene zur Glaubensfreiheit - das Dilemma zwischen fehlender Bestimmbarkeit des Schutzgegenstandes und notwendigem staatlichem Ordnungsvorbehalt. Diesmal tritt es bei der Frage nach dem staatlichen Rechtsschutz im kirchlichen Bereich, ja allgemeiner bei der Frage nach dem Umfang der eigenen kirchlichen Angelegenheiten, zutage. Eine Orientierung in Richtung einer am Selbstverständnis orientierten Auslegung ist jedoch noch nicht zu erkennen. 3. Ebenfalls einem objektiven Auslegungsansatz verhaftet zeigt sich das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Umsatzsteuerpjlicht der Wachtturm-Gesellschaft43, wo es lapidar feststellt, der Verkauf von Speisen und Getränken sowie die Vermietung von Unterkünften seien nicht selbst Gegenstand der Religionsausübung, mögen sie ihr auch mittelbar dienen. 44 Dies ist im Ergebnis sicher richtig. An anderer Stelle befaßt sich das Gericht dann aber doch mit dem Selbstverständnis der Beschwerdeführerin. Diese hatte nämlich geltend gemacht, es widerspreche ihrem Glaubensverständnis, bei einer weltlichen Instanz um die Verleihung eines Status nachzusuchen, der ihr Rechte gewähre, welche die christliche Versammlung seit ihrem Beginn von Gott verliehen erhalten habe. Dem hält das Gericht entgegen, die Beschwerdeführerin habe sich im Jahre 1921 vom Reichsrat ausdrücklich den Status eines eingetragenen Vereins anerkennen lassen. Aus dieser - die Entscheidung nicht tragenden - Erwägung läßt sich folgendes entnehmen: Will sich die Beschwerdeführerin auf ihr Selbstverständnis berufen, so genügt nicht, daß sie ein solches Selbstverständnis behauptet. Sie muß erforderlichenfalls beweisen, daß ihr Vortrag wirklich mit ihrem Selbstverständnis übereinstimmt. Dies unterliegt der freien BeweiswÜfdigung des Gerichts.
4. Seine "bundesverfassungsgerichtliehe Weihe"45 als selbständiges Argumentationselement erhielt das Selbstverständnis dann aber in der sogenannten 41 Vgl. dazu grundlegend v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 198 ff. u. AöR 112 (1987), S. 623 ff. sowie aus neuerer Zeit H. Weber, NJW 1989, S. 2217 ff., Sachs, DVBl. 1989, S. 487 ff.; Steiner, NVwZ 1989, S. 410 ff.; Kästner, Staatliche lustizhoheit und religiöse Freiheit, 1991.
42 Unten III.B.1. u. D.1. sowie 7. Kap., 11.9. 43 BVerjG, Beschl. v. 4.10.1965 - 1 BvR 498/62 - BVerfGE 19, 129 m. Anm. Häberle, DVBl. 1966, S. 216 ff. 44 A.a.O. S. 133. 45 So Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 22. 3"
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1. Teil: Bestandsaufnahme
"Lumpensammler-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts 46 , welche die kollektivrechtliche Seite des Grundrechts auf freie Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG betraf. 47
Eine in der Form eines nichtrechtsfahigen Vereins organisierte Vereinigung katholischer ländlicher Jugend hatte Anfang 1965 im gesamten Bundesgebiet eine "Aktion Rumpelkammer" veranstaltet, bei der Altkleider und Altpapier gesammelt worden waren, um mit dem Erlös die Landjugend in Entwicklungsländern zu unterstützen. Die einzelnen Aktionen waren unter anderem durch Kanzelabkündigungen in den katholischen Kirchen bekanntgemacht worden. Auf die Klage eines Altmaterialhändlers hatte das Landgericht Düsseldorf48 die Kanzelwerbung unter Verweis auf § 1 UWG untersagt. Die Sittenwidrigkeit liege darin, daß die katholische Kirche und damit eine wettbewerbsfremde Autorität, auf deren Empfehlungen die Umworbenen gewöhnlich zu hören pflegten, für die Werbung eingespannt worden sei. Dieses Urteil hob das Bundesverfassungsgericht in dem erwähnten Beschluß auf die Verfassungsbeschwerde der Landjugend hin auf, wobei es offenließ, ob das Landgericht zu Recht das Wettbewerbsrecht auf die Sammlung der Beschwerdeführerin angewandt hatte, da es jedenfalls bei der Auslegung des Begriffs der Sittenwidrigkeit die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 2 GG verkannt habe. 49 Dabei stellte sich zunächst die Frage, ob sich die Landjugend überhaupt auf das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 2 GG berufen konnte. Das Gericht hat dies bejaht 50: Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 stehe nicht nur Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu, sondern auch Vereinigungen, "die sich nicht die allseitige, sondern nur die partielle Pflege des religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben." Voraussetzung sei aber, daß "der Zweck der Vereinigung gerade auf die Erreichung eines solchen Zieles gerichtet" sei. Dies gette nicht nur für organisatorisch oder institutionell mit den Kirchen verbundene Vereinigungen wie kirchliche Orden, sondern auch für andere selbständige oder unselbständige Vereinigungen, "soweit ihr Zweck die Förderung oder Pflege eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder" sei. Maßstab für das Vorliegen dieser Voraussetzungen könne "das Ausmaß der organisatorischen Verbindung mit einer Religionsgemeinschaft oder die Art der mit der Vereinigung verfolgten Ziele 46 BVerJq, Beschl. v. 16.10.1968 1 BvR 241/66 - BVerfGE 24, 236; vgl. dazu Häberle, DOV 1969, S. 385 ff.; Schneider, NJW 1969, S. 1342 f.; Listl, Das Grundrecht
der Religionsfreiheit, 1971, S. 358 ff. 47 Vgl. zu dieser Entscheidung auch das Rechtsgutachten von Scheuner, in: Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 55 ff. 48 LG Düsseldorf, Urt. v. 16.3.1966 - llb S 215/65 - NJW 1966,2219. 49 BVerjG, a.a.O. S. 244f. 50 A.a.O. S. 246 f.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
37
sein." Im konkreten Fall bejaht das Gericht eine institutionelle Verbindung mit der katholischen Kirche mit Blick auf den Einfluß der verfaßten Kirche auf Satzung und Führung der Landjugend sowie auf die Zielsetzung, die eine solche des kirchlichen Bereichs sei. Diese Frage nach der Zuordnung einer rechtlich selbständigen Vereinigung zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft und damit nach der Trägerschaft des kollektiven Grundrechts aus Art. 4 GG beurteilt das Gericht also (noch) nach objektiven Kriterien. Das Selbstverständnis spielt hier noch keine Rolle (natürlich kann die Frage nach der religiösen Zielsetzung einer Vereinigung nicht ohne Rückgriff auf deren Selbstverständnis bzw. ihren Satzungszweck beantwortet werden; dabei spielt aber zunächst einmal deren Selbstverständnis und nicht das der Kirchen oder Religionsgemeinschaften eine Rolle). Hingegen kommt das Selbstverständnis bei der Beantwortung der Frage zum Tragen, ob die von der Beschwerdeführerin durchgeführte "Aktion Rumpelkammer" und die Kanzelwerbung hierfür Religionsausübung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 GG sind: Das Gericht stellt zunächst fest, der Begriff "Religionsausübung" müsse wegen seiner zentralen Bedeutung für jeden Glauben und jedes Bekenntnis gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden. 51 Im weiteren Gang der Begründung wird dann die Zugehörigkeit einer aus religiös-caritativen Motiven veranstalteten Sammlung und der Kanzelwerbung zur derart weit verstandenen Religionsausübung bejaht. Denn: "Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben. Zwar hat der religiös neutrale Staat grundSätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren ... Wo aber in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetzt, würde der Staat die den Kirchen, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit und ihre Selbständigkeit in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde." 52 Mehrerlei fällt auf: a) Grundsätzlich geht das Bundesveifassungsgerichtvon einer objektiven Auslegung von Verfassungsbegriffen aus. Die Berücksichtigung des Selbstverständnisses bei der Auslegung des Begriffs "Religionsausübung" betrachtet es als Ausnahme, die durch die spezielle Problematik des konkreten Regelungsbereichs ,Religion' begründet ist. 51 52
A.a.O. S. 246. A. a. o. S. 247 f.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
b) Die Feststellung, die Kultusfreiheit setze das religiöse Selbstverständnis voraus, ist nichts anderes als das Eingeständnis, daß es einen objektiven, von einem religiös-weltanschaulich neutralen Standpunkt aus definierbaren Inhalt der Kultusfreiheit 53 nicht gibt. Der Schritt zu der oben 54 zitierten These Hamanns ("Was zur Religionsausübung gehört, bestimmen die in Betracht kommenden Religionsgemeinschaften [Kirchen usw.] selbst.") scheint nicht mehr weit. c) Diesen Schritt geht das Gericht aber einstweilen noch nicht. Den Grad an Verbindlichkeit, der dem kirchlichen Selbstverständnis zukommen soll, läßt es offen. Vielmehr zieht es sich auf den vagen Begriff der "Berücksichtigung" des Selbstverständnisses zurück. Und dementsprechend fallt auch die weitere Begründung aus: Einerseits stellt das Gericht unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil und die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland fest, daß beide christlichen Großkirchen die tätige Nächstenliebe als kirchliche Grundfunktion betrachteten. 55 Allerdings sei eine Sammlung nur dann christliche Liebestätigkeit und damit Religionsausübung, wenn die Hergabe der Sachen unentgeltlich sei und einer religiösen Haltung der Spender entspringe. Auch das folge aus dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen. 56 Neben diese am Selbstverständnis orientierte Begründung tritt aber eine zweite: Die Staatspraxis nach dem zweiten Weltkrieg habe die caritative Tätigkeit in Konkordaten und Kirchenverträgen stets als legitimes Anliegen der Kirchen anerkannt. 57 Hier bringt das Bundesverfassungsgericht also jenen objektiven, "amtlichen"58 Auslegungsansatz zur Geltung, dessen grundsätzliche Notwendigkeit es zuvor betont hatte. d) Das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates spielt im Rahmen der Begründung des Bundesverfassungsgerichts eine durchaus ambivalente Rolle: Einerseits ist es nämlich dieses Gebot, das grundsätzlich eine objektive Auslegung von Verfassungsbegriffen (und Rechtsbegriffen überhaupt) ohne Rücksicht auf bekenntnismäßige Besonderheiten gebietet, andererseits verbietet es aber gerade eine solche objektive Bestimmung des Begriffs "Religionsausübung". Auch hier begegnet uns also erneut die schon mehrfach angesprochene Grundproblematik von Notwendigkeit und Unvermögen staatlicher Festlegung und Begrenzung der Religionsfreiheit. Die bleibende Bedeutung der "Lumpensammler-Entscheidung" aber liegt darin, daß sie die Tür zur selbstverständnisorientierten Auslegung aufgestoßen hat. Wie weit, daß mußte sich allerdings erst noch zeigen.
