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German Pages 270 [272] Year 1986
Stefan Nienhaus Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
85 (209)
w DE
G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1986
Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende Altenberg — Hofmannsthal — Polgar von
Stefan Nienhaus
w DE
G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1986
D6
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der Deutschen
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Nienhaus, Stefan: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende: Altenberg — Hofmannsthal — Polgar / von Stefan Nienhaus. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F.,85 = 209) ISBN 3-11-010626-4 NE: GT
ISSN 0481-3596 © 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
,Den höchsten Sinn im engsten Raum" (Goethe, West-östlicher Divan)
Allen, die mir durch Kritik, Anregungen und freundliche Hinweise geholfen haben, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. An meinem Vater, Frau Mertl und Valeria Bazzicalupo mag es liegen, wenn sich die Zahl der (Schreib- und Stil-) Fehler in Grenzen hält. Meinem Lehrer Professor Geulen danke ich für die geduldige Förderung und Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht beendet worden wäre. Diese Arbeit wurde im Oktober 1984 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität als Dissertation angenommen. Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet. Köln, im März 1986
Stefan Nienhaus
Inhaltsverzeichnis 1. 1.1 1.2 1.3
Vorüberlegungen Zu Gegenstand und Vorgehen der Arbeit Zur Funktion der Textlinguistik für die Interpretation . . . Zur Textgrundlage
1 1 5 7
2.
Zum spezifisch Österreichischen der „Wiener Moderne" . .
9
3.
Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion
13
4. 4.1 4.2
Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht" Das Huysmans — Motto Der „Grenzfall" Rilke
16 16 22
5. 5.1 5.2
Zur Rezeption Altenbergs Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung Zur Problematik des Interesses an Altenberg als historischer Figur
25 25
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe" Zum richtigen Verständnis des Titels Zur Kohärenz des Prosagedichts: „Die Zuckerfabrik" Besitz und Erlebnis der Freiheit: „Im Volksgarten" Literarische Verfahren und Verstehbarkeit: „Blumen-Corso" Erinnerte Hoffnung: „Wie wunderbar" Exkurs: „Gefühlssublimation" und „Über-Ich" Zum Textstatus der Skizzen und der Skizzenreihe Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)" Propagandist der Veränderungen in der Bürgerstube: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
...
29
31 31 33 42 48 54 58 61 63 93
X
Inhaltsverzeichnis
6.10 Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)" 6.11 Eingekerkertes Paradies: „Ashantee" 6.12 Zusammenfassung: Fragment und Antizipation 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
8.
....
Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals Einleitung Kunst versus Leben: „Die Rose und der Schreibtisch" . . . Die Leere des Begriffs: „Gerechtigkeit" Fortuna: „Das Glück am Weg" Rollenlyrik: „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme" Verdinglichte Identität: „Betrachtung" Kampf um die Form: „Erinnerung" „Beredtes Schweigen": Hofmannsthals allegorisierende Erzählweise
115 123 132 140 140 143 146 154 160 162 165 170
8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.4.1 8.4.2 8.5 8.6 8.7 8.8
Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt" Einleitung Vier programmatische Texte: „Motto"; „Warum sie dieses Dichters Werke so liebt"; „Selbstanzeige"; „Selbstbiographie" Die Prosagedichte in „Was der Tag mir zuträgt" Überblick Gescheite unter Narren: „Marionetten-Theater" Wiener Feuilleton Ferienerinnerung: „Angenehme Reise-Eindrücke" Männerphantasien: „La Zarina" Die „Lokalnotiz und deren Dichtung": „Gift" Aphorismus und didaktische Intention Die Versgedichte in „Was der Tag mir zuträgt" Zusammenfassung der Ergebnisse
175 184 184 185 188 188 191 193 196 199 202
9.
Literatur als Lebenshilfe: „Prodrömös"
205
8.1 8.2
10. Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar 10.1 Einleitung 10.2 Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung
174 174
210 210 211
Inhaltsverzeichnis
XI
10.3 Kleine Form und Feuilleton 10.4 Das Café als Bild der Welt: „Der Quell des Übels" 10.5 Der .literarische Charakter' auf der Anklagebank: „La femme incomprise" 10.6 Sensitive Teilnahmslosigkeit: „Die Innerlichen" 10.7 Satirische Kurzprosa: „Einsamkeit" 10.8 Späte Huldigung: Polgars Altenberg-Parodie 10.9 Polgar ohne Altenberg
223 228 232 237 239
11.
Neun Schlußthesen
242
12.
Literaturverzeichnis
245
Namensverzeichnis
213 220
257
1. Vorüberlegungen 1.1 Zu Gegenstand und Vorgehen der Arbeit Gegenstand dieser Untersuchungen ist das deutschsprachige Prosagedicht in der Wiener Literatur zwischen 1895 und 1914. Während das französische und englische Prosagedicht bereits in umfassenden und detailreichen Studien sorgfaltig erforscht wurde (Bernard, Nies, Füger) 1 , findet man zur — durchaus eigenständigen — deutschen Version nur kurze Aufsätze (Fülleborn) 2 , in welchen die Neubegründung des Prosagedichts im Wiener Literaturraum auf wenigen Seiten abgehandelt wird. Hier möchte diese Arbeit eine solidere Basis für weitere Forschungen bereitstellen. Der Bezug auf die allgemeine Formkategorie bedeutet noch nicht, daß diese Untersuchungen sich schon als ein Beitrag zur Gattungsgeschichtsschreibung verstehen. Das Kapitel zum Gattungsbegriff „Prosagedicht" (Kap. 4) zeigt gerade auf, wie wenig Feststellungen zum Genrerahmen über die einzelnen Texte tatsächlich sagen können. Wenn auch die Orientierung an den französischen Vorbildern Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé nicht zu bezweifeln ist, ja, etwa von Altenberg selbst die Erinnerung an diese dem Leser vorab als Lektürehinweis mit auf den Weg gegeben wird, 3 so klärt doch der Verweis auf diese Tradition alleine kaum etwas, sondern verdeckt eher das Spezifische der deutschsprachigen Prosagedichte. Die Argumentation mit den Zusammenhängen innerliterarischer Evolution, die meist zu oberflächlich auf die Identität von formalen Textprozessen isoliert von ihrer innertextuellen Funktion verweist, ist schon durch die notwendige Nichtidentität des von der gesellschaftli-
1
2
3
S. Bernard, Le poème en prose de Baudelaire jusqu'à nos jours. F. Nies, Poesie in prosaischer Welt. Untersuchungen zum Prosagedicht bei Aloysius Bertrand und Baudelaire. W. Füger, Das englische Prosagedicht. U. Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht. U. Fülleborn, Einleitung zu: „Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts. Eine Textsammlung." Vgl. „Wie ich es sehe", I X - X .
2
Vorüberlegungen
chen Einbettung bedingten — nicht definierten — sozialen Gehalts der Texte nicht zwingend für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs der literarhistorischen Untersuchung. Gleichwohl ist das Unternehmen einer möglichst präzisen Erläuterung des Gattungsbegriffs „Prosagedicht" und der Versuch einer Abgrenzung vom Versgedicht zur Klärung des Verständnisrahmens der Analysen notwendig. 4 Man muß sich aber davor hüten, die Analyse des einzelnen Werkes nur zum Beleg für den zuvor gewonnenen Eindruck des Ganzen heranzuziehen. Nicht „ ü b e r die Werke" darf gesprochen werden, sondern das aus dem „Nachvollzug ( . . . ) ihres Geschriebenseins" 5 Gewonnene muß sich zur literaturhistorischen Konzentration verdichten. Die verschiedenen Einzelwerke müssen immer wieder untereinander verglichen werden, soll ein Ansatz zu einer Geschichtsschreibung erreichbar sein. „Diese Überschau indessen darf erst aus der Summe des begriffenen Einzelnen hervorgehen, keineswegs sollte die Erkenntnis des Besonders verwechselt werden mit dessen Subsumtion unter ein historisch Allgemeines." 6 Es wird so nicht von einer definierten Gattung „Prosagedicht" ausgegangen, welcher dann die besondere Ausprägung einfach einzugliedern wäre, sondern der begriffliche Rahmen dient zunächst als Basis-Hypothese für den Versuch eines Überblicks, welcher letztlich erst durch die Ergebnisse der Interpretationen gerechtfertigt wird. Es ist also notwendig, sich den Texten selbst zu widmen. Unter vorsichtiger Heranziehung eines vor allem terminologisch neu bestimmten Untersuchungsinventars, welches die Textlinguistik bereitstellt, 7 wird in möglichst sorgfaltiger Analyse nach der sinnstiftenden Kohärenz, dem Funktionieren der Elemente in der strukturellen Einheit des Werkes gefragt. Textanalysen einzelner Prosaskizzen sollen die Grundlage für eine zusammenfassende Interpretation schaffen, welche die spezifische Erkenntnisleistung dieser kleinen Form zu entdecken sucht.
4
5 6 7
Auch die Unterscheidung zwischen durch die jeweilige Gebrauchssituation bedingten differenten Funktionstypen (vgl. Kap. 10.3) ist sinnvoll als G e r ü s t einer ordnenden Überschau. Zum Begriff des „Funktionstyps": H. Kuhn, Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, S. 88 et passim. P. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, S. 16. P. Szondi, Über philologische Erkenntnis, in: Hölderlin-Studien, S. 23. Diese Heranziehung der Textlinguistik als Hilfswissenschaft für die literaturwissenschaftlich orientierte Textanalyse wird in Kap. 1.2 vorab begründet.
Zu Gegenstand und Vorgehen der Arbeit
3
Ziel ist nicht eine bloß formalistische Stilanalyse: eine Änderung der literarischen Form bedeutet einen Wandel des Denkens, für den Leser eine Erweiterung oder Verengung von Erkenntnismöglichkeiten, die das künstlerische Werk in ihm durch „die volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten" 8 fördert. Die Verstehensversuche des Interpreten sind auf den Raum historischer Realität ausgerichtet, in welchem Literatur ihren Ort im utopischen Denken finden kann. Die Frage nach der Erkenntnisleistung der Texte ist auch zu begreifen als der Versuch einer Bestimmung der Rolle, welche diese Literaturproduktionen in der Utopie möglichen Gesellschaftswandels einnehmen. Es wird also der Rekurs auf außerliterarische Bedingungen zum vollen Verständnis des Gehalts des literarisch Gestalteten immer wieder notwendig sein. 9 Nach einem Kapitel, in welchem der Platz in der innerliterarischen Evolutionsreihe, das Spezifische an der österreichischen Moderne, angedeutet wird (Kap. 2), soll der Versuch über die funktionale Rolle des Kaffeehauses (Kap. 3) in diesem Rahmen einen Beitrag zur Klärung der literarischen Produktionsbedingungen liefern. Auf einen vorab zu gebenden historischen Abriß als einer allgemeinen Information über die sozio-ökonomische Basis für die Produktion dieser Werke, die politisch und wirtschaftlich komplizierte Situation des österreichisch-habsburgischen Reiches von ca. 1890 bis zum Ersten Weltkrieg, wurde verzichtet, da hier inzwischen eine ganze Reihe geglückter Darstellungen vorliegt, 10 denen der Verf. nicht noch eine eigene Paraphrase hinzufügen wollte. 11
8 9
10
11
E. Coseriu, Textlinguistik, S. 110. Zur historisch-gesellschaftlichen Situation am Ende des K.u.K.-Reiches liegen zahlreiche Untersuchungen der Geschichtswissenschaft vor. Vgl. die Arbeiten von Andics, Bibl, Tremel und Zöllner im Literaturverzeichnis. J. M. Fischer, Fin des siècle, S. 1 1 - 2 0 ; A. Rauh, Epoche — sozialgeschichtlicher Abriß, in: H. A. Glaser (Hg.), Deutsche Literatur, Bd. 8, S. 1 4 - 3 2 ; H. Kreuzer, Einleitung zu: Jahrhundertende — Jahrhundertwende, Teil I. Es soll hier nur kurz daraufhingewiesen werden, daß nach dem konsenten Ergebnis dieser historischen Zeitbilder die im Anschluß an die Erinnerungen Stefan Zweigs in den Literaturgeschichten immer wieder tradierte Rede von einer „Welt der Sicherheit" wenig mit der objektiven historischen Situation zu tun hat. Zweigs Blick auf das damalige Österreich erklärt sich (neben der Zugehörigkeit zum mehr oder weniger saturierten höheren Bürgertum) hauptsächlich wohl aus der unglücklichen Lage des Exils, in der er seine Aufzeichnungen verfaßte: „Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in der ich aufgewachsen bin, eine
4
Vorüberlegungen
Für den Zeitraum der Jahrhundertwende in Wien wird das Frühwerk Peter Altenbergs als Höhepunkt und Idealtypus prosalyrischen Schaffens behauptet und steht deshalb im Zentrum des ersten Teils der Untersuchung. Den Einzelinterpretationen, die anhand exemplarischer Texte aus „Wie ich es sehe" einen Begriff des bei Altenberg entwickelten Prosagedichts geben sollen (Kap. 6), sind kurze Bemerkungen zur Rezeption vorgeschaltet (Kap. 5); 12 sie veranschaulichen, wie gerade das Werk dieses Autors bisher in besonderem Maße durch schnell gefundene Etiketten („Kaffeehausliterat") verharmlost und durchs Anekdotische verdeckt wurde. Von diesem Kern der Arbeit aus wird das Blickfeld in synchroner und diachroner Richtung erweitert. Die Analyse der etwa gleichzeitig mit dem Frühwerk Altenbergs entstandenen Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals (Kap. 7) hat ein umfassenderes Verständnis der Möglich-
12
handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das Goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit." (Die Welt von Gestern, S. 16) In Wirklichkeit war das K.u.K.-Reich seit den Krisen der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg, die große Teile der Bevölkerung in schlimmste ökonomische Zwangslagen versetzten, ein von mannigfachen Problemen ökonomischer und sozial-ethnischer Art bedrohtes Land, dessen Führungsspitze den Veränderungen nur durch Immobilität zu begegnen suchte. Den Literaten des „Jungen Wien" ist im Gegensatz zu Stefan Zweig die Umbruchsstimmung in diesen letzten Jahren der Monarchie nicht entgangen. Am deutlichsten formuliert seine Kritik wieder einmal Hermann Bahr: „Es scheint nur, daß Habsburg herrscht oder irgendein Volk herrscht. Wirklich herrscht eine Sippschaft. Es ist der Klüngel der .Familien', der herrscht. Wirklich ist es immer noch so, daß ein paar tausend Menschen sich von der Monarchie und den Völkern soutenieren lassen und dafür der Dynastie und den Völkern kommandieren dürfen. Ihre Macht zu brechen, um einen Staat zu schaffen, ihre Willkür durch seine Notwendigkeit zu zerstören, nicht mehr ihren Schein, sondern was wir wirklich sind, zu zeigen, das ist das österreichische Problem." (Wien, S. 127) Die kurzen Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte folgen einem Gedanken, den M. Cervenka („Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werkes", S. 39) präzise und knapp formuliert hat: „Der Widerhall bei den Kritikern wird hier als symptomatische Erscheinung aufgefaßt, und zwar im zweifachen Sinn des Wortes: einmal ist er das Symptom eines Systems von Normen, das in der Zeit der Konkretisation gültig ist, andererseits das Symptom bestimmter Eigenschaften des Werks." Bei Hofmannsthal wurde aus zwei Gründen auf ein derartiges Kapitel verzichtet: Zum einen ist die Sekundärliteratur über Hofmannsthal insgesamt fast unüberschaubar geworden und auch die über sein erzählerisches Werk kaum sinnvoll in einer kurzen Überschau referierbar. Zum anderen ist jedoch die über die Prosagedichte Hofmannsthals so klein an Zahl, daß jeweils bei den einzelnen Interpretationen auf sie verwiesen werden kann.
Zur Funktion der Textlinguistik für die Interpretation
5
keiten der Prosagedichtform im Rahmen der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende zum Ziel. Die Untersuchung des weiteren Frühwerkes Altenbergs („Was der Tag mir zuträgt" und „Prödrömös") stellt den ersten Schritt der Suche nach einer möglichen Fortsetzung der hier bei Altenberg und Hofmannsthal so originär erschienenen Form dar (Kap. 8 u. 9). In einem daran anschließenden Abschnitt wird das Werk Alfred Polgars auf eine Weiterwirkung des Prosagedichts hin befragt werden. Damit soll hier Polgar nicht zum Epigonen Altenbergs erklärt werden 13 und auch in einer Einfluß-Analyse soll sich die Leistung dieser Kapitel nicht erschöpfen. Daß sich das Frühwerk Polgars zu den Vorläufern in der literarischen Reihe, den frühen Prosaskizzen Altenbergs, in einem eindeutigen Dialogverhältnis befindet, offenbart sich schon dem oberflächlichen Lektürevergleich. Inwiefern aber die Auseinandersetzung Polgars mit dem Prosagedicht zu einer Weiterentwicklung dieser Form oder auf einen anderen Weg führt, muß genauer anhand der Texte analysiert werden (Kap. 10). 1.2 Zur Funktion der Textlinguistik für die Interpretation Die Benutzung eines Begriffsinventars, das aus den spezifischen Problemstellungen eines neueren Zweiges der Linguistik entstanden ist, macht bei der Analyse literarischer Texte eine vorgängige Begründung notwendig. Einige mögliche Mißverständnisse in bezug auf diese Heranziehung von Textlinguistik als Hilfswissenschaft der Literaturwissenschaft sollen in diesem Kapitel ausgeräumt werden. Eine Textlinguistik als „Linguistik des Sinns" 14 nähert sich zwangsläufig dem Forschungsterrain der Literaturwissenschaft, deren Aufgabe ja die Interpretation von Texten wesentlich ist. Die Frage nach der Kohärenz ist die Frage danach, was eine Ansammlung von Sätzen überhaupt zum Text werden läßt, was in bezug auf das Sprachverhalten eine Einheit von Sinn konstituiert. 15 13
14 15
Vgl. etwa C. Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, S. 190. Vgl. E. Coseriu, Textlinguistik, S. 51. Die „sieben Kriterien der Textualität" von Beaugrande/Dressler (R. A. de Beaugrande, W. U. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 7 — 14) sind dabei in dem Kriterium „Kohärenz" schon enthalten. So kann die Unterscheidung zwischen „Kohäsion" (als .sprachlicher' Oberflächentext) und Kohärenz (als ,inhaltlicher' Tiefentext) nicht
6
Vorüberlegungen
Die Kohärenzfrage muß sich jeder Interpret eines Textes stellen bei dem Versuch dessen Sinn zu verstehen, überprüfbar und nachvollziehbar zu beschreiben. Etwas anderes ist es jedoch, Konstitutions^wi/^ für Textkohärenz allgemein aufstellen zu wollen. In einer Textlinguistik, die Sprechen als eine organisierte Form menschlichen Handelns unter anderen begreift, besteht die Annahme, daß man alle Arten von Textproduktion und Textrezeption „als Reihen von regelgeleiteten Prozessen" 16 begreifen könne, deren Regeln sich feststellen und zur Schema-Entwicklung für Textgenerierung vom Einzelfall isolieren und verallgemeinern ließen. Die Textlinguistik ist bisher einen Beweis für die Möglichkeit einer Voraussage der Zeichenrelationen für jeden beliebigen Text (und damit eines Regelsystems für jede Textinterpretation) schuldig geblieben. Der Versuch einer möglichst vollständigen Formalisierung von Textverstehensprozessen hat bisher nur zu unüberschaubaren Schemata 17 geführt. Seinen einfachen Grund hat dies in der Tatsache, daß ein Text schlicht eine je individuelle Konstitution von Sinn darstellt, die nicht vorhersagbar ist. „Wirklich möglich ist nur ( . . . ) die Aufstellung einer Liste von allgemeinen Möglichkeiten, die dem Textproduzenten zur Erzeugung des Sinns zur Verfügung stehen. Es handelt sich dabei jedoch um eine offene Liste; wir werden völlig neue Möglichkeiten der Erzeugung von Sinn immer ( . . . ) dann in unsere Liste aufnehmen können, wenn wir bei der Interpretation eines noch nicht untersuchten Textes auf sie gestoßen sind und sie verstanden haben." 18 Solche „Listen" — wie auch die bescheidenere „Liste" einer bloß transphrastisch orientierten Linguistik, die sich nur zu Satzverknüpfungsmöglichkeiten äußert 19 — sind in der umgekehrten Richtung wieder sinnvoll für den Interpreten, dem sie „ein gewisses Aufmerksam-
16 17
18 19
logisch, sondern höchstens heuristisch begründet werden; (vgl. dazu auch R. van der Velde, Interpretation, Kohärenz und Interferenz, S. 27: „Eine separate Behandlung von Kohäsion und Kohärenz ist nicht folgerichtig. Wenn wir auch Kohäsion und Kohärenz zunächst getrennt betrachten, so wird sich doch, je weiter wir in der Behandlung fortschreiten, um so mehr zeigen, daß der Kohäsionsbegriff zu einem Großteil in den interdisziplinär ausgerichteten Kohärenzbegriff integriert werden muß.") So muß auch ein kohärenter Text immer notwendig das Kriterium der „Informativität" erfüllen (und sei es auf das Minimum der Nachricht vom Vorhandensein des Textes überhaupt reduziert). R. van der Velde, Interpretation, Kohärenz und Interferenz, S. 19. Man vergleiche etwa die Beispiele in dem Sammelband hrsg. v. K. DorfmüllerKarpusa und J. S. Petöfi: Text, Kontext, Interpretation. E. Coseriu, Textlinguistik, S. 112. E. Coseriu, Textlinguistik, S. 1 5 4 - 1 7 6 .
Zur Textgrundlage
7
keitsfeld" 20 eröffnen können, jedoch „nicht als Systematik zu jeder Interpretation". Jedes literaturwissenschaftliche Sprechen über eine Gattung andererseits ist immer schon angewiesen auf eine solche Sammlung spezifischer Sinnerzeugungs-Möglichkeiten, die diese bestimmte Gattung von anderen unterscheidet. Jedes Verstehen eines einzelnen Textes vollzieht sich mehr oder weniger vor einem derartigen Hintergrund und immer muß die gattungsbezogene Erwartung am Einzelfall korrigiert werden.
1.3 Zur Textgrundlage Das Werk Altenbergs ist dem heutigen Leser in einer Reihe von Auswahlbänden wieder leicht zugänglich. 21 Diese sind leider, so unterschiedlich sie in der Qualität der Wiedergabe des Einzeltextes sein mögen 22 , allesamt unbrauchbar schon allein deshalb, weil sie — was besonders für die Texte aus „Wie ich es sehe" wichtig ist — die „StudienReihen" zerpflücken, dies meist auch noch ohne Hinweis für den Leser. Der Interpret, der sich mit dem originalen Werk Altenbergs und nicht mit den durch die Herausgeber verstümmelten Texten beschäftigen will, muß schon auf die noch von Altenberg selbst edierten, heute nur noch in Bibliotheken zugänglichen Ausgaben zurückgreifen. Unverständlicherweise wurde ein Nachdruck dieser Bücher — die sicherlich beste Art den heutigen Leser mit dem Werk Altenbergs bekannt zu machen — nach dem Zweiten Weltkrieg niemals mehr unternommen. Diese Arbeit zitiert aus — soweit vorhanden — späteren und am weitesten verbreiteten Auflagen der Werke. 23
20
21
22 23
W. Nolting, Literatur oder Kommunikation, S. 59. Es handelt sich hier letztlich um eine Erneuerung des Einwands gegen H. Lausbergs „Handbuch der literarischen Rhetorik". Auch die literarische Rhetorik geht fälschlicherweise von einer vollständigen Vorhersagbarkeit der Textmöglichkeiten aus. Sonnenuntergang im Prater, hrsg. v. H. D. Schäfer; Das große Peter Altenberg Buch, hrsg. v. W. J. Schweiger; Ausgewählte Werke, hrsg. v. D. Simon. Die Ausgabe von Schweiger ist in dieser Hinsicht den anderen vorzuziehen. Bei „Wie ich es sehe" aus der „zehnten und elften vermehrten Auflage" 1918, die ein unveränderter Nachdruck der „vierten vermehrten Auflage" von 1904 ist. „Was der Tag mir zuträgt": „fünfte vermehrte und veränderte Auflage" 1913 = unveränderter Nachdruck der „zweiten vermehrten" Auflage von 1902. „Prödrömös": Dritte Auflage von 1912 (unverändert nach der ersten Auflage von 1905). Zu den Unterschieden zwischen den verschiedenen Auflagen vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 7 - 1 0 .
8
Voriiberlegungen
Die vom Freien Deutschen Hochstift und vom Frankfurter GoetheMuseum geförderte „Kritische Ausgabe" der Werke Hofmannsthals enthält in den Bänden 28 und 29, die von Ellen Ritter herausgegeben wurden, mit einer Ausnahme alle Prosagedichte.24 Nur der spätere Text „Erinnerung" findet sich nicht in dieser Ausgabe und wird von der Editorin der Erzählungen erstaunlicherweise noch nicht einmal erwähnt; hier muß auf die „Gesammelten Werke" zurückgegriffen werden.25 Einige der Texte aus den ersten drei Buchveröffentlichungen Alfred Polgars liegen inzwischen im zweiten Band („Kreislauf) der 1982 begonnenen Ausgabe der „Schriften" vor, jedoch handelt es sich dabei meist um die gekürzten Fassungen aus späteren Sammelbänden.26 Texte aus „Der Quell des Übels", „Bewegung ist alles" und „Hiob" werden deshalb nach den ersten und einzigen Auflagen dieser Bücher von 1908, 1909 und 1912 zitiert.
24
25
26
Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 28 (Erzählungen 1), S. 5 - 1 1 ; Bd. 29 (Erzählungen 2), S. 225 - 241. Benutzt wurde der Band: „Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen" (S. 454 f.) der von B. Schoeller und R. Hirsch herausgegebenen Ausgabe „Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden", einer Neubearbeitung der „Gesammelten Werke in Einzelausgaben", die von H. Steiner herausgegeben wurde. Vgl. A. Polgar, Schriften Bd. 2: Kreislauf, S. 1 - 3 1 ; „Quellennachweis": ebd., S. 387.
2. Zum spezifisch Österreichischen der „Wiener Moderne" Die Frage nach dem Spezifischen einer österreichischen Literatur oder der Literatur aus Österreich (die Wahl der einen oder der anderen Bezeichnung setzt schon deutlich verschiedene Akzente) war erst vor einigen Jahren noch Gegenstand eines Symposions der Universität Bonn. 1 Man kann nicht sagen, daß die einzelnen Beiträge dieses Treffens über das Verdienst, das Problem wieder in Erinnerung gerufen zu haben, hinaus wirklich Neues zu seiner Lösung zu Tage förderten. 2 Eine Jahrhunderte zurückreichende Kontinuität einer eigenständigen, deutlich sich von der übrigen deutschsprachigen sich unterschei-
1 2
Literatur aus Österreich. Österreichische Literatur. Hrsg. v. K. K. Polheim (1981). So gibt R. Bauer (Österreichische Literatur: Der Bedeutungswandel eines Begriffs, in: Literatur aus Österreich, S. 23—25) einen Überblick über die literaturwiss. Begriffsbildung und einen ausführlichen Katalog aus Österreich stammender Dichter, ohne jedoch genau benennen zu können, worin denn nun „die österreichische Signatur, das österreichische Familienmerkmal" (ebd., S. 35) wirklich bestehe. Liegt es in der „barocken Kontinuität", in dem von Claudio Magris postulierten „HabsburgMythos" oder vielleicht allgemein in der spezifischen „sozialen und politischen Lage" (ebd., S. 34) begründet? Auch E. Thurner (Gibt es eine österreichische Literatur?, in: Literatur aus Österreich, S. 38—46) argumentiert uneinheitlich. Zunächst spricht er davon, daß für ihn Österreich als „ausschließlich politischer Begriff' (ebd., S. 39) nur Geltung habe, um dann am Schluß seines Vortrages festzustellen: „Herzogtum Österreich, habsburgischer Weltstaat und mitteleuropäische Völkermonarchie, das sind nicht allein politische Erscheinungsformen, sondern geistige Ordnungsbilder, in denen sich die österreichische Dichtung erfüllt. ( . . . ) Sie findet ihre Form aber nicht im Gegensatz zur deutschen Dichtung." Und schließlich: „Es bleibt beim Paradox, ( . . . ) Paradoxe soll man nicht auflösen wollen." U. Fülleborn (Zur Frage der Identität von österreichischer und moderner Literatur, in: Literatur aus Österreich, S. 47—72) unternimmt den interessanten Versuch, vom „Klassiker" der österreichischen Literatur, von Grillparzer, ausgehend, das strukturell konstante semantische Zentrum österreichischer Literatur zu bestimmen. Dem vom Einzeloeuvre abstrahierten Merkmalszusammenhang eignet jedoch ein so hoher Allgemeinheitsgrad, daß er mir kaum mehr etwas spezifisch Österreichisches zu treffen scheint: „In dem Modell der klassischen Moderne Österreichs, wäre als vornehmstes Ziel wiederum die Erfahrung und Darstellung der Wirklichkeit jenseits aller unzureichenden gedanklichen Vermittlungen und, wie wir jetzt sagen müssen, ideologischen Verschleierungen oder Verkrustungen einzusetzen." (ebd., S. 59)
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Zum spezifisch Österreichischen der „Wiener Moderne"
denden, österreichischen Literatur behaupten zu wollen, scheint mir unmöglich zu sein, denn: Es steht nicht ewig fest, was Osterreich ist, sondern seine Existenz muß aus den Voraussetzungen jeder Zeit neu erfahren und begründet werden. 3
Eine umrißhafte Definition des Begriffs der Literatur der Wiener Jahrhundertwende als eines spezifisch österreichischen Ereignisses ist dagegen ein viel bescheideneres, aber wohl erfolgversprechenderes Unternehmen. Hier sollen nur einige Voraussetzungen für einen solchen Versuch angedeutet werden. Dabei sind die folgenden Einwände R. Bauers gegen eine reine Originalität der Wiener Moderne sicher bedenkenswert: Die um 1900 in Wien geltenden künstlerischen Parolen sind importiert. Der Wiener „Sezession" ging eine in München voraus und folgte eine in Berlin. Eine „Freie Bühne" gab es schon seit langem in Paris, Berlin und sogar in München, als der Wiener „Verein für moderne Literatur" sich ebenfalls diesen Titel gab. „Jung-Österreich" und „Jung-Wien" sind Parallelbegriffe zu „Das jüngste Deutschland". Erneut will man, ä tout prix, mit von der Partie sein. Hermann Bahr, lange Zeit der vorlaute Wortführer der Jung-Wiener, kann und darf diese Rolle spielen, weil er, der Weitgereiste, über die letzten Errungenschaften in Berlin und Paris berichten kann oder es wenigstens glaubhaft behauptet. 4
Doch sind die Namen nicht schon die Sache selbst. So hat denn das „Jung-Wien" ganz im Gegensatz zum Berliner Pendant nicht viel mit Naturalismus zu tun. Auf österreichischem Boden hat es überhaupt keinen Naturalismus gegeben. Hermann Bahr hat als einer der ersten dessen Überwindung proklamiert. 5
Egon Friedell formulierte damit paradox pointiert einen zentralen Faktor für die Eigenart einer österreichischen (und d. h. zu dieser Zeit stets: Wiener) Literatur. In Wien gab es eine sich als Weiterentwicklung des auch im deutschen Kaiserreich noch nicht einmal voll ausgebildeten Naturalismus verstehende Literaturbewegung, der es um eine „Synthese von Naturalismus und Romantik" 6 — so die programmatisch unscharfe Formulierung Hermann Bahrs — ging. So kann Bahr davon sprechen, daß man in Österreich — etwa in der Zeitschrift E. M. Kafkas „Moderne Dichtung" — nur „die Allüren der Münchener Gesellschaft' und der .Freien Bühne' nahm". 7 Der Glauben an eine Darstellungsmög3 4
5 6 7
E. Thurner, Gibt es eine österreichische Literatur?, in: Literatur aus Österreich, S. 39. R. Bauer, Österreichische Literatur oder Literatur aus Österreich, in: R. A. Kann und Fr. E. Prinz (Hg.), Deutschland und Österreich, S. 280. E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 1455. H. Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, S. 12. H. Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, S. 143.
Zum spezifisch Österreichischen der „Wiener Moderne"
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lichkeit der vor allem als soziale verstandenen Realität im Sinne objektiver Widerspiegelung, wie ihn die sozialdemokratisch orientierten Berliner Autoren der Zeit besaßen, hat sich in Österreich nie ausprägen können. Dies hat seinen Grund zum einen im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß und der von ihm unmittelbar ausgehenden „Nötigung des Stoffs". Die Industrialisierung vollzog sich in Österreich bei weitem nicht so rasch wie im Deutschen Reich und so auch weitgehend ohne die dort festzustellenden sozialen Härten. 8 So war denn der Darstellungszwang auch geringer und das Gefühl staatlicher und gesellschaftlicher Kontinuität größer (wenn auch der Eindruck Stefan Zweigs vom „goldenen Zeitalter der Sicherheit" 9 eine Illusion war, die die auch in der Habsburger Monarchie unübersehbaren gesellschaftlichen Widersprüche ignorierte). 10 So ist auch der Zusammenhang mit der eigenen literarischen Tradition enger. Das Werk Arthur Schnitzlers etwa schließt sich deutlich an die Novellen eines Ferdinand v. Saar an, der „Leutnant Gustl" ist eindeutig ein (psychologisch viel gründlicher motivierter und von der Form der Darstellung kaum vergleichbarer) Nachfolger des „Leutnant Burda". H. Bahr beschreibt diese gegen den Naturalismus gerichtete Literatur als eine Art „Impressionismus": Das charakterisiert die neue Phase des Geistes. Er verläßt das Sein; mit dem Materialismus, mit dem Naturalismus ist's aus. Aber er flüchtet nicht in das Ich zurück; er wird die alte Romantik nicht wiederholen. Sondern in das Werden des Seins zum Ich hinüber, in den Prozeß vom Wirklichen zum Denken hin, wo er nicht mehr draußen und noch nicht drinnen ist — da will er eindringen. 11
Doch ist es nicht nur diese besondere österreichische Entwicklung im Lauf der literarischen Evolution, welche die Behauptung eines Spezifischen der Wiener Moderne zur Zeit der Jahrhundertwende stützen kann, sondern es gilt dabei auch noch zusätzliche, die Literatur zwar nur mitbedingende, sie als Kulturfaktor mit relativer Autonomie nicht determinierende, ökonomisch-gesellschaftliche Bedingungen zu berücksichtigen. Es soll die These gewagt werden (ohne daß sie hier näher begründet werden könnte), daß man die österreichische Literatur der Jahrhundertwende, insbesondere aber das Phänomen des Prosagedichts nur als 8 9 10 11
Vgl. J. M. Fischer, Fin de siècle, S. 1 1 - 2 1 . St. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 16. Vgl. Kap. 1.1, Anm. 11. H. Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, S. 109.
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Zum spezifisch Österreichischen der „Wiener Moderne"
spezifisch großstädtische begreifen kann und zwar als eine im deutschsprachigen Raum nur in Wien mögliche. Denn im Gegensatz zu Berlin, dessen kulturelle Blütezeit erst nach dem Ersten Weltkrieg beginnen sollte, war in Wien schon die Verschmelzung der langen Tradition als Residenzstadt einer europäischen Weltmacht mit der Erneuerung zu einer industriell und infrastrukturell entwickelten modernen Großstadt vollzogen. Aus der liberalen, altväterlichen, gemächlichen Stadt ist die sanfte Pracht des neuen Wien gewachsen. Die große Entwicklung der Industrie schwellt auch das Vaterland. Andere Klassen haben politisches Recht, wirtschaftliche Geltung, gesellschaftliche Kraft verdient. Auf den Straßen, in den Gedanken, in den Sitten wechselt die Welt. Alles ist neu und ist es doch wieder in der alten, ewig unveränderlichen Art des Landes. Das möchten sie in die Dichtung bringen, diese liebe wienerische Weise von einst, aber mit den Strophen von heute. 12
Wenn auch Dichter wie Altenberg ihre Verleger schon in Berlin fanden, so kann doch das erste Auftreten vor allem dieser literarischen Form des Prosagedichts in Wien und nicht etwa in Berlin aus diesem besonderen Korrespondieren von spezifischer literarischer Tradition mit den einzig hier für den deutschsprachigen Raum vorfindlichen Bedingungen der Weltstadt verstanden werden. 13 Jene .Sanftheit', die Bahr bei aller modernen großstädtischen Gigantomanie an Wien doch noch meint feststellen zu können, ist nicht zuletzt an die lange Tradition einer ausgeprägten Kaffeehaus-Kultur gebunden. In einem Maße wie wohl kaum in einer anderen vergleichbaren Großstadt hat das Kaffeehaus hier — und dies ist ganz und gar nicht abwertend oder ironisch gemeint — eine herausragende Bedeutung für die künstlerische Produktion erlangen können.
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H. Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, S. 145. Die engen Kontakte zwischen George und Hofmannsthal sprechen nicht gegen diese These, sondern bestätigen als Ausnahme den Sachverhalt. Ist doch das Werk Georges in der Literatur des Deutschen Reiches ein bedeutender Sonderfall, und es ist deshalb sicher nicht zufallig, daß sich der Autor aus Bingen auf der Suche nach Bundesgenossen zuallererst nach Wien begibt. (Vgl. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hrsg. v. R. Boehringer, S. 7—17.)
3. Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respectloser Spaten auch das ehrwürdige Cafe Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben. Ein hausherrlicher Entschluss, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Produktion wird grausam abgeschnitten. Zu Hause mögen sich Literaten auch fernerhin froher Gesellschaft hingeben; das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen, spielte sich in jenem Kaffehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrscentrum zu repräsentieren. 1
Die kritische Ironie des jungen Karl Kraus, die sich hier gegen die Jung-Wiener Literaten um Hermann Bahr richtet, weist bei aller satirisch-übertreihenden Formulierung auf einen Tatbestand, der immer wieder Gegenstand anekdotischer und feuilletonistischer Betrachtung wurde: das Kaffeehaus als „literarisches Verkehrszentrum". Den vielen Erinnerungen und Geschichten über das literarische Kaffeehaus der Jahrhundertwende in Wien soll nicht eine weitere hinzugefügt werden. Dieses Kapitel ist notwendig, weil die gesellschaftliche Funktion dieser Institution bisher noch nie auf den Begriff gebracht wurde. In den kulturgeschichtlichen und volkskundlichen Abhandlungen zum Kaffeehaus sucht man vergeblich nach der Fragestellung, die uns hier interessiert.2 Einen Hinweis dagegen gibt die Bemerkung J. M. Fischers über das Fin de siele-Bewußtsein als „Ausdruck einer" von der Gesellschaft „abgetrennten Subsinnweit".3 Die Literatur dieser Zeit ist gekennzeichnet durch ein krasses Mißverhältnis zwischen dem Selbstbewußtsein ihrer Produzenten und der tatsächlichen öffentlichen Resonanz. Das Bewußtsein einerseits, den eigentlich fortschrittlichen
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K. Kraus, Die demolirte Literatur, S. 3. Vgl. G. Gugitz, Das Wiener Kaffeehaus; W. Jünger, Herr Ober, ein' Kaffee! Illustrierte Kulturgeschichte des Kaffeehauses; H. Weigel, Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung, in: Das Wiener Kaffeehaus, S. 6 — 24; G. Oberzill, Ins Kaffeehaus. Wichtig ist der summarische Überblick, den H. Kreuzer in seinem Buch „Die Bohème" über die „Bindung an öffentliche Lokale (Café, Künstlerkneipe, Kabarett)" gibt (S. 202-216). J. M. Fischer, Fin de siècle, S. 20. Vgl. für das Folgende: Fischer, S. 2 0 - 2 3 .
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Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion
Teil der Kultur zu bilden und die Tatsache andererseits, einer Gesellschaft gegenüberzustehen, die sich im wesentlichen einer anderen Literatur als adäquatem und unkritischem Ausdruck ihrer Ideologie bedient, führt bei den Literaten der Wiener Moderne überwiegend zu einem scheinbar apolitischen Rückzug in die Harmonie einer „Subgesellschaft".4 Vor diesem Hintergrund soll die Kraussche Satire noch einmal zitiert werden; der Abbruch des „Griensteidl" beginnt, die Gäste müssen schnellstens den Raum verlassen: Alles muß mit. Zögernde Dichter werden sanft hinausgeleitet. Aus dumpfer Ecke geholt, scheuen sie vor dem Tag, dessen Licht sie blendet, vor dem Leben, dessen Fülle sie beeindrucken wird. Gegen dieses Licht ist das Monocle bloss ein schwacher Schutz; das Leben wird die Krücke der Affectation zerbrechen . . . Wohin steuert nun unsere junge Literatur? Und welches ist ihr künftiges Griensteidl? 5
Es sollte schnell gefunden werden, das Café „Central" in der Herrengasse trat die bruchlose Nachfolge an: Das Café ,Central' wurzelte in den neunziger Jahren, im Frühlingsimpressionismus, im Hermann Bahr'schen Reform-Österreich; hier hatte der abtrünnige Journalismus sein Dach, der Empörungswille junger Theater- und Musikrezensenten; weshalb es denn auch im Gebäude der ehemaligen Produktenbörse untergebracht war, weihevoll zwischen den Arkaden und Säulenhöfen des alten Liberalismus eingebettet. 6
Zur Kennzeichnung dieses Kaffeehauses wiederholt nun Alfred Polgar in dem ersten Satz der „Theorie des Central" genau den Sachverhalt, mit dem Kraus seine Kritik des „Griensteidl" und seiner Literaten abschloß: Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Cafehäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen. Was sieht man schon? 7
Die „Scheu vor dem Leben", der Versuch, die „Welt nicht anzuschauen", bedeutet ja nichts anderes als den Rückzug in die Subgesellschaft und damit ins Kaffeehaus als deren vornehmlichen Treffpunkt. Polgars Beschreibung spiegelt in aufschlußreicher Weise die ambiva4 5 6
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J. M. Fischer, Fin de siècle, S. 22. K. Kraus, Die demolirte Literatur, S. 35. A. Kuh, Luftlinien, S. 20 f. Bis zur Eröffnung des „Herrenhof" im Jahre 1918 „war weit und breit ein einziges Literatur-Kaffee vorhanden: das .Central' ". (Kuh, ebd.) In Kuhs Schilderung spricht sich schon deutlich die Kritik für die jüngere Literatengeneration (dies heißt zugleich: der „Herrenhof'-Gäste an den „Centralisten") an den ihnen nun veraltet erscheinenden, zu wenig entschieden politisch-kritischen Vorläufern aus. A. Polgar, An den Rand geschrieben, S. 85.
Das Kaffeehaus als Ott literarischer Produktion
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lente, sich immer wieder in selbstironischen Bemerkungen äußernde Situation der Literaten wider. Zum einen enthält sie die Internalisierung des notorischen Vorurteils von der „Lebensferne" dieser Autoren, die die Wirklichkeit einzig noch durch die Scheiben des Kaffeehauses wahrnähmen. 8 Die Luft des „Central" bestimme ein ganz besonders Klima, in dem das Lebensunfähige, und nur dieses, bei voller Wahrung seiner Lebensunfähigkeit gedeiht. 9
Zum anderen enthält schon die mokante Frage: „Was sieht man schon?" die positive Unterstreichung der bewußten Abwendung von der Realität, bzw. dem, was sich dafür ausgibt. Denn unter Polgars Einwand steckt auch die Behauptung, daß es über die Wirklichkeitsbeobachtung, die das Kaffeehaus bieten kann, hinaus noch mehr zu sehen gebe. Man kommt den Dingen nicht dadurch auf die Spur, versteht sie nicht besser, indem man sie aus der Nähe betrachtet, sondern erst aus der Distanz wird ihr konkretes Wesen offenbar, das sie in der distanzlosen Erfahrung als nur scheinbar Konkretes, in Wahrheit als je für sich sinnlich erscheinendes Abstraktes, verbergen. Für den Verlust des Vertrauens in die Wirklichkeit zahlt das Subjekt den Preis, „ohne die Sicherheiten, die das Gefühl gibt, Teilchen eines Ganzen (dessen Ton und Farbe sie mitbestimmen) zu sein" 10 , leben zu müssen. So sind die Ausgeschlossenen der gegenseitigen Hilfe bedürftig, „ihre schwankenden Einzelstimmen können der Stütze des Chors nicht entbehren". 11 Doch besitzen sie als sich selbst von der Gesellschaft Ausschließende auch ein positives Gruppengefühl, das sich in Polgars Sätzen gegen Schluß seines Feuilleton-Artikels deutlich ausspricht: Aber wer sich für das Café Central interessiert, der weiß das alles ohnehin, und wer sich nicht für das Café Central interessiert, an dessen Interesse haben wir keines. 12
Für die Schriftsteller des „Jungen Wien" und ihre Nachfolger ist das Kaffeehaus die wichtigste soziale Institution. Sie ist bedeutsam als selbstgewählte — und durch die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz auch zugewiesene — Rückzugsmöglichkeit von dem, was man an der Realität ablehnt. Das Kaffeehaus ist der soziale Kristallisationspunkt, der institutionalisierte Versammlungsort dieser Subgesellschaft.
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Vgl. H. D. Schäfer, Peter Altenberg und die Wiener „Belle epoque", S. 383; M. Kesting, Peter Altenberg redivivus, S. 86. A. Polgar, An den Rand geschrieben, S. 85. A. Polgar, An den Rand geschrieben, S. 86. A. Polgar, An den Rand geschrieben, S. 86. A. Polgar, An den Rand geschrieben, S. 90.
4. Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht" 4.1 Das Huysmans-Motto „Wie ich es sehe" 2ählt durch das erst ab der zweiten Auflage dem Text vorangestellte 1 Huysmans-Motto zu den seltenen Fällen, wo ein Autor seinem Werk vorab gleichsam eine Begründung der Gattungswahl 2 mit auf den Weg gibt. Ausführlichkeit und Länge des Zitats lassen vermuten, daß es im Falle des Prosagedichts in Deutschland (im Gegensatz vor allem zum Frankreich der Zeit) ein Informationsdefizit zu reduzieren galt, sollte das Wissen des Lesers um die bewußte Formwahl des Autors seine rezeptionssteuernde Wirkung haben. Das Motto erhält so eine wichtige Funktion bei der Konstitution eines durch die Gattungswahl verursachten Erwartungshorizontes 3 , der im Falle des Prosagedichts zunächst nicht vorausgesetzt werden konnte bzw. der sich ohne diese vorab gelieferte Leserinformation als enttäuschte Erwartung („Entweder ,Prosa' o d e r ,Gedicht', aber beides miteinander kombiniert?!") herausgebildet hätte. 4 Mit dem Hinweis auf den Roman von Joris Karl Huysmans „A rebours" (1884) stellt Altenberg eine Verbindung zu einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon als bekannt vorauszusetzenden literarischen Tradition des Auslandes her, zu dem in Frankreich seit der Mitte des Jahrhunderts verstärkt auf dem Literaturmarkt vertretenen „poèmes en prose". Beginnend etwa bei Aloysius Bertrand („Gaspart de la Nuit"; 1842) über Charles Baudelaire 5 („Petit 1 2 3
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Vgl. dazu: P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 7 f. Zur Problematik des Gattungsbegriffs allgemein vgl. K. Hempfer, Gattungstheorie. H. J. Jauß („Literaturgeschichte als Provokation", S. 175) definiert den Begriff .Erwartungshorizont' in diesem Zusammenhang als „das Verhältnis vom einzelnen Text zur gattungsbildenden Textreihe". Siehe auch: M. Cervenka, Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, S. 150 f. Alle Annahmen über mögliche Leserrezeption sind natürlich als weitgehend spekulativ anzusehen. Insgesamt bleibt die Rede vom „Erwartungshorizont" mehr oder weniger Spekulation, wenn eine empirische Leserforschung fehlt und auch diese wird bei der Begrenzung ihrer Möglichkeiten nicht viel zur Lösung des Dilemmas beitragen können (vgl. dazu: S. J. Schmidt, Grundzüge einer empirischen Literaturwissenschaft). Unmittelbar im Anschluß an den von Altenberg zitierten Text folgt bei Huysmans ein Hinweis auf Baudelaire, Verlaine und Mallerme („A rebours", S. 194).
Das Huysmans-Motto
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poèmes en prose"; 1869), Arthur Rimbaud („Une Saison en Enfer"; 1873 und „Les illuminations"; 1886) und schließlich durch Stéphane Mallermé („Pages"; 1891) hatte sich dort eine literarische Reihe konstituiert, die das poème en prose als Gattungsbegriff im Bewußtsein des Publikums fest verankert hatte.6 Die von Altenberg zitierte Textstelle aus „A rebours" erörtert in programmatischer Weise Bauform und Möglichkeiten des Prosagedichts (links das Altenberg-Zitat, rechts eine deutsche Übersetzung des Originals7): De toutes les formes de la littérature, celle du poème en prose était la forme préférée du duc. 8 Maniée par un alchimiste de génie, elle devait, siuvant lui, renfermer, dans son petit volume 9 la puissance du roman dont elle supprimait les longueurs analytiqesw et les superfétations descriptives. Bien souvent, le duc avait médité sur cet inquiétant problème, écrire un roman concentré en quelques phrases qui contiendraient te suc11 de centaines de pages.
Von allen Formen der Literatur zog des Esseintes12 das Gedicht in Prosa allen anderen vor. Von einem genialen Alchimisten gehandhabt, mußte es seiner Ansicht nach in seinem kleinen Raum im Keimzustand bereits die Kraft eines Romans enthalten, ohne dessen analytische Längen und beschreibende Wiederholungen. Oft hatte des Esseintes über das beunruhigende Problem nachgedacht, einen konzentrierten Roman auf wenigen Seiten zu schreiben, die den zusammengepreßten Saft aus hunderten von Seiten enthalten sollten. 13
Das französische poème en prose und das Prosagedicht Altenbergs sind zunächst einmal negativ durch das Fehlen jeglicher Beschränkung ihrer Variationsfahigkeit zu bestimmen. Ist bei Huysmans nur vom
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Zu Geschichte und Begriff des französischen Prosagedichts siehe: S. Bernard, Le poème en prose de Baudelaire jusqu'à nos jours. Vgl. auch: F. Nies, Poesie in prosaischer Welt. Untersuchungen zum Prosagedicht bei Aloysius Bertrand und Baudelaire. Deutsche Übersetzung: J. K. Huysmans, Gegen den Strich. Übers, v. H. Jacob, S. 193 f. Bei J. K. Huysmans, Oeuvres complètes VII: A rebours, S. 301: „de des Esseintes". Ausgelassen: „a l'était d'of meat" (J. K. Huysmans, Gegen den Strich, S. 30). Die Kursiv geschriebenen Wörter und Zeilen sind in „Wie ich es sehe" gesperrt gedruckt. Ausgelassen: „cohobé" (J. K. Huysmans, Gegen den Strich, S. 30). Bei „des Esseintes" handelt es sich um die Hauptfigur des Romans, den dekadent empfindsamen Herzog Jean aus dem alten Adelsgeschlecht der des Esseintes. J. K. Huysmans, Gegen den Strich, S. 193. Zum Problem der Vermischung von Gattungen führt Wagner ein Zitat aus Altenbergs „Nachfechsung" an: „Was sind meine Skizzen?! Extrakte von Novellen. Was sind meine Aphorismen?! Extrakte meiner Skizzen." (P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 138).
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Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht"
„ k o n d e n s i e r t e n Roman" ( H e r v o r h e b u n g v o n mir, S. N.) die R e d e 1 4 , so heißt dies nicht, daß d a m i t e t w a rein dialogische T e x t e 1 5 ausgeschlossen seien. Das p o è m e en p r o s e ist „une f o r m e o u v e r t e " 1 6 , deren h o h e r G r a d an „ O f f e n h e i t " s o w o h l d e n G r u n d f ü r das „ F o r m l o s i g k e i t s - V e r d i k t " in der F o r s c h u n g s l i t e r a t u r 1 7 , als auch U r s a c h e f ü r die Ä u ß e r u n g E g o n Friedells sein mag, daß m a n bei A l t e n b e r g nicht zu sagen v e r m ö g e , „ o b er in diese o d e r jene K u n s t g a t t u n g rangiert, d e n n dies sind F r a g e n der F o r m , u n d die F o r m k o m m t hier e b e n s o w e n i g in Betracht, w i e e t w a das F o r m a t einer p h o t o g r a p h i s c h e n Platte f ü r die S c h ä r f e u n d Richtigkeit des L i c h t b i l d s " . 1 8 A u c h die d u r c h die Sache b e d i n g t e U n g e n a u i g k e i t in W . F ü g e r s D e f i n i t i o n legt ein Z e u g n i s ab f ü r die relative U n b e s t i m m t h e i t des Prosagedicht: Der Typus Prosagedicht läßt sich ( . . . ) in etwa umschreiben als dichterische (d. h. fiktionale und vorrangig aus dem ästhetischen Bezug lebende) Prosa in autonomer, geschlossener, hochkondensierter Kurzform, vorzugsweise lyrischen Charakters. 19 Bei allen G a t t u n g s t h e o r e t i k e r n f i n d e t sich als H i n w e i s auf ein erstes sicheres K e n n z e i c h e n f ü r das P r o s a g e d i c h t zunächst der auf seine K ü r z e , seine „tendence à la b r i è v e t é " 2 0 , d a r ü b e r hinaus w i r d auf seine g e g e n ü b e r den Vers- o d e r Zeilengedichten defizienten M o d i v e r w i e s e n : Es fehlen ihm als stabilisierende Faktoren die rein ästhetischen Formen des Verses und der Strophe und ihm eignet wegen des Bezuges zur „vorwärts gerichteten" prosaischen Rede ein größerer sprachlicher Expansionsdrang. Deshalb sind Prosagedichte im allgemeinen länger als vergleichbare Versgedichte. Daraus folgt jedoch, daß der Ausgleich von Bewegung und Ruhe in der Prosalyrik anders erreicht wird als in der Verslyrik. Die freiere sprachliche Entfaltung auf der horizontalen Ebene fordert stärkere gestaltschaffende Gegengewichte. 21
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Altenberg betitelte die knapp eine Seite umfassende zehnte Skizze der Reihe „SeeUfer" wohl nicht ohne Bezug auf diese Huysmans-Stelle als „Roman am Lande" (vgl. dazu: P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 149 f. und auch G. v. Wysocki, Peter Altenberg, S. 87 f.). Vgl. etwa die Skizze „Dialogue" aus der Reihe „Revolutionär". S. Bernard, Le poème en prose de Baudelaire jusqu'à nos jours, S. 178. Vgl. S. 37 dieser Arbeit. E. Friedell, Nachwort zu: P. Altenberg, Bilderbögen des kleinen Lebens. S. 208. W. Füger, Das englische Prosagedicht, S. 52. Zum Begriff der „Kurzform" siehe dort S. 44. S. Bernard, Le poème en prose de Baudelaire jusqu'à nos jours, S. 443. Vgl. auch: U. Fülleborn, das deutsche Prosagedicht, S. 5. U. Fülleborn, Einleitung zu: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, S. 24.
Das Huysmans-Motto
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In seinem knappen (58 Seiten langen) Überblick über die historische Genese des deutschen Prosagedichts vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nennt U. Fülleborn folgende „gestalthaften Qualitäten": ein besonderer Grad an Strukturierung, die Reduktion des Sprachmaterials bei entsprechender Vermehrung der inneren Korrespondenzen durch Wiederholung und Symmetrien, die formale Geschlossenheit, die durch rhythmische Klauseln, inhaltliche Pointen, selbst durch Refrains erreicht wird. 2 2
Alle diese Kennzeichen gelten jedoch unterschiedslos für Vers- und Prosagedicht, und es bleibt unter diesen Umständen noch fraglich, inwiefern das „Fehlen des Verses als einziges (...), keineswegs nur äußerliches Kriterium gegenüber dem Versgedicht"23 gelten soll. In einem der späteren Texte Altenbergs heißt es: Oder, eine weitere Exzentrizität dieses Menschen: An Gedichten sind Vers und Reim h i n d e r l i c h . Also mache man schöne, tiefe Gedichte o h n e diese Anstrengungen. 24
Vers und Reim werden zu rein äußerlichen Formalia, zu bloß künstlichem Beiwerk erklärt, das als redundantes Merkmal beim Gedicht gefahrlos weggelassen werden kann. Daß sich dies in Wahrheit ganz anders verhält, daß beim Versgedicht die Versform natürlich wesentlicher Bestandteil des Gehaltes ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden, wichtig ist in diesem Zusammenhang dagegen der Akt des bewußten Verzichts und der Anspruch, die literarische Form des Versgedichts mit dem Prosagedicht auf einer vollendeteren Stufe überwunden zu haben. Ein Teil der von Altenberg im Motto ausgelassenen Passage25 des Huysmans-Textes geht gerade zum einen auf die Folgen des Wegfalls der „stabilisierende(n) Faktoren" 26 , wie sie das Versgedicht noch besitzt, zum anderen auf die Konsequenzen der gegenüber der übrigen Prosa 22 23
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U. Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht, S. 58. U. Fülleborn, Einleitung zu: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, S. 18. (Hervorhebung von mir, S. N.) P. Altenberg, Antwort an Egon Friedell. In: Mein Lebensabend (1919), S. 143. Eine ähnliche Aussage findet sich z. B. auch in „Die Auswahl aus meinen Büchern" (1908), S. 6: „Mir sagte heuer im Frühling eine Dame: ,Der Flieder wäre so wunderbar, wenn man nicht zugleich an die vielen, vielen Wochen denken müßte, wo diese häßlichen, verstaubten Gebüsche ohne Blüten dastehen!' Dieser Ausspruch war für mich ein .lyrisches Gedicht'. Die Dichter machen keine besseren, wenn auch mit Reim und Versmaß ." Altenberg blieb keineswegs konsequent bei dieser Ansicht. Schon in „Was der Tag mir zuträgt" finden sich wieder Versgedichte. Weniger wichtig ist: „toujours employées à établir le milieu, à dessiner les caractères, à entasser à l'appui les observations et les menus faits." ( J . K. Huysmans, Oeuvres complètes VII: A rebours, S. 302.) U. Fülleborn, Einleitung zu: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, S. 24.
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Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht"
auffälligen Kürze ein und erwähnt dabei ein äußerst wichtiges Charakteristikum des Prosagedichts: (Alors les mots) choisis seraient tellement impermutables qu'ils suppléeraient à tous les autres; l'adjectiv posé d'une si ingénieuse et s'une si définitive façon qu'il ne pourrait être légalement dépossédé de sa place 27
Dann aber mußten die gewählten Worte so unveränderlich sein, daß sie Supplement aller anderen wären; das Adjektiv, das so sinnreich und so entscheidend angewandt wird, daß man es rechtens nicht von seinem Platze nehmen kann;
Die Nichtvertauschbarkeit des Textelements auf der syntagmatischen Ebene, die strukturelle Abhängigkeit aller Elemente voneinander, bei denen jeder Ortswechsel eine Bedeutungsveränderung zur Folge hat, ist gerade das wichtigste Merkmal, das das Prosagedicht mit dem Versgedicht verbindet. 28 Der Ausschnittcharakter und die Konzentrationstendenz des ,poème en prose' verhindern einen hypotaktischen Aufbau des Textes. Innerhalb der einzelnen Abschnitte und syntaktischen Kleinstrukturen herrscht die Parataxe. Sie grenzt die Einzelaussagen voneinander ab und bewirkt punkthafte Komprimierung, die wiederum selbst Ausschnitte darstellen. Leitmotiv, Motivverschlingung, Variation und Wiederholung haben die Funktion, die Einheit des Gesamtaufbaus, die durch die symbolistische Ausspartechnik gefährdet ist, zu garantieren. 29
Diese literarischen Verfahren sind jedoch nicht nur kohärenzstiftend, sondern tragen auch bei zur semantischen Desambiguierung der einzelnen Textsegmente. Durch sie werden die Texte, die zunächst als schwer durchschaubare Prosa rezipiert werden könnten, der Poesie angenähert: Die der Poesie entlehnten Verfahren konstituieren zusätzliche Bedeutungsebenen, die insgesamt den Inhalt deutlich werden lassen. In diesem Sinne ist das Prosagedicht keine „Verkomplizierung", sondern ein Weg zu einer größeren Einfachheit.30 27 28
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J. K. Huysmans, Oeuvres completes VII: A rebours, S. 302. Vgl. W. Füger, Das englische Prosagedicht, S. 47: „Der Gedichtcharakter wird ( . . . ) um so eindeutiger sein, je unauslöslicher Gehalt und Gestalt miteinander verwoben sind. Im Idealfalle sollte im PG ( = Prosagedicht, S. N.) wie in guter Verslyrik das Einzelwort gleichsam mit Naturnotwendigkeit an seinem Platze stehen, durch kein anderes ohne Wirkungsverlust ersetzbar sein." Beim Roman etwa zeigt die syntagmatische Ebene eine Tendenz zur Lockerung, die Paradigmatik der Texte tendiert jedoch eher zu einer strengeren Organisation (vgl. J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 80). P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 160. Vgl. J. M. Lotman, Analyse des poetischen Textes, S. 38: Die „Prosa (ist) ungeachtet ihrer vermeintlichen Einfachheit und Nähe zur gewöhnlichen Rede ästhetisch komplexer als die Poesie und ihre Einfachheit sekundär" („sekundär" im typologischen Sinn: der Begriff „Einfachheit" „hängt von dem System ab, auf das er projiziert wird"; J. M. Lotman, ebd., S. 41). Lotman geht es hier jedoch um die historische Dimension
Das Huysmans-Motto
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Der letzte Teil des Huysmans-Mottos gibt Auskunft über die Erwartungen an den Leser31 und gleichzeitig auch über die eingeplante Exklusivität dieser Gattung. Altenberg läßt — wie gesagt — den oben zitierten Textteil weg und fahrt fort (indem er an Stelle von „das Adjektiv" „die Wörter": „les mots" einsetzt). Alors les mots ouvriraient de telles perspectives que le lecteur pourrait rêver, pendant des semaines entières, sur son sens, tout à la fois précis et multiple, constaterait le présent reconstruirait le passé, devinerait l'avenir d'âmes des personages, révélé par les lueurs de ces épighètes, uniques! Le roman 32 , ainsi condensé en une page ou deux, deviendrait une communion de pensée entre un33 écrivaint et un idéal lecteur, une collaboration spirituelle consentie entre deux personnes supérieures éparses dans l'univers! 34 Et un mot, le poème en prose représentait, ainsi composé, pour le duc le suc concret, l'osmazome de la littérature, l'huile essentielle de l'art. Altenberg ergänzt noch: l'art bavard réduit en sobre silence, la mèr de la prose réduite en une goutte de poésie!
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(Das Adjektiv) würde solche Perspektiven eröffnen, daß der Leser ganze Wochen über seinem Sinn träumen könnte, der genau und mehrsinnig zugleich die Gegenwart feststellen, die Vergangenheit wiederaufbauen und die Seelenzukunft der Gestalten erraten würde, die der Glanz dieses einzigen Epithetons offenbart. Der so konzipierte, so auf einer Seite oder zwei Seiten kondensierte Roman würde zur Gedankenvereinigung zwischen einem magischen Schriftsteller und dem Ideal eines Leser, zur geistigen Zusammenarbeit von zehn über das Weltall zerstreuten Menschen, zum Genuß für die Feinsinnigen und nur für sie. Kurz, das Gedicht in Prosa verkörperte für des Esseintes den konkreten Saft, den Kern der Literatur, das Wesentliche der Kunst. (das Prosagedicht) führt die geschwätzige Kunst zurück zu einer nüchternen Stille, das Meer der Prosa zu einem Tropfen Poesie. 35
des Verhältnisses Poesie — Prosa. Die Prosa als die der Alltagsrede nähere Form wurde erst auf dem Hintergrund einer ausgeprägten, poetischen Tradition als Kunst rezipierbar, während Poesie aufgrund ihrer eindeutigen Kunstsignale leichter von der gewöhnlichen Rede zu unterscheiden war. Das Prosagedicht geht nun wieder quasi einen Schritt auf die Poesie zu, indem es sich als Prosa Verfahren der Poesie aneignet. Vgl. dazu: P. Altenberg, Was der Tag mir zuträgt, S. 6: „Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extrakte! Extraktes des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2—3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel! Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extrakte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen." Ausgelassen: „ainsi conçu" ( J . K. Huysmans, Oeuvres complètes VII: A rebours, S. 302). Ausgelassen: „une délectation offerte aux délicats, accessible à eux seuls" ( J . K. Huysmans, ebd.). Ausgelassen: „magique" ( J . K. Huysmans, ebd.). Deutsche Übersetzung von mir, S. N.
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Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht"
Die Dialektik des „genau und mehrsinnig zugleich" bezeichnet exakt die Dialektik des Verstehens von Prosagedichten. Das poème en prose steht durch den hohen Anspruch, den es an den Bedeutungsgehalt des einzelnen Wortes stellt, stets in der Gefahr, unverständlich zu werden, indem es die Mehrsinnigkeit des Wortes bis hin zu der Vielfalt der BedeutungsVarianten seiner Lexikoneintragung ausufern ließe. Die „Genauigkeit" aber ist nicht vom isolierten Wort, sondern nur von seiner Einbindung in die Verweisungen des syntagmatischen Kontextes zu erreichen. Auch deshalb besteht für das Prosagedicht die Notwendigkeit eines hohen Anwendungsgrades von verfeinerten literarischen Verfahren — vor allem auch der leitmotivischen Rekurrenz äquivalenter Elemente: gerade sie scheint mir ein zentrales Kennzeichen des Prosagedichts zu sein.
4.2 Der „Grenzfall" Rilke Wenn hier von Rainer Maria Rilke im Zusammenhang mit der Prosalyrik der Jahrhundertwende die Rede sein soll, gilt es zunächst eine unzulässige Ausweitung des Gattungsbegriffs „Prosagedicht" zurückzuweisen. Denn es wurden auch Passagen aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" zu Prosagedichten erklärt 36 ; die Lockerung des syntagmatischen Zusammenhangs im modernen Roman begründet jedoch noch keine Ignorierung der — wie auch immer modifizierten — stets noch als übergeordnete Werkeinheit gültigen Großform. Ein Begriff vom Prosagedicht, der auch derartige aus dem narrativen Ordnungssystem des Romans herausgelöste Teilstücke mit umfassen soll, verliert durch seine Breite jede Aussagekraft. Nicht der „Malte-Roman" also, jedoch die einige Jahre zuvor (1905) von Rilke unter dem Titel: „Drei Gedichte in Prosa" in der „Neuen Rundschau" 37 veröffentlichten Texte kommen hier als interessanter Fall eines Überganges von Prosa- zu Versdichtung in Betracht. Es handelt sich um die Werke „Hetären-Gräber", „Orpheus . Eurydike . Hermes" und „Geburt der Venus". Schon kurz nach ihrem Erscheinen in der Berliner Zeitschrift erhielt Rilke einen Kartengruß einiger Wiener Schriftsteller, in welchem diese ihren freudigen Dank 36 37
Vgl. U. Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht, S. 55. Neue Rundschau 16/2, S. 1 3 9 5 - 1 3 9 8 .