53 Das Gericht verwendet den Begriff "Kultusfreiheit" als Synonym für "Religionsausübungsfreiheit" . 54 Einführung. 55 Aa.O. S. 248. 56 Aa.O. S. 249. 57 Aa.O. S. 248. 58 Zu diesem Begriff vgl. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 17.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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5. In seiner Entscheidung zur Kirchenmitgliedschaft59 kam das Gericht hinsichtlich der Zuordnung des Mitgliedschaftsrechts zum Bereich der eigenen kirchlichen Angelegenheiten allerdings ohne Rückgriff auf das Selbstverständnis aus. Dem Gebot staatlicher Neutralität im kirchlichen Bereich entspreche es nämlich, daß der Staat nicht bestimmen dürfe, wer einer Kirche angehöre. 60 Allerdings dürfe das Kirchensteuerrecht nicht an eine kirchliche Mitgliedschaftsregelung anknüpfen, die Grundrechte des Beschwerdeführers verletze 61 , da das Besteuerungsrecht ein vom Staat abgeleitetes Recht sei. Bei einer Anknüpfung an Taufe und Wohnsitz sei ein Grundrechtsverstoß aber nicht gegeben. 62 Der Rückgriff auf das kirchliche Selbstverständnis erfolgt aber gleichsam eine Stufe tiefer: Der Beschwerdeführer war nämlich nach seiner Taufe aus dem Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate in den Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche Schleswig-Holsteins umgezogen. 63 Angesichts der landeskirchlichen Struktur der Evangelischen Kirche in Deutschland stellte sich demnach die Frage nach der Bekenntnisidentität dieser beiden Landeskirchen. 64 Im Unterschied zu manchen Instanzgerichten, die zu vergleichbaren Fragen lange theologische Abhandlungen verfaßten und unter Zuhilfenahme von theologischem Schrifttum selbst (meist mit sehr zweifelhaftem Erfolg) versuchten, die Frage der Bekenntnisidentität zu klären 65 ging das Bundesverfassungsgericht einen ebenso einfachen wie sicheren Weg: Es fragte beide Landeskirchen. Ergebnis: "Nach übereinstimmenden Erklärungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche Schleswig-Holsteins und der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate besteht zwischen ihnen Bekenntnisidentität. Durch die Aufnahme des Beschwerdeführers in die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schleswig-Holsteins nach seinem Wohnsitzwechsel ist deshalb eine Änderung in konfessioneller Beziehung nicht eingetreten."66 Der Rückgriff auf das kirchliche Selbstverständnis in diesem Punkt gehört allerdings nicht in den unmittelbaren 59 BVerjG, Beschl. v. 31.3.1971-1 BvR 744/67 -BVerfGE 30, 415; bestätigend BVerjG (Vorprüfungsausschuß des 1. Senats), Beschl. v. 30.11.1983 - 1 BvR 1016/ 83 - NJW 1984,969. 60 BVerfGE 30,415 (422). 61 Insofern unrichtig BVerwG, Urt. v. 9.7.1965 7 C 16/62 - BVerwGE 21, 330 u. VG Frankfurt, Urt. v. 12.8.1982 - 1/3 E 739/81 - KirchE 20, 97 (beide zur Mitgliedschaft in einer jüdischen Kultusgemeinde); krit. dazu auch v. Campenhausen, HdbStKirchR I, 1974, S. 645 ff. (650 f.). 62 BVerjG, a.a.O. S. 423. 63 Zu dabei auftretenden Problemem vgl. auch v. Campenhausen, HdbStKirchR I, 1974, S. 635 ff. (641 ff.). 64 Vgl. jetzt aber das Mitgliedschaftsgesetz der EKD v. 10.11.1976, ABlEKD 1976, S. 389 u. dazu Obermayer, NVwZ 1985, S. 77 ff. sowie bereits Wendt, ZevKR 16 (1971), S. 23 ff. Zur Rechtslage beim Zuzug aus dem Ausland vgl. jetzt BVerwG, Urt. v. 12.4.1991 - 8 C 62/88 - NVwZ 1992,66 u. Engelhardt, NVwZ 1992, S. 239 ff. 65 So etwa der VGH Mannheim, Urt. v. 31.3.1959 3 K 9/58 - ZevKR 8 (1961/ 62),404. 66 BVerjG, a.a.O. S. 425.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
Zusammenhang der Beachtung des Selbstverständnisses bei der Definition der Freiheitsrechte: Er ist erst die Konsequenz aus der Zuordnung eines Regelungsbereichs zu diesen Freiheitsrechten. Wenn nämlich - und das ist seit jeher unbestritten - nur die Kirchen selbst bestimmen können, was ihr Bekenntnis ist, dann können auch nur sie selbst sagen, ob ihr Bekenntnis identisch ist. Mehr Beachtung verdient das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts daher für die Frage nach der Feststellung des Selbstverständnisses: Das Gericht behandelt dieses nicht als Rechts- sondern als Tatsachenfrage und klärt sie durch Einholung von Auskünften bei den kirchenrechtlich maßgeblichen Stellen der verfaßten Kirche. 6. Die nächste im vorliegenden Zusammenhang interessante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft - wie schon die erste - den Bereich der individuellen Glaubensfreiheit. 67 Diese Entscheidung im sogenannten "EidesFall" 68 wird gar als potentieller Ausgangspunkt für eine ,,Revolution des Grundrechtsverständnisses" bezeichnet. 69 Worum ging es? Ein evangelischer Pfarrer hatte sich unter Berufung auf Matthäus 5, 33-37 70 geweigert, in einem Strafprozeß den vorgeschriebenen Zeugeneid zu leisten und war daraufhin zu einer Ordnungsstrafe verurteilt worden. Ferner waren ihm die durch die Eidesverweigerung entstandenen Kosten auferlegt worden. Das Bundesverfassungsgericht sah darin eine Verletzung der Glaubensfreiheit. Zwar, so das Gericht, sei der ohne Anrufung Gottes geleistete Zeugeneid ,,nach der Wertordnung des Grundgesetzes eine rein weltliche Bekräftigung der Wahrheit einer Aussage ohne religiösen oder in anderer Weise transzendenten Bezug." 71 Da es dem Staat aber verwehrt sei, Glaubensüberzeugungen zu bewerten 72, schütze das Grundrecht der Glaubensfreiheit auch die individuelle "Glaubensüberzeugung, die sich dieser Wertung der Verfassung (fehlender Transzendenzbe67
nats.
Sie ist gleichzeitig die erste staatskirchenrechtliche Entscheidung des zweiten Se-
68 BVeljG, Beschl. v. 11.4.1972 - 2 BvR 75/71-BVerfGE 33, 23 m. abw. Ansicht v. Schlabrendorjf ebenda S. 35 ff. 69 So lsensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 7. 70 "Thr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was Du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen." Zitiert nach der Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980. 71 BVeljGE a.a.O. S. 26. 72 Das tut aber v. Schlabrendorjf (a. a. O. S. 37), der die Auffassung vertritt, eine offensichtliche Fehlinterpretation der Bibel durch einen Staatsbürger, der sich zum christlichen Glauben bekenne, habe keinen Anspruch auf Schutz durch Art. 4 GG; eine bloße Fehlinterpretation sei nämlich kein Glaubensakt. Krit. dazu Starck, JZ 1972, S. 533 f.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
41
zug des Eides)13 verschließt und den heutigen Eid auch in seiner nicht religiösen Form weiterhin als eine religiös bezogene und nach dem Wortlaut der Bergpredigt von Gott verbotene Handlung ansieht."74 Diese Glaubensüberzeugung finde ferner eine "gewisse Stütze" im Wortlaut der Bibel und werde auch von einer neueren Richtung der Theologie vertreten. "Schon deshalb kann sie im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 GG nicht unberücksichtigt bleiben."75 Bei näherer Betrachtung stellt sich die Frage, ob die Entscheidung wirklich so revolutionär ist, wie Isensee 76 meint: a) Zunächst: Daß das Bundesveifassungsgericht die Überzeugung des Einzelnen hinsichtlich des Verbots des Eides respektiert, erscheint lediglich als Konsequenz des bereits in BVerfGE 12,1 aufgestellten Grundsatzes, wonach Art. 4 GG dem Einzelnen einen Rechtsraum gewährleiste, "in dem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner (religiösen)77 Überzeugung entspricht."78 Mit dieser Überzeugung des Beschwerdeführers ließ sich die Eidesleistung schlicht nicht vereinbaren. b) Isensee 79 sieht das Revolutionäre an dieser Entscheidung darin, daß das Gericht seine eigene, in objektiver Normauslegung gewonnene Qualifikation des Eides zurückziehe gegenüber der abweichenden, subjektiven Qualifikation des Einzelnen kraft seiner religiösen Überzeugung. Diese Sicht erscheint etwas verzerrt: Der weltliche Eid wird ja durch die Überzeugung des Beschwerdeführers nicht plötzlich zu einem religiösen. Vielmehr nimmt das Gericht (lediglich) die Überzeugung ernst, das biblische Eidesverbot beziehe sich auf jegliche Eidesleistung, egal wie die weltliche Rechtsordnung sie qualifiziert. 80 Die Alternative hätte darin bestanden, diese Überzeugung des Beschwerdeführers schlicht zu ignorieren oder aber zu prüfen, ob immanente Grundrechtsschranken der Respektierung der Glaubensüberzeugung des Beschwerdeführers entgegenstehen, was das Gericht verneint. 81 c) Die Entscheidung paßt insofern (trotz ihres unbestreitbar subjektiven Einschlags) nicht ganz in den vorliegenden Zusammenhang, als die Frage nach dem Inhalt des Grundrechts der Glaubensfreiheit gar nicht gestellt wird. 82 Das Gericht 73 Einfügung vom Verf. 74 A.a.O. S.28. Das Gericht hat diesen Ansatz bestätigt in BVerfG. Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 - NJW 1989, 827 (dazu Maurer. JZ 1989, S. 294 f.). 75 A.a.O. S. 30. 76 Oben FN 69. 77 Einfügung vom Verf. 78 Ausdrücklich in Bezug genommen a. a. O. S. 28. 79 A.a.O. (FN 69), S. 9. 80 So ausdrücklich BVerfG. a. a. O. S. 28. Insofern besteht eine Parallele zum sogenannten "Gesundbeter-Fall": BVerfG. Besch!. v. 19.10.1971 - 1 BvR 387/65 - BVerfGE 32,98.
81 A. a. O. S. 30 ff.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
geht vielmehr selbstverständlich davon aus, daß es sich bei der Überzeugung des Beschwerdeführers um eine solche handelt, die unter den Begriff "Glauben" zu subsumieren ist. Für eine Revolution des Grundrechtsverständnisses taugt die Entscheidung demnach schwerlich. d) Schließlich stellt sich die Frage nach dem Sinn des Hinweises auf die "gewisse Stütze" im Wortlaut der Bibel und in der neueren Theologie. Isensee 83 sieht darin eine Reverenz an das biblisch fundierte Christentum und eine Richtung der neueren Theologie. Eine solche Intention des Gerichts wäre allerdings überraschend, nachdem es doch zuvor gerade den Schutz auch der Glaubensüberzeugung betont hatte, die von der kirchlichen Lehre abweicht. Näherliegend erscheint, daß diese Erwägungen eine gewisse Plausibilitätsprüfung dahingehend bedeuten sollen, ob tatsächlich eine Glaubensüberzeugung des Beschwerdeführers und nicht nur eine vorgeschobene Begründung vorliegt. 7. Auf einer ähnlichen Linie wie BVerfGE 33,23 bewegt sich die Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten "KruzijixFall".84 Dort hatten es ein jüdischer Rechtsanwalt und seine jüdische Mandantin als Verstoß gegen ihr Grundrecht aus Art. 4 GG angesehen, in einem Gerichtssaal verhandeln zu müssen, der mit einem Kruzifix ausgestattet war. Im Gegensatz zum Oberlandesgericht Nürnberg 85 und zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof86 sah das Bundesverfassungsgericht darin in der Tat einen Verstoß gegen das Grundrecht der Glaubensfreiheit. Dabei ließ es offen, ob die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kruzifixen schon gegen das aus dem Prinzip religiösweltanschaulicher Neutralität folgende Gebot der Nichtidentifikation des Staates mit bestimmten religösen oder weltanschaulichen Vereinigungen verstoße. 87 Zwar sei das Maß einer möglicherweise vorhandenen Identifikation mit spezifisch christlichen Anschauungen nicht derart, "daß die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in einem entsprechend ausgestatteten Gerichtssaal von andersdenkenden Parteien, Prozeßvertretem oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird." Denn es werde von ihnen keine eigene Identifizierung mit dem christlichen Symbol erwartet. 88 Das Gericht fährt dann aber fort: "Dennoch muß anerkannt werden, daß sich einzelne Prozeßbeteiligte durch den unausweichlichen Zwang, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugengen, ,unter dem Kreuz' einen Rechtsstreit führen und die als Identifikation empfundene Ausstattung in einem rein weltlichen Lebensbereich tolerieren zu müssen, in ihrem 82 Diese Frage stellt nur v. Schlabrendorff (a. a. O. S. 36 f.)., der allerdings das Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität dabei außer Acht läßt. 83 A.a.O. (FN 69), S. 9 FN.4 84 BVerjG, Beschl. v. 17.7.1973 1 BvR 308/69 - BVerfGE 35, 366. Vgl. dazu jetzt auch Renck, JuS 1989, S. 451 ff. 85 OLG Nürnberg, Beschl. v. 14.7.1966 1 W 37/66 - NJW 1966, 1926. 86 BayVerfGH, Entsch. v. 10.5.1967 Vf. 94-VI-66 - BayVGHE 20 11, 87. 87 BVerjG a.a.O. S. 374 f. 88 A.a.O. S. 375.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
43
Grundrecht aus Art. 4 GG verletzt fühlen können."89 Insoweit liegt die Begründung ganz auf der Linie von BVerfGE 33, 23. Interessant ist aber eine weitere Bemerkung des Gerichts: Die Beschwerdeführer hätten dargelegt, daß ein Zwang zu einer derartigen Verhandlung für sie eine innere unzumutbare Belastung darstelle und dafür "ernstliche, einsehbare Erwägungen vorgetragen."90. Ganz offensichtlich begnügt sich das Gericht also nicht mit der bloßen Behauptung einer entsprechenden Glaubensüberzeugung, sondern verlangt (zumindest), daß diese plausibel, glaubhaft 91 gemacht wird. Auch auf diese Erwägungen wird noch zurückzukommen sein. Mit einer ähnlichen Problematik, nämlich der Zulässigkeit von Kreuzen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen dürfte sich das Bundesverfassungsgericht übrigens in absehbarer Zeit ebenfalls zu beschäftigen haben. 92 8. In der Folgezeit hatte sich das Bundesvefassungsgericht in erster Linie mit Fragen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts auseinanderzusetzen. Die erste in der Reihe dieser Entscheidungen war diejenige zum sogenannten "Bremer Pastoren-Fall".93 In dieser Entscheidung ging es um die Zulässigkeit einer Regelung der Bremischen Evangelischen Kirche, wonach pfarrer oder Kirchenbeamte im Falle ihrer Wahl in ein Parlament des Bundes oder Landes für den Zeitraum der Dauer dieses Mandats als beurlaubt galten. Der Bremische StaatsgerichtshoP4 hatte diese kirchengesetzliche Regelung wegen Verstoßes gegen das Verbot der Abgeordnetenbehinderung (Art. 48 Abs. 2 GG) für unzulässig erachtet. Zwar sei, so der Staatsgerichtshof, die Regelung des Dienstrechts der Kirchenbeamten eine eigene Angelegenheit der Kirche. Eine solche eigene Angelegenheit sei aber nicht zwingend eine innerkirchliche. Vielmehr gebe es auch eigene Angelegenheiten, die Wirkungen im staatlichen Rechtskreis entfalteten (insoweit weicht der Staatsgerichtshof von BVerfGE 18, 385 95 ab). In diesem Fall sei eine Bindung an die für alle geltenden Gesetze gegeben. Dies seien solche, "die zwingenden Erfordernissen friedlichen Zusammenlebens 89 A.a.O. S. 375 f. 90 A. a. 0. S. 376. 91 Dieser Begriff soll hier zunächst untechnisch, also nicht im Sinne von § 294 ZPO, gebraucht werden. 92 Ein Antrag auf Erlaß einer eintweiligen Anordnung gegen die Ausstattung der Schulräume mit Kreuzen wurde abgelehnt: BVeifG, Beschl. v. 5.11.1991 - 1 BvR 1087/91-NVwZ 1992,52. DerVGH München (BeschI. v. 3.6.1991-7 CE 91.1014 - NVwZ 1991, 1099) hält Kreuze in Unterrichtsräumen für zulässig und begründet dies mit der positiven Religionsfreiheit gläubiger Schüler, den Bildungszielen der Bayerisehen Verfassung (u. a. ,,Ehrfurcht vor Gott"), sowie damit, daß derartige Kreuze von keinem Schüler eine IdentifIkation mit dem christlichen Glauben verlange. 93 BVeifG, Beschl. v. 21.9.1976 - 2 BvR 350/75 - BVerfGE 42,312. 94 StGH Bremen, Entsch. v. 15.1.1975 - St 3/1973 - NJW 1975, 635; dazu krit. v. Campenhausen (Prozeßbevollmächtigter der kirchlichen Seite im Verfassungsbeschwerdeverfahren), JZ 1975, S. 349 ff. 95 S. oben 11.2.
1. Teil: Bestandsaufnahme
44
von Staat und Kirche in einem religiös und weltanschaulich neutralen politischen Gemeinwesen entsprechen"96, also "zumindest diejenigen Normen, die sich als Ausprägungen und Regelungen grundsätzlicher, für unseren Rechtsstaat unabdingbarer Postulate darstellen."97 Eine solche Norm sei mit Art. 48 Abs. 2 GG gegeben, weshalb eine Abwägung zwischen dieser Norm und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht erforderlich sei. Diese Abwägung fällt nach Ansicht des Staatsgerichtshofs zugunsten der beschränkenden Norm aus, wobei unter Bezugnahme auf die Regelung in anderen Gliedkirchen der EKD, kirchliche Literatur und die Begründung zum Bremischen Kirchengesetz (also das kirchliche Selbstverständnis) betont wird, daß die Inkompatibilitätsregelung nicht auf Gründen des Glaubens, sondern auf der sachlichen Erwägung der physischen und zeitlichen Erschwerung der Kirchenamtsausübung beruhe. Demgegenüber geltend gemachte seelsorgerliehe Gründe könnten, so der Staatsgerichtshof, nicht überzeugen. Hier liegt, was auch das Bundesverfassungsgericht betont (s. unten) der entscheidende Fehler des Staatsgerichtshofs: Er ist nämlich für die Bewertung pastoraler Erfordernisse nicht kompetent. Das Bundesverfassungsgericht 98 hob diese Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs wegen Verstoßes gegen Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRVauf. Das Gericht faßt seine Begründung dabei wie folgt zusammen: ,,§ 1 BremKG regelt also eine innere Angelegenheit der Kirche, die jedenfalls keine unmittelbare Rechtswirkung - allenfalls eine mittelbare faktische Wirkung - im staatlichen Zuständigkeitsbereich entfaltet. Ihr steht also eine Schranke des für alle geltenden Gesetzes nicht entgegen."99 Schon anhand dieser zusammenfassenden Stellungnahme wird deutlich, daß das Gericht an seiner in BVerfGE 18,385 entwickelten grundsätzlichen Konzeption zu Art. 137 Abs. 3 WRV trotz der teilweise abweichenden Erwägungen des Bremischen Staatsgerichtshofs festhält. Und in der Tat: Nach einer weit ausholenden Darstellung des Grundverhältnisses von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz 100 kommt das Gericht wörtlich auf seine Erwägungen aus BVerfGE 18, 385 (386 f.) zurück lOl , konkretisiert diese aber nach zwei Richtungen: Zum einen: Eine Regelung, die keine unmittelbaren Rechtswirkungen im staatlichen Zuständigkeitsbereich habe, bleibe auch dann eine innere kirchliche Angelegenheit (im Sinne von BVerfGE 18, 385 [387]) 102, 96 Diese Formel geht zurück auf Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965, S. 122 und ders., Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 57 ff. (62). 97 Dies im Anschluß an BGH, Urt. v. 17.12.1956 - III ZR 89/56 - BGHZ 22, 383 (387).
98 BVerfGE 42, 312. 99 A. a. O. S. 338. 100
101 102
A. a. O. S. 330 ff. A. a. o. S. 334.
Einfügung vom Verf.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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wenn sie dorthin mittelbare Auswirkungen habe. Es gebe nämlich, so stellt das Gericht zutreffend fest, kaum eine Angelegenheit, die die Kirchen nach ihrem Selbstverständnis eigenständig zu ordnen berufen seien, die nicht auch einen gesellschaftspolitischen Aspekt habe. 103 Zweifel daran, ob auf der Basis dieser Feststellung die vom Bremischen StaatsgerichtshoJfavorisierte Abwägung zwischen kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und beschränkender Norm der ,Allesoder-Nichts-Lösung' aus BVerfGE 18, 385 104 nicht vorzuziehen wäre, kommen dem Gericht aber offenbar nicht. Und die zweite Präzisierung: Es gebe elementare Teile der kirchlichen Ordnung (die "inneren Angelegenheiten") lOS, für die der Staat nicht imstande sei, Schranken in Gestalt von allgemeinen Gesetzen aufzurichten. "Zu den ,für alle geltenden Gesetzen' können nur solche rechnen, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für den Jedermann. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke." 106 Nimmt man diese Formel ernst, so gewinnt das kirchliche Selbstverständnis eine völlig neue, im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung weitergehende Bedeutung: War es nämlich bisher bei der Bestimmung des Schutzbereichs von Freiheitsrechten zu berücksichtigen, so soll es nunmehr auf der Ebene der Schranken relevant sein, der Ebene also, auf der sich typischerweise der staatliche Ordnungsvorbehalt Geltung verschafft: Auf der Basis der "Jedermann-Formel" wäre es nämlich in die Letztentscheidung der Kirchen und Religionsgemeinschaften gestellt, ob ein Gesetz das kirchliche Selbstbestimmungsrecht beschränken kann oder nicht. Denn nur die Kirchen können sagen, ob ihr Selbstverständnis betroffen wird. 107 Einschränkend ist aber folgendes anzumerken: Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet auf der Basis seiner Konzeption nicht klar zwischen der Bestimmung der eigenen kirchlichen Angelegenheiten und der Prüfung der Schranken des für alle geltenden Gesetzes: Liegt nämlich eine "innerkirchliche" Angelegenheit vor, so gibt es keine Schranke - und gibt es keine Schranke, so liegt eine innerkirchliche Angelegenheit vor. Insoweit gewinnt auch die "Jedermann-Formel" ihre eigentliche Bedeutung bei der Bestimmung des Schutzbereichs: Immer dann, so könnte man die Formel auch umschreiben, wenn eine Bindung an das für alle geltende Gesetz das kirchliche Selbstverständnis beschränken würde, liegt eine innerkirchliche Angelegenheit vor, für die es keine derartige Bindung gibt. Auch in dieser A.a.O. S. 334f. Dazu oben 11.2.. 105 Einfügung vom Verf. 106 A. a. O. S. 334. 107 So auch Schlaich (JZ 1980, S. 209 ff. [214]), der die Formel als "einen neuen Höhepunkt der Freistellung der Kirche vom staatlichen Recht" bezeichnet. Die mangelnde Praktikabilität der Formel belegt anschaulich Leisner, Essener Gespräche 17 (1983), S. 9 ff. (15). 103
104
1. Teil: Bestandsaufnahme
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Sicht ist die "Jedennann-Fonnel" natürlich von erheblicher Sprengkraft: Denn sie überläßt den Kirchen die Bestimmung des Umfangs der inneren Angelegenheiten, hinsichtlich derer dann keine Beschränkung mehr möglich ist. Auch hieran zeigt sich wieder die Fragwürdigkeit der Konzeption aus BVerfGE 18, 385. Im vorliegenden Fall zieht das Gericht aus der ,,Jedennann-Fonnel" den Schluß, daß eine Beschränkung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht in Betracht komme. Es gehe nämlich, so das Gericht mit Nachweisen aus dem evangelisch-theologischen Schrifttum, um einen für die Kirche ganz zentralen Sachverhalt, um die rechtliche Folgerung aus dem Verständnis vom kirchlichen Amt, weshalb die Kirche durch eine Regelung im staatlichen Recht nicht wie der Jedennann betroffen werde. 108 Dabei erteilt das Gericht der Überprüfung und Bewertung der pastoralen Erfordernisse durch den Bremischen Staatsgerichtshof eine deutliche Absage, wenn es ausführt: ,,Es kommt vor allem nicht darauf an, ob dem Gericht einleuchtet, daß die Kirche um ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubwürdigkeit ihrer Diener willen die gleichzeitige Wahrnehmung von Pfarr- und Abgeordnetenmandat ausschließt; es kommt nur darauf an, daß die Kirche diese Regelung als von ihrem Selbstverständnis gefordert für nötig hält." Und daß dem so ist, daran hat das Gericht aufgrund einer Stellungnahme der Kirchenkanzlei der EKD keinen Zweifel. 109 Also: Die Gerichte können das Vorhandensein eines bestimmten Selbstverständnisses zwar in tatsächlicher Hinsicht überprüfen, dürfen ein einmal festgestelltes Selbstverständnis aber nicht auf der Basis eigener theologischer Wertungen 110 beiseite schieben. Eine Randbemerkung des Gerichts verdient hier noch Beachtung: Bei der Prüfung der Anwendung der Inkompatibilitätsregel auf andere Kirchenbeamte als Pfarrer stellt das Gericht fest, daß auch etwaige Veränderungen des kirchlichen Selbstverständnisses von der staatlichen Rechtsordnung hinzunehmen seien. 111 Das Gericht erteilt damit jenen statischen Tendenzen eine Absage, die die Kirchen an einem einmal geäußerten Selbstverständnis für alle Zeit festhalten wollen. 112 In der Tat würde eine solche statische Sicht dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht kaum gerecht. Schließlich kann - um jenes berühmte Zitat Adenauers aufzugreifen - auch den Kirchen "niemand verbieten, daß sie klüger werden." 9. Mit der sogenannten "Goch-Entscheidung" des Bundesverjassungsgerichts ll3 , die sich mit der Auslegung des § 118 Abs. 2 BetrVGII4 befaßt, beginnt 108 109
110
(352).