Der „Grenzfall" Rilke
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für diese „wundervollen Gedichte" 38 ausdrückten. Die Karte enthält noch einen Zusatz Hugo von Hofmannsthals: Aber warum setzen Sie die Verse als Prosa? Ihr H.
Rilke gibt auf diese Frage folgende erstaunliche Antwort: Die Schreibweise war mir irgendwie natürlich; nur, daß in meiner Niederschrift Striche / sind, die die Verse bezeichnen; im Druck sind sie fortgefallen und ihre Frage hat Recht.
Bei der Aufnahme dieser drei Texte in die Sammlung „Neue Gedichte" (1907/08) wählte Rilke dann anstatt der Prosa- wieder die Versform. 39 Ein Vergleich der beiden Fassungen zeigt, daß Wortbestand und Wortfolge bei der Übertragung der Prosa in Verse nicht verändert werden mußten. 40 Auch ohne die zitierte Bemerkung Rilkes wäre dies allein schon ein deutlicher Hinweis auf die Versnähe dieser Prosa. 41 Wenn jedoch auch die Assonanzen und Alliterationsfälle dieser Texte in der Prosa wie im Vers auffällig sind und als Formeigenschaft bestimmte Segmente in bedeutender Weise betonen, so gilt dies doch nicht in gleicher Weise für das allein im Vers so semantisierte Metrum. In der Prosa ist der Satz das bestimmende Ordnungsprinzip der syntagmatischen Ebene, welches keine regelmäßige Abfolge von Hebungen und Senkungen zum tragen kommen läßt. In dieser Beziehung ist die Umschreibung also nicht nur äußerlich. Keinesfalls kann jedoch behauptet werden, daß sich die Interpretation der Versfassungen dieser Texte wesentlich von derjenigen der in ProsaSchreibweise gehaltenen unterscheide. Es ist allenfalls festzustellen, daß der Vers schon im Satz der Prosa Gegebenes noch zusätzlich hervorhebt. Dazu ein Beispiel aus „Orpheus. Eurydike. Hermes": Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle (S. 544)
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Dieses und die folgenden Zitate aus: H. v. Hofmannsthal/R. M. Rilke, Briefwechsel 1 8 9 9 - 1 9 2 5 , S. 44. Vgl. R. M. Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 5 4 0 - 5 4 2 ; 5 4 2 - 5 4 5 ; 5 4 9 - 5 5 2 . Nur im Falle von „Hetären-Gräber" wurde ein Adjektiv um eine Silbe verkürzt, um den Vers dem Kontext der fünfhebigen Jamben (Blankverse) anzupassen: Prosafassung: „ . . . und lange Nadeln, zier/«vfer Hausgeräte" Versfassung: „und lange Nadeln, zieren Hausgeräte". Rilke bezeichnete später auch die Prosa des „Cornet" als schon „vers-infiziert" (zit. in: I. Schnack, Rainer Maria Rilke, Chronik seines Lebens und seines Werkes, Bd. 1, S. 272).
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Zum Gattungsbegriff „Prosagedicht"
Der Vers ergibt keine Veränderung des Wortsinns, jedoch werden Prädikat und Vergleich des über zwei Zeilen reichenden Satzes durch Reduktion der Zahl der Hebungen gegenüber ihrer Stellung im durch nichts besonders gekennzeichneten Satz der Prosa deutlich als der zentrale Vers der Strophe herausgestellt. Auch das Wort „Fülle" wird dadurch, daß es nicht nur letztes Wort des Satzes, sondern auch des Verses ist, zusätzlich betont. Das Überraschende der Verbindung des „Gestorbenseins" mit einer gerade daraus resultierenden „Fülle", die Negation der Leere des Todes (und damit das Sinnlose der Handlung des Orpheus) kommen auf diese Weise noch eindeutiger zum Ausdruck. Deutlicher — und dies weist zurück auf die schon zuvor geäußerte Behauptung 42 , daß die Verskunst in einem bestimmten Sinne „einfacher" ist als die Prosa — aber nicht neu ist die Bedeutung der Zeilen im Versgedicht. Wenn auch nicht gänzlich redundant, so ist die Differenz doch minimal. Vor dem Hintergrund des Vergleichs ist Rilkes Antwort an Hofmannsthal nochmals zu befragen. Die „Schreibweise", die Rilke bei der Abfassung der Werke wählte, bedeutete ja nicht eigentlich eine Entscheidung für die Prosaform. Zumindest im Prozeß der Produktion ging es nur um die Bevorzugung eines durchlaufenden und die Versgrenzen überschreitenden, „blattfüllenden" Schreibens. Das bei Rilke als bloß schwach einschränkend gemeinte „nur, daß in meiner Niederschrift Striche / sind, die die Verse bezeichnen" bedeutet die Kennzeichnung der handschriftlichen Fassung als Verslyrik. Obwohl der Titel in bezug auf die Veröffentlichung eine bewußte Entscheidung zu erkennen gibt, deutet schon die Tatsache, daß Rilke der Frage Hofmannsthals Recht gibt, darauf hin und zeigt dann die Rückkehr zur Versschreibung in den „Neuen Gedichten", daß Rilke die Schreibweise des Prosadruckes als falsch oder zumindest als gleichgültig ansah. Dieser produktionsästhetische Gesichtspunkt sowie das Vergleichsergebnis der Minimalität der Differenz weisen diese Prosagedichte Rilkes als Grenzfalle auf, denen eine deutlich größere Nähe zur Verslyrik als zur künstlerischen Prosa zukommt. Jene setzt sich dann auch in der Publikationsgeschichte der Werke schließlich durch. 43 42 43
Vgl. Kap. 4.1. So ist die Prosaschreibweise in der Ausgabe der „Sämtlichen Werke" nicht mehr überliefert, auch in Bd. 3, zweite Abteilung: „Erste Reihe: Vom Dichter selbst veröffentlichte Gedichte aus den Jahren 1891 bis 1905. — in zeitlicher Folge der ersten Drucke —" sucht man nach der Fassung dieser Gedichte in Prosaform vergeblich.
5. Zur Rezeption Altenbergs 5.1 Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung Bis auf den heutigen Tag mit das Bemerkenswerteste in der Geschichte der Rezeption Altenbergs stellt ein kurzer Essay von Hugo von Hofmannsthal dar, der „Wie ich es sehe" noch im Erscheinungsjahr 1896 rezensierte. Auch Hofmannsthal beginnt mit einem Bekenntnis seiner Unsicherheit: Ich weiß nicht recht, von welcher Art dieses Buch ist. Es ist ganz angefüllt mit kleinen Geschichten, wie ein Obstkorb. Es sind vielleicht hundert kleine Geschichten darin. Ich kann schwer sagen, was für kleine Geschichten. Sie sind zu einfach; 1
„Einfach" ist das Buch für ihn von seinen Gegenständen her, nicht in bezug auf die Weise, wie diese dort gesehen werden: in seiner Gewissenlosigkeit, seiner bewußten Grazie scheint es eine komplizierte innere Erziehung, ja, es scheint Kultur vorauszusetzen. Denn was ist Kultur, was ist sie anderes als dieses: zu wissen, daß das etwas ist: herumgehen, reden, essen; Scheu vor dem Alltäglichen zu haben als vor dem Göttlichen. 2
Hofmannsthals Bemerkungen lassen in ihrem weiteren Verlauf das anfangliche Bekenntnis immer mehr zum Topos verblassen, seine Aussagen werden immer bestimmter, doch indem sie dies werden, geraten sie ihm unter der Hand zu Aussagen über das eigene Werk. Die Lehre, die er schließlich Altenberg zuschreiben möchte, ist mehr ein Selbstportrait: die Anbetung der Natürlichkeit, der natürlichen Grazie, der natürlichen Grausamkeit; die Verherrlichung der leichten, schönen und zwecklosen Dinge, die Anbetung des höchst Künstlichen, das sich dem höchst Natürlichen annähert: Leben als Gartenkunst. 3
Egon Friedeil formuliert in seinem „Ecce poeta"4 treffend die Gründe für das zeitgenössische Unbehagen im Falle Altenberg: 1
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H. v. Hofmannsthal, Ein neues Wiener Buch. In: Reden und Aufsätze I. 1891 — 1913 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 222. H. v. Hofmannsthal, Ein neues Wiener Buch, S. 227. H. v. Hofmannsthal, Ein neues Wiener Buch, S. 227. Das 1909 erschiene Buch befaßt sich u. a. (!) auch mit seinem eigentlichen Gegenstand: Peter Altenberg, im wesentlichen aber stellt es eine rhetorisch glänzende theoretische Erörterung über Definition und Aufgaben des Schriftstellerdaseins allgemein dar.
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Zur Rezeption Altenbergs Er ist kein Lyriker, denn er hat keine Form. Er ist kein Epiker, denn er hat keine Handlung. Er ist kein Philosoph, denn er hat kein System. Seine Gedanken sind barock, sein Stil salopp, seine Rhetorik ist überheizt. Und im Leben ist er ein Narr. 5
Die Sätze benennen exakt die Verlegenheit beim Umgang mit einem nicht so leicht einordbaren Autor, eine Unsicherheit, an welcher sich in der germanistischen Fachliteratur bis heute nichts geändert hat. „Er hat keine Form": dieses Formlosigkeitsverdikt soll anhand eines weiteren Satzes von Friedeil näher erläutert werden. Bei Altenberg wisse man nicht, „ob er in diese oder jene Kunstgattung rangiert, denn dies sind Fragen der Form, und die Form kommt hier ebenso wenig in Betracht wie etwa das Format einer photographischen Platte für die Schärfe und Richtigkeit des Lichtbilds". 6 Für Friedeil bedeutet „Form" hier redundantes formales Beiwerk, gegen das er die unverfälschte, „naturwissenschaftlich-exakte" Beobachtung ausspielt. Seiner Meinung nach tritt bei Altenberg Form nicht als vom Werk zu isolierende auf, ist also im eigentlichen Sinne Form und nicht bloß Formales. „Formlosigkeit" ist mithin bei Friedeil stets ein positiver Begriff: niemals drängt sich laut Friedeil bei Altenberg funktionslose Artistik zwischen Werk und Rezipient. Ganz anders gewendet findet sich dieses Etikett jedoch in der späteren Forschungsliteratur: Altenberg wird bis in die jüngste Zeit hinein zum Exponenten „formloser" Literatur stilisiert: In der Dichtung führt die Abneigung gegen das Gedankliche, Planende und K o m p o nierende zu einem schnell umsichgreifenden Gattungsverfall. A m deutlichsten zeigt sich diese Tendenz im Bereich der Prosaliteratur, die sich völlig ins Punktuelle und Skizzenhafte aufzulösen beginnt. Gegenüber den naturalistischen Erzählformen wirkt die impressionistische Prosa wie eine Folge unzusammenhängender Satzfragmente neben einer intellektuell verknüpften Periode, die aus lauter genau durchdachten Teilen besteht. ( . . . ) Ihren Höhepunkt erlebt diese Zusammenhanglosigkeit bei Peter Altenberg, dessen Skizzen keinerlei novellistische oder anekdotische Elemente enthalten und sich meist aus einem Unterhaltungsfragment, einem Aphorismus und einer Folge von Momentaufnahmen zusammensetzen. 7
Die Rede vom „Gattungsverfall" argumentiert von einem bestimmten verfestigten Normverständnis aus, dem jede neue Formbildung als Verlust des Bekannten suspekt ist. Dem ist entgegenzusetzen, daß (wenn nicht nachweisbar simples Nicht-Beherrschen bestimmter Formalia, künstlerische Unfähigkeit vorliegt) das Fehlen tradierter Formen als 5 6 7
E. Friedell, Ecce poeta, S. 128 f. E. Friedell, Nachwort zu: P. Altenberg, Bilderbögen des kleinen Lebens, S. 208. R. Hamann, J. Hermand, Epochen der deutschen Kultur von 1870 bis zur Gegenwart. Bd. 3: Impressionismus, S. 219.
Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung
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Verstoß gegen eine überkommene ästhetische Norm, als ein „MinusVerfahren" 8 und damit als ein Effekt höherer Organisation des Textes beschrieben werden muß und nicht einfach mit den Etiketten „Formlosigkeit" oder „Zusammenhanglosigkeit" beiseite geschoben werden darf. Auch das entgegengesetzte Extrem: die Reduktion des Werkes auf formale Artistik kann man in der Forschungsliteratur finden: So meint etwa M. Kesting, „daß Altenberg eigentlich nicht viel zu sagen hatte, aber dieses wenige auf bemerkenswerte Weise sagte. Das Verfahren seiner Skizzen ist interessanter als ihr Inhalt". 9 Beide Weisen falscher Rezeption sind durch ein Mißverstehen der spezifischen Altenbergschen Form des Prosagedichts bedingt. „Er hat keine Handlung", das ist es eigentlich, was Altenberg im ersten Fall vorgeworfen wird; das Neue, das beim Prosagedicht an deren Stelle tritt, wird nicht gesehen, in einseitiger Beurteilung von dem Bestandteil Prosa her wird beim Prosagedicht der Verlust des ruhigen geordneten Erzählduktus beklagt. Auch das zweite oben angeführte Beispiel hat seine Ursache in der einseitigen Beurteilung des Prosagedichts von der Prosa her. Die durch den Wegfall der stabilisierenden Faktoren des Versgedichts als Gegenbewegung notwendige, für einen Prosatext überraschend dichte Strukturierung des Prosagedichts wird so als, in diesem Fall positiv bewertete, literarische Technik isoliert; vergleicht man das Prosagedicht, nur mit der sonst bekannten Kurzprosa, so erliegt man leicht der Gefahr, die verfeinerte literarische Technik des Prosagedichts als bloße, vom Gehalt der Texte losgelöste Artistik zu bewundern. In beiden angeführten Fällen liegt die Ursache für dieses Mißverstehen in der Verfehlung des Kernpunktes bei einer Gattungsdiskussion über das Prosagedicht: des Sachverhalts der Gattungsvermischung. Auch P. Wagner gelingt es in seiner Dissertation, die immer noch die beste Übersicht über die Texte des Frühwerkes liefert, nicht, durch die genaue Analyse der äußeren Bauform des Prosagedichts dessen Gehalt zu vermitteln. So führen seine Betrachtungen zu höchst widersprüchlichen Ergebnissen: seine ästhetischen Formungen haben ihren Reiz größtenteils behalten; seine zeitgeschichtliche Situation ist für uns nicht nur vom Standpunkt des Historikers aus
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J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 145. Lotman spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „bedeutungsvolle(n) Fehlen" (Lotman, ebd., S. 82). M. Kesting, Peter Altenberg redivivus. In: M. Kesting, Auf der Suche nach der Realität, S. 86.
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Zur Rezeption Altenbergs interessant; seine Reaktion auf diese Situation, die Proklamierung seines spezifischen neuen Wertsystems, erscheint jedoch durch die geistesgeschichtliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre überholt. 10
Auch hier wird die Form zum vom Inhalt losgelösten Formalen verharmlost. Was mit den beiden anderen Thesen gemeint sein kann, ist unklar: meint Wagner, daß die Jahrhundertwende als historische Epoche für uns heute noch von Interesse sei (welche wäre es nicht?), Altenbergs Werk als Reaktion auf diese Zeit jedoch ad acta gelegt werden könne? Die permanente Vermischung von Autor-Biographie und Werk, die sich leider auch bei Wagner findet, ließe so etwas vermuten. Eine andere Verständnismöglichkeit der Behauptung Wagners wäre gegeben, wenn sich seine These auf den unmittelbar didaktisch orientierten Teil des Altenbergschen Werkes beziehen würde; mit diesem beschäftigt sich Wagner in seiner Dissertation jedoch überhaupt nicht. Wagners Aussage ist eher die Konsequenz einer geistesgeschichtlich orientierten Betrachtungsweise, die, „Themenkreise und Motive" untersuchend, zu vom Werk zu isolierenden „Inhalten" gelangt und diese dann zu Autor-Positionen erklärt. Kritik und Darstellung voneinander getrennt betrachten zu wollen, dies bedeutet tatsächlich eine „äußerästhetische Sicht", die es nur noch mit „ideellen Phänomenen" 11 zu tun hat, das Werk selbst jedoch nicht erfassen kann. Aus neuerer Zeit sind noch zwei umfangreichere Arbeiten zu erwähnen: ein Essay von Gisela von Wysocki und ein gleichfalls sich „biographischer Essay" nennendes Buch von Camillo Schäfer. 12 Wysockis Umgang mit literarischen Texten ist rein assoziativ, ein Nach vollziehen ihres äußerst subjektiven Zugangs zu Erkenntnissen über das Werk Altenbergs kaum möglich. Dennoch bergen ihre glänzenden Formulierungen manchmal tiefe Einsichten, die sich in einer genaueren (und überprüfbaren) Analyse der Texte dann bestätigen. 13 Das Buch von C. Schäfer stellt eine Kompilation aus bisher Bekanntem dar, im Falle der Bemerkungen zu „Was der Tag mir zuträgt" 14 läßt sich von einer Paraphrase Wagners sprechen, der im Literaturverzeichnis erstaunlicherweise nicht erscheint. Insgesamt läßt sich sagen, daß in der von begeisterter Zustimmung bis zu vollkommener Ablehnung reichenden Rezeption Altenbergs die 10 11 12
13 14
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 264. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 263. G. v. Wysocki, Peter Altenberg. Bilder und Geschichten des befreiten Lebens; C. Schäfer, Peter Altenberg. Ein biographischer Essay. Vgl. Kap. 6.11 dieser Arbeit. Vgl. C. Schäfer, Peter Altenberg, S. 5 9 - 6 3 .
Zur Problematik des Interesses an Altenberg als historischer Figur
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Dissertation Wagners den einzigen ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Versuch darstellt, die spezifische Leistung des Frühwerkes zu begreifen. Dies geschieht jedoch von einem inzwischen überholten methodischen Standpunkt aus, der Inhalt und Form der Werke zu trennen sucht und so bei der Bestimmung des Prosagedichts nur zur Auflistung einer Reihe formaler Kennzeichen gelangt. 15
5.2 Zur Problematik des Interesses an Altenberg als historischer Figur „Die Legende, die Peter Altenberg sich und den anderen vorlebte, verstellte immer wieder den Blick auf sein Werk", schreibt W. J. Schweiger im Nachwort zu seiner Altenberg-Anthologie 16 . Diese richtige Erkenntnis hindert ihn leider nicht daran, seine Sammlung doch in ihrem Hauptstück nach folgenden Gesichtspunkten zu gliedern: Wie schon angedeutet, entspringen alle Altenberg-Skizzen realen Erlebnissen, in allen 14 erschienenen Bändchen gibt es rein autobiographische Skizzen, die chronologisch geordnet wurden und so eine Quasi-Autobiographie ergeben. 17
Schweiger hilft hier mit, das Werk Altenbergs zu „privatisieren", es wird reduziert zum Lebensbericht oder zur Meinungsäußerung des Autors zu bestimmten Themen von mehr oder weniger Interesse. 18 Das Ganze geht dann eine aufs schönste der Unterhaltung dienliche Verbindung mit der Unzahl auch heute noch über Altenbergs Leben kursierenden Anekdoten ein, und schließlich paßt es bestens in die Feuilleton-Seiten der Wochenendausgaben, nur, daß es mit der künstlerischen Produktion Altenbergs nichts mehr zu tun hat. Ihren Anfang nahm diese in einer solchen Entschiedenheit doch überraschende Blickverschiebung vom Werk auf den Autor mit den Altenberg-Anekdoten, die Egon Friedell unter großem Erfolg nachts im Kabarett vortrug. 15
16 17 18
Vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 124. Dieser kurze Abschnitt behandelt nur die mir als wichtig erscheinenden Arbeiten über Altenberg und damit natürlich nur einen Bruchteil des vorhandenen Materials. Eine ausführliche Rezeptionsgeschichte enthält: W. B. Spinnen, Die Seele in der Kritik. Zur Rezeption der literarischen Werke Peter Altenbergs bis 1945. Dort findet man auch eine ausführliche Bibliographie. W. J. Schweiger (Hg.), Das große Peter Altenberg Buch, S. 420. W. J. Schweiger (Hg.), Das große Peter Altenberg Buch, S. 420. Noch extremer geschieht dies bei E. Randak, Peter Altenberg oder das Genie ohne Fähigkeiten. Vgl. dort auch S. 133: „Man dürfe Bücher nicht für das Leben nehmen? Auch dann nicht, wenn der Autor dezidiert erklärt, seine Bücher seien ,eine organische Verbindung einer inneren Biographie mit einer inneren Weltanschauung'?!"
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Zur Rezeption Altenbergs
Auch Karl Kraus sagt in seiner Auswahl von 1932 vorangestellten Gedicht über Peter Altenberg: Wer lebte hinter diesem Pseudonyme Ein Mensch, den ich vor einem Dichter rühme. [...] Ein größrer Mann stand hinter großem Werk. 19
Was bei Friedell und Kraus leicht durch ihre persönliche Freundschaft zu „entschuldigen" ist, das Interesse mehr an der Person des Freundes als an dessen literarischem Werk, besitzt im Falle Altenberg eine erstaunliche Kontinuität. Diese zeigt nicht nur die Anthologie Schweigers, sondern noch in jüngster Zeit wieder eine ORF-Fernsehspielproduktion, die, wie in der Publikation des Drehbuches von Felix Mitterer nachzulesen ist, wiederum nur am Bild der skurrilen Figur Altenbergs weiterarbeitet. 20 Es ist deshalb hier daran zu erinnern, daß die Information über das Leben eines Autors zur Verständnisfolie wird, die eine Auskunft unter anderen über die Bedingungen der literarischen Produktion des Werkes gibt, über den Stoff, der der Form vorausging, und in dem sich dieses, sofern es sich um Kunst handelt, nicht erschöpft. Eine wie auch immer geartete Reduktion des Kunstwerks auf eine Funktion als privat- oder gesellschaftshistorisches Dokument gilt es zu vermeiden, will man nicht gerade damit jede Wirkungsmöglichkeit des Werks negieren.
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P. Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern von K. Kraus, S. 7. F. Mitterer, Der Narr von Wien. Auch das Buch von C. Schäfer trägt ja den Untertitel: „Ein biographischer Essay".
6. Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe" 6.1 Zum richtigen Verständnis des Titels Der Titel des 1896 in erster Auflage erschienenen Buches kann auf zwei bedeutungsdifferente Weisen betont werden: „Wie ich es sehe" oder „Wie ich es sehe". In „Prödrömös" 1 , seinem vierten Werk, nimmt Altenberg dazu selbst Stellung: Als mein Buch herauskam, 1896, entspann sich bei den wenigen, die überhaupt Anteil daran nahmen, oft eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob man zu betonen habe, ,wie i c h es sehe', oder, ,Wie ich es sehe!?' Die letztere Betonung nun ist die einzig richtige: Denn insofern eine Individualität nach irgend einer Richtung hin eine Berechtigung, ja auch nur den Schein einer Berechtigung hat, darf sie nichts anderes sein als ein Erster, ein Vorläufer in irgend einer organischen Entwicklung des menschlichen überhaupt, die aber a u f d e m n a t u r g e m ä s s e n W e g e d e r m ö g l i c h e n E n t w i c k l u n g für alle Menschen liegt!2
Altenbergs Freund, Egon Friedell, unterstützt diese Meinung: Nichts Besonderes, Eigenes, nicht s i c h wollte der Dichter abbilden, nicht wie er sie sah, sondern wie er sie sah. In dem Buche sollte nichts enthalten sein als reale Netzhautbilder, freilich Netzhautbilder eines bestimmten Menschen, bestimmter Augen, aber darum doch objektive, allgemeine Dinge, so wirklich wie irgend eine andere physiologische Erscheinung. 3
Altenberg und noch deutlicher Friedell knüpfen mit ihren Bemerkungen an jene naturalistische Literaturtheorie an, wie sie etwa von Arno Holz in der Schrift „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze" (1891) entwickelt wurde. 4 Auch Holz weist darin jede Berechtigung eines 1
2 3
4
Berlin 1906 (erschienen also immerhin 10 Jahre nach der ersten Auflage von „Wie ich es sehe"). Prödrömös, S. 155 f., Skizze: „Individualität". E. Friedell, Ecce poeta, S. 136. Eine eher belustigende Variante findet sich bei E. Philipoff (Alfred Polgar, S. 352): „Letzlich sei nach Altenbergs eigenen Aussagen das Adverb ,wie' am Beginn des Titels zu betonen." Erschienen in: Das Werk von Arno Holz. Hrsg. v. H. Fischer. Bd. 10. S. dazu auch: W. Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887);
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Anteils dichterischer Individualität bei der geforderten Reproduktion von Natur (im Sinne faktischer, empirischer Wirklichkeit) zurück. Jede spürbare Anwesenheit eines Erzählers im Sinne einer offenbaren Präsenz von Subjektivität ist im literarischen Text möglichst zu vermeiden. Das Kunstprodukt kann nur in dem Maße Wahrheit für sich beanspruchen, als in ihm der fortschrittlichste Stand wissenschaftlicher Realitätserfassung (in Biologie, Psychologie und Soziologie) verarbeitet wurde. Dies meinen auch Friedell, wenn er sagt: „nicht s i c h wollte der Dichter abbilden", und Altenberg, wenn er letztere Betonung des Titels als „die einzig richtige" herausstreicht. Beide Stellungnahmen sind jedoch gewiß in provokatorischer Absicht überzeichnet. Vor allem Friedells an der Naturwissenschaft orientierter Objektivitätsanspruch ist als eine Polemik gegen „falsche Rezeption" zu werten. Nun mag etwas Wahres daran sein, daß die „Leute den Titel zunächst so wenig wie den Inhalt" 5 verstanden haben, daß man den Titel aber nur in der vom Autor und Friedell geforderten Weise betonen müsse, ist sicherlich genauso unrichtig. „Wie ich es sehe" läßt, so wie es auf dem Titelblatt gedruckt ist, beide Lesarten zu und ist korrekt nur als mehrdeutiger Ausdruck zu rezipieren. Mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß es „freilich Netzhautbilder eines bestimmten Menschen" seien, deutet Friedell dies auch an, verläßt damit jedoch nicht den Rahmen des auch von den Naturalisten Vertretenen. 6 Altenberg geht allerdings noch weiter, indem er für die dichterische Individualität einen Vorläuferstatus reklamiert. Eins bleibt festzustellen: Der Titel entspricht dann nicht mehr der — mindestens theoretisch — vom Naturalismus vertretenen Auffassung, daß der Künstler die Objektivität einer eindeutig erfaßbaren Natur wiederzugeben habe. Es geht um beide Komponenten: Um einen Versuch, anders wahrzunehmen, Neues in neuer Weise zu erkennen, und dieser Versuch kann nur vom Subjekt als der einzigen noch nicht ausschließlich vom Objektiven bestimmten Instanz geleistet werden; das Subjekt als gesellschaftlich bestimmtes bleibt dennoch die einzige Kraft zur Veränderung des Lebens. Aber nur dasjenige Subjekt ist gemeint, welches bereit ist, sich an den Dingen, dem Objektiven, „abzuarbeiten" (zu „sehen").
5 6
H. Möbius, Der Positivismus in der Literatur. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz; T. Meyer, Theorie des Naturalismus. E. Friedell, Ecce poeta, S. 136. So auch in der von Holz zitierten Formel Zolas: „Une œuvre d'art est un coin de la nature vu à travers un tempérament." (Mes Haines, S. 25 u. 229; s. dazu: J. J. Braakenburg im Nachwort zu Bölsche, a. a. O., S. 91, Anm. 35).
Zur Kohärenz des Prosagedichts: „Die Zuckerfabrik"
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6.2 Zur Kohärenz des Prosagedichts: „Die Zuckerfabrik" 7 Kohärent^ und Gliederung Bei diesem mit einem Umfang von sechs Seiten für Altenberg untypisch langen Text8 stellt sich zunächst die Frage nach kohärenzstiftenden Merkmalen. Die erste Lektüre läßt zwei dominant erscheinen: 1. Konstanten auf der Figurenebene (zwei Hauptfiguren: das Fräulein „Schwarzkirscherl" und der Fabrikdirektor); 2. Wortrekurrenzen, die bis zur Rekurrenz ganzer Sätze erweitert sind und leitmotivische Funktion 9 übernehmen (am auffalligsten: „Sie verstand alles"). Im typographischen Erscheinungsbild findet sich ein Einschnitt, der den Text zunächst in zwei ungefähr gleich lange Abschnitte teilt. Beide Abschnitte weisen Einleitungen von vergleichbarer Länge (22 : 18 Zeilen) und analogem Aufbau auf (kurze Angabe des Ortes im ersten bzw. zweiten Satz, dann Nennung von Kollektivfiguren, im Mittelteil jeweils Schilderungen von Sinneseindrücken, im Schlußteil jeweils Rückbindung des Vorhergehenden an die Figurenperspektive). 10 Ein Blick auf die zeitliche Struktur des Textes hat eine differenzierte Textgliederung zur Folge. Die explizit im Text enthaltenen Zeitangaben beziehen sich auf den Nachmittag, den Abend eines Tages und den Morgen des darauffolgenden. Das auf der ersten Seite Geschilderte ist zunächst als zeitlich unbestimmtes zu rezipieren, wird jedoch im nachhinein in den Zeitverlauf integriert (Vormittag). 11 Die andere Qua7 8 9
10
11
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 47—54. Seitenangaben fortan im Text. Die meisten Prosagedichte sind ca. 2—3 Seiten lang. „Die Zuckerfabrik" ist ungefähr gleich lang wie die folgende Reibe „Don Juan". Eine weitgefaßte Definition begreift jede Wortwiederholung als Leitmotiv (vgl. etwa: J. Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 116: „Einen besonderen Fall lautlich-semantischer Isomorphie stellt die erhöhte Rekurrenz von Morphemen oder Lexemen dar. Wir nennen eine solche Serie eine Serie von Leitmotiven."); in der vorliegenden Arbeit wird nur bei signifikanten Rekurrenzfällen der Leitmotivbegriff verwendet werden. Hier geht es zunächst nur um die Aufweisung äquivalenter Funktionen vergleichbarer Textelemente auf der syntagmatischen Ebene; ihre durch diese Äquivalenzen erst wahrnehmbare Gegenüberstellung ist erst im Rahmen einer Betrachtung der semantischen Struktur im engeren Sinne zu untersuchen. Das Fräulein fragt: „Was ist das für ein Vogel, der den ganzen Vormittag gesungen hat ?!" (51) und zitiert zur Illustration des von ihr vernommenen Gesanges die zwei Seiten vorher erstmalig angeführte Lautmalerei:
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
lität, die in der vorliegenden Unbestimmtheit liegt, bleibt jedoch in ihrer Wirkung zu beachten: es entsteht durch sie der Eindruck einer konstanten Geltung des Geschilderten. Der Gliederung in der zeitlichen Struktur entspricht die der räumlichen: in den vier Abschnitten wird mit Ausnahme des ersten Abschnittes jeweils ein spezifischer Raum geschildert: I. 12 II. III. IV.
Erster Abschnitt: (Vormittag); Hof, Ebene Zweiter Abschnitt: (Nachmittag); Gärtchen Dritter Abschnitt: (Abend); Saal Vierter Abschnitt: (Morgen); Ebene
Eine zusätzliche rhythmische Gliederung entsteht durch das über den gesamten Text verteilte Leitmotiv: „Sie verstand alles", das insgesamt siebenmal unverändert 13 und auf der letztenSeite noch einmal in spezifischer Weise rekurriert. Insgesamt ist eine vor allem durch die Wiederholung äquivalenter Elemente konstituierte, für einen Prosatext erstaunlich „dichte" Strukturierung festzustellen. Semantische
Struktur
Auf Gleich- und Gegenüberstellung beruhende bedeutungskonstitutive Oppositionen sind im Text auf zwei unterschiedliche Weisen realisiert: 1. durch äquvalente Elemente, deren Äquivalenz sich auf ein semantisches Merkmal beschränkt und bei denen diese Äquivalenz nur den Hintergrund einer spezifischen Oppositionsrelation der anderen Merkmale bildet; 2. durch Elemente, die unverändert wiederholt werden: Leitmotive. Diese setzen bei einer Reduzierung und Formalisierung ihres eigenen semantischen Gehalts die Kontexte, in die sie jeweils eingebettet sind, in Bezug zueinander. 14 Im ersten Fall entstehen Oppositionsrelationen zwischen den Elementen selbst, im zweiten zwischen deren Kontextzusammenhängen.
12 13 14
„Irgendwo sang ein Vogel: ,trrrr trrr trrr '" (49) „Er hat immer ,trrrr trrr trrr ' gesungen." (51). Die Abschnitte werden im folgenden jeweils durch römische Ziffern angegeben. Unverändert was den Wortbestand, nicht was die Gedankenstriche betrifft. Lotman spricht von einer „Formalisierung der Elemente als solcher und eine(r) Semantisierung ihrer formalen Verbindungen" (J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 132).
Zur Kohärenz des Prosagedichts: „Die Zuckerfabrik"
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Raum Die verschiedenen Raumbezeichnungen des Textes sind ein Beispiel der ersten Art von Oppositionsbildung. Sie bilden eine durchgehende binäre Opposition: Draußen: Ebene, Gärtchen vs. Drinnen: Hof, Saal In I. ist dem „ungeheuren H o f (49) das Bild der „ungeheuren Ebene" entgegengestellt. Während das Epitheton („ungeheuer") in bezug auf die Ebene in seinem semantischen Gehalt durch den unmittelbaren Kontext geklärt wird, bleibt es in der Verbindung mit Hof leer, bzw. ist zunächst nur durch „sehr g r o ß " übersetzbar, doch auch die zweite Bedeutungsdimension „unheimlich", „nicht geheuer" wird im weiteren Textverlauf aktiviert. 15 Auffallig ist die Fülle von Farbnennungen bei der Schilderung der Ebene („hellblau", „hellgrün" 1 6 , „braungrün", „weiß") gegenüber dem vollkommenen Fehlen von Farben bei der Beschreibung des Hofes. Daß die Ebene den positiven Gegenbereich zum Hof markiert, verdeutlicht die Sub-Opposition: Geruch von „Oel-Schmiere und verwesendem Rüben-Brei" 1 7 vs. „Frische Winde" (49) Die Beschreibung der Ebene enthält noch eine im Verlauf des Textes Bedeutung gewinnende Nebenopposition in der räumlichen Struktur: Felder vs. Wäldchen (49) (nah vs. fern). D e m Fehlen einer differenzierten Beschreibung des Hofes gegenüber den vielen Einzelheiten, die zur Ebene angeführt sind, entspricht die Z u o r d n u n g von kollektiven Figuren („Zuckerbeamten") zum Hof, während die erste individuelle Figur („Fräulein ,Schwarzkirscherl'") in dem Raum der Ebene erscheint. 15
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Vgl. dazu: „In diesem Zuckerfabrikshof lag dumpfe Resignation neben strenger englischer Prüderie und gleich daneben ,Sodom und Gomorrha'." (53) Schon die Rede vom „verwesende(n) Rüben-Brei" (49) weist in diese Richtung. Im Text (49) heißt es: „hellgrüne modefarbene Kukuruzfelder"; die Annäherung an die Natur erfolgt von der Zivilisationswelt, der Welt der Stadt her. Ein weiteres Syntagma aus diesem Kontext verweist kataphorisch auf im Text erst Folgendes: „Duft von nasser Wäsche, von Suppe, von weißen Akazien." (49) Hierin ist schon der Lebensbereich der Zuckerbeamten und auch das Draußen der Ebene angesprochen.
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In II. findet sich die Natur der „weiten blühende(n) Ebene" verkleinert im „Gärtchen" vor dem „kleinen weißen Beamtenhause" (50) wieder. Eine Verdeutlichung dieses Gegensatzes ist in der im weiteren Kontext erscheinenden Nebenopposition enthalten, in der die „Felder" der Ebene in den „ganz kleinen Feldern mit Suppenkräutern" (50) ihr verzerrtes Spiegelbild erhalten. Die Weite bleibt auch in diesem eingezäunten Bereich als Gegenbild explizit präsent 18 : „In der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen" (50). Die wortwörtliche Rekurrenz dieses Satzes macht auf den unterschiedlichen Kontext aufmerksam: Diese Felder, die nun die Opposition zu dem Wäldchen in der Ferne bilden, haben nichts „ungeheures" mehr, sind „ganz klein" und nur für Suppengemüse geeignet, das zwar „belebend auf die Geschmacksnerven" wirkt, aber als wie schon zur direkten Verwendung „trocken gesotten" (50) erscheinendes keine Farbbezeichnung mehr enthält. Der Tanzsaal des Fabrikhofes in III. ist der einzige im Text genannte Innenraum. Wie schon vorher der Hof als ganzer wird auch dieser Saal nicht näher beschrieben. Die Kahlheit dieses Drinnen wird durch keinen Einfluß etwa von außen eindringender Farbigkeit oder Gerüche gestört. Der Saal ist opaker Raum, der gerade durch seine Unbesetztheit die hier dominante Sinnesqualität: die Töne der Musik ungehindert wirken läßt. Im Raum Wechsel von III. zu IV., vom Abend im Tanzsaal zum Morgen in der Ebene, wird der in I. enthaltene Raumkontrast wiederholt. Der kahle, abgeschlossene Raum wird abgelöst von der Natur der Ebene, die wieder allen Sinneseindrücken Raum läßt. Farbigkeit und frische Winde werden ergänzt durch Vogelgesang, der das Tönen der Musik, deren Instrumente nun in „Instrumentenkästen ( . . . ) wie in schwarzen staubigen Särgen" (54) (gleich einem fortgeblasenen Spuk) verpackt sind, nurmehr als Bewußtseinsinhalt der Figuren verbleiben läßt. Leitmotiv und Figuren Bestimmte Wortrekurrenzen werden bei einer Reduzierung und Formalisierung des eigenen semantischen Gehalts zu Signalen, die auf Bedeutungsverschiebungen zwischen ihren jeweiligen Kontexten hinwei18
Auch der Duft der Akazien und die „frische(n) Winde, angefüllt mit Erdgeruch und süßem Kukuruzduft" (51) verschaffen der Vorstellung von der Ebene Einlaß in die Enge des Beamtengärtchens.
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sen. Besonders deutlich ist dieser Prozeß zu verfolgen an dem am häufigsten rekurrierenden Leitmotiv, dem Zentralleitmotiv des Textes: „Sie verstand Alles." Es wird schon in I. eingeführt, zieht sich durch den ganzen Text hindurch und wird schließlich in IV. in eminent bedeutsamer Weise variiert. Bei seinem ersten Auftreten ist es zunächst für den Leser unverständlich: „Das Fräulein ,Schwarzkirscherl' ging langsam zwischen Akazien auf der breiten Feldstrasse. Sie verstand Alles." (49) heißt es hier, nachdem zuvor der Hof und die Ebene beschrieben wurden. Was soll hier verstanden werden? Der nächste Satz liefert die Präzisierung: „Die Natur, die weite blühende Ebene sprachen zu ihr und sie verstand Alles ." (50) Der fortgeschrittene Horizont der Erzählung (des Erzählers) wird hier der Figur zugesprochen, sie wird mit hineingenommen in das dem Leser vermittelte Wissen (über die Farbigkeit, die Weite der Ebene und ihrer Felder). Die Figur ist nicht Dekorationselement des Raumes (wie etwa die Zuckerbeamten), sondern ihr Bewußtseinsinhalt wird mit dem zunächst scheinbar aus objektiver Erzähldistanz Berichtenden in eins gesetzt. Diese Funktion des Rückbindens des Erzählens an die Figurenperspektive bleibt in II. und III. gleich, das Leitmotiv steht immer am Schluß von Raum- oder Situationsbeschreibungen 19 (und am Schluß des Dialogs von III.) und verweist stets anaphorisch auf diese zurück. „Alles" heißt immer: das in dem vorher Geschilderten Enthaltene. Der eigene semantische Gehalt des Leitmotivs erfahrt also keine Veränderung, wohl aber ändern sich die Textelemente, auf die verwiesen wird. Die Gedankenstriche, die ab der zweiten Verwendung die Worte ergänzen, fungieren als anaphorische Verweisformen, als quasi Pronominalisierung für alles vorher (im ersten Fall: über die Ebene) Gesagte. Es bleibt hier dem Leser überlassen, die vermeintliche Leere der Gedankenstriche mit dem in ihnen Angedeuteten auszufüllen, „Gedankenstriche durch Gedanken zu ersetzen". Die Gedankenstriche stellen Aufmerksamkeit und Phantasie des Lesers auf die Probe und integrieren seine aktive Mitarbeit in die Textpartitur. Wenn die Raum- und Situationsschilderungen vom Text als der Reflexion der Figur zugehörende ausgewiesen werden, so kommt den in ihnen enthaltenen Brüchen und Oppositionen bei der Figurenanalyse ein besonderer Rang zu: Ohnehin ist bei der Merkmalsarmut der
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In der Weise einer Epiphora (H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, §§ 631, 632, S. 320 f.).
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Figuren im Prosagedicht eine Charakterisierung nur in ihren Handlungen und Handlungsräumen enthalten. Es ist bedeutungskonstitutiv, welcher Seite des Kontrastbildes von I. das Fräulein zuzuordnen ist, daß sie als die Hauptfigur dieses „Die Zuckerfabrik" überschriebenen Textes gerade nicht in der Fabrik arbeitet, sondern müßig auf dem Feldweg schreitet. Sie wird hier mit eingeführt als dem Bereich der tristen Arbeitswelt entzogene, dem Draußen der Natur zugeordnete. Doch schon Abschnitt II. zeigt, daß die räumlichen Gegensatzpaare einen Bruch in der Lebenssituation der Hauptfigur selbst markieren: Als Frau eines kleinen Zuckerbeamten geht sie nun nicht mehr auf der „breiten Feldstrasse", sondern sitzt „träge im Gärtchen". Die Spannung, die ihre Existenz kennzeichnet, findet ihren Ausdruck in dem Gegensatz der weiten Ebene zu „den kleine(n) Feldern mit Suppenkräutern" des Beamtengärtchens. In dem durch das letzte Zitat bezeichneten Kontext erscheint das zweite Leitmotiv des Textes: „In der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen." Im unmittelbaren Kontext überraschend, wird durch Entgegensetzung zur Umgebung der symbolische Verweisungscharakter dieses Textelementes plakativ herausgestellt. War dieses Leitmotiv in I. noch als Teil der Landschaftsschilderung zu verstehen, so fungiert es hier als Symbol für die Lockung des Geheimnisvollen, Dunklen, welche im Bewußtsein des Fräuleins auch im engen Rahmen des Beamtenlebens nicht verlorengeht. Geht eine derartige Interpretation hier vielleicht noch etwas zu weit, bleibt doch für sie die Isoliertheit das Hauptindiz, so ist die Subscriptio im Schlußabschnitt des Textes selbst — in einem Vergleich — formuliert: „wie eine geheimnisvolle dunkle Insel " (54) heißt es dort; dabei bleibt aber zu berücksichtigen, daß bei gleichem Eigenen semantischen Gehalt die textuelle Funktion des Symbols dort eine ganz andere ist. 20 In II. erwähnt der unmittelbar folgende Satz erstmalig die zweite Hauptfigur, den „Herrn Fabrikdirektor". Die Ortsangabe „stand bei ihr" (50) stellt durch ihre Opposition zum voraufgehenden „in der Ferne" in der Entgegensetzung einen Bezug her, der den Leser hier noch im Unklaren über den Zusammenhang zwischen der Bedeutung des Leitmotivs und der Figur des Direktors läßt; das diese Einleitung des Abschnittes abschließende Zentralleitmotiv („Sie verstand Alles .") verweist diese Verbindung an die Reflexion der Hauptfigur und — durch die Nichtausführung des hier auf den Begriff zu Bringenden — an das Verständnis des Lesers. 20
Vgl. S. 41 dieser Arbeit.
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Ein Ineinssetzen dessen, was die Direktor-Figur bedeutet, mit dem, worauf das Symbol verweist, suggerieren die im weiteren Verlauf vom Erzähler (vom Fräulein?) geäußerten Vermutungen über Herkunft, Verhalten und Denken des „Zucker-Königs Kanzler(s)" (50). Deutlich wird seine Distanz zu den auf den Fabrikshof ausgerichteten einengenden Verhältnissen: „Er sprach über die Rübe, die Wohngebäude, das kleine Leben . ( . . . ) Er stand über den Sachen, ohne Leidenschaft." (50) Das einzig Greifbare an seiner Gestalt sind die „feine(n) Manieren" (50), doch auch diese sind bloß negativ beurteilte Zeichen seiner Distanziertheit: „Er führte Conversation wie ein feiner Schauspieler ." (50) Unmittelbar an die Wiederholung dieses Vergleichs („sprach wie ein feiner Schauspieler" (51)), die diese Bewertung abschließend verstärkt, schließt sich der innere Monolog des Fräuleins an, der im biblischen Pathos die Vollständigkeit ihrer ablehnenden Einschätzung des Fabrikdirektors vollzieht und bei zehnmaliger (!) Rekurrenz des Wortes „Feind" einen Weg von dem umfassenden „Du bist der Feind " (51) über ein Zitieren der verschiedensten Elemente seiner (und ihrer) Umwelt (als deren „Feind" er jeweils bezeichnet wird) in die Konsequenz mündet: „der Feind von Allem, was Du nicht begreifst, der Feind deiner selbst " (51). Der Erzähler — stets Partei ergreifend — gibt dem Fräulein gegen Schluß des zweiten Abschnitts Recht: „Er war wirklich der Feind ." (51) Voraufgeht eine Textpassage, die mittels eines Dialogs die gegensätzliche Charakterisierung des Fräuleins und des Fabrikdirektors vorführt: sie hörte „den ganzen Vormittag" den Gesang eines Vogels, dessen Namen sie nicht kennt, dessen Gesang sie aber lautmalend wiedergibt und in „poetisch überhöhender" Weise als „Leitmotiv der Ebene" (51) bezeichnet. Der Direktor hat nichts vernommen, weiß aber sofort den Namen des Vogels zu nennen, ist „informiert". Sein Unverständnis gegenüber der „neuromantischen" Naturrezeption des Fräuleins — „diese verbildeten grossstätischen Geschöpfe", denkt er, obwohl gerade er es ist, der sie durch seine bessere Kenntnis hat „ganz roth" (51) werden lassen — erfahrt dann die oben angeführte Kommentierung durch den Erzähler. Der dritte Abschnitt führt zum Höhe- und Wendepunkt des Textes. In nichts weisen die drei Einleitungssätze darauf hin: „Abends war Kränzchen. Ein grosser kahler weisser Saal. Zigeuner spielten." (51) Die Adjektive „gross", „kahl", „weiss" markieren zunächst einen vollkommenen Bruch mit dem voraufgehenden (die Prägnanz des parataktischen Satzbaus verstärkt diesen Eindruck) und lassen sich in ihrem semantischen Gehalt zu „Kälte" zusammenziehen. Ihre Negativität
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bildet jedoch den Hintergrund für die folgende, sich aus der lakonischen Mitteilung („Zigeuner spielten.") entwickelnde, zum Vorhergehenden als Antithese gesetzte Situationsschilderung: Die Bilder der Musikdeskription konstituieren die Situation für das Handeln der Figuren und dienen gleichzeitig als funktionelle Metaphern zur Explikation ihres Fühlens und Handelns. In Oppositionssetzung zur kalten Leere des Raumes wird durch die Musik ein Handlungsrahmen bestimmt, der in seiner Vitalitätsfülle eine Ausnahmesituation anzeigt. Alle vier Musikqualitäten, eine jede einer bestimmten Instrumentenart zugeordnet, werden zu Textsymbolen, deren in Metaphern und Vergleichen explizit ausgeführte Subscriptio jeweils ein verschiedenes Lebensgefühl bedeutet. Den Bildern, die die Distanz zum Leben (Violinen), resignierendes Hinnehmen des Lebens (Cymbalon), Lebensüberdruß (Cello) und ein Vergessenkönnen im Erlebnis des Jetzt (Klarinetten) bedeuten, ist bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: in allen drückt sich eine negative Einstellung zum Leben aus, das eben auf irgendeine Weise gelebt werden muß. Die Lebendigkeit der Musik erweist sich also in ihrer differenzierten Ausformung als Ablehnung des Lebens. Ausdruck negativ erlebten Daseins ermöglicht sie jedoch zugleich rauschhaftes Vergessen: Kunst, nur als kritische möglich, führt immer zugleich mit sich eine Tendenz zum „schönen Schein". Bei der Beschreibung der kollektiven Figuren, die den Teilnehmerkreis des Kränzchens repräsentieren, scheint sich ein positiver Lebensbegriff anzudeuten. Mit begeisterten Worten wird das „unverbrauchte Leben" der „jungen Beamten" (52) gepriesen. Doch schon im nächsten Satz bedeutet „Leben" nurmehr zerstörerische Kraft, die dem Menschen nur noch den Rausch als Flucht und nur die Destruktion als Äußerungsweise ihres Selbst offenläßt: „Dann erwachen sie, legen das zerknitterte Kleid zusammen und zanken mit irgend Jemand ." (52) Die zusammenfassende Reflexion, in der die Beschreibungen ihr Ziel finden, hat alles Positive ausgesondert: „In diesem Zuckerfabrikshof lag dumpfe Resignation neben strenger englischer Prüderie und gleich daneben ,Sodom und Gomorrha'." (52 f.) Übrig bleibt die Musik, die all diesem Gestalt verleiht: „Aber die Zigeuner entflammten eine Welt." (53) Wiederum wird das Geschilderte als das von dem Fräulein Empfundene dargestellt, doch sie selbst wird als von diesem Geschehen distanziert beschrieben; sowohl nach der Musikdeskription als auch nach den Figurenbeschreibungen heißt es: „Das Fräulein ( . . . ) stand da ( . . . ) und lauschte . Sie verstand Alles ." (52) Ihre Integration in das Tanzgeschehen durch die Aufforderung des Fabrikdirektors wird mittels Rekurrenz des Klarinettenmotivs und
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durch den Ausbau des daran angeschlossenen Vergleichs („wie die Rekruten, die auf drei Jahre genommen sind" (53)), der den gefährlichen Ausnahmecharakter der Situation, die künstliche Ausgelassenheit, betont, als der für die Entwicklung dieser Figur entscheidende Augenblick ausgewiesen. Die negativen Gefühle der weiblichen Hauptfigur gegenüber ihrem männlichen Widerpart bleiben zwar erhalten („ ,Er ist mein Feind ' fühlte sie."), doch sie kann sich der Wirkung der Situation nicht entziehen: „Sie hört die Klarinetten kreischen, wie die Rekruten, die ." Ihre Reflexion kommt gegen die Wirkungskraft des Handelnden (des Direktors) nicht an: „Sie verstand Alles . Das Leben kam über sie ." (53) Der vierte Abschnitt, der den folgenden Morgen schildert, scheint einen harmonischen Abschluß, eine geglückte Liebesbeziehung vorzuführen: Das Fräulein und der Direktor spazieren „auf dem frischen sonnigen Feldwege" (54). Sie gebraucht nun seine Begriffe („ ,Ah, hören Sie P! Die Wiesenschnarre . ' " (54), er zitiert ihre Deutungen („ ,Es ist der Vogel der Ebene (...), das Leitmotiv dieser Symphonie Flachland'" (54)). Das Mißtrauen des Fräuleins gegenüber dem Direktor ist jedoch nicht verloren („,Schauspieler ', dachte sie" (54)), wird nun aber begleitet von Verwirrung, die effektvoll durch Variation des Zentralleitmotivs ausgedrückt wird: „und sie verstand gar nichts mehr " (54). Die Situation ist nun wieder eine ganz andere als am Vorabend, in der Ebene hören die Figuren wieder das „Tönen der Natur" (53), die Musik der Zigeuner liegt „in schwarzen staubigen Särgen" (54), den Instrumentenkästen, bleibt aber in der Erinnerung der Figuren aufgehoben. Die negative Bewertung des Direktors wird durch die Zigeuner bestätigt: „der Königs-Kanzler hat Uns betrogen " (54) (auch wenn der Leser nicht erfahrt, worin er sie betrogen hat), und ihre Aussage scheint auf die weibliche Hauptfigur übertragen werden zu können: Auch sie wurde vom Direktor „betrogen". Die Rekurrenz des zweiten wichtigen Leitmotivs des Textes („In der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen"; 54) macht deutlich, daß sich für das Fräulein die Sehnsucht nach dem Fernen, Geheimnisvollen nicht in dem Kontakt mit dem Fabrikdirektor erfüllt hat, daß sie dieses Verhältnis nur passiv erleidet und nur ratlose Bestürzung übrig bleibt. Der Satz: „,Ich spüre das Cymbalon ' sagte das Fräulein" (54) bedeutet ihr Absacken in nichts mehr verstehende, aber alles passiv hinnehmende Resignation. Für den Direktor bleibt die Dominanz rauschhaften Erlebens: „Er aber hörte die Klarinetten, den kurzen scharfen Ton der Daseins-Räusche (...)." (54)
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Zusammenfassung Die weibliche Hauptfigur ist als die tief empfindende, noch vom „Leben" unzerstörte, keine aktiv handelnde, sondern eine stets nur betrachtende. Der Fabrikdirektor ist als Mann aktiv, gewandt („feine Manieren"), schon dadurch Oppositionsfigur, als Direktor Repräsentant gesellschaftlicher Macht, die scheinbar Geheimnisvolles enthält. Das Fräulein ist ihm, obwohl sie ihn negativ und als Gefahr für sich beurteilt, durch die Faszination des Unbekannten und die Wirkung der Ausnahmesituation ausgeliefert. „Das Leben kam über sie." Die Reflexion erweist sich als Widerstand zu schwach, die Erfahrung bringt Ernüchterung, zeitigt nicht die Erfüllung der Sehnsucht und läßt Verwirrung und Ratlosigkeit zurück. In diesen Zusammenhang paßt eine ironisch treffende Bemerkung Egon Friedells: Was die Frau in ihren stummen Klagen ihr ganzes Leben lang ersehnt, ist der Held, der tiefe und starke Herr des Lebens, der zarte und weise Gentleman, der Vollkommene, und statt dessen erscheint vor ihren enttäuschten Blicken — der Mann. 21
Die Kraft des „Lebens" erweist sich als destruktiv. Die Erfahrung führt nur zur Resignation, oder beim aktiv Handelnden — und das heißt hier immer: zerstörerisch wirkenden — höchstens zum kurzen, den anderen Menschen mißbrauchenden, rauschhaften Genuß. Der Text liefert kein Heilrezept, kein hoffnungsvolles, versöhnliches Ende. Der Schluß bleibt offen. Das „Basta" (54) des Zigeuners enthält (als Beendigung des Streits unter den Musikern) die Aufforderung zum bloßen „Weitermachen": ,Er hat uns betrogen, genug davon! Wir können es nicht ändern . . . ' Die Gestik des Zigeuners weist jedoch auf Positives: der ,,schwarze(.) lackirteQ Hut", das Künstliche, Gemachte also (korrespondierend mit der situativen Künstlichkeit des Tanzabends), gibt die „schwarzen Locken" frei und läßt sie „im Morgenwinde spielen " (54). Das Natürliche als Bild der Versöhnung: bei notwendiger Dominanz des Negativen enthält der Text so doch einen schwachen Vorschein eines besseren Anderen. 6.3 Besitz und Erlebnis der Freiheit: „Im Volksgarten" 22 Textgliederung und Kohären% Der Text erhält eine erste rhythmische Gliederung durch den Wechsel von direkter Rede der Figuren mit erzählenden, berichtenden Passagen 21 22
E. Friedell, Ecce poeta, S. 185. P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 262 f.; die Angaben im Text sind Zeilen angaben.
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des Erzählers. Den Hauptteil der direkten Rede füllen Dialoge aus ( 2 - 4 ; 8 - 1 2 ; 1 5 - 2 2 ; 2 5 - 2 6 ) ; ab Zeile 28 kommt kein Dialog mehr vor, sondern an seiner Stelle treten innerer Monolog (31—33; 43 — 45) und monologische Rede (31). Mit diesem Wechsel innerhalb der Redestruktur korrespondiert ein Anwachsen des Anteils berichtender Erzählung 23 , deren epische Einschübe nun zeitraffende Funktionen übernehmen ( 2 8 - 3 0 ; 3 4 - 3 9 ) . Der Text läßt sich also zunächst in zwei in Rede- und Zeitstruktur zu unterscheidende Abschnitte untergliedern: 1. die szenische Darstellung eines kleinen Zeitausschnittes24 bei dominantem Anteil direkter dialogischer Rede (1—27), 2. einem mehr berichtenden Teil (durchbrochen von Monolog und inneren Monologen), der die Schilderung eines größeren Zeitraumes umfaßt (27—45). Der Tempuswechsel innerhalb der Erzählerrede des ersten Abschnittes vom epischen Präteritum (5, 6, 8) zum Präsens (ab 13 — 26) verstärkt den Eindruck augenblicklichen Geschehens. Nicht nur das Konstanthalten der Figuren stiftet die Kohärenz des Textes, sondern vor allem wird sie geleistet durch die Dominanz eines Textelements auf der semantischen Ebene: das Wort „Ballon" (und seine Pronominalisierungen), welches schon im ersten Satz erscheint. Mit Ausnahme der Redezuweisungen („Da dachte das arme Mäderl . . . " etc.) und eines Satzes des zweiten Abschnittes (41 f.) gibt es keinen Satz, der nicht das Wort oder den Begriff „Ballon" enthält oder indirekt auf ihn referiert. 25 Analyse des ersten
Abschnitts
Thema des ersten Satzes ist noch das „Ich", das sich deutlich als fordernde Instanz vorstellt: „Ich möchte einen blauen Ballon haben!" 23 24 25
Vgl.: F. K. Stanzel, Typische Formen des Romans, S. 12 f. Vgl.: E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 87. So auch in dem Nebensatz von Zeile 5 ff., wo „Gas" durch das als Pronomen fungierende Textelement (vgl. dazu Kallmayer u. a., Lektürekolleg zur Textlinguistik, Bd. 1, S. 189: „Den Begriff „Pronomen' verwenden wir (...) nur noch zur Kennzeichnung der Tatsache, daß eine Form x im Kontext eines bestimmten Textstückes die Funktion hat, eine Nominalgruppe bzw. eine Textkonstituente von anderem syntaktischen Status zu .vertreten'") „darinnen" an die Erwähnung des „blauen Ballon(s)" im vorhergehenden Satz zurückgebunden wird. Sogar in dem Satz: „Sie thut es" (22) ist „Ballon" im Pronomen „es" mitbetroffen, denn „es" heißt ja hier: „den ( = „den Ballon"; S. N.) auch auslassen in den blauen Himmel".
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Der blaue Ballon ist als Objekt der Forderung (und des Satzes) nachgegliedert. Die Inversion des zweiten Satzes („Einen blauen Ballon möchte ich haben!"), der zunächst als einfache Wiederholung des ersten erscheint, erhebt den „blauen Ballon" zur Hauptsache und stellt dar, daß es gerade um dieses Objekt, nur um diesen blauen Ballon allein geht, gegenüber dem das fordernde Subjekt nun in den Hintergrund tritt. Das dreimalige Wiederholen von „blauer Ballon" in den ersten Sätzen scheint die Dominanz des Objekts zu bestätigen, doch wird am Ende dieses ersten Dialogs durch die Namensnennung („Rosamunde") ein Gegengewicht gesetzt. „Rosamunde", Hauptfigur des ersten Abschnitts, wird nicht näher beschrieben, und nur aus ihren Handlungen und dem Verhalten der ihr zugeordneten kollektiven Figuren („Man") ihr gegenüber ist etwas über sie zu erfahren. Die zweite individuelle Figur des Textes ist als solche vorerst (bis Zeile 26) im ersten Abschnitt noch nicht vorhanden, sondern nur präsent in den Reden Rosamundes und ihrer Begleiter. Es geht hier noch ausschließlich um das Verhältnis Rosamundes zu dem von ihr begehrten Objekt, dem „blauen Ballon". Wenn auch das wortwörtliche Insistieren 26 der ersten beiden Sätze als Darstellung eines spezifischen Kindersprechens zu verstehen ist, worauf die verständnisvoll gewährende Gegenrede („Da hast du . . . " ) ihrerseits hindeutet, so darf doch das Adjektiv der leitmotivisch in den Text eingestreuten Wortgruppe nicht als zufällig übergangen werden. Es korrespondiert mit dem typisierenden Epitheton zu Himmel: „Sie läßt den Ballon aus, sieht ihm nach, bis er verschwindet in dem blauen Himmel." Hier ist das Adjektiv nurmehr „Himmel" zugeordnet, was zum einen bloß automatisiertes Registrieren verhindert und zum anderen das zwei Sätze später (19) rekurrierende Wortpaar noch deutlicher zu dem im nächsten Satz auftauchenden korrespondierenden Paar (22) in Bezug setzt. Das Mädchen, das sich den blauen Ballon als Besitz gewünscht hat, läßt ihn, nachdem ihr von der Umgebung sachlich erklärt wurde, daß ein Ballon aufgrund seiner Gasfüllung leichter als Luft sei, in die ihm — wie die Adjektivkorrespondenz suggeriert — adäquate Sphäre des blauen Himmels frei. Heißt es zunächst nur: „Ich möchte ihn auslassen " (8), so lautet es an späterer Stelle: „Nein, ich möchte den auch auslassen in den blauen Himmel!" (21 f.). Was erst noch als relativ willkürliche Handlung erscheint, wird durch den nicht ausgesprochenen, aber in der Textstruktur verankerten Bezug tiefer motiviert.
26
Wenn auch (s. o.) in der Syntax abgewandeltes.
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Das „Nein" des eben zitierten Satzes bezieht sich auf eine Aufforderung der Begleitung an das Mädchen, den Ballon doch „diesem armen Mäderl dort (zu) schenken" (10 f.). Zweimal verweigert Rosamunde die Erfüllung dieser Aufforderung, das Erlebnis des frei in den Himmel fliegenden Ballons ist ihr wichtiger und ihr Schaubedürfnis stärker als der moralische Druck. Daß dies nicht bloß selbstische Handlung eines verwöhnten Kindes ist, zeigt ihr Umgang mit dem dritten Ballon, den sie ohne weitere Aufforderung nun dem armen Mädchen bringt. Sie, die sicher sein kann, immer, wenn sie es will, Ballons zu erhalten, kann die Erfahrung machen, daß nicht der Besitz des Ballons das Schönste ist, sondern gerade das Erlebnis, das man erhält, wenn man auf diese Ballons verzichtet. Verzichtet jedoch, nicht um den Ballon einem anderen als Eigentum zu übertragen, sondern indem man im „Loslassen" am Ding das Erlebnis der Freiheit erfährt 27 ; deshalb sagt sie auch zu dem armen Kind: „Du, lasse ihn aus!" Hier nun wird das „Nein" des reichen Kindes (21) im abwehrenden „Nein" des armen Kindes (26) gespiegelt. Wie jenes die moralischen Ansprüche der Umwelt zurückzuweisen hatte, so verteidigt nun dieses seinen Besitz; es kann ihn nicht „einfach" (9) auslassen, sondern muß das außerordentliche, unerwartete Geschenk immerfort „begeistert" (27) anblicken. Analyse des %weiten Abschnitts Der Einleitungssatz des zweiten Abschnitts referiert auf einen Ort: „Im Zimmer" (28) und lenkt damit den Blick zurück zum Anfang, genauer: zum Titel des Textes, der ja auch zunächst nur den Schauplatz des 27
Auf eine mögliche Rückbindung des Bildes der Sehnsucht nach dem „blauen Ballon" an die literarische Tradition, an die „blaue Blume" der Romantik, soll hier zumindest hingewiesen werden. Vieles von diesem Topos ist unverändert in den Text eingegangen, vor allem das Nicht-Besitzen-, sondern nur Schauen-Wollen. Im Einleitungskapitel des ersten Teils des „Heinrich von Ofterdingen" heißt es: „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fernab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken [...] in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab' ich damals nie gehört (Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 195). In „L'oiseau bleu" (1909, dts. 1910), dem späten Drama Maeterlinks wird dieses Motiv erneut aufgegriffen: Jedesmal, wenn der blaue Vogel von „Mytyl" und „Tyltyl" gefangen wird, „verändert er sofort seine Farbe, sowie man ihn in einen Käfig tut" („Der blaue Vogel", 210).
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anschließend erzählten Geschehens markiert: „Im Volksgarten", einer der Wiener Parks im Stadtinnern. Über die simple Orientierung hinaus wird der Titel nun durch den angeführten zweiten Raum bedeutend: Das abgeschlossene Zimmer bildet nun die Opposition zum offenen Garten, dem blauen Himmel des Gartens wird jetzt der „Plafond" der Wohnung gegenübergestellt. Der Ballon wird an der Decke des Raumes „dunkler, schrumpfte ein", seine blaue Farbe, seine Bewegung verkehren sich ins Gegenteil: „fiel tot herab als ein schwarzes Säckchen" (30). Der innere Monolog des armen Mädchens formuliert dann noch einmal explizit das, was als positive Antithese dazu zu denken war, was im Garten mit seinem blauen Himmel unter Verzicht auf das ,Habenwollen' zu erleben gewesen wäre (31, 33). 28 In durch Konjunktion angezeigter Gegenüberstellung („Währenddessen"; 34) ist im folgenden vom „reiche(n) Mäderl" die Rede, das nun auch zum ersten und einzigen Mal so bezeichnet wird (gegenüber einer siebenmaligen Nennung des Begriffs „armes Mäderl"). Verwandte schenken dem reichen Mädchen soviele Ballons, daß es jegliches Interesse daran verliert, das Erlebnis ist ausgeschöpft: „ ,Die dummen Ballons ', sagte sie." (40) Das reiche Mädchen hat die Möglichkeit, die Erfahrung unzählige Male zu wiederholen, eben so oft, bis sie schließlich schal und verbraucht wird. Die berichtete Kritik der Tante daran ist als Formelzitat nicht wirklich kritisch (oder etwa auch als Lob) zu verstehen, sondern verliert als ironische Wendung jeden wörtlichen Sinn, dient eher auch an dieser Stelle zur Illustrierung des, wenn auch wohlwollenden, Unverständnisses der Umwelt des Kindes; schon vorher wurde ja die Begründung für das Desinteresse durch den Kontext vermittelt. Ist für das reiche Mädchen die Erfahrung durch häufiges ErlebenKönnen abgetan, so bleibt in Antithese dazu, wie der den Text abschließende zweite innere Monolog deutlich macht, dem armen Kind die Sehnsucht: Das arme Mäderl träumte: ,Ich hätte ihn auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut !' (43—45)
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Die
Gedankenstriche am Schluß des Monologs („nachgeschaut, nachgeschaut "; 33) korrespondieren dabei mit denen, die bei der Wunschäußerung des reichen Mädchens gesetzt sind („ich möchte ihn auslassen "; 8 u. 12). In Zeile 12 heißt es bestimmter: „Ich w i l l ihn auslassen " (Hervorhebung v. mir; S. N.); dazu in bedeutungskonstitutivem Gegensatz die Rede des armen Mädchens: „Ich hätt ihn . . . " (31 f.).