A.a.O. S. 335 f. A. a. O. S. 336 f. "Der Staat sagt, was der Kirche frommt", so v. Campenhausen, JZ 1975, S. 349 ff.
BVerjG a.a.O. S. 344. Mit dieser Tendenz etwa Maunz in Maunz/ Dürig / Herzog / Seholz, Grundgesetz, RN 16 zu Art. 140 GG (Erstbearbeitung 1973) (am Beispiel des Begriffs "Religionsunterricht"). 113 BVerjG. Beseh!. v. 11.10.1977 2 BvR 209/76 - BVerfGE 46, 73; dazu zust. Rüthers. in: EzA, Nr. 15 zu § 118 BetrVG; Richardi. ZevKR 23 (1978), S. 367 ff.; 111
112
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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die Reihe der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitsrecht im kirchlichen Bereich. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf115 hatte einen Wahlvorstand zur Durchführung einer Betriebsratswahl im Wilhelm-Anton-Hospital in Goch, einer rechtsfähigen Stiftung (= Beschwerdeführerin), bestellt. Die gegen diesen Beschluß eingelegte Rechtsbeschwerde hatte das Bundesarbeitsgericht 116 zurtickgewiesen, weil das Hospital keine kirchliche Einrichtung sei. Eine "das theologische Selbstverständnis der Kirchen berücksichtigende Auslegung" 117 führe nämlich dazu, daß die Annahme einer kirchlichen Einrichtung eine tatsächliche Verbundenheit mit der Kirche (hier der katholischen Kirche) voraussetze. Dies sei hinsichtlich der Beschwerdeführerin nicht der Fall, da die Religionsgemeinschaft keinen entscheidenden Einfluß auf die Verwaltung der Stiftung habe. Nur zwei der sieben Mitglieder des Kuratoriums waren nämlich Geistliche. Das Bundesverfassungsgericht 118 hat diese beiden Entscheidungen wegen Verstoßes gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aufgehoben. Es hat dabei auf seine Ausführungen in BVerfGE 24, 236 (246 f.) 119 Bezug genommen, wonach das Selbstbestimmungsrecht der Kirche auch hinsichtlich ihrer Vereinigungen zustehe, "die sich nicht die allseitige, sondern nur die partielle Pflege des religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt" hätten, sofern der Zweck der Vereinigung gerade auf die Verwirklichung eines solchen Ziels gerichtet sei. 120 Dieses Mal kam das Gericht aber nicht darum herum, auch das entscheidende Kriterium für die Zuordnung einer Einrichtung zur Kirche anzugeben: das kirchliche Selbstverständnis: "Nach Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV sind nicht nur die organisierte Kirche und die rechtlich selbständigen Teile dieser Organisation, sondern alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich frei ist, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in der Welt wahrzunehmen Schlief, in: FS f. Geiger, 1989, S. 704 ff.; krit. Herschel, AuR 1978, S. 172 ff.; Schwerdtner, AuR 1979, Sonderheft Kirche u. Arbeitsrecht, S. 21 ff. 114 "Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform." 115 LAG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1974 - 12 TaBV 71/74 - unveröffentlicht. 116 BAG, Beschl. v. 21.11.1975 - 1 ABR 12/75 - NJW 1976, 1165. 117 Mit der eher floskelhaften Erwähnung des kirchlichen Selbstverständnisses wollte das Bundesarbeitsgericht offenbar der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 140 GG LV. mit Art. l37 Abs. 3 WRV Rechnung tragen; sachliche Konsequenzen zog es daraus allerdings nicht. 118 BVerfGE 46, 73. 119 Vgl. oben 11.4. 120 BVerfGE 46, 73 (86 f.).
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1. Teil: Bestandsaufnahme
und zu erfüllen." 121 Hier gewinnt das kirchliche Selbstverständnis also wieder in einem neuen Zusammenhang Bedeutung: Es ist maßgebend für die Trägerschaft des Rechts aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Bei genauer Betrachtung handelt es sich um einen Unterfall der Frage nach dem Schutzbereich der Freiheitsrechte, jedoch mit dem Unterschied, daß es nicht - wie etwa in BVerfGE 24, 236 - um das Objekt, den gegenständlichen Umfang des Rechts geht, sondern um dessen Subjekt. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Nach kirchlichem Selbstverständnis bestimmt sich, wer alles zur Kirche gehört und damit auch, wer sich auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht berufen kann. Es ist also gerade nicht so, daß, wie Leisner 122 meint, hier der Begriff der kirchlichen Einrichtung von dem der Kirche abgekoppelt wird, daß also jede beliebige Einrichtung sich als caritativ darstellen und ihre Interessen zu eigenen Angelegenheiten der Kirche machen kann. Denn nicht auf deren Selbstverständnis kommt es an, sondern auf das der verfaßten Kirche. Nicht ganz konsequent überprüft das Gericht dann 123 die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur katholischen Kirche allerdings nicht in erster Linie anhand des kirchlichen Selbstverständnisses, sondern anband des Selbstverständnisses der Beschwerdeführerin selbst, nämlich deren Statut bzw. Satzung. Das kirchliche Selbstverständnis kommt jedoch im Zusammenhang mit dem vom Bundesarbeitsgericht bemängelten fehlenden Einfluß der verfaßten Kirche im Kuratorium der Stiftung zum Tragen: Mit Nachweisen aus den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils belegt das Bundesverfassungsgericht. daß die katholische Kirche keineswegs dem finsteren Klerikalismus huldigt, den das Bundesarbeitsgericht ihr unterstellt: Der katholische Laie sei keineswegs ein ,,kirchenfremdes" Element, weshalb der überwiegende Einfluß der Laien im Kuratorium die erforderliche organisatorische Verbindung der Stiftung mit der Kirche nicht ausschließe. 124 In einem abschließenden obiter dictum 125 führt das Gericht aus, im vorliegenden Fall gehe es nicht um das Ob, sondern um das Wie einer betrieblichen Mitbestimmung (bei der Beschwerdeführerin galt die Mitarbeitervertretungsordnung für kirchliche Stellen und Einrichtungen in der Diözese Münster). Dieses Wie hänge aber nach dem Selbstverständnis der Kirche entscheidend von der Art des besonderen Dienstes ab. Das dabei zu beachtende Gebot, stets das 121 A a. O. LS 1 u. S. 85. Zur Begründung verweist das Gericht zusätzlich auf Art. 140 GG i.V. mit Art. 138 Abs. 2 WRV. 122 Essener Gespräche 17 (1983), S. 9 ff. (13). 123 A a. O. S. 87 ff. 124 Aa.O. S. 92 f.; ebenso Richardi (ZevKR 23 (1978), S. 367 ff. [399 ff.]); ders. (in: 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979. S. 429 ff. [452]); ders. (Arbeitsrecht in der Kirche, 2. Aufl. 1992, S. 37 f.) unter zutreffendem Hinweis auf das Laienapostolat nach katholischem Selbstverständnis. 125 A. a. O. S. 95 f.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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spezifisch Religiöse caritativer Tätigkeit im Auge zu behalten, schlage sich notwendigerweise auch im Organisatorischen nieder. Trotz der scheinbar klaren Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts kam die Diskussion um die Kriterien für eine Zuordnung einer Einrichtung zur Kirche lange Zeit nicht zur Ruhe. Teilweise wurde nämlich die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts so verstanden, daß das Selbstverständnis der Kirche nur für die Frage nach der kirchlichen Zwecksetzung der Einrichtung maßgeblich sei, daß daneben aber noch eine nach objektiven Maßstäben zu bestimmende organisatorische Verbindung ("der Kirche in bestimmter Weise zugeordnet") erforderlich sei. 126
10. In seiner Entscheidung zum nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetz 127 hatte das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit, seine Rechtsprechung zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht weiter zu entfalten und zu präzisieren. Diese Präzisierung betraf zunächst die Frage der Zugehörigkeit verselbständigter Organisationen zur Kirche und damit der Trägerschaft des Selbstbestimmungsrechts 128, die in BVerfGE 46,73 im Mittelpunkt gestanden hatte. Und in der Tat knüpft das Gericht an diese Entscheidung an. 129 Es zeigt sich jedoch, daß das Gericht ganz im Sinne der oben erwähnten Interpretation der "Goch-Entscheidung" neben einer kirchlichen Zwecksetzung, die sich nach dem Selbstverständnis der Kirche bemißt, eine objektivierbare organisatorische Verbundenheit mit der Kirche verlangt: Zunächst wird nämlich festgestellt, daß nach katholischem wie evangelischem Selbstverständnis die kirchlich getragene Krankenpflege Teil des als kirchliche Grundfunktion verstandenen caritativen Wirkens sei. 130 Danach nimmt das Gericht aber anband der Satzungen der einzelnen Beschwerdeführer eine Überprüfung ihrer organisatorischen Verbundenheit mit der Kirche vor. l3l Das Gericht betont aber, daß nicht etwa eine Zugehörigkeit der Einrichtungen zur Kirchenverwaltung erforderlich sei. 132 126 Der Gang der Diskussion wird nachgezeichnet in BAG, Beschl. v. 14.4.1988 6 ABR 36/86 - NJW 1988, 3283 = JZ 1989, 150 m. zust Anm. Mayer-Maly. Mit dieser Entscheidung dürfte die Debatte einen vorläufigen Schlußpunkt gefunden haben. Vgl. dazu näher unten 7. Kap., 11.1. 127 BVerjG, Beschl. v. 25.3.1980 2 BvR 208/76 - BVerfGE 53, 366 mit abw. Ansicht Rottmannn, a.a.O. S. 408 ff. 128 Beschwerdeführer waren neben zwei Kirchengemeinden zwei eingetragene Vereine und eine GmbH, die ein evangelisches Krankenhaus betrieb. 129 A.a.O. S. 391 f. 130 A. a. O. S. 392 f. 131 Insoweit ähnlich wie in BVerfGE 46,73 (87 ff.). Die oben an dieser Vorgehensweise geübte Kritik der ,,Inkonsequenz" bedarf insoweit der Abschwächung: Die Vorgehensweise des Gerichts war dort lediglich insofern mißverständlich, als die Aufgliederung der Prüfung in die beiden Kriterien ,,kirchliche Zielsetzung" (Selbstverständnis maßgeblich) und "organisatorische Verbundenheit" (objektiver Maßstab) liort noch nicht deutlich zum Ausdruck kam. 132 A.a.O. S. 392.
4 Isak
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Ihre eigentliche Bedeutung gewinnt die Entscheidung aber durch die Begründung, mit der das Bundesverfassungsgericht einige Normen des nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetzes wegen Verstoßes gegen Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV hinsichtlich ihrer Anwendung auf kirchliche Krankenhäuser für verfassungswidrig erklärt. Zeigt sich doch darin ein vorsichtiges Abrücken von der Konzeption aus BVerfGE 18, 385 \33 und eine Hinwendung zu einer Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und beschränkender Norm, was auch im Leitsatz 2 der Entscheidung zum Ausdruck kommt: Das Gericht läßt nämlich offen, ob und inwieweit der Gesetzgeber durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht "grundsätzlich gehindert wäre, gesetzliche Schranken zu ziehen." 134 Bislang war das Gericht von einem solchen absoluten Verbot hinsichtlich der sogenannten "innerkirchlichen Angelegenheiten" ausgegangen. Denn selbst dann, so das Gericht weiter, "wenn man in den angegriffenen Regelungen prinzipiell ein für alle geltendes Gesetz im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV sieht, ist damit noch nicht gesagt, daß diese Rechtssetzung in jedem Falle dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vorgeht." 135 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Frage des grundsätzlichen Schrankenverbotes offenläßt, scheint damit doch der Bruch mit der ,Alles-oder-Nichts-Lösung' aus BVerfE 18, 385 vollzogen zu sein, zumal der Leitsatz 2 weniger vorsichtig formuliert ist: Es gibt also keinen Bereich kirchlicher Selbstbestimmung, der apriori einer Beschränkung durch ein für alle geltendes Gesetz entzogen wäre, andererseits genießt das beschränkende Gesetz aber auch dann nicht den uneingeschränkten Vorrang, wenn eine kirchliche Maßnahme "in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hineinragt" . Letzteres bringt das Gericht 136 explizit zum Ausdruck und führt weiter aus: "Art. 137 Abs.3 S.l WRV gewährleistet in Rücksicht auf das zwingende Erfordernis friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kirchen sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten der Kirchen als auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter. Dieser Wechselwirkung ist durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen." 137 Diese Abwägungsformel erinnert unwillkürlich an die Auslegung, die das Gericht in seinem "Lüth-Urteil" 138 hinsichtlich der Schranken der allgemeinen Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG vorgenommen hatte. Bei dieser Abwägung, so fährt das Gericht nunmehr fort, "ist jedoch dem Eigenverständnis der Kirchen, soweit es in dem Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt S. oben 11.2. A. a. o. S. 399 f. 135 A. a. o. S. 400 unter Bezugnahme auf Maunz, in Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, RN 20 zu Art. 140 GG (Art. 137 WRV) (Erstbearbeitung 1973). 136 A. a. O. S. 400. 137 A. a. O. S. 400 f. 138 BVerjG, Urt. v. 15.1.1958 1 BvR 400/51 - BVerfGE 7, 198 (208 f.). \33
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und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht, ein besonderes Gewicht zuzumessen." 139 Diese Formulierung könnte leicht zu dem Mißverständnis führen, das Gericht wolle die Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck jedenfalls ein Stück weit zur Disposition des kirchlichen Selbstverständnisses stellen. Gemeint ist aber etwas anderes: Das Gericht hatte bereits in BVerfGE 42, 312 (322) zum Ausdruck gebracht, daß sich die Anwendungsbereiche von Art. 4 GG und Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV teilweise überschneiden, daß also manche der eigenen Angelegenheiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften zugleich Gegenstand des Grundrechts aus Art. 4 GG sind. 140 Im Gegensatz zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist aber das Grundrecht aus Art. 4 GG schrankenlos gewährleistet. Es kann nun jedoch nicht angenommen werden, daß das Grundgesetz Art. 4 GG über die Hintertür des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs.3 WRV doch beschränken will. 141 Vielmehr muß umgekehrt im Rahmen der Auslegung des Selbstbestimmungsrechts der Bedeutung des schrankenlosen Grundrechts Rechnung getragen werden. Deutlicher als das Bundesverfassungsgericht könnte man also formulieren: Soweit eine eigene kirchliche Angelegenheit zugleich Gegenstand des Grundrechts aus Art. 4 GG ist, kann sie auch durch ein für alle geltendes Gesetz nur soweit beschränkt werden, wie dies ausnahmsweise aufgrund ungeschriebener Grundrechtsschranken im Bereich des Art. 4 GG zulässig ist. Wegen der besonderen Bedeutung des Gesundheitswesens für das Gemeinwohl, so meint das Gericht, wäre eine Schrankenregelung bezüglich des Krankenhauswesens im Randbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vertretbar, soweit sie zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe unumgänglich wäre. 142 Auf dieses unumgängliche Maß habe sich der Gesetzgeber aber, wie das Gericht im einzelnen ausführt, nicht beschränkt. Insbesondere habe er die spezifisch religiöse Ausrichtung kirchlicher Krankenpflege, die sich notwendigerweise auch in der Struktur und Organisation des Krankenhauses niederschlage, mithin also das kirchliche Selbstverständnis bezüglich kirchlicher Krankenpflege, nicht hinreichend berücksichtigt. Dem Staat obliege jedenfalls solange größte Zurückhaltung, als die kirchlichen Einrichtungen den aus staatlicher Sicht gestellten Ansprüchen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben genügten. Anderes könnte gelten, wenn es darum ginge, gravierende Mängel auf dem Gebiet des Gesundheitswesens abzustellen. 143 BVerfGE 53, 366 (401). So etwa auch v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 79; eine selbständige Bedeutung des Art. 140 GG LV. mit Art. 137 Abs. 3 WRV neben Art. 4 GG bestreitet gänzlich Listl, in: HdbStKIrchR I, S. 363 ff. (402 ff.). Vgl. eingehend dazu unten 5. Kap., IV.1. 141 In diesem Sinne allerdings wohl Friesenhahn, Dikussionsbeiträge in Essener Gespräche 17 (1983), S. 40 ff. 142 BVerfGE 53, 366 (401 f.). 143 A.a.O. S. 406 f. 139
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1. Teil: Bestandsaufnahme
Eine kritische Betrachtung verdient im vorliegenden Zusammenhang auch die abweichende Stellungnahme des Richters Rottmann. 144 Dieser geht zunächst davon aus, daß das Grundgesetz an der Unterordnung der Kirchen unter die allgemeine Hoheitsgewalt des staatlichen Gesetzgebers nichts geändert habe. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht werde - wie auch Art. 140 GG i.V. mit Art. 136 Abs. 1 WRV zeige - vorbehaltlich einer Güterabwägung im Lichte der Wertentscheidung des Art. 4 GG prinzipiell durch die allgemeinen Staatsgesetze und die auf ihnen beruhenden Pflichten beschränkt. 145
Rottmann bemüht dann 146 die Natur-der Sache-Formel und qualifiziert die Krankenhausversorgung, soweit sie durch kirchliche Träger sichergestellt wird, als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche. In solchen Angelegenheiten müsse der Staat den materiellen Bereich "spezifischer Religiosität" bzw. der "Besonderheit als Kirche" 147 unangetastet lassen, sei aber am Erlaß religionsneutraler Vorschriften nicht gehindert. 148 So weit, so gut. Im weiteren Verlauf führt Rottmann dann aber aus, weshalb die angegriffenen Vorschriften des Krankenhausgesetzes nicht in den Bereich der Besonderheit als Kirche eingriffen. 149 Damit ist er am Zentralproblem der vorliegenden Arbeit, zu dem er aber leider - keine Stellung nimmt, ja das er vermutlich nicht sieht: Woher weiß er denn, wann die Kirche in ihrem geistig-religiösen Auftrag, in ihrer Besonderheit als Kirche betroffen ist? Kann das nicht nur die Kirche selbst sagen? Zuzugeben ist seiner Kritik andererseits allerdings, daß es sich die Senatsmehrheit mit ihrer lakonischen Feststellung, der spezifisch religiöse Inhalt caritativer Betätigung in der Krankenpflege schlage sich notwendigerweise auch in der Struktur und Organisation des Krankenhauses nieder l50 , ein wenig einfach macht. Man hätte sich nähere Feststellungen dazu gewünscht, warum und inwieweit das nach kirchlichem Selbstverständnis der Fall ist. Dessen ungeachtet stellt diese Entscheidung mit ihrer - scheinbaren 151 Aufgabe der Konzeption der ,Bereichsscheidung' aus BVerfGE 18,385 und ihrer Hinwendung zur Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck einen Markstein in der Rechtsprechung zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht dar.
144
A a. O. S. 408 ff.
A a. O. S. 409 unter Bezugnahme primär auf Weimarer Autoren, etwa auf Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Art. 137, AnmA u. Art. 136, Anm.l. 146 A.a.O. S. 410 147 So interpretiert Rottmann (a.a.O. S. 411) die ,,Jedennann-Fonnel" aus BVerfGE 42,312. 148 Aa.O. S. 412. 149 Aa.O. S. 415 f. 150 Aa.O. S. 403. 151 Vgl. unten 14. 145
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
53
11. Weniger ergiebig für den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die zeitlich nächste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sogenannte " Volmarstein-Entscheidung". 152 In dieser Entscheidung ging es um die Frage, ob die Gewerkschaft ÖTV berechtigt ist, in den von der Beschwerdeführerin, einer Stiftung privaten Rechts, getragenen Anstalten durch betriebsfremde Gewerkschaftsbeauftragte zu informieren, zu werben und Mitglieder zu betreuen. Im Gegensatz zum Bundesarbeitsgericht l53 hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage unter Berufung auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht verneint. Dabei hat es - wie auch das Bundesarbeitsgericht - die Zugehörigkeit der Stiftung zur evangelischen Kirche mit der aus BVerfGE 46, 73 und 53, 366 geläufigen Begründung bejaht. 154
Etwas überraschend ist, mit welch knapper Begründung das Gericht die Zugehörigkeit des geltend gemachten Abwehrrechts der Beschwerdeführerin zu den eigenen kirchlichen Angelegenheiten bejaht: Das "Selbstbestimmungsrecht umfaßt alle Maßnahmen, die in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten diakonischen Aufgaben zu treffen sind, z. B. Vorgaben struktureller Art, die Personalauswahl und die mit all diesen Entscheidungen untrennbar verbundene Vorsorge zur Sicherstellung der ,religiösen Dimension' des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses. In diesem Selbstbestimmungsrecht finden auch die aus dem Hausrecht (Art. 13 GG) und aus der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG, Art. 140 GG LV. mit Art. 138 Abs. 2 WRV) sich ergebenden Rechtspositionen und Abwehransprüche ihre Zusammenfassung und Konkretisierung." 155 Soll das bedeuten, daß stets dann, wenn sich eine kirchliche Einrichtung auf ihr Hausrecht oder ihr Eigentum beruft, ein Akt selbständigen Ordnens und Verwaltens vorliegt, selbst wenn - auch nach kirchlichem Selbstverständniskeinerlei Bezug zum spezifisch kirchlichen Auftrag vorliegt? Würde das nicht auf eine Banalisierung des Selbstbestimmungsrechts hinauslaufen? Das Schwergewicht der Entscheidung liegt jedoch in den Ausführungen, die belegen, weshalb kein gesetzlich geregeltes gewerkschaftliches Zutrittsrecht besteht und weshalb sich ein solches Recht entgegen der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts auch nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG ergibt. Und wo überhaupt kein Gesetz besteht, da kann es auch kein "für alle geltendes Gesetz" geben. Diese Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts 156, die schlicht der logisch vorgegebenen Prüfungsreihenfolge entsprechen und daher nichts mit einem Ausweichen vor der staatskirchenrechtlichen Ableitung der Ergebnisse zu tun haben 157, sind jedoch im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung. 152 BVerjG, Beschl. v. 17.2.1981 2 BvR 384/78 - BVerfGE 57, 220; i. Erg. ebenso schon Leisner, BayVBl. 1980, S. 321 ff. 153 BAG, Urt. v. 14.2.1978 1 AZR 280/77 - BAGE 30, 122. 154 BVerjG a.a.O. S. 242 f. 155 A. a. O. S. 243 f. 156 A. a. O. S. 245 ff. 157 So aber die Kritik von Leisner, Essener Gespräche 17 (1983), S. 9 ff. (11).
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1. Teil: Bestandsaufnahme
12. Wie eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint die auf Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts ergangene Entscheidung zum Konkursausfallgeld. 1S8 Das Gericht entschied, daß Kirchen und ihre Organisationen, soweit sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt sind, von der Pflicht zur Zahlung der Umlage für das Konkursausfallgeld ausgenommen sind, da sie mit Rücksicht auf Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV nicht konkursfähig sind. Erneut hält sich das Gericht bei der Prüfung des Schutzbereichs der eigenen kirchlichen Angelegenheiten nicht lange auf: Es stellt lediglich fest, das Selbstbestimmungsrecht gewährleiste den Kirchen, daß sie ihre eigenen Angelegenheiten ihrem kirchlichen Auftrag und ihrem Selbstverständnis entsprechend eigenständig ordnen und verwalten könnten 159, um dann sogleich zur Prüfung der Schranken des für alle geltenden Gesetzes überzugehen. Erst im Zusammenhang mit dieser Prüfung wird deutlich, wo das Gericht durch die Anwendung konkursrechtlicher Vorschriften eigene kirchliche Angelegenheiten beeinträchtigt sieht: Insbesondere die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Konkursverwalters würde die Erfüllung kirchlicher Aufgaben erheblich beeinträchtigen. 160 Im Rahmen der Schrankenprüfung reiht das Bundesverfassungsgericht nunmehr sämtliche Interpretationsmuster aus seiner bisherigen Rechtsprechung aneinander, wobei allerdings nur die Güterabwägung aus BVerfGE 53,366 wirkliche Bedeutung gewinnt: Zunächst führt das Gericht - in Anlehnung an die Bereichsscheidung aus BVerfGE 18, 385 - aus, die Frage des Konkurses sei keine rein innerkirchliche Angelegenheit, bei der der Staat keinerlei Schranken errichten könne. 161 Denn der Konkurs setze die Betätigung im allgemeinen Wirtschaftsleben voraus, an dem auch die Kirchen teilnähmen. Andererseits könne der Staat aber seinen Gesetzen auch nicht in beliebigem Umfang Geltung verschaffen, denn ein für alle geltendes Gesetz könne nur ein solches sein, das für die Kirche dieselbe Bedeutung habe wie für den Jedermann. 162 Aus dieser Bezugnahme auf die ,,Jedermann-Formel" zieht das Gericht aber keine praktischen Konsequenzen; die Formel wirkt eher wie ein Fossil aus früheren Tagen. 163 Vielmehr kommt das Gericht im tragenden Teil seiner Gründe auf die Güterabwägung aus BVerfGE 53,366 zurück: Selbst wenn die Konkursordnung "prinzipeIl" ein für alle geltendes Gesetz sei, müsse durch Abwägung ermittelt werden, ob diese Regelung dem Selbstbestimmungsrecht in concreto vorgehe. Dabei komme dem Selbstverständnis ein besonderes Gewicht zu. 164 In dieser Verkürzung wird 158
159 160 161 162 163 164
BVerjG, Besehl. v. 13.12.1983 Aa.O. S. 19. A a. O. S. 21. A a. O. S. 20. Aa.O.