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Die Zeilen 31—33 werden hier fast unverändert wiederholt, doch nun auf dem Hintergrund der Desillusionierung des reichen Mädchens. So heißt es jetzt auch präziser: „Das arme Mäderl träumte'''' (Hervorh. v. mir; S. N.) (gegenüber „dachte" in Zeile 31) und die Verweisung auf Fakten der Realität ist reduziert, es heißt nun nicht mehr: „ihn im Garten auslassen sollen" (Hervorh. v. mir; S. N.), sondern nur noch: „auslassen sollen, in den blauen Himmel". So deutet auch der Wortbestand auf das, was dem armen Mädchen bleibt: der realitätsferne Traum, die zeit- und ortsenthobene Sehnsucht, die sich im „nachgeschaut und nachgeschaut !" als nie endender Wunsch träum vom immerwährenden („und" plus drei Gedankenstriche) Glück noch einmal ausspricht.
Zusammenfassende
Interpretation
Der Text ist antithetisch strukturiert, durch ihn zieht sich eine Vielzahl sich überschneidender Oppositionen. Sie sind hierarchisch gegliedert und zielen alle auf eine, schon in der Figurenkonstellation angelegte Grundopposition: „armes Mäderl" vs. „reiches Mäderl". Nicht um die Darstellung schichtenspezifischer Lebensart geht es aber, sondern um menschliches Verhalten allgemein, das jedoch als ein auch in der Kindheit durch die sozio-ökonomischen Verhältnisse bedingtes gezeichnet wird. Im Sprechen wird die Distanz deutlich: Nur der Reiche sagt: „Ich will", während dem Armen das „Ich hätte sollen" reserviert bleibt. Das Erlebnis der Freiheit (der blaue Ballon, der sich mit dem unendlichen blauen Himmel vereinigt) ist nur dem Privilegierten, also nur dem „reichen Mäderl" möglich. Damit erweist sich das Sehnsuchtbild als im durch soziale Not verursachten Verzicht motiviertes. Zur Erkenntnis, daß Besitz nicht gleich Glück ist, daß das Haben nicht alles ist, können beide kommen. Für das besitzlose Mädchen bleibt dieses Wissen jedoch in der Realität folgenlos, das Verzichten-Können wird für den, der nichts zum Verzichten hat, Objekt seines „Tagtraumes"29, Objekt der Sehnsucht, der noch alles „Matte, Schwächende" eignet und die der Leser erst in einen „Traum nach vorwärts" 30 zu verwandeln hat.
29
30
Den Begriff im Blochschen Sinne verstanden (vgl. dazu: E. Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, S. 8 6 - 1 2 8 ; vor allem: S. 98ff.). E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (siehe Anm. 29), S. 1116.
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6.4 Literarische Verfahren und Verstehbarkeit: „Blumen-Corso" 3 1 Einleitung Die Tendenz zur „punkthaften Komprimierung" 3 2 stellte schon in den voraufgegangenen Interpretationen die Frage nach der Kohärenz des Prosagedichts. Im Falle eines Textes von der Art der Skizze „BlumenCorso", der nach einem assoziativen Verfahren in kleinen Abschnitten von ein bis zwei parataktisch gebauten Sätzen ein Bild an das andere reiht, spitzt sich diese Frage zu einer nach der puren Verstehbarkeit eines derartigen Werkes zu. Dabei ist dieser bestimmte Text kein Ausnahmefall, sondern er ist gerade als Extrem repräsentativ für die meisten der frühen Skizzen Altenbergs. Als extrem muß er deshalb gelten, weil er — wie noch zu zeigen ist — gleich zwei typische Stilmittel des Prosagedichts in sich vereinigt: 1. Das Mittel der, bereits oben angesprochenen, assoziativen Reihung, welche dem Leser ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit auf im Text versteckte, erst der Interpretation zugängliche Verweisungen abfordert; 2. das literarische Verfahren des „demonstrativen Zeigens" 3 3 , d. h. einer expliziten Selbstinterpretation des Prosagedichts im Prosagedicht selbst. Daß diese Verfahren eng miteinander zusammenhängen und sich beide auf die Kategorie der Verstehbarkeit beziehen, ist deutlich — wie sie sich in diesem Text vermittelt darstellen, also: wie der Text verstanden werden kann, hat die folgende Interpretation zu erweisen. Gliederung Der Eingangsabschnitt des Textes (2 — 4) enthält die beim Prosagedicht übliche Exposition: ein Ort, oder, wie im vorliegenden Fall: eine 31 32 33
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 213—215; die Angaben im Text sind Zeilen angaben. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 160. Bertolt Brecht spricht in seinem „Kleinen Organon für das Theater" (Ges. Werke, Bd. 16: Schriften zum Theater 2, § 71, S. 697) von einem „allgemeinen Gestus des Zeigens" („allgemein" im Sinne einer angestrebten absoluten didaktischen Ausrichtung des epischen Theaters), der als direkte Wendung ans Publikum nicht mit dem hier Gemeinten verwechselt werden darf. Aber auch in unserem Zusammenhang wird sich ein Herausgehobensein der betreffenden Textsegmente aus dem dominant narrativen Kontext und zugleich ein stärkerer Leserbezug konstatieren lassen.
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Zeitangabe (mit Beschreibung der Witterungsbedingungen) konstituiert die Situation (den Hintergrund oder Schauplatz) für das Folgende. Die Zeitangabe „Sechs-Uhr-Früh" (2) korrespondiert mit dem in der Mitte des Textes erscheinenden „Nachmittags" (37) und liefert schon eine grobe Gliederung in zwei nahezu gleich lange Teilstücke, einen ersten Teil, der das Geschehen am Morgen berichtet (2—36), und einen zweiten, in welchem der Nachmittag, die Zeit des Blumenkorso, erzählt wird ( 3 7 - 6 2 ) . Analyse des ersten
Abschnitts
Die zu Beginn gewählte Farbe des Himmels „weißlich-blau" (3) steht in Opposition zu der Farbnennung des folgenden Unterabschnitts, in welchem von den „grau(en) Holzläden" (6) des Blumenladens die Rede ist. Der tristen Farbe der Holzläden entspricht die Qualität des hinter ihnen Verborgenen, den „falschen Blumen". (5) Die in diesen beiden ersten Unterabschnitten konstituierte binäre Opposition wird im dritten weiter zugespitzt. Hier nun wird der Widerspruch pointenhaft formuliert: „In der staubigen Auslage blüht der Frühling" (7). Das Positive der metaphorischen Wendung vom „Blühen des Frühlings" enthüllt sich durch Oppositionssetzung zu der „staubigen Auslage" des Blumenladens mit seinen „grauen Holzläden" unmittelbar als Scheinhaftes. Nichtsdestoweniger behält das illusionäre Schöne der falschen Blumen seinen positiven Akzent in der Entgegensetzung zur Eintönigkeit seiner Umgebung. Das Ende des vierten Unterabschnitts faßt noch einmal den Scheincharakter, das Leblose des Nachgemachten zusammen: die „weisse(n) Rosen" (10) „riechen wie alte Mousseline-Kleider" (12). Im Kontrast zu diesem negativ besetzten Bild der Aussagesätze stehen die Ausrufe der folgenden Sätze: Blumencorso für nachmittag vier Uhr! Logen-Sitze fünf Kronen! Es soll Geld unter die Leute kommen, Tausende verdienen indirekt, hat man eine Idee?! Es geht herunter bis zum . Niemand kann es ausdenken. (13 — 17)
Die wirtschaftliche Funktion des begeistert Angepriesenen wird unverhohlen ausgedrückt. Bei dem Blumenkorso handelt es sich nicht in erster Linie um ein ästhetisches Vergnügen, sondern um eine Gelegenheit zum Geldverdienen. Der Sinn dieses Geldverdienens entzieht sich in diesen Sätzen jedem Hinterfragen, das „Es soll" bedarf anscheinend keiner weiteren Begründung. Die unmittelbare Teilnahme an diesem Ereignis ist nur den Begüterten möglich, welche die geforderten „fünf Kronen"
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für ein solches Spektakel übrig haben, 34 aber: „Tausende verdienen indirekt!" Unvorstellbare („hat man eine Idee?!") Verdienstmöglichkeiten scheinen sich anzubieten („Es geht herunter bis zum . Niemand kann es ausdenken"), direkte und zählbare zunächst nur für den Veranstalter. Das auf das Marktgeschrei der Blumenkorso-Reklame folgende Bild führt die erste, scheinbar von diesem Ereignis noch nicht vollkommen bestimmte Figur ein: Eine junge Mutter mit ihrem schlafenden Kind auf dem Arm „starrt das .fliegende Rosenbeet'" (19) an. So wie das „arme Mäderl" der Skizze im „Volksgarten" den blauen Ballon „begeistert" anblickt35, so „starrt" die Frau den mit falschen Rosen bekränzten Wagen an als Teil einer wunderbaren, für sie unerreichbaren Welt. Diese Interpretation der Szene wird im Text explizit formuliert. Der Wagen wird (in Rückbindung an die Perspektive der Figur) als „ein Stückchen einer .feenhaften Welt'" (20) bezeichnet, „Rosen und Fiaker, das Mysterium des ,schönen Überflüssigen'!" Sind die Worte vom „ ,fliegende(n) Rosenbeet'" noch an die Figur zurückzubinden36, so handelt es sich dagegen bei der Rede von der „,feenhaften Welt' " und vom „Mysterium des ,schönen Überflüssigen' " um Erzählerkommentare, die das im vorhergehenden Text Enthaltene interpretieren, dem Leser demonstrativ zeigen, „was damit gemeint ist". Daß ein Fiaker, welcher ohnehin — mehr noch als heute das Taxi — schon für sich ein nicht jedem zugängliches Fortbewegungsmittel Vgl. St. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 32: „alles aber kommunizierte im Theater und bei den großen Festlichkeiten, wie etwa dem Blumenkorso im Prater, wo dreimal hunderttausend Menschen die ,obern zehntausend' begeistert in ihren wunderbar geschmückten Wagen akklamierten." 35 Vgl. S. 45 dieser Arbeit. 36 Sie sind noch als Beschreibungen des Bewußtseinsinhalts der Figur zu denotieren. Sie können jedoch auch darüber hinaus noch als „verweis(e) auf andere Sprachbenutzer oder kommunikationssituationen durch ausnutzung der konnotationsebene" (R. Klokkow, Linguistik der Gänsefüßchen, S. 303) verstanden werden. Prof. Geulen wies mich darauf hin, daß diese und die folgenden Nominalgruppen, die in Anführungszeichen gesetzt sind, auch als Zitate des Reklametextes interpretiert werden können. Derartige Realitätszitate finden sich bei Altenberg häufig. Hier ist die Grenze zwischen reinem Erzählerkommentar und möglichem Werbetext schwer zu ziehen. Bei „fliegendeis) Rosenbeet" (19) wird eine Zuweisung zu letzterem durch die leicht variierbare Rekurrenz als „Fliegende Blumenbeete" (43) bei der Wiederholung des nun nicht mehr in Anführungszeichen erscheinenden Reklametextes nahe liegen, „feenhafte Welt" (20) scheint diesem eher zuzuordnen zu sein, als das für den Slogan zu präzise „schöne Überflüssige", welches der Intention des Werbetextes, das Produkt — hier den Blumenkorso — zu verkaufen und nicht über den wahren Charakter desselben zu informieren, wohl kaum entgegenkommen dürfte. 34
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war, nun auch noch zweckentfremdet als „Rosenwagen" erscheint, macht ihn für die Frau zu einem in doppelt begründbarer Weise „schönen Überflüssigen". Was für sie so fern und unerreichbar bleibt wie eine Märchenwelt 37 , ist für die „Dirne" des nächsten Unterabschnitts zumindest denkmöglich: „ ,Soll ich den Wagen mieten, soll ich nicht, soll ich, soll ich nicht, soll ich ?!'" (24-26). Doch schon die Reaktion des Ladenmädchens im nächsten Satz (die auch und primär deren Neid ausdrückt) gibt einen Hinweis auf das gesellschaftliche Urteil im Falle der Verwirklichung des hier scheinbar Möglichen. Auch der Dirne ist es verwehrt, einen solchen Wagen zu mieten, ihr aber nicht aufgrund finanzieller Beschränkung, sondern aufgrund sozial-moralischer Deklassierung. So „läßt (die Dirne) die Stores herab" (33) und so geht die „junge Mutter mit dem Kinde ( . . . ) weg" (31), ohne daß eine von beiden das begehrte Objekt erlangen könnte. Die Figuren erscheinen nun im Schlußsatz des ersten Abschnittes nicht mehr. Ihre unfreiwillige Distanz zu dem realen Geschehen des Blumenkorsos wird dadurch deutlich gemacht, daß nun das Abfahren des Wagens (wie zu Eingang des Textes die Beschreibung des Blumenladens) als ein für sich stehender sachlicher Vorgang ohne die Brechung durch eine Figurenperspektive geschildert wird (vgl. 34—36). Analyse des ^weiten
Abschnitts
In den ersten fünf Zeilen des zweiten Abschnitts wird berichtet, daß sich „Nachmittags ( . . . ) eine Dame und ein junges Mädchen" (37 f.) den Wagen mieten (auffallig ist in diesem Zusammenhang die Antithese „Dame" vs. „Weib"; 18). Das Mädchen ist die erste Figur, die den Betrug der falschen Blumen benennt: „Les fleurs sont fausses " (39). Diejenigen, die privilegiert sind, das „schöne Überflüssige" zu erlangen, haben nichts davon, da die Erkenntnis seines Attrappencharakters, des schönen Scheins als bloßen Schein sie desillusionieren muß. Das dem Mädchen bewußte wahre Sein des Gegebenen wird in den Zeilen 42 — 43 durch Rekurrenz des Reklametextes mit der Lüge der Werbung konfrontiert: Blumencorso. Zufahrt durch die Praterstrasse. Fliegende Blumenbeete. Tausende verdienen indirect!
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Die junge Frau wird im folgenden Text ausschließlich als von dem Geschehen distanzierte vorgeführt (vgl. 31 und 50).
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Schlagwortartig verkürzt wird noch einmal die Lukrativität des Unternehmens angepriesen, zusätzlich auf dessen Vergnügungscharakter („Praterstrasse") referiert und zum anderen durch das Wortpaar „fliegende Blumenbeete" die Abknüpfung an die Wunschwelt des Publikums verdeutlicht, denn auch vom „jungen Weib" hieß es ja: „Sie starrt das .fliegende Rosenbeet' an" (19 — 20)! Daß diese Werbung gerade bei denen, die es sich nicht leisten können, die erwünschte Wirkung zeitigt, führen die daran angeschlossenen Zeilen (44—49) vor: Sowohl das Ladenmädchen, als auch die Dirne träumen „Rosen-Wagen " (46 38 —49). Daß sogar das Ladenmädchen, das doch am besten über die Falschheit der Blumen Bescheid weiß, dennoch vom Blumenfiaker träumt, läßt die Diskrepanz zwischen Realität und Wunschtraum (und dessen innerer Zwiespältigkeit) besonders krass hervorscheinen. Das Ladenmädchen sitzt in dem „dunklen, dunstigen Blumenzimmer" (47 f.) inmitten der falschen, „wie alte Mousseline-Kleider" (18) riechenden Blumen und träumt von dem „Rosen-Wagen" mit seinen weißen, gleichfalls falschen Rosen. Sogar das Wissen um den Betrug kann die suggestive Überredung der Illusion nicht abwehren. Deren Macht wird in den letzten Unterabschnitten des Textes noch deutlicher: Ein Gassenkehrer 39 , der die Rose, die vom Wagen auf den Asphalt fiel (vgl. 35 f.), gefunden hat, behandelt diese wie eine echte Blumen, in seinem Zimmer „steht (sie; in einem Glase" (54). Der Gassenkehrer, der das Glück hatte, wenigstens im Abfall ein Stück des großen Illusionszaubers zu erhaschen, hält dieses Zeichen einer Realität, 38 39
In diesem Fall mit fünf (!) Gedankenstrichen. Der „Gassenkehrer" Altenbergs handelt hier in Nachfolge des „Lumpensammlers" Baudelaires, über welchen (in Prosa noch vor dem Gedicht „Le Vin de Chiffoniers") gesagt wird: „Hier haben wir einen Mann — er hat die Abfalle des vergangenen Tages in der Hauptstadt aufzusammeln. Alles, was die große Stadt fortwarf, alles, was sie verlor, alles, was sie verachtete, alles, was sie zertrat — er legt davon ein Register an und er sammelt es. Er kollationiert die Annalen der Ausschweifung, das Capharnaum des Abhubs; er sondiert die Dinge, er trifft eine kluge Wahl, er verfahrt wie ein Geizhals mit einem Schatz und hält sich an den Schutt, der zwischen den Kinnladen der Göttin Industrie die Form natürlicher oder erfreulicher Sachen annehmen wird." (Ch. Baudelaire, Oeuvres. Texte établi et annoté par Yves-Gérard Le Dantec. Paris 1931, Bd. 1, S. 249 f. Übers, in: W. Benjamin, Charles Baudelaire, S. 78 f.). Ganz wie bei Baudelaire das Gewerbe des Lumpensammlers unmittelbar dem des Großstadtpoeten zu vergleichen ist, so gibt auch der Gassenkehrer bei Altenberg ein Bild für das Dilemma des Poeten, welcher, im Grunde nur Schönes zeigen wollend, auf die Darstellung des noch im Drittklassigen zu entdeckenden Schönen angewiesen bleibt, will er nicht einfach das mißachten, was ihn alltäglich umgibt.
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von der er ausgeschlossen ist, für echt; die Suggestion des Wunschtraumes ist so groß, daß auch hier (wie beim Ladenmädchen) das im wörtlichen Sinne „zum Greifen nahe" Wissen um den Scheincharakter dieses Glückes sie nicht destruieren kann. Nur die noch Unverbildeten, die Kinder, sind zur Erkenntnis der Wahrheit fähig (bzw. sind vom Schein noch nicht betroffen, wie etwa das Kind der jungen Mutter, von welchem, in leitmotivischer Rekurrenz, gesagt wird: „Das Kind schläft tief in der reinen Morgenluft" 40 ) und unterliegen nicht der Blendung des Scheins. Nicht nur die Tochter der Dame, sondern auch das „Töchterchen" des Gassenkehrers benennt den wahren Charakter der Blumen, indem es einfach sagt: „pfui, sie (die Rose) stinkt ". Dagegen haben sich auch diejenigen aus der Erwachsenenwelt, die als sozial-privilegierte das erfahren können, was die Gesellschaft ihnen als das scheinbar „schöne Überflüssige" anbietet, mit dem Betrug abgefunden. Daß man nicht mehr die Dinge selbst, sondern nur noch die sie nachahmende Attrappe erhält, wurde längst als nicht mehr zu Hinterfragendes internalisiert; es kommt nurmehr auf die äußere Wirkung an, darauf, daß die Hohlheit des Prunkes nicht auffallt: „,So ', merkt man es?!'" (41). Die Veranstalter des Gesellschaftsvergnügens können sicher sein, daß „man" es nicht merkt, dafür ist die Macht des falschen Zaubers zu groß. Und die Figur des Gassenkehrers, welche ihm erliegt, zeigt nochmals (vgl. 57 — 62), daß vor allem das Bedürfnis der Teilhabe an dem „Glück" viel zu stark ist. Dieses „Glück" ist als gesellschaftliches definiert, insofern es von der primär am Profit orientierten Gesellschaft auf dem zunächst alle Standesunterschiede nivellierenden, jeden zum potentiellen Kunden erklärenden Markt zum allgemeinen Verkauf angeboten wird, damit jedoch zugleich den gesellschaftlichen Gebrauchswert dieses Glückes zur käuflichen „Glücksware" entleert. 41 Noch der Abfall des ökonomisch motivierten Spektakels wird zum Signum für den Traum vom besseren Leben; für den Gassenkehrer ist
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21, 32 und spezifisch in 51: „Das Kind schläft tief in der dunstigen Morgenluft". Das Adjektiv „dunstig" korrespondiert dabei mit dem zweiten Epitheton zu „Blumenzimmer" in Zeile 47 f. („in dem dunklen, dunstigen Blumenzimmer") und macht so die Einheitlichkeit dieser drei Figuren, ihren gemeinsamen freudlosen Alltag deutlich. Indem auch der Warengesellschaft die soziale Distinktion in Kapitalbesitzer und besitzlose arbeitende Klasse inhärent ist, hebt sich auch die scheinbare allgemeine Zugänglichkeit der „Glücksware", da man, um sie kaufen zu können, eben das nötige Geld haben muß, wieder auf.
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die Frage der Echtheit und das Stinken der Rosen uninteressant, wichtig allein ihre Herkunft. „ ,Es ist vom Blumencorso !' " (62) Auch hier am Ende des Prosagedichts findet sich wieder ein interpretierender Erzählerkommentar (57 — 61). Einerseits weist der Erzähler auf die Unmöglichkeit wahren Glücks im modernen Leben der Großstadtgesellschaft hin (auf dem Asphalt „blühen" eben nur falsche Rosen!), und andererseits reklamiert das Pathos seiner Rede auch für den Sozial-Deklassierten das Recht auf einen kleinen Anteil an dem, was als Glücksware gehandelt wird. Die „Bescheidenheit" des Gassenkehrers ist gerade sein Verzicht auf ein Erkennen der Tatsache, daß sein Traum auf seinerseits Unechtes gerichtet ist, sich seine Hoffnung also doppelt betrogen findet. Nicht nur wird, wie in der Skizze „Im Volksgarten", die Unmöglichkeit der Erfahrung des Glücks, seine Abschiebung in den Bereich des Tagtraums aufgezeigt, sondern es macht die verschärfte Kritik dieses Textes aus, daß auch das, auf welches die Hoffnung gerichtet ist, als Unwahres ausgewiesen wird. Nicht nur der Traum ist Leben aus zweiter Hand, sondern auch das scheinbare Glück der Privilegierten entpuppt sich in einer Gesellschaft, der alles zur Ware wird, als falscher Kulissenzauber.
6.5 Erinnerte Hoffnung: „Wie wunderbar" 4 2 Der erste Satz aus „Wie wunderbar " gibt ein Rätsel auf, läßt den Leser im Ungewissen und stellt ihn gleichzeitig in ein Kontinuum (in eine Geschichte), von welchem ihm nur die nackte Tatsache des Endes mitgeteilt wird. Soweit das Pronomen anaphorisch unaufgelöst bleibt — denn der Titel gibt keinen Hinweis 43 — so weckt es die Erwartung kataphorischer Auflösung. Die beiden folgenden Abschnitte (210, 4—11) liefern diese nur scheinbar: eine männliche Figur in trostloser Situation wird beschrieben, ein Kranker, dem auch die Schönheiten, grünende Nußbäume und fröhlich glucksende „Forellenbrünnlein" (sicherlich auch ein ironisierter ,locus amoenus') nichts mehr bedeuten können. Die Erwähnung der „Dame" gibt zwar schon zu bestimmten Vermutungen Anlaß, doch wird die 42 43
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 210—214. Stellenangaben fortan im Text. Es sei denn, man erlaubte sich den Kurzschluß auf die Widmung an eine „edle Verstorbene". Zu Olga Waisnix vgl. A. Schnitzler, O. Waisnix Briefwechsel.
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Spannung noch nicht aufgelöst: ist sie bloß eine rührend um einen hilflosen Kranken Bemühte oder ist ihre Beziehung zu ihm anderer Art? Alles bleibt in einem Schwebezustand. Die nächsten Sätze berichten von seinem Abschied aus dem Hotel. Der Adressat seines Versprechens wegzufahren verbirgt sich hinter der anonymen Formulierung, ist es die Dame? Unklar bleibt auch die Bedeutung der Opposition „weisse (.) Jalousien" vs. ,Duft von Nadelwald und Bergwiese'. Die Semantik dieser entgegengesetzten Satzsegmente ist zweifellos sehr eng mit derjenigen der binären Opposition des ersten Abschnittes verbunden. Zu vermuten ist, daß auch die heruntergelassenen Jalousien, als stellvertretendes Kürzel für die leeren, verlassenen Räume (und nicht etwa als Sonnenschutz), das unverändert Schöne der Natur kontrastieren. Diese Interpretation findet ihre Bestätigung in der anschließenden Frage „Was hat sich verändert?!", die mehr als Frage Ausdruck der Verwunderung sein kann, daß sich etwas verändert hat, während sich doch die Natur ungewandelt gleich bleibt. Die partielle Rekurrenz der ersten Opposition bedeutete auch, daß das Rätsel noch nicht gelöst ist, sondern noch immer als Beunruhigung hinter den Zeilen festgehalten wurde. Erst ganz zum Schluß des ersten Teiles (219, 23 — 27) erfolgt eine Antwort, nun jedoch nicht nur auf das ,was' des „Ende(s)", sondern auch schon in Verbindung mit einem Wink auf das „Warum", die Ursache des immer noch Unbestimmten. Das „Der" (210, 26) kann sowohl vom Erzähler neutral berichtend als auch schon aus der Perspektive der „Dame" gesprochen werden, deutlich wird nun jedenfalls, daß hier ein Abschied Liebender erzählt wird, und zwar ein Abschied, welcher sprachlos, „still" (210, 27) bleibt, den versuchsweise mittels Literaturzitat erprobten Ausdruck verwirft und nur den Bericht über die bloße Tatsache der Trennung überliefert. Wer „ohne Reim" geht, hat es nicht „gut", d. h. der Bruch wird nicht in eleganter dichterischer Metamorphose überwunden, sondern bleibt als schmerzendes Bild (vgl. die Rekurrenz v. 210, 21 u. 210, 27: „alle Jalousien sind herunter ."), als etwas, das einem ,nachgeht', unverarbeitet. „Es hat ein Ende": das Ende einer Liebe, aber ein unversöhntes. Den Schluß dieser ersten Geschichte bildet dann auch die Nachricht von Betäubungsversuchen. Alle Substantive dieses Abschnitts stehen im Plural: die Quantität der Erfahrungen soll deren Verlust an Qualität nicht vergessen machen, es bleiben nurmehr die Namen, deren Träger haben sich längst an die Masse verloren; mit „halben Sachen" lebt man dahin; wieder ist die Verweisung unklar gehalten, „das Leben" kann sich auf beide, Mann und Frau beziehen. Das Temporaladverb „Dann", das den letzten Abschnitt des ersten Teils einleitet, rekurriert als erstes
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Wort aller drei folgenden Teile des Gedichts und markiert damit, neben der Betonung einer zeitlichen Struktur des Nacheinander, eine Distanz von der Geschichte der ersten Trennung, die den weiteren in der Qualität eines Musters vorangestellt ist. Die zeitliche Distanz bleibt dabei unbestimmt, jedoch deutet das „noch immer" (211, 23) auf eine länger zu denkende Pause zwischen dem zweiten und dem dritten Teil, und auch für die Zeitbestimmung des vierten Teils gibt es Hinweise, daß dieser erst nach einer längeren Zeitspanne angesetzt werden soll („er geht schon dahin . . . " ; 211, 5 — 17; „Plötzlich"; 212, 9 u. 11). Erst das Pronomen des Anfangssatzes des zweiten Teils vereint nun ,ihn' und die „Dame" zu einem Paar. Der Schauplatz ist dem vorhergehenden der Trennungssituation als ,schöne Natur', nun die des „Obstgartens", verwandt, in der Rekurrenz des Geruchseindrucks verweist die Kontinuität dieser semantischen Strukturebene auf eine Situation des Neuanfangs. Daß sie beide hier gemeinsam Spazierengehen und „Nadelwald und Bergwiese" noch genauso duften wie einst im Hotelhof, bringt die männliche Figur dazu, dem Urteil des ersten Satzes des Prosagedichts zu widersprechen: „Wie wunderbar! Es hat kein Ende — ". Doch schon die darauffolgende Zeile widerlegt diesen Spruch als Trug: „Sie hüllt sich in ihren Schawl und fröstelt —". Nun ist sie es, die wegfahrt und an die Stelle der heruntergelassenen Jalousien als Bild der Leere und Trennung treten jetzt die Wagenlaternen, die „wie zwei trübe Augen" ihm als letztes Bild bleiben; zu dem frischen Duft der Natur wird nun der Geruch von „Leder-Lack" des Wages in Opposition gesetzt. So wie in der ersten Szene nur die lyrischen Dichter vom „Herze" reden können, den Liebenden aber nur die stumme Körpersprache des Krankseins oder der Fürsorge bleibt, so wird hier von beiden nur über „gescheidte Sachen" gesprochen, die Freude und Liebe aber findet sich nur in den Gedanken des Mannes überliefert, bleibt ungesagt. Auch der dritte Teil (211, 19 — 212, 7) liefert in knappster Form ein deutliches Beispiel mißglückter Kommunikation, die sich in der Sekunde des strikt doppelsinnig zu verstehenden „Augenblicks" zunächst als geglückte darstellt. Wieder — wie in vielen anderen Skizzen Peter Altenbergs — ist es der kurze, ,sprechende' Blick des Mannes auf die Frau, der das Gefühl der Hoffnung auf ein mögliches Verstehen indiziert. Wird nun das Leitmotiv des Textes, dessen erstes Segment ja den Titel der Skizze bildet, der weiblichen Figur zugeschrieben, so „fühlt" sie es jedoch nur, und das beiderseitige Gefühl wird nicht sprachlicher Ausdruck auf der Ebene der Figurenrede. Statt dessen folgt wieder ein Bericht über die Schmerzen der Trennung, nun aber die Ursachen des
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Mißverstehens und der Sprachlosigkeit analysierend. „Man" hat es sich „aberziehen" lassen, Gefühle direkt zu äußern, seinen Schmerz schreit man nicht einfach hinaus, denn direkte Äußerungen werden negativ sanktioniert, mit „Objektverlust" bestraft; mit „Tränen in den Nerven" wird verglichen, was als Leid der Sublimation erfahren werden muß. Die Struktur des vierten Teils (212, 8 — 19) hebt sich deutlich von der der drei vorhergehenden ab. Schon am typographischen Erscheinungsbild fallt die strengere Ordnung auf. Die syntaktische Ebene besteht fast durchweg aus parataktisch einfachen Hauptsätzen (nur einmal — und dies genau in der Mitte dieses Teils — erscheint ein vollständiger Nebensatz), die alle in bis zu drei Gedankenstrichen auslaufen, also in extremer Weise dem Leser das Signal zur Vervollständigung des nur bruchstückhaft Ausgeführten geben. 44 Die starke Präsenz von Rekurrenzen (dreimal „Er" in 212, 9; 212, 13; 212, 15 und zweimal „Es" in 212, 17 u. 18 am Zeilenanfang) und ein engmaschiges semantisches Verweisungsgeflecht konstituieren die von der Syntax nicht geleistete Kohärenz. Die für das ganze Gedicht gültige zeitliche Struktur des Nacheinander findet sich hier im „Dann" der ersten und im „Und dann" der siebten Zeile wieder, hier nun aber wird erstmalig ein kausaler Zusammenhang — mit ihrem Brief als Ursache und seinem Gedicht als Folge — hergestellt. Den besonderen Status dieser neuen Einleitung ihrer Begegnung durch das direkte Schreiben der Frau an den Mann verdeutlichen die Zeilen zwei bis fünf, die diesen Brief als überraschendes, in den betäubungssüchtigen Alltag des Mannes (211, 3 rekurriert in 212, 10; nun als fragloser Zustand der Sucht: Verdrängung als unabdingbarer Teil der Identität) „plötzlich" hereinbrechendes Ereignis benennen. Nun, da es zu spät scheint, kommt es zur geglückten Kommunikation. Es gelingt der sprachliche Ausdruck, die Antwort auf ihren Brief in seinem Gedicht. Die Rede vom .„Gedicht wie die lyrischen Dichter" es zu machen verstehen' ist ein kurz in die Irre führendes retardierendes Moment. Denn nicht der einfache Weg schablonenhafter Reimerei ist gemeint, sondern ein Gedicht, das Anspruch erhebt, genauso wie die herkömmliche Verslyrik als ein solches bezeichnet zu werden, aber im Gegensatz zu dieser reine Prosa ist. So reflektiert das Prosagedicht hier über seine eigenen Möglichkeiten und erhebt auf dem Hintergrund scheinbarer Gleichstellung mit der Verslyrik gerade in der Gegenüberstellung durch den Hinweis , „ganz ohne Reim" und dennoch „ganz k u r z " d e n
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Vgl. S. 37 dieser Arbeit.
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exklusiven Anspruch auf Authentizität, auf wahres, da doch durch keine künstliche Form verfälschtes Sprechen. Es tritt als unmittelbarer Ausdruck des Denkens und Fühlens von Mann (211, 13) und Frau (211, 16) auf, und seine Leistung liegt gerade nicht in artistischer Perfektion, sondern in der Tatsache des Aussprechens überhaupt. Daß in dieser letzten Zeile des Gedichts das Leitmotiv der Figurenrede zugeschrieben wird, der Mann am Ende schließlich zur Äußerung gelangt, ist ein Moment der Hoffnung in diesen Text. Das Quälende dieses Werkes ist es ja gerade, daß in den konkreten Begegnungssituationen kein klarer Grund für deren Scheitern angegeben ist, außer dem, daß weder Mann noch Frau in der Lage sind, ihre Gefühle dem anderen unmittelbar zu offenbaren. Gleichsam schicksalhaft über die von ihrer Erziehung ,erkälteten' Menschen verhängt scheint diese Trennung der Liebenden voneinander. Das Leitmotiv am Schluß aber klingt wie eine Feststellung und wäre dann als Widerlegung des Vorhergehenden zu lesen. Doch dies ist es nur partiell, denn es handelt sich ja um ein Gedicht im Gedicht und nicht um Realisierung des Glücks, die Vergangenheit gleichsam durchstreichend, sondern um erinnerte Hoffnung und in der Erinnerung auch gesicherte Hoffnung in einer Situation, die deutlich die Freundschaft als Vergangenes, als verpaßte Gelegenheit festhält (der Mann als „Invalide", der nurmehr aus der Distanz des vom Leben Ausgeschlossenen der Freundschaft zu „salutieren" vermag). So bleibt dieses letzte „Wie wunderbar! Es hat kein Ende" als gedichtete Prosa im Prosagedicht eine Geste der Vergeblichkeit, die paradox im NichtAnders-Sein-Können, im Verhängnis auf das Andere verweist. Und es ist dieser letzte Satz auch eine Selbstthematisierung des offenen Kunstwerkes, also auch im direkten Sinne auf das Gedicht als Ganzes bezogen zu lesen: sein wahres Ende ist erst da, wo das Rätsel des Textes für den Leser in der Interpretation gelöst zu sein scheint.
6.6 Exkurs: „Gefühlssublimation" und „Über-Ich" Literatur ist nicht Leben, das Kunstwerk liefert keine direkte Widerspiegelung der Wirklichkeit, sondern schafft sich seine eigene, sprachliche. Es ist nicht die Hauptaufgabe des Literaturwissenschaftlers, in den Texten nach Realitätspartikeln zu fahnden, die in nichtkünstlerischen Quellen und Welterfahrungen als derartige identifiziert werden. Nicht die Semantik des Einzelfalls, sondern die der aus dem Zusammenspiel der vielen Einzelelemente und ihrer Anordnung entstehenden Struktur muß analysiert werden. — Andererseits gilt natürlich: ein poetisches
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Sprechen, das nicht ein Minimum an nicht-individuellem Material (es mag nun sein, daß dazu schon die reinen — etwa lateinischen — Buchstaben genügen) benutzt, schließt sich aus der Kommunikation mit dem Leser aus. Und andererseits gilt auch: Poesie — und auch gerade diejenige, die sich als ,1'art pour l'art' begreift, hat Teil an dem Prozeß der Welterkenntnis. Nicht unmittelbar, nicht halbwegs vorhersagbar fortschreitend wie die Wissenschaft, aber doch auf eine dieser verwandte Weise und mit dem gleichen Ziel wie diese. Oft sogar ist die Kunst der Wissenschaft .voraus' (zumindest genauso oft profitiert sie von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen) und kann späteres Wissen als Behauptung aussprechen, vielleicht gerade weil sie nicht unter dem Beweiszwang, bestimmt weil sie nicht wie die Wissenschaft unter dem Verwertungsdruck steht. Auch wenn es eben nicht Ziel des Interpreten sein kann, unmittelbare Referenz des Werks auf die Wirklichkeit zu isolieren, so scheint nun doch ein derartiger Fall von Antizipation wissenschaftlicher Erfahrung durch den literarischen Text nicht als für die Interpretation entscheidendes, aber als darüber hinausgehendes interessantes Faktum erwähnenswert. Ein solches findet sich möglicherweise im dritten Teilstück (und da im zweiten Abschnitt) des zuvor interpretierten Prosagedichts. Der vom Erzähler entwickelte Vergleich zwischen der Situation des Mannes nach seiner Trennung von der Geliebten und der des Kleinkindes bei der Trennung von der Mutter ist im Zusammenhang des Textes sicherlich zunächst äußerst überraschend und entbehrt für manchen Leser vielleicht sogar nicht eines gewissen Maßes unfreiwilliger Komik. Ohne Zweifel werden hier jedoch Bedingungen beschrieben, denen die Psychoanalyse in mühsamer Forschung auf die Spur zu kommen suchte. Erstaunlich ist zunächst einmal schon, daß die Abhängigkeit des Erwachsenen von seiner kleinkindlichen Sozialisation überhaupt ins Blickfeld gerät. Die Beschreibung des Trennungsschmerzes von der geliebten Mutter, die Angst des Babys steht deutlich in Parallele zu Theorien, die Freud später, etwa in seinem 1926 erschienenen Aufsatz über „Hemmung, Symptom und Angst" 4 5 unter den Begriffen „Kinderphobie", „Trennungsschmerz" oder „Objektverlust" entwickelt hat. Freud hat 45
S. Freud, Hemmung, Sympton und Angst (1. Ausg. 1926), Studienausgabe, Bd. 6, S. 2 2 7 - 3 0 8 ; vgl. ebd., S,290 u. S. 307f. Noch deutlicher als in „Wie wunderbar" wird dieser Zusammenhang dargestellt in „Prödrömös", S. 177 f. Auch hier geht es um den „Trennungsschmerz" des Kindes, wenn „Mama" es abends verläßt: „ ,Er wird sich schon beruhigen, gnädige Frau', sagte die Bonne, .gehen Sie nur rasch fort .' Aber er beruhigte sich nie."
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
mit Nachdruck auf das Weiterwirken der „infantilen SehnsuchtAngst" 46 im Leben des erwachsenen Menschen hingewiesen. Im Prosagedicht wird darüber hinaus noch beschrieben, daß das Kleinkind seinen Schmerz nicht äußern darf: „Aber das Baby muß schon brav sein, wenn es die Mama lieb hat." (212) Was ja wohl heißt: ,Wenn es seine Tränen nicht unterdrücken würde, hätte „Mama" es nicht mehr lieb.' Mit den Begriffen der Psychoanalyse: die Angst vor dem Verlust der Liebe von Seiten des Objekts führt zur Gefühls Sublimation, ja kann dazu führen, daß man diese Gefühle gar nicht mehr entwickeln kann, bis man glaubt, sie nie gehabt zu haben, wodurch man ihnen in Wahrheit erst hilflos ausgesetzt bleibt, wenn sie in den verschiedensten Masken sich immer wieder zu Wort melden. Gerade dieses Problemfeld wurde in dem 1979 erschienenen Buch von Alice Miller, „Das Drama des begabten Kindes" erneut angesprochen: „Es ist eine ganze Kunst entwickelt worden, Gefühle nicht erleben zu müssen, denn ein Kind kann diese nur erleben, wenn eine Person da ist, die es mit diesen Gefühlen annimmt, versteht und begleitet." 47 Gefühlsreaktionen, die die Mutter oder die Bezugsperson des Kindes nicht akzeptiert hat, gehen verloren, das Kind wird unfähig, es noch wirklich zu fühlen. „Und doch . . . etwas bleibt. Im ganzen späteren Leben dieses Menschen werden von ihm unbewußt Situationen inszeniert, in denen diese damals nur im Ansatz vorhandenen Gefühle aufleben können, aber ohne daß der ursprüngliche Zusammenhang verständlich wird." 48 Miller beschreibt im Zusammenhang mit den Spätfolgen und der möglichen Behandlung von Gefühlssublimation und Außerungsangst einen Fall aus ihrer Analysepraxis, der sich fast wie eine Paraphrase des Altenberg-Textes anhört: Es ist etwas völlig anderes, ob man als Erwachsener einem Menschen gegenüber ambivalente Gefühle hat oder ob man — nach langer Vorgeschichte — sich plötzlich als zweijähriges Kind erlebt, das in der Küche vom Hausmädchen gefüttert wird und verzweifelt denkt: ,Warum ist Mama jeden Abend weg? Warum hat sie keine Freude an mir? Was ist an mir, daß sie lieber zu den anderen Menschen geht? Was kann ich machen, damit sie bleibt? Ja nicht weinen! ja nicht weinen —'. Damals konnte das Kind nicht in diesen Worten denken, aber in der Stunde auf der Couch war dieser Mann beides: der Erwachsene und das zweijährige Kind, und er konnte bitterlich weinen. Es war nicht ein kathartisches Weinen, sondern die Integration seiner früheren Sehnsucht nach der Mutter, die er bisher immer verleugnet hatte.
46
47 48
S. Freud, Das Ich und das Es (1. Ausg. 1932), Studienausgabe, Bd. 3, S. 2 7 3 - 3 3 0 . Zitat: ebd., S. 325. A. Miller, Das Drama des begabten Kindes, S. 26. A. Miller, Das Drama des begabten Kindes, S. 26.
.Gefühlssublimation" und „Über-Ich"
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Damit, daß Altenberg die Unfähigkeit der Erwachsenen, ihre Gefühle zu äußern, im Zusammenhang mit ihrer frühkindlichen Erfahrung beschreibt, hat Altenberg exakt einen Sachverhalt erfaßt, den Freud in seinen Analysen herausgearbeitet und später einmal auf folgende Formel gebracht hat: „Das Über-Ich ist genetisch Erbe der Elterninstanz, es hält das Ich oft in strenger Abhängigkeit, behandelt es wirklich noch, wie einst in frühen Jahren die Eltern — oder der Vater — das Kind behandelt haben." 49 Das Über-Ich hat z. B. gespeichert, daß es mit Liebesentzug bestraft wird, wenn es seinem Trennungsschmerz ungehemmten Lauf läßt. Ich bin fast versucht, die Worte aus einem Brief Sigmund Freuds (die er später — 1922 — noch einmal in anderer Formulierung wiederholte) 50 an Arthur Schnitzler auf Peter Altenberg zu übertragen: Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert.
Mit dieser bescheidenen Rede Freuds darf dieser Exkurs nicht enden. Sicherlich beneidete Freud die Dichter ob deren scheinbar so leicht erworbener Früchte der Erkenntnis menschlicher Psyche, um die er als Wissenschaftler in seiner nüchternen Phantasie mühsam ringen mußte. Auch beneidete er „ ,die intuitiv gewonnenen Einsichten der Philosophen'. Aber" — wie Ludwig Marcuse es ausdrückte — „vielleicht nur so, wie Erwachsene Kinder beneiden; sie möchten nicht tauschen". 51 Denn „die Einsichten der Dichter machen noch keine Psychologie (und — wie ich ergänzen möchte — sollten auch nicht als Psychologie mißverstanden werden); werden erst Einsichten — dank einer Lichtquelle, die nach rückwärts gerichtet wird, einer Theorie von der Seele." 5 2 6.7 Zum Textstatus der Skizzen und der Skizzenreihe Der Textstatus isoliert stehender Prosagedichte ist von dem in eine Reihe eingegliederter Skizzen zu differenzieren. Die Eigenständigkeit der Einzelskizze ist höher als die eines Reihenteils, unbeschadet der 49
50 51 52
S. Freud, Der Humor (1. Ausg. 1927), Studienausgabe, Bd. 4, S. 2 7 5 - 2 8 2 , Zitat: ebd., S. 280. S. Freud, Briefe, S. 339 f. L. Marcuse, Sigmund Freud, S. 63. L. Marcuse, Sigmund Freud, S. 77.
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Tatsache, daß beide Elemente sich zu einem Text, dem Buch „Wie ich es sehe", vereinen. Alle Reihen haben einen eigenen Titel, der im Inhaltsverzeichnis in gleicher Weise wie die Titel der unverbundenen Prosagedichte durch gesperrten Druck hervorgehoben ist. Wenn auch die Kohärenz der einzelnen Texte ( = Reihen) unterschiedlich ist, so bleibt insgesamt ihr Textstatus in gleicher Weise erhalten. Die Skizze als Teilstück bildet nur eine Substruktur, die zwar eine „relative Eigenständigkeit" 53 besitzt, deren Semantik sich letztlich erst aus der Vereinigung mit anderen Substrukturen im Reihen-Text konstituiert. Bei denjenigen Reihen („Frau Fabrikdirektor von H.", „Revolutionär", „Don Juan"), bei welchen die Textkohärenz vor allem durch das Konstanthalten der Hauptfigur gestiftet wird, findet ein Wechsel in bezug auf die dominante Ebene der Bedeutungskonstitution statt. Während die Reihenfolge der einzelnen Skizzen zwar nicht unbeachtet bleiben darf, so ist doch der Grad ihrer Verknüpfung deutlich geringer als dies bei den Segmenten der Einzelskizze der Fall ist. Das Verbot der Unvertauschbarkeit auf der syntagmatischen Strukturebene ist im Reihen-Text gelockert. Ein wesentliches Kennzeichen des Prosagedichts, die dominante Rolle, die die syntagmatische Ebene bei der Bedeutungskonstitution spielt, ist bei der Reihe als Ganzes unwichtiger geworden. Die Tatsache, daß ein bestimmtes Segment der semantischen Reihe im wesentlichen die Einheit der Reihe gewährleistet, korrespondiert mit dessen Rang in der Bedeutungshierarchie des Textes. Die paradigmatische Struktur hat den Platz mit der syntagmatischen getauscht: die einzelnen Skizzen sind die Steinchen, die sich im Reihentext zum Mosaikbild der Figuren vereinigen. Ein Herausbrechen von „Studien" aus der Reihe produziert einen anderen und neuen Text. Auf eine die Skizzen einer Reihe isolierende Interpretation soll aus diesem Grunde verzichtet werden.
53
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 109. Das dialektische Spiel von Einzelskizze und Reihe widerspricht nicht einer letztendlichen Dominanz des Reihentextes als Ganzem, welcher ja auch erst vom Ende des Zyklus her — wie Wagner (ebd., S. 108 f.) richtig bemerkt — die auftretenden Figuren als Typen erkennen läßt. Eine ästhetische Norm, das poème en prose, ist für das einzelne Kunstwerk kein Gesetz und kann nicht als Argument dafür herangezogen werden, daß „die Skizzen der Reihe nicht in ein erzählerisches Ganzes integriert" (P. Wagner, ebd., S. 109) erscheinen dürfen. Gerade die im Motto programmatisch verkündete Aneignung dieser Gattung macht im Werk den Verstoß gegen die Norm geradezu notwendig, soll es sich nicht in schlichter Regelhaftigkeit erschöpfen.
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Kitschbild und Parodie: „Ein poetischer Abend"
6.8 Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)" 54 Textgrundlage Sigle I II III IV V VI VII
Zeilenumfang (1-67) (1-144) (1 — 87) (1-114) (1 — 98) (1-138) (1-109)
VIII IX
(1-13) (1-50)
Titel Ein poetischer Abend Die Dienstboten Der Trommler Belin Venedig in Wien Café Chantant Quartett-Soirée „Der Cid" Herr Winkelmann Ecce Domina! Am Lande
Kitschbild und Parodie: „Ein poetischer
„1FÁ? ich es sehe S. 6 9 - 7 1 S. 7 1 - 7 6 S. 7 6 - 7 9 S. 7 9 - 8 3 S. 8 3 - 8 6 S. 8 6 - 9 1 S. 9 1 - 9 4 S. 95 S. 9 5 - 9 7
Abend"
Die Skizze „Ein poetischer Abend" enthält schon die für fast alle Folgeskizzen typische Figurenkonstellation. Im Zentrum steht die „junge Hausfrau", eine der Bezeichnungen für „Frau Fabrikdirektor von H.", der Hauptfigur der nach ihrem Namen betitelten Gesamtreihe. Um sie sind hier neben dem „Hausherrn" nurmehr weniger bedeutende Randfiguren gruppiert, die kaum Eigenindividualität erlangen. Der Text ist zweigeteilt: in einen ersten Abschnitt A von zwei Seiten Länge (I, 1 — 51), der den „gesellschaftlichen" Teil des Abends schildert, einen zweiten kurzen (nur etwa !/4 von A umfassenden) Schlußteil B, der im wesentlichen aus einem Dialog zwischen „Anita" (Frau Fabrikdirektor von H.) und dem „Hausherrn" (dem Fabrikdirektor von H.) über das Fest besteht (I, 5 2 - 6 7 ) . A läßt wieder eine Untergliederung erkennen, die fast exakt auf eine Drittelung (Unterabschnitte Ai, A2 und A3) hinausläuft. Ai (I, 1 — 16) stellt eine zeitenthobene, statische Schilderung dar, welche den Abend gleichsam als ein Stilleben zeichnet. Eine Aufzählung von erlesenen Dingen gleicher Farbe geht unmittelbar in eine Deskription zweier Figuren über, deren Merkmalsbestimmtheit jedoch gleichermaßen nur der bloßen Eingliederung in die Farbserie dient (der Ge54
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 67 — 97. (Sigle: = F) Bei den Angaben im Text handelt es sich um Zeilen angaben.
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
brauch des bestimmten Artikels im Falle von „Der Leutnant" (I, 9) macht die Figur dem Ding: „dem Tische" (I, 3) gleich), ja deren Handlungen selbst bloß die Funktion zu haben scheinen, dem Farbbild Genüge zu tun. Ihre inneren menschlichen Regungen (das „Erröten") sind eingeplanter Bestandteil einer Komposition, der „,Symphonie in Roth'" (I, 14f.), als welche sie leicht ironisierend bezeichnet wird; „Komponistin" ist die „bleich(e)" „junge Hausfrau" (I, 13 f.). Die Opposition von „bleich" zu der Farbserie mit dem einzigen Merkmal ,rot' zeigt die Gastgeberin als vom Geschehen distanzierte, „wie alle Dichternaturen (war sie) nervös und bleich" (I, 16). Durch eine auf den Verlauf des Abends bezogene Zeitbestimmung („Nach dem Souper"; I, 17) wird nun A2 eingeleitet. Der neuen Farbe („grün"; I, 18) korrespondiert der Zuwachs an Handlungsmomenten: ein Gedicht wird vorgetragen. Die „Hausfrau" liest selbst, und in diesem Zusammenhang heißt es (ihre zentrale Stellung betonend): „die junge Hausfrau gruppirte Alle um sich" (I, 18 f.). Über den Inhalt des Gedichts erfahrt man nicht viel, es ist eben schlicht ein „liebliches Gedicht" (I, 20), wichtig ist allein die „wunderbar zarte (.)" Betonung (I, 19 f.), in der es vorgetragen wird. Der Gehalt geht vollkommen im schönen Klang unter; es wird den Farben nur eine neue, die Komposition ergänzende zweite Sinnesqualität hinzugefügt. Der Vergleich des Klingens des Gedichtes mit einer bestimmten Stelle eines Musikstückes Beethovens leitet eine umfangreiche metaphorische Musikdeskription ein, die nur mit Mühe an das ursprüngliche Vergleichsobjekt zurückgebunden werden kann („Ganz so machte es das Gedicht. Es tanzte ."; I, 30). Synästhesie von Ton, Bild und Wort des Vergleichs wird in der Metapher noch durch die Verbindung mit der Körperbewegung des Tanzes gesteigert. Die Einleitungszeile von A3 (I, 33 — 51) („Später sagte die Hausfrau: ,Macht Musik !'"; I, 33) führt nun zum durch das Gedicht schon gut vorbereiteten Höhepunkt des Abends, dem Musikvortrag. Wurde vorher nur der bloße Klang des „lieblichen Gedichts" rezipiert, so wirkt nun auch die Musik nur als bekannte, als „Schlager": „Weil Alle es bei den .Italienern' gehört hatten, machte es einen riesigen Eindruck." (1,37 f.). Die Zweideutigkeit der Bemerkung eines Gastes: „Sie sind aufeinander eingespielt ." (I, 39 f.) ist offensichtlich, die Gedankenstriche fungieren als unausgesprochene Andeutung, als das „sichtbar gemachte Schweigen", das jedoch nicht auf die „sexuelle Frage" 55 eingeschränkt 55
N. Wagner, Geist und Geschlecht, S. 53.
Kitschbild und Parodie: „Ein poetischer Abend"
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ist, sondern umfassender das Liebesverhältnis im Gleichnis des harmonischen Klavierspiels vorstellt. Daß das Lied aus dem Bajazzo „wirklich wie .gemordete Liebe' " (I, 45) 56 klingt (wobei schon dieser Vergleich natürlich eine Reduzierung aufs Klischée bedeutet), ist letztlich unwichtig, primär geht es um den Verbrüderungs-Effekt, den es bewirkt: „Die Herren sangen es im Chore mit, obzwar es ein Solo ist." (I, 42 f.) Wenn am Schluß der Blick noch auf das junge Brautpaar, für das der Abend von der Frau des Hauses gegeben wurde, gelenkt wird, welches „Hand in Hand am offenen Fenster" lehnend in die „milde Nacht" (I, 47 f.) hinausschaut, dann ist das Bild der Harmonie in Vollkommenheit abgerundet. Diese Harmonie ist aber eine der bloßen Oberfläche, auf welcher die Figuren sich zu Statisten oder Schauspielern eines von Frau Fabrikdirektor von H. inszenierten Stückes reduziert finden, auf welcher die Kunst zur harmonisierenden Schönfärberei verkommt, insgesamt alles zu einem süßen, schmelzigen Kitschbild vereinigt wird, in welchem die „blühende Liebe" eine Verbindung mit der Schneeschmelze (dem „Gras, auf dem der Schnee zerrinnt"; I, 50) eingeht. Das abschließende „Das war ein poetischer Abend." (I, 51) spricht in seiner Redundanz fast das Urteil: dieser Abend war „zu schön", zu poetisch, um wahr zu sein. Der Text ist darüber hinaus als Parodie einer Szene aus dem von Altenberg bewunderten Buch von Joris Karl Huysmans „A rebours" (1884) zu lesen, die ein „Diner aus Anlaß einer im Augenblick toten Männlichkeit" 57 beschreibt, dessen Schilderung folgendermaßen beginnt: Dans la salle à manger tendue de noir, ouverte sur le jardin de sa maison subitement transformé, montrant ses allées poudrées de charbon, son petit bassin maintenant bordé d'une margelle de basalte et rempli d'encre et ses massifs tout disposés de cyprès et de pins, le dîner avait été apporté sur une nappe noire, garnie de corbeilles de violettes et de scabieuses, éclairée par des candélabres où brûlaient des flammes vertes et, par des chandeliers où flambaient des cierges. 58
56 57
58
Zur Funktion der Anführungszeichen vgl. S. 50. „Le dîner de faire-part d'une virilité momentanément morte" (J. K . Huysmans, Oeuvres complétés VII: À rebours, S. 19). J. K. Huysmans, Oeuvres complètes VIII: À rebôurs, S. 18f. Die Szene im Roman Huysmans geht zurück auf eine Vorlage, die sich beim römischen Geschichtsschreiber Cassius Dio findet. Die Schilderung des „Leichenbanketts des Domitian" enthält eine Fülle von Details (der schwarze Raum, schwarzgekleidete Dienerschaft etc.), die in „A rebours" übernommen wurden. Die Bedeutung der beiden Szenen ist jedoch konträr entgegengesetzt: während es bei Domitian um die Erreichung des „höchsten Gefühles der Macht" geht, die der Machthaber als „Überlebender" erlangen kann (s. dazu: E.
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
Altenbergs Text steht zu dieser „Komposition in Schwarz" in deutlicher Opposition, setzt sich von dem, freilich auch schon bei Huysmans ironisch gebrochenen, Todeskult der Hauptfigur bewußt als Darstellung einer Feier aus Anlaß einer neuen Lebensverbindung ab. Trotz einer Reduktion des Maßes an Pretiösität des Bildbereiches wird dabei Altenbergs Text zur — unfreiwilligen? — Huysmans-Parodie, indem eben diese, im Vergleich zu Huysmans ja noch zurückhaltende, Schilderung des angestrengten Harmoniestrebens der Frau Fabrikdirektor von H. in einem Kitschbild (s. o.) ihr Ziel findet. B fungiert als „Epilog" zum vorhergehenden „Schauspiel"; erst hier wird offenbar, daß es in dieser Skizze in keiner Weise etwa um die abwertende Darstellung der Frau einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder um eine Bloßstellung dessen, was man dort für Kultur hält, gehen soll. Der Dialog der Frau Fabrikdirektor von H. mit ihrem Mann läßt eindeutig für sie Partei ergreifen. Der „Hausherr", der schon allein dadurch, daß er überhaupt erst jetzt zum erstenmal genannt wird, von dem Vorhergehenden distanziert erscheint, kritisiert den Aufwand und das Engagement, das „Anita" für derartige Abende aufbringt: „du gehst in den Sachen auf . Wozu?!" (I, 54) Die Antwort der nun als „Dame" bezeichneten Frau Fabrikdirektor von H. (wodurch sie gegenüber dem „Hausherrn" aufgewertet erscheint) besteht in einer wortlosen Geste, durch deren zweckgerichtete Sorgfalt die Kritik als widerlegt erscheint. Die „Dame" verliert sich nicht in den Sachen, sondern läßt ihnen die angemessene Behandlung widerfahren, setzt die Dinge in ihr Recht. So wie die Blumen, die sie schneidet, „besser Wasser saugen" (I, 57) können — in dieser Weise muß diese Stelle (I, 55 — 59) wohl gelesen werden — so werden auch die Teilnehmer der von ihr veranstalteten Abende in ihrem Denken und Fühlen bereichert. Der Mann steht dem verständnisvoll nicht verstehend gegenüber, kann ihr in diese Erfahrungsbereiche nicht mehr folgen; für ihn ist dies alles ein sinnloses Spiel, bei welchem er darauf zu achten hat, daß sich das „Kind: Ehefrau" nicht zu sehr exaltiert (vgl. I, 53 und I, 61). Läßt sich die Kritik des Ehemannes leicht als pures Nicht-Verstehen zurückweisen, so bleibt jedoch das Kitsch-Verdikt in der Darstellung des „poetischen Abends" unvermindert bestehen, in dessen Überzeichnung der Idee des schönen Seins deren realitätsverschleiernde Funktion Canetti, Masse und Macht, S. 258; dort auf S. 257 auch das Zitat der Schilderung Dios), stilisiert dagegen Des Esseintes gerade sein Einverständnis tiefsten männlichen Machtverlustes. Beide weiden sich am Schrecken, der Dekadent dabei jedoch am eigenen Verfall.
Herr und Knecht: „Die Dienstboten"
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bloßgestellt wird. Es wird deutlich, daß das Bild ungetrübter Harmonie nur um den Preis des Wahren gelingt, wobei die Leere ihrer preisenden Superlative zum Schluß (sobald die „Oberflächenstruktur" bei genauerem Lesen hinterfragt wird) doch notwendig in Negation umschlägt. Herr und Knecht: „Die
Dienstboten"
Der Text „Die Dienstboten" ist untergliedert in zwei durch den Sozialstatus der Hauptfiguren verbundene Teile, die jeweils einen besonderen Untertitel tragen: „Das Kindermädchen" und „Das Stubenmädchen". Die erste Skizze besteht aus einem zwei Seiten langen Hauptteil (II, 1—50), der einen Dialog zwischen dem „jungen Mann" (erstmalig genannt II, 7) und dem „Kindermädchen", und einem Schlußabschnitt (II, 51—63), der einen Dialog zwischen „Kindermädchen" und „gnädiger Frau" und eine die Skizze abschließende Reflexion des „jungen Mannes" enthält. Angezeigt wird die Bruchstelle zwischen erstem und zweitem Abschnitt durch die Zeitangabe „Am nächsten Tag" (II, 51) zu Beginn des ersten Satzes des zweiten Abschnitts. 59 Der Dialog zwischen dem Dienstmädchen und dem jungen Mann findet in der Küche statt (vgl. II, 8), dem Rahmen, in welchem man sich Gespräche mit „Dienstboten" leisten kann, die Distanz bleibt dabei gewahrt: er sitzt auf dem Holzsessel (II, 8), sie steht „an der Thüre gelehnt" (II, 16).60 Dieser Sachverhalt wird jedoch im Text überdeckt von einer ästhetisierenden Darstellung des Arbeitsraumes Küche, bei welcher für den Betrachter „Kacheln" (II, 9), Wasserhahn (vgl. II, 10), Fußboden (II, 11) mit den „seidenen Haare(n) des Mädchens" (II, 12 f.) zu einer wunderbaren Einheit verschmelzen: „Alles schimmerte" (II, 9). Vor dem Hintergrund dieses schönen Bildes wird die Sehnsucht des Mädchens nach einem Leben auf dem Lande fast unverständlich. Einen Hinweis geben jedoch die Zeilen 23 — 26: Es wurde ganz still. Nur die Wassertropfen an dem glänzenden Messinghahne schlugen auf die Marmorschale auf pläp, pläp, pläp.
Das ständige Tropfen des Wassers läßt gerade in der Simplizität der Lautmalerei im Vergleich zu der Erwähnung erlesenen Materials den 59 60
Vgl. auch II, 59: „der junge Mann von gestern". Gegenüber der sozial tieferstehenden Bedienten wird die sonst Frauen gegenüber — zumindest zur damaligen Zeit — strikt einzuhaltende Höflichkeit schlagartig gegenstandslos.
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
Mangel im Leben des Dienstboten erkennen: die Eintönigkeit seines Tagwerkes, seiner Freizeit. Letztere ist eigentlich gar nicht existent, das Mädchen hat „Niemanden" (II, 29) und tut nach ihrem Dienst „Nichts" (II, 44). Trotzdem stellt der junge Mann fest: „Sie haben es hier sehr gut" (II, 30); solange eine „Herrschaft" „edel und gut" (II, 31 f.) ist, alle das Dienstmädchen lieb haben (vgl. II, 35 f.), ist an der Situation grundsätzlich nichts auszusetzen. Auch die Reflexion des jungen Mannes geht hier nicht weiter, für ihn, der als Herr auf dem Stuhl sitzt, sind die potentiellen Wünsche des sozial deklassierten Mädchens, das vor ihm steht, keine einer Abhängigen, sondern „allgemein menschlich" die Wünsche, die „in so einem jungen Organismus" (II, 40 f.) kreisen. Das, was seine Frage zutage fördert, entspricht nur dem nivellierenden Verdacht, in dessen „zehn Tausend ungeborenen Wünsche(n)" (II, 39 f.) deren Beliebigkeit schon angelegt ist. So ist der Wunsch des Mädchens nach Zeitungslektüre am Abend auf beschämende Weise unbedeutend und wird im Kontrast dazu gerade in der demütigen (die erwartete Demütigung schon selbst antizipierenden) Unterwürfigkeit der Wunschäußerung in seiner Bedeutung für das Kindermädchen kenntlich gemacht: Dann sagte sie und senkte die Augen: ,Wenn ich die Zeitungen der Herrschaft hätte vom vorigen Tage ! Aber es kostet auch Licht (II, 48—50)
Es ist der „junge(n) Herrin" (II, 51) natürlich ein leichtes, dieses Begehren „großmütig" zu erfüllen, dem Mädchen einen Beweis ihrer Zuneigung zu geben, der es vor Verwunderung und Dankbarkeit „erbleich(en)" (II, 58) läßt. Die abschließende Reflexion des jungen Mannes bestätigt nur das schon oben Gesagte: es ist eine anthropologische Konstante, daß im Fall eines so „jungen Organismus" die Sehnsucht und die Wünsche niemals zur Gänze erfüllt werden können, im Einzelfall ist es jedoch Aufgabe und ein großes Verdienst, immerhin schon „Einen zur Geburt" (II, 61) gebracht zu haben. Das historisch Gewordene wird durch zeitenthobene Anthropologie, durch Berufung aufs „allgemein Menschliche" der Kritik enthoben. Das Herrschaftsverhältnis selbst bleibt unhinterfragt, es wird auf die jeweilige Verfassung des individuellen Charakters derer, die es ausfüllen, reduziert. Wenn das Kindermädchen das „Buberl" liebt und alle sie lieb haben, ist alles „sehr gut". 61 Die Sehnsucht bleibt hier die je eigene, die bestehenden 61
Eine vergleichbare Darstellung eines Dienstmädchens findet sich in der Skizze „Tristan und Isolde" (Ashantee, S. 159 — 171; Was der Tag mir zuträgt, S. 140—149); dort wird das Dienstmädchen durch den „Haussohn" folgendermaßen charakterisiert (Ashantee, S. 171): „Sie sind die H e l d i n u n s e r e s H a u s e s , Hedwig. (...) Für Alle
Herr und Knecht: „Die Dienstboten"
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Verhältnisse „sind nun mal so". Der eine „sitzt", der andere „steht": gerade an den unauffälligsten Stellen liefert der Text Indizien für das in seiner Gesamtausgabe Verleugnete. Daß der Versuch unternommen wird, Frau Fabrikdirektor von H. gerade in ihrer Position als Herrin positiv darzustellen, ist ein Beweis der Zeitgebundenheit des Textes, seine Abhängigkeit von den real bestehenden Herrschaftsverhältnissen mit „Herrschaft" und „Bedienten" und mit der „Frau des Hauses", die über den Herrschaftsraum „Haushalt" zu bestimmen hat, während der Mann, der Fabrikdirektor, „draußen" über die Arbeiter herrscht. Daß dies jedoch nicht bruchlos gelingt, daß dem Text hier in der räumlichen Situierung der Figuren ein unbewußter Ansatzpunkt für eine Kritik an den Klassenunterschieden unterläuft, ist gerade ein Beweis seines — nicht intendierten — Wahrheitsgehalts. Den Wünschen und Sehnsüchten eines Dienstboten gilt auch die Darstellung des zweiten Teils, hier jedoch wird die Problematik mit Blick auf die realen Abhängigkeitsverhältnisse (Dienstbote — Herrin) am Beispiel des „Stubenmädchens" weiter zugespitzt. „Marianne, Stubenmädchen" wird von der „junge(n) Frau mit den goldbraunen Haaren" „von der Mama übernommen", sie stellt eines der „wunderschönen Hochzeitsgeschenke (.)" (II, 65 — 79) dar. Deutlicher kann der Warencharakter der Arbeitskraft „Dienstbote" kaum ausgedrückt werden, die Bediente als „Hochzeitsgeschenk": Menschenhandel, wie er derart unverhohlen heute wohl bloß noch im Fußballgeschäft praktiziert wird. In den Zeilen 69 — 81 wird diese Ware nun begutachtet, erst vom alten Besitzer, der „Mama", dann vom Bruder der neuen Herrin, des weiteren von einer Dame, die „zu Besuch war" (II, 77) und schließlich spricht die neue Eignerin das abschließende Werturteil: das Produkt ist fehlerlos (vgl. II, 80) und es kann nunmehr zum Einsatz kommen. Die Rekurrenz der Information des Eingangsabschnitts schließt nun das Ganze ab: „Dieses Mädchen bekam sie als Hochzeitsgeschenk mit." (II, 82 f.), ohne daß Marianne selbst überhaupt zu Wort gekommen wäre: diese Sprachlosigkeit des Objekts ist, wie die folgenden Zeilen (II, 84—97) zeigen, eine der besonderen „Qualitäten" dieser Ware: Stubenmädchen, denn „Marianne war gut, edel still und fleißig ." (II, 91) Die einzige von ihr im Text überlieferte Rede lautet: „Oh gnädige Frau " (II, 87) und drückt ihre erstaunte Freude über ein ihr bedeuten Sie ein Ausruhen, einen Frieden. Weil Sie selbst nicht wünschen. Wenigstens in unserem Hause nicht."