2 BvL 13, 14, 15/82 - BVerfGE 66, 1.
Vgl. dazu oben die einleitenden Hinweise. A a. O. S. 22.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
55
die Formulierung vom besonderen Gewicht des Selbstverständnisses nun allerdings vollends mißverständlich. 165 Immerhin wahrt das Gericht den Bezug zu der schrankenlosen Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 4 GG mit dem Hinweis, die Anliegen der Kirchen wurzelten auch im Schutzbereich des Art. 4 GG.I66
Im konkreten Fall begründet das Gericht den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts damit, daß das Konkursverfahren im kirchlichen Bereich weder geeignet sei, seiner Zielsetzung zu genügen, noch von der Sache her im Allgemeininteresse veraniaßt sei, jedoch erhebliche Eingriffe in die kirchliche Aufgabenerfüllung mit sich bringe und daß ferner die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit bei den kirchlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts praktisch nicht gegeben sei. 167 Alles in allem erweist sich die Entscheidung als konsequente Fortführung der Ansätze aus BVerfGE 53, 366. 13. Neuen Zündstoff erhielt die Diskussion um die Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kündigungsschutz tür kirchliche Arbeitnehmer. 168 In den beiden Ausgangsfallen dieser Entscheidung ging es um folgende Sachverhalte: Ein Assistenzarzt an einem katholischen Krankenhaus in Trägerschaft einer kirchlichen Stiftung war Mitunterzeichner eines in der Zeitschrift "Stern" veröffentlichten Aufrufs, in dem die legale Abtreibung aus sozialer Notlage verteidigt wurde. Daraufhin wurde ihm fristgemäß und, nachdem er seine Position in einem Fernsehinterview bekräftigt hatte, außerordentlich sowie vorsorglich nochmals ordentlich gekündigt. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf169 sowie das Bundesarbeitsgericht 170 hielten die Kündigungen für unwirksam. Zwar sahen beide Gerichte in dem Verhalten des Arztes einen Verstoß gegen seine arbeitsvertragliche Loyalitätspflicht, kamen aber aufgrund einer Interessenabwägung gern. § 1 Abs.2 KSchG bzw. § 626 BGB zu dem Ergebnis, daß die Kündigungen nicht Vgl. dazu die Erläuterung oben 10. A. a. O. S. 22. 167 Diese Erwägungen werden a. a. O. S. 23 ff. näher ausgeführt. 168 BVerjG, Beschl. v. 4.6.1985 2 BvR 1703, 1718/83 u. 856/84 - BVerfGE 70, 138; vgl. dazu H. Weber, NJW 1986, S. 370 f.; Rüthers, NJW 1986, S.356ff,; Richardi, JZ 1986, S. 135 ff.; ders., NZA 1986, Beil.l, S. 3 ff.; ders., Arbeitsrecht in der Kirche, 2. Aufl. 1992, S. 70 ff. u. öfter; Dütz, ebenda, S. 11 ff.; ferner BVerjG (VorpTÜfungsausschuß des 2. Senats), Beschl. v. 5.6.1981 - 2 BvR 288/81 - NJW 1983,2570 = FamRZ 1981,943 sowie BVerjG (2. Kammer des 1. Senats), Beschl. v. 9.2.1990 - 1 BvR 717/87 - NJW 1990, 2053: In beiden Entscheidungen wird der Glaubwürdigkeit der Kirche entscheidende Bedeutung beigemessen. 169 Urt. v. 8.9.1980 21 Sa 582/80 - KirchE 18,258 u. Urt. v. 3.10.1980 - 17 Sa 964/80 - KirchE 18, 285. 170 BAG, Urt. v. 21. 10. 1982-2AZR 591/80-NJW 1984, 826; vgl. dazu Rüthers, in: EzA, Nr. 13 zu § 1 KSchG (Tendenzbetrieb). 165
166
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1. Teil: Bestandsaufnahme
gerechtfertigt seien, da die betrieblichen Belange der Beschwerdeführerin und insbesondere ihre Glaubwürdigkeit nicht beeinträchtigt würden. In der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts findet sich ferner die aufschlußreiche Feststellung, das kirchliche Selbstverständnis erfordere es nicht, in jedem Loyalitätsverstoß von einigem Gewicht einen Kündigungsgrund zu sehen. 171 Wie das Gericht zur Feststellung eines derartigen kirchlichen Selbstverständnisses kommt, sagt es leider nicht. Der zweite Ausgangsfall betraf einen Buchhalter, der in einem Jugendheim in der Trägerschaft eines katholischen Ordens angestellt war und der nach dienstlichen Streitigkeiten mit der Ordensgemeinschaft (der Beschwerdeführerin) aus der Kirche ausgetreten war. Während das Arbeitsgericht München 172 die Kündigungsschutzklage mit der Erwägung abgewiesen hatte, die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin würde leiden, wenn sie einen Arbeitnehmer nach seinem Kirchenaustritt weiterbeschäftigen müßte, hielten das Landesarbeitsgericht München 173 und das Bundesarbeitsgericht 174 die Kündigung für unwirksam. Dabei äußerten beide Gerichte bereits Zweifel daran, ob der Buchhalter überhaupt besonderen Loyalitätspflichtem gegenüber dem kirchlichen Arbeitgeber unterliege. Denn: "Nicht jede Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis zur Kirche hat eine solche Nähe zu spezifisch kirchlichen Aufgaben, daß der die Tätigkeit ausübende Arbeitnehmer mit der Kirche identifiziert wird, wenn er sich in seiner Lebensführung nicht an die tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre hält." 175 Aber selbst wenn man eine Loyalitätspflichtverletzung unterstelle, müsse eine Interessenabwägung zugunsten des Buchhalters ausfallen, wobei auch hierbei zu berücksichtigen sei, daß er keine spezifisch kirchlichen Aufgaben erfüllt habe. Dieser Sicht mochte sich das Bundesverfassungsgericht in beiden Fällen nicht anschließen. Zunächst stellt das Gericht im Anschluß an die seit BVerfGE 46,73 bekannte Begründung fest, daß beide Beschwerdeführerinnen Teil der katholischen Kirche und damit Trägerinnen des Rechts aus Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs.3 WRV seien. 176 Es folgt dann die - ebenfalls schon bekannte - allgemeine Umschreibung der Reichweite des Selbstbestimmungsrechts im Bereich derartiger caritativer kirchlicher Einrichtungen: Das Selbstbestimmungsrecht umfasse nämlich alle Maßnahmen, die in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten caritativ-diakonischen Aufgaben zu treffen seien. 177 Ob das zugleich bedeutet, 171
172 173 174 175 176 177
BAG a. a. O. S. 829
Urt. v. 9.7.1980 - 2 Ca 702/81 - KirchE 18,216. Urt. v. 9.4.1981 - 8(3) Sa 556/80 - KirchE 18,475.
BAG, Urt. v. 23.3.1984 - 7 AZR 249/81 -
BAGE 45, 250 (255). BVerfGE 70, l38 (162 ff.).
A.a.O. S. 164
BAGE 45,250 = NJW 1984,2596.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
57
daß sich die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts nach kirchlichem Selbstverständnis bemißt, weil nur die Kirchen wissen, was ihr Grundauftrag und was zu dessen Verfolgung notwendig ist, oder ob der Staat hiervon ein eigenes Wissen 178 hat (und wenn ja, woher?), wird nicht weiter ausgeführt. Jedenfalls gewährleiste das Selbstbestimmungsrecht "den Kirchen, darüber zu befinden, welche Dienste es in ihren Einrichtungen geben soll und in welchen Rechtsformen sie wahrzunehmen sind." 179 Sofern die Kirchen dabei Arbeitsverträge schlössen, finde darauf das staatliche Arbeitsrecht Anwendung, ohne daß dadurch allerdings die Zugehörigkeit zu den "eigenen Angelegenheiten" aufgehoben werde. Auch das staatliche Arbeitsrecht dürfe das spezifisch Kirchliche des kirchlichen Dienstes nicht in Frage stellen, weshalb die Kirchen ihren Mitarbeitern im Wege des Vertrags schlusses besondere Obliegenheiten einer kirchlichen Lebensführung auferlegen könnten. "Werden solche Obliegenheiten im Arbeitsvertrag festgelegt, nimmt der kirchliche Arbeitgeber nicht nur die allgemeine Vertragsfreiheit für sich in Anspruch; er macht zugleich von seinem verfassungskräftigen Selbstbestimmungsrecht Gebrauch. Beides zusammen ermöglicht es den Kirchen erst, in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes den kirchlichen Dienst nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer zu umschreiben und verbindlich zu machen. Das schließt ein, daß die Kirchen der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter 180 zugrunde legen können. Dazu gehört weiter die Befugnis der Kirche, den ihr angehörenden Arbeitnehmern die Beachtung jedenfalls der tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre aufzuerlegen und zu verlangen, daß sie nicht gegen fundamentale Verpflichtungen verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenglied obliegen. Denn für die Kirchen kann ihre Glaubwürdigkeit davon abhängen, daß ihre Mitglieder, die in ein Arbeitsverhältnis zu ihnen treten, die kirchliche Ordnung - auch in ihrer Lebensführung - respektieren." 181 Insoweit weicht das Bundesverfassungsgericht noch nicht von der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts ab. Denn die generelle Möglichkeit derartiger besonderer Loyalitätspflichten hatte dieses in ständiger Rechtsprechung 182 anerkannt. Dennoch verdienen diese Ausführungen des Verfassungs gerichts Beachtung. 178 Diese Formulierung im Anschluß an Böckenförde, Essener Gespräche 19 (1985), S.157. 179 BVerjG, a.a.O. LS 1 u. S. 164. 180 Vgl. dazu Pottmeyer, Essener Gespräche 17 (1982), S. 62 ff. (75 ff.); Pahlke, Kirche und Koalitionsrecht, 1983, S. 39 ff.; Jurina, ZevKR 29 (1984), S. 171 ff.; Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 2. Auf!. 1992, S. 41 ff.; ferner unten 7. Kap., 11.8. m.w.N. 181 BVerjG, a.a.O. S. 165 f. 182 SeitBAG, Urt. v. 25.4.1978-1 AZR 70/76-BAGE30, 247 =NJW 1978,2116.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
Denn daß das Selbstbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung privater Arbeitsverträge so weit reicht, erscheint keineswegs selbstverständlich. Vor allem stellt sich die Frage, wie das Gericht zu dieser weiten Umschreibung des Bereichs der eigenen Angelegenheiten kommt. Die Antwort kann nur lauten: Sie ist nach Auffassung des Gerichts "in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten Aufgaben" geboten. 183 Und der Gesamtzusammenhang der Entscheidung deutet in der Tat darauf hin, daß sich dieses Geboten-Sein nach dem kirchlichen Selbstverständnis bestimmt. Eine verbindliche Antwort darauf gibt das Gericht aber - wie gesagt - nicht. Und noch eine Klärung hält das Bundesveifassungsgericht für nötig; sie ist für die Feststellung des Selbstverständnisses von zentraler Bedeutung: "Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich nach den von der verfaßten Kirche anerkannten Maßstäben. Dagegen kommt es weder auf die Auffassung der einzelnen betroffenen kirchlichen Einrichtungen, deren Meinungsbildung von durchaus verschiedenen Motiven beeinflußt sein kann 184, noch auf diejenige "breiter Kreise unter den Kirchengliedern oder etwa gar einzelner bestimmten Tendenzen verbundener Mitarbeiter an."18S Vermutlich hat sich das Gericht zu dieser Feststellung durch den Umstand veraniaßt gesehen, daß in Kündigungsschutzverfahren kirchlicher Mitarbeiter stereotyp vorgetragen wurde, die Kollegen des Betroffenen und auch große Teile der Gemeinde setzten sich für eine Weiterbeschäftigung ein. Allgemeiner kann man sagen: Den Inhalt des kirchlichen Selbstverständnisses bestimmt ausschließlich die verfaßte Kirche. Die Auffassung des Verwaltungsleiters eines kirchlichen Krankenhauses ist also irrelevant. Und auch ein Griff zu theologischer Literatur ist meist unergiebig; denn auch dort findet sich in der Regel nur die Privatmeinung des Verfassers. Eigentlich ist all das eine Selbstverständlichkeit. Angesichts der theologischen Kreativität mancher Instanzgerichte 186 erscheint die KlarsteIlung durch das Bundesveifassungsgericht aber doch nicht ganz überflüssig. Das Gericht führt sodann aus, daß die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften zu den für alle geltenden Gesetzen gehörten und daß im Einzelfall eine Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck stattzufinden habe, in die (natürlich) die auf der Grundlage des oben Gesagten statuierten Loyalitätsobliegenheiten einzustellen seien. 187 Und nunmehr ist es mit der Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsgericht endgültig vorbei: 183 Siehe dazu oben 11.10. u. 11.13. 184 Nicht zuletzt auch von einem drohenden Prozeßverlust! 185 BVerjG a.a.O. LS 2 u. S. 166. 186 Vgl. etwa für das kirchliche Mitgliedschaftsrecht oben 11.5. mit FN 65. 187 BVerjG, a.a.O. S. 166 f.
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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Hatte dieses immer wieder betont 188, die Statuierung derartiger Loyalitätspflichten sei nur abgestuft, entsprechend der Teilhabe des betroffenen Arbeitnehmers am spezifisch kirchlichen Auftrag möglich~ ein bestimmter Arbeitnehmer habe keinen Anteil an der Erfüllung dieses spezifisch kirchlichen Auftrags oder ein Pflichtverstoß sei ,,nicht so schwerwiegend",· weil die Glaubwürdigkeit der Kirche nicht beeinträchtigt werde, stellt das Verfassungsgericht unmißverständlich klar: "Im Streitfall haben die Arbeitsgerichte die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen, soweit die Verfassung das Recht der Kirchen anerkennt, hierüber selbst zu befinden. Es bleibt demnach grundsätzlich den verfaßten Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was ,die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert', was ,spezifische kirchliche Aufgaben' sind, was ,Nähe' zu ihnen bedeutet, welches die ,wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre' sind und was als - gegebenenfalls schwerer - Verstoß gegen diese anzusehen ist. Auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine ,Abstufung' der Loyalitätspflichten eingreifen soll, ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit." 189 Obwohl im konkreten Fall streitentscheidend, sind diese Ausführungen weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Denn hat man erst einmal die grundsätzliche Befugnis der Kirchen bejaht, ihren Mitarbeiten die nach ihrem Selbstverständnis notwendigen Loyalitätspflichten aufzuerlegen und den Arbeitsverhältnissen das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft zugrundezulegen, dann folgt das Übrige beinahe von selbst: Der Staat kann den Kirchen eben weder die Hierarchie ihrer Glaubenssätze noch die Hierarchie ihrer Dienste vorschreiben. Der Versuch des Bundesarbeitsgerichts, gleichsam die Notbremse zu ziehen, da man, so meinten die Richter wohl, schließlich selbst wisse, welche kirchlichen Dienste und welche kirchlichen Glaubenssätze wichtig seien und welche nicht, mußte demnach fehlschlagen. Allerdings stellt auch das Bundesverfassungsgericht klar, daß damit die Kündigung kirchlicher Arbeitsverhältnisse nicht ins Belieben der Kirchen gestellt ist: Zum einen besteht eine - wenn auch höher angesetzte - ,,Notbremse" in Form eines ordre-public-Vorbehalts. 190 Denn die eben zitierten Maßstäbe der verfaßten Kirche (die, - das ist praktisch wichtig - erforderlichenfalls durch Rückfrage bei den zuständigen Kirchenbehörden aufzuklären sind 191) sind nur solange verbindlich, als sie nicht in "Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung" 188 Etwa in BAGE 34, 195; NJW 1984,826; NJW 1984, 1917; BAGE 45,250. Vgl. näher unten II.C.1. 189 BVerfG, a.a.O. LS 3 u. 4 sowie S.167f. Ebenso Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 2. Aufl. 1992, 1984, S. 49 u.58 ff. 190 Vielleicht vergleichbar der "Kulturvölker-Formel" aus BVerfGE 12, 1. 191 BVerfG, a.a.O. S. 168.
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stehen, "wie sie im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie dem Begriff der ,guten Sitten' (§ 138 Abs. 1 BGB) oder des ordre public (Art. 30 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben. "192 Und, wichtiger: Nur diejenigen Faktoren beurteilen sich nach kirchlichem Selbstverständnis, die bei der Abwägung im Rahmen der §§ 1 KSchG, 626 BGB gleichsam in die Waagschale der Kirchenfreiheit zu legen sind. Dennoch können andere Belange so gewichtig sein, daß die Abwägung im Ergebnis zugunsten des Arbeitnehmers ausgeht. 193 In beiden Fällen der vorliegenden Entscheidung hatte das Bundesarbeitsgericht aber nach Auffassung des Veifassungsgerichts in Verkennung des verfassungsrechtlich Gebotenen eine Fehlgewichtung der abzuwägenden Belange vorgenommen. Und das Veifassungsgericht macht dann auch gleich vor, wie eine solche Gewichtung auszusehen hat: Das Gewicht einer Loyalitätspflicht und folglich auch eines Verstoßes gegen diese Pflicht bemißt sich nach den einschlägigen Regeln des Kirchenrechts. 194 14. Zwei für den vorliegenden Zusammenhang interessante Aspekte enthält die auf Vorlagebeschluß des ObervelWaltungsgerichts Lüneburg ergangene Entscheidung zu den Berufsbildungsausschüssen im kirchlichen Bereich 195: Zum einen: BVerfGE 53,366 bedeutete keinen endgültigen, sondern nur einen teilweisen Bruch mit der Bereichsscheidungs-Konzeption aus BVerfGE 18,385: Denn das Gericht führt aus 196: "Bei rein inneren kirchlichen Angelegenheiten kann ein staatliches Gesetz für die Kirche überhaupt keine Schranke ihres Handelns bilden." Lediglich außerhalb dieses Bereichs habe eine Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck zu erfolgen, wobei dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen sei. 197 Diesem letzteren Bereich rechnet das Gericht auch die berufliche Bildung im kirchlichen Bereich zu. Im Rahmen der danach also erforderlichen Abwägung findet sich an etwas versteckter Stelle der zweite wichtige Aspekt der Entscheidung: "Nützlichkeitserwägungen reichen nicht aus, wenn es um das ,Procedere' in der kirchlichen Berufsbildung geht. Da diese vom kirchlichen Grundauftrag mitumfaßt wird, zu BVerjG, a.a.O. S. 168. So etwa in LAG Niedersachsen, Urt. v. 9.3.1989 - 14 Sa 1608/88 - NJW 1990,534. 194 A. a. O. S. 170 ff. Die nach Zurückverweisung erforderliche neue Interessenabwägung durch das Bundesarbeitsgericht ging zugunsten der Kirche aus: BAG, Urt. v. 15.1.1986 - 7 AZR 545/85 - KirchE 24, 7 (Assistenzarzt). 195 BVerjG, Beschl. v. 14.5.1986 2 BvL 19/87 - BVerfGE 72, 278; vgl. zum Ausgangsfall: VG Hannover, Urt. v. 14.3.1978 - VI A 67/76 - KirchE 16,342; vgl. ferner das Rechtsgutachten von lsensee, Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkulari~ sierung der Krankenpflegeausbildung, 1980. I. Erg. ebenso schon Müller-Volbehr, ZevKR 21 (1976), S. 219 ff. 196 A.a.O. S. 289. 197 Mittlerweile fehlt der dringend gebotene Hinweis auf den Zusammenhang mit Art. 4 GG vollständig; s. dazu oben 11.10. 192
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dem sich der weltanschaulich neutrale Staat nicht äußern darf, kann er den Kirchen auch nicht vorschreiben, wie und in welcher Form sie ihren Auftrag wahrnehmen." 198 Damit ist aber die oben 199 gestellte Frage beantwortet: Der Staat hat also kein eigenes Wissen vom kirchlichen Grundauftrag. Wo das Bundesverfassungsgericht demnach den Bereich der eigenen kirchlichen Angelegenheiten vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmt 200 , nimmt es letztlich auf das kirchliche Selbstverständnis Bezug, das damit aber zum entscheidenden Kriterium für die Bestimmung der Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts wird. Insoweit geht das Gericht über die bloße "Berücksichtigung" des Selbstverständnisses in BVerfGE 24, 236 201 hinaus und nimmt entegen den Zweifeln von Leisner 202 nicht erst für die nähere Ausformung der religiösen Kategorie kirchlichen Wirkens, sondern für die Bestimmung dieser Kategorie selbst auf das kirchliche Selbstverständnis Bezug. 15. Einen bislang noch nicht behandelten Themenkomplex, nämlich den des Religionsunterrichts, betrifft eine weitere für die vorliegende Thematik relevante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 203 Dort ging es um die Frage der Teilnahme einer Schülerin am Religionsunterricht der anderen Konfession. Der Beschwerdeführerin war die weitere Teilnahme am bekenntnisfremden Unterricht unter Verweis auf eine Vereinbarung zwischen den Kirchen verweigert worden, wonach in der reformierten Oberstufe für mindestens drei der fünf Kurse der Unterricht der eigenen Konfession besucht werden mußte. Angesprochen war also die Frage nach dem Umfang der Kompetenz der Kirchen zur Festlegung der Grundsätze für den Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 S.2 GG. Die Klage der Beschwerdeführerin war in allen Instanzen erfolglos geblieben. 204 Dabei hatte insbesondere das Oberverwaltungsgericht Koblenz in seinem Beschluß im Verfahren der einstweiligen Anordnung 205 ganz entscheidend auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht abgestellt und ausgeführt: "Dieser Bereich (der inhaltlichen Gestaltung des Religionsunterrichts)206 ist vielmehr ausschließ198 A.a.O. S. 294. 11.13. 200 So in BVerfGE 57, 220 (243) und in BVerfGE 70, 138 (164). 201 Vg!. oben 11.4. 202 Essener Gespräche 17 (1982), S. 9 ff. (16). 203 BVerjG, Besch!. v. 25.2.1987 1 BvR 47/84 - BVerfGE 74, 244; vg!. dazu Fischer, NJW 1988, S. 879 f. sowie die teilweise gegensätzlichen Gutachten von v. Campenhausen, OVB!. 1976, S. 609 ff. und Hollerbach, AkKR 145 (1976), S. 459 ff. 204 VG Koblenz, Urt. v. 5.7.1978 7 K 90/78 - KirchEn, 1; OVG Koblenz, Besch!. v. 14.9.1978 - 2 B 198/78 - NJW 1979,941 (Verfahren nach § 123 VwGO) u. Urt. v. 18.6.1980 - 2 A 90/78 - FamRZ 1981, 82 = KirchE 18,203; BVerwG, Urt. v. 2.9.1983 - 7 C 169/81 - BVerwGE 68,16 = NJW 1983,2585 = JZ 1985, S. 36 m.Anm. Link; vg!. dazu auch BayVGH, Urt. v. 16.6.1980 - Nr. 2418 VII/78OVB!. 1981,44 u. BVerwG, Besch!. v. 22.10.1981 . 7 C 77 /80 - NJW 1983,2584. 205 NJW 1979,941. 206 Einfügung vom Verf. 199
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1. Teil: Bestandsaufnahme
lieh den Kirchen selbst zur autonomen Gestaltung überantwortet; eine Regelung der Modalitäten der Teilnahme am Unterricht einer anderen Konfession durch den Staat wäre auch nur aufgrund einer ausführlichen Information über das auch dem Wandel unterworfene - Selbstverständnis der Kirchen und über ihre Auffassung, wie ihr Auftrag zu verwirklichen ist, möglich. Hiervon abgesehen bliebe eine Regelung von Fragen des kirchlichen Selbstverständnisses durch staatliche Normen letztlich immer ein Eingriff in die Freiheit der Kirche zur Ausbildung und Fortentwicklung ihres Selbstverständnisses und ihrer inneren Verfassung. Deswegen sind maßgebliche inhaltliche Aussagen über die Grundsätze der Religionsgemeinschaften vorrangig aus den Verlautbarungen der Kirchen zu gewinnen." Ebenso war auch das Bundesverwaltungsgericht 207 von einer Bindung des Staates an die zwischenkirchliche Vereinbarung ausgegangen. Gleicher Auffassung war im Ergebnis das Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsbeschwerde gemäß § 24 BVerfGG als offensichtlich unbegründet abwies, jedoch einige interessante, über den Einzelfall hinausweisende Aussagen machte: Gegenstand des Religionsunterrichts, so das Gericht 208 , sei die Vermittlung der Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft als bestehende Wahrheiten. Dafür, wie dies zu erfolgen habe, seien grundsätzlich die Vorstellungen der Kirchen über Inhalt und Ziel der Lehrveranstaltung maßgeblich. Ändere sich deren Verständnis vom Religionsunterricht müsse der religiös neutrale Staat dies hinnehmen, sei jedoch nicht verpflichtet, jede denkbare Definition der Religionsgemeinschaften als verbindlich anzuerkennen. Die Grenze sei vielmehr durch den Verfassungsbegriff ,,Religionsunterricht" gezogen. Hier gibt also das Gericht die von Maunz2~ vermißte Antwort auf die Frage nach der Berücksichtigung eines gewandelten kirchlichen Selbstverständnisses im Allgemeinen und in Bezug auf den Begriff des Religionsunterrichts im Besonderen: Grundsätzlich ist auch ein solcher Wandel des Selbstverständnisses für den staatlichen Rechtsanwender verbindlich, jedoch nur in den durch den Verfassungsbegriff ,,Religionsunterricht" gezogenen Grenzen. Diese Grenze, den "unveränderlichen Rahmen, den die Verfassung vorgibt", sieht das Gericht in der Ausrichtung des Religionsunterrichts an den Glaubenssätzen der jeweiligen Konfession. Innerhalb dieses Rahmens aber bestimmen die Kirchen die Grundsätze des Unterrichts. 2\0 Hier wird in der Sicht des Gerichts eine interessante Wechselbeziehung deutlich: Zum einen verweist Art. 7 Abs. 3 S.2 GG hinsichtlich der Ausgestaltung des Religionsunterrichts auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften, andererseits zieht er der Berücksichtigung dieses Selbstverständnisses durch den BVerwGE 68, 16 (20). BVerfGE 74, 244 (252). 2~ In: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, RN 16 zu Art. 140 GG (Erstbearbeitung 1973). 2\0 BVeifG, a.a.O. S. 253. 207