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
2ugewiesenes kleines Zimmer („Sogar Blumen waren darin."; II, 86) aus. Dieses Zimmer gewährt, da es — wie bei Dienstbotenzimmern üblich — hoch oben liegt, einen guten Ausblick. Die Beschreibung dieses Ausblicks enthält das zentrale Leitmotiv des Textes. Die Sicht geht hinab auf die Wagen der Herrschaft, ein Blick auf eine Luxuswelt, zu der sie nie Zugang haben wird, und hinauf, „weit über die Dächer" (II, 95 f.) auf einen „feinen weissen Thurm" (II, 96) und in den zu dessen Bild von Eingeschlossenheit als Symbol für Grenzenlosigkeit in Opposition stehenden „blaue(n) Himmel" (II, 97). Der Blick auf die Erde zeigt ihr also einerseits nur eine Welt, von der sie ausgeschlossen ist, die Welt der Herren, deren Wagen Dienstboten allenfalls waschen dürfen, ohne wohl je in ihnen fahren zu können, der Blick eröffnet ihr andererseits jedoch eine Welt, an der alle gleichermaßen teilhaben, die jedoch auch allen gleichermaßen unerreichbar ist, der „blaue Himmel", wobei der „feine (.) weisse (.) Thurm" aus all dem, was sich sonst noch auf den „Dächern" zeigen mag, herausgegriffen wird: ein mögliches Requisit für einen Mädchen-Traum. 62 Dieses so idyllisch gezeichnete Bild eines Dienstboten-Daseins erfahrt in einem dritten, sich bis zum Ende des zweiten Teils erstreckenden Abschnitt (II, 102ff.) eine entscheidende Modifizierung: „.Marianne verändert sich. Sie beginnt zu denken.'" (II, 99 f.) Auch hier stehen nicht die Gedanken des Dienstmädchens am Anfang, sondern geht die Reflexion der Herrin über den Anlaß für das Denken Mariannes voraus. Scharfsinnig trennt jene Ursache („Wir nützen sie aus!"; II, 103) und Anlaß („Vielleicht liebt sie meinen Bruder"; II, 103) und nennt als letzten Punkt den Neid auf das Leben der Herrschaft (vgl. II, 106—108). Doch der Erzähler klärt schon im anschließenden Satz auf: „Sie beneidete einen Menschen die Friseurin!" (II, 110) Das Staunen des Lesers (der Text bereitet die „Sensation" durch die beiden Gedankenstriche vor) wird noch verstärkt durch die nachgelieferte Begründung: „,Friseurin sein, frei, selbständig !' Sie betrachtete dieses Wesen wie die Göttin der Freiheit ." (II, 1 1 1 - 1 1 3 ) Der Freiheitsbegriff ist hier reduziert auf die beruflich bedingte Mobilität des Friseurberufs der damaligen Zeit, in der die Kunden noch zu Hause bedient wurden: „Es war ein Schwung in diesem Leben, ein Kampf mit der galoppirenden Zeit, mit den mysteriösen Damenhaaren, mit dem Leben !" (II, 1 2 0 - 1 2 3 ) Dann wird der Blick wieder auf das Stuben62
Das Bild des Turms (in Opposition zum „blauen Himmel") fungiert gleichzeitig auch als symbolische Verweisung auf die Enge ihrer Lebenssituation.
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Herr und Knecht: „Die Dienstboten"
mädchen selbst gelenkt: „Marianne sah auf den Hof hinab, wo die Equipagen gewaschen wurden und hinauf, über die Dächer, wo der feine weisse Thurm war und der blaue Himmel ." (II, 123 — 135) Das an dieser Stelle rekurrierende Leitmotiv fungiert hier als Bild für die Gleichförmigkeit ihres Lebens, das ihr jedoch gerade durch seine Eintönigkeit Raum und Muße zum Träumen läßt. Dieses SichHinausträumen aus der engen beschränkten Existenz strebt sie nun selbst zu beseitigen, als wenn in ihm nicht die latente Erkenntnis des Übels, sondern das Übel selbst steckte: ,Die (die Friseurin) hat keine Zeit zum Denken ' dachte Marianne. Wenigstens lag darin das Reizende f ü r sie . (II, 1 1 7 — 119)
An dem traurigen Schicksal der Friseurin (vgl. II, 126 — 128) muß sie jedoch bald erfahren, daß sich hinter der mysteriösen Freiheitsfigur („Von wo kam sie?! Wohin eilte sie ?!"; II, 114) bloß der zerstörerische Streß eines aufreibenden Berufes verbirgt, in welchem der einzelne nicht als Individuum, sondern bloß als austauschbares Funktionselement arbeitet. Die auf die Information: „Am nächsten Tag kam eine andere Friseurin" (II, 131) folgenden Zeilen 132 f. sind eine wortwörtliche Wiederholung der Beschreibung der ersten Friseurin der Zeilen 115 f. Das daran angeschlossene Leitmotiv hat nun wiederum im anderen Kontext eine gewandelte Funktion: Nun ist das Bild der Gleichförmigkeit ins positive Bild des geschützten Lebens gewendet, die Sehnsucht bezieht sich wieder ungebrochen aufs Unerreichbare, die „Equipagen", den „Thurm", den „blauen Himmel": Jetzt beneidete sie Niemand mehr .Vielleicht ist das das Glück (II, 138 f.)
—. ' dachte sie.
Das Glück bestände dann darin, mit dem eigenen begrenzten Dasein zufrieden zu sein, nicht aufzubegehren, nichts ändern zu wollen. Der Ausflug des Stubenmädchens in den Bereich des Denkens wurde also schnell wieder zu einem Ende gebracht. Reflexion zahlt sich eben nicht aus, man wird nur unglücklich dabei. Die Herrschaft behandelt sie noch freundlicher, allen voran die „junge Frau", und wenn dann der Bruder der Herrin auch noch die Ergebnisse ihrer Kochkünste, die sie als Stubenmädchen „nur als ,Fleiss-Aufgabe'" (II, 92) betreibt, lobt, dann ist das unweigerliche Resultat dieser Satire auf die Genügsamkeit der Unterschicht: „Das Glück das war das Glück!" (II, 144) „Immer-Hübsch-Bescheiden-Sein", das ist die scheinbare Lehre des Textes, Denken zahlt sich für Dienstboten nicht aus, solche Höhenflüge führen bald zur Bruchlandung. Die Knechte sind für die Herren unent-
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
behrlich, diese wissen am besten, daß sie jene ausnutzen (vgl. II, 104), deshalb sind sie freundlich zu ihnen. Ihre Befürchtung, um „Glück und Frieden" (vgl. II, 109 f.) von den Untergebenen beneidet zu werden, erweist sich als unnötig. Die Reflexion der Beherrschten über ihre Situation richtet sich entsprechend der Tatsache, daß das „herrschende Bewußtsein das Bewußtsein der Herrschenden" ist, im Zweifelsfalle gegen das Denken selbst, welches die Situation des Unterdrückt-Seins so unangenehm zu Bewußtsein bringt. Das Volk ist nicht revolutionär, da es den „guten Herren" infolge der Personalisierung in Wahrheit gesellschaftlicher Verhältnisse akzeptiert und die Realität seiner (des Volkes) Sehnsüchte auf Nebenschauplätzen verhandelt, die Ursache der Unzufriedenheit, des Unbefriedigt-Seins zuerst bei sich selbst sucht. Frau Fabrikdirektor von H. erfüllt auch in diesem zweiten Teil, wo sie in der „jungen goldbraunen Frau" unschwer erkannt werden darf, das Bild der verständnisvollen gütigen Herrin, die beim Gedanken an die ihr zur Hochzeit geschenkte „Perle" „ein ganz gerührtes Gesicht" (II, 82) macht, ihre richtige Erkenntnis der Verhältnisse („Wir nützen sie aus!"; II, 104) jedoch wohlweislich für sich behält und ihr wohl daraus resultierendes schlechtes Gewissen durch besonders freundliche Behandlung kompensiert: Nur die goldbraune Frau sagte noch sanfter als sonst: ,Du, Marianne
:' (II, 129 f.)
Die positive Darstellung ihres Verhaltens wird in beiden Teilen von II niemals abgeschwächt, die Position der Herrin, der Frau Fabrikdirektor, welche dem Haushalt nach der üblichen geschlechterspezifischen Rollenverteilung vorzustehen hat, ihr gesellschaftlicher Status, der es ihr überhaupt erst erlaubt, die in den späteren Skizzen dargestellte „ästhetische Lebensführung" zu entwickeln, indem ihr Dienstboten die Arbeit abnehmen — all dies wird nicht kritisiert, sondern findet darin, daß sie auch als Herrin „edel und gut" handelt (indem sie sich ihrer Dienerschaft gegenüber großzügig und „gütig" verhält), seine — scheinbare — Rechtfertigung. Daß dieser Text jedoch als zweiter der Reihe, direkt nach dem programmatischen „Ein poetischer Abend" plaziert wurde, ist gleichzeitig eine realistische Darstellung der Grundlagen einer so ausschließlich auf Kunstproduktion und -rezeption abgestellten Frauenexistenz, welche sich diese Lebensführung eben nur als Frau eines Fabrikdirektors, als weibliche Teilhaberin an der Macht der herrschenden Klasse und somit als nahezu von jeglicher Arbeit freigestellte leisten kann.
Richtige Rezeption: „Der Trommler Belin"
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Richtige Rezeption: „Der Trommler Belin" In der Skizze „Der Trommler Belin" geht es um Kleinkunst, oder — wie der „Gatte" es nennt — um „die Zwischenglieder der Kunst" (III, 5 f.), die primär der bloßen Unterhaltung, dem Amüsement (vgl. III, 37) des Publikums zu dienen haben. Die „junge Frau" (III, 14) ist von den ersten Darbietungen des Kabarett-Abends peinlich berührt, sie registriert mitleidig die Unverhältnismäßigkeit von Anstrengung und Ergebnis im Handeln der Akteure. Während „Alles applaudirt" (III, 14), denkt sie: „,Mühselige Müh - unseelige!'" (III, 14 f.) 63 Als vierter Auftritt wird der „Trommel-Virtuose Belin" angekündigt, ein Mann, der schon durch sein seriöses Äußeres („in Frack und weisser Kravatte"; III, 42) aus der Reihe der übrigen Darsteller herausfallt. Die Deskription: „Auf einem kleinen Gestelle liegt schief eine kleine Trommel." (III, 40 f.) läßt auch hier zunächst bloß angestrengte lustige „Unkunst" erwarten, doch die dann folgende Beschreibung seines Vortrags „Die Schlacht!" (III, 44) schildert seine Musik als ein grandioses Klanggemälde. 64 Dabei wird immer wieder auf unmittelbare Lautmalerei zurückgegriffen: Die Schlacht singt ihr Lied, jauchzt, kreischt, brüllt, stöhnt, athmet aus . Pause. Plötzlich beginnt ein furchtbarer Wirbel Rrrrätaplan rrrrata rrrrata rrrrata rrrratatatä tä tä tä tä trrrrrrrrrä! Der Todeskampf dieses Lebens .Schlacht'! (III, 5 2 - 5 7 )
Der „furchtbare Wirbel" wird nicht mehr beschrieben, sondern er soll mittels Lautmalerei (Lautsequenzen ohne semantischen Gehalt) 65 43
64 65
Diese Wortgruppe (bzw. ein Teilstück davon) ist zugleich das — dreimal rekurrierende — Leitmotiv des Textes. In drei von vier Fällen ihres Auftretens bildet sie mit dem voraufgehenden „Alles applaudirt" eine binäre Opposition, in welcher der den gesamten ersten Teil des Textes durchziehende Widerspruch (zwischen der Begeisterung des Publikums und der enttäuschten, mitleidvollen Reaktion der jungen Frau) formelhaft konzentriert wird. Zur Metaphorik vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 2 0 8 - 2 1 9 . Vgl. R. Hamann, J. Hermand, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 3: Impressionismus, S. 230f.: „Ähnliche Intensivierungstendenzen zeigen sich in der impressionistischen Prosa. Auch hier besteht das dichterische Gefüge meist aus einer Folge gesteigerter Sinnesempfindungen, die scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht werden. Man denke an Schlafs .Frühling' (1894), an Dauthendeys Prosastücke aus der Sammlung ,Ultraviolett' (1893) oder an manche Partien aus dem ,Helianth' (1912) von Albrecht Schaeffer, die fast ausschließlich aus intensiv erfaßten Seh- oder Hörreizen bestehen. Dasselbe läßt sich von den Prosaskizzen Peter Altenbergs sagen, in denen die akustischen oder optischen Reize rein als Selbstzweck
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
gleichsam als Realitätszitat in den Text eingebaut werden, um so einen unmittelbaren Eindruck von der gewaltigen Klangmacht des Trommelzaubers zu vermitteln. Seine Kunst löst beim Publikum Befremdung aus: „Niemand applaudirt" (III, 73). In der wortlosen Stille nach dem Ende der Vorstellung (III, 70—75) findet das Betroffensein des Publikums seinen genauen Ausdruck. Die Masse ist nur von der Lautstärke der Darbietung unangenehm berührt: „,Ein schrecklicher Trommler ' denkt man, ,er zerreisst das Trommelfell.'" (III, 74f.) Ein „Aristokrat in einer Loge" (III, 77) vermag das peinliche Schweigen zu brechen, hat schnell ein Etikett zur Hand, um sein Beeindrucktsein, auf den Begriff gebracht, unschädlich zu machen: „ ,Ein Genie des Handgelenkes ganz einfach ' " (III, 76). In beiden Fällen liegt eine abwehrende Reduzierung der Leistung des Trommlers vor, man will sich in seinem Vergnügen nicht stören lassen, die Gewalt, die durch die Kunst dargestellt wird, ist unangenehm, ist ganz und gar nicht mehr „amüsant". Die junge Frau ist die einzige, die sich der Erfahrung der nicht mehr beschönigenden Kunst öffnet und ihre Erschütterung nicht mit einem schnell gefundenen Etikett zu bannen sucht, sie „sitzt da, bleich ." (III, 78) Wieder zeigt sich der Mann besorgt verständnislos: ,Du bist ganz geschreckt ' sagt der Gatte, legt seine Hand sanft auf ihre Hand. ,Napoleon !' sagt sie. ,Wie?!' sagt der Gatte. (III, 7 9 - 8 2 )
„Napoleon" ist nicht fixierender Begriff, sondern bloß Ausdruck für die Kette von durch den Vortrag bewirkten Assoziationen, die der Leser mit dem Schlachtgemälde des voraufgegangenen Kontextes zu verknüpfen hat. Diese Namensnennung fungiert als bloße Chiffre, die nichts von der Vieldeutigkeit des dahinter verborgenen Assoziationsund Erfahrungsfeldes verdeckt. Die Namenschiffre ist nur dann kommunikabel, wenn sie bei dem Gesprächspartner eine sehr ähnliche Assoziationskette abruft; das „Wie?!" ist in seinem Fall als bei jemandem, der in dem Vergnügungsetablissement bloß sein Interesse „an den Zwischengliedern der Kunst" befriedigt, sehr begründet und verständlich. Frau Fabrikdirektor von H., die in der ersten Skizze als Kunst Produzierende dargestellt, in der zweiten in ihrer Funktion als „gute Herrscherin" gezeigt wurde, wird hier nun in einer Rezeptionssituation vorgestellt, auch in diesem Falle in exzeptioneller Position, nämlich als verwendet werden, um so den Eindruck einer gesteigerten Unmittelbarkeit zu erwekken."
Die Wahrnehmung des Außergewöhnlichen im Banalen: „Venedig in Wien"
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die einzige, die sich der Kunst überhaupt aussetzt. Ihre genaue Scheidung von schlechtem Varieté und künstlerischer Leistung macht deutlich, daß hier nicht etwa unkritische, naive Rezeption gemeint ist, sondern positiv die Möglichkeit eines Sich-Öffnen-Könnens der Wirkung des Werks, mit welchem nur so eine Kommunikation erst möglich wird. Die bloße Harmoniesuche, die sich in dem Versuch, einen „poetischen Abend" zu gestalten, ausdrückte, erfahrt in dieser Skizze ihre Korrektur hin zu einer Erweiterung des Kunstbegriffes über das nur Schöne hinaus auf den Ausdruck des Gewaltsamen, auch des Häßlichen. Die Verstörung, die ein derart beschaffenes Kunstprodukt zur Folge hat, ist Zeichen richtiger Rezeption, die nur der zu verdrängen sucht, welcher von der „Kunst" bloß die delectatio erwartet und sie somit auf das Niveau der „Prater-Buden" (III, 6) herabzerrt.
Die Wahrnehmung des Außergewöhnlichen
im Banalen: „Venedig in Wien"
Die Skizze „Venedig in Wien" variiert das Thema der voraufgehenden: Auch hier geht es um eine Rezeptionssituation, und — war vorher doch schon von den „Prater-Buden" die Rede — so ist nun der Prater selbst Schauplatz des Geschehens. Auch hier handelt es sich um Kleinkunst, um eine Venedig-Schau in den Prater-Auen, auch hier geht es darum, im Banalen das Außergewöhnliche zu entdecken, und — vor allem — um die richtige Art der Wahrnehmung, die sich von der der Massen in Exzentrizität abhebt. Das, was die „Reporter" (IV, 20) als „echt venetianisches Volksleben" (IV, 19) bezeichnen, ist nachgerade das Unechte, das „Volksleben" besteht bloß aus der Masse der Schaulustigen: Dreissig tausend Menschen steigen die Holzbrücken hinauf, hinab, fliessen auseinander auf den Plätzen, stauen auf den Brücken. (IV, 16 — 18)
„Klein" und „dunstig" (IV, 2, 5, 8) sind alle drei Ateliers, die in den Eingangsabschnitten beschrieben werden, das in ihnen Produzierte ist Massenware (vgl. IV, 9 ff.). Ein „Pferdehändler steht da mit seinem gewölbten Rücken und seinem schmalen Brustkasten" (IV, 31 f.) „eingehängt in Eine mit goldenen Haaren." (IV, 24) Die innere Gebrochenheit der Bilder läßt sich bis in die Details hinein verfolgen: das Kleid der obenerwähnten Frauenfigur ist zwar aus schwarzer Seide, doch die roten Perlen daran sind nur aus Glas (vgl. IV, 25), ein Tenor singt solo, aber er ist auf das Notenblatt angewiesen (vgl. IV, 37). Die Zeilen 49 — 51 fassen den Widerspruch noch einmal zusammen:
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)" Venetianisches Leben! Müde Gesänge, stehendes Wasser, alte verödete Paläste
.
Doch zwei Zeilen weiter heißt es nun von Frau Fabrikdirektor von H.: „Sie fühlt: .Venetianisches Leben!'" Sie „fühlt" scheinbar das gleiche, was die Reporter „denken" (IV, 20), doch ihr geht es nicht um die Bewegungen der Masse, für sie bezeichnet „Venetianisches Leben" gerade die in den Zeilen 50 f. entwickelte Ambivalenz: „ ,Das Notenblatt ist störend' sagt der Gatte, ,man sollte frei singen.' J a w o h l ' sagt sie." Den großen Platz besichtigen die Eheleute erst, als „Le monde joyeux ( . . . ) den Strassensängern nachgezogen" (IV, 64 f.) ist. Bei der Beschreibung der Serenadensängerin, die ihnen auf ihrem Weg begegnet, rekurriert die Farbkombination „schwarz-rot", diesmal jedoch sind beide farbentragenden Materialien echt: das Schwarz ihrer Haare und das Rot des samtenen Hemdes (vgl. IV, 71 f.). Die stille Einsamkeit ihrer Erscheinung wird mehrmals herausgestellt, zum einen gegenüber den Straßensängern, die von der Masse umgeben sind (vgl. IV, 64 f.), und zum anderen auch bei ihrer zweiten Begegnung mit dem Fabrikdirektorsehepaar: ,Ca d'oro ' sagte der Gondoliere mittheilsam. ,Gracia' sagte der Bankdirektor und gab eine Krone. Eine schwarze Gondel kam ihnen entgegengeflossen. Ein junges Mädchen sass darin, allein. (IV, 8 6 - 9 1 )
Insgesamt bildet sie die positive Oppositionsfigur zu der „Dame mit den goldenen Haaren", sowohl in ihrer äußeren Erscheinung als auch durch den Gegensatz ihres Alleinseins gegenüber der Verbindung mit einem Pferdehändler im Falle der anderen Frauenfigur. Während diese fühlt: „ .Hierher gehöre ich ! ' " (IV, 35) und damit die Kulissenwelt des Prater-Venedigs meint, sagt Frau Fabrikdirektor von H. von jener: „ ,Wie aus einer anderen Welt ist sie . ' " (IV, 99) Die Schilderung der Begegnung der Serenadensängerin und des Ehepaares folgt einer strengen Komposition, welche in einer dreifach parallel strukturierten Abfolge bis zum Schlußdialog hinführt. Die Textsegmente der semantischen Ebene sind dabei folgendermaßen gegliedert:
Die Wahrnehmung des Außergewöhnlichen im Banalen: „Venedig in Wien' A „Venedig'
1. „Grosser Platz' (IV, 63) Beschreibung des Platzes
2. „Canale" (IV, 85) Erläuterung des Gondoliere
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3. /Canale/ Erläuterung des Gondoliere
B Sängerin
1. u. 2. Seneradensängerin „im Hemd aus scharlachrothem Sammt' (IV, 72f. u. 92)
3. Serenadensängerin im „Scharlach Kleide" (IV, 108) wird erwähnt, erscheint nicht selbst
C Ehepaar
1. Ehepaar blickt der Dame nach (IV, 73f.)
3. Schlußdialog über Sängerin (IV, 1 1 0 - 1 1 4 )
2. Sängerin kommt Ehepaar entgegen, Dialog über Sängerin (IV, 9 5 - 9 8 )
Der Parallelismus dieser Szenen hebt sie vom Kontext ab und läßt sie als substrukturierte Einheit erkennen. Die Erscheinung der Sängerin als Verkörperung des Bildes „Venetianisches Leben" (aus der Perspektive der Dame) bildet den Höhepunkt des Textes, ihre Entfernung aus dem Blickfeld des Ehepaares ist zugleich der Schluß der Texthandlung. Die besondere Erscheinung der schönen Serenadensängerin wird von beiden Eheleuten wahrgenommen (vgl. IV, 73 f.), doch ihre Bewertung unterscheidet sich charakteristisch: ,La regina di Venetia ' sagte die Bankdirektors-Gattin, blickte der einsamen Gondel nach. .Schwärmerin — ' sagte der Gatte milde. (IV, 9 5 - 9 7 )
Wieder ist es Frau Fabrikdirektor von H., die das Besondere nicht nur als Interessantes registriert, sondern auch erfahrt. In der Serenadensängerin erblickt sie in all dem Unechten ein Zeichen des wahren „Venetianischen Lebens", eine Repräsentantin einer im Massentrubel fast schon unwirklichen, fremden Welt. Wie schon in den vorausgehenden Skizzen stellt der Mann auch hier zu ihr die Oppositionsfigur, für ihn ist das, was sie als Schönes verehrt, käufliche Ware (vgl. IV, 110 —112)66, wieder zeigt er sich verständnisvoll verständnislos, fast eine Karikatur des die Frau umsorgenden Gatten (vgl. IV, 55 f. und IV, 100-102). 66
Vielleicht ist von dieser Bedeutungsebene her bei der Beibehaltung der Bezeichnung „Bankdirektor" eine bewußte Absicht zu vermuten.
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
Schönes Schwärmen:
„Café-Chantant"
In „Café-Chantant" ist der Blick ganz auf die beiden Ehegatten gerichtet. Die Skizze besteht hauptsächlich aus einem Dialog zwischen dem „junge(n) Gatte(n)" (V, 2) (dem Fabrikdirektor) und der „junge(n) Dame" (V, 4) (Frau Fabrikdirektor von H.), bloß der Eingangsabschnitt, Dialogzuweisungen (V, 11, 21 erweitert), Zeile 89 und der Schlußsatz in Zeile 98 sind dem Erzählerpart zuzuordnen. Zeile 2—10 fixieren als Exposition Zeit und Raum des Dialogs. Nach dem Abendessen (vgl. V, 2) unterhält man sich über das im Laufe des Abends im „Café-Chantant" Erlebte. Der „junge Gatte sits^t" (V, 2; Hervorh. von mir, S. N.), sie „hockt neben ihm" (V, 4 f.; Hervorh. von mir, S. N.), „schaut zum Gatten a u f (V, 8 f.). Die Positionen scheinen bestimmt: der Herr und seine ihm untergeordnete Frau; 67 diesem Verhältnis entspricht die Tatsache, daß von der männlichen Figur bloß das Rauchen exklusiver Zigaretten berichtet, während im Falle der Frauenfigur die äußere, erlesene Erscheinung genau beschrieben wird („der Hals ist entblösst"; V, 5 f.): der „edle Mann" und sein „Luxusweibchen"! Der Schluß des ersten Redeteils, der Gatte eröffnet den Dialog mit der Frage „ ,Was hast Du ?!' sagt er sanft" (V, 11), zeigt ein herablassendes, gönnerhaftes Verhalten des Mannes: „,Pupperl, Gutes, Braves ! " ' (V, 13) Er erhält zunächst keine Antwort, erst als er die Frage wiederholt und seine Frau mit ihrem Namen anspricht (, „Anita ?!"'), geht sie auf ihn ein (V, 16—20). In ihrer Rede bleibt zunächst noch unklar, wodurch die Selbstkritik und der ideale Gegenentwurf motiviert sind: ,Wir sind schwerfälle Wesen (...) Nichts von sich spüren, wie schön wäre das !' (V, 1 6 - 2 0 )
Dem Gatten bleibt das Ganze vollkommen unverständlich: ,Was ist es?! Ich nehme Dich nie mehr mit . Nein, ich mache nur Spass. Wenn Du dich amüsirt hast!? Hast du Kopfweh, Anita?!' (V, 34—36)
Mit der real vorhandenen Macht über die Ehefrau wird nur gespielt, das Druckmittel ist da, das genügt; es besteht keine Gefahr, daß sich die Frau auflehnen könnte, selbst bei der Entwicklung einer — privaten — Utopie „hockt (sie) neben ihm". So kann der Mann sich unbesorgt besorgt zeigen, scheinbar nur um ihr Wohlergehen bedacht.
67
Eine ähnliche Funktion hat die räumliche Situierung der Figuren in der Skizze „Die Dienstboten", vgl. 67 f. dieser Arbeit.
Schönes Schwärmen: „Café-Chantant"
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An dieser Stelle scheint im Text jedoch zum ersten und einzigen Male auch so etwas wie ein wirkliches Verstehen-Wollen angedeutet zu sein, wobei der Grad an Hellsichtigkeit das sonst von dieser Figur Geäußerte bei weitem übertrifft: ,Du bist wie Einer, der vom hellen Lande zurückkehrt, von einer Heimath, von Musik .' (V, 3 2 - 3 4 )
Im weiteren Verlauf des Textes wird noch deutlicher, wie sehr das, was der Gatte hier äußert, die Wahrheit erfaßt: Frau Fabrikdirektor von H. kommt tatsächlich nach dem Kunsterlebnis wie „von einer Heimath", von einer Heimat nämlich, die es in ihrem realen Leben nicht gibt, in der sie nicht ist, sondern die sie nur bei der Erfahrung der Kunst ahnen kann. Gerade das Umschlagen im nächsten Satz, die gewaltsame Drohung, erweist sich in ihrer Deplaziertheit, die den Gatten selbst zwingt, schnell seine eigene Rede zu ironisieren („ ,ich mache nur Spass'"; V, 35), nun auch als Ausdruck seiner Unfähigkeit, seine Frau zu verstehen. Seine Machtdemonstration ist dann Schutz vor dem beunruhigenden Unbekannten im Wesen seiner Frau, zu welchem doch dieses „Undurchdringliche" gerade klischeehaft gehört: sie erst „interessant" macht, in welchem gerade dieses jedoch nie ganz ernst genommen werden darf, würde es doch sonst die eigene Machtposition im Familienbereich und das davon wohlabgesonderte Berufsgeschäft, das „kriechende ,Notwendige'" auch dort, gefährden. In Zeile 37 fallt das Stichwort „Bewegung", das im folgenden den zentralen Begriff der Reflexion der weiblichen Hauptfigur bildet: 68 ,Wo ist die Bewegung hingekommen, die überall ist, wo etwas Schönes wird?!'
„Bewegung" meint hier zunächst den rein physiologischen Vorgang, der mit Beispielen aus der Natur angesprochen wird, doch auch schon in nicht weiter erläuterter Weise mehr als dies: ,Die Schwalben zum Beispiel, die Leoparden, die Dichter —!' (V, 39 f.)
Den eigentlichen Anlaß der Reflexion bildet jedoch eine Tänzerin: „Mademoiselle Paquerette" (V, 46), von deren vorbildhafter Begabung die Frau ihren Gatten zu überzeugen sucht. Insgesamt ist ihre Rede stets eng mit einer Überzeugungsabsicht verknüpft, deren Adressat jeweils der Mann ist: Die Aufforderung von Zeile 30 „,Sage ,ja' —!"' rekurriert dreimal, kaum variiert, V, 64, 77 und 90. Ihrer beider Ansicht über die Tänzerin differiert grundsätzlich: 68
Der Begriff „Bewegung" stellt auch das zentrale Leitmotiv der Reihe „Revolutionär" dar (vgl. S. 96 f. dieser Arbeit).
80
Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)" Er: .Pâquerette ist die ,Gracie im Rausche', die Gracie, die übermüthig geworden ist und schwankt —.' Sie: ,Nein, sie ist das Leben einfach, wie es sein sollte, überall .' (V, 65 — 68)
Was für ihn „Übermut" ist, stellt für sie einen — positiven — „Überschuss" (V, 72) 69 dar: ,Das ist so wunderbar überall wo wir es antreffen, dieses reizende Ueberschüssige im Leben, an Geist, an Seele, an physischer Bewegung! Wir aber haben das ,Nothwendige' dieses kriechende ,Nothwendige', in Allem!' (V, 72 — 77)
Das Leben, „wie es sein sollte", findet nach ihrer Meinung seinen einzigen Ausdruck im Rausch, in den Überschreitungen des „Normalen", welches eben nicht das Mögliche versucht, sondern bloß das Notwendige ausführt. „Bewegung" bezeichnet das die engen Grenzen des „schweren Dasein(s)" (V, 84 f.) transzendierende Moment, ohne daß seine besondere, neue Qualität irgendwo bestimmt wäre. So fallt es dem Gatten leicht, am Schluß von „Café-Chantant" sein Unverständnis im konkreten Fall durchs Allgemeine zu kaschieren: , 0 sage ,ja' . Ich habe aber gar keine Bewegung .' Er: ,Ist Schwärmerei nicht Bewegung der Seele, Liebste?! Und Du kannst so schön schwärmen für diese danseuse drolatique !?' (V, 92—96)
Die Harmonie der Eheleute, wenn sie je gestört ward, ist wieder stabilisiert, in ihren Schlußworten findet sich seine gönnerhaft-besorgte Rede des Beginns gespiegelt: „,Guter ! Bester!' " (V, 97) Doch hier handelt es sich um wirkliche Anerkennung und gleichzeitig um die Kundgabe ihres Einverständnisses mit seinem Nicht-Ganz-ErnstNehmen. Seine Geste zum Abschluß der Skizze findet gleichermaßen ihre Entsprechung im Eingangsabschnitt: So wie sie ihre Hand nach oben auf die seine legte („wie schmeichelnd, bittend"; V, 10), so beugt er sich nun herab, um „sie sanft auf die Haare" (V, 98) zu küssen, gleichsam als Belohnung für ihr „schönes Schwärmen". Nennt man den Mann einen „Spiegel (.) der Frauenseele" 70 , so ist es doch ein „blinder Spiegel", der zwar Stichwortgeber für die Reflexion der Frau, nicht jedoch wahrer Dialogpartner ist; denn sein Verhalten macht dem Leser offenbar — und sein Wortgebrauch verrät es —, daß er sich nicht als mit der Frau auf einer Stufe stehend begreift, sondern sie von oben herab als exotisches Wesen belächelt (vgl. V, 21). Die Frau darf ihre Aufgabe, schön auszusehen, noch durch „schöne" (vgl. V, 95) Gedanken und Gefühle ergänzen, doch der Inhalt ihrer Rede ist nicht weiter ernst 69
70
Dasselbe Wort wird in adjektivischer Wendung der Fabrikdirektor in der Schlußskizze auf seine Frau selbst anwenden (vgl. IX, 38). P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 113.
Schönes Schwärmen: „Café-Chantant"
81
zu nehmen: der Mann ist besorgt um die Gattin, ist milde 71 und „sanft" zu ihr, doch sie bezahlt für diesen Schutz mit dem Preis der Entmündigung, zumindest dem eigenen Mann gegenüber. Wagners Bemerkung von der „positiven Wertung des Ehemannes in dieser Reihe" 72 ist sicherlich zum Teil zutreffend, doch verdeckt sie die kritische Sprengkraft der Texte, die sie gerade auch in bezug auf geschlechterspezifisches Rollenverhalten enthalten. Diese ist nicht schon explizit in der Figurenperspektive enthalten, sondern erschließt sich erst der die Gesamtstruktur der Texte beachtenden Analyse. Während es dem Mann ums pure Amüsement geht, und er dieses Bedürfnis von Unterhaltung auch von seiner Frau erwartet (V, 12: „,Hast Du Dich nicht amüsirt?!'" und V, 35f.: „,Wenn Du Dich amüsirt hast?!'"), er dementsprechend auch schnell Schlagworte bei der Hand hat (V, 65: „,Gracie im Rausche'"), die das Erlebte in die entsprechenden Schubladen des je schon Bekannten einordnen, hat sich Frau Fabrikdirektor von H. die Sehnsucht nach einem anderen Leben bewahrt, dessen Vor-Bild sie in der Bewegung der Tänzerin zu erkennen glaubt. Sie bezieht das in der künstlerischen Darstellung Enthaltene auf sich und erfährt es als Kritik an ihrer eigenen Lebenssituation: ,Ich liebe mich in ihr, sie ist gleichsam eine Seite unseres Wesens, die im Leben verkümmert, nicht zur Entwicklung kommen kann im schweren Dasein.' (V, 82—85)
Was schon in den voraufgehenden Skizzen angedeutet wurde, der Grund für das Nicht-Verstehen, Aneinander-Vorbei-Reden der beiden Ehegatten, wird hier nur allzu deutlich: beide werden zwar in den gleichen Ausnahmesituationen (Kunstrezeption im weitesten Sinne bzw. beider Reflexion darüber) vorgeführt, doch während Frau Fabrikdirektor von H. von den Kunsterlebnissen Anstöße, neue Erkenntnis, das Bild einer anderen, fremden und anzustrebenden Wirklichkeit erhält, ersetzt ihr Mann Rezeption durch bloße Konsumation, die in nichts an seiner Lebensführung rührt, das reine Amüsement niemals je übersteigt. Für ihn ist jede das Vorhandene übersteigende Phantasie „Schwärmerei", in pejorativem oder — was genauso abwertend ist — in verniedlichendem, verharmlosendem Sinne. Er nimmt nicht nur seine Frau nicht ernst, sondern den gesamten künstlerischen Bereich, dessen Erfahrung er doch mit ihr teilen könnte. Kunst ist für den Feierabend, für die Unterhaltung nach Geschäftsschluß da. Dagegen erfährt seine Frau gerade im Gegebenen den Mangel, darauf aufmerksam gemacht durch die Kunstrezeption. 71 72
Vgl.: P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 113. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosodichtung, S. 113.
82
Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
Über die Wirkung von Kunst: Räumliche und zeitliche
„Quartett-Soiree"
Struktur
Die Deskription des „Saal(s)" (VI, 2), des Schauplatzes des Kammermusikabends, in der Exposition der Skizze ist in sich widersprüchlich. Bleibt die nähere Bestimmung durch die Adjektive noch neutral („viereckig, schneeweis(s)"; VI, 2), so ist der abrupte, gewaltsame Schluß der Beschreibung eindeutig negativ wertend gehalten: „Überhaupt wie eine riesige Pappendeckelschachtel" (VI, 2 f.). Lampen verleihen dem Saal im Inneren etwas Farbigkeit („goldgrüne und weissgrüne Flecken"; VI, 5 f.). Die primäre Negativbesetztheit des Raumes bleibt konstante Folie des Geschehens, das Wort „Saal" wird nirgends mehr gebraucht, sondern der Vergleich mit der „Pappendeckelschachtel" rekurriert im folgenden nurmehr als direkte Metapher (vgl. VI, 13 f.), wobei dann auch im weiteren Verlauf die Farbigkeit zugunsten einer Färb- und Merkmalslosigkeit verlorengeht (vgl. VI, 56 f.), bzw. die Lampen zu einem ausschließlich negativen (die ohnehin schlechte Akustik des Saales noch zusätzlich verschlechternden) Faktor umgewertet werden (vgl. VI, 96 ff.). Nach dem Ende des ersten Abschnitts (VI, 1—7) ist die äußere Situation festgelegt: der Saal ist der Raum für die Musik als äußeres Geschehen. Der Ablauf des Konzerts konstituiert als zeitliches Moment die rhythmische Gliederung des Textes, welchen man grob in fünf Teile segmentieren kann: Teil I Teil II
= VI, 1 - 6 0 = VI, 6 1 - 7 1
Teil III = VI, 7 2 - 8 2 Teil IV = VI, 8 3 - 1 1 1 Teil V = VI, 112-138
(Erstes Musikstück) („Pause", 61; Fortsetzung des Musikstücks) („Andante", 72) (Nach dem Andante) („neues Musikstück", 112)
Figuren Die Figuren werden mittels räumlicher Fixierung eingeführt: „Rechts neben ihm sass sein goldblondes Schwesterchen" (VI, 8 f.). Jede im weiteren Textverlauf auftretende individuelle Figur wird in dieser Weise (wie mit einem Scheinwerfer oder wie in Filmen auf die Totale das stark vergrößerte Ausschnittbild folgt) aus der Masse der Konzertbesucher
Über die Wirkung von Kunst: „Quartett-Soiree"
83
ausgegrenzt. Dabei verfährt der Text nach zwei deutlich zu unterscheidenden Mustern, die eine Ordnung in zwei Figurenserien erlauben: 1. Vier Figuren werden nebeneinander situiert, ohne daß gesagt wird, an welchem genauen Platz im Raum diese Gruppe sich befindet (relationale räumliche Fixierung). Zu dieser Gruppe zählen neben der bereits oben angesprochenen Figur auch die folgenden: „Links neben ihm sassen zwei Schwestern, junge Frauen, Bekannte" (VI, 24 f.), wobei von „ihm" über das maskuline Personalpronomen hinaus nichts gesagt wird. 2. Die zweite Gruppe ist gekennzeichnet durch einen ausdrücklich genannten Bezug zum Raum des Geschehens: „In der ersten Reihe sitzt Frau P." (VI, 89) — und zwei Abschnitte weiter: „Der Musikkritiker sitzt ganz rückwärts." (VI, 102) Analyse des
Textpro^esses
Die Diminutiva bei der Bezeichnung der ersten näher beschriebenen Figur („goldblondes Schwesterchen"; VI, 8 f., und „Fräulein"; VI, 18, 19) weisen sie, in Korrespondenz mit dem übrigen auf die Figur bezogenen Wortgebrauch („hatte ( . . . ) sich getummelt"; VI, 10f.; „,husch aus dem Bade —!'"; VI, 17), für den Leser als naives 73 junges Mädchen aus den „besseren Kreisen" 74 aus. Von ihrer Hoffnung nach „Etwas, das entlastete, entfernte" (VI, 12), wird sie schon allein durch den Blick in die „riesige Pappendeckelschachtel" (VI, 13) kuriert. Wie das Fräulein, so werden auch die nächsten beiden individuellen Figuren des Textes neben die männliche Figur situiert („links neben ihm"; VI, 24), die immer noch bloß durch das Personalpronomen bestimmt ist, den Leser anaphorisch auf eine Information verweisend, die der Text ihm doch gerade vorenthält. — Benannt als „Schwestern" (VI, 24) in Opposition zu „Schwesterchen" werden dagegen die zwei neben ihm sitzenden weiblichen Figuren. Der Titel „Quartett-Soiree" enthüllt sich nun als polysem: auch das „Quartett" dieser Serie von individuellen Figuren kann mitgemeint sein, ihre Gedankenmonologe, Rede- und Gedankendialoge, während des Musikvortrages und durch 73
74
Einen Hinweis dafür gibt auch die konfuse Zusammenhanglosigkeit ihrer Fragen am Schluß ihres Monologs (VI, 1 7 - 2 3 ) . Sie wird von Bedienten umsorgt (vgl. VI, 17 ff.), trägt eine vornehme „Seidenbluse" (VI, 9 f.) und ein „Seidentuch" (VI, 20).
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
diesen verursacht oder in der Pause zwischen zwei Musikstücken, bilden die dominante semantische Strukturebene des Textes. Die erste der beiden Schwestern wird in bezug auf ihre äußere Erscheinung beschrieben (VI, 25 — 28), dann jedoch im Text nicht weiter erwähnt. Im Gegensatz dazu wird die zweite Frauenfigur ohne weitere Beschreibung direkt mit einem Gedankenmonolog eingeführt (vgl. VI, 29), in dessen Verlauf sie sich als „Anita" (VI, 31) zu erkennen gibt. Der Monolog greift die in den vorausgehenden Skizzen entwickelte Problematik auf, indem er die Erfahrung der „schöne(n) Einzelheiten" (VI, 29 f.) reflektiert, die insgesamt bloß eine quantitative Größe ergeben (vgl. VI, 30 ff.), sich jedoch im Bewußtsein der Figur nicht zu einem Sinnganzen zusammenfügen. Für den Leser, der diese Aussagen mit den vorangehenden Texten zu verknüpfen weiß, ergibt sich eine Motivation für dieses Sinnlosigkeitsgefühl der Figur aus der strukturellen Folgelosigkeit der Rezeption des Kunstschönen für ihre Lebensführung. Auch bei Frau Fabrikdirektor von H. bleibt die Kunstrezeption letztlich in der Konsequenzlosigkeit dem bloßen Konsum verwandt, solange sie, um sich das Erleben derartiger „schöner Einzelheiten" leisten zu können, eines gesellschaftlichen Status bedarf (und diesen nicht hinterfragt), der sie als Frau in der Abhängigkeit vom reichen Mann zumindest partiell entmündigt. So betrachtet erscheinen ihre Überlegungen folgerichtig: im „goldenen Käfig" sind alle Erfahrungen nur fürs „goldene Kästchen" (VI, 33) bestimmt: schön anzuschauen, doch der (Wirkungs-)Freiheit beraubt. Die Musik erinnert sie an erlebte Vergangenheit, an eine nicht alltägliche Ausnahmesituation auf der Insel Helgoland, und die Erinnerung wird so mächtig, daß die Gedanken zur Rede drängen: Die Dame sagte zu dem Herren: ,Sie müssen Helgoland sehen Tanz getanzt mit den Matrosen .' Es hiess: ,Jawol, ob Du es glaubst oder nicht, so Eine bin ich ,Pst ' sagte man. (VI, 5 0 - 5 5 )
. Ich habe den manchesmal.'
Die Musik dient ihr zur Projektion der Gedanken und Gefühle, nur eine Textstelle scheint darüber Hinausgehendes anzudeuten (vgl. VI, 57), ohne daß dies weiter ausgeführt würde. Ganz am Äußerlichen orientiert zeigt sich das Fräulein, Kammermusik ist für sie ohne Interesse, da ohne „Farben", sprich: ohne Spiel für die Augen. Die Musik bewirkt bei ihr nichts, sie bleibt ganz in ihrem Alltagsdenken befangen (vgl. VI, 47 — 49). Zwischen Dame und Herr (VI, 59) hat sich die Situation zugespitzt, der Blickkontakt zu einem Gedankendialog entwickelt, plötzlich erfahrt die Frau einen Augenblick lang etwas, das sie tatsächlich vollkommen „entfernt", aber nicht „entlastet" von ihrer
Über die Wirkung von Kunst: „Quartett-Soiree"
85
Alltagsidentität, der sie sich nur noch durch Memorieren ihrer Adresse und der Vorzimmereinrichtung ihrer Wohnung zu versichern sucht (VI, 66 — 69). Übermächtig wird ihr Traum von Helgoland (vgl. VI, 62 und 69), der nun als Traum von Freiheit im Text explizit der Unfreiheit und Alltagswirklichkeit entgegengestellt wird: „Wie ein kleiner Kerker ist es ." (VI, 68), sagt Frau Fabrikdirektor von H. nun über ihr Zuhause. Auch mit dem Fräulein ist eine Veränderung vor sich gegangen, die — ohne daß der Text dies mitteilte — nur auf die Wirkung der Musik zurückgeführt werden kann, sie denkt nun: „Ich habe Niemand ." (VI, 70 f.) Der III. Teil zeigt die Frau ganz auf die Musik konzentriert, ihre auch hier zur Äußerung drängenden Gedanken werden am Schluß dieses Teils vom Erzähler bestätigt. Ihre Äußerung: „Wie Schatten" (VI, 73) und die Wortrekurrenz am Schluß rahmen diesen Teil nach dem Muster von Teil II ein, ihre Gleichförmigkeit wird durch exakt gleiche Zeilenquantitäten noch unterstützt. Teil IV beschreibt die Reaktionen des Publikums nach Beendigung des ersten Musikstücks. Nach Meinung des Erzählers hat keiner die Musik richtig rezipiert: Alle sagten ,bravo'. Wie wenn man sagt: ,bravo, ein Kind ist gestorben.' Eigentlich hätte man schluchzen hören sollen. (VI, 8 3 - 8 5 )
Frau Fabrikdirektor von H. aber wird als betroffen, nervös (VI, 86 f.) beschrieben, und auch das Fräulein läßt nun zumindest die Alternative: „,War es fad oder blos traurig?!'" (VI, 88) zu. Frau P., „in der ersten Reihe" (VI, 89) sitzend, spiegelt auf einer anderen Ebene den Standpunkt des Fräuleins wider, für sie als die äußerst Privilegierte („Alles im Leben aus erster Hand"; VI, 90) ist das Leben „angenehm ( . . . ) und so einfach" (VI, 93 f.). Die Musik ist „schön" (VI, 93), doch auch nur dies, sie ist reiner Genuß, genau wie ein „Souper" mit „Herrn Max" (VI, 94). Die Fragen „habe ich das Eau de Cologne zugestöpselt" (VI, 47)? etc. oder „Wird Herr Max zum Souper mitkommen?!" (VI, 94) ergänzen einander komplementär zum Bild desjenigen, der bei Kunstrezeption stets nur der bleibt, der er vorher je schon war, sei sein Dasein nun „unangenehm" oder „angenehm". Der einzige, der laut Erzählerbericht die Musik wirklich wahrnimmt, ist der „Musikkritiker" (VI, 102), der im Gegensatz zur „ganze(n) erste(n) Reihe" (VI, 95), die allein die von den äußeren Bedingungen her unverfälschte Musikdarbietung geboten bekommt, während sonst im Raum die Akustik sehr
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
mangelhaft ist, „ganz rückwärts" (VI, 102) sitzend den Gehalt des Musikstückes fühlt: Alle sagen: ,bravo Er fühlt: ,Ein Kind ist gestorben (VI, 105 f.)
.'
Die Wirkung des „neue(n) Musikstück(es)" (VI, 112) (Teil V) ist von der des ersten nicht wesentlich unterschieden: Das Cello griff in's Herz hinein, eigentlich drückte es das Herz zusammen und Hess es wieder los. Da wurde es weit oder es schien nur so . (VI, 1 1 4 - 1 1 7 )
Die Musik gibt den Gedanken und Gefühlen der Figuren zwar die Richtung an, ohne jedoch deren Bewußtseinsinhalte wesentlich bestimmen zu können (träumt das Fräulein zunächst: „,Habe ich Jemand ?!'", so macht sie ein späteres Musikstück wieder sicher: „,Diese Stelle klingt wirklich wie ,Ich habe Niemand, Niemand, Niemand' !"'; VI, 124 und VI, 136-138). Auch für die Dame ist die Musik zunächst bloß positiv, auf Harmonie angelegt (vgl. VI, 118 — 123), der Dialog mit dem Herrn führt zu vollkommenstem Einverständnis, sie kommt seiner Aufforderung: „ ,Und wirf das Schlüsselchen nicht in's Meer ! ' " (VI, 129) gerne nach: „,Und werfe das Schlüsselchen nicht ins Meer . ' " (VI, 130). Doch die Musik gibt einen anderen, negativ gefärbten Rat: Ciavier, Violino primo, Violino secondo, Cello Viola, sangen: ,Wirf es in's Meer, in's Meer, in's Meer (VI, 1 3 1 - 1 3 3 )
Die Wirkung der Musik wird also als vorhandene beschrieben, sich in vielfaltigster Weise ins Bewußtsein der Rezipienten eindrückend. So ist der Satz: „Aber es war nur das Ciavierquintett von G., zweiter Satz, Andante." (VI, 134 f.) nicht als Zurücknahme jeglicher Wirkung, sondern letztlich als deren Denunziation zu verstehen: wenn auch die Musik unstrittig einen Einfluß ausübt, so wird doch nicht sie selbst wirklich rezipiert, sondern sie hat bloße Katalysator-Funktion für in den Zuhörern schlummernde Gefühlsbereiche, im Alltag Sublimiertes, das nun an die Oberfläche des Denkens und Fühlens gespült wird (vgl. VI, 118: „Es ist wie ein Meerbad"). Das Werk selbst wird nur von einer der Figuren rezipiert: dem Musikkritiker, der ja schon von Berufs wegen dafür zuständig ist. „Quartett-Soiree" ist als Darstellung möglicher Wirkung von Kunst Ausdruck einer tiefen Resignation. Die Nutzung der Kunst als reines Projektionsmedium macht sie ungefährlich, jeder holt für sich das heraus, was gerade seinem aktuellen Gefühlsleben entspricht, „Wir-
Rollenverhalten: „ ,Der Cid' — Herr Winkelmann"
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kung" existiert nur als je individuelle und damit überhaupt nicht. Dadurch, daß die Kunst in der Rezeption durch das bürgerliche Publikum von diesem nicht als objektiv Anderes wahrgenommen wird, ist sie als bruchlos Konsumierbares affirmativ: „Alle sagten: ,bravo'." Rollenverhalten:
„ ,Der Cid — Herr
Winkelmann"
War das geschlechterspezifische Rollenverhalten in allen voraufgehenden Skizzen (mit Ausnahme von II und VI) stets schon mitthematisiert, so wird es in der Skizze „,Der Cid' — Herr Winkelmann" zum Hauptthema erhoben und auch auf der Figurenebene selbst explizit thematisiert. Das Geschehen des Textes besteht in einem Dialog zwischen der „junge(n) Dame" (VII, 3) und einem nicht näher bezeichneten Herrn — nicht ihrem Gatten (vgl. VII, 19) — in einem Restaurant. Anlaß des Gesprächs bildet eine Theateraufführung, der man vorher beigewohnt hat, genauer: die Person des Hauptdarstellers, „Winkelmann" (eines bekannten Wiener Schauspielers der Jahrhundertwende). Besteht die „Handlung" in einem Dialog, so bilden — bezeichnenderweise, wie noch zu zeigen sein wird — zwei Monologe den eigentlichen Kern des Textes. Der lange Monolog der Frau (VII, 55 — 83) stellt eine einzige Hymne auf den Mann dar, dessen Vermögen zu rationalem Denken (VII, 56 ff.), dessen Fähigkeit, bei tiefer Reflexion dennoch den alltäglichen Bedürfnissen Rechnung tragen zu können, sie bewundernd anstaunt: „ ,Wir können nicht denken ( . . . ) Wir müssen empfinden.'" (VII, 74—76) Die Frau geht in den Sachen auf, vergißt sich und hat nicht mehr die zur Flexibilität nötige Distanz zu ihren eigenen Gefühlen und Gedanken. Im „,realen Leben'" (VII, 78) begreift sie ihre Rolle als die des bloßen Objekts, welches dem „zwingenden" (VII, 81) Mann zur Verfügung zu stehen hat. Dieses Rollenverständnis der Frau korrespondiert mit dem voraufgehenden Kontext: in der beschreibenden Eingangspassage des Textes erscheint sie in einem erotisch gefärbten Wunschbild als ein Mensch, der gerne die Entscheidungen, Handlungen sich abnehmen ließe, in der realen Entscheidungssituation, vor die sie sich im Lokal gestellt sieht, ist sie noch so sehr vom Theaterabend erfüllt, daß der Mann für sie bestimmt, ob und was sie zu essen hat. Ihre Fähigkeiten (der Empfindung, des Sich-Einlassens auf die Dinge, der Konzentration auf einen Gedanken etc.) betrachtet sie als bloße Mängel, das Männer-Verhalten hält sie für vorbildhaft. Genau den entgegengesetzten Standpunkt nimmt der Mann selbst in seinem Mono-
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
log ein. Er sieht in der Fähigkeit zur Distanz, zu rationalem Denken, einen Mangel („,Wir bleiben doch Wir.'"; VII, 98) und bewundert dagegen die Frau, die sich „verlieren" kann. In seiner männerspezifischen Schutzfunktion für die Frau sieht er eine Möglichkeit, sich des Denkzwanges (dessen Vielfalt und Ungebundenheit von der Frau so bewundert werden, vgl. VII, 57 und 72) entledigen zu können, wenn auch bloß rauschhaft (vgl. VII, 101) und für den Augenblick. Beide Figuren haben ihr geschlechterspezifisches Rollenbild internalisiert, gerade und indem sie das andere Geschlecht beneiden. Ist der höchst reflektierte Monolog der Frau ein Gegenbeweis zu dem in ihm Ausgesagten, da Frau Fabrikdirektor von H. durch ihn zeigt, daß sie sehr wohl differenziert und ganz und gar nicht eng fixiert zu denken vermag, so löst sich jedoch dieser Widerspruch des Denkens selbst zum von ihm Gedachten für die Figur nicht auf, sondern das Denken beweist in akrobatischer Selbstblindheit sich seine eigene Unmöglichkeit. Des Mannes „innerer Rausch" ist die exakte Erfüllung seiner Rolle, zu der die beschützende Bewunderung des Frauen-Geschöpfes (vgl. VII, 99) von je her schon gehörte, ja sie als Ausgleich überhaupt erst ermöglichte: an der Frau das zu bestaunen, was man sich selbst um des Erfolges willen verbieten muß, verschafft dem Mann einen bequemen und ungefährlichen Ersatz. Ungefährlich so lange, als auch das gehütete Objekt seine Unmündigkeit akzeptiert, gegen sie nicht aufbegehrt, sondern sie als naturgegeben hinnimmt: „Er war ja der Mann ( . . . ) Sie war das Weib . Sie durfte nur träumen ." (VII, 45 — 47) Die Frau, die ihren Traum, ihre Empfindung, nur als Mangel an rationalem Denken begreift, darf ansonsten ruhig über ihre Situation räsonieren, solange sich ihre Intelligenz bloß gegen sich selbst richtet, bleiben die Ergebnisse ihres Denkens bloßer Stoff für anregende Gespräche, für das, was man „Konversation" nannte. Gerade das Moment, welches doch eine mögliche Sprengung des Rollenkerkers verspricht, wird somit zum höchst affirmativen: eine schöne Frau, die dazu auch noch intelligent zu konversieren weiß, was könnte mehr den Wünschen des Mannes entsprechen. Dadurch daß das, was das Figurenbewußtsein zentral bestimmt, in den Monolog verbannt ist, konstituiert die Textsyntax ein Bild von verfehlter Kommunikation. So wie er nichts von ihren wahren Gedanken ahnt, so heißt es in gleicher Weise nach dem Monolog des Mannes: „Sie aber wußte nichts von alledem." (VII, 105) Die Möglichkeit einer wechselseitigen Korrektur der Reflexionen über die geschlechterspezifische Rollenverteilung ist nicht gegeben, der eigentliche Dialog findet nicht statt.
.Ecce Domina!"?
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Frau Fabrikdirektor von H. aber vermag auch in dieser Skizze mehr, als sie selbst von sich weiß, doch die Internalisierung des oktroyierten Rollenbildes sitzt so tief, daß sie auch die eigenen vorhandenen Fähigkeiten vor sich selbst denunziert, geschweige, daß sie die Männerrolle in ihren Beschränkungen überhaupt als solche wahrnehmen könnte (vgl. VII, 105). Auch ist es ja bequem, von anderen gesagt zu bekommen, was man zu tun hat. Frau Fabrikdirektor von H.'s gesellschaftlicher Status erlaubt ihr eine Lebensführung, die ein Denken bis an die Grenzen zu einem Hinterfragen der eigenen Situation zuläßt, das jedoch gleichzeitig die daraus resultierende Kritik stets gegen die eigene Person richten muß, will es nicht die Grundlagen, das Fundament dieses Denkens selbst, zerstören. So ist ihre Situation die einer ausweglosen Hoffnungslosigkeit, in der sie sich bequem einrichten kann, sofern sie ihren Rollenpart gut zu spielen versteht.
„Ecce
Domina!"?
Die Exposition gibt das Thema vor: In diesem kleinen Café-Zimmer, refuge de la vie, erscheint sie Abends, wie eine sanfte milde Prinzessin. (VIII, 2 f.)
Das Demonstrativpronomen verweist anaphorisch auf vorgeblich jedem Bekanntes, stellt ein Einverständnis zwischen Erzähler und Leser her: „man" kennt ein derartiges Café-Zimmer, „alle" wissen diese „Fluchtpunkte des Lebens" zu schätzen. Wenn an einem solchen Ort, für den viel sprechen mag, der aber wahrlich nichts Erlauchtes, Vornehmes hat, jemand nicht ins Zimmer eintritt, sondern dort „erscheint", dann enthält schon das Verb den Ausdruck der Überraschung, des Staunens der Gäste, und der daran angeschlossene Vergleich erscheint nun nicht als zu hoch gegriffen (vgl. VIII, 3). Daß dann in dem Café als dem Ort ständigen Redens (seichten Geplauders wie tiefer Kommunikation) vollkommene Stille eintritt, deren Ehrfurcht mit der einer Landkirchengemeinde verglichen wird (VIII, 4) (auch hier wieder das scheinbar vollkommen Unangemessene des Vergleichs Café-LandKirche), vermittelt einen Eindruck von der überaus starken Wirkung, die von der äußeren Erscheinung der Frau Fabrikdirektor von H. auf die Gäste ausgeht. Sie ist sich dieser wohl bewußt und spürt („lächelnd fühlt sie"; VIII, 6), daß die Herren sie bewundern und als über sich stehend verehren („,warum verneigt Ihr Euch tief vor mir?!'"; VIII, 7 f.). Ihr Lächeln weist die Frage als bloß rhetorische aus, die Anrede
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an den Gatten heischt demnach auch nach einer nochmaligen Bestätigung der Wertschätzung auch von seiner Seite. Doch ihr gegenseitiges Nicht-Verstehen wird hier noch einmal prägnant dokumentiert, indem er ihre Metapher mißversteht und wörtlich nimmt. Der Text hebt noch einmal ein Moment der Beschreibung der Figur „Frau Fabrikdirektor von H." hervor, welches in allen vorangehenden Texten schon erwähnt oder unerwähnt vorausgesetzt wurde: ihre Schönheit. Schönheit und damenhaft gewandtes Auftreten sind primärer Anlaß ihres Bewundert-Werdens in der Männerwelt: die Herren „verneigen" sich nicht vor ihr als Person (vgl. VIII, 7: „,Ich kenne Euch nicht'"), sondern vor dem Teil von ihr, auf welchen sie von ihnen reduziert wird: vor ihrem Körper, vor ihrer schönen Erscheinung. Erlebte Schönheit: „Am Lande" Die Skizze „am Lande" bildet den Abschluß der Reihe. Wurde Frau Fabrikdirektor von H. in der Eingangsskizze als Kunst-Produzierende vorgestellt, so wird sie hier dagegen in ausschließlich rezeptiver Haltung gezeigt; die Art ihrer Naturwahrnehmung zeigt jedoch eine Gleichsetzung der gestaltenden mit der aufnehmenden Haltung, die in der Gegenüberstellung dieser beiden Aspekte in Schluß- und Anfangsskizze der Reihe den Rahmen gibt. 75 Die ersten sechs Zeilen bestimmen die Situation: das FabrikdirektorEhepaar befindet sich auf Landurlaub in der eigenen „See-Villa" (IX, 3), es ist Herbst, sie sitzen auf der Veranda, er liest und sie betrachtet die sie umgebende Natur. Die Deskription ihrer Naturrezeption füllt über zwei Drittel des Textes aus. Sie ist in zwei Teile gegliedert: den Anblick des „See-Garten(s)" (IX, 7 ff.) und den des Sees (IX, 19 ff.). Beide Schilderungen sind direkter Erzählerbericht, durch die Einleitungssätze (IX, 7 und 18) und den Schlußsatz des ersten Teils (IX, 17 f.) jedoch deutlich mit dem Bewußtseinsinhalt der Figur in eins zu setzen. Wagner benennt zutreffend als konstitutives Element der Bildlichkeit dieser Textsegmente die „Loslösung des Optischen vom Gegenstand". 76 75
Wie in der Reihe „See-Ufer" gibt es auch hier eine Gegenüberstellung in den Jahreszeiten, die für Anfangs- und Schlußskizze angegeben sind. Steht die Skizze „Ein poetischer Abend" ganz im Zeichen des Frühlings, so spielt die Skizze „ A m Lande" im Herbst. Der Anfang der Reihe spiegelt sich im Beginn des neuen Jahreszeitenzyklus, das Ende im das Ende des Jahres verkündenden Herbst.
76
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 188. Vgl. zu dem Folgenden die Analyse der Entwicklung in der Bildlichkeit des Textes bei Wagner, ebd., S. 1 8 8 — 191.
Frau Fabrikdirektor von H.: Gattin des reichen Mannes
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Der Beschreibung geht es nicht um adäquate Erfassung der Dinge, sondern um ein Herausarbeiten des optisch, visuell erfahrbaren Schönen an ihnen. „Das Auge verwandelt ( . . . ) die Außenwelt in erlebte Schönheit." 77 Die Natur erfährt in der Anschauung der Figur eine produktive Umwandlung in schöne Bilder, die sich in zusammenfassenden Metaphern zu einer einzigen Komposition verdichten: im ersten Fall (bei der Betrachtung des See-Gartens) zum „Adieu-sagen der Natur !" (IX, 17), im zweiten (beim Anblick des Sees) zum „ ,Bonsoir' des Mondes ." (IX, 47) So wie in I versucht wurde, ein Fest zu einem schönen Bild zu gestalten, so sind es hier die Gegenstände der Natur, die in der Anschauung produktiv umgeformt und interpretiert werden. In der ästhetisierenden Handlung sind Anfang und Ende der Reihe gleichgestellt, die vordergründige Oppositionssetzung verweist so auf eine tiefe Einheit. Doch jene darf deshalb nicht übergangen werden, sie enthält einen Hinweis auf eine im Darstellungsprozeß möglicherweise enthaltene Entwicklung der Hauptfigur. Verunglückte das Harmoniebild der ersten Skizze zum Kitschprodukt, so findet sich hier in der letzten kein Hinweis in der Textstruktur, der eine vergleichbare Kritik begründen könnte. Die Ästhetisierung führt hier nicht zur „harmonisierenden Schönfärberei", sondern das Schöne der Natur ergibt sich gerade auf dem Hintergrund — und ist Ausdruck — der herbstlichen Stimmung, enthält in sich den Keim des Vergänglichen. Jahres- und Tageszeit („Nachmittags"; IX, 2) geben dem in der Anschauung entwickelten Schönen sein eigenes Ende schon an und werden so zu Zeichen einer Wehmut, in welcher bei aller Harmonie ein resignativer Grundzug dominiert. Hier soll nicht eine umfassende „ästhetizistische" Weltsicht als möglich vorgeführt werden, sondern dargestellt wird nur ein eng begrenzter Ausflug aus dem Alltagsrhythmus. Ein Ausflug, dessen baldiges Ende abzusehen ist. In dem Lächeln des Gatten bei seiner Aufforderung: „ ,Komm' zurück " (IX, 40) liegt schon eine Gewißheit, daß die Frau gar keine andere Wahl hat. ,Tragen Sie das Souper noch nicht auf, Marianne ' sagt der Gatte drinnen zu dem Stubenmädchen, ,wir warten .' (IX, 48 — 50)
Es besteht kein Zweifel: sie wird kommen. Frau Fabrikdirektor
von //.: Gattin des reichen Mannes
Die reichen Frauen der Jahrhundertwende befinden sich in einer paradoxen Situation: leben sie einerseits in vollkommener Abhängigkeit von 77
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 188.
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Goldener Käfig: „Frau Fabrikdirektor von H. (Studien-Reihe)"
ihren Ehemännern, so sind sie doch andererseits jeglicher entfremdeter Arbeit enthoben, besitzen also einen Spielraum freier Tätigkeit, der ihnen aber — und das macht das an den ersten Aspekt gebundene Paradoxe aus — von den Männern exklusiv zugewiesen wird. Dieser antagonistische Widerspruch drückt sich im Leben der Frauen, in ihrem Denken und Tun aus. Frau Fabrikdirektor von H. vermag mehr, als sie sich in ihrem Denken, das die Frauenrolle vollkommen internalisiert hat, zugesteht (vgl. VII). Mit ihrer Fähigkeit, Kunst adäquat zu erfassen, bleibt sie allein, da sie als Frau in dem, was sie sagt, letztlich nicht ernst genommen wird (V) und mit ihrer nicht aufs rationale Argumentieren beschränkten Rede nicht verstanden wird (III). Die Frau deckt einen Bereich jenseits der Ratio ab, den die Männer aus ihrem Geschäftsleben verbannt, dennoch für sich erhalten wissen wollen, um ihn nach Feierabend sehnsuchtsvoll bewundern zu können (VII). 78 So erweist sich der Freiraum als goldener Käfig privilegierter Wesen (II), und das Ergebnis der in ihm möglichen Tätigkeiten ist nicht Kunst, sondern Kitsch (I). Angesichts der Tatsache, daß allein das soziale Privilegium überhaupt einen gewissen Freiraum garantiert, bleibt Frau Fabrikdirektor von H. gar keine Wahl, als sich in ihrer Frauenrolle möglichst bequem einzurichten, die ihr doch die — wenn eben auch doppelbödige — Bewunderung der Männerwelt einträgt (VIII) und ihr die Unannehmlichkeiten des Alltags (vgl. VI, 11 ff.) vom Leibe hält (II). Ihr bleibt ein Leben in Unmündigkeit, dessen Sinn ihr verborgen ist, dessen „schöne Einzelheiten" (VI, 19 f.) zu sammeln ihr der fürsorgliche Ehegatte erlaubt (IX). Eine Veränderungsmöglichkeit, welche die Resignation zu sprengen vermöchte, ist aus den Texten nicht zu entnehmen, der Leser wird auf sich selbst und seine Handlungsmöglichkeiten verwiesen. Aufgabe seiner Phantasie und Reflexion bleibt es, sich ein Leben vorzustellen, das auf das eine — das parasitäre Privilegium — verzichten könnte, ohne das andere — den Freiraum nicht entfremdeter Tätigkeit — verlieren zu müssen. Sicherlich ist Frau Fabrikdirektor von H. die „weibliche Idealfigur" 79 der Texte des Frühwerks, doch gerade das Bild ihrer positiven Darstellung schärft den Blick des Lesers für die engen Grenzen, die ihr als Frau zur Zeit der Jahrhundertwende gesetzt sind. Die Texte bieten in 78
79
Vgl. E. Friedeil, Ecce poeta, S. 177: „Und die Frauen sind s t u m m e Dichterinnen. In unseren amerikanisierten Lebensformen bilden sie gewissermaßen eine Enklave poesievoller Rückständigkeit. Was am heutigen Leben noch Spiegel, Stil, liebenswürdige Zwecklosigkeit ist, geht zum größten Teil auf die Frau zurück." P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 115.
93
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
keiner Weise einen utopischen Gegenentwurf zum Bestehenden, sondern sie zeichnen in der Darstellung des scheinbar bloß Privaten, des Einzelfalls, das Bild einer Gesellschaft, in der die Frau, gerade indem sie als „Ideal" verehrt wird, um jede Entwicklungsmöglichkeit aus Unterdrückung und Unmündigkeit gebracht ist.
6.9 Propagandist der Veränderungen in der Bürgerstube: „Revolutionär (Studien-Reihe)" 80 Textgrundlage Zeilenumfang (1 - 1 1 6 )
Titel Gesellschaft
„Wie ich es sehe" S. 9 8 - 1 0 2
II
(1 - 1 5 0 )
S. 1 0 2 - 107
III
(1 - 1 9 3 )
IV
a- 1 2 1 )
V
a- 8 2 )
VI
a- 2 5 4 )
VII VIII
a-- 11 12 5) ) a
Sonntag. (Der Revolutionär „en famille.") Der Besuch. (Der Revolutionär besucht einen „Jour".) Im Garten. (Der Revolutionär docirt ReligionsPhilosophie.) Der Grieche. (Der Revolutionär fliegt aus dem Leben heraus.) Die Primitive. (Der Revolutionär benimmt sich ungewöhnlich.) Dialogue Eine Scene zwischen einem Vater und einem unvorsichtigen jungen Mann. Adagio. (Der Revolutionär geht ganz einfach spazieren.)
Sigle I
IX
80
a- 7 8 )
S. 1 0 7 - 113 S. 113 —117 S. 117 —120 S. 1 2 0 - 128 S. 129 S. 1 2 9 - 133
S. 1 3 3 - 135
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 9 8 - 1 7 4 . (Sigle = R) Die Angaben im Text sind Zeilen angaben.
94
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
X
(1-98)
XI XII XIII
(1-116) (1-115)
XIV
(1-100)
XV XVI
(1-64)
Ein letzter Brief. (An den Revolutionär.) Der Revolutionär dichtet. Keim einer Tragödie Bei einem Photographen. (Man erfahrt den Namen des Revolutionärs.) Sommer-Nachmittag. (Der Revolutionär weckt schlummernde Welten.) Sommer-Abend Der Revolutionär hat sich eingesponnen.
S. 136 - 1 3 9 S. 1 3 9 - 1 4 9 S. 1 4 9 - 1 5 2 S. 153 - 1 5 6 S. 1 5 7 - 1 6 0 S. 1 6 0 - 1 6 2 S. 1 6 3 - 1 7 4
Kohärent,i Die Kohärenz der Reihe „Revolutionär" wird, wie im Falle des Zyklus „Frau Fabrikdirektor von H.", nicht mittels leitmotivischer Rekurrenzen (wie etwa im Fall der Reihe „See-Ufer"), sondern durch Konstanthalten der Hauptfigur, die der Reihe den Titel gibt, dem „Revolutionär", gestiftet. Dies ist in diesem Fall besonders deutlich, daß die Hauptfigur meist schon in den Nebentiteln, die in Klammern den Haupttiteln der einzelnen Skizzen nachgestellt sind, explizit genannt wird. 81 Wenn auch dem Revolutionär in V und XV gleichrangige Figuren zur Seite gestellt sind, er in X nur der Adressat eines Briefes ist, so ist er allein aber in allen Texten vertreten und insgesamt unstrittig die wichtigste Figur der Figurenserie dieses Reihen-Textes.
81
Die Namen des Revolutionärs sind in den Texten nicht einheitlich. Von I bis IV lassen sich von ihnen verschiedene Altersstufen ablesen; in I ist noch vom „Haussohn" (I, 56) die Rede und in II heißt es gleichermaßen der „blasse Sohn" (II, 36). Der Jugend des Revolutionärs entspricht in diesen beiden Skizzen das Unbedeutende seiner kleinen Revolten (in I besteht sein Protest im Kampf gegen die Langeweile des gepflegten Bürgertreffens, in II drückt sich sein Aufbegehren gegen die Begrenzungen bürgerlichen Familienlebens in einem Änderungsvorschlag für den sonntäglichen Speiseplan aus). In III ist dann schon von dem „junge(n) Mann" (III, 50) die Rede, der nunmehr dem Familienbereich entwachsen in Eigenverantwortlichkeit neue Wege sucht; dieser Name wechselt in den folgenden Skizzen der Reihe mit der Bezeichnung „Herr", die er erstmalig in IV (IV, 4) erhält.
Zur Funktion der Nebentitel
Zur Funktion der
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Nebentitel
Bei der überwiegenden Zahl der Skizzen ist dem Haupttitel ein Nebentitel in Klammern nachgestellt. 82 Während die Haupttitel meist nur aus einer Nominalphrase bestehen (Ausnahme: XVI), treten die Nebentitel (mit zwei Ausnahmen: II und X) als vollständige Sätze auf. Diese Reihe von Sätzen in den Skizzen-Überschriften bildet für sich ein isoliertes Paradigma, zu welchem dann auch die Haupttitel von XI und XVI zu zählen sind. In allen diesen Sätzen wird die Figur des Revolutionärs direkt erwähnt, was die gemeinsame Funktion der einzelnen Segmente des Paradigmas erkennen läßt: die starke Bindung der Einzeltexte an die Hauptfigur der Reihe als kohärenzstiftendes Element. Ganz deutlich wird diese Funktion in XIII, wo sich der Nebentitel auf einen in der Skizze selbst vollkommen unwesentlichen, für den Blick auf die Hauptfigur dagegen relevanten Sachverhalt bezieht: „Bei dem Photographen. (Man erfährt den Namen des Revolutionärs.)" In bezug auf den jeweiligen Kontext auf syntagmatischer Ebene, den Titel und den folgenden Textskizzen ergeben sich im einzelnen jedoch unterschiedliche Textfunktionen. Eine erste Gruppe von Titeln liefert eine bloße Inhaltsangabe des mit der Hauptfigur verbundenen Geschehens (II, III, IX, X); diese Fälle lassen sich als „,besprechende' Skizzentitel" bezeichnen.83 Eine zweite Reihe von Titeln geht jedoch über diese Funktion, dem Leser nur einen Vorgeschmack auf das im folgenden Dargestellte zu geben, hinaus. Die Verweisung funktioniert zwar auch in diesen Fällen — wie sollte es anders sein — nur in kataphorisch auf den folgenden Text verweisender Richtung 84 , jedoch wird ihr semantischer Gehalt nicht schon durch den bloßen Geschehensverlauf des Textes abgedeckt, findet also nicht schon auf der „Oberflächenstruktur" des Textes seine Auflösung, sondern zielt auf den Aussagegehalt des Gesamttextes der Skizze. So findet auch vom Text (hier ist nun der restliche Skizzen82
83
84
Statistik: II, III, IV, V, VI, I X , X , XIII, X I V (mit Nebentitel) I, VII, VIII, XI, XII, X V , X V I (ohne Nebentitel). Stanzel spricht in diesem Zusammenhang mit seiner Betrachtung der Kapitelüberschriften im Roman in Anlehnung an die Terminologie Harald Weinrichs (vgl. H. Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt) v o n der „ ,besprechende(n)' Kapitelüberschrift" (F. K . Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 59). Vgl. R. A . de Beaugrande, W. U. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 65.
96
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
Text mit Ausnahme des Titels gemeint) 85 her eine Rückverweisung auf den Titel statt, der nun für den Leser zum Hinweis in Richtung auf eine mögliche Interpretation des Erzählverlaufs wird. Der Titel wird zum hilfreichen Kommentar zum Verständnis der Skizze (IV, VI, XIV), der sich in einigen Fällen zu einer Selbstinterpretation des Textes im Text selbst mittels auktorialen Kommentars, zu einer Aufnahme des literarischen Verfahrens des direkten Zeigens, wie es in der Analyse der Einzelskizzen aufgewiesen wurde 86 , entwickelt (V, XIV, XVI). So entsteht zwischen Titel und nachfolgendem Text ein kompliziertes Geflecht gegenseitiger Verweisung, das im Falle des letzten Titels, auf welchen die die Reihe abschließenden Aphorismen folgen, durch ein Textzitat aus dem vorausgehenden Kontext noch um eine anaphorische Verweisung auf die vorangestellten Skizzen erweitert ist (im Gegensatz zu allen anderen in Titeln vorkommenden Prädikaten, in denen das Präsens verwandt wird, ist hier das Perfekt gesetzt): „Der Revolutionär hat sich eingesponnen." In XI spricht die Briefschreiberin den Revolutionär folgendermaßen an: .Glauben Sie mir, Albertus, die Welt, deren Sonne Sie mich nennen, die Welt, in die Sie sich t r ä u m e n d e i n g e s p o n n e n , ist Ihnen theurer als der Mensch, der diese ihre schöne Welt erweckte.' (X, 24 — 27, Hervorh. von mir, S. N.)
Leitmotiv
„Bewegung'
In der ersten Skizze der Reihe taucht ein Begriff auf, der in den folgenden Skizzen oftmals rekurriert und insgesamt das zentrale Leitmotiv des „Revolutionär"-Zyklus darstellt: „Bewegung" (I, 59). Schon in F ist dieses Wort in der Skizze „Café-Chantant" Zentrum für die Entwicklung utopischer 87 Wunschvorstellungen der Hauptfigur, wobei dieser Begriff in diesem Falle letzten Endes leer und unausgefüllt bleibt. 88 Auch in der „Revolutionär"-Reihe ist der Begriff an die Hauptfigur gebunden, auch hier entzündet er sich zunächst an der Bewunderung 85
86 87 88
Vgl. dazu: W. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 18: „Entgegen der Meinung Harwegs stehen Überschriften nicht außerhalb des Textes, wie auch Betonung und Artikelselektion zeigen." (Beaugrande/Dressler gehen in der Neuauflage der „Einführung" auf diese Frage nicht mehr ein.) Vgl. vor allem S. 50 dieser Arbeit. Utopisch ist hier natürlich nicht pejorativ zu verstehen. Vgl. S. 80 dieser Arbeit.
Leitmotiv „Bewegung"
97
für eine Künstlerfigur, auch hier bleibt er inhaltlich vollkommen unbestimmt (bzw. auf das Moment rein physischer Bewegung reduziert). Er füllt jedoch in dieser ersten Skizze auch noch keine zentrale Position aus, sondern ist als „unschickliche Rede" Teil der jungenhaften Revolte des „Haussohns": Über Tänzerinnen und ähnliche Menschen spricht man nicht in „Gesellschaft" (vgl. I, 60 f.). In II scheint sich das, was mit dem Leitmotiv bezeichnet werden könnte, zu konkretisieren, doch ist der Bezugshorizont auch hier von einer derartigen Weite, daß die Polysemie des Wortes noch mit Beliebigkeit des Verstehens gleichzusetzen ist: Betäubung war es, Lethargie, Morphin ! So ist das Familienleben .Ist es draussen anders?! Alles Morphium, die Liebe, der Alkohol, der Patriotismus . Also was denn?! Ja, was denn !? Nun, die Kunst, die Natur, das Leben des Diogenes, des Chr. ! Bewegungen der Seele, des Geistes, die die Kräfte in neue Verbindungen brächten, die trägen Stoffe wegschwemmten, einen kleinen Wirbel, Strudel erzeugten. Kurz, er dachte: ,Zum Teufel, Mensch sein heisst sich bewegen, sich von sich wegbewegen, irgendwohin, nach vorwärts, nach aufwärts!' (II, 124—135)
Das „Irgendwohin" bleibt zentrales Bestimmungsmoment der „Bewegung", die noch ziellos ist, nur ein „Ziel" kennt: „weg von dem, was ist!" Diese Beliebigkeit scheint auch in der folgenden Skizze erhalten zu bleiben, in der, wie oft in Altenbergs Prosagedichten, die Maschinenmetapher in positiver Bedeutung auf eine menschliche Figur angewendet wird. 89 Die Damen bekamen dafür ihrerseits das wohlthuende Bild einer schönen, complicirten, feinen, gut geheizten und geölten Maschine, die man dann nur mit irgend einem Treibriemen in Verbindung zu bringen brauchte, um eine hohe intensive und ausserordentliche Thätigkeit und Leistung auf irgend einem Gebiete menschlicher Bewegung zu erzeugen. (III, 102—108)
Der Kontext dieses Bildes führt jedoch — zumindest tendenziell — zu einer Monosemierung: Es geht um eine Ästhetisierung alltäglicher Handlungen, sei es um die Zubereitung von Tee (vgl. II, 38 — 43) oder um die Auswahl bestimmten Gebäcks, das zum Tee gereicht wird (vgl. II, 60 — 63) und um die Schönheit der eigenen äußeren Erscheinung: ,Zu allen diesen schönen, guten und gesunden Dingen kommen noch zwei ideale Hände und ein gestreiftes Sammtkleid mit seinen Lichtern und seinen matten Ruheflächen. Tausend starke Kräfte strömen uns da in's Auge und baden das Gehirn rein von allem Schweren, Störenden.' (III, 8 5 - 9 0 )
Aufgabe des Revolutionärs ist es nun, diese „schönen Dinge" im Alltag aufzuspüren und zur Sprache zu bringen: 89
Vgl. dazu: P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 9 7 - 1 0 2 .
98
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)" ,Die wahre Kunst beginnt erst mit der Darstellung geistiger, seelischer Ereignisse. Das Leben muss durch einen Geist, durch eine Seele hindurchgehen und da sich mit Geist und Seele durchtränken wie ein Badeschwamm. Dann kommt es heraus, grösser, voller, lebendiger! Das ist Kunst!' (III, 1 5 5 - 1 6 1 )
Die Maschinenmetapher wird in den daran angeschlossenen Zeilen wieder aufgegriffen: Die feine Maschine hatte einen Treibriemen bekommen. Sie arbeitete präcise und mit Schwung. (III, 162 f.)
Die Rede des Revolutionärs wird der Erfolg bescheinigt, seine durchs tautologische Paradox provozierende Denkformel (das „Leben lebendiger machen") wird von der anderen Figur wiederholt: Aber die Meeresschaumprinzessin war rosig geworden. Sie flog mit. Sie empfand die Wahrheit. Sie dachte: ,Das ist es! Kunst ist Etwas, was das Leben lebendiger macht! Denn was wäre es sonst, wenn es, aus Lebendigem entsprungen, nicht lebendiger wäre als dieses?!' (III, 1 7 2 - 1 7 7 )
Es kommt jedoch nicht auf die Rekurrenz der Lehrsätze des „Revolutionärs" in den anderen Figurenreden an, sondern Beweis ihrer „Wahrheit" ist erst die Beschreibung der Wirkung seines Handelns und Sprechens auf das Leben der Damen, auf ihre psycho-physische Konstitution. Nachdem er den „Jour" beendet, die Wohnung verlassen hat, heißt es: Die Damen d'rin aber lächelten . Sie fühlten vielleicht, dass ihre latenten Spannkräfte erhöht waren, ihr Stoffwechsel beschleunigt war . Ja, sie waren ganz rosig und guter Dinge ! (III, 1 8 9 - 1 9 3 )
Diese ungebrochen positive Beurteilung der Hauptfigur und der in ihren Reden geäußerten „Lehren" wird in der folgenden Skizze IV ironisch gebrochen. 90 In V wird dann das „Bewegungs"-Leitmotiv erneut aufgegriffen und in seinem Bezug zur Hauptfigur problematisiert. 91 In VIII wird (wie in V) angedeutet, daß sich die Momente „Gracie und Beweglichkeit" (VIII, 61) weniger durch eine unterschiedslose Ästhetisierung alles Vorhandenen gewährleisten lassen, als durch die Betonung des wenigen noch Unzerstörten (im Kind in V, dem jungen Mädchen in VIII) und den Kampf gegen das es gefährdende
Vgl. S. 9 9 - 1 0 2 dieser Arbeit. »• Vgl. S. 1 0 2 - 1 0 4 dieser Arbeit. 90
99
Theorie. Stil und Grammatik
übrige „,reale Leben'" (VIII, 60). So entwickelt sich der Revolutionär immer mehr zu einer ihre Umwelt provozierenden Figur: ,Er ist ein Aggressiver, wozu?! ,Heda, was seid Ihr ihm.' (XIII, 2 4 - 2 6 )
?!' heisst es immer bei
„Bewegung" bestimmt sich immer mehr durch ihr bekämpftes Gegenteil, die „schlummernde(n) Welten", die der Revolutionär zu stören versucht. In XV heißt es: ,Und ich habe Lisabeta einen Stiefel nachgeschmissen ' sagte Königsberg. Stille. Die Herren und das Mädchen standen da, sahen die milde schweigende Welt. .Warum thaten Sie es ?!' sagte die Genossin Charlotte zu Königsberg. ,So ' sagte er, ,hat sie denn Gracie?!' (XV, 1 8 - 2 5 )
In derselben Skizze liefert der Revolutionär eine Selbstbeschreibung, in welcher die Unbestimmtheit des Leitmotivs zwar keineswegs aufgehoben, das nun mit ihm verbundene aggressive Moment jedoch deutlicher hervordringt. Hier wird kein „neue(s) Wertesystem" 92 verkündet, sondern die Position der „Revolutionär"-Figur ist im wesentlichen gekennzeichnet durch Negation des Bestehenden, durch eine — sich deshalb auch zuletzt nicht zufällig in Aphorismen äußernde — ungeduldige Kritik: K.: ,Ich bin ein S u c h e r , ein N i c h t - F i n d e r , ein R u h e - S t ö r e r , ein B e w e g u n g Bringer.' Charlotte: ,Wir sind zu müde für Sie, Herr Albert K., zu arm. Wir erbleichen in Ihrer Gesellschaft, werden bedenklich, halten Einkehr, wozu?! Wie die .Ideale träumende' Natur sind Sie! Etwas Unerbittliches!' (XV, 5 1 - 5 7 )
Theorie. Stil und Grammatik Die Skizze „Im Garten. (Der Revolutionär docirt Religions-Philosophie.)" droht zu einem neo-feuerbachschen Kolleg über den Glauben auszuufern. Der Nebentitel und die parodistische Situation der „Gretchen-Frage" (des neuzeitlichen Gretchens: der „junge(n) bleiche(n) Dame mit hellbraunen Haaren"; IV, 5 f.) im goetheanischen Garten stellen jedoch von vorneherein eine ironische Distanz zu dieser überlangen Rede her. Die Bedeutung dieser fast vier Seiten füllenden Textpas92
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 116.
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Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
sage erschließt sich erst vom Ende der Skizze her. Das zunächst vom „Geist" des Mannes tief beeindruckte „Fräulein" erkennt am Ende den Grundfehler, auf dem dieses scheinbar so großartige Gedankengebäude fußt. Ihr genügen vier, fünf Sätze, um die vom Revolutionär entwickelte Theorie als Mangel an Sein zu benennen und in sich zusammenfallen zu lassen. Hatte der Revolutionär nach seiner Äußerung: „ ,Das mit der Religion ist ganz einfach — ' (IV, 8) so viele Sätze zur Erläuterung benötigt, so vollzieht sie die Aburteilung in einem Satz: „ ,Ihr seid der Gegensatz der Natur' (IV, 110). Die Fortsetzung des Satzes lautet: „,und müsst es wieder werden!'" (IV, 110f.)
Das „es" dieser syndetischen Beifügung ist von seiner Funktion auf der syntaktischen Ebene zunächst als Pro-Element für den „Hauptverbalkomplex" 93 für die Verbalphrase des Vorhergehenden (Gegensatz der Natur) zu verstehen. Semantisch entpuppt sich dieser grammatisch eindeutige Bezug jedoch als schlichter Unsinn, denn was man schon ist, muß man ja nicht erst wieder werden. Das „es" als „Vorläufer eines Satzgliedes ( . . . ) in der Rolle eines Akkusativobjekts" 94 anzusehen, verbietet sich gleichermaßen, da im folgenden keine Form, auf die die Verweisung zielen könnte, auszumachen ist. Die Syntax des Textes läßt also keine andere Antwort auf die Frage: „Was müßt ihr werden?" finden als einen Rückverweis auf den Ausgangspunkt, auf das Pro-Element selbst, für welches jedoch kein eindeutiger Bezug auszumachen ist. Karl Kraus, der sich gerade mit der Funktion der Form „es" sehr eingehend befaßt hat 95 , hat einen Spruch geprägt, der mir den nötigen Rückhalt gibt, weiterzufragen: Er spricht dort im Zusammenhang mit seinen sprachtheoretischen Bemühungen davon, daß sich „der Stil den Teufel, der ihm einmal innewohnt, um die Grammatik scher(t)". 96 Die Klärung des Referenzbezuges des Pro-Elements sieht sich in den Bereich der Interpretation verwiesen, und diese stößt zunächst im Kontext nur auf ein Segment der Verbalphrase, auf die insgesamt der 93
94 95
96
H. Pütz, Über die Syntax der Pronominalform es im modernen Deutsch, S. 116. Zur Funktion des „Es" als Pro-Element in für den hier behandelten Fall vergleichbaren Satzzusammenhängen vgl.: H. Pütz, ebd., S. 113—120. Duden Grammatik, S. 457. K. Kraus, Es. in: Ders., Die Sprache, S. 74—81; K . Kraus, Subjekt und Prädikat. In: Ders., Die Sprache, S. 2 8 9 - 3 3 6 . K. Kraus, Es. In: Ders., Die Sprache, S. 76.
Theorie. Stil und Grammatik
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Syntax nach ja verwiesen wird, auf das Wort „Natur". Soll hier nur ein Teilstück der gesamten Verbalphrase „Gegensatz-der-Natur-sein" herausgehoben werden? Warum wird dann aber nicht direkt anaphorisch und per Pronomen eindeutig auf dieses Wort referiert, warum heißt es dann also nicht: „Ihr seid der Gegensatz der Natur und müßt sie wieder werden."? Es ist hier also eher anzunehmen, daß das „es" nicht als Pro-Element auf den innertextuellen Kontext, sondern direkt auf außertextuelle Wirklichkeit referiert. Die Tatsache, daß „es" hier an Stelle der femininen Form steht, gibt dem Wort einen semantischen Gehalt, der die bloße Übersetzung in „Natur" verbietet, auch wenn er Natur als Untermenge in sich einschließt: die Vorstellung einer Einheit von Ratio und deren Gegensatz „Natur" drängt sich zu „es" auf, ohne die Möglichkeit einer wie immer gearteten Konkretisierung. Spekulativ läßt sich dies sagen: „Es" bewegt sich hier in dem gleichen Bedeutungsraum, für den Karl Kraus im Zusammenhang mit dem biblischen „Es werde Licht" folgende Bilder entwarf: Es: das Chaos, die Sphäre, das All, das Größte, Gefühlteste, welches schon da ist vor jenem, das daraus entsteht.' 7
Und, wie man hier noch zu ergänzen hätte: Es, das sich als das Ziel all dessen offenbart, das aus ihm entstanden ist. Die Bedeutung des „werden" erhellt sich aus der Opposition zum übernächten Satz, der insgesamt die Opposition zu der bisher behandelten Phrase bildet: „Wir sind es" (IV, 112). Die Frau „ist" das, was der Mann wieder oder erst noch „werden" muß. Nicht die Bewegung des Werdens wird hier also von der Frau am Mann kritisiert, sondern sie wird als Wert an sich relativiert und die Motivation im Seinszustand des Mangels angemerkt. Bleibt bei aller Kritikfähigkeit der Frau an der Überbewertung des diskursiven Denkens, der isolierten Ratio (die sie als Mittel zum Fortschritt für den Mann sehr wohl als notwendig betrachtet: „,Daher müsst Ihr denken, Euch durch-denken!'"; IV, 111 f.) ihr selbst nun nur das Schön-sein übrig? Die Bewertung des Körpers der Frau als Zeichen für ihre Vollkommenheit scheint in diese Richtung zu deuten. Ihr „Wir brauchen nicht zu denken" (IV, 112 f.) läßt sich in dem Sinne von: „Schönheit genügt, wozu noch denken", aber auch als bloße Verstärkung der Kritik am Denk-Zwang als Entfremdung von der Natur, vom Ursprung, verstehen. Der oben entwickelte weite Bedeutungsraum des 57
K . Kraus, Es. In: Ders., Die Sprache, S. 77.
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Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
„es" läßt eine Interpretation, die „Frau" eingeschränkt gleich „noch Natur" versteht, nicht zu. Die Tatsache, daß es gerade die Rede der Frauenfigur ist, die das entscheidende Urteil der Skizze enthält, macht bei einer Betrachtung des Textes als eine die einzelnen Figurenperspektiven überschreitende Gesamtheit deutlich, daß hier keine die Frau auf ihren Körper reduzierende Sicht vorliegt, sondern im Gegenteil ein die Frau verklärendes Bild ausgedrückt wird, das sich so extrem kaum mehr in anderen Skizzen Altenbergs aus „Wie ich es sehe" finden läßt.
Tempus und „apparation" In V wird in Wiederaufnahme des Leitmotivs „Bewegung" der tanzende Körper eines Mädchens für die Hauptfigur zum Zeichen einer möglichen Vollkommenheit. In der Exposition wird in einer Knappheit, die sich keine vollständigen Sätze mehr erlaubt, das Ideal auf eine Formel gebracht: Griechenland! Diese schwere dumpfe Sinnlichkeit, ganz gasförmig gelöst in ästhetischem Empfinden! Die Materie überwunden durch das, was sie ausstrahlt — Schönheit! In Bewegung befreit! In Gracie verzaubert! (V, 3 - 7 )
All dieses vereinigt sich unter dem symbolischen Namen „Griechenland", der wie ein Fanal zu Beginn der Skizze ausgerufen wird. 98 Das Folgende steht zunächst im geläufigen epischen Erzähltempus, dem Präteritum: Er sass in einem Parke. Um ihn herum, auf den Wegen, in den Alleen, schwerfällige Organisationen Menschen! (V, 8 - 1 0 )
Dann jedoch kündigt ein auffälliger Tempuswechsel das Ereignishafte der Erscheinung des Mädchens an: „Ein weisses Battistkleid fliegt heran ." (V, 11) Die blitzartige ,apparation' des Schönen verdrängt das epische Normaltempus und fordert statt dessen ein Präsens, wodurch augenblicklich, gleichsam aus dem Zeitfluß herausgehoben, das Bild des 98
Hier gibt Altenberg damit den Bezug auf Nietzsche deutlich zu erkennen, man denke an die Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft" (Werke in drei Bdn., Bd. 2, S. 15): „Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich — aus Tiefe!"
Tempus und „apparation"
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Mädchens gemalt wird. Auch das begeisterte „Starren" der Hauptfigur findet im Präsens seinen genauen Ausdruck. Der an diesen Auftritt des Mädchens angeschlossene Dialog wechselt wieder zum Präteritum: das Reden des Kindes ist nicht von Bedeutung, ihr Unverständnis (vgl. V, 29 — 32) trübt nicht den Eindruck der Vollkommenheit. In der Erscheinung ihres „fliegenden" Körpers wird sie der betrachtenden Figur zum Naturding: Er sah sie an, wie man eine Edeltanne im Hochwald anschaut, das herrliche Schweben des Hühnergeiers auf einem Punkt über dem abendlichen Walde, ( . . . ) (V, 33—35) Der süsse Athem schwamm ihm entgegen . I n den Linden dufteten die gelblichgrünen Blüthen. Zwei Athem der Natur! (V, 57 — 59)
Sie ist mehr Projektion des anschauenden Ichs, mehr Produkt seines „ästhetische(n) Empfinden(s)" (V, 4) als reale Erscheinung (vgl. V, 37 — 39). Das Mädchen wird dem Revolutionär zum Zeichen eines Verschütteten, dem Alltagsleben so Fernen wie die Welt des klassischen Altertums (vgl. V, 65 f.). Der Revolutionär selbst ist „Grieche" nur in seiner Wunschprojektion, die durch ihren Ort am Ende des ersten Auftritts des tanzenden Mädchens (V, 22 — 28) und ihre Rekurrenz am Ende des Prosagedichts (V, 67 — 81) den Charakter einer fast verzweifelten Bitte erhält. Nacktheit wird darin als unabdingbare Notwendigkeit für eine wahrhafte Offenbarung der Vollkommenheit benannt, nur als nackter kann der Körper seine Zeichenfunktion ganz erfüllen. Diese Nacktheit hat jedoch angesichts der herrschenden Moral Platz nur in den Wunsch Vorstellungen des Revolutionärs. Dies zeichnet den Revolutionär noch nicht vor dem „Normalbürger" der Jahrhundertwende aus: auch diesem läßt seine Doppelmoral Raum für geheime Phantasien (und deren praktische Umsetzung in den Chambres séparées der Halbwelt), negativ sanktioniert werden diese nur im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens, dann droht der Skandal. Genau diese aus dem bürgerlichen Gesellschaftsleben verdrängten Bilder werden für den Revolutionär zum bewußten Gegenentwurf zum Bestehenden; das Fehlen eines schlechten Gewissens seinen eigenen Phantasien gegenüber ist es schließlich, was ihn über den Konventionsbereich des Bürgertums hinaushebt. Für den Revolutionär beginnt erst jenseits der Normen der Bürgermoral das wahre „Leben"; seine Realisierung bleibt das Ziel, auch wenn dieser Traum von ihm als Traum erkannt wird. Das Noch-Herrschende dagegen als „Nicht-Leben" zu brandmarken, wird von dieser Skizze an zur unablässigen Aufgabe der Hauptfigur der Reihe: Aber wir (V, 82)
Wir leben nicht!!
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Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
Jetzt erst, vom Ende des Textes her, erschließt sich der semantische Gehalt des Nebentitels: „Der Revolutionär fliegt aus dem Leben heraus." Ist „fliegt" ein dem Erzählgeschehen entnommenes und vorangestelltes Textzitat, das das „Fliegen" des Mädchenkörpers an die Perspektive der Figur des Revolutionärs bindet, so wird damit zum Tanz des Kindes der innere Vorgang im Bewußtsein der Hauptfigur parallel gesetzt. In ihm ist gleichfalls eine heftige Bewegung vorgegangen, die als Ergebnis die Erkenntnis des eigenen Mangels an „Leben" zeitigte. Das, was er vorher dozierend anderen Menschen verkünden zu können glaubte, dieses gesicherte Wissen wird auf einmal schlagartig in Frage gestellt, und als Ergebnis bleibt nun die Negation und als ihre mögliche Überwindung der Wunschtraum einer Welt, die die Erfahrung des Schönen als des Vollkommenen zulassen würde. Aus dem Leben jedoch, d. h. dem Leben, wie es sich als Wirklichkeit repräsentiert, dem „,realen Leben'", ist der Revolutionär nun endgültig „herausgeflogen". Die vom Revolutionär entwickelte „Schönheitsutopie" enthält aber auch noch einen Hinweis auf eine notwendige produktive Aneignung des Geschauten; es kommt darauf an, in Reichthum zu empfinden und diesen Reichthum in Liebe, in Gedanken umzuwandeln und diese in Bewegung umgesetzten Kräfte neue Kraft zeugen zu lassen unerschöpfliche, das ist ,ein Lebendiger' sein! Das!! (V, 7 7 - 8 1 )
Diese Umwandlung der Schönheitserfahrung vollzieht sich in der schöpferischen Aneignung der Dingwelt durch die Kunst; in „Ein letzter Brief. (An den Revolutionär)" spricht die Adressantin den Revolutionär konkret als Künstler an und bezeichnet die Kunst als „die Welt, in die (er) sich träumend eingesponnen" (X, 26). Exkurs %ur Funktion des
Tempuswechsels
Die oben dargestellte Funktion eines Anzeigers für eine plötzliche Veränderung im Erzählgeschehen kommt dem Präsens nur in dieser Skizze (V) zu und läßt sich nicht als Konstante der Reihe oder als konsequent verfolgtes Stilmittel im Werk insgesamt ausmachen. Nicht dieses bestimmte Tempus ist wichtig, sondern die spezifische Weise, in der Altenberg den Tempusmchsel einsetzt. Dabei kann gerade auch das Präteritum bei der Darstellung eines Neuen, plötzlich Eintretenden und das Präsens bei einer des Vergangenen und Beharrenden stehen. In II etwa zeigt der Bruch zwischen Präsens und Präteritum denjenigen in der Erzählstruktur an, der zwischen der Welt der Eltern und der der
Frauen-Protest
105
Kinder besteht; das Präteritum ist hier das Tempus der Veränderung, des Zukünftigen, das Präsens verweist dagegen das in ihm Geschilderte, auch wenn es sich „immer" (II, 16) wiederholt, in den Bereich des schon als vergangen zu Betrachtenden, welches nurmehr scheinbar gegenwärtig ist. Das Präteritum wird zum Tempus des aktuellen Geschehensberichts: Jetzt aber sass der blasse Sohn bei diesem Ofen, wärmte sich und erwartete die Eltern. (II, 36 f.)
Oft ist das Präsens das Tempus für die Exposition, während das Präteritum für das darauffolgende erzählte Geschehen gültig ist (vgl. IV, VI und IX). Der Tempuswechsel fungiert also im Sinne einer „Erzähl-Schablone" 99 a) als Anzeichen für den Wechsel von Exposition zum Hauptteil der Skizzen; b) als Anzeiger für den Eintritt einer plötzlichen Veränderung, eines grundsätzlichen Geschehenswechsels in der Erzählstruktur. In II kommt an einer Stelle dem Präsens jedoch über die Darstellung eines sich immer wiederholenden Vergangenen hinaus noch eine andere Funktion zu. Auch in diesem Text schaltet sich der Erzähler kommentierend ein und nimmt Partei für den Standpunkt der Kinder: sie hätten gerne gesagt: ,Um das dreht es sich?? Der ,neue Hauch' geht an Euch vorüber '. Obzwar es gar nicht herpasste. Aber wenn man das Gefühl hat?! (II, 2 9 - 3 2 )
Das Tempus des zuletzt zitierten Satzes läßt sich als sogenanntes „gnomisches Präsens" 100 bezeichnen: „Das Präsens eines solchen Satzes rückt den in ihm formulierten personalen Gedanken in die Nähe eines auktorialen Kommentars mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit." 101
Frauen-Protest Der Brief an den Revolutionär (X) entwickelt sich unversehens aus einem Preislied auf den Künstler („Wie in himmlischer Glorie strahlt F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 104: „Durch die stereotype Rekurrenz einer bestimmten Kontur des Erzählprofils entsteht eine Erzählschablone." 100 Yg] dazu etwa: G. Steinberg, Erlebte Rede. Ihre Eigenart und ihre Formen in neuerer deutscher, franz. und engl. Erzählliteratur, S. 225 ff. 101 F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 144. Dort auch der Hinweis auf Steinberg (s. Anm. 100). 99
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Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
Alles"; X, 10) zu einer Anklageschrift gegen den Mann, den Künstler oder Ehegatten. Die Briefschreiberin „Marthe-Marie" macht dem Revolutionär den Vorwurf, die Kunst sei ihm wichtiger als „der Mensch, der diese ( . . . ) schöne Welt erweckte" (X, 26 f.). Sie faßt gegen ihn den alten Verdacht, welchem die Kunst seit jeher ausgesetzt ist, daß sie dem Leben feindlich und parasitär gegenüberstehe. Für die Frau, durch ihre Schönheit Objekt der Verehrung des Künstlers, ist diese Bedrohung sehr konkret: vom Künstler zum Inspirationsmodell verdinglicht, muß sie auf „Erfüllung" (X, 35) verzichten, denn Für Künstlernaturen muss das Weib aus dämmerigen Fernen ihren milden geheimnisvollen Schein verbreiten. (X, 31 — 33)
In den Auffassungen der Figur spiegelt sich das — auch — zur Zeit der Jahrhundertwende noch gängige Kunstverständnis wider: Der Künstler schafft zu „höhere(m) ZweckQ" (X, 17), die Niederungen des Lebens, der Mensch überhaupt dürfen ihm bloß Inspirationsstoff sein. Doch schon hier meldet sich im Bewußtsein der Frau Kritik an: das Werk, das der Künstler schafft, eben auch seine Briefe an MartheMarie, sind in ihrer Höhe „zu schön, um wahr, wirklich zu sein" (X, 9). So ist das Träumen des Künstlers bloßer — von der Wirklichkeit isolierter — Traum, dessen Wirkung sich in der Werkgestalt selbst erschöpft. Der Traum der Frauen ist jedoch nicht vom Leben abgelöst, sondern entzündet sich gerade an dessen „Unzulänglichkeiten" (X, 18). Er ist gerade nicht im Werk als festgelegten Ziel saturiert zu denken, sondern als perennierender Phantasie- und Wunschtraum. Sie wollen einen Traum und Wir ein Leben. Wenn Ihr erwacht, so habt Ihr nur geträumt. Ein neuer Traum beginnt ein neues Leben! Wenn wir erwachen, haben Wir gelebt! Dann kommt das Sterben . (X, 63—67) 102
Die im Bewußtsein der Frauen verborgene Traumwelt läßt sich nicht ins Reich der Fiktion abschieben, sondern steht als Bild einer Welt, die anders sein könnte als die wirkliche, zu dieser in einem ständigen Konfrontations Verhältnis. Die Frau erinnert utopischen Entwurf und reale Lebensführung als im Ursprung noch nicht getrennte: 102
Die Anspielung auf Goethes „Wilhelm Meister" ist deutlich; vgl. J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (zweites Buch, zweites Kap.), S. 83: „Eingeboren auf dem Grund seines (des Dichters) Herzens wächst die schöne Blume der Wahrheit hervor, auch wenn die anderen wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstigt werden, so lebt er den Traum des Lebens als Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft."
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In Uns a l l e i n ist T r a u m und L e b e n Eines! (X, 88)
Doch sieht sich die Frau von einer Männerwelt bedroht, in welcher die Einheit nicht einmal mehr als verschüttete geahnt werden kann. Der „Künstler"-Mann benutzt ihren „Lebenstraum" für sein Werk, das Leitmotiv des Textes liefert eine Beschreibung der Funktion, die ihr bei der Interaktion mit dem Künstler zukommt: Sei w i e der L e r c h e n g e s a n g , d e r den F r ü h l i n g in's L a n d r u f t W e n n A l l e s b l ü h t , mag er v e r s t u m m e n , s t e r b e n ! (X, 4 0 - 4 3 )
Auf der typographischen Ebene des Textes mittels Sperrdruck und auf der syntaktischen Ebene durch différentes Subjektgenus sind die das Leitmotiv konstituierenden Sätze vom Kontext abgehoben. Bei dem ersten Auftreten des Leitmotivs haben sie die Funktion von Kernsätzen in der Kunstreflexion der Figur, eine (durch Konjunktion signalisierte) Oppositionssetzung zu ihnen findet sich im übernächsten Satz (X, 47), diese wird jedoch zwei Zeilen später schon wieder relativiert (X, 49). Eine Erweiterung des semantischen Gehalts des Leitmotivs erfolgt jedoch bei dessen zweitem Vorkommen. Hier, am Ende des SkizzenTextes, ist es durch eine Zeile, die ausschließlich mit Gedankenstrichen besetzt ist, deutlich vom vorhergehenden Text abgetrennt. Der Blick des Lesers wird durch die größere Distanz dieser Passage zum vorgängigen Kontext unmittelbarer auf die Tatsache gelenkt, daß hier dem anonymen auffordernden Subjekt des ersten Satzes des Leitmotivs im unmittelbar folgenden Satz (der zugleich den letzten der Skizze überhaupt darstellt) das Personalpronomen „wir" entgegengestellt ist, welches auf das Kollektiv der Frauen überhaupt referiert: „Wir aber wollen leben, leben!!" (X, 97) 103 Es besteht kein Zweifel, daß in der anonymen Instanz sich die Männer repräsentiert finden können, und die Tatsache, daß den Frauen hier von außen (sprich: von der Männerwelt) eine Rolle verkündet und aufgezwungen werden soll, ist in die Oppositionssetzung der unterschiedlichen Satzsubjekte und Sprechhaltungen eingelegt. Hier wird der Frau ein Schicksal bestimmt, sie auf ein reines Funktionsmoment reduziert und zum Schluß auch noch ihr Untergang in der Aufopferung für das Werk des Mannes mit eingeplant. 103
Auch hier handelt es sich um ein — dreimal (stets variiert) rekurrierendes (X, 47, 68, 97) — Leitmotiv des Textes. Es werden also zwei unterschiedliche Einstellungsvarianten zur Frau-Künstler-Problematik miteinander konfrontiert, die jeweils in eines der opponierenden Leitmotive eingeschrieben sind.
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Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
Doch außerhalb der Welt der Kunst gibt es für die Frau nur eine traurige Alternative: Und dennoch wieder, was sind Wir jenen Anderen?! Mich schaudert (X, 58 f.)
—.
So gibt es für sie keinen Ausweg, die verschiedenen Gruppen der herrschenden Männerwelt werden sie so oder so destruieren: D e r n u r das L e b e n t r ä u m t , k a n n m i r n i c h t L e b e n g e b e n Und der es l e b t , der n i m m t m i r m e i n e n Traum! In Uns a l l e i n ist T r a u m und L e b e n Eines! D o c h e u e r Z w i e s p a l t l ö s t die E i n h e i t Uns! (X, 8 5 - 8 9 )
.
Der Titel der Skizze wird jedoch nun an ihrem Ende bedeutend: zumindest in bezug auf den „Künstler-Mann" hat hier eine Verweigerung stattgefunden, denn es ist „ein letzter Brief an den Revolutionär.
Verschiedene Weisen des Sprechens Die Skizze „Die Primitive" thematisiert verschiedene Weisen des Sprechens als Ausdruck unterschiedlicher Daseinsformen. Figuren des Textes sind die von der Nacht übriggebliebenen Gäste eines Cafes. Diese Beschäftigungslosen sitzen morgens im „Nacht-Cafe", „geben Geld aus, reden und reden und bringen Alles mit grosser Wichtigkeit vor und sind ganz betrunken." (VI, 13—15) Die Sprache dient hier nurmehr dem sinnentleerten Palaver, dem Nichtstun der Figuren entspricht die Bedeutungslosigkeit ihres Sprechens. Sinnlosigkeit schlägt leicht um in Aggression: Und gleich tragen sie Wetten an und erhitzen sich. (VI, 16)
Im Gespräch nicht zutage tretende Gewalt kennzeichnet auch das Sprachverhalten der anderen Gästegruppe, der „Fiaker": Die haben Alle eine stille, in sich gekehrte Rohheit. Selten, nie bricht das Gewitter los. Alles ist wie zusammengeschnürt. Ich glaube, es geht Alles an den Pferden aus. (VI, 1 7 - 2 0 )
Die Gefühle finden nicht den Weg zum Wort, das Schweigen ist nur Verdrängung, drohendes Verschweigen des inneren Hasses. Die Sprachlosigkeit führt aber letztlich gerade zu dem in ihr mühsam Verschwiegenen, zur Gewalt, das Wort ist dann nur noch bedeutungsloses Wutgeheul des Prügelnden:
Verschiedene Weisen des Sprechens
109
,Du Canaille !' Ein Fusstritt in den Bauch. Die Canaille sitzt aber drin, im Lokal oder anderswo. Das arme Thier ist nur der Repräsentant. Alle Leidenschaften fliessen in diesen Kanal ,Pferd'. (VI, 2 1 - 2 4 )
Vor diesem Hintergrund bedeutungslosen Geredes und aggressiven Schweigens entspinnt sich ein Dialog zwischen den beiden individuellen Figuren der Skizze, der „Primitiven" („Ein junges Mädchen mit einem wunderschönen bleichen Gesicht"; VI, 25 f.) und dem hier als „jungen bleichen Mann" (VI, 27) bezeichneten Revolutionär. Gefühle werden hier nicht unterdrückt, sondern offen geäußert: ,Ich fürchte mich', sagte das Mädchen. (VI, 30)
Nichts wird verschwiegen, das Sprechen des Mädchens nennt die Dinge direkt beim Namen: ,Ich glaube, er wird mich prügeln, wenn ich auf die Strasse komme. Ich traue mich nicht nach Hause. Ich brauche Keinen, der mich liebt —. Ich brauche Geld, schöne Kleider. Aber er wird mich prügeln .' (VI, 3 2 - 3 6 )
Der junge Mann bietet dem Mädchen sofort seine Hilfe an: Er hatte eine tiefe Sympathie für Die, die das wahre aufrichtige Wort des Inneren verkünden, und sei es brutal, wie die Natur selbst. (...) Er liebte Diese, für die Sprache Identität mit dem Gesammtorganismus war, ja der tönend gewordene Gesammtorganismus selbst, nicht ein Instrument, wie die Flöte, die Klarinette, auf dem man beliebig spielen konnte, so oder so. Und dann legt man es weg. Man ist kein Flötist mehr. Niemand sieht es Dir an, was Du bist. Du wischst die Lippen ab und fertig. Ein Musiker bist Du kein Mensch! Der kann seine Musik nicht los werden, sich die Lippen abwischen . Immer müssen sie sein Menschenthum singen, wenn auch ganz leise, dass kaum Einer es hört. Ist es brutal — — singe brutal! Aber diese Cultivirten spielen, was Du willst. Zuerst sei dein Wort Wahrheit! Daraus kann Schönheit erblühen kann. (VI, 3 9 - 5 8 )
Sprache als Identität von Inhalt und Ausdruck ist das Ziel, die Degradierung der Sprache zum bloßen Instrument der Verstellung gilt es abzuwehren. Die Bedeutungslosigkeit des Geredes, in welchem nur verschiedene Rollen erprobt werden, hinter denen sich der Mensch verbirgt, wird als Maske der Gewalt dechiffriert. Daß auch die im Sprechen zutage geförderte Wahrheit brutal ist, steht dazu nicht im Widerspruch. Es geht darum, sich die Sprache wieder als Ausdruck des eigenen Ich schöpferisch anzueignen, die Zufälligkeit des bloßen Zeichens zu überwinden, um wieder zu bedeutungsvollem Sprechen zu gelangen. Diesem Sprechen ist eine Tendenz zum künstlerischen Sprechen unabtrennbar inhärent. Auch in IX geht es u. a. um zwei unterschiedliche Weisen des Sprechens:
110
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
a) um den dichterischen Ausdruck; b) um das Sprechen der „gewöhnlichen Sterbliche(n)" (IX, 17). Die „überspannte (.) Weise" (IX, 10) des Dichters wird zunächst als umständliche, schwülstige Rede ironisiert, schwerwiegende Substantive (z. B.: „Vereinigung von Melancholie und Jugend, von Erregung und poetischer Hoffnung"; IX, 12 f.) gesellen sich zur verbrauchten Metapher („auf der klassischen Stirne steht das Wort geschrieben:,Friede'."; IX, 15 f.). Diesem sehr ausführlichen, aber gleichzeitig dennoch leeren Sprechen wird die Alltagsrede entgegengestellt. Wird vom „Dichter" (IX, 9) ein Redetext von immerhin drei hypotaktisch verschachtelten Sätzen angenommen, so schreibt der Erzähler dem alltäglichen Sprechen einen Ausdruck zu, dessen Syntax noch nicht einmal die Satzebene erreicht: Gewöhnliche Sterbliche würden hingegen von ihr sagen: .Wirklich ein feines eigenthümliches Geschöpf —.' (IX, 1 7 - 1 9 )
Daß hier nicht etwa die Alltagsrede als restringierte dem elaborierten Code der „Dichter" als beschränkte untergeordnet werden soll, wird durch die Zuschreibung des „alltäglichen" Ausdrucks an die stets positiv besetzte Hauptfigur, den Revolutionär selbst, deutlich: Er dachte: ,Wirklich ein feines eigenthümliches Geschöpf (IX, 69 f.)
.'
Bis auf eine Erweiterung um zwei Gedankenstriche rekurriert hier die Rede des „gewöhnlichen Sterblichen" wortwörtlich und erfahrt mit dieser Bindung an die Figur eindeutig eine positive Wertung. War schon im Zusammenhang mit der Betrachtung der Skizze „Die Primitive" vom künstlerischen Sprechen die Rede, so wird nun deutlicher, was damit gemeint sein kann. Künstlerisches Sprechen unterscheidet sich von der alltäglichen Rede nicht durch eine pretiöse Wortwahl oder durch einen sonstwie begründeten elaborierten Code, sondern jedes Sprechen, das sich dem Objekt angemessen zuwendet, die Sprache des Dinges selbst findet, ist künstlerischer Ausdruck. Die gewalttätige Sprachlosigkeit und das bedeutungslose Gerede des Alltagsgeschwätzes sowie des Dichterschwulstes 104 verfehlen die Wahrheit, das ist: den den Dingen angemessenen Ausdruck, gleichermaßen. 104
Die Negativbewertung der „Dichter"-Rede scheint im Text relativiert zu werden.
Zur Funktion des Aphorismus
111
Zur Funktion des Aphorismus Wird der Revolutionär schon in dem an ihn gerichteten „Brief (X) als Künstler angesprochen, so enthalten die Textgruppen „Der Revolutionär dichtet" (XI) und „Der Revolutionär hat sich eingesponnen."105 (XVI) die der Hauptfigur zugeschriebene künstlerische Produktion. Umfaßt die erste neben aphoristischen Texten auch noch Prosagedichte 106 und eine Anekdote 107 , so finden sich auf den zwölf Seiten der zweiten ausschließlich Aphorismen. Diese Konzentration auf den Aphorismus ist auffallig und um so mehr von Gewicht, als XVI den Abschluß der Skizzen-Reihe bildet. Außerhalb der „Revolutionär"-Reihe sind in „Wie ich es sehe" keine Aphorismen mehr vertreten. Auch wenn Künstler-Figuren häufig in den Texten erscheinen, so ist dies der einzige Fall, in welchem Texte als Resultate der künstlerischen Produktion einer Figur ausgewiesen sind, und somit die Rezeption mit dem zusätzlichen „Filter" der notwendigen Rückbindung an die Figurenperspektive versehen ist. Dies erleichtert dem Leser einerseits die Möglichkeit, sich zu diesen Texten in Distanz zu setzen, die ihn doch gerade als Aphorismen andererseits direkt ansprechen. Der Aphorismus verlangt unmittelbarer als andere Prosa die Überprüfung des in ihm Behaupteten: Insofern der Aphorismus als Essenz von Erfahrungen ein Allgemeines ausspricht, vermittelt er „Begriffe'; insofern er nur dann wirksam wird, wenn der Einzelne das gerafft Ausgesprochene mit seiner individuellen Erlebnissituation beglaubigt, vermittelt er ,Anschauung', lebendige Erfahrung. 108
Die Sätze der Aphorismen fordern ( . . . ) den Widerspruch des von solchem durchgehenden Geltungsanspruch sich betroffen meinenden und sich dagegen zur Wehr setzenden Lesers: eben dadurch, daß er seine (oder auch eine andere) spezifische .Situation' korrigierend hinzudenkt. 109
105
106 107 108 109
Hieß es in der fiktiven Dichterrede: „Das Auge sagt: .Wann k o m m t Es?!' und . S c h l a f e i c h ? ! ' " (IX, 13f.), so wird dies zwei Seiten später wieder aufgenommen: „Die junge Dame fühlte: .Erwache ich?!'" (IX, 64). Partikel unwahren, schwülstigen Sprechens werden hier jedoch ins Gegenteil gewendet verarbeitet, erhalten durch ihre Kürze im anderen Kontext eine ganz andere Qualität und sind nicht als nachträgliche Rechtfertigung des vorher Ironisierten zu lesen. Der Titel ist ein leicht abgewandeltes Zitat aus der Skizze „Ein letzter Brief. (An den Revolutionär.)" (X, 25 f.). „Nacht-Cafe"; „Wahrheit"; „De Amore". „Genie und ,homme mediocre' ". G. Neumann, Ideenparadiese, S. 828. G. Neumann, Einleitung zu: Der Aphorismus. Hrsg. von G. Neumann, S. 8.
112
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
Das herausfordernde und aufklärerische Moment des Aphorismus vervollständigt auf der Figurenebene das schon durch den direkten Erzählerbericht oder durch den Spiegel der anderen Figuren gezeichnete Bild der Hauptfigur, der es nun gelungen ist, sich in ihre „Welt einzuspinnen", d. h. nicht mehr bloß eklektizistisch Schönes zu rezipieren, sondern die Umwelt in Kunst gebrochen sich anzueignen. Im aphoristischen Sprechen konkretisiert sich das utopische Modell, das im Leitmotiv „Bewegung" 110 noch als ungefülltes, inhaltsleeres Moment bloßer Veränderung sich ausdrückte: der Aphorismus ist diejenige literarische Form, in der sich das Verhältnis von .Darstellung des Wirklichen' und .Entwurf des (noch) nicht Wirklichen' am krassesten, damit aber auch am redlichsten ausdrückt: als Konflikt. 1 "
So wird die fiktive literarische Produktion zu einem Teil der Beschreibung der „Revolutionär"-Figur, die von sich selbst sagt: ,Ich bin ein S u c h e r , ein N i c h t - F i n d e r , ein R u h e - S t ö r e r , ein B e w e g u n g Bringer.' (XV, 51 f.)
Die aphoristische Rede als „Form von Erkenntnis" 112 , die den im Erkenntnisweg liegenden Konflikt nicht vertuscht, sondern an den Rezipienten weitergibt, diesem keine distanzierte Ruhe läßt, trägt somit als von der Figur praktizierte zu deren Charakterisierung Wesentliches bei. Die Zusammenballung der aphoristischen Texte am Schluß der Reihe befördern aber noch einen zweiten Wirkungsaspekt, der den innertextuellen (Reihen-)Kontext scheinbar unvermittelt transzendiert. Die Figur des Revolutionärs wird zum „Aggressiven" nicht nur für die anderen Figuren der Texte, sondern unmittelbar für den Leser selbst. Sätze wie: Es gibt nur eine Unanständigkeit des Nackten
das Nackte unanständig zu finden!
fordern durch ihr anmaßendes Paradox Zustimmung oder Ablehnung des Lesers direkt heraus. Doch ihrer Vorbelastung durch die voraufgehende Lektüre können die Aphorismen letztlich dennoch nicht entgehen. So wird die Wertung des Lesers gleichzeitig jedoch durch das Erscheinen der Aphorismen in diesem bestimmten Kontext zu einer Stellungnahme zu der Hauptfigur des Textes, da z. B. deren „lebendige Erfahrung" zu dem Allgemeinen des oben angeführten Aphorismus in »o Vgl. S. 96 ff. dieser Arbeit. 111 G. Neumann, Einleitung zu: Der Aphorismus. Hrsg. von G. Neumann, S. 13. 1 , 2 G. Neumann, Ideenparadiese, S. 828.
Frau Fabrikdirektor von H. und der Revolutionär
113
der Skizze „Die Primitive" ja schon zuvor dem Leser zur Kenntnis gebracht wurde. Ein noch deutlicheres Beispiel einer durch Rückbindung an die Figurenperspektive gebrochenen Rezeption gibt erst der erste Aphorismus der Gruppe „Fidélité" aus XI Treue! Mann, sei treu! Dem eigenen Wachsen, dem eigenen Werden und der Weltenschönheit! Sei treulos dem Stillstand deines Geistes, deiner Seele und Allem, was müd und hässlich wird! Weib, sei treu! Deiner S o n n e n - M i s s i o n , zu wärmen, zu leuchten!
Die der Frau hier zugeschriebene „Sonnen-Mission" stellt ein wörtliches Zitat aus X dar, wo gerade dieses Wort den zentralen Ansatzpunkt einer Kritik der Frau an ihrer Rollenfixierung auch als Objekt der künstlerischen Verehrung bildet: Wehe der Armen, die ihre ,Sonnen-Mission" anders erfasste und sich in kindlich heldenhafter Kühnheit eine andere je zutraute! (X, 2 7 - 3 0 )
Die Anführungsstriche zeigen in diesem Zusammenhang gerade, daß diese Funktion der Frau von außen aufgeprägt wurde, „anders erfassen" heißt hier: glauben, daß die Frau dem Künstler so wichtig wäre wie das Werk, zu welchem sie ihn angeregt hat (vgl. X, 24—27). So wird die Behauptung des Aphorismus durch Verknüpfung mit dem Interesse der Figur in ihrem Geltungsanspruch zumindest relativiert. Dies bedeutet nun nicht, daß die hier vertretenen Aphorismen ihrer unmittelbaren Wirkung beraubt würden, sondern sie werden in einer hin und her schwankenden Rezeptionsbewegung vom Leser aufgenommen, der ohne die engere oder lockere Bindung an die Figurenperspektive zu übersehen, auch eingeladen ist, in eine unmittelbare Diskussion der aphoristischen Provokation einzutreten.
Frau Fabrikdirektor
von H. und der
Revolutionär
Die Reihen „Frau Fabrikdirektor von H." (erste bis dritte Auflage: „Frau Bankdirektor von H.") und „Revolutionär" waren ursprünglich unter dem Obertitel „Zwei, die nicht zusammen kamen." zusammengefaßt. Einen möglichen Grund für die Lösung dieser Verklammerung der beiden Zyklen sieht Wagner in einer, in der vierten Auflage ausgeschlossenen Skizze aus „Revolutionär": In ,Zwei Fremde' traf Frau Bankdirektor von H., die Hauptfigur der ersten der beiden Reihen, mit dem Revolutionär zusammen und berichtete aus ihrer Vergangenheit. Es
114
Propagandist der Veränderungen: „Revolutionär (Studien-Reihe)"
ist wahrscheinlich, daß für die Zeitgenossen das dahinterstehende Modell erkennbar war und der Text als kompromittierend empfunden wurde. 1 1 3
Die Frage der ursprünglichen Verknüpfung beider Reihen miteinander gibt aber über das Interesse an der Autorbiographie hinaus Hinweise auf einen möglichen inhaltlichen Bezug, und zwar einen Zusammenhang, der auch nach der Textmodifikation noch besteht. In ihrer unmittelbaren Aufeinanderfolge im Buch-Text fallt zunächst gerade die extreme, schon in den Titeln angedeutete, Gegensätzlichkeit der Hauptfiguren auf: die eine auf dem Gipfel der gesellschaftlichen Hierarchie, die andere, zumindest nominell, als Außenseiter deklariert. Ihre Oppositionssetzung ist jedoch noch tiefer angelegt: Auch wenn Frau Fabrikdirektor von H. den Mangel in ihrem Dasein als Fabrikdirektorsgattin spürt, so hat sie ihre Rolle doch so sehr internalisiert (deutet den Mangel als durch sich selbst verschuldeten) und ist von den Vorzügen, die sie als Gattin des reichen Mannes genießt, in einer Weise abhängig, daß eine wirkliche Veränderung ihres Lebens nicht möglich scheint. Der Revolutionär propagiert dagegen gerade solche grundsätzlichen Veränderungen, ist ein „Störer" gemütlich-bürgerlicher Häuslichkeit. Für beide Figuren ist die Kunst das Medium, welches sie über sich hinauswachsen läßt, ihnen in dem Bild der „Bewegung" die Ahnung eines anderen Lebens vermittelt. Führt dies jedoch beim Revolutionär zur Produktivität, zur Kunstproduktion (wird er zum „BewegungBringer"), so bleibt Frau Fabrikdirektor von H. in bloß rezeptiver Haltung befangen. Das Schlußwort des Gelehrten aus R, XV war in der ersten Auflage direkt auf Frau Fabrikdirektor von H. gemünzt: ,Ich kenne eine Dame, welche eine Königin ist. Sie hat eine königliche Seele, ihre Seele besitzt die Welt, indem sie sie empfindet!' ,Wer ist es?!' ,Ich nenne ihren Namen nicht, Sie ist vermählt, zufrieden. Dennoch ist sie für dich auf die Welt gekommen!' 114
Gerade diese verständnislose Fürsorge des Ehegatten, das Leben im Luxus und ohne Arbeit, das er garantiert, ist aber für Frau Fabrikdirektor von H. die unabdingbare Voraussetzung, Kunst- und/oder Naturschönheit unbehelligt rezipieren zu können. Das, was sie dem Revolutionär an Tiefe und Empfindung, an „Seele" voraus hat, ist teuer erkauft. Eine Verbindung mit dem Revolutionär hätte ihr für die oben skizzierten Grenzen ihres Bürgerlebens die Augen öffnen müssen, doch 113 P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 9 f. "t P. Altenberg, Wie ich es sehe, 1. Aufl., S. 150 f.
115
Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)"
mit einer Zerstörung des „goldenen Käfigs" hätte sie auch die Sicherheit der Unmündigkeit verloren, die doch die Basis für ihre „königliche Seele" bildet. „Zwei, die nicht zusammen kamen": zwei, die nicht zusammen kommen konnten.
6.10
Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)" 115
Textgrundlage Sigle
115
Zeilenumfang Titel
I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII
1-88) 1 — 55) 1 — 57) 1-67) 1-56) 1-171) 1-55) 1-86) 1-48) 1-31) 1-50) 1—51)
XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX XXI XXII
1-64) 1-116) 1-10) 1-24) 1 — 18) 1 — 15) 1-38) 1—48) 1-27) 1—88)
Neun und Elf Zwölf Neunzehn Siebzehn bis Dreissig Die Natur P. A. und T. K. N o Age Fünfundzwanzig Fünfunddreissig Roman am Lande Sanct Wolfgang Assarow und Madame Oyasouki Spätsommer-Nachmittag Landparthie Flirts Fleiss Friede Wie es geht Fromont Es geht zu Ende Herbstabend At home
„Wie sehe"
ich
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
3-6 6-7 8-9 10 - 1 2 12-- 1 4 14 - 2 0 20-- 2 1 22 - 2 4 25 - 2 6 26-- 2 7 27-- 2 9 29 - 3 1
S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
31 - 3 3 33 - 3 7 37 38 38 - 3 9 39-- 4 0 40 - 4 1 41-- 4 3 43 44-- 4 6
es
P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 1—46. (Sigle = S) Die Angaben im Text sind Zeilen angaben.
116
Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Interpretation Schon im ersten Prosagedicht „Neun und E l f wird das Leitmotiv, das die Skizzen der Reihe „See-Ufer" miteinander verklammert, thematisch: Beiden (Mädchen) schenkte er zum Abschied, im Herbst, zwei goldene Kuhglöckchen als Brosche, mit den eingeätzten Worten ,See-Ufer'. (I, 7 8 - 8 1 )
Die Vokabel „See-Ufer" erscheint zwar nicht „fast in der Hälfte aller Texte"116, sondern noch nicht einmal in einem Viertel der Prosagedichte dieser Reihe (genauer gesagt: in fünf), doch „See" ist als Einzelwort oder als Glied eines Kompositums (-See bzw. See-) in über der Hälfte der Texte vertreten (14). 117 Die domestizierte Kulturlandschaft an den Ufern 118 und die nicht ganz zu bändigenden Seen selbst bezeichnen einen Konflikt, der sich durch das Leben der sie bevölkernden Figuren zieht. Diese sind in erster Linie Frauen, Kinder und Gattinnen, deren reiche Ehemänner in der Stadt weiter ihren Geschäften nachgehen. Die männlichen Figuren, die in den Skizzen auftreten, sind meist die Verehrer der Frauen, junge Leute, die gleichfalls fern der Arbeitswelt ihren Urlaub (?)119 „am Lande" verbringen. In der letzten Skizze der Reihe wird schließlich derer gedacht, die den Privilegierten das sorgenlose Leben ermöglichen: Die Dienstboten! Hasserfüllt verlassen sie im Frühjahr die Stadt und ziehen mit stupider Hoffnung in die Wälder, in die Berge . So verlassen sie hasserfüllt im Herbst das elende Land und ziehen mit stupider Hoffnung in den Stadtkerker ein - . (XXII, 1 9 - 2 4 )
Daß sie gerade in der Schlußskizze erwähnt werden, nachdem vorher ausschließlich von ihrer „Herrschaft" die Rede war, läßt die Opposition zwischen den beiden sich durch den differenten Sozialstatus konstituie116 117
1,8
119
P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 107. Statistik: „See-Ufer": I, 81; III, 3; V, 13; (VI, 81 f.); XXI, 4 „See": II, 12; IV, 31; VII, 21; VIII, 66, 84; IX, 14, 19; XI, 18; XIII, 36; XIV, 80, 82; XVII, 9, 13, 18. XIV, 78 f.: „Wiesen, Wiesen . Irgendwo begann ein Zaun und grenzte Sumpf ab ." X X , 25 f.: „Die Georginen werden in allen Farben gezogen — das sind die Harmonien der Kultur." (Vgl.: G. v. Wysocki, Peter Altenberg, S. 81.) In ihrem Fall bleibt zumindest unklar, ob es überhaupt etwas in ihrem Leben gibt, von dem sie sich erholen müßten . . .
Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)"
117
renden Figurenserien besonders klar hervortreten: Für die Dienstboten gibt es keine Hoffnung auf Veränderung, für sie bedeutet der Umzug von der Stadt aufs Land bloß einen Wechsel des Arbeitsplatzes, daß sie dennoch immer wieder ihre Hoffnung an diesen Wechsel knüpfen, sich also in ihrem Denken an dem Vorbild ihrer Herren(-innen), für die diese Ortsveränderung ja tatsächlich eine Situationsveränderung bedeutet, orientieren, — das macht sie zu den kritiklosen ,dienstbaren Geistern', auf die sich die Herrschenden stets verlassen können. Ein Bild der Beständigkeit und des (sozialen) Friedens: Und wenn einst Alles in Trümmer sinkt und Asche, wird sich aus dem Schutt des Hauses noch das hellbraune Rauchwölkchen des Dienstbotenkaffee's friedlich emporklingeln! (XXVII, 1 5 - 1 8 )
Das Wort vom „Stadtkerker", mit welchem die Betrachtung des Erzählers schließt, zerstört nachträglich das Bild von der Idylle friedlichen Dienstbotendaseins, dessen Harmonie sich als ein haßerfülltes Stillhalten herausstellt, welches nur deshalb nicht zum Aufbegehren wird, weil die Herrschenden ihre Gewalt eben auch über die Wünsche und Hoffnungen der von ihnen Unterdrückten ausüben. 120 Alle Figuren befinden sich in der, mit Ausnahme der letzten Skizze, die gesamte Reihe hindurch gültigen Situation, welche die Vokabel „See-Ufer", die mehr als bloß den Schauplatz anzeigt, als Titel und Leitmotiv symbolisch bezeichnet. Gisela von Wysocki hat dies in ihrem Essay — wenn auch in der Aussage auf die, freilich dominante, weibliche Hauptfigurenserie beschränkt — zu beschreiben versucht: Das Bild des Sees markiert das kulturelle Zwischenreich, in dem die Frauen leben. Sie stehen an den Ufern, von ambivalenter Sehnsucht getrieben, Fuß zu fassen. Ambivalent darum, weil das befestigte Ufer der ziviliserten und kolonialisierten Natur: die Gesellschaft das nicht bereit hält, was sie brauchen und suchen. A b e r doch bringt das Ufer festen Halt, die notwendige Basis für die wirkliche Entdeckung und Entfaltung ihrer Natur. 1 2 1
Der Handlungsspielraum der Figuren, die diesen Zwiespalt aushalten müssen, das, was ihnen in ihm möglich und was ihnen verschlossen bleibt, dies macht den Inhalt der Reihe „See-Ufer" aus. In der ersten Skizze findet sich die Zeitstruktur der Reihe im Kleinen gespiegelt. Ihr Zeitraum erstreckt sich über die Sommersaison bis zum 120
121
Diese Kritik bleibt jedoch in den Texten der Reihe auf diese Passage beschränkt, der Blick auf diese Voraussetzungen für das Privilegium der auftretenden individuellen Figuren ist hier weniger von Belang als etwa in F, w o ihm ein eigener Skizzentext gewidmet ist (vgl. F, II und S. 67 dieser Arbeit). G. v. Wysocki, Peter Altenberg, S. 83 f.
118
Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Ende der Saison im Herbst. Ausgeführt ist hier auch schon die für den gesamten Zyklus geltende Oppositionssetzung: Landaufenthalt vs. Stadtleben. Fern von der Stadt in der künstlichen Harmonie des Ferienaufenthaltes, in der wirklichen Harmonie der Natur, zeigt sich im Verhalten der Figuren deren wahrer Grund deutlicher: tiefes Erleben oder resignative Langeweile. Der noch zur Empfindung fähige, noch nicht vom Leben zerbrochene Mensch ist stets gefährdet: über dem Kind „schwebte das Schicksal" (I, 60) heißt es von Rositta, einer der beiden Mädchenfiguren der ersten Skizze, das Schicksal nämlich als Unangepaßte von der an bloß Funktionierendem interessierten Gesellschaft nicht toleriert zu werden. Schon die Mutter repräsentiert den Bezirk der Normen, deren Kategorien das Kind — noch — nicht spricht: Die Mutter sagte: ,Das ist doch kein Lied: , 0 meine Berge !?" Rosie sah ihre Schwester an. Sie war erstaunt, verlegen. Margit sagte: , 0 ja, das ist ein Lied ! Mama, das verstehst du nicht, das verstehen nur wir.' (I, 3 2 - 3 7 )
Die „tönende Menschenseele" ist gefährdet, sie ist „bleich (.)" und „zart (.)" (I, 46) und ihr Lied ist noch nicht mehr als ein stammelndes Benennen der Sehnsucht. 122 Die in den ersten vier Titeln angesprochenen Alter bezeichnen verschiedene Phasen des Menschseins insgesamt, nicht nur „Stufen weiblichen Seelenlebens" 123 , wenn auch die meisten Hauptfiguren der Texte Frauen sind. Alle Skizzen der Reihe zeigen Möglichkeit und Problematik des in den Texten emphatisch als „Mensch, wirklicher Mensch" (VII, 50 f.) Bezeichneten, sei er Mann oder Frau, führen die Hoffnung auf ein freies Leben vor, um dessen Grenzen in der letzten Skizze, die von der Rückkehr in die Stadt berichtet, festzusetzen. In dem Prosagedicht „ Z w ö l f wird die Freiheit des Kindes, das noch nicht „Rücksicht" nehmen muß, gegen die moralischen Grenzziehungen der Erwachsenen verteidigt. Wie in fast allen Texten bezieht der Erzähler Partei: für den noch frei Lebenden, dem auch das Recht grausam zu sein als Handlungsmöglichkeit zugestanden wird, und gegen die nur auf Schwäche und Resignation beruhende Welt der gesellschaftlichen Normen und Gesetze.
122
123
Es ist jedoch nicht „stumm" (vgl. G. v. Wysocki, Peter Altenberg, S. 84), sondern besitzt auch die Kraft zum Widerstand. Und zwar zum Widerstand gegen die es bedrohende Welt der Erwachsenen. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 110.
Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)"
119
D e r B e z u g zur Nietzscheschen Idee v o n d e r A m o r a l i t ä t des L e b e n s prinzips, des g r a u s a m - s t a r k e n L e b e n s , das in d e r S c h ö n h e i t seinen A u s d r u c k f i n d e t , die d e m Häßlichen, als d e m Z e i c h e n f ü r L e b e n s k r a f t v e r l u s t e n t g e g e n s t e h t , b e d a r f bei f o l g e n d e n Sätzen k a u m m e h r d e r Erläuterung:124 Das Fischlein starb . E s schnellte empor und fiel todt nieder ein einfacher sanfter Tod! Es vergass sogar zu tanzen, es marschierte ohne weiteres ab . ,Oh ' sagte die Dame. Und doch lag im Antlitz des grausamen braunblonden Kindes eine tiefe Schönheit und eine künftige Seele . Das Antlitz der edlen Dame aber war verwittert und bleich . Sie wird Niemandem mehr Freude geben, Licht und Wärme . Darum fühlt sie mit dem Fischlein. Warum soll es sterben, wenn es noch Leben in sich hat ?! (II, 2 5 - 3 9 ) Aber diese zarten Regungen der Seele erblühen erst auf dem Grabe aller zerstörten Träume, aller getödteten Hoffnungen . Darum angele weiter, liebes Mädchen! Denn, nichts bedenkend, trägst du doch dein schönes Recht in dir ! Tödte das Fischlein und angle! (II, 4 9 - 5 5 ) Eine w i e auch i m m e r geartete R e l a t i v i e r u n g dieser u n k r i t i s c h e n N i e t z s c h e - R e z e p t i o n , die insgesamt in der Z e i t d e r J a h r h u n d e r t w e n d e — v e r g r ö b e r t bis z u m reinen S o z i a l d a r w i n i s m u s — w e i t e K r e i s e z o g 1 2 5 , f i n d e t sich in dieser Skizze nicht. D e m Bild des „nichts b e d e n k e n d ( e n ) " K i n d e s folgt in d e r Reihe d e r D a r s t e l l u n g a l t e r s a b h ä n g i g e r F r a u e n t y p e n das des s c h o n v o n K o n v e n t i o n e n b e s t i m m t e n Fräuleins (III), dessen L e b e n in L a n g e w e i l e jedes E r l e b e n (der Natur, d e r F r e u n d e ) v e r h i n d e r t . N o c h j e d o c h k a n n d e r A n s t o ß v o n A u ß e n , die W e r t s c h ä t z u n g d u r c h einen A n d e r e n , a u f den Man vgl. etwa folgende Passagen aus der „Fröhlichen Wissenschaft" (Fr. Nietzsche, Werk in drei Bdn., Bd. 2, S. 59): „Was heißt Leben? - Leben - das heißt: fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben — das heißt: grausam und unerbittlich gegen alles zu sein, was schwach und alt an uns, nicht nur an uns wird. Leben — das heißt also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? — Und doch hat der alte Moses gesagt: ,Du sollst nicht töten!' " 125 Vgl.: R. Werner, ,Cultur der Oberfläche'. — Anmerkung zur Rezeption der Artistenmetaphysik im frühen Werk Heinrich und Thomas Manns. In: Fin de siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. von R. Bauer u. a., S. 609 — 641, darin vor allem: S. 614 f. Dort auch folgende Literaturangaben zu „Sozialdarwinismus" (S. 637, Anm. 30): G. Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, S. 577—662; H. W. Koch, Der Sozialdarwinismus; H. G. Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus als geschichtliches Problem, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 2 4 6 - 2 7 3 . 124
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
eigenen Körper und damit auf die in seiner Schönheit verborgene Hoffnung hinweisen. Während beim Kind noch Einheit von Schönheit und freiem Leben besteht, bleibt bei der Erwachsenen zwar die Vollkommenheit des schönen Körpers, doch hier ist sie nicht mehr Zeichen innerer Freiheit, sondern bleibt Bezeichnendes ohne Bezeichnetes. In „Siebzehn bis Dreissig" (IV) wird von einem auktorialen Erzähler in Zeitraffung ein Beispiel für die bloß zerstörende Kraft des „Lebens" vorgeführt. Die kurz zitierten Stationen im Leben einer Frau, vom hoffenden Mädchen bis zur erfahrenen Frau, bezeichnen Stufen immer tieferer Desillusionierung. Wenn auch die stete Wiederholung dieses Zerstörungsprozesses durch Rekurrenz des einleitenden Bildes (ein schönes Mädchen, das von dem noch vor ihm liegenden „Leben" träumt und darüber in einen Gedankendialog mit dem Ich-Erzähler tritt) im Text angedeutet ist, so wird doch dieser Prozeß nicht als natürlicher, unabwendbarer, sondern als durch achtloses Handeln verschuldeter aufgedeckt. Die Frau hat ihren Geliebten in schwerer Krankheit gepflegt, kurz darauf heißt es von ihm: „Als er genesen war, überliess er die Dame einem anderen reichen jungen Mann . Er trat sie einfach ab, ganz einfach ." (IV, 38 — 40) Das Leben wird als destruktive Kraft zwar an der Oberfläche als naturhaftes und damit nicht zu hinterfragendes Prinzip dargestellt, doch ermöglicht es hier der Text dem Leser, hinter der Fassade der „ewiggleichen" Zerstörung, deren Verursacher auszumachen. In XII findet sich dagegen wieder eine Darstellung, die eindeutig mit der in II korrespondiert. In einem Café sitzen eine Frau und ihr Verehrer beisammen, sie werden vom IchErzähler vom Nachbartisch aus beobachtet, es kommt zu einem stummen Dialog zwischen „Dame" und Erzählerfigur: ,Was wirst Du mit dem ,Kinde' machen' fragte ich, ,Du wunderliebliche ?! Tödte Ihn !' Da sagte sie: ,Oh, ich muss gehen , Commissionen machen .' ,Tödte Ihn !' sagte ich zu ihr. Sie stand da in ihrer braunen Schönheit . ,Tödte Ihn!' Da sagte sie: .Herr Assarow, bitte ' und gab ihm die Hand. (XII, 3 2 - 4 0 )
Der Ich-Erzähler formuliert im anschließenden Kommentar die „Moral" dieser Szene: Frauen treffen nicht wie der Fleischer das Kalb: Ein Zug von rechts nach links und fertig . Kein Laut . Fertig. Die aber stossen zu — —. ,So ziehe durch!' Da gehen sie, Commissionen machen, werfen das Messer weg, reichen die Hand, gehen wie träumend —. Verblute langsam ! (XII, 4 4 - 5 0 )
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Glück des Augenblicks: „See-Ufer (Studien-Reihe)"
Das Sentenzhafte der Eingangssätze führt einen Wahrheitsanspruch mit sich, der durch den Kontext der Skizze nicht in Frage gestellt wird. Die Frau als die Grausam-Schöne: der Text liefert dem Leser keinen Anhaltspunkt, dieser Meinung des Ich-Erzählers zu widersprechen. Hier wird ein altes Vorurteil als Wahrheitsaussage festgeschrieben: allen Frauen eignet Grausamkeit gerade gegenüber denen, die sich ihnen liebend ausliefern, in Frage steht nur das Maß an Zerstörungskraft. 126 So erweist sich die Reihe als in sich widersprüchlich, findet sich in einer Skizze (II) naive Bewunderung für das grausam-schöne Lebensprinzip, welches von einer folgenden (IV) viel differenzierter und kritischer gesehen wird, um dann in einer späteren (XII) doch wieder als naturhaftes festgeschrieben zu werden. Auch Altenberg konnte sich nicht immer von der allgemeinen furchtsamen Bewunderung der Männerwelt seiner Zeit für die ,femme fatale' — einem Topos der Fin de siecle-Kultur — frei machen. In der längsten Skizze der Reihe („P. A. und T. K.") tauchen die Worte „See-Ufer" in einem spezifischen, nur in dieser Skizze erscheinenden Kontext auf: Draussen regnete es und der See brauste an die Ufer
.
Der Satz wird dreimal wiederholt (VI, 72 f., 81 f., 170 f.) (zuletzt als Schlußsatz) und stellt das dominante Leitmotiv dieser Skizze dar. Der See erweist sich als nicht immer für Kahnfahrten geeignete Naturgewalt, die fast den befestigten Bereich der Ufer zu gefährden scheint. Dieses Bild fungiert als symbolische Verweisung auf die Figuren der Skizze: P. A. und T. K., welche in Selbstentäußerung die Entfremdung des Alltagslebens für Augenblicke antizipatorisch überwinden können: .Nicht was Ihr seid, seid Ihr! (...) In Uns allein feiert ihr ewig euer heiliges Fest der Wiederauferstehung aus des Lebens Noth!' So sann er •(•••)
126
Weitere Aspekte der Nietzsche-Rezeption Abenbergs (vgl. dazu auch S. 102 dieser Arbeit) sollen hier nicht analysiert werden, wenn auch eine Betrachtung derselben in Altenbergs Werk insgesamt sicherlich lohnende Ergebnisse zeitigen dürfte. Die hierbei relevante Fragestellung hat R. Werner m. M. n. treffend formuliert: „Nicht traditioneller .Einflußphilologie' sei damit das Wort geredet, vielmehr die Forderung aufgestellt, als wesentlich mitprägende Faktoren die jeweiligen produktions- und wirkungsästhetischen Ausgangsbedingungen eines Werks (oder einer Werkreihe) zu analysieren und damit dessen (oder deren) kontextuell gebundene Tiefenschichten freizulegen, auch dort wo diese dem Text nicht explizit, sondern vermittelt gegenwärtig sind." (R. Werner, .Cultur der Oberfläche.', S. 610).
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Und da empfand sie: ,Nicht was Ihr seid, seid Ihr! Durch Uns allein feiert Ihr ewig euer heiliges Fest der Wiederauferstehung aus des Lebens Noth!' (VI, 1 5 0 - 1 6 4 )
Zur Überwindung der Entfremdung bedarf es jedoch der Hilfe des Anderen, nur im Dialog (zwischen Frau und Mann) kann sich Erkenntnis des Selbst ereignen. Der Blick des Anderen setzt Kräfte frei, die für Minuten eine andere Wirklichkeit produzieren: In „Fünfunddreissig" beobachtet der Ich-Erzähler eine Frau, die am See-Ufer auf ihre Familie wartet: Sie fühlt, dass ich sie bewundere . Plötzlich aus den Grenzen schönen Familienlebens hinausgezerrt in das Meer grossen ! Lebens, mit seinem grossen Mysterium ,Ich bin wie die Natur' fühlte sie. ,Der See, der Wald, die gelbgefleckte Dillkrautwiese und ich —!' (IX, 1 5 - 2 0 )
Aufhebung der Entfremdung bedeutet Einheit mit der Natur, doch diese Einheit ist meist eine nur noch nicht zerstörte, der „Friede" (XVII) ein stets bedrohter, nur im Kindesalter noch scheinbar sicher, das Mädchen ahnt schon den Wandel in der Zukunft, die nichts Gutes verheißt: ,ich geniesse den Sommer wie eine Grille und wie die See-Schwäne. A b e r es giebt Störer, in der Ferne, am Horizonte. Was werden sie machen aus uns?! Wir werden wahrscheinlich den Sommer nicht mehr geniessen können wie die Grille und wie die See-Schwäne.' (XVII, 8 - 1 3 )
Figuren, die als vom Leben, von der Gesellschaft zerstörte gezeichnet sind, werden immer zugleich als von der Natur entfremdete dargestellt. Von dem neunzehnjährigen Mädchen, das sich von seinem Verehrer auf den See hinausrudern läßt, heißt es: Wie in einem sammtenen oder seidenen Fauteuil in einer reichen dumpfen Stadtstube sass sie da . (III, 2 1 - 2 3 )
In XI wird die letzte Zeile des ersten Abschnittes Zwischen ihr, der lebendig gewordenen Natur und dieser todten im Abendglanze war keine Liebe ! (XI, 22 f.)
am Ende des zweiten Abschnittes ins Gegenteil gewendet: Zwischen ihr, der lebendig gewordenen Natur und dieser todten war Liebe (XI, 49 f.)
!
Der Kontext macht deutlich, daß die Oppositionssetzung im Rücken des grammatischen Widerspruchs sich zur zweifachen entwickelt: Im
123
Eingekerkertes Paradies: „Ashantee"
ersten Fall ist die tote Natur die Frau „in dem seidenen lila-grün changirenden Kleide" (IX, 10), im 2weiten Fall die lebendig gewordene Natur jedoch das „junge Mädchen" (XI, 28), während die tote sich auf einen Blumenstrauß bezieht. Insgesamt herrscht in der Reihe der Erwachsenen-Figuren der Typus der gefühllosen, jedoch liebend umworbenen Frau vor (vgl. auch XIV, 21—23): melancholische Bilder vertaner Möglichkeiten. „Nur das Kind ,nichts bedenkend' und stark, beherrscht angstlos, noch sich selber sicher und seiner Natur, die des Sees. In seinem Gesicht beschreibt Altenberg ,eine tiefe Schönheit und eine künftige Seele'. Seine Gestalt gibt Stoff für Hoffnungen, jenseits der weiblichen Kultur-Welt der ,Stuben'." 127 Ein Ausbrechen aus diesen wird in den Texten als möglich vorgeführt, die in der Darstellung des gegenseitigen Nicht-Verstehens dennoch manchmal aufglimmende Hoffnung läßt keine Illusionen über den exzeptionellen und scheinhaften Charakter ihrer möglichen Einlösung hier und jetzt zu. Einheit im Dialog ist nur als blitzhaftes Aufscheinen, welches sein Vergehen schon in sich trägt, möglich. Das „große Leben" (IX, 17) ist nur ein kurzer Ausflug aus den „Grenzen schönen Familienlebens" (IX, 16 f.), in die man sehr rasch wieder zurückkehrt. Überwindung der Entfremdung ist als private Antizipation (der in letzter Instanz nur gesamtgesellschaftlich realisierbaren Utopie) einerseits Ergebnis mühsamer Annäherung und bleibt gleichzeitig auf der anderen Seite nur dem Augenblick möglich. „Augenblick" als Zeitmetapher, in der Alltagsrede gar nicht mehr als solche erkannt, wird in „Fünfunddreissig" wörtlich genommen und ein literarisches Handeln übersetzt: der „Augen-Blick" des Mannes auf die Frau (IX, 15 — 27). 6.11 Eingekerkertes Paradies: „Ashantee" 128 Textgrundlage Sigle I
127 128
Zeilenumfang Titel
„Wie ich es sehe"
(1—24)
S. 297
Meyer, ConversationsLexikon
G. v. Wysocki, Peter Altenberg, S. 84. P. Altenberg, Wie ich es sehe, S. 2 9 5 - 3 3 2 . (Sigle = A) Angaben im Text sind Zeilen angaben.
124
Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
II III IV V VI VII VIII
(1 - 2 0 2 ) (1 - 3 7 ) (1 - 4 0 ) (1 - 4 2 ) (1 - 9 ) (1 - 1 6 ) (1 - 8 3 )
IX X
(1 - 2 7 ) (1 - 2 3 )
XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX XXI XXII XXIII XXIV XXV
(1 - 3 3 ) (1 - 1 0 ) (1 - 6 7 ) (1 - 1 4 ) (1 - 1 3 ) (1 - 4 6 ) 0 -52) (1 - 1 3 ) (1 - 6 ) (1 - 7 ) (1 - 1 3 ) (1 - 6 ) (1 - 2 9 ) (1 - 8 ) (1 - 6 8 )
XXVI XXVII XXVIII
(1 - 3 6 ) (1 - 6 ) (1 - 1 0 )
Der Hofmeister The School Der Kuss Cultur Paradies Der Abend Ein Brief aus Accra (Westküste Goldküste) Der Neger Akoles Gesang, Akoles süsses Lied Complications Physiologisches Klein-Ella Prinzessin in Grün Paprika-Schoten L'homme mediocre Der Automat Ehebruch Prügel Mitgift Erbfolge Philosophie Ritterlichkeit Mütterlichkeit Palaver. (Rath der Männer) Tag des Abschieds Ihre Adresse Spätherbst-Abend
S. S. S. S. S. S. S.
2 9 8 - 304 3 0 5 - 306 3 0 6 - 307 3 0 8 - 309 309 310 3 1 0 - 313
S. 3 1 3 - 314 S. 3 1 4 - 315 S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.
3 1 5 - 316 3 1 6 - 317 3 1 7 - 319 3 1 9 - 320 320 3 2 0 - 322 3 2 2 - 324 324 325 325 3 2 5 - 326 326 3 2 6 - 327 327 3 2 7 - 330
S. 3 3 0 - 331 S. 331 S. 332
Interpretation
Die Situation, die dieser Reihe zugrunde liegt, ist paradox: das „Paradies" (so ein Skizzentitel; VI) ist in den Zoo verbannt, freie Menschen, „sanft und gut" (II, 96) sehen sich eingesperrt und ausgestellt wie „exotische Tiere" (II, 94). Der erste, in moderner Montage-Technik als expositorischer den folgenden fiktionalen Texten vorangestellte Text, ein Zitat aus „Meyer, Conversations-Lexikon", gibt schon die Blickrichtung an, von welcher
Eingekerkertes Paradies: „Ashantee"
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die Ashanti von der Wiener Bevölkerung der Jahrhundertwende beurteilt werden. Es ist der Blick des Siegers der Zeit des Imperialismus, des Kolonialherren. Anfangs- und Schlußabschnitt dieses ersten ReihenTextes sprechen nicht von den Ashanti, als dem eigentlichen Gegenstand des Artikels, sondern von den gewaltsamen Okkupanten ihrer Heimat, den Engländern. Für die manuellen Fähigkeiten der „Wilden" hat man gönnerhafte Anerkennung übrig: sie sind namentlich im Teppichweben und in Goldarbeiten sehr geschickt (I, 13 f.),
handwerkliche Produkte von primitiven Völkern sind auch schon um die Jahrhundertwende sehr begehrt. Doch schon im nächsten Satz wird dieses „Lob" mit der ein — zumindest nach außen hin — monogames Europa erschreckenden Vielweiberei kontrastiert, und schließlich ist man „General Wolseley" dankbar, daß er den König der Ashanti zwingen konnte, die Abschaffung der Menschenopfer zu geloben (I, 21 f.). Von den Negern selbst weiß das Lexikon weiter nicht viel zu berichten: ihre Haare sind kraus, sie sprechen eine exotische Sprache und alles andere ist ,,mysteriös(.)", „geheimnisvoll" oder „hysterisch" (I, 16 — 18). Der Leser des Lexikons wird zum Schluß des Artikels zu weiterer Information verwiesen auf: „Brakkenbury, the Ashanti war." Einige Exemplare des besiegten Ashanti-Volkes hat man nach Wien geholt und stellt sie nun im Zoo eingesperrt zur Schau. Doch dort geschieht Uberraschendes, etwas, das von den Importeuren dieser exotischen Ware nicht eingeplant war (vgl. XXV, 43—45) und was das Hauptthema der Reihe darstellt: Hinter den von einem unfreundlichen Wärter beaufsichtigten Zäunen des Tiergartens („mit dem schwarzen Netzgitter und den staubigen Syringen"; II, 3) jedoch verwirklichen die, die „wenig Bedeutung" (II, 10 f.) haben, die Kinder und die exotischen Fremden, die Verständigung miteinander. Wieder wird das Gespräch (vgl. R, VI, 25 ff. und S, VI, 137 ff.) zum Bild möglicher Überwindung der „Schreckensbilder" (IX, 8) von Kälte und Gewalt zwischen entfremdeten Menschen: „Wie nahe sie sich gerückt sind" (IX, 25) berichtet der Erzähler von dem „wundervolle(n) einäugige(n) blonde(n) Mädchen" und dem „riesigen Neger" (IX, 44): Schuo — Elephant, Elephant — Schuo. Eine gemeinsame Sprache sprechen sie bereits, Schuo — Elephant, Elephant — Schuo! (IX, 2 5 - 2 8 )
Das Verhalten der anderen Besucher des Zoos zeichnet sich durch Unwissenheit (die auch ihr Handeln den Tieren gegenüber bestimmt;
126
Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
vgl. II, 11—20) und Unverständnis den spontanen Lebensäußerungen der Neger gegenüber aus (vgl. IV). Doch die „Cultur" (V) läßt im Kontrast dazu die Unkultur, das bis zu offener Feindseligkeit gehende Verhalten der weißen „Gastgeber" um so schärfer hervorscheinen: PHILOSOPHIE. Besucher des Aschanti-Dorfes schlagen Abends an die Holzwände der Hütten, zum Spasse. Der Goldschmied Nöthei: ,Sir, wenn Ihr zu Uns nach Akkra kämet als Ausstellungsobjekte (exhibited), würden wir nicht des Abends an eure Hütten klopfen!' (XXII)
Diejenigen, die noch zu träumen verstehen, die Kinder, die kleinen Mädchen und der Künstler-Mensch, — nur sie sind in der Lage, das „andereQ Leben" (XIII, 23) zu erfahren. Der Traum ist als Unproduktives gesellschaftlich mißachtet, er muß ständig vor den Vorwürfen derer, die zum „Weitergehen dräng(en)" (II, 41) in Schutz genommen werden: „Sich Hineinzuträumen" ist „keine Schande" (II, 56 f.), denkt wie zur Entschuldigung der „Hofmeister" (aus dem gleichnamigen Text der zweiten Reihe) über das kleine Mädchen, als es, für den sie begleitenden Jungen endlos lange, eine eingesperrte Löwin anstarrt. Das Bild der Löwin entfesselt in ihr einen Tagtraum ferner Welten: „Afrika, Afrika" (II, 64), die Nennung des Namens hat noch mythisch-beschwörende Wirkung, macht das noch nie Geschaute traumhaft wirklich. Die an diesen Textstellen festzustellende Konzentration des Gebrauchs von Gedankenstrichen (fünfmal jeweils drei Gedankenstriche) ist für den Leser Hinweis, sich mit „Hineinzuträumen". Der Traumbericht setzt mitten im Geschehen ein, „ plötzliche . . . " (II, 60), die Sätze sind elliptisch, ganze Nebensätze werden nur eingeleitet, aber dann nicht ausgeführt, sind vom Leser selbst zuende zu denken: „Man hat Beispiele, daß " (II, 64). Zu dieser anderen Wirklichkeit der Phantasie steht das Leben in ernüchterndem Widerspruch: Sie blickte auf den Hofmeister. Dieser aber trug eine breite Pepitahose, ein dunkles Sacco und einen kleinen braunen Filzhut. (...) Ganz in gelbem Leder sollte er dastehen! Jedenfalls aber in Gamaschen. (II, 6 7 - 7 2 )
Ein weitaus „erwachseneres" Verhalten zeigt der Junge: ,Eine Löwin, was sieht man?! Eingesperrt ist sie (II, 41 f.)
.'
Der Gedanke spricht das Urteil, der Fall ist abgeschlossen, für Phantasie bleibt kein Raum. Der desillusionierende Blick der Ratio zerstört auch den Glauben an Positives: als der Hofmeister einer Nege-
Eingekerkertes Paradies: „Ashantee"
127
rin Glasperlen schenkt und diese daraufhin Freundschaft mit dem Weißen schließt, analysiert der Junge scharfsinnig: „Gekauft hat er sie." (II, 120 f.) Das zwanghafte seines Hinterfragens wird durch die dreimalige Rekurrenz der ihm zugeschriebenen Fragesätze deutlich gemacht (II, 104,106,130 ff.). Das naive Ernstnehmen der Gefühlsäußerungen des Anderen erscheint dem Jungen in seiner Nüchternheit bloß als „überspannt" (II, 124). Die wirkliche Freude des Negermädchens ist für ihn nur eine gekaufte Ware, nur das Tauschmittel erregt sein Interesse: .Woher haben Sie es?!' fragte der Knabe, während es dem Mädchen selbstverständlich vorkam. (II, 104 f.)
Immer wieder wird in den Texten das Bewußtsein der Europäer, welches einer Welt entstammt, in der alles käuflich ist, zu dem Denken der Ashanti, in welchem der Tauschwert noch nicht das Ziel aller Dinge darstellt, in Opposition gesetzt. So in IV, wo die „junge Dame" (IV, 7) das von ihr zurückgewiesene Negerkind, von welchem sie nicht geküßt werden wollte, durch ein Geldgeschenk zu beruhigen sucht: Die Dame gab dem Kinde eine Krone. Das Kind gab sie zurück, sogleich. (IV, 32 f.)
oder auch in XVI, wenn der „homme médiocre" enttäuscht erfahren muß, daß die Liebe der Ashanti-Mädchen keine käufliche Ware darstellt: ,Ich hörte aber, man könne junge schwarze Mädchen kaufen?!' Jawohl. Wenn sie dich liebt.' (XVI, 2 8 - 3 0 )
In keiner der Skizzen der Reihe findet sich eine deutlichere und schärfere Kritik an dem Verhalten des Durchschnittsmenschen den Fremden gegenüber als in dieser. „L'homme médiocre" unterhält sich mit der einzigen positiv besetzten Erwachsenenfigur der Reihe, die als Typus, wenn auch unter verschiedenen Namen 129 konstant gehalten ist: 130 129
130
„Hofmeister": II; Ich-Erzähler: III, IV, VII und VIII; „Peter A.": V, XI, XVII; „P. A.": XXIII und X X I V ; „Herr Peter": XIII; „Sir Peter": XIV; „Sir": VI; „Herr": XV, XVIII, X I X , XXI, X X V I und XXVIII. Als Dialog-Partner sowohl der Neger als auch der Weißen stellt er eine Art Bindeglied der beiden Welten dar, fällt ihm eine Vermittlerrolle zu.
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,Ich bitte Sie, wie steht es mit diesen schwarzen jungen Mädchen?! ,Nein.' ,Oh. Sie sind gentleman; Sie verrathen nichts.' ,Ich habe nichts zu verrathen.' ,Nun, und Geld nehmen sie an?!' Ja.' ,Und seidene Tücher?!'
Ja?!'
,Und was dann?!' ,Dann Nichts.' .Warum beschenkt man sie?!' ,Weil sie schön und sanft sind. Königliche Geschenke machen sie uns daher, wir danken wie Bettler.' ,Wie steht es mit den jungen Männern?! Acht Monate sind sie fort. Was tun sie in Bezug ?!' ,Sie arbeiten, sie tanzen, sie singen —.' .Aber sie sind doch so stark?!' ,Eben deshalb. N u r d e r s c h w a c h e M e n s c h hat u n e n t r i n n b a r e B e d ü r f n i s s e . D e r S t a r k e hat A c c o m o d a t i o n s - K r ä f t e ! ' .Also die Mädchen sind unnahbar?!' ,Im Gegenteile.' .Unter welchen Bedingungen?!' ,Unter den Bedingungen der Liebe?!' (XVI, 2 - 2 7 )
Die Rede des Durchschnittsmenschen zeichnet sich gerade durch Verschweigen dessen aus, was den Kern seiner Fragen ausmacht. Für dieses Aussparen des Heiklen, Pikanten, das dadurch, daß man es nicht ausspricht, nur um so deutlicher gesagt wird, konnte Altenberg in der Trivialliteratur die vorzüglichsten Vorbilder finden. In gekonnter Weise131 wird das triviale Muster, indem es nur bei einer Figur Verwendung findet, zur Figurenkennzeichnung benutzt. Das Sprechen des „homme médiocre" steht durch die scheinbare Undeutlichkeit, Verschwommenheit seines Referierens auf Wirklichkeit, welches sich dann doch als eindeutiger Bezug herausstellt, in krasser Opposition zur der knappen Präzision in den Antworten des Dialog-Partners. Die Sätze des Fragenden werden in der Gegenüberstellung der Fragen und Antworten zu Orten der Selbstentlarvung, wobei vor allem die Interpunktion (die Gedankenstriche, jedoch auch die Frage- und Ausrufezeichen-Kombination) als deutliches Zeichen für die verklemmte Geilheit des Durchschnittsbesuchers fungiert. 131
Vgl. im Gegensatz dazu F, VII, 5 — 11, wo das triviale Muster völlig ungebrochen eingesetzt wird, und die Phantasie des Lesers nur der von ihm vorgegebenen Richtung zu folgen hat. Dort läßt seine Verwendung nicht mehr die Position einer bestimmten Figur, sondern den Altenbergschen Text selbst als fragwürdig erscheinen.
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Die Hüter des Bestehenden, und das heißt in diesen Texten: der Hoffnungslosigkeit sind stets wachsam, die Erwachsenen bestimmen den Kindern die Grenze für die Flucht aus dem, was einzig als Realität anerkannt ist. Der Part derer, die die Gefühlswelt des Kindes denunzieren, übernehmen meist dessen eigene Eltern: In XIII mahnt die Mutter ihr Kind, das sich gerade anschickt, mit „Herrn Peter" in den Tiergarten zu gehen: ,Nur nicht übertrieben sein, verstehst du?!' (XIII, 13 f.) 132
Da das Kind in seiner Abhängigkeit keine Wahl hat, hat der Verweis Erfolg, nicht nur, daß er das Kind zum Weinen bringt darüber, daß sein Bild vom Leben „diese(r) Wilden" (wie die Mutter die Neger nennt; XIII, 12) so gar nicht mit dem Leben zu Hause zusammengeht, er bringt das Mädchen auch schließlich dazu, „zu Hause (zu) bleiben" (XIII, 40), denn nicht „übertrieben" sein zu wollen und gleichzeitig das „Feenreich" (XIII, 62) zu erleben, ist unmöglich. Der Konflikt nötigt das Kind zum Verzicht, macht es stumm: ,Nein, Herr Doktor, ich kann nicht mit in das Feenreich.' ,Adieu.' ,Adieu, Herr Doktor, oh, Herr Doktor —.' Man hört nichts mehr. (XIII, 6 3 - 6 7 )
In verräterischer Weise rekurriert in der Rede der Mutter ein Wort aus dem Text des Lexikon-Artikels: ihre Tochter ist für sie „,wirklich schon eine H y s t e r i s c h e ' " (XII, 15133; vgl. I, 18). Der weitere Textverlauf macht entgegen dem gesellschaftlich sanktionierten Unverständnis der Mutter deutlich, daß „Klein-Ella" sich nicht schon unnatürlich verhält, sondern sich noch etwas erhalten hat, das der Welt der Erwachsenen fremd und unverständlich ist wie die Tänze des Negervolkes: die spontane geistige Beweglichkeit ihrer Phantasie. Das Kind spürt, daß es mit seiner Gefühlswelt den Negern verwandter ist als der Welt der eigenen Eltern: ,Auf dem Wege sagte Herr Peter zu mir: ,Mit Ihnen ist man wie mit sich selbst. Man braucht da Nichts zu lügen.' Verstehst du das, Mama?!' ,Nun, was heisst es?!' ,Was es heisst, weiss ich nicht. Ich fühle es!' (XIII, 3 1 - 3 6 )
132 133
Vgl. IX, 1 7 - 2 0 . Hervorhebung von mir, S. N.
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Für „Klein-Ella" wird der Tiergarten zum „Feen-Reich", das ihr weit mehr bedeutet als die oberflächliche Unterhaltungsinstitution, die die Erwachsenen darin sehen: ,Ich glaube, man hat genug Zeit, sich zu amüsiren.' ,Amüsiren, Mama?!' (XIII, 7 - 9 ) ,Oh Mama . Kein Amüsement ist es. In ein anderes Leben führt Er mich in diesem Thiergarten. Alles ist wundervoll. Niemand kann wissen, wieso?! ,Wie Forellen in ihrem Bache sind wir da unten' hat einmal Herr Peter v o n uns gesagt, v o n sich und von mir, Mama.' (XIII, 2 1 - 2 6 )
Das „Romantische" (XXV, 37 f.), das das Leben der Neger für den Zivilisierten bedeutet, ist nur ein anderes Wort für Herablassung und geifernde Schaulust am Andersartigen. Dieses eignet sich nur zur kurzfristigen Vermarktung, wird nur wahrgenommen als eine Sensation unter anderen, das wirkliche Leben draußen bleibt hübsch unangetastet. Paradoxerweise ist es in den Texten gerade die Figur des Leiters der Institution, von der das Spektakel veranstaltet wird: der Direktor des Tiergartens, welcher diesen Zusammenhang genau erkennt und auch explizit benennt. Für ihn ist der Begriff des Romantischen einzig dadurch als positiver erhalten, daß seine Unzeitgemäßheit prädiziert wird; hier und jetzt gibt es nichts „Romantisches" mehr, denn die herrschende Realität ist hoffnungslos: Die Welt ist leer. ( X X V , 42)
Die im Tiergarten bewunderte und angebetete (vgl. XI) schwarze Schönheit wäre draußen bald zur „vervehmte(n) Magd" (XXV, 42) degradiert, wenn das Interessante dieser „Episode" (XI, 23) sich abgenutzt hätte: Jedenfalls Etwas Aussergewöhnliches, wie eine Reise in das Ausland oder das Militärjahr. Etwas Umwandelndes, Bewegung Bringendes, Etwas wie eine Episode aus dem Leben eines Künstlers, Dichters. Später freilich ?! (XI, 2 0 - 2 5 )
Der Direktor muß deshalb das Geschenk der Ashanti, Tioko, eine schöne Negerin, mit welchem sich diese für seine freundliche Behandlung bedanken wollen, zurückweisen. Er bekommt als Ersatz von ihnen eine Flinte, das Frauengeschenk, Symbol des Lebendigen, wird durch das Gewehr, das Todeswerkzeug, ersetzt. Eine einfache Symbolik, gewiß, auch hier findet sich wieder Altenbergs Tendenz zur demonstrativen Geste, sein fast plakatives Deutlich-Machen dessen, was gemeint ist: der bloßen rationalen Kritik, die nichts vom Tagtraum weiß, verschließt sich auch die in diesem enthaltene Hoffnung, jene bleibt so
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Spiegel — und im Falle des Zoodirektors: Werkzeug — der herrschenden, lebensfeindlichen Realität. Das Kind und der „Primitive" verkörpern in jeweils doppeltem Sinne ein Noch-Nicht: zum einem im Sinne der ahnenden Antizipation des Noch-Nicht-Wirklichen beim Kind, die nur diesem noch möglich ist, da das rationale Prinzip auch nicht alles Denken und Fühlen beherrscht (der Junge aus II zeigt jedoch, wie endgültig der Sieg der Ratio schon beim Kind sein kann), bei den Negern ist es zum anderen die noch nicht zerstörte natürliche Lebensform, deren Naivität auch ein noch nicht bewußtes Sich-Einlassen ist, deren Musik erst der „echten Instrumente" (II, 86) als Ergänzung bedürfte, um die bloß archaische Eintönigkeit des stampfenden Rhythmus (II, 74—83) zu überwinden. So erklärt sich das Lob des Hofmeisters für Fortunatina, die erkennt, daß das Stampfen der Ashanti noch keine Musik bedeutet — so ist aber auch die Verwandtschaft der Kinder- und Ashanti-Figuren in diesen Texten zu verstehen: .Neger sind Kinder. Wer versteht diese?! Wie die süsse stumme Natur sind Neger. Dich selbst bringen sie zum Tönen, während sie selbst musiklos sind. Frage mich, was der Wald ist, das Kind, der Neger?! Etwas sind sie, was Uns zum Tönen bringt, die Kapellmeister unseres Symphonie-Orchesters. Sie selbst spielen kein Instrument. Sie dirigieren unsere Seele.' (V, 2 0 - 2 7 )
Das „Ungesunde", „Romantische" (auch das blonde Mädchen wird von ihrem Vater eine „Romantische" genannt; IX, 5), die „Einbildung", die „falschen Poesien" und „ungesunden Träumereien" (V, 15 f.): all dies, welches sich nicht dem herrschenden rationalen Prinzip unterordnet, Glasperlen der äußeren Schönheit willen höher schätzt als alles andere Gut (vgl. VI), das am Schein das Andere fühlt, das ihn für wahr nimmt — nur dieses kann in einem, wenn auch seinerseits nur scheinbaren Raum der Freiheit die Antizipation eines anderen Lebens wirklich werden lassen. Der Raum möglicher Antizipation, der Erfahrung des Eigenen am scheinbar gänzlich Fremden, ist jedoch in einer Warenwelt, in der auch der Kontakt zwischen fremden Kulturen nur als Sensationsgeschäft verwirklicht werden kann, notwendig auf die Zeit, wo das Ganze noch „interessant" ist, begrenzt: zu Saison-Ende („Spätherbst-Abend") werden die „Hütten" wieder „abgebrochen" (XXVIII, 9). Sogar die Erinnerung an den künstlichen Import vom „anderen Leben", die „leeren Hütten" (XXVIII, 5), muß neuen Sensationen Platz machen. Dem Geschäft ist alles eins: Menschen fremder Völker, „Seiltänzergesellschaft" oder „Ballon captif (XXVIII, 10).
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So liefert auch die Reihe „Ashantee" dem Leser kein Rezept für ein „richtiges Leben im Falschen" 134 und zeigt eher die Ungefahrdetheit der bestehenden Ordnung. Aber es gibt in den Texten doch den Schein vom „anderen Leben", diesen jedoch erfahrbar bloß auf Zeit und nur dem, der sich ganz auf ihn einläßt. Am Ende bleibt zwar nur die spätherbstliche Resignation, aber es ist dann eine Trauer, die vom Anderen weiß.
6.12 Zusammenfassung: Fragment und Antizipation Dem Prosagedicht eignet als Gedicht in Prosaform eine labile Einheit, die die Spannung nicht zu verbergen, sondern notwendig auszuhalten sucht. Schon Egon Friedeil hat darauf aufmerksam gemacht: Von einem Kunstwerk dulden wir, daß es ein .Ausschnitt der Wirklichkeit' ist, und es verletzt uns nicht, wenn dieser Schnitt nicht verborgen und sogar betont wird: so gerade erscheint es uns künstlerisch. 135
Das Prosagedicht ist handlungsarm und gleichzeitig fehlen ihm Vers und Reim, dennoch kommt dieser Form ein hohes Maß an Kohärenz 136 zu (konstituiert vor allem durch Abschnittsgliederung 137 und Rekurrenz äquivalenter Elemente), die Unveränderbarkeit seiner Syntagmatik bringt es wieder dem (im Lotmanschen Sinne) poetischen Text näher (während bei der Reihe als ganzer wieder eine Tendenz zur Dominanz der Paradigmatik festzustellen ist). Die dichte Strukturierung des Prosagedichts hat nichts mit einer Steigerung der „Anschließbarkeit der Textsegmente" 138 zu tun, sondern betont nur den Zusammenhang der weit auseinanderliegenden und im Leseakt zu verknüpfenden Elemente. Lautmalende Textabschnitte wie in „Der Trommler Belin" 139 , die im Sinne einer Weiterentwicklung naturalistischer Suggestion der Identität von fiktionalem Abbild und empirischer Wirklichkeit mißverstanden werden könnten, sind die Ausnahme. Wo sie erscheinen, sind sie stets nur ein Teilstück einer zwischen scheinbarem Realitätszitat und dessen Brechung im Figurenbewußtsein schwebenden Darstellung, die immer T. W. Adorno, Minima Moralia, S. 42. E. Friedell, Ecce poeta, S. 63 f. 136 Vgl. dazu vor allem Kap. 6.2. 137 Friedell spricht von einem „gewissen Symetrismus" (Ecce poeta, S. 161). 138 W. Iser, Der Akt des Lesens, S. 284. »» Vgl. S. 7 3 - 7 5 dieser Arbeit. 134
135
Fragment und Antizipation
133
deutlicher das vermeintlich Unmittelbare als durchs Subjekt Vermitteltes zeichnet und auch in diesen Fällen also die Ausfüllung dieses Wechselspiels dem Leser überläßt. Eine Konzentration der Geschichten zum „Gedicht im Gedicht" wie in „Wie Wunderbar" 140 ist als ein immanenter Hinweis auf eine Poetik des Prosagedichts zu lesen, die gerade eine illusionszerstörende Ausrichtung auf eine verknappte Darstellung bei einem das Verstehen noch gerade ermöglichenden Maß von Anschließbarkeit der einzelnen Textsegmente intendiert. Die Form der Prosagedichte ist als ,offene Struktur' zu benennen. Diese Offenheit ist dabei zum „produktiven Programm" 141 geworden, ist von vorneherein als das zentral strukturierende Moment des Werks intendiert. „In dieser Poetik des Andeutens setzt das Werk sich bewußt als offen der freien Reaktion des Lesers." 142 Dies bedeutet jedoch keine Beliebigkeit der Rezeption, der Rahmen einer möglichen Variation der Vollendung des Werks durch den Leser hat seine deutlich gesetzten Grenzen. Das Prosagedicht läßt Lücken zwischen seinen einzelnen Sätzen, das nahtlose Ineinandergreifen von Erzähleinheiten ist gestört. Ohne die verstärkte aktive Mitarbeit des Lesers bleiben die Texte unverständlich. Die Leerstellen in den Texten 143 , deren Füllung durch Phantasie und Reflexion des Lesers zu leisten ist, werden manchmal explizit durch Zeilensprünge, oft durch Gedankenstriche angezeigt. In „Wie ich es sehe" kann von einer „infantilen Interpunktion" (Thomas Mann) noch nicht die Rede sein, der Gedankenstrich ist hier kein „Strich durch den Gedanken" 144 , sondern präzis angewendetes Merkzeichen für den Rezipienten. In einigen Fällen aber scheint den Autor das Vertrauen in die Mitarbeit des künftigen Rezipienten seines Werkes verlassen zu haben, dann treten die expliziten Selbstinterpretationen im Text auf, es erscheint das Verfahren des „direkten Zeigens", als welches der Sachverhalt oben bezeichnet wurde. Dieses Mittel fördert den Prozeß semantischer Desambiguierung, birgt damit aber auch in sich die Gefahr, die für jeden künstlerischen Text konstitutive Polysemie auf gleichsam propagandistische Eindeutigkeit zu reduzieren.
14° 141 142 143 144
Vgl. S. 5 4 - 5 8 dieser Arbeit. U. Eco, Das offene Kunstwerk, S. 32. U. Eco, Das offene Kunstwerk, S. 37. Vgl. zum Begriff der „Leerstelle": W. Iser, Der Akt des Lesens, S. 2 8 4 - 3 1 5 . K. Kraus, in: Fackel, Nr. 2 7 7 - 2 7 8 (1909), S. 59.
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Zu dieser intendierten Offenheit als der konkret im Werk eingeplanten Rolle des Lesers tritt beim Prosagedicht noch eine spezifische Form von Unabgeschlossenheit, die gerade im Scheitern der Intention ihre Begründung findet. Es fehlt stets der sinnrundende Abschluß, das Ende des Prosagedichts läßt „alles in der Schwebe". 145 Das Prosagedicht verfehlt bei höchster Formbestimmtheit eine vollendete Abgeschlossenheit, die als „übersteigert-immanent(e)" 146 tendenziell das Scheinhafte am Kunstwerk zum bloßen Schein werden läßt, der die Verwirklichung bruchloser Einheit, „die Versöhnung inmitten des Unversöhnten" 147 suggeriert. Altenbergs Werk als Sammlung von Skizzen und Skizzenreihen leistet nicht mehr den einheitlichen Sinnzusammenhang der Großprosa. Daß die „große Form" nicht mehr gelingt (bzw. gar nicht mehr angestrebt wird), sondern aufgesplittert erscheint in viele Einzelbilder, ist nur scheinbar ein Formales (oder ein die heutige Moderne vorbereitendes ästhetisches Novum). Es ist hingegen ein sich aus dem Material der Erfahrungswelt einer immer mehr atomisierten, unüberschaubar gewordenen Gesellschaft dem gestaltenden Subjekt Aufdrängendes, das von jenem nicht mehr bewältigt werden kann. Das, was als „Formlosigkeit" mißverstanden wurde, erweist sich als substantiell bei der Konstitution des Inhalts. Die meisten der hier untersuchten Texte enden in Bildern der Resignation, denen so gar nichts von Aufrufen zur Veränderung eignet. Hier ist noch nichts von einer irgend gearteten „Lehre" zu spüren — in den späteren Texten Altenbergs wird sich dies ändern — wo sie, wie etwa in der Reihe „Revolutionär", vermutet wird, erweist sie sich bei näherer Betrachtung gerade als die große Leerstelle des Werkes, ein Hohlraum hinter den Begriffen wie etwa dem der „Bewegung", der nur bruchstückhaft gefüllt wird. Trübt das resignative Ende die Texte vom Schluß her ein, so bleibt in seinem antithetischen Wechselspiel zu den Zeichen von Veränderung, welche die Texte in ihrem Verlauf dennoch enthalten, das Fragmentarische bestehen: die resignative wie die hoffnungsvolle Geste am Schluß der Texte realisiert nicht deren Abgeschlossenheit. 148
145
144 147 148
H.-D. Schäfer, Peter Altenberg und die Wiener „Belle Epoque", in: Literatur und Kritik, 2 6 - 2 7 , S. 385. E. Bloch, Gesamtausgabe Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, S. 252. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 283. Bezugnahmen auf einzelne zuvor interpretierte Werke dürfen nicht als Zusammenfassung der jeweiligen Interpretation mißverstanden werden; es handelt sich um Rück-
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In dem Prosagedicht „Die Zuckerfabrik" bleibt die Hauptfigur am Schluß in einem Zustand vollkommener Verwirrung und Ratlosigkeit zurück; die Gestik des Zigeuners — vom Natürlichen als Bild der Versöhnung war in ihrem Zusammenhang die Rede — kann nur auf eine Hoffnung nach Veränderung zielen, deren Richtung im Text nicht einmal mehr angedeutet wird, wobei sich das Zeichen jener Hoffnung selbst ausschließlich in dieser einen Geste am Ende des Textes und somit in höchstmöglicher Zurückhaltung realisiert. In der Skizze „Im Volksgarten" wird in bezug auf das „reiche Mäderl" eine Erfahrung in ihrem Prozeß beschrieben und deren Abschluß im Wissen um die Differenz von Besitz der Dinge und dem möglichen Erlebnis des Glücks gerade im Verzicht auf diese festgestellt. Für das „arme Mäderl" jedoch bleibt das Wissen ohne die Qualität gesicherter Erfahrung nur Schmerz um die verpaßte Gelegenheit, die sich nicht wiederholen wird. Dieses Unwiederbringliche und die in ihm motivierte Sehnsucht bleibt im Konjunktiv des „ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut" (V, 44 f.) als beunruhigende Bewegung am Schluß übrig, eine Beunruhigung, die sich auf den Leser überträgt und ihn nach Beendigung der Lektüre nicht verläßt. Es „geht ihm etwas nach", das ihn außerhalb des literarischen Textes nach dem „glücklichen Ende" suchen läßt, ohne, daß er erwarten könnte, in der herrschenden gesellschaftlichen Realität fündig zu werden. So wird der Text zum indirekten Aufruf zum verändernden Handeln, ist selbst ein Versuch, dazu beizutragen, daß die Aussichtslosigkeit des Sehnsuchtsbildes am Schluß des Prosagedichts eines Tages von der Wirklichkeit Lügen gestraft werde. „Blumen-Corso" dringt noch tiefer in die Problematik möglicher Glückserfahrung ein, hier geht es nicht mehr um den bloßen Widerspruch zwischen den Reichen, denen Erfahrung noch möglich, und den Armen, die durch ein Besitzdenken, das die Reichen schon nicht mehr nötig haben, davon ausgeschlossen sind, sondern hier wird die Glückserfahrung selbst als Ware dargestellt, als ein Verkaufsobjekt unter anderen in einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist. Sogar das also, auf welches die Hoffnung der vom Glück Ausgeschlossenen gerichtet ist, erweist sich als Unwahres, auch der Privilegierte konsumiert nurmehr Unechtes, auch sein Glück ist nur Schein. Am Ende ist alles fragwürdig und Lösungen werden von den Texten nicht bereitgestellt. Auch „Wie wunderbar" findet kein harmonisches Ende in einer etwa nach der langen Geschichte ständig scheiternder Bewegung nun am blicke unter dem Aspekt der Unabgeschlossenheit der Texte, für ein Verständnis des Gehalts der Texte im Einzelnen wird auf die Interpretation selbst zurückverwiesen.
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
Schluß des Textes erfolgten Schilderung einer glücklichen Zweierbeziehung. Indiz für einen Raum für Hoffnung bleibt am Schluß nur das Gedicht im Gedicht: die Kunst nicht als Realisierung des Glücks, sondern als Erinnerungsarbeit gegen ein vollkommenes Vergessen der Möglichkeit, anders glücklicher zu leben. Antworten, die sagten, was zu tun wäre, finden sich gleichfalls nicht in den „Studien-Reihen", auch und gerade nicht in den beiden, die laut Wagner das „männliche und weibliche Ideal Altenbergs" 149 zeichnen. Handelt es sich tatsächlich um Idealfiguren — unstrittig ist ihre dominante Position in der Serie der individuellen Figuren in „Wie ich es sehe" — so sind es jedoch solche, denen der Mangel eingeschrieben ist, die in ihrer Positivität nur um so deutlicher das hervorscheinen lassen, was an ihnen „schief" und „ungeworden" (Bloch) ist. Waren sie als Vorbilder vom Autor angelegt, so ist zumindest heute durch die historische Distanz diese Abgerundetheit zerbrochen — wenn sie denn wirklich je vorhanden war. Dies wird deutlich vor allem im Falle der „Frau Fabrikdirektor von H.", deren Internalisierung einer vom Manne diktierten Frauenrolle zu erkennen der heutige Leser sicherlich stärker sensibilisiert ist als der Rezipient aus der Zeit der Jahrhundertwende. In der weiblichen Hauptfigur dieser Reihe wird der spezifische Typus der auf ein bloßes „Luxuswesen" reduzierten Frau dargestellt, deren Aufgabe es auch ist, für die Männer jenen Bereich jenseits der Ratio offenzuhalten, der ihnen selbst im Geschäftsleben nur hinderlich wäre, welchen sie aber am Feierabend — noch — nicht missen wollen. Der Freiraum, der der Frau im Bereich kultureller Betätigung gewährt wird, erweist sich als goldener Käfig, die positive Besetztheit der Figur bleibt davon unberührt: „Frau Fabrikdirektor von H." ist als einzige der Figuren der Reihe in der Lage, Kunst, welche für die anderen längst zum bloßen Amüsement herabgesunken ist, adäquat zu rezipieren. Doch das, was sie dort erfährt, bleibt folgenlos für ihr Leben als Ehefrau und Herrin, ,1'art pour l'art' ist in ihrem Falle nicht Protest gegen die zweckbestimmte Vereinnahmung von Kunst, sondern aufgezwungene Rezeptionshaltung, bedingt durch die Grenzen, welche ihr als Frau in ihrer Position in der Gesellschaftshierarchie gesetzt sind. Die Figuren dieser Texte aus „Wie ich es sehe" führen unter den Bedingungen eines imperialistischen Hochkapitalismus im damaligen Österreich-Ungarn ein parasitäres Leben: allesamt Angehörige der saturierten Bürgerschicht treten auch unter ihnen die arbeitenden, und das
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P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 118.
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heißt hier: die machtausübenden, Männer, Ehegatten („Arbeit über der Erde und etwas Seele"; F, IX, 36 f.) nur als Randfiguren auf. 150 Das Privilegium wird nicht in Frage gestellt, die Freistellung von der Arbeit ist in den Texten Grundbedingung menschlicher Vervollkommnung („keine Arbeit über der Erde und überschüssige Seele"; F, IX, 37 f.). Menschen der arbeitenden Klasse 151 erscheinen selten als individuelle Figuren im Prosagedicht 152 und wenn, dann (siehe oben) als hoffnungslos Betrogene. Doch auch die positiv besetzten Hauptfiguren der Texte sind als Folge ihres Ausgeschlossenseins vom kapitalistischen Produktionsprozeß entweder noch nicht in die Gesellschaft Integrierte und gesellschaftliche Außenseiter (wie etwa der „Revolutionär" oder die „Ashanti"), oder eben die von der Macht von vornherein suspendierten Frauenfiguren, welche man ohnehin nicht ernst zu nehmen braucht. Es macht die Wahrheit der Texte aus, daß sie Widersprüche nicht zu beseitigen vermögen, daß sie etwa, wenn sie die Hauptfigur „Frau Fabrikdirektor von H." durch deren „gütiges" Verhalten in ihrer Position als Herrin zu legitimieren suchen, gleichzeitig den Leser damit auf einen niemals explizit angesprochenen Sachverhalt aufmerksam machen, nämlich auf die notwendige Basis für die Empfindungsfahigkeit der Figur: ihre Freistellung von jeglicher Arbeit und „Alltagsplage". Nur die Kinder-Figuren und die Ashanti-Neger erscheinen eindeutig als Statthalter einer besseren Zukunft, aber auch diese unmittelbar antizipatorischen Bilder sind in sich gebrochen; bei den ersteren ist die Beschränkung schon durch die Kürze der Kindheit selbst bedingt, deren Entfaltungsraum zudem stets ein von der verständnislosen Erwachsenenwelt eingeschränkter und bedrohter ist: Über Knaben als künftige Erben und Mädchen als künftige Gattinnen sprach er ( = Altenberg, S. N.) nicht. Diese Zukunft der Kinder haßte er. 153
Und dennoch ist sie gerade in ihrer demonstrativen Aussparung in den Texten präsent, wenn die Erwachsenenwelt nur noch zur Negativfo-
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Eine Ausnahme bildet der „Zuckerfabriksdirektor". Erich Zöllner bezeichnet — sehr zurückhaltend — die Lage der Arbeiterschaft im Österreich-Ungarn der Regentschaft Franz-Josefs als „wenig erfreulich, wenn sie sich auch bis gegen Ende der Epoche verbessert hat" (Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 454). Ausnahmen sind etwa das Ladenmädchen und der Straßenkehrer aus „BlumenCorso". D. Simon, Nachwort zu: Altenberg, Peter, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2, S. 259.
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Erste deutsche Prosagedicht-Anthologie: „Wie ich es sehe"
lie für die Kinderfiguren wird 154 , um deren Positivität um so deutlicher herauszustellen. Dieses erste Buch Altenbergs widersetzt sich gerade einer (von Benjamin als positiv apostrophierten) „Rezeption in der Zerstreuung" 155 und erwartet im Gegenteil vom Rezipienten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, volle Konzentration als Basis für das Weiterdenken des mittels „Ausspartechnik" (Polgar) nur Angedeuteten. Jedem einzelnen Prosagedicht hätte Altenberg den Vorspruch voranstellen können, den Stéphane Mallarmé seinem „Igitur"-Fragment mit auf den Weg gab: „Ce Conte s'adresse à l'Intelligence du lecteur qui met les choses en scène, elle-même." 156 Die Leerstellen und jene Unabgeschlossenheit konstituieren den Fragmentcharakter des Werks. Dieser ist nicht einfach im Sinne Friedells als eine unmittelbare Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität zu verstehen: Die Schönheit des Fragments beginnt uns langsam aufzudämmern; und auch dies ist wieder nichts als ein erhöhter Sinn für Realismus, denn die ganze Wirklichkeit ist ja Fragment; was uns in der Realität entgegentritt, ist immer nur Stückwerk. 1 5 7
Nicht die photographische Genauigkeit des Abbilds vermag als Wahrheit dem Werk seine Legitimität zu verschaffen, sondern das Wahre des Prosagedichts liegt im Utopischen, nur in fiktionaler Darstellung Andeutbaren und nicht real Vorfindlichen. In diesem Sinne hat Altenbergs Wort vom „Vorläufer [ . . . ] auf dem naturgemäßen Wege der möglichen Entwicklung für alle Menschen" 158 Gültigkeit für ein Verständnis des Gehalts seiner Prosagedichte. Das Fehlen des auflösenden Schlusses, das unbefriedigende Ende des einzelnen Prosagedichtes wie der Reihe verweist den Leser auf seine Reflexionsfahigkeit über die Bedingung der Unmöglichkeit realer Antizipation hier und jetzt, welche den Augenblick überdauernd Realität verändern könnte. 159 154
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In entsprechender Funktion steht die Reihe der Besucher-Figuren mit Ausnahme der konstant gehaltenen „Peter"-Figur in Opposition zu den Ashanti-Figuren. W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 48. St. Mallarmé, Sämtliche Gedichte, S. 262. E. Friedell, Ecce poeta, S. 64. Prödrömös, S. 156 f. Das in den Texten enthaltene direkte Zeigen mittels Erzählerkommentar läßt sich nun verstehen als Folge des Bewußtseins v o n der Unvollkommenheit der reinen Immanenz dieser Prosagedichte, von ihrem Verunglücken als Bilder schönen Scheins. Es ist der erste Schritt hin zu einer didaktischen Ausrichtung des Werks, zum Propagieren einer mit ausgeführten Zukunftsvorstellungen gefüllten Lehre.
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„Die Welt ist leer" (A, XV, 42), sagt der Direktor des Tiergartens in „Ashantee", doch die Meinung der literarischen Figur ist nicht identisch mit dem Gehalt des Frühwerks Altenbergs. Dieses vermittelt eine Ahnung möglicher Fülle, die Prosagedichte antizipieren Bilder vom „anderen Leben", dies jedoch notwendigerweise in der Form des Fragments, welche den Makel des Scheinhaften am Schönen nicht verbirgt, sondern im Scheitern als Konflikt austrägt. Das Unabgeschlossene des Prosagedichts gibt dem Leser auf, selbst zu denken. Das literarisch Wirkliche ist erst in der Rezeption in Vollständigkeit auszuführen und zugleich stellt es die Frage nach seinem Platz in der historischen Realität, oder, wie Viktor Zuckerkandl einmal formulierte: „Das Kunstwerk ist ein Bild auf der Suche nach einem Vor-Bild. Es wird unter die Menschen geschickt, um in dem Geiste der Menschen ein Vor-Bild zu finden und seine Bestimmung zu erfüllen, Bild zu werden. In der mimetischen Bedeutung des Kunstwerks ist das Wesentliche die Aufgabe, nicht die Lösung, die Frage, nicht die Antwort. D i e Lösung, d i e Antwort gibt es nicht. Je wahrer das Kunstwerk, desto gewisser werden Aufgabe und Frage sich immer von neuem stellen." 160 Daß die frühen Prosagedichte Altenbergs auch heute noch Fragen stellten, die in der Geschichte bisher nicht beantwortet werden konnten, sollte dieses Kapitel der Arbeit aufzeigen.
160
V. Zuckerkandl, Mimesis, in: Merkur XII, S. 233 f.
7. Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals 7.1 Einleitung Ulrich Fülleborn bemerkt in seiner Abhandlung über das deutschsprachige Prosagedicht 1 , daß „Hugo von Hofmannsthal in den neunziger Jahren Musterstücke des Erzählgedichts in Prosa geschaffen" 2 habe. Die Bezeichnung „Musterstück" kann sich dabei wohl nur auf den literarischen Wert beziehen, nicht jedoch auf eine mögliche Wirkung der Werke. Denn schon von den zwei Texten („Das Glück am Weg" und „Gerechtigkeit"), auf die Fülleborn als Beleg verweist, wurde nur einer zu dieser Zeit im Ausgang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Die überwiegende Zahl der als Prosagedichte zu bezeichnenden kleinen Prosawerke wurde erst aus dem Nachlaß — lange nach dem Tode Hofmannsthals — publiziert. Darüber hinaus ist auch bei „Das Glück am Weg" im Gegensatz zu der von Fülleborn vorgenommenen eindeutigen Bestimmung als Prosagedicht beim Autor selbst und bei seinen späteren Editoren eine große Unsicherheit in bezug auf die Gattungsbezeichnung festzustellen. 3 Es gibt auch keinerlei Hinweise in Briefen, autobiographischen Notizen u. ä. aus den „Werkstätten" der zeitgenössischen Schriftsteller, die in irgendeiner Weise die Vermutung einer Wirkung dieser besonderen Ausprägung der literarischen Kurzprosa durch Hofmannsthal auf andere Autoren nahelegten. Nicht für eine Untersuchung etwaiger historischer Kontinuitätsstiftung für die Form des Prosagedichts können hier also diese Texte 1 2 3
U. Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht. U. Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht, S. 54. Ordnet der 29. Bd. der „Kritischen Ausgabe" — einer handschriftlichen Titelliste Hofmannsthals folgend — den Text den Prosagedichten zu (er eröffnete gleichwohl den 1. Bd. der „Erzählungen" = Bd. 28), so findet er sich in den „Gesammelten Werken" (TB-Ausg.) unter der Rubrik „Erzählungen", und eine Notiz Hofmannsthals bezeichnet ihn als „allegorische Novelette" (Zit. in: „Krit. Ausg.", Bd. 28, S. 665); Herbert Steiner, der erste Herausgeber der „Gesammelten Werke in Einzelausgaben", ordnet „Glück am Weg" noch nach einem Aufsatz über den „Modernen Musenalmanach auf das Jahr 1893" in den Bd. „Prosa I" und nicht in den Bd. „Erzählungen" ein.
Einleitung
141
Hofmannsthals in Betracht kommen. Sie sind Gegenstand der synchronen Sicht der literarischen Produktion der Jahrhundertwende in Österreich; die Interpretationen suchen eine Antwort zu geben auf die Frage nach dem Grund für das Phänomen des gleichzeitigen Bestrebens verschiedener Autoren, im deutschsprachigen Raum eine eigene Form des Prosagedichts zu entwickeln. Die Wiedergabe der Prosagedichte in den „Gesammelten Werken" (TB-Ausg.) kann leicht darüber hinwegtäuschen, daß ein großer Teil dieser Werke unvollendet geblieben ist und wohl aus diesem Grunde von Hofmannsthal nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Anhand der „Kritischen Ausgabe" ist leicht zu erkennen, daß etwa ein Text wie „Kaiser Maximilian reitet" weder einen schon fertig fixierten Anfang, noch ein eben solches Ende erhalten hat. 4 Bei einigen Textstücken, die die „Kritische Ausgabe" unter dem Sammeltitel „Prosagedichte" abdruckt, drängt sich die Frage auf, was denn eine auf nicht rein Privates bezogene Tagebuchnotiz eines Autors schon per se zum Prosagedicht qualifizieren kann. 5 Die Zahl der als Gedichte in Prosa zu betrachtenden Äußerungen würde ins Unendliche gehen, wenn jede von konkreten Anlässen (einer Bildbetrachtung, einer Zeitungsnotiz) verursachte assoziative Gedankenkette, die nicht weiter gestaltet und ausgeführt wird, unter einem so weiten Begriff der Gattung schon als literarischer Text angesehen werden müßte. Darüber hinaus enthält die „Kritische Ausgabe", die notwendig der Vollständigkeit verpflichtet sein muß, auch eine Reihe von auf den ersten Blick als reine Planskizzen zu erkennenden Aufzeichnungen. 6 Derartige offensichtlich nicht intentionale Fragmente, Plan4
5
6
Die „Kritische Ausgabe" (s. S. 138, Bd. 29) schreibt das erste Wort klein und setzt am Schluß des Textes ein Semikolon, dagegen setzen die „Gesammelten Werke" (TBAusg.) das „Es" des Anfangs groß und schließen den letzten Satz mit einem Punkt (die Veränderungen bewegen sich im übrigen durchaus im Rahmen des für die Erstellung einer „Leserausgabe" üblichen). Als ein Beispiel soll hier der unter Nr. 25 als Prosagedicht angeführte Text fungieren (SW, Bd. 29, S. 239): „G/öding/11 V I 95.". Hofmannsthals durch das im Wiener Kunsthistorischen Museum befindliche Bild angeregte Betrachtung über den „Geometer" ist — so interessant ihre assoziativen Ideen im einzelnen auch sein mögen — sicher f ü r sich noch nicht als literarischer Text zu lesen, sondern — wenn überhaupt in dieser Richtung zu verstehen — höchstens als (später nicht ausgeführte) Planskizze zu einem solchen. Als Bsp. sei hier die Nr. 20 (SW. Bd. 29, S. 236) zitiert: „Prosagedicht. Allein in einer leeren grossen fremden Stadt. (Westmünsterbrücke London, Märchen, morgens)".
142
Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
skizzen oder Notizen sollen nicht Gegenstand von Einzelinterpretationen werden. Betrachtet man, den Hinweisen der „Kritischen Ausgabe" folgend, „Die Rose und der Schreibtisch" als das erste, „Geschöpf der Fluth/ Geschöpfe der Flamme" und „Betrachtung" als letzte Prosagedichte, so wäre Hofmannsthals Beschäftigung mit dieser Form auf den Zeitraum von 1892 bis höchstens 1898/99 zu datieren. 7 In diesen sechs Jahren sind nur fünf als abgeschlossen zu betrachtende Gedichte in Prosa entstanden, neben den beiden schon erwähnten zählen dazu noch „Gerechtigkeit" und „Das Glück am Weg" (welches ja von Hofmannsthal als „allegorische Novelette" bezeichnet wurde). Tatsächlich erscheint jedoch nach einer langen Pause im Jahre 1924 noch ein als Prosagedicht zu benennender Text unter dem Titel „Erinnerung". In der Bewertung des Stellenwertes der Prosagedichtform im Gesamtoeuvre Hofmannsthals ändert dieses spätere Werk nichts: zu konstatieren bleibt insgesamt der nicht sehr lange Schaffenszeitraum und die zahlenmäßig geringe Bedeutung dieser Gattung. Dies heißt nun natürlich nicht, daß gerade diese seltene Werkform nicht zum Bedeutendsten zählen könnte, das Hofmannsthal vollbrachte. (So wie denn allgemein hiermit behauptet werden soll, daß die Prosa — man denke nur an die alles überragende Position des „Andreas"Fragments — die mengenmäßig dominierende dramatische Form im Werk dieses Autors wohl in den Schatten stellt.) Ohne die Beschäftigung Hofmannsthals mit dem Prosagedicht allein durch ein Lektüreerlebnis motivieren zu wollen, scheint mir ein Hinweis auf dessen erste Begegnung mit dieser Art kurzer Prosa doch erhellend für das Bewußtsein des Autors selbst über die Gattungswahl. Nicht die poèmes en prose der französischen Literatur bildeten den Anstoß zu eigener Produktivität auf diesem Gebiet, sondern die „Gedichte in Prosa" von Iwan S. Turgenjew, zu denen sich Hofmannsthal im Jahre 1890 folgendes notiertes: Die Gedichte in Prosa, reine Lyrik, lose Gedanken, kleine Bilder, Allegorien. Ein Schimmer von Subjektivität über allem. 8
Die mehr auf eine Darstellung des Begriffs zentrierte Prosalyrik Turgenjews, deren Sammlung auch rein aphoristische Texte umfaßt (etwa die Texte „Der Weg zur Liebe"; „Die Phrase"; „Einfalt"; „Der 7 8
Vgl. SW, Bd. 29, S. 4 0 1 - 4 0 5 . Tagebuchnotiz vom 5. 7. 1890. Zit. in: SW, Bd. 29, S. 396. Erst später beschäftigte sich Hofmannsthal mit Baudelaires „Petits Poèmes en Prose" (vgl. dazu: SW, Bd. 29, S. 397).
Kunst versus Leben: „Die Rose und der Schreibtisch"
143
Brahmarie") 9 , steht in ihrer Gesamterscheinung dem Prosagedichtwerk Hofmannsthals auch in bezug auf die Produktionen der späteren Jahre näher als etwa die Baudelaires oder gar Rimbauds. 7.2 Kunst versus Leben: „Die Rose und der Schreibtisch" Bei dem Text „Die Rose und der Schreibtisch" 10 handelt es sich um das erste Werk Hofmannsthals in Prosagedichtform. 11 Die Bezeichnung als Entwurf bezieht sich wohl auf das vom Autor am fertigen Produkt noch ästhetisch Unbefriedigende, während der aus dem Nachlaß überlieferte Text für sich nicht als Fragment (d. h. gegen die Autorintention unabgeschlossen) betrachtet werden muß. Die zwei Abschnitte auf der zeitlichen Strukturebene, die auch typographisch markiert sind, korrespondieren mit einer Gliederung in zwei gänzlich verschiedene Erzählschritte. Der erste berichtet von einem zwar rätselhaften, doch insgesamt noch ganz „natürlichen" Vorgang. Zwar wird vom Erzähler gerade die Frage nach der Ursache für das unverhoffte Rosengeschenk als Ablenkung bezeichnet („Aber darum handelt es sich nicht"; 227, 4), doch mit diesen ersten beiden Sätzen wird den verschiedensten Vermutungen erst Raum gegeben. Der Hinweis darauf, daß es sich beim Fall der Rose auf die Straße um den bewußten Akt irgendjemandes gehandelt haben müsse, lenkt dabei den Blick schon in eine bestimmte Richtung (ein Gunstbeweis für den Ich-Erzähler? etc.). So wird in zwei knappen Sätzen mittels höchster Ausspartechnik eine erste Geschichte angedeutet, die — nicht weiter erzählt — den Leser selbst zur Ausfüllung dieser betonten Leerstelle des Textes auffordert. Die abrupte transitio („kurz"; 227, 4) und das temporale Adverb („plötzlich"; 227, 5) des Folgesatzes, der nach dieser Einleitung zum ersten im Titel angekündigten Gegenstand kommt, sind eindeutig rezeptionslenkende Hinweise darauf, wieviel hier vom Erzähler aus der Geschichte (scheinbar unter Zwang) ausgeschlossen werden mußte. Das also, was eigentlich nicht erzählt werden sollte, bildet das dominante Thema des ersten Abschnitts, denn auch in der daran angeschlossenen und diesen Teil der Darstellung abschließenden Dingbeschreibung bleibt es als angedeuteter, wenn auch nicht wörtlich erzählter 9 10 11
I. S. Turgenjew, Erzählungen 1857-83/Gedichte in Prosa, S. 929. SW, Bd. 29, S. 227. Vgl. dazu die Erläuterungen der SW, Bd. 29, S. 401 f.
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
Vorgang als wichtigste Eigenschaft der Rose im Gedächtnis; die Erwähnung der Farbkontraste ,rot — schwarz — weiß' unterstreichen die nur geahnte Bedeutsamkeit und Auffälligkeit des Vorfalles. Daß die Rose als „noch schlank, nicht aufgeblättert" (227, 6 — 7) bezeichnet wird, weist darauf hin, daß es sich bei dem, was hier auf die Straße fallt, nicht etwa um Abfall handelt. War jeweils die rote Rose Subjekt der voraufgehenden Sätze, so stellt der Wechsel in der Pronominalisierung (zu Beginn des letzten Satzzusammenhangs dieses ersten Teils) wieder den direkten Bezug zum Ich-Erzähler her. Erst hier wird die doch zuvor zurückgewiesene Betonung, daß dem Vorhandensein der Rose eine subjektive Bedeutung zukomme, im Bericht über die vorsichtige Behandlung, die das Ich ihr angedeihen läßt (in Abschwächung gegenüber der Deutlichkeit des Einsatzes mit dem Personalpronomen im ersten Satz), wiederaufgegriffen. Die Erwähnung des „Schreibtisches" (227, 9) als dem Ort, den die Rose für die Nacht im Zimmer findet, verweist anaphorisch zurück auf den Titel und damit, sollte dieser nicht in die Irre führen, auch zugleich kataphorisch auf die noch zu erwartende Aufklärung über den Bezug zwischen diesen beiden Dingelementen „Rose" und „Schreibtisch". Wenn es sich denn um die Vorgeschichte der Rose, das Rätsel des Dinges, nicht handeln soll, so bleibt es bis hierhin immer noch in Vermutung, von was sonst die Geschichte wohl erzählen könnte. In diesem Zusammenhang ist der besondere Umgang mit dieser gefundenen Rose nochmals zu beachten: sie wird nicht in irgendeinem Gefäß auf den Schreibtisch gestellt, sondern ihr Aufbewahrungsort ist „eine ganz kleine japanische Vase". Die Rose geht hier eine Verbindung mit einem zu Kunst gehörenden Gegenstand ein, und diese Einheit von natürlichem und künstlichem Ding findet ihren Platz auf dem Schreibtisch, dem Ort literarischer Produktion also. Auch die ersten Sätze des zweiten Abschnitts verlassen nicht den Bereich realistischer Darstellung, es wird ausdrücklich hervorgehoben (und damit faktisch in der Schwebe gelassen), daß es sich bei dem folgenden nicht um einen Traum handeln solle („muß ich aufgewacht sein"; 227, 10). So ist der Übergang zu dem anderen Erzählmuster: der Fabel im Text in betonter Weise nicht gekennzeichnet. Dennoch ist der Bruch zwischen der Erwähnung des „leisen Redens" (227, 13) und der Aufklärung, die der folgende Satz über den Aktanten des Redens liefert, durch die syntagmatische Folge („Es war . . . " ) deutlich spürbar: so macht die Reihenfolge der Wörter im Satz auf den Wechsel aufmerksam, der auf der semantischen Strukturebene
Kunst versus Leben: „Die Rose und der Schreibtisch"
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offensichtlich verschleiert bleiben sollte. Das Unmerkliche des Übergangs vom Realistischen zum Phantastischen der Fabel geht verloren. Darüber hinaus bedeutet dieser Satz für das Erzählgeschehen eine Enttäuschung der möglichen Lesererwartung, daß nun etwa die echte Rose zu sprechen anfinge und die vom Ich bisher nicht überlieferte Geschichte ihrer wahren Herkunft erzähle. Auch ohne hinweisenden Erzählerkommentar ermöglichen die Oppositionen im Text dem Leser eine eindeutige Denotation der Beispielerzählung. Überdeutlich ist der Gegensatz zwischen der „Porzellanrose" (227, 13), die niemals duften kann und der natürlichen Rose, die zur Entwicklung ihres in der Kälte verlorenen Duftes nur der Erwärmung im Zimmer des Ich-Erzählers bedarf. Daß hier auf die Unversöhnlichkeit von Kunst (Kunsthandwerk) und Leben referiert wird, läßt das dem Widerpart der Kunstrose „des alt-wiener Tintenzeugs" (227, 12) beigefügte Epitheton im letzten Satz klar werden (gering ist der Witz im Parallelismus der interpretierenden Sätze des Ich-Erzählers, geben sie doch nur in redundanter Weise nicht erforderliche Zusatzinformation darüber, wen die Porzellanrose mit „Er" und „so etwas" meine): „die lebendige Rose" (227, 17) ist es, welcher von dem artifiziellen Ding der Platz auf dem Schreibtisch streitig gemacht werden soll. Wenn der Erzähler davon spricht, daß die Kunstrose „über irgend etwas Bemerkungen machte", so sind die Wertungen für die Interpretation in Richtung auf ein falsches Gegeneinanderausspielen von Kunst- und Naturding schon angedeutet. Daß nur die Kunstrose spricht, ist in einem zweifachen Sinne bedeutsam, zum einen weist dies auf die Tatsache hin, daß nur die Kunst die Dinge zum Sprechen bringen kann, zum anderen geht es um die Kritik an der Geschwätzigkeit der alten, vergangenen Kunst (die Kunstrose wirft dem Ich vor, es habe „absolut kein Stilgefühl mehr"), der das sparsam Wirkende der neuen Kunst — symbolisiert im Duften der natürlichen Rose in der „ganz kleinen chinesischen Vase" auf dem Schreibtisch und auch der Wärme des Zimmers bedürfend — entgegengestellt wird. Das Rollenhafte des Sprechens und der allegorische Charakter der Fabel heben den Schlußteil vom voraufgehenden Kontext ab. Entspricht der erste Textabschnitt in seiner oberflächlichen Handlungsarmut, die in Wahrheit als „kondensierter Roman" das Weitererzählen einer Geschichte der Phantasie des Lesers überläßt, in einem Hauptkennzeichen den vom Bild des Altenbergschen Werkes geprägten Erwartungen an ein Prosagedicht, so knüpft dagegen der zweite an die lange literarische Tradition der kleinen Prosa in der Form der Fabel
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
an. Hier ist es nicht mehr das Moment lyrischer Überstrukturiertheit, das die Kohärenz des Textsegments konstituiert, sondern es ist ein bekanntes Muster allegorisierenden Erzählens, das den Leser seinerseits bloß vor eine direkte Dechiffrierungsaufgabe stellt. 12 Der binomische Charakter der Textstruktur, ihr Auseinanderfallen in zwei nur notdürftig miteinander verknüpfte Teile mag einen Grund auch für die Ablehnung des Werkes durch den Autor Hofmannsthal selbst und die Tatsache, daß dieser „Entwurf nicht weiter bearbeitet wurde, gebildet haben.
7.3 Die Leere des Begriffs: „Gerechtigkeit" Auch der Text „Gerechtigkeit" 13 zählt zu den frühesten Prosastücken Hofmannsthals (1893) und wurde gleichfalls erst nach dessen Tode veröffentlicht. 14 Dieses kurze, nur etwa zwei Seiten lange Werk ist sicherlich nicht mehr bloß als „Entwurf und auch nicht — wie es Hofmannsthal selbst bezeichnete — als „persönliche Anekdote in Märchenform" anzusehen. Das subjektiv beeindruckende Erlebnis wurde auf eine äußerst dichte Weise objektiver künstlerischer Ausdruck, weshalb es nur verwundern kann, daß dem Autor seine Schrift nicht zur Veröffentlichung geeignet schien. 15 Eine Fülle von Rekurrenzen und subtilster anaphorischer und kataphorischer Verweisungszusammenhänge konstituieren eine Textkohä-
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Ein Vorbild konnte Hofmannsthal nicht nur in der Tradition der Fabelliteratur insgesamt, sondern unmittelbar bei Turgenjew finden. Unter dessen späten Texten die als Prosagedichte bezeichnet werden, findet sich auch das kurze Werk „Eine Unterhaltung" (aus dem Jahre 1878) (Erzählungen 1857—1883/Gedichte in Prosa, S. 869 f.), in welchem sich zwei Berggipfel über die sie im Verlauf von Jahrtausenden umgebenden Ereignisse (auf kaum mehr als einer Seite) unterhalten. Die Fabel dient der Darstellung eines die Existenz des Menschen zum unbedeutenden Ereignis reduzierenden „natürlichen" Geschichtsverständnisses. Thematischer Verknüpfungspunkt und Vorbild im Hinblick auf Hofmannsthal ist die märchenhafte Lebendigkeit der Dinge, die über den Menschen richten. SW, Bd. 29, S. 2 2 8 - 2 3 0 . Erstdruck in: „Neue Freie Presse" v. 25. 12. 1929; erste Buchveröffentlichung in: „Loris. Die Prosa des jungen Hugo von Hofmannsthal", Berlin 1930. R. Tarots („Hugo von Hofmannsthal", S. 303) Urteil über eine vermeintliche „verkrampfte Allegorisierung" kann ich — aus Gründen, die die folgende Interpretation entwickeln wird — nicht zustimmen.
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renz, die sich von der in „Die Rose und der Schreibtisch" feststellbaren deutlich abhebt. „Ich saß mitten im Garten" (228, 25), so beginnt der Text, jedoch wird dann der Garten nicht vollständig beschrieben, sondern nur in einer vom Blickpunkt des Ichs seitwärts ausgehenden Richtung. Die perspektivisch eingeschränkte Deskription dieses Gartenteils verweist in ihrer Pretiösität schon kataphorisch auf das von dort her zu erwartende Besondere: Mittels einer großen Zahl von Farberwähnungen („blassgrün", Kontrast: „dunkelgrün" vs. „heller Frühlingshimmel", „rosenroth", 228, 26 — 30) und einer genauen Aufzählung von Einzelheiten (,Kiesweg zwischen Wiesen'; ,Lattenzaun vorm Frühlingshimmel', ,kleine Tür am Ende des Wegs', ,In der Luft Bienen vor den blühenden Pfirsichbäumen'; 228, 26 — 30) versucht der Erzähler ein Bild von der Schönheit der friihlingshaften (im Park künstlich bereiteten) NaturIdylle zu vermitteln. Dabei sind die innertextuellen Funktionen der Einzelelemente (als Teil der kohärenzstiftenden Rekurrenzen) bedeutsam: Die (dann aber weißen!) Blüten der hier angesprochenen „blühenden Pfirsichbäume" (228, 30) fallen später auf das Haar des Engels und nicht zufällig spielt dann das Kind mit „abgefallenen Blüthen" (229, 12—13). Natur, Kind und Engel werden so auf eine versteckte Weise schon durch eine derartige Textphorik miteinander verknüpft. Die Art und Weise dieser Beschreibungen ändert sich beim durch das Temporaladverb markierten Zeitwechsel zum besonderen Ereignis nicht. Alles wird weiterhin genau und der vom Betrachter erkennbaren Abfolge entsprechend beschrieben. Der Hund erscheint zuerst, also wird er als erster erwähnt (und mit immerhin vier genauen Deskriptionselementen bestimmt), dann wird beim Eintritt des Engels in den Garten nicht vergessen, mitzuteilen, daß dieser „das Thürchen hinter sich" (228, 33) zudrückt. Auch die Beschreibung des Engels geht nach einer allgemeineren Bezeichnung über zu einer ausführlichen Liste von Details, die sein Äußeres von den Füßen bis zum Kopf umfassen. Die Reihe preziöser Farbbenennungen wird in dieser Deskription gleichfalls fortgeführt: der Engel trägt einen „stahlblauen Panzer", auf welchem die Sonne spielt, und „weisse Blüthen" heben sich sanft von seinem „goldblonden Haar" ab, das jedoch wieder mit dem „smaragdgrünen Wams" harmoniert. Der Hund gehört zum Engel, ist diesem — wie es der Text explizit ausdrückt — in „Liebe" (229, 9) verbunden; auch diese Einheit von Engel und stummer Kreatur wird durch die Semantik der Rekurrenzen unterstützt: das Epitheton „zierlich" als adjektivische Ergänzung zur
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Rassebezeichnung des Hundes taucht bei der Beschreibung der Gangart des Engels als Adverb wieder auf, und insgesamt paßt das „hochbeinige zierliche Windspiel" zum Bild der „feine(n) schmächtige(n) Gestalt". Inwieweit diese detaillierte Beschreibungsweise bedeutsam ist nicht nur für das Objekt, sondern vor allem auch für das wahrnehmende Subjekt, wird deutlich nach einer auf das kurze Zwischenspiel des ersten Teiles des Dialogs zwischen Kind und Engel folgenden Ergänzung der rein deskriptiven Passagen. Während das Kind nur von den „schöne(n) Schuh" (229, 14) des Gottesboten spricht, heißt es darauf vom IchErzähler: „Jetzt sah ich: die Schuhe waren aus Goldstoff und irgendwelche rothe Blumen oder Früchte eingewebt." (229, 16 — 17) Das allgemeine Urteil des Kindes wird vom Erzähler zerlegt in der Nennung der Einzelsegmente Material und Farbe. Das Gespräch mit dem Kind ist viel mehr als nur retardierendes Vorspiel für dasjenige des Engels mit dem erzählenden Ich. Zunächst einmal dient es der Enttäuschung der Erwartung, welche in der vom Erzähler zuvor gestellten Frage ausgesprochen wird. Dabei ist es bedeutsam, daß es gerade dieses Kind ist, dem der Erzähler bei der Beschreibung des Gartens bisher doch keine Beachtung geschenkt hatte. Dieses Gespräch ist auch durch die Parallelität der Abfolgen, 1. Teil des Dialogs — Unterbrechung — 2. Teil des Dialogs, mittels Gleichstellung dem später folgenden gegenübergestellt. Die Oppositionssetzung beginnt schon bei der Weise der Annäherung: das Kind „wackelte jetzt auf den Engel zu" (229, 13), während die Erzählerfigur „grüssend den Hut" abnimmt und sich erhebt, also bei der Begegnung mit dem Engel in einer Weise höflicher Konvention reagiert. Während das Kind in seiner Hemmungsfreiheit den Gottesboten als erstes anspricht, wird dem Erzähler von diesem eine herausfordernde Frage gestellt. Ist es im ersten Gespräch der Engel, der dem Kind eine dessen Begriffsmöglichkeit entsprechende Legende erzählt, so wird dagegen im zweiten Dialog die richtige Antwortebene deutlich verfehlt. Auch der Schluß des zweiten Redeteils steht zu dem ersten bei Gleichstellung in einem Element (dem des abstrakten Urteils) in deutlicher Opposition: ist zuerst das Kind, welches seinen allgemeinen Eindruck abschließend — ohne sich von der Erzählung des Engels zu sehr beeindruckt zu zeigen und diese wohl nur als Bestätigung nehmend — noch einmal wiederholt, so ist das folgende Schlußwort dagegen dem Engel vorbehalten, welcher nun seinerseits in abstrakten Begriffen spricht, die den Erzähler nicht erreichen. Diese dezidierte Oppositionsstellung nötigt dazu, das zentrale, längere Reden über Berechtigkeit immer wieder vor der Folie des ersten Gesprächs zu lesen. Es zeigt sich auch die Eingeschränktheit der
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Perspektive des Erzählers, der in seiner Beurteilung dem Sprechen des Engels zu dem Kinde nur dadurch Gewicht verleihen kann, daß er noch hinter den Worten Verborgenes sucht. In Wahrheit — und für den Leser leicht durchschaubar — liegt die Bedeutung dagegen in dem Gelingen des Kommunizierens „mit einfachen Worten" (229, 26), das die harmonische Integration des Engels in das Naturbild durch die Offenheit gegenüber der kindlich-naiven Zuwendung erweitert zu dem Bild eines noch einheitlichen Weltzusammenhanges, in welchem die Dinge noch einen Namen, eine erzählbare Geschichte haben, Urteil und Wirklichkeit noch konfliktlos zusammengehören. Der Dialog zwischen Gottesboten und Ich-Erzähler gelingt dagegen nicht. Das mögliche Scheitern der Begegnung wird durch den Wechsel in der Erscheinung des nun nah gekommenen Engels für das Ich schon vorbereitet. Diesem bleibt der Eindruck „wundervoller Schönheit" (229, 31—32), doch insgesamt vollzieht sich ein Wandel zum Bedrohlichen. Als „streng", „hochmüthig, fast verächtlich" (229, 37 — 38) empfindet der Angesprochene den Ton des Fragenden. Die relativierenden Antworten, die das Ich nur zu geben vermag, entsprechen nicht dem in der Frage enthaltenen absoluten Anspruch: „ich versuchte ihn zu begreifen, aber es gelang mir nicht." (230, 6) Was nicht begriffen werden kann, ist der „lebendige Sinn des Wortes" (230, 7). Nach dem insistierenden Nachfragen des Engels steht das Ich bei dem Versuch, den Sinn des Begriffs zu erfassen, vor einer „leeren Wand" (230, 8). Für es hat „Gerechtigkeit" als Abstraktum keine zu sagende Bedeutung mehr, gerecht sein kann man nur bis zu einem gewissen Grade, unter bestimmten situationsgemäßen, zeitlich begrenzten Umständen, als vollkommen gerecht kann sich das Ich jedoch niemals selbstbewußt begreifen, allenfalls ahnen. Nur „manchmal" (230, 10) (und an dieser Stelle wird deutlich, wie der Ich-Erzähler hier „Gerechtigkeit" versteht) ist das Erzählersubjekt überzeugt, in einer liebenden Zuwendung zur Wirklichkeit jedem — Ding und Mensch — das Seine zu geben, alles in seiner eigenen Wahrheit erkennen zu können. Dies ist nun kein Bild mehr eines durch Gott garantierten Weltzusammenhanges, in welchem jedes Ding seinen eigenen Platz hat und somit in einer richtigen Schau desselben Gerechtigkeit widerfahren muß. Dem Engel als Gottesboten, der den Zweifel nicht kennt, muß die relativierende Antwort unverständlich sein. Der Erzähler notiert nun die als gesteigert empfundene Ablehnung, er fühlt sich verachtet, der Hochmut entstellt für ihn fast das schöne Gesicht des Engels („ein hochmütiges Lächeln verzog seine schmalen Lippen"; 230, 21).
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Obwohl sich in der Schilderung eine zunehmende Distanzierung ausdrückt, bleibt der Bericht persönlichen Versagens dominant. Das Ich sieht sich als „unfähig" und fühlt „ein vernichtendes Bewußtsein (seiner) Unzulänglichkeit", ja es errötet „vor Scham". Nur „Mitleid" (230, 20) wagt es allenfalls noch in dem Verhalten des Engels zu vermissen. Darin jedoch liegt genau sein Mißverstehen, denn jenes muß dem aus der fraglosen Gültigkeit absoluter Begriffe Denkenden fremd sein. Dessen Hochmut ist konsequent, denn die für seinen Hörer leeren Definitionen des Begriffs verstehen sich aus diesem selbst, ihr Aussprechen ist also eigentlich unnötige Herablassung des Redenden zum Nicht-Wissenden. Der letzte Satz des Engels benennt entlarvend die unüberbrückbare Differenz zwischen dem in der Ewigkeit Gottes Wohnenden und dem Irdischen, es ist eine Variation eines Wortes aus dem christlichen Evangelium (Joh, 8, 51): „Wenn einer auf mein Wort achtet, wird er den Tod nicht schauen in Ewigkeit." Nur wer des Glaubens gewiß ist, kann wirklich gerecht sein. Wem die Erkenntnis der Welt zweifelhaft wurde, dem sind die abstrakten Begriffe leer und können niemals mehr absolute Gültigkeit beanspruchen. Die den Text abschließende Schilderung des Abgangs des Engels ist zum einen eine Spiegelung des Berichts von seinem Erscheinen (dort „sprang" zuerst der Hund in den Garten, dann wurde der Engel sichtbar, nun verläßt der Engel diesen als erster und zuletzt — heißt es — „sprang" der Hund „in's Unsichtbare"; 230, 31), rundet damit das kurz auftauchende und schnell wieder verschwindende (Traum-) Bild des Engels ab — zum anderen führt diese Beschreibung noch einmal betont die dem Erzähler eigene Weise der Erfassung von Wirklichkeit durch die Nennung von Einzelheiten vor. 16 In Beschreibungsweise und Rede des Erzählers scheint damit schon eine Problematik auf, die Hugo von Hofmannsthal fast zehn Jahre später (1902) den „Lord Chandos" in dem berühmten Text „Ein B r i e f genauer formulieren läßt. In der sicher am häufigsten zitierten Stelle des „Chandos-Briefes" heißt es: Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. 17 16
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In bezug auf des Gartens andere Seite hören wir von der „Geißblattlaube" (230, 26) und der aus jenem herausführenden „Steintreppe" (230, 26—27); wichtiger ist die Tatsache, daß auch das Bild des Engels noch Ergänzungen erfahrt. Es werden nun auch noch die „dunkelgepanzerten Schultern" und das „smaragdgrüne Barett" (230, 28—29; vorher war vom „smaragdgrünen Wams" die Rede) zusätzlich erwähnt. G W (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 466.
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Bis zum Extrem fast vollkommener Sprachlosigkeit hat sich bei Chandos die Reaktion entwickelt, die beim Ich-Erzähler in „Gerechtigkeit" aus der Konfrontation mit dem abstrakt-absoluten (Moral-)Begriff sich einstellt: „die abstrakten Worte, deren sich die Zunge naturgemäß bedienen muß, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze." 18 Dies ist nur ein anderes Bild für die „leere Wand", von der schon im frühen Prosagedicht die Rede ist. So wie der Brief selbst als Ganzes gegenüber Chandos Aussage: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen" 19 , eine Art Relativierung in Richtung auf den Verbleib der Beschreibungsfahigkeit des Zustandes darstellt 20 , so müssen auch die Schilderungen des Ich-Erzählers in „Gerechtigkeit" nicht nur im oben ausgeführten Sinne (des Zerfalls der Wirklichkeit in Einzelheiten) gelesen, sondern es muß auch die Widerspiegelung und Erfassung der Schönheit der traumhaften Erscheinung in der Darstellung dieser Textpartien festgestellt werden. Diese dem Ich-Erzähler als Darstellungsleistung zugeschriebenen Passagen des Prosagedichts widerlegen seine durch die Erscheinung des Engels suggerierten Selbsteinschätzungen von purer „Unzulänglichkeit" (230, 17). Auch „Lord Chandos" spricht zwar von einer „Sonderbarkeit, eine(r) Unart, wenn Sie wollen eine(r) Krankheit" 21 seines Geistes, als er die Beschreibung seines Zustandes einleitet, später nennt er ihn eine „Anfechtung". 2 2 Aber er sucht die Gründe für seine Unfähigkeit, die Wirklichkeit weiter in einfachen Begriffen beschreiben zu können, nicht nur in seinem privaten Unvermögen, sondern in der Anlage der Realität selbst. „Bedenken" 23 und „Zorn" 2 4 kommen ihm bei der Erkenntnis, wie leichtfertig und oberflächlich allgemeine Urteile gefällt werden: „alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so
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GW (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 465. w GW (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 465. Ein Aphorismus Iwan S. Turgenjews, den Hofmannsthal aus der Lektüre von dessen Prosagedichten mit Sicherheit kennen mußte, umreißt prägnant diese Problematik: „Die Phrase. / Ich fürchte und vermeide Phrasen, doch ist die Angst davor bereits Pose. So rollt und schwankt zwischen diesen beiden Fremdwörtern, zwischen Pose und Phrase, unser kompliziertes Leben." (I. S. Turgenjew, Erzählungen 1857 — 83; Gedichte in Prosa, S. 929). Auch die künstlerisch-literarische Darstellung des Sprachverlustes trifft das „Pose-Verdikt" Turgenjews.
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GW GW 23 GW 24 GW 22
(TB-Ausg.), (TB-Ausg.), (TB-Ausg.), (TB-Ausg.),
„Erzählungen", „Erzählungen", „Erzählungen", „Erzählungen",
S. S. S. S.
462. 464. 465. 466.
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löchrig wie nur möglich." 25 Wogegen er sich wendet, das ist der „vereinfachende Blick der Gewohnheit" 26 , der nichts mehr von der Wirklichkeit erfaßt. 27 Dies geht weiter als die schwachen Anzeichen einer Skepsis gegenüber der Gestalt des Engels (und damit auch seiner Botschaft), die sich beim Ich-Erzähler finden lassen. Für die Figur selbst bleibt die Empfindung persönlichen Versagens bestimmend. Jedoch darf dabei nicht die Semantik der Traumstruktur insgesamt übersehen werden: Nur dem „Engel" des Traumes ist die Verknüpfung von Dingwelt mit dem Bereich abstrakter Kategorien noch möglich, und nur das Kind in seiner Naivität ohne kritischen Zweifel hat noch Zugang zur legendenhaften Welt des Glaubens, welche keinen Kontrastbereich darstellt zu seinem Spielen als noch bruchlosem Aufgehen in der harmonischen Natureinheit. 28 Dem erwachsenen Ich ist diese Einheit verlorengegangen, es kann nurmehr „so wenig vom Leben" (230, 9 — 10) ergreifen, und nur in seltenen Augenblicken ist eine Überwindung der Entfremdung und auch dann nur als verheißungsvolle Ahnung („denn mir ist dann, als könnte ich"; 230, 12) möglich. Kind und Engel können jedoch nur Mahnung, nicht Vorbild sein, das erstere wird seine aus der Naivität entspringende Lebensharmonie mit dem Erwachsenwerden verlieren, die Engelsfigur gehört in eine menschenferne transzendente Überwirklichkeit, auf die bloß im Traum ein Blick eröffnet wird (dem Erzähler bleibt nur die Schönheit der Erscheinung als Abbild des Ideals). Die Kluft zwischen diesen literarischen Phantasiebildern Hofmannsthals und den Darstellungen gemeiner Alltagserlebnisse in den Prosagedichten Altenbergs scheint sehr groß zu sein. Die Ergebnisse der Interpretation suggerieren jedoch zunächst die Möglichkeit eines Vergleichs: So drängt sich etwa der zwischen dem Umgang des „armen
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G W (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 466. G W (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 466. Doch ist das bloße genauer Hinsehen kein lebenstaugliches Gegenrezept, die notwendige Einheit der Realitätserfahrung zerrinnt in ein Chaos von Einzeldingen, denen man sprachlos ausgeliefert ist. Andererseits eröffnen sich „Chandos" später in der Isolierung der Einzelwahrnehmung als „fieberisches Denken" (GW, TB-Ausg., S. 471) Möglichkeiten „symbolischer" Wirklichkeitserfassungen, jenseits der gesprochenen Sprache. Auch dafür ist es bedeutsam, daß das Kind bei der ersten Erwähnung der „blaßgrünen Wiesen" noch nicht genannt wird; erst durch den „Engel" wird der Erzähler auf es aufmerksam, die Bedeutung des „Einfachen" existiert für ihn nur, wenn es im Blick des „Engels" auf „ganz etwas anderes" (229, 27—28) verweisen könnte.
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Mäderls" mit dem „blauen Ballon" („Im Volksgarten") 29 und dem Verhalten der Erzählerfigur bei der Begegnung mit dem „Engel" auf. In beiden Fällen handelt es sich um Symbole einer anderen Seinsmöglichkeit. Die Enttäuschung gerade in der Erfüllung des Begehrens ist für beide Figuren der Texte gleichermaßen gültig, ganz anders jedoch die Motivation des Versagens. Was bei Altenberg eindeutig als von den Sozialbedingungen abhängig gezeigt wird, wird bei Hofmannsthal viel stärker als individuell privates Scheitern begriffen (in dieser Weise nicht mehr im „Chandos-Brief'). Die Möglichkeit der Uberwindung von Entfremdung, den Dingen gerecht zu werden, erhält sich in der Form der Erinnerung an das Verpaßte beim Sehnsuchtsbild am Schluß von „Im Volksgarten" und vergleichbar bei dem Versuch des Betrachters aus „Gerechtigkeit", sich nichts von der „ruckweise" (230, 27) verschwindenden Gestalt des schönen „Engels" entgehen zu lassen. Wie in „Wie Wunderbar" Altenbergs 30 wird dargestellt, daß die künstlerische Beschreibung als Element der semantischen Strukturebene des Textes Erinnerungsarbeit zu leisten hat, daß in ihr versucht wird (als Handlung der Figur!), die Gestalt vor ihrem Verschwinden „ins Unsichtbare" noch im Bild festzuhalten. Bei dieser Konstruktion von Relationen zwischen den Werken dürfen die Unterschiede der Darstellungsform nicht verwischt werden, die jedoch die Differenzen zwischen diesem Text Hofmannsthals und den genannten Beispielen der Prosalyrik Altenbergs als gravierend erscheinen lassen. In „Gerechtigkeit" ist die minutiöse Aufzählung von Details bei der Deskription bestimmendes Strukturprinzip, bei „Im Volksgarten" und „Wie Wunderbar" gerade das betonte Auslassen derselben. In dem Werk Hofmannsthals verweist die Ausführlichkeit der Schilderung auf das, was nicht gesagt werden kann, während bei Altenberg der Versuch einer weiter ausgeführten Beschreibung der Bilder nicht entfremdeter Erfahrungsmöglichkeiten unterbleibt und gerade in der Negativität des nur bruchstückhaft möglichen positiven Sprechens den Sätzen ein Moment von Hoffnung eingeschrieben werden kann. In „Gerechtigkeit" ist ein Begriff, bzw. das Problematischwerden eines Begriffes Gegenstand des narrativen Diskurses, welcher als „allegorisierend" bezeichnet werden kann (die Transponierung auf die Ebene traumhafter Vorstellung ist nur eine besondere Ausformung dieser in einem allgemeineren Sinne zu verstehenden Darstellungsform). Ein in „Die Rose Vgl. S. 46 dieser Arbeit. 30 Vgl. S. 54 ff. dieser Arbeit. 29
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und der Schreibtisch" schon angedeutetes Darstellungsinteresse hat sich hier in voller Eindeutigkeit durchgesetzt (und zwar gegen das im ersten Teil des frühesten Prosagedichts noch gleichfalls skizzierte). Auch wenn bei Hofmannsthal gerade über den Sprachverlust gesprochen wird, so ist dieses Erzählen doch dabei äußerst „beredt", der Darstellung des „Bruchs im Denken" eignet eine gegen das Experiment der offenen Form gerichtete strenge Geschlossenheit. Bis auf die Kürze des Textes, die Applizierung bestimmter literarischer Verfahren (Pretiösität der Deskriptionselemente, Häufigkeit der Rekurrenzen) hat dieses Werk Hofmannsthals wenig mit der ungefähr gleichzeitig entstehenden literarischen Produktion Altenbergs gemein und muß als erstes abgeschlossenes Werk eines davon unabhängigen Versuchs gesehen werden, der für sich die Entwicklung einer Form deutschsprachiger Kurzprosa in Angriff nimmt.
7.4 Fortuna: „Das Glück am Weg" Auf die Unsicherheit in der Gattungszuordnung von „Das Glück am Weg 31 " wurde bereits hingewiesen. 32 Hofmannsthals eigene Bezeichnung des Textes als „allegorische Novelette" 3 3 ist dabei äußerst aufschlußreich; sie weist schon darauf hin, daß diese Prosa sich zunächst den Anschein gibt, zu erzählen, um sich dann am Schluß des Textes eindeutig als allegorisierende Darstellung des Begriffs zu zeigen. Wenn am Ende das Schiff selbst den Namen des begrifflichen Zusammenhangs („Fortune" = Glück/Schicksal) erhält, um den sich das gesamte von der Erscheinung aufgeregte Denken des Erzähler-Ichs dreht, gibt es keinen Zweifel mehr über den abhängigen Status des Erzählten als Verbildlichung des Abstraktums. Dies hat seine Auswirkungen auf den Realitätsbezug der fiktiven literarischen Wirklichkeit. Zwar wird das Kriterium der Wahrscheinlichkeit zu Beginn des Textes noch ins Spiel gebracht: „So war es wohl nur Täuschung, daß ich den Duft zu spüren glaubte." (SW, 7, 10—11), aber dies dient gerade dazu, auf den kontingenten Charakter des äußeren Geschehens hinzuweisen. Dieses ist nurmehr der zufällige Anlaß für das wichtigere innere Erzählgeschehen der den Vorstellungen, Phantasien und Reflexionen des Ichs zugeschriebenen Textpassagen. Zufällig, aber dennoch notwen31 32 33
SW, Bd. 28, S. 5 - 1 1 . Vgl. S. 140 dieser Arbeit. Brief V. 12. 6. 1893 an Marie Herzfeld (zit. in: SW, Bd. 29, S. 193).
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dig ist die sinnliche Wahrnehmung und sei es als im Augenblick bloß erinnernd imaginierte, die dann als solche auch die unmittelbar gegebenen Apperzeptionen dominieren kann: „Das alles sah ich jetzt scharf und springend, weil es verschwunden war." (SW, 7, 6 — 7) Die lineare Abfolge der Erscheinungs- und Vorstellungsbilder wird immer wieder durch die Verweisungen signifikanter Rekurrenzen durchbrochen, die neue Vergleichsebenen konstituieren und auf diese Weise auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft stehende Textabschnitte aufeinander sich beziehen lassen. Somit ist auch das Zitieren des Mythos vom Bild seiner Aufhebung her nicht mit der Erscheinung der „Delphine" (SW, 7, 13) zu verknüpfen (dies geschieht ja explizit durch den Erzähler: „Jetzt hätte es dort . . . " ; SW, 7, 17), sondern bedeutend wird gerade die Beziehung auf die Vorstellung der längst entschwundenen Landschaft zu Beginn des Textes. Im ersten Abschnitt heißt es: Aber der W i n d ging ja landwärts, s c h w ä r z l i c h r i e s e l n d lief er über die glatte, weinfarbene Fläche landwärts. (SW, 7, 9 - 1 0 )
Und nach dem Ende des Neptun-Bildes: Über das leere, glänzende Meer l i e f s c h w ä r z l i c h r i e s e l n d der leise W i n d . (SW, 7, 2 8 - 2 9 )
Von dem Vergleichspunkt her, auf welchen diese rekurrierenden Textelemente aufmerksam machen, scheinen Landschafts- und MythosImagination nicht mehr so weit voneinander entfernt zu sein. Beide sind identisch in ihrer vor der faktischen Naturerfahrung aufscheinenden Nichtexistenz. Nach kurzer Loslösung von den Grenzbedingungen der Wirklichkeit im Raum purer Phantasie wird das Ich wieder in die Leere seiner Wahrnehmungen zurückgeworfen (der „Fleck", 7, 15, den die „Delphine" leer zurücklassen, kann nicht von „Neptun im Muschelwagen" ausgefüllt werden). In bezug auf die Sehnsucht des Erzähler-Ichs ist es sicher richtig, in diesem Zusammenhang von dem ihm „nun gemäße(n) Bereich" 34 zu sprechen, doch diese mythische Realitätssicht wird eindeutig durch den Beginn des folgenden Abschnitts korrigiert. Die „mythische Seinsweise" 35 wird hier noch als bloßes „Bildungsrequisit" 36 entlarvt: Auch der Mythos bedarf der Verankerung in der Realität. 34 35 36
R. Tarot, Hugo von Hofmannsthal, S. 304. R. Tarot, Hugo von Hofmannsthal, S. 304. Wenn man die Korrekturen der Textverweisungen berücksichtigt, muß man — gegen
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So erscheint das Wort „Fleck" erst wieder im Kontext des ersten Erblickens des Schiffes als „winziger schwarzer Fleck" (8, 2) und zugespitzt als vom „Fernglas" herangeholter „bestimmte(r) runde(r) Fleck" (8, 9). Das Auftauchen des Schiffes wird zurückgebunden an das der Delphine, beides wird als reale Wahrnehmung kenntlich gemacht. Im Unterschied jedoch zum ungefragten Erscheinen des Naturschönen wird mit dem betonten Hinweis auf die Benutzung des „Fernglases" (vgl. 8, 8 — 9) auf das künstlich gesteigerte der Sicht des Schiffes gezeigt. Dies wird noch deutlicher, wenn das Ich seine Verlegenheit wegen des Anstarrens einer fremden Person schließlich überwindet, indem es feststellt, „daß sie ja weit war, dem freien Auge nichts als ein lichter Punkt zwischen braunen Planken" (8, 29 — 30). Die Deskription des „runden Flecks" im „Femglas" liest sich wie die Beschreibung eines Gemäldes (oder einer Photographie), das Portrait einer „blonde(n) junge(n) Dame" (8, 19), die sich im Zentrum des Bildes befindet. In diesem Zusammenhang weist der Betrachter darauf hin, daß er „alles ganz deutlich" (8, 19) sehe; es ist dies nicht das einzige Mal, daß der Erzähler die Weise seiner Wahrnehmung kommentiert. Den gesamten Text durchzieht eine Art Metadiskurs, der die spezifischen Modalitäten der einzelnen Bewußtseinsakte — sowohl der sinnlichen Wahrnehmung als auch des Denkens — immer wieder kommentierend benennt. Es handelt sich hier um vom Erzähler selbst gelieferte Verstehensangebote, Selbstinterpretationen der Figur, aber auch um Irritationen des durch die Deskriptionen gegebenen Eindrucks. 37 Darüber hinaus bilden jene Erzählerbemerkungen zusammen mit den Angaben über die Bewegungen der Schiffe im Raum, die jeweils bestimmte Zeitpunkte markieren, einen ordnenden Rahmentext zum Haupttext der inneren Reflexionen, vergleichbar den Regiebemerkungen des Dramas. Wenn der Erzähler das zweite Mal das Fernglas auf sein Gegenüber richtet, wird damit nicht ein Hinweis auf das künstlich gesteigerte der Wahrnehmung gegeben, sondern der Kommentar macht auch deutlich, wie sehr sich das Ich schon ablöst von der realen Wahrnehmung in Richtung auf von dieser nurmehr veranlaßte Vorstellungsbereiche: Ging es zuvor um das deutliche Erkennen der Gegenstände, so kommt dem
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Tarots Interpretation (Hugo von Hofmannsthal, S. 303 f.) — zwischen vollkommen von der Realitätswahrnehmung abgetrennter und von dieser veranlaßter Vorstellung differenzieren. So im eben erwähnten Fall, wenn der Eindruck der Künstlichkeit des Bildes durch die Betonung des exakten Sehens wieder eingeschränkt wird.
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Ich der Gedanke, „daß sie sehr schön war, und daß ich sie kannte", durch intiutiv, „in dem Augenblick" (8, 32 — 34) gegebenes Wissen. So kann dann der Versuch „schärfer zu denken" (8, 35) auch nicht mehr von der Dame erfassen, sondern führt im Gegenteil zu größerer Distanzsetzung, sie wird zu „diese(r) Gestalt da drüben" (9, 7 — 8). Zwar handelt es sich auch hier um blitzartig erscheinende und wieder vergehende „Bilder" (9, 7 und rekurrierend in 9, 11), es sind jedoch noch Vorstellungen bestimmter Ereignisse, Erinnerungsversuche an mögliche konkrete Begegnungen. Die Annäherung kann nur wieder auf eine von der faktenbezogenen Erinnerung losgelöste Weise glücken, die Frauengestalt wird dem Erzähler um so vertrauter, je mehr sie sich für ihn auflöst in einen behaupteten gemeinsamen Gehalt bestimmter Erfahrungsinhalte, einer allgemein-unbestimmten Erkenntnis von Welt (in der Rezeption von Musik, Naturschönem oder Dichtung). So wird die Figur Verkörperung der Erkenntnissehnsucht und aller „heimlichen Wünsche" (9, 28) des Ichs: „in ihrer Gegenwart lag etwas, das allem einen Sinn gab" (9, 29-30). Wurde schon zuvor im Text gesagt, daß das schärfere Denken die Gegenstände nicht näher bringt, so formuliert der Erzähler nun nochmals abschließend pointiert: „Solche Dinge begreift man nicht, man weiß sie plötzlich." (9, 31) Was nicht zu begreifen ist, läßt sich schwer nur sagen. „Alle diese Dinge dachte ich nicht deutlich, ich schaute sie nur in einer fließenden, vagen Bildersprache." (9, 38 — 39) Dieser Erzählerkommentar gibt zu den Vorstellungsdeskriptionen wohl kaum etwas Neues kund, er kann nur als Hinweis darauf sinnvoll zu verstehen sein, sich an dieser Stelle des Textes die spezifische Form des beschreibenden Sprechens zu vergegenwärtigen (dem Metadiskurs ist in diesem Sinne auch eine rezeptionssteuernde Funktion zuzuweisen). Dies betrifft das erinnernde Reden von „all dem" Vergangenen, in welchem „das Phantasma ihres Wesens gelegen" (9, 26 — 27), und das antizipierende Benennen des von der Normalsprache unterschiedenen Sprechens, dessen das Ich als der mit dem Gegenüber gemäßen Kommunikationsform sich gewiß ist („ich wußte, daß ich mit ihr eine besondere Sprache reden würde"; 9, 32—33). Es handelt sich hier um zwei Aspekte des gleichen Sachverhalts; im vorderen Absatz wird die Rezeptionsseite („hatte mir von ihr geredet") und im darauffolgenden die produktive Seite der „besonderen Sprache" angedeutet. 38 So wie der Parallelismus 38
Auch die Wortrekurrenz verweist auf den Zusammenhang dieser beiden Passagen: (9, 23) „gewisse seltsame Stellen . . . " (9, 36) „gewisse seltsame Saitensysteme".
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Die Prosagedichte H u g o von Hofmannsthals
(vgl. 9, 19, 22, 23) in sich keine Entwicklung der Teilsätze hin zu einer Monosemierung des Denotats enthält, so ist auch am Ende der Deskription der zukünftig möglichen Rede nicht klarer, was denn damit gemeint sein könnte. Die Komparation der Adjektive verweist negativ auf die intendierte Distanz zum Herkömmlichen, jedoch läßt sich das aus der Antithese („leichtsinniger, beflügelter, freier" vs. „eindringlicher, feierlicher"; 9, 34 — 36) resultierende Paradox zu keiner Eindeutigkeit auflösen. In beiden Fällen wird sehr beredt über etwas gesprochen, ohne daß wirklich positiv etwas darüber ausgesagt würde: Das wortreiche Benennen dient dem Schweigen über das, was nicht einfach mehr sich darstellen läßt. Aber dies ist nicht Ausdruck der Hilflosigkeit, sondern auch Notlösung des Subjekts, von dem doch reden zu dürfen, was es noch nicht oder nicht mehr besitzt. Im Folgenden wird jedoch die selbstauferlegte Zurückhaltung in der Darstellung tendenziell wieder verlassen. Dies wird auffallig markiert, wenn nun nach langer Zeit 39 erstmalig wieder der äußere Raum erwähnt wird: In dem Augenblick war uns das Schiff recht nah; näher würde es wohl kaum kommen. (10, 1 - 2 )
Die höchste Annäherung der beiden Schiffe signalisiert auch die größtmögliche Annäherung des Subjekts an den Gegenstand seiner Imaginationen. Hier nun fällt das Wort für den Begriff, das — schon im Titel enthalten — im voraufgehenden Kontext stets mit angesprochen, jedoch bisher noch nicht ausgesprochen worden war: In dieser kleinen Pose lag für mich eine Unendlichkeit von Dingen ausgedrückt: eine ganz bestimmte Art, ernsthaft, zufrieden und in Schönheit g l ü c k l i c h zu sein; ganz bestimmte graziöse, freie, wohltuende Lebensverhältnisse und vor allem mein G l ü c k lag darin ausgedrückt, die Bürgschaft meines tiefen, stillen, fraglosen G l ü c k e s . (10, 1 6 - 2 1 ) (Hervorh. von mir, S. N.)
„Diese kleine Pose" meint eine zuvor im Text genau beschriebene Gebärde der Frau gegenüber dem Mann, die sich das Erzähler-Ich in dieser festgelegten Form und an einem bestimmten Ort 4 0 vorstellt. Im
39 40
Während das erste Adjektiv sich über den gesamten Text verteilt finden läßt, erscheint „seltsam" nur an diesen beiden Stellen. Vgl. 8, 3 - 1 0 . (10, 5 — 6) „in einer kleinen Strandvilla in Antibes (ganz ohne G r u n d dachte ich gerade Antibes)": damit wird der Leser gerade zur Spekulation über den Ort genötigt. Ein simpler G r u n d liegt schon einmal darin, daß das Ich sich gerade von der französischen Südküste entfernt (wo Antibes liegt) und die D a m e sich dieser zubewegt. Eine weit spekulativere, aber allein dem bestimmten Namen Bedeutung verlei-
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Konjunktiv gelingt die Erfassung der Realität bis hin zu den kleinsten Details, die Selbstsuggestion führt jetzt erst zur fast vollkommenen Austauschbarkeit der Wahrnehmungsebenen („und mir war, als wüßte ich ganz genau, das würde hundertmal geschehen, ja beinahe, als wäre es schon geschehen . . . " ; 10, 8—9), in zwei Schritten wird das Konjunktiv in eine indikativische Aussageform verwandelt 41 , wird das, was nach der Vorstellung des Ichs „sein würde", zur einzig ihm „Glück" garantierenden „Bürgschaft". Hiermit hat nun die innere Reflexion ihren Zielpunkt erreicht, in sich als wirklich setzender Vorstellung gelingt die Verbindung des Abstraktums mit dem bestimmten Erfahrungsgehalt. Doch die trügerische Unzulässigkeit dieser Identitätsfindung wird im Text anhand der Konfrontation mit dem, was als faktische Realität ausgewiesen wird, unmittelbar danach vorgeführt. Gerade in dem Moment, als eine Verknüpfung von Phantasie und Realität für das Subjekt greifbar wird (das Du zum erstenmal an der Kommunikation sich zu beteiligen scheint) 42 , markiert wiederum die Veränderung auf der räumlichen Ebene den Wechsel für die innere Befindlichkeit des Ichs. Die zeitlose Sicherheit der Vorstellungsketten wird durch das Erkennen der Vergänglichkeit jedweder Erfahrung nichtig, die Zerstörung der Illusion stößt das Subjekt selbst ins Nichts: es war einfach, als glitte dort mein Leben selbst weg, alles Sein und alle Erinnerung, und zöge langsam, lautlos gleitend seine tiefen, langen Wurzeln aus meiner schwindelnden Seele, nichts zurücklassend als unendliche, blöde Leere. (10, 2 8 - 3 1 )
Das Erzähler-Ich degeneriert zum seelenlosen Registrator („stumpf, gedankenlos, aufmerksam"; 10, 33) der äußerlichen Vorgänge, in genau der gleichen Weise wie in „Gerechtigkeit" wird das Verschwinden der Erscheinung minutiös — als sollte ihr Aufenthalt dadurch künstlich verlängert werden — beschrieben (vgl. 10, 35 — 38).
41
42
hende (somit erscheint sie mir erwähnenswert) Begründung für die Nennung des Ortes kann dem historischen Wissen um ihn als dem Platz, an welchem Napoleon bei seiner Rückkehr von Elba am 1. 3. 1 8 1 5 landete, gefunden werden. Antibes erhielte somit einen zweideutig allegorischen Sinn, der in seinem Bezug auf ,Glück/ Schicksal' dem am Schluß des Textes erwähnten Namen des Schiffes entspräche. Zunächst wird das K o n j . Futur transformiert zu einer Form „gnomischen Präsens" (vgl. dazu: G. Steinberg, Erlebte Rede, S. 225 f.), in der exkursartig über die Semantik der stummen Gebärdensprache allgemein nachgedacht wird; erst nachdem somit die Gestik allgemein als bedeutende, also theoretisch als Faktum festgestellt wurde, kann nun „diese kleine Pose" wiederaufgegriffen und v o r diesem Hintergrund als gleichberechtigt Gegebenes behandelt werden. Vgl. 10, 24—25; wichtig scheint mir hier die Tatsache der Geste als solcher (nicht die in ihr zu vermutende Ablehnung).
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
Der Meinung R. Tarots 43 , daß die Verbindung von Glück und Schicksal in einem begrifflichen Zusammenhang („La Fortune") unmittelbar auf einen Aspekt von Hoffnung am Schluß des Textes verweise, kann ich mich nicht anschließen. Gerade, daß dieser umfassendere Begriff in einer unlöslichen Verbindung mit dem Stoff steht, gibt einen Hinweis auf die Rolle der raum-zeitlichen Strukturebene, die in den Bewegungen des Schiffes sich manifestiert. Diese ist im Text semantisiert im Sinne eines Korrektivs für das naive Vertrauen des Subjekts an die Herstellbarkeit und Konstanz des Zugangs zu einer Erfahrung von Glück. Glück als Schicksal ist auf den herbeizurufenden, aber zu ergreifenden Augenblick mit seiner Vergänglichkeit verwiesen. 7.5 Rollenlyrik: „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme" Die Prosagedichte „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme" und „Betrachtung" stammen aus den Jahren 1898 oder 189944 und bilden den Abschluß einer mehr als ein halbes Jahrzehnt dauernden Bemühung um diese Form. Es ist eine ganze Reihe von Entwürfen und Projekten, kurzen Notizen zu Prosagedichten aus diesem gesamten Zeitraum zu verzeichnen, doch kaum eine Handvoll fertiger Produkte gingen daraus hervor. Dieses unübersehbare Mißverhältnis ist ein deutlicher Hinweis auf die Schwierigkeiten, vor die das Schreiben in der Form lyrischer Kurzprosa Hofmannsthal offensichtlich stellte. Bis circa 1916 scheint diese Art literarischer Produktion — wie insgesamt auch die Verslyrik im Werk Hofmannsthal fast verschwand — vollends aufgegeben worden zu sein, und erst in diesem Jahre findet sich wieder ein Prosagedichtentwurf („Begegnungen"), dann dauert es nochmals ganze acht Jahre (bis 1924) bis überraschenderweise ein letztes vollendetes Werk in Prosagedichtform erscheint („Erinnerung"). „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme" 45 versucht die Darstellungsmuster des Rollengedichts und das der Fabel miteinander zu kombinieren. Als Ergebnis gibt es weder die der Figur unterlegte IchReflexion, noch ein Erzählen mit den Konstanten schon vollkommen durch die Tradition festgelegter anthropomorphisierter Tiercharaktere. Statt dessen findet sich eine monologische Aussprache der Tierfiguren über ihren eigenen — noch nicht als fixierten (nur für den zweiten Teil 43 44 45
R. Tarot, Hugo von Hofmannsthal, S. 305. Vgl. SW, Bd. 29, S. 405. SW, Bd. 29, S. 240.
Rollenlyrik: „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme"
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des Gedichts schon vorgeprägten) literarischen Topos zu rezipierenden — „Charakter". Die Differenzierung im Numerus der als Subjekte der Rede fungierenden Personalpronomina liefert einen grundlegenden Hinweis für das Verständnis dieses Textes. Die „Muscheln" sprechen in der ersten Person pluralis über ein kollektives Schicksal, welches gerade darin besteht, daß jede einzeln für sich es zu ertragen hat (und hier lautet der Titel: „Geschöpf der Fluth"). Dagegen redet über sein eigenstes Verhältnis zur „Flamme", von der doch gesagt wird, daß „alle" als deren „Ausgeburten" (240, 10) ihr zuzuordnen seien (und hier heißt es dann: „Geschöpfe der Flamme"), der „Schmetterling" im Singular. Für diejenigen, deren Leben nur darin besteht, „den Wogen zu widerstehen" (240, 7), immer nur dem standzuhalten, was als „Schicksal" (240, 7) unvermeidbar zu sein scheint, gibt es keine Individualität. Alleinsein bedeutet hier nur Vereinzelung, nicht Unabhängigkeit von den abgetrennten Gleichen. Für sie, die „unten" jeder für sich, aber alle das gleiche Leiden erfahren, gibt es keine solidarische Gemeinsamkeit, keine „verschlungenen Hände" (240, 5): „wir sind allein und können uns nicht berühren" (240, 5 — 6). Demjenigen jedoch, der dem Urgrund des Lebens und des Todes: der Flamme in der „Intensität des kurzen Lebens" (240, 11) am nächsten ist, kommt ein individuelles Selbstbewußtsein zu. 46 Oppositionen verknüpfen den ersten und zweiten Textteil eng miteinander: Die „Muscheln" sind „im Dunkeln" (240, 4), das Leben des „Schmetterlings" ist „zittern im Licht" (240, 13), diese „leben" sich „aus" (240, 6), jener lebt nur kurz und intensiv. Der Passivität des bloßen Widerstands steht das aufgeregte „Zittern", „Hinzucken" und Flattern entgegen. Beiden eignet ein gewisser Heroismus: während die „Muscheln" „werden" (240, 7) und ihnen mit der Dauer des Aushaltens der Ausdruck von „Triumph und Qual" (240, 7 — 8) aufgeprägt wird (wenn auch als ein vergänglicher: der „Reflex des Herbstes und der Sonne"; 240, 8, vergeht mit diesen Färb- und Lichtspendern), ist dagegen der „Schmetterling" in der starken Bedrohung seiner „Gebrechlichkeit" (240, 12) „stolz, grausam und dämo-
46
Das literaturhistorische Vorbild ist als wirkende Folie hier zu auffällig, als daß nicht zumindest zitatweise darauf hingewiesen werden müßte. Der Bezug der oben angesprochenen Textzeilen zu Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht" wird schon durch das Zitieren zweier Verse daraus deutlich: „Das Lebendige will ich preisen / Das nach Flammentod sich sehnt." (J. W. v. Goethe, Berliner Ausgabe, Poetische Werke, Bd. 3: West-östlicher Divan, S. 22).
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
nisch" (240, 14). Dieser — in Beweglichkeit und Farbe höchster Ausdruck des Lebens — ist doch zugleich schon von ihm getrennt. Denn die Lippen der Liebenden sind nicht mehr unterschieden von der tödlichen Wunde, die Liebe als Lebensprinzip wendet sich dem Tod zu: „ich liebe meinen Tod die Flamme über alles" (240, 16). Der Einzelne in seinem höchsten Selbstgenuß ist schon ein Verfallener, die vielen „sind allein", ihr Ausleben ist nur ein Ertragen des Verhängnisses, für beide gibt es kein Glück, höchstens „Triumph" im Leiden oder Stolz als Todgeweihter. Eine Interpretation, die die literarischen Typisierungen unvermittelt Ordnungskategorien anderer Wirklichkeitsmodelle zuordnet, soll vermieden werden (obwohl sich direkte Übertragungen, etwa in der Weise: „Muscheln" = Volk; „Schmetterling" = Held, aufdrängen). Statt dessen muß hier zuletzt auf das bedeutungstragende Strukturelement aufmerksam gemacht werden, das den Charakter- und Situationsbeschreibungen das Moment der „Unentrinnbarkeit" einschreibt. Es handelt sich hier um die Grenzen, die der gewählten Darstellungsform immanent sind. Daß menschliche Rollen durch Tierfiguren zur Aussprache kommen, hat wichtige Konsequenzen für den Gehalt des Textes. Den Tierfiguren ist als Geschöpfen vom Creator jenes unveränderliche Schicksal bestimmt, das zu werden, was sie nach seinem Willen sind. Ist der Schöpfer jedoch die Gesellschaft, so wäre es erst Überwindung der Affirmation, wenn gegen ihn rebelliert würde. Eine Darstellung, die als Sozialverhältnisse zu interpretierende Zusammenhänge beschreibt im Bild von der Unveränderlichkeit von Naturgesetzen unterworfenen Vorgängen, betrügt über das Gemachte, Hergestellte des menschlichen Leidens. Dann erweist sich die Kombination von Fabel und Rollengedicht als fatal.
7.6 Verdinglichte Identität: „Betrachtung" Das Prosagedicht „Betrachtung" 47 weist eine Amplifikation des Rekurrenzprinzips auf, die eine auffallige „lyrische Überstrukturiertheit" konstituiert. Schon allein die Präsenz des Pronomens der ersten Person singularis in jedem Teilsatz genügt als wirksames kohärenzstiftendes Element. Die ersten neun der insgesamt elf Textzeilen sind zu der 47
SW. Bd. 29, S. 240.
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Verdinglichte Identität: „Betrachtung"
Einheit eines hypotaktischen Satzgefüges verknüpft, in dessen Zusammenhang die dreimal rekurrierende Konjunktion („Da") einen syntaktischen Parallelismus herstellt. Darüber hinaus findet sich auf der phonologischen Strukturebene gesteigerte Assonanzrekurrenz, die durch eine Kombination mit Alliterationsfallen (z. B. „l/^rgleichung mit der
Vergangenheit";
Mu schein")
„Strahlen
der Sterne
...
und im Dunke/n von
deutlich konzentriert gegen Ende des Satzes („de nk ich
Dein und Deiner Küsse wie ein Wauchgewordener,
¥>aumgewordener des
Au genblicks") für den Text noch signifikanter wird. Diese Rhythmisierung ist jedoch nicht funktionslose Artistik, sondern kann nach ihrer Bedeutung befragt werden. Der syntaktische Parallelismus nötigt zum Vergleich der durch die konstant gehaltene Konjunktion eingeleiteten Nebensätze. Dazu muß zunächst jedoch die Wortsemantik von „da" selbst klar sein. Die Verknüpfung mit dem schlußfolgernden „so" des Folgesatzes schließt einen „neutralen" temporalen Sinn zunächst scheinbar aus, jedoch findet sich dort auch für eine etwaige direkte Kausalkette kein auffälliges unmittelbar verweisendes Textelement. Die Konditionalfunktion der Konjunktion kann vorerst hypostasiert werden, ihr genauer Sinn ergibt sich erst aus dem Rückschluß von einer exakteren Analyse der Teilsätze her. Bei dem Vergleich der Semantik der Teilsätze erweist sich das erste Merkmal,unsicher' als für alle Folgesätze (in einer — bei Annahme einer semantischen Hierarchie vertretbaren — Reduzierung ihres spezifischen semantischen Gehalts) der Parallelstruktur gültig. Unsicherheit ist das Vergleichbare der verschiedenen hier beschriebenen Stimmungen, Bewußtseinsinhalte des redenden Ichs, ist die unspezifische Subjekteigenschaft, die durch das Folgende genauer erfaßt wird. Als Textsegment hat sie so auf der syntagmatischen Ebene — etwa in der Weise eines Titels — kataphorische Verweisungsfunktion, und andererseits wird von den folgenden Kontextelementen immer wieder auf dieses Wort verwiesen als sammelnder Oberbegriff. Im einzelnen geht es um sehr Verschiedenes, dessen Darstellung bestimmt wird durch eine Pretiösität der Metaphern bzw. Vergleiche und durch verschachtelte Antithesen. In allen Fällen wird die Unmöglichkeit eines „mittleren", unkomplizierten Realitätszuganges beschrieben: die Erinnerung verstellt die Erfahrung der Gegenwart (diese wird „durchsichtig", 240, 20); das Alleinsein bedeutet für das Ich entweder erleuchtende Beziehung zum Fernsten (hier ist die Opposition zur paradigmatischen, extratextuellen Reihe zu konstruieren: „Sterne" vs. Sonne) oder das gegenteilige Extrem der
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
totalen Finsternis (die im Bild des Meeresbodens ausgedrückt wird) 48 ; dieses mittels der Antithese als in sich schon problematisch gekennzeichnete Alleinsein wird nun im angeschlossenen Syntagma ergänzt durch den Gegensatz des In-der-Menge-Seins, welches dem Ich nur Angst erzeugt vor den nicht näher definierten Ansprüchen der anderen. 49 Die Semantik des „unter vielen" erhellt sich gleichfalls erst durch die Oppositionssetzung .allein vs. viele vs. einige (zu zweit)', durch deren im Text ausgespartes drittes Glied schon auf das Spätere vorverwiesen wird. Auch in der letzten Antithese geht es um den Widerspruch des Einzelnen gegenüber den Vielen, um die magische Gewalt („Rauch aus Zauberkräutern"; 240, 24), die „ein Wort" (240, 23) über das Ich ausübt einerseits, und um die zwischen den Extremen „unheimlich" vs. „offen" (240, 2 4 - 2 5 ) schwankenden „Gedichte" (240, 24) des lyrischen Ichs andererseits. 50 In dieser Antithese des Teilsatzes insgesamt wird die Verschachtelung des vorigen gespiegelt: dort enthielt das erste Glied der Antithese in sich nochmals eine weitere, hier findet sich die gleiche kunstvolle rhetorische Figur in umgekehrter Folge. Die Partikel „so" leitet das die lange Satzkonstruktion abschließende Syntagma ein, welches nicht nur als Zielpunkt des voraufgehenden Kontextes zu lesen ist, sondern durch die schon zuvor aufgezeigte Konzentration von Assonanzen als Höhepunkt des Textes insgesamt herausgestellt wird. Erst hier erscheint ein „Du" des Gedichts, es kommt jedoch nur in Betracht, insoweit es die Wirklichkeitserfassung des Ichs verändert. Darin besteht aber der entscheidende Kontrast zum Vorhergehenden: in dem Kontakt mit dem Du erinnert sich das Ich als ein in der Gegenwart lebendes, das in der Umarmung der Geliebten sein problematisches Identitätsbewußtsein verliert in der Auflösung der Subjektssubstanz selbst und im bloßen, aber festgegründeten Existieren („Hauchgewordener" vs. „Baumgewordener"; 240, 26). Das „so denk ich . . . " (240, 25) betont dabei explizit im Text eine Bewußtheit des Ichs darüber, daß auch die höchste mögliche Form der Gegenwärtigkeit nur in der Form der Erinnerung vorgestellt, begriffen und dargestellt 48
49 50
Zu einem genaueren Verständnis der Konnotation kann auf das zuvor interpretierte Prosagedicht „Geschöpf der Fluth/Geschöpfe der Flamme" hingewiesen werden. „gelüstet" bleibt mehrdeutig in seinem eindeutig „aggressiven" Sinn. Den für eine Gegenüberstellung notwendigen Vergleichspunkt von „Wald" und „ S c h i f f ' kann ich nur im Merkmal der .Bewegung' finden, womit die Opposition ,Wald = unbeweglich vs. Schiff = beweglich' zu konstruieren wäre. Dies hieße für die „Gedichte", daß eine Dunkelheit des Gehalts sich verbindet mit einer Beweglichkeit in bezug auf die Verstehensmöglichkeit (Polysemie).
K a m p f um die Form: „Erinnerung"
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werden kann. Dazu bedarf es für das Ich noch einer weiteren Distanzsetzung zum eigenen Selbst: nicht nur wechselt das Tempus zum Imperfekt, sondern auch das Pronomen wird zur dritten Person singularis abgewandelt. Das „schwankend selbst" (240, 28), wie es im Text heißt, findet zur Einheit zurück in der reinen Betrachtung des wörtlich zu verstehenden ,Augen-Blicks'. 51 Nicht nur die Beschreibungsweise der erinnernden Vergegenwärtigung ist verbunden mit einem großen Abstand von dem Vorgestellten, sondern auch die Deskription des Erfahrungsmodus des Ichs in der gebenden' Kommunikation selbst kennzeichnet diesen als in sich problematischen. Nun wieder im Präsens — womit hier der Status der Allgemeingültigkeit der Aussage markiert wird — reflektiert das Ich in zusammenfassender Sicht über die Konzentration seines Bewußtseins zum bloßen Schauen, „ganz Auge" (240, 28) ist das Selbst, es kann auch in dieser Form der Konfrontation mit dem Du nur betrachten, aber nicht wahrhaft kommunizieren. Noch deutlicher wird dann wie teuer das Ich seine Identität erkauft, denn es ist nicht die Einheit des Selbstbewußtseins: das Ich zahlt den Preis der Verdinglichung, wird — wenn auch kostbares („Edelstein"; 240, 28) - Ding. Wie wenig es sich hier um ein Liebesgedicht im herkömmlichen Verständnis handelt, wird vor allem an dem Stellenwert des im Text angesprochenen Du deutlich, welches in der drittletzten Zeile sogar entpersönlicht wird zu „eine(m) Mädchen" (249, 27) (es heißt nicht etwa ,in ihren Armen lag': die Distanz zum Du wird in der „Betrachtung" in noch höherem Maße gesteigert als die zum eigenen Ich). Der Titel „Betrachtung" bezeichnet nicht nur die sich in Oppositionsfiguren entwickelnde reflektierende Darstellungsform, sondern auch die distanzierte (quasi „sezierende") Haltung des lyrischen Ichs im Text zu seinen Beschreibungsobjekten: den eigenen Bewußtseinsinhalten und gegenüber dem nur als Katalysator der Empfindungswelt des Selbst zählenden Du des Gedichts. 7.7 Kampf um die Form: „Erinnerung" Die erlesene Festausgabe des Insel-Verlages für Anton Kippenberg zum 22. 5. 1924 „Navigare necesse est" enthält unter dem Titel „Erinnerung" auch einen Text Hugo von Hofmannsthals. 51
Jetzt erst gelingt eine annähernde Monosemierung der rekurrierenden Konjunktion, die nun im Sinne eines — auch mit temporalem Aspekt versehenen — „während" (,während ich sonst . . . so aber dann . . . ' ) zu verstehen ist.
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Die Prosagedichte H u g o von Hofmannsthals
Dieser Text fallt aus der Art seiner sonstigen literarischen Produktion dieser Jahre vollkommen heraus. 52 Das Prosagedicht — und um ein solches handelt es sich hier zweifellos — taucht nach den neunziger Jahren im Schaffen Hofmannsthals nur noch als einzigartiger Sonderfall auf. Obwohl die vermutliche Entstehungszeit von „Erinnerung" außerhalb des für die vorliegenden Untersuchungen relevanten Zeitraumes der Jahrhundertwende liegt, so soll das Werk dennoch miteinbezogen werden. Denn in seiner solitären Position scheint es mir deutlich enger mit der früheren Prosagedichtproduktion als mit den ungefähr gleichzeitig entstehenden Texten verknüpft zu sein. In höchster Perfektion bedient sich Hofmannsthal hier wieder einer Form, die er insgesamt kaum in seinem Werk ausgebildet und früh wieder vernachlässigt hat. An dem Text „Erinnerung" läßt sich dagegen noch einmal in exemplarischer Weise die allegorisierende und „symbolgeladene" Darstellungsweise der Hofmannsthalschen Prosa vergegenwärtigen. Der Titel „Erinnerung" bezeichnet für den Text nicht nur das Zurückdenken an ein bestimmtes Vergangenes, sondern eine am Textanfang stehende und ständig im weiteren Verlauf wiederaufgenommene Reflexion auf Erinnerung als Bewußtseinsakt im allgemeinen Sinne. In bezug auf die im Text eingesetzten narrativen Mittel bedeutet dies ein hohes Maß an „Autoreflexivität" 53 : die Destruktion der Darstellungsillusion durch den Erzähler geht so weit, daß sogar der fiktive Realitätsstatus der erzählten Figuren insgesamt problematisch wird. Der Bewußtseinsakt .Erinnerung' wird auf zwei zu unterscheidenden Vergleichsebenen zu fassen gesucht: Zunächst geht es um die beiden differenten Erinnerungsweisen des Rückblicks (am Ende des Lebens) einerseits und der traumhaften Erinnerung, welche als für den Text gültige Wahrnehmungsart behauptet wird, andererseits. Im Bild des „starrende(n) Nebeneinander" wird die stumme Gleichwertigkeit der Fakten angesprochen, die als bloß Vorgefallenes nicht mehr die Gegenwärtigkeit lebendiger Vorstellung erlangen, sondern auf „fahlem Boden" qualitätslos ununterscheidbar bleiben müssen und 52
53
Nach der Fertigstellung der „Frau ohne Schatten" in Erzählform beschäftigte sich Hofmannsthal in diesen Jahren (1919—1924) wieder fast ausschließlich (neben der Herausgabe der Sammlungen „ B u c h der Freunde" und „Deutsches Lesebuch") mit dramatischen Werken. Vgl. R. Barthes, Littérature et méta-language, in: R. Barthes, Essais critiques, S. 106 — 107; K . W. Hempfer, Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses u. Ariosts ,Orando Furioso', in: Erzählforschung, hrsg. v. E . Lämmert, S. 130—156.
K a m p f um die Form: „Erinnerung"
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damit in ihrem Gehalt nicht bewahrt werden, im Gegenteil gerade bei vermeintlicher Treue zum Erlebten verloren gehen. Das erinnernde Subjekt des Textes dagegen befindet sich in einem „geisterhaften Raum", in welchem „dunkelglänzende Fülle" (vs. ,Fahlheit') und die Bewegung „harmonischen Durcheinanderwogens" (vs. „starrendes Nebeneinander") eine erlebnishafte Gegenwärtigkeit des Erinnerten in der Vorstellung bezeugen. Dem entspricht das Präsenz als Erzähltempus des Textes. Zur Verdeutlichung des hier Gemeinten kann eine Stelle aus dem „Gespräch über Gedichte" herangezogen werden: Ein Augenblick kommt und drückt aus tausenden seinesgleichen den Saft heraus, in die Höhle der Vergangenheit dringt er ein und den tausenden von dunklen erstarrten Augenblicken, aus denen er aufgebaut ist, entquillt ihr ganzes Licht: was niemals da war, nie sich gab, jetzt ist es da, jetzt gibt es sich, ist Gegenwart, mehr als Gegenwart; was niemals zusammen war, jetzt ist es zugleich, ist es beisammen, schmilzt ineinander die Glut, den Glanz und das Leben. 5 4
Das Prosagedicht findet sein Ziel in der Beschreibung dieses „Augenblicks", des Momentes, an welchem er für die im Raum Anwesenden Ereignis wird, und es ist zugleich als ganzes Ausdruck seiner Verwirklichung im Prozeß des Werkes selbst. Beim zweiten, immer wiederaufgegriffenen Vergleich geht es um die Abgrenzung der traumhaften Vorstellung als einer spezifischen Wirklichkeitserfassung von der „normalen", alltäglichen Wahrnehmung. Jeweils zu Beginn der mittleren Abschnitte 55 wird auf den Wandel der Anschauungsformen Raum und Zeit hingewiesen: „geisterhaft" (454, 5) unbestimmbar ist der Raum, die Menge des Traumes ist eine solche, die „der Zahl spottet" (454, 12) und sie kann nur „auf nicht ganz irdische Weise" (454, 22) erkannt werden, und auch der „Morgen" ist kein „irdischer Morgen" (455, 5). Raum und Zeit sind nicht als isolierbare Kategorien zu begreifen, sondern stehen in funktionaler 54 55
G W (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 508 f. Insgesamt gliedert sich der Text in sechs Abschnitte, denen als zunächst noch unscharfe Benennung ihres jeweiligen spezifischen semantischen Gehalts folgende .Subtitel' gegeben werden können: I (454, 1 — 10) ,Der Raum der Erinnerung' II (454, 1 1 - 2 1 ) ,Die Menge' (Rauminhalt) III (454, 22—455, 2) ,Das Erkennen der Menge' (Qualitative Bestimmung) IV (455, 3 — 18) ,Der Raum und der Morgen' (Verhältnis Raum — Zeit und Innen — Außen) V (455, 1 9 - 2 9 ) ,Der Zustand' (Situation) V I (455, 24—33) ,Drohung und Erfüllung' (Ereignis)
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Die Prosagedichte H u g o von Hofmannsthals
Abhängigkeit zu ihren Inhalten, sind nur „Modi der Erinnerung" 56 und dies heißt zugleich: nur präsent als immer schon gedeutete und bedeutende. Diese Semantisierung von Zeit und Raum gilt jedoch nicht nur für den Traum, sondern gilt in gesteigertem Maße für die Kunst. Diese kann so in zweifachem Sinne Thema dieses Textes sein: zum einen als Gegenstand der Darstellung und zum anderen als in den Darstellungsprinzipien selbst begründetes. Auch ohne den Text auf den vermeintlich konkreten autobiographischen Gehalt reduzieren zu wollen, daß hier „im Rückblick des Fünfzigjährigen seine Erwählung für den Dichterberuf während einer Vorstellung im alten Burgtheater am Michaeler Platz noch einmal vergegenwärtigt" 5 7 werde, so wird er doch nur zu verstehen sein, wenn man die einzelnen Beschreibungsschritte nicht nur als solche des Traumes (bzw. der traumhaften Vorstellung), sondern zugleich als solche der Kunst liest. Nur unter Benutzung einer Verständnisfolie, die davon ausgeht, daß , Bestimmung zur Kunst' (zum Künstlertum) zwar nicht das im Text explizit angesprochene, aber das eigentliche Thema der allegorischen Darstellung bildet, ist eine Konnotation der möglichen Denotate aus den verschiedenen textuellen Strukturebenen möglich. 58 Ein versteckter Hinweis der Bezugnahme auf Kunst im weitesten Sinne findet sich im zweiten Abschnitt bei der Reihe der Vergleichsobjekte, die herangezogen werden, wenn „jene eigentümlich reichen Gruppen" (454, 18), „vor deren Anblick dem Auge in diesem Raum so wohl wird" (454, 20 — 21), näher gefaßt werden. Es handelt sich dabei ausschließlich um Kunstdinge, bzw. künstlich transformierte Objekte: „Bündel von Masken, Garben farbigen Wassers oder erleuchtete Kandelaber" (454, 1 9 - 2 0 ) . „Wohl" wird dem Erinnernden auch, weil es im Raum nichts eigentlich Fremdes gibt, er ist jedoch unsicher, ob es nicht „seine eigenen Emanationen" (454, 15 — 16) sind, die „gleich abgelösten Spiegelbildern" (454, 16) jedem Einzelnen aus der Menge zugeordnet werden. Alle sind ihm „so vertraut und fremd wie mein Selbst" (454, 28 — 29): es sind die Figuren der Kunst, in denen sich die Bewußtseinsinhalte des Künstlers vergegenständlicht finden und die diesem sich als derartige 56 57
58
E. R. Curtius, Französischer Geist im Zwanzigsten Jahrhundert, S. 291. Aus den Erläuterungen zu den „Gesammelten Werken" (TB-Ausg.), Bd. „Erzählungen", S. 673. Für die Interpretation ist damit vorausgesetzt, daß in den einzelnen Analyseschritten, die hier nicht alle in Ausführlichkeit aufgeführt werden sollen, zwischen der Ebene der Konnotation und der der Denotation mindestens ein Bedeutungsteil identisch ist.
K a m p f um die Form: „Erinnerung"
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Objektivationen .vertraut und fremd' zugleich gegenüberstellen. Als Denotat besteht die „geheime Übereinstimmung ihrer Einsamkeiten" (454, 33 — 455, 1) in der je individuellen Gerichtetheit ihres Willens auf das „Unbekannte", den „Traum" und das „Schöne", auf die Kunst also. Noch handelt es sich bloß um die Sehnsucht nach diesem Bereich, nicht schon um die wirkliche Aufnahme in denselben (die erst mit dem Einsetzen eigener Produktivität sich vollziehen kann). 59 Es handelt sich betonterweise um noch „lauter junge Menschen" (455, 2), zu denen das Ich des Textes, als an „jene Jugendtage" Zurückdenkender im erinnerten Augenblick gleichfalls zählt. Die Fortsetzung der konnotativen Reihe kann zu „Übereinstimmung" — sehr pointiert — folgendermaßen lauten: Integration der literarischen Figuren in den strukturellen Zusammenhang des Kunstwerks, jede ist für sich in ihrer .Einsamkeit' zu verstehen, bedeutet jedoch nur im Verein mit allem Anderen, erst aus ihrer textuellen Funktion ergibt sich ihre „versteckte Bedeutung" (454, 30 f.).' Auf die im Text enthaltenen näheren Bestimmungen des Raumes muß an dieser Stelle noch einmal zurückgegriffen werden. Schon im ersten Abschnitt ist vom „hereindrohenden Außen" (454, 10) die Rede, das nur von schwach angedeuteten „Wänden" abgehalten werde. In IV wird dann betont, daß es gerade die „Ungesichertheit" sei, die den Raum verherrliche. In V und — noch deutlicher — in VI ist diese Drohung, die zuvor noch von außerhalb kam, schon eine, die auch im Innern des Raumes enthalten ist. Denn es gibt eigentlich nichts, das der Raum (der des Traumes und der der Kunst) — dies nämlich gerade dank seiner Leere (nicht „irgendein Gerät"; 454, 7 f., enthält er, sein ganzer Reichtum kommt aus dem Glanz von Außen) — nicht in sich aufnehmen könnte. Von ihm aus ist der Augenblick eröffnet auf alles Wirkliche. Es wartet „geordnet zur Prozessionen" (455, 17) und dies heißt: als schon zur Verarbeitung sich darbietendes Material, auf die formende Anverwandlung. Der „Morgen" für die Figuren im Raum weiß deshalb um das, was kommen muß, da alle hier Versammelten schon mit ihrem ganzen Sehen jenem verfallen sind. Auch hier gibt es eine mögliche Konnotation in bezug auf Kunst: Der „Morgen" der Traumvorstellung wie des Kunstwerkes ist „ahnungsvoll" (455, 7) in Richtung auf seine Zukunft, denn im Anfang beider liegt schon der Keim ihres Entwicklungsprozesses. Beim Traum gibt es in seiner unbewußt wirkenden ,Logik' (die 59
Dies wird erst v o m Ende des Textes her ganz einsichtig (s. VI); ich werde später noch darauf zurückkommen.
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Die Prosagedichte Hugo von Hofmannsthals
zweckorientiert selektiert und ordnet), beim Kunstwerk im ordnenden Bewußtsein des Künstlers, welches sich am Material .abarbeitet', das Moment planvollen Entstehens, das die Zufälligkeit des Wirklichkeitsmaterials zu determinieren sucht. Die Symbolebene des Textes macht in den Schlußabschnitten den konnotativen Bezug auf Kunst eindeutig: Die Rede von der Drohung der „scharfen Spitze der Unendlichkeit" (455, 27—28) ist als Symbolzitat zu lesen, sie erklärt die in diesem imaginären Raum Anwesenden zu von Apollo Auserwählten. „Die Epitheta Apollos: ,der weit, von weit her schleudert, trifft', ,der von ferne wirkt', spielen auf eine indirekte, ( . . . ) eine in sich verzögerte und auf Distanz wirkende Aktion an. Ursprünglich erinnern sie an den Schrecken, das Unvorhersehbare, die Zweideutigkeit, das Geheimnisvolle, Unnatürliche und Unmenschliche, an die unerfindlichen Winkelzüge des göttlichen Handelns. Der Pfeil ( . . . ) ist Symbol des Wortes, das im Orakel und im Rätsel als tödliche Herausforderung erscheint." 60 Der Vergleich mit der „Lanze" verweist jedoch auf Mars, den Kriegsgott der römischen Mythologie. 61 Der Erwählte ist so ein von Apollo und Mars getroffener, seine Bestimmung ist ohne Wahl. Doch der „Drohung" kommt noch ein zweiter konnotativer Sinn zu: Es ist das Unendliche des Wirklichkeitsstoffes als scheinbar niemals zu bewältigendes. Indem sich das Unüberschaubare jedoch „verdichtet' und das Innerste des aus dem leeren Raum Hinausblickenden trifft, wird es zur „Erfüllung von fast unerträglicher Herrlichkeit" (455, 27 — 28). So wird jene zu dieser, wenn die Form gelingt. Doch diese gelingt nie vollkommen, niemals kann das Ganze der Wirklichkeit gefaßt werden. Deshalb ist der einmalige „geisterhafte Morgenkampf', welcher den Beginn der künstlerischen Produktion markiert, erst der Anfang für den „langen Kampf, der nun anhebt" (455, 29 — 30). Jeder, der auch nur wagt, sich ihm zu stellen, hat schon den „höchsten Kranz" (der ihm — auch wenn er unterliegt — von Apollo nicht verweigert wird), ist Künstler. 7.8 „Beredtes Schweigen": Hofmannsthals allegorisierende Erzählweise Das letzte Prosagedicht Hofmannsthals „Erinnerung" ist auch zu verstehen als späte Reflexion des Autors aufs eigene Dichten, vergleichbar dem früheren „Gespräch über Gedichte". 60 61
G. Colli, Nach Nietzsche, S. 45 f. Vgl. M. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 394.
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Die Aura (der „höchste Kranz"), welche dem Künstler hier zugesprochen wird, resultiert aus seiner Leistung in der Negation der Kontingenz des bloß Wirklichen. Doch ist diese Ergebnis der Gewalt, die Form will erkämpft sein, die organisch sich aus dem Stoff anbietende ist vergangen. In dieser Weise trägt das Abbild in seiner scheinbaren Abgelöstheit von der Realität doch deren Narben, die seine Schönheit von der Lüge über das Bestehende befreien. Diese Prosa weigert sich, auf herkömmliche Art zu erzählen, es gibt nicht mehr die einfache Sequenz der Geschichten. Hierin ist die kurze Prosa Hofmannsthals derjenigen Altenbergs sehr nahe. Beider Prosagedichte formieren zusammen eine Gegenposition zu den erzählerischen Großformen, bei Hofmannsthal stehen sie auch den größeren Erzählstücken des eigenen Werks scheinbar gegenüber. 62 Im Hinblick auf die Wirklichkeitsillusion der Fiktion ist der Selbsteinschätzung Altenbergs, daß seine „kleinen Sachen" „Extrakte des Lebens", nicht bloß „Dichtungen" 63 seien, nicht zu folgen. Die offene Form seiner Prosagedichte versucht gerade nicht die Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit zu suggerieren, sondern erhält ihre Wahrheit aus der Distanz des Fragments zur Realität. Das Fragment versucht nicht das noch zu beschreiben, was sich nicht mehr beschreiben läßt. Im nur Angedeuteten, in der dem Leser überlassenen Ausfüllung der Leerstellen des Bruchstücks wird der utopische Gehalt bewahrt. Hierin liegt eine bedeutende Differenz zur Kurzprosa Hofmannsthals. Jene zeigt sich schon an den Gegenständen der Darstellungsweise. Finden sich bei Altenberg durchweg solche, die dem Bereich unscheinbarer lebensweltlicher Erfahrung, alltäglicher Ereignisse entstammen, so geht es in den Prosagedichten Hofmannsthals um die Darstellung eines Begriffs. Genauer: „Poetik des Augenblicks" bedeutet fürs Objekt eine Poetik des schon zur Idee abstrahierten Lebenszusammenhanges. An dem frühesten Text („Die Rose und der Schreibtisch") ist es am im Werk konzentriert enthaltenen thematischen Entscheidungsprozeß deutlich ablesbar: die Geschichte soll nicht — da nicht mehr in kohärenter Folge erzählbar (dies führt der erste Teil des Prosagedichts vor) —
62
63
Es wäre jedoch unschwer zu zeigen (aber nicht Gegenstand dieser Arbeit), daß auch die umfangreicheren Prosawerke Hofmannsthals ihre konstruktive Kohärenz mehr als Summe des nur schwach integrierten Einzelnen, nicht als strukturierte Werkeinheit erhalten. P. Altenberg, Was der Tag mir zuträgt, S. 6.
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in einer anderen Darbietung gerettet werden, sondern sie wird aufgelöst in der allegorischen Darstellung des Begriffs. Der Zwang %ur Allegorie scheint mir bei R. Tarot (in seiner Interpretation von „Gerechtigkeit") zu oberflächlich begründet: Die Icherzählung muß, wenn sie die Teilhabe des Ichs an einer andern als der mitmenschlichen Wirklichkeit darstellen will, Allegorien jener anderen Wirklichkeit schaffen. 6 4
Eine Deutung, welche die Texte in den Zusammenhang des Ausdrucks von „Daseinsformen" stellen will, nimmt im Zwang des Schemas die Allegorie nicht ernst. Dies gerade dadurch, daß sie ihr ein Zuviel an Substanz zuweist. Die Sphäre des Engels kann nicht die entscheidende Bedeutung einer „vom Ich-Erzähler gewußten Wirklichkeit" 65 haben, die als „Glanz und einfache Worte, als höchste Welt" gegen „Angst, erloschenes Denken, Unzulänglichkeit und Scham" des Ich-Bewußtseins gestellt sei. Es ist nicht die Nötigung der Darstellungsperspektive (IchErzähler), die zum allegorischen Erzählen führt. Denn die Allegorie betrifft nicht nur „jene (.) andere (.) Wirklichkeit"66, sondern den Text insgesamt und d. h. auch das Ich. Somit wird die allegorisierende Erzählweise zu einer Darstellung dessen, was als nicht mehr unmittelbar Zugängliches vorgestellt werden muß: des Begriffs. Dies ist das Ergebnis der Analysen von „Gerechtigkeit" und „Glück am Weg" und trifft in modifizierter Weise auch für das Fragment „Die Stunden"67 zu. Dort wird der schwierige Versuch unternommen, den Begriff der Zeit, Art und Weise ihrer möglichen Erfahrbarkeit darzustellen. Jede Stunde ist personifiziert zu einer Figurenrolle, die jeweils einer spezifischen Seinserfahrung entspricht. Scheinbar willkürlich reihen sich hier die Bruchstücke der Einzelbilder aneinander, ihre Einheit nur in der durchgehenden allegorisierenden Darstellung findend. So verweist das Ganze facettenartig auf den Begriff. Auch das Lebendigwerden der Dinge in diesen Texten bedeutet gerade deren Entsinnlichung. In der Allegorie ist alles nur Anlaß, nichts 64 65
66 67
R. Tarot, Hugo von Hofmannsthal, S. 302. K . Hamburger, Logik der Dichtung, S. 236 (Zit. in: R. Tarot, Hugo v o n Hofmannsthal, S. 309). R. Tarot, Hugo von Hofmannsthal, S. 302. SW, Bd. 29, S. 235 f. Fast scheint es so zu sein, als hätte hier Hofmannsthal etwas von der Relativität der Zeit zum zeiterfahrenden Subjekt geahnt, nicht die Stunden kommen zu uns, sondern wir müssen zu ihnen, die „stehen und warten": „Die Stunden./Sie kommen nicht zu uns, sie stehen und warten und wir gehen an ihnen vorüber. Den Weg, den Lebensweg."
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als es selbst Gegenstand. So geschieht es der Rose (in „Die Rose und der Schreibtisch") und auch der „Altwiener Biskuithand" in dem ursprünglich als Prosagedicht geplanten 68 Einleitungsanfang zu „Eduard von Bauernfelds dramatischer Nachlaß". 69 Das Verhältnis der im Kunstgegenstand behaupteten „versteinerten" Welt („dieser lieben ganzen Welt, die jetzt tot ist, fort und hin, weggetragen, vorbei"), deren „Monographie" alles über diese Zeit sagen könnte, zu der Summe der dem Erzähler „hin und wieder" auffallenden „Kleinigkeit(en)", entspricht dem Verhältnis von Begriff (als vorausgesetztem, angestrebtem, nie zu erreichendem Ziel) und auf ihn gerichteter allegorischer Darstellung. Die einzelnen Sätze dagegen sind versuchsweise angedeutete Geschichten, die — schon in ihrem Ausgangspunkt nur durch das Kunstding veranlaßt — nicht nur durch ihren ausgestellten Fragmentcharakter immer schon in einem höchst vermittelten, niemals unmittelbar zeichenhaften Bezug zur Wirklichkeit stehen. Der Zwang über etwas sprechen zu wollen, daß nicht mehr sich sagen läßt, nötigt zur Allegorie. Objekt der Allegorie bleibt der versammelnde Begriff jedoch führt von der Dingwelt kein Weg mehr zur Welt der Ideen. Die Sachen und Vorgänge werden in Details aufgelöst, und das Gesagte vermag nicht mit dem Gemeinten verknüpft zu werden, dessen leerer Name gleichwohl beschwörend genannt wird. Versucht man in dieser Weise die Form dieser Prosawerke Hofmannsthals zu begreifen, ist nicht mehr das Denotat des Sinnbilds für die Interpretation entscheidend, sondern die Tatsache, daß in diesen Texten nur in ihm und nicht anders mehr die Begriffe darstellbar erscheinen. Die strenge Form, die Abgeschlossenheit der Allegorie ist nicht mehr Ausdruck der Souveränität übers Material, sondern Kampf gegen die Nichtigkeit der Worte. „Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen, mit eine ganz anderen Zauberkraft als die schwächliche Terminologie der Wissenschaft." 70 Das allegorische Erzählen Hofmannsthals gibt die Anstrengung, das „fieberhafte Bestreben" zu erkennen, von etwas reden zu wollen, für das die Namen der kommunikativen Rede längst bedeutungsleer geworden sind.
Vgl. SW, Bd. 29, S. 232. 69 G W (TB-Ausg.), „Reden und Aufsätze I", S. 1 8 5 - 8 6 . 70 G W (TB-Ausg.), „Erzählungen", S. 4 9 8 f. 68
8. Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt" 8.1 Einlèitung „Was der Tag mir zuträgt" ist die dritte Buchveröffentlichung Altenbergs. Sie soll hier nicht in der ersten Fassung von 1901 behandelt werden, sondern als Textgrundlage dient die Ausgabe der schon 1902 erfolgten Neuauflage. 1 Mit Ausnahme des Zyklus „Une femme est un état de notre âme" 2 und der Skizze „De Remplassant" wurden darin alle nicht zur Titelreihe gehörenden Texte aus „Ashantee" aufgenommen, wichtig ist vor allem auch die Integration der Skizze „Selbstanzeige" als erste nach dem Inhaltsverzeichnis. „Was der Tag mir zuträgt" stellt durch seinen Umfang, durch die Hereinnahme wichtiger Skizzen aus der kleinen zweiten Publikation und — bedenkt man die schnellen Neuauflagen — durch seinen Erfolg das zweite bedeutende Sammelwerk Altenbergs dar. Es wird zu zeigen sein, daß schon in diesem noch zum Frühwerk zählenden Buch der in „Wie ich es sehe" eingeschlagene (und auch in „Ashantee" noch verfolgte), für die deutsche Literatur innovatorische Weg des Prosagedichts verlassen wird. Vergleicht man die Komposition der ersten beiden großen Werke, so hat das spätere mit dem früheren nicht mehr viel gemein — und dies, obwohl die Motive und Themenbereiche sich kaum geändert haben. Doch diese weitgehende Identität im Stofflichen darf den Blick auf die unterschiedliche Gestaltungsweise nicht verdecken. In „Was der Tag mir zuträgt" ist das Prosagedicht nur noch eine Form unter vielen anderen. Das, was als das „immer stärker hervortretende reformatorische Anliegen Altenbergs" 3 bezeichnet wurde, ist in seinen Auswirkungen im Hinblick auf die Struktur des Werks zu untersuchen. 1
2
3
Diese Auflage stellt die endgültige Fassung dar, die in den späteren Neuausgaben unverändert übernommen wurde. Dem Verf. lag die „fünfte, vermehrte und veränderte Auflage" (Berlin 1931) vor. Übernommen in der 4. Auflage von „Wie ich es sehe". Vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung. S. 12. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 124.
Vier programmatische Texte
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In Einzelinterpretationen exemplarischer Texte und in übergreifenden Analysen der für das Buch relevanten Textgattungen sollen die verschiedenen Entwicklungsstränge genauer beleuchtet werden. Ein ständiger Vergleich mit „Wie ich es sehe" soll die vorhandenen Strukturrelationen und den in den feststellbaren Differenzen deutlich werdenden Traditionsbruch im Oeuvre Altenbergs herausarbeiten. Ein derartiges Faktum darf nicht mißverstanden werden als bloßes Problem des Stilwandels eines Autors: die Wandlung der Form ist ein Wandel der Erkenntnis, denn die „Form ist der Gedanke"! 4 Erste wichtige Hinweise auf die Tendenz dieser Neuausrichtung soll eine Analyse der ersten vier 5 Texte des Werkes liefern, die zu Recht als „eine Art programmatische Einleitung" 6 bezeichnet wurden.
8.2 Vier programmatische Texte: „Motto"; „Warum sie dieses Dichters Werke so liebt"; „Selbstanzeige"; „Selbstbiographie" Das mit „P. A." signierte „Motto" enthält nur zwei Grundgedanken, die in den folgenden (mittels Rekurrenz im Text markierten) Versen ausgedrückt sind: Nicht Dir und Einem gibt das Gute, das Du gefunden auf Deinen schweren Wegen gieb es A l l e n ! Auf dass an Deinem armseligen Erdenwallen der Eine oder der And're K l ä r u n g finde! (...) Ein Spiegel sein der Dinge um sich her!
Alle übrigen Zeilen sind nur Erläuterung, bzw. bloß variierende Paraphrasen des hier Ausgesagten. Der Mitteilungscharakter der Kunst in lebenspraktischer, aufklärerischer Funktion und darüber hinaus ihre Aufgabe, sich den alltäglichen Geschehnissen, Dingen zu widmen, werden betont. Es geht hier auch schon um eine kritische Distanzsetzung gegen das „Erfinden" in der Dichtung. Altenberg weiß sich da einer Meinung mit Karl Kraus, der es einmal so ausdrückte: es sei „nichts so gut zu erfinden, daß es nicht die Wirklichkeit noch besser träfe." 7 Später wird auch A. Polgar diese Dichotomie .Entdecker oder Erfinder' wieder aufgreifen: 4 5
6 7
K. Kraus, Werke Bd. 3: Beim Wort genommen, S. 115. Zählt man die nach dem „Motto" eingeschobene Widmung an den Bruder Georg Engländer nicht mit. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 124. In: Fackel Nr. 98 (1902), S. 21.
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Meine kritischen Erzählungen und erzählenden Kritiken sind durchaus sogenannte ,Geschichten aus dem Leben'. Wir haben wohl einige Kenntnis v o n den Beziehungen der Menschen in sich selbst, zu dem, was um ihn, was unter und über ihm ist, aber so unendlich vieles wissen wir nicht, daß dagegen die Summe unseres Wissens wie ein lächerliches Nichts erscheint. Darum halte ich die Arbeit der Entdecker auf diesem Gebiet, welches par excellence das der Literatur ist, für wichtiger als die der Erfinder. 8
Das „Motto" stellt vor allem einen Versuch der Rezeptionslenkung im Hinblick auf ein richtiges Verständnis des Buchtitels dar. Die auffallige Präsenz des Personalpronomens in den beiden Anfangszeilen wendet sich gegen ein Mißverstehen künstlerischer Subjektivität im Sinne rein empfangender Passivität. So wird auch der Vers „Ein Spiegel sein der Dinge um sich her!" relativiert durch den unmittelbar darauffolgenden: „Dazu jedoch gehören Kraft und Liebe". 9 Auch hier geht es — wie bei dem Hinweis Altenbergs zum richtigen Verstehen des Titels „Wie ich es sehe"10 um eine Hervorhebung sowohl des Aspekts künstlerischer Subjektivität, als auch um die betonte Zurückweisung des Vorwurfs bloßer Subjektivität. In den die zentralen Postulate erklärenden Versen benutzt Altenberg in extensiver Weise das Mittel des Sperrdrucks, sowie ein .etymologisierendes', die Komposita wieder in ihre Hauptelemente zergliederndes, Bindestrichverfahren. Dieses wird nicht immer konsequent und sinnvoll angewendet: bei „Merk-Würdiges" ist damit eine sinnerweiternde Betonung des ersten Segments zu erreichen, die das Wort aus seiner umgangssprachlichen Bedeutung „erstaunlich, interessant" wieder zurückführt in das semantische Feld „erinnerungswürdig, bedenkenswert". Das gleiche Verfahren erbringt aber in der Reihe „Mit-Theilung, Er-Oeffnung und EntHüllung" nur im Falle der ersten beiden Wörter einen bedeutungsamplifizierenden Parallelismus, während das letzte Wortelement nicht hineinpaßt, weshalb wohl hier der typographische Akzent auf das erste Segment gesetzt wird. Die beiden letzten Verse des „Mottos" zitieren den Titel des Buches: Was mir das Leben z u t r ä g t , geb' ich z u r ü c k den Lebendigen, um so den G e i s t e s - K r e i s l a u f zu beendigen!
8
9 10
A . Polgar, Auswahlband (1930), V, VI, (zit. in: V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 194). A u f diese Abwendung von einem die Fiktionalität betonenden Dichtungsbegriff werde ich bei der Behandlung der Skizze „Selbstbiographie" noch einmal eingehen. Hervorheb. von mir, S. N. Vgl. Prödrömös, S. 155 ff.
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Gedanklich enthalten diese Zeilen nichts Neues, sind nur eine Zusammenfassung des zuvor schon — wiederholt — Gesagten. Aufschlußreich sind sie jedoch durch ihren verunglückten Versausklang, der nicht zufallig einen schlechten Reim mit einem ,vitium' in der Wortwahl verbindet: nicht „beendigen" im Sinne von .beenden' ist wohl gemeint, sondern ,vollenden'. Dieser Fehler lenkt den Blick auf die Form des „Mottos" insgesamt. Es enthält keine explizite Aussage über die Bauform der im Buch enthaltenen Texte und steht damit in einem auffälligen Gegensatz zum Motto von „Wie ich es sehe", in welchem ja (durch das lange Huysmans-Zitat und den daran angeschlossenen kurzen Spruch Altenbergs) in betonter Weise auf die Gattungswahl des poème en prose hingewiesen wird. Durch seine Form jedoch bezieht auch dieser erste Text aus „Was der Tag mir zuträgt" deutlich Stellung: die Tatsache, daß das programmatische Motto in Versen verfaßt ist und in nicht wenigen Zeilen auch wieder zum Reim zurückkehrt, gibt dem Leser einen ersten unübersehbaren Hinweis darauf, daß in diesem Werk Altenbergs die frühere programmatische Entscheidung des Autors für die Form des Prosagedichts an Relevanz verloren hat. Gleichfalls in herausragender Position wie das „Motto" noch vor dem Inhaltsverzeichnis ist die Skizze „Warum sie dieses Dichters Werke so sehr liebt" 11 zu finden. Das die Textkonstruktion bestimmende Strukturmuster ist als Allegorie 12 zu bezeichnen. Das Wörtlichnehmen der metaphorischen Rede „Jemanden die Seele aus dem Leib reißen" konstituiert die Ausgangsbasis für eine thematische Progression, in welcher der rein innersubjektive psychische Vorgang zum Gegenstand narrativen Sprechens werden kann. Die Gattungsfolie, auf die der Text hier referiert, ist die des Märchens: die ohne diese in der Gattung zulässige Transformation nicht als Gegen11
12
(„Was der Tag mir zuträgt" künftig zitiert als: Wt.) Wt, IX —XII. Seiten angaben fortan im Text. Den Untertitel „Peter Altenberg gewidmet. Von ." bezeichnet Wagner (Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 12) als ,,fingiert(.)", jedoch ohne dieses Etikett weiter zu begründen. Sei dieser Text nun von Altenberg selbst oder bloß im Altenbergschen Stil und Geist verfaßt, der erste Eindruck, in dem eine derartige Selbstpreisung nur als peinlich empfunden werden kann, bleibt davon unberührt. Die dichterische Eitelkeit, die sich zunächst einmal hierin ausdrückt, steht in einem konsternierenden Widerspruch zum ,Bescheidenheitstopos' des „Mottos": „Künstler? Dichter? Wahn der Größe!" In dem weiten Sinne, in welchem die Rhetorik die Allegorie als „eine in einem ganzen Satz (und darüber hinaus) durchgeführte Metapher" (H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik § 895, S. 442) bezeichnet.
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stand einer ereigniszentrierten Erzählung 13 denkbaren psychischen Vorgänge werden zum Element der äußeren Handlung. Wie in den Märchenstücken Maeterlincks sind hier die ,intérieurs d'âmes' vergegenständlicht, ist die Seele als Rolle in den Erzählprozeß integriert in einer Weise, welche das sonst nur negativ in den Auslassungen Enthaltene, höchstens durch spezifische Interpunktionsmittel Angedeutete als Teil der Textsemantik explizit ausdrückt. So zwingt die programmatische Funktion zu einer Aufgabe der offenen Struktur des Prosagedichts zugunsten einer Gattung, die in ihrem scheinbar größeren Abstand zur Wirklichkeit in Wahrheit viel unmittelbarer auf diese referiert. Der Text enthält ein höheres Maß an semantischer Desambiguierung schon durch den innertextuellen Kontext und erfüllt daher die der Programmatik immanente Forderung nach Genauigkeit. Die Figuren „junges Mädchen" und „Dichter" sind als allegorische Rollen leicht in Leser/Rezeption und Produktion/Dichtung zu übersetzen. Die Meinung, die hier über den Rezeptions- und Produktionsaspekt der Literatur vertreten wird, betrifft wiederum nur die ,Inhaltsseite' der Kunst. War im „Motto" mehr von den produktionsästhetischen Problemen die Rede, so geht es hier — wie der Titel schon deutlich macht — mehr um die funktionale Einbindung der Dichtung, um ihre Rezeption und Wirkung. Vier verschiedene Funktionen werden genannt: 1. Dichtung konserviert ein Bild des Lebens, das in der gesellschaftlichen Realität, dem „Thal der Arbeit" (IX) keinen Raum hat, wird Refugium des „Ungewordenen" (Bloch), des Deformierten, welches nicht in die Welt des Nutzens paßt: „Ich besitze", sagt der Dichter, „in mir alle Seelen, die im Sein des schweren Alltags so oder so verloren gehen, sich nicht ausleben, vor der Zeit aussterben. Siehe! Denn ich bin nichts anderes als Gottes Aufbewahrungsort für alle verkümmerten und zerstörten Frauenseelen." 14 (X) 2. Dichtung hat Trostfunktion: „Sanft" (X, zweimal rekurrierend in XI) spricht der „Dichter" zu seiner Leserin, bei ihm findet die „hungernd" und „bebend" (X) Suchende Ruhe.
13 14
Vgl. R. de Beaugrande, W. U. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 190. Weshalb es denn eigentlich nur die „Frauenseelen" sind, die der Dichter .bewahrt', wird im dritten programmatischen Text „Selbstanzeige" in einer expliziten Diskussion der geschlechtlichen Rollenverteilung verdeutlicht.
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3. Dichtung hat eine Sublimationsfunktion, dient affirmativ dem Aushalten des Bestehenden. Das Mädchen läßt seine Seele bei dem Dichter: „Ich kann dann ergeben dem harten Tage dienen, den Notwendigkeiten! Und in den Ferial-Stunden dieser Schule ,Leben' komm' ich zu deiner, nein, zu meiner Seele und werde wieder, was ich war ich selbst!" (XI) 4. Dichtung ist als utopischer Gegenentwurf jedoch auch Anklage an die Gesellschaft, der Dichter ist nicht nur „Hüter" der „Frauenseele", sondern auch ihr „Rächer" (XII). Die Rezeption der Literatur hat eine kritische Distanzsetzung zur angepaßten Umwelt zur Folge. Kunst als Erinnerung an das in der Kindheit Gewußte und nun Verlorene birgt in sich kritische Sprengkraft. Das Mädchen „fühlt" am Schluß der Geschichte anders den Menschen gegenüber: „Ihr Dummen, Falschen, Böswilligen! Wie ein abgeschlagener Kopf der Hydra hundert wachsen machte, so erblühen unsere zerstörten Herzen hundertfach wieder in den Dichter-Herzen!" (XI) Doch die Anklage der Dichtung enthebt in erster Linie den Leser der Notwendigkeit im „Leben" verändernd zu handeln, der Dichter als „Rächer" der „Frauenseele" überführt ihren Protest ins Reich der Phantasie, auf daß sie in der Realität ruhig „seelenlos" ihre Funktion erfüllt. Die beiden auf das Inhaltsverzeichnis folgenden Texte 15 „Selbstanzeige" (erst in der zweiten Auflage eingefügt) und „Selbstbiographie" sind mit den zuvor besprochenen zu einer Gruppe einleitender Texte zu vereinigen, die insgesamt eine programmatische Funktion übernimmt. In „Selbstanzeige" wird mit der Anrede „An die Mädchen und an die Frauen" unmittelbar angeknüpft an die Diskussion der Funktion von Dichtung im vorhergehenden Text. Hier wird nun in der Sprache eines Werbeartikels erläutert, warum es gerade die „Frauenseelen" sind, die des Dichters Werk bewahrt. Der Gebrauchswert der hier angepriesenen Ware Literatur ist unendlich groß, jedoch nur für die Mädchen und Frauen, denn der Dichter kann „ihrer Seele sagen, wer sie sei!" Die hier vorgenommene geschlechterspezifische Rollenverteilung ist eindeutig: „die Frau, siehe, ist die unerbittliche Idealistin" (2), welche die Welt nicht verstehend „sich ins Wort erklären will", doch nicht kann.
15
Wt, S. 1—4, Seiten angaben fortan im Text.
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Denn dies kann nur ein „Liebevoller" (1): der Dichter. Der Mann ist der ,,perfide(.) Pactirer mit dem Leben" (2), welcher jedoch die Frau braucht, daß sie ihn zwingt, „seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu erreichen". Die Frau sucht den vollkommenen Mann, der sie „zu tönendem Dasein" erweckt durch die „edle Macht" seiner „weltumfassenden Persönlichkeit" (2). So stellt sich denn ,unter der Hand' die alte Rollenverteilung wieder als das ideologische Ziel des männlichen Autors heraus; nicht die frauenfeindliche Ordnung an sich wird angeklagt, sondern beklagt wird nur die „Unvollkommenheit" (3) des Mannes, der noch nicht ganz „körperlich(er) seelische(r) und geistige(r) Gentleman" (2) ist (während der Dichter Altenberg selbst dies natürlich schon erreicht hat). 16 Sind in der ersten Zeile noch die „Mädchen" und „Frauen" als potentielle Käufer der „neue(n) Studien" angesprochen, so ändert sich auf der zweite Seite unversehens der Adressat: mit „siehe" wird schon, wie am Ende des Abschnittes direkt, der „Mann" angesprochen, und für die folgenden drei der insgesamt vier Seiten bleibt es bei diesem fiktiven Dialog zwischen „P. A." und seinem männlichen Leser. Eine aufschlußreiche Verschiebung, die in einem vollkommen zum Beginn des Textes und auch zum vorhergehenden in Widerspruch stehenden Satz gipfelt: „Ich habe nur die heilige Mission in meinem Herzen mitbekommen, dem Manne die Frauenseele nicht von s e i n e m Bedürfnisse aus, sondern von dem i h r i g e n aus zu zeigen, auf dass er erkenne, was die Natur wollte in ihren idealen Plänen!" (3) Gehörte der Mann zuvor überhaupt nicht zum Kreis der Leser, so ist er nun das exklusive Objekt der „heiligen Mission" des Dichters. Daß hier mit dem Begriff „Natur" argumentiert wird, ist nicht umsonst verdächtig, erweist sich doch der ,Plan der Natur' grundsätzlich als Bestätigung der bestehenden Ordnung, wenn auch mit dem Anspruch höherer Perfektion. So bleibt die Reduktion der Frau zum Objekt männlichen Tatendrangs (wenn auch dem des vollkommenen „Gentlemans") ungebrochen erhalten: „Wie auf einer edlen Violine ein Künstler spielte, so spiele, Mann, auf diesem zarten Instrumente ,Frauenseele'!" (2) Die Frau ist bloßes ,Reizmittel' für die Entwicklung des Mannes (vgl. 3). Ist die Frau „Frauenseele" 17 , so steht dem keine ,Männerseele' 16
17
Die dem Werk Abenbergs insgesamt vollkommen unangemessene psychologisierende Deutung Ariane Thomallas hat hier ihre Berechtigung (vgl. A . Thomalla, Die „femme fragile", S. 65 — 68: „Der Rückzug in die Neutralität der Dichterexistenz"). Das Wort erscheint im Text immerhin viermal, am Schluß des Textes ist gar von „ihrer geheimnisvollen Seele" die Rede.
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gegenüber, sondern der „Weltenmann" (im Text gesperrt!), welchem die Frau „sich ergeben", für dessen „Weltenleben" sie „alle ihre heiligen Kräft spenden" möchte (3). Die „Traurigkeiten" und „Sehnsüchte" (4) der Frauen, als deren Künder sich Altenberg hier anpreist, entspringen nicht aus einer Unzufriedenheit an der Beschränkung auf ihre Rolle als Katalysator männlich tätigen Fortschritts, sondern — so die Meinung des männlichen Autors — bloß aus ihrem Leiden an der Unvollkommenheit des Mannes, der trotz ihrer „mysteriösen Reize (.)" noch kein „ ,Göttlicher'" geworden ist (zu dem sie dann als ,Herrn und Gebieter' aufschauen könnten)! Zum Glück und diesem Werbetext des Autors zum Trotz ist „das Alles" nicht — nicht allein — „der Inhalt dieser kleinen unscheinbaren aphoristischen und hingewischten Studien" (3). Aber mit derartigen leitartiklerischen Selbstinterpretationen legte Altenberg den Grundstein für ein verengtes Werkverständnis, welches diese Texte nur unter dem Aspekt des „Frauenkults" eines Autors lesen möchte, der dann dementsprechend als „Frauenlob" etikettiert und verharmlost werden kann. Abgesehen davon, daß — wie oben gezeigt wurde — diese „Frauenverehrung" von einem typisch männlichen Verständnis der Rollenzuteilung ausgeht (und sich letztlich gegen eine Befreiung der Frau richtet), ist der Text in seiner rezeptionssteuernden, unzweideutigen Reduktion auf dieses thematische Element nicht mißzuverstehen. Es steht außer Frage, daß mit ihm ein wichtiger Aspekt des Werks hervorgehoben wird und hier in dieser zur Textsorte der „argumentativen Texte"18 zählenden Abhandlung als Uberzeugung vertreten, gefördert werden soll. Damit erhält diese jedoch einen unvergleichlich anderen Status als in den literarischen Werken selbst. Im Prosagedicht aus „Wie ich es sehe" ist das ideologische Substrat an die jeweilige Figurenperspektive gebunden19, besitzt als ein Strukturelement unter anderen nicht unbeschränkte Gültigkeit, erst aus der systematischen Kombination aller ergibt sich in der Interpretation der Gehalt des Werks. Im programmatischen Text wird es aus diesem Zusammenhang herausgelöst, isoliert zu einer Meinung, die sich unmittelbar dem Urteil wahr vs. falsch zu stellen hat. Altenberg reduziert damit seine Texte auf einen Wirkungsaspekt, unter welchem das Werk als ganzes aus dem Blick gerät, die Form konsequenterweise nicht mehr erwähnt wird, sondern als äußere Hülle vernachlässigt werden kann. Er scheint sich damit schon für eine
18 19
Vgl. dazu R. de Beaugrande, W. U. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, S. 190 f. Vgl. S. 111 ff. dieser Arbeit.
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bestimmte Antwort auf die folgende Frage seines Freundes Karl Kraus entschieden zu haben (und zwar nicht die, welche dieser selbst gibt): Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Kunst, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, daß ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. 20
Bei „Selbstbiographie" (Wt S. 5 —12) handelt es sich um die Bearbeitung eines Briefes Altenbergs an Magdalaine Calemard du Genestone21, zunächst in kürzerer Fassung erschienen in einer Nummer der Zeitschrift „Wiener Rundschau"22 von 1899, also zwei Jahre vor der ersten Auflage von „Was der Tag mir zuträgt". Die Ungeordnetheit der Briefform drückt sich auch in dieser abgeänderten Fassung noch deutlich aus. Die durch den Titel erweckte Lesererwartung eines autobiographischen Berichts, welche auch in den ersten zwei Sätzen ihre Bestätigung findet, wird im weiteren Verlauf, sowohl durch die Mikrostruktur des Abschnitts, in welchem von der Sachlichkeit des Berichts abweichend eine Anekdote erzählt wird, als auch durch die Makrostruktur des Textes insgesamt enttäuscht. Kleine Erinnerungsbilder und Anekdoten — über den Vater (5, 9), die Mutter, die gute, auf beiderseitigem Verständnis basierende Ehe der Eltern (8 f.), die Liebe der Knabenzeit zu der Natur (9 f.), erste Liebe (10) — werden unterbrochen von programmatischen Äußerungen über Thema und Intention der Dichtungen (7, 10 — 12) und zum erstenmal auch über die gewählte Form (6). Der erste, die ,Inhaltsseite' betreffende Teil dieser Bemerkungen stellt im wesentlichen eine Wiederholung des schon in „Selbstanzeige" Gesagten dar, jedoch mit einem überraschenden Abschluß in dem folgenden selbstironischen Bild, welches das zuvor zum „Frauenkult" Bemerkte doch ein wenig relativiert: „Arm und verlassen lebe ich nun dahin, den Blick noch immer gerichtet auf eine edle Frauenhand, einen adeligen Schritt, ein mildes weltentrücktes Antlitz. Amen ." Die Abschnitte, in denen Altenberg sich zur von ihm gewählten literarischen Form äußert, enthalten zunächst einmal eine Wiederaufnahme der im „Motto" schon betonten Abkehr von Fiktionalisierungen, die zur bloßen Artistik erklärt werden. Nicht als „Dichtungen" sollen 20 21
22
K. Kraus, Werke Bd. 3: Beim Wort genommen, S. 113. Vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 16. Die Adressatin hatte einige Texte Altenbergs ins Französische übersetzt, die 1899 in der „Revue du Revues" erschienen. 3. Jahrgang, Nr. 7.
Vier programmatische Texte
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die Werke verstanden werden, sondern als „Extrakte des Lebens" (6). 23 In konzentrierter Form kommt hier nun doch das Prosagedicht zur Sprache: „Das Leben der Seele und des zufalligen Tages, in 2 —3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel. Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extrakte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen" (6). 24 Einige Sätze weiter fallt dann auch das berühmte Wort vom „,abgekürzte(n) Verfahren'", dem „ T e l e g r a m m Stil der Seele". „Ich möchte einen Menschen in e i n e m Satze schildern, ein Erlebnis der Seele auf e i n e r S e i t e , eine Landschaft in e i n e m Worte!" Das ist noch genau das Programm des Herzog des Esseintes, der „einen konzentrierten Roman auf wenigen Seiten zu schreiben" 25 beabsichtigt. Nach den vorhergehenden Texten scheint dies zunächst erstaunlich. Doch zwei Gesichtspunkte sind hier zu beachten: zum einen fallt hier an keiner Stelle der Begriff „Prosagedicht" (der in Altenbergs Werk aber auch sonst zugunsten der Wörter „Skizze" und „Studie" vermieden wird), zum anderen jedoch ist die Nähe der Entstehungszeit dieses letzten einleitenden Textes zu „Ashantee" und „Wie ich es sehe" zu berücksichtigen. Diese beiden Bücher sind noch reine Prosagedicht-Sammlungen. Bei allen vier einleitenden Texten in programmatischer Funktion tritt also der Gesichtspunkt der Kundgabe einer dezidierten Gattungswahl, welcher in „Wie ich es sehe" noch leitend war, zurück zugunsten einer Betonung des bestimmten ideologischen Substrats, wie es sich dem 23
In „Märchen des Lebens" (1. Aufl., S. 187) wird diese Anschauung in einer kleinen Satire in Dialogform dargestellt: Dichter. Jemand schrieb über mich: „Und wenn man wirklich noch daran zweifeln könnte, daß man es hier mit einem gottbegnadeten Dichter zu tun hat, so lese man nur die kleine Geschichte v o n dem siebenjährigen Kind!" Aber gerade diese Geschichte hat mir die Mutter dieses Mädchens wörtlich mitgeteilt. „Aber diese einfache Sache f ü r wert zu halten, sie den anderen mitzuteilen, mein Herr!?" „Jawohl, d a s h e i ß t ein Dichter sein!"
24
Rainer Maria Rilke spricht ein Jahr später in „Ver Sacrum" (1900, S. 114, zit. in: W. Schmidt-Dengler, Literatur in Ver Sacrum, S. 19 f.) von einem „Extract der Dinge": „Aus allen Wandlungen und Wirrnissen und Ubergängen soll die Kunst den „Extract der Dinge', welche ihre Seele ist, retten; sie soll jedes einzelne Ding isolieren aus dem zufalligen Nebeneinander heraus, um es in die größeren Zusammenhänge einzuschalten, längst welcher die ( . . . ) wirklichen Ereignisse sich vollziehen".
25
J. K . Huysmans, Gegen den Strich, S. 193. Der Text enthält noch eine zweite, häufig zitierte Bemerkung: „ A u g e , A u g e , R o t h s c h i l d — B e s i t z d e s M e n s c h e n ! ( . . . ) Ich möchte auf meinem Grabstein die Worte haben: ,Er liebte und sah!'" (8) Vgl. dazu das Kapitel zum Titel „Wie ich es sehe", auf den hier angespielt wird (S. 31 f. dieser Arbeit).
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Autor in seiner somit vorab gelieferten Selbstinterpretation darstellt. Die Form wird von Altenberg zum Transportmittel seiner Meinungen erklärt, die Aufklärung über das Seelenleben der Frau versprechen. Das Prosagedicht wird dabei nicht ausgeschlossen, ist jedoch in diesen rezeptionslenkenden Hinweisen unwichtig gegenüber der Betonung des thematischen Bereichs, welcher mit „Frauenkult", „Frauenverehrung" positiv zu umreißen ist (es wurde gezeigt, daß dies eine Einstellung ist, die sich gerade gegen die Frau richtet). Wenn diese Texte das Programm des Buches adäquat wiedergeben, so hat der Leser tatsächlich keine „Dichtungen" zu erwarten. 8.3 Die Prosagedichte in „Was der Tag mir zuträgt" 8.3.1 Überblick Fast alle in „Was der Tag mir zuträgt" enthaltenen Prosagedichte sind schon zuvor in Zeitschriften bzw. in „Ashantee" veröffentlicht worden26: auch dies ist schon ein weiterer Hinweis darauf, daß im Werk Altenbergs nach 1900 das Prosagedicht von anderen Textformen in den Hintergrund gedrängt wird. Die im Untertitel des Zyklus' „Paulina" enthaltene Bezeichnung: „Novelle" offenbart eine zunehmende Unsicherheit des Autors im Hinblick auf die getroffene Gattungswahl. Geht man davon aus, daß unabdingbar zu den Kennzeichen einer Novelle die „Geschlossenheit ihrer Form" 27 gehört, so ist die Berechtigung dieses Gattungsbegriffs im Zusammenhang mit dieser Skizzenreihe mehr als fragwürdig. Zu diesem Ergebnis kommt auch P. Wagner in seiner ausführlichen Interpretation des Zyklus 28 : „Der Ausschnittcharakter der mit Titeln versehenen Einzelbegebenheiten und das Fehlen erzählerischer Verknüpfungen zeigen (...), daß die .Novelle' in ihrem Aufbau vielfach von Kompositionsprinzipien bestimmt ist, die auch für die ,Skizzen-Reihen' in ,Wie ich es sehe' konstitutiv waren." 29 26
27 28 29
„Lokale Chronik": 1. Veröffentlichung „Liebelei", Nr. 3 (1896); „Hausball", „Liebelei", Nr. 8 (1896); „Marionetten-Theater", „Paulina", „Tristan und Isolde": „Ashantee" (1897); „Theater-Abend": „Wiener Rundschau", 4. Jahrgang, Nr. 6 (1900); „NeuRomantik": „Wiener Rundschau", 4. Jahrg., Nr. 11 (1900). Ausnahme: „Die PostNovize", „Was der Tag mir zuträgt", S. 43—45. L. Mackensen, Die Novelle. In: Die Novelle. Hrsg. v. Josef Kunz, S. 402. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 126—130. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 130.
Die Prosagedichte in „Was der Tag mir zuträgt"
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Der Text „Marionetten-Theater" soll in diesem Kapitel als ein Beispiel für die durch Übernahme aus älteren Publikationen in „Was der Tag mir zuträgt" noch präsente Form des Prosagedichts analysiert werden.
8.3.2 Gescheite unter Narren: „Marionetten-Theater" 30 Sowohl die räumliche als auch die zeitliche Struktur des Textes ergeben keine differenziertere Gliederung; der Text enthält keine Deskription des einen konstantgehaltenen Raumes, und die zeitliche Folge entspricht ohne markierte Einschnitte, Lücken dem Ablauf des Dialogs. Diese Struktur des Nacheinander überzieht ein dichtes Netz rekurrierender Textelemente, die die Figuren über die Frage-Antwort-Relation des Dialogs hinaus zueinander in Bezug setzen. Die signifikanten Rekurrenzen: die beiden Leitmotive „Ich war in einem Theater" (siebenmal) und „Feind (seeliger) meines Lebens" (fünfmal im Text) ergeben auf der syntagmatischen Ebene eine Gliederung in zwei parallel verlaufende Textstränge, die nur an einer Stelle explizit aufeinander bezogen sind. Es handelt sich dabei zum einen um das Gespräch über „Rositas" ersten Theaterbesuch und zum anderen um eine den ganzen Text durchziehende Wiedergabe der Reflexion einer Figur (Dame), deren Kontinuität durch das zweite Leitmotiv hervorgehoben ist. Die Darstellung des Denkens und Handelns der Figuren verweist stets anaphorisch auf Erfahrungen, die vor dem Zeitpunkt liegen, an dem die Geschichte einsetzt. Obwohl über den Besuch des Geliebten bei der Dame und über den Theaterbesuch von Rosita, Großvater und Peter A. überhaupt nichts Konkretes berichtet wird, enthält der Text eine Fülle von Hinweisen, welche der Leser in dieser Richtung zu entschlüsseln hat. Eingangs des Textes — und diesen ab da leitmotivisch durchziehend 31 — wird mittels der Kombination der Farbbezeichnungen „krebsrot" und „weiß" und des Oxymorons „Frühling im Winter", die große, immer noch nachwirkende Freude des „alten Herrn" über den Theaterbesuch mit seiner Enkelin, seine Liebe zu Rosita beschrieben. Durch zwei Antithesen wird die Darstellung der „Mama" dem gegenübergestellt: erstens durch die Erwähnung ihrer „blasse(n)" Gesichtsfarbe, zweitens durch die Deskription ihres ganz aufs Alltäglich30 31
W t , S. 1 2 3 - 1 2 9 . Fünfmalige Rekurrenz des Adjektivs „krebsrot" (S. 124, 125, 127 (2), 128).
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Praktische gerichteten Handelns, das dem noch ganz vom außerordentlichen Ereignis bestimmten Verhalten von Großvater und Enkelin schroff entgegengesetzt ist. Signifikant ist hier die Detailschilderung: der Versuch der Dame, die „beiden gelben Fläschchen" nach ihrer Funktion zu unterscheiden steht deutlich in Opposition zu der vorhergehenden paradoxen syntaktischen Zusammenfügung des sich Widersprechenden. Genauso widerspricht die aufs Erzählen, auf den Einzelheiten unterscheidenden Bericht gerichtete Erwartung der Mutter dem elliptischen Sprechen ihres Vaters und ihrer Tochter, denen es um den umfassenden Ausdruck des ungeteilten Ganzen der Erfahrung geht: „Wer das nicht gesehen hat !" wiederholt der „alte Herr" immer wieder, genauso wie Rosita nur kindlich begeistert sagt: „Ich war in einem Theater!" „Peter A's" Verteidigung der Tochter vor der Mutter ist zugleich eine immanente Apologie der Poetik des Andeutens im Prosagedicht: „Alles liegt darin. Braucht man mehr zu sagen?! Wie ein Genie drückt sie sich aus." (123 f.) Der Parallelismus: „Die Dame sass da, . . . " — „Der Großvater sass da" (124) lenkt den Blick auf das nach diesen einleitenden Sätzen jeweils Folgende, welches schon durch die in diesen enthaltene Opposition „welk" vs. „krebsrot" als einander kontrastierend ausgewiesen ist. Die Reflexion der Frau enthält nun in gleicher Weise wie zuvor das Reden des Großvaters und Rositas keine diskursive Darstellung der unglücklichen Begegnung mit „Edgar", sondern variiert nur die Formel „Feind meines Lebens", die bloß allgemein die negative Gesamtwirkung dieser Beziehung ausdrückt. Ihre Liebe ist der Liebe