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1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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- grundsätzlich objektiv auszulegenden - Verfassungs begriff "Religionsunterricht" Grenzen. 211 Diese Wechselbeziehung liegt jedoch in der besonderen Normstruktur des Art. 7 Abs. 3 GG begründet und läßt sich nicht ohne weiteres auf die Auslegung anderer (Verfassungs)Rechtsnormen übertragen. Immerhin aber scheint das Gericht zu einer objektiven Interpretation der Verfassungsbegriffe selbst zurückzukehren. Es wäre jedoch voreilig, hieraus zu weitgehende Schlüsse zu ziehen. Denn auch in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts läßt sich der Begriff "Religionsunterricht" nicht ohne Blick auf das kirchliche Selbstverständnis bestimmen. Wer außer den Kirchen selbst sollte nämlich sagen können, welches ihre Glaubenssätze sind, an denen sich der Religionsunterricht auszurichten hat? Die objektive Auslegung des Begriffs ,,Religionsunterricht" ist also eine eher formale; materiell nimmt sie jedoch auf das kirchliche Selbstverständnis Bezug. Die Maßgeblichkeit dieses Selbstverständnisses reicht jedoch nicht so weit, daß die Kirchen auf die Ausrichtung an eben diesen ihren Glaubenssätzen verzichten können. 212 Halten sich die von den Kirchen gesetzten Grundsätze aber innerhalb der durch den Verfassungsbegriff ,,Religionsunterricht" gezogenen Grenzen, so hat der Staat die Angemessenheit dieser Grundsätze nicht zu überprüfen. Dies stellt das Gericht 213 nochmals ausdrücklich klar. 16. Interessante Ausführungen zur Selbstverständnisproblematik enthält die vorläufig letzte staatskirchenrechtliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Fragen des kirchlichen Vereinsrechts betrifft. 214 Beschwerdeführer war der örtliche Geistige Rat der Baha' i. 215 Diesem war unter Beanstandung einiger Satzungsbestimmungen (etwa über Zustandekommen und Ende der Mitgliedschaft, die Erfordernisse von Satzungsänderungen oder die Abgrenzung der 211 Die hier angesprochene Problematik darf nicht verwechselt werden mit der Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Inhalt des Religionsunterrichts als grundsätzlich kirchlicher Angelegenheit und der Gewährleistung der äußeren Rahmenbedingungen als staatlicher Angelegenheit; hierzu (Religionsunterricht als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche) vg!. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1983, S. 117 ff. Vorliegend stand ausschließlich die inhaltliche Seite zur Debatte. 212 Deshalb würde das Gericht wohl einem übereinstimmenden Selbstverständnis der großen Kirchen, das die Abhaltung eines ökumenischen Religionsunterrichts zur Folge hätte, die Anerkennung versagen. So auch Link, HdbStKirchR 11, 1975, S. 503 ff. (539); Hollerbach, AkKR 145 (1976), S. 459 ff. (470 ff.). 213 BVerjG a.a.O. S. 255. 214 BVerjG, Besch!. v. 5.2.1991 2 BvR 263/86 - BVerfGE 83, 341 = NJW 1991, 2613. Vg!. dazu Schockenhojf, NJW 1992, 1013 ff. und Flurne, JZ 1992, 238 ff. Vg!. auch OLG Köln, Besch!. v. 20.9.1991 - 2 Wx 64/90 - NJW 1992, 1048 und LG Oldenburg, Besch!. v. 22.8.1991 - 5 T 374/91 - JZ 1992, 250 mit eingehendem Überblick zum Meinungsstand. 215 Diese Sekte versteht sich als Offenbarungsreligion, die Elemente verschiedener großer Weltreligionen aufgenommen hat. Wesentlich ist die Offenbarung Gottes durch Propheten, beginnend mit Adam bis hin zu Mohammed. Mit dem Sektengründer Baha Ullah, einem weiteren Gottesboten, beginnt eine neue Weltzeit.
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1. Teil: Bestandsaufnahme
Aufgaben des Vereins) die Eintragung in das Vereinsregister verweigert worden. Die beanstandeten Bestimmungen normierten nämlich erhebliche Einflußrechte des übergeordneten Nationalen Geistigen Rates. Dies wiederum wurde vom Registergericht, wie auch von den Beschwerdegerichten, als unzulässige Fremdbestimmung und damit als Verstoß gegen den Grundsatz der Vereinsautonomie betrachtet. Das Bundesveifassungsgericht war anderer Auffassung. Bereits der erste Leitsatz führt zur zentralen Problematik der vorliegenden Arbeit: "Allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, können für diese und ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht rechtfertigen; vielmehr muß es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln. Dies im Streitfall zu prüfen und zu entscheiden, obliegt - als Anwendung einer Regelung der staatlichen Rechtsordnung - den staatlichen Organen, letztlich den Gerichten." Das Gericht setzt also die Behauptung, eine Religionsgemeinschaft zu sein und das diesbezügliche Selbstverständnis gleich. Dies soll einstweilen nur festgehalten werden. Es wird sich allerdings zeigen, daß diese Gleichsetzung nicht zutreffend ist. Aber weiter: Behauptung bzw. Selbstverständnis sollen anband des geistigen Gehalts und des äußeren Erscheinungsbildes überprüft werden. Das soll sicher nicht bedeuten, daß das äußere Erscheinungsbild in allen Punkten dem Selbstverständnis entsprechen müßte (mit der Folge, daß die eigene Unvollkommenheit einer Gemeinschaft stets rechtliche Nachteile auslösen würde). Aber irgendwie muß dieses Selbstverständnis nach Auffassung des Bundesveifassungsgerichts jedenfalls auch nach außen sichtbar werden. Diese Überprüfung haben, so das Bundesveifassungsgericht, die staatlichen Organe, letztlich also die Gerichte, vorzunehmen. Natürlich, wer auch sonst? Schließlich geht es um die Anwendung staatlichen Rechts. Die entscheidende Frage ist nur: Nach welchen Kriterien sollen sie prüfen, ob es sich nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um eine Religion bzw. Religionsgemeinschaft handelt? Soll nur eine Tatsachenprüfung stattfinden, die die erwähnte Übereinstimmung von Selbstverständnis und äußerem Erscheinungsbild zum Gegenstand hat oder soll auch subsumiert werden - und wenn ja, unter welchen Religionsbegriff. Was ist also Religion? Nach Auffassung des Gerichts soll offenbar in der Tat eine Subsumtion stattfinden. Zugrundezulegen sei dabei "der von der Verfassung gemeinte oder vorausgesetzte, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen VerbÜTgung entsprechende Begriff der Religion." Und im konkreten Fall werden genannt "aktuelle Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und allgemeines, wie auch religionswissenschaftliches Verständnis." Ein wahrhaft bunter Strauß!
1. Kap.: Die Selbstverständnisproblematik in der Rechtsprechung
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Es ist bedauerlich, daß das Gericht keine Gelegenheit hatte, nach den erwähnten Kriterien eine einzelfallbezogene Subsumtion exemplarisch vorzunehmen. Diese Gelegenheit bot sich deshalb nicht, weil bzgl. der Baha'i eben nach aktueller Lebenswirklichkeit usw. offenkundig war, daß es sich um eine Religionsgemeinschaft handelte. Möglicherweise sind die aufgezählten Kriterien deshalb auch weniger als Versuch einer Definition des Begriffs ,Religionsgemeinschaft' zu verstehen als vielmehr als Umschreibung der hundertprozentigen Fälle: Immer dann, wenn nach sämtlichen aufgezählten Kriterien - einschließlich dem Selbstverständnis - der Charakter einer Religionsgemeinschaft anzunehmen ist, erübrigt sich eine weitergehende Prüfung. Im weiteren Verlauf der Entscheidungsgründe legt das Gericht zunächst dar, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit auch die religiöse Vereinigungsfreiheit umfasse. Dies dürfte unstreitig sein. Interessanter ist schon der Hinweis, daß diese religiöse Vereinigungsfreiheit lediglich eine irgendwie geartete rechtliche Existenz mit der Möglichkeit der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr, nicht aber eine bestimmte Rechtsform gewährleiste. 216 Unvereinbar wäre, so das Gericht, nur ein völliger Ausschluß oder eine unzumutbare Erschwerung der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr. Diese Feststellung hat erhebliche Bedeutung für die Diskussion über die vereinsrechtlichen Folgen der wirtschaftlichen Betätigung religiöser Gemeinschaften. 217 Und es dürfte kaum eine Überinterpretation der Entscheidung bedeuten, wenn man unterstellt, daß diese Ausführungen nicht ohne Seitenblick auf die genannte Problematik gemacht wurden. Gleiches gilt im übrigen für das Ergebnis des nächsten Schritts der Überlegungen des Gerichts: Das religiöse Eigenverständnis der betreffenden Gemeinschaft sei bei der Auslegung der vereinsrechtlichen Vorschriften zwar besonders zu berücksichtigen (und zwingt etwa zu einer ,religionsfreundlichen' Auslegung auch zwingender Vorschriften), dürfe aber nicht dazu führen, unabweisbare Rücksichten auf die Sicherheit des Rechtsverkehrs und auf die Rechte anderer zu vernachlässigen. Auch hier dürfte das Gericht wesentlich die Gläubigerschutzvorschriften im Blick gehabt haben, die bei der Frage, ob religiöse Gemeinschaften ohne Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Betätigung den Status des Idealvereins erlangen können, eine wichtige Rolle spielen. Die erwähnte Aussage des Senats erweist sich als konsequentes Ergebnis einer Abwägung zwischen dem durch Art. 4 GG geschützten religiösen Eigenverständnis und den Schutzzwecken der vereinsrechtlichen Vorschriften: Normen, die die Rechte Dritter schützen, sind eher in der Lage, die Religionsfreiheit zu beschränken als solche, die lediglich die Binnenstruktur des Vereins betreffen. 218 BVerfGE 83, 341 (355) = NJW 1991, 2623 (2614). S. unten III.DA. u. 7. Kap., 1104. 218 Ebenso schon v. Campenhausen, RPfleger 1989, S. 349 ff. (350 f.). Zum gleichen Ergebnis kommt auch OLG Köln, NJW 1991, 1048 und LG Oldenburg, JZ 1992,250. 216
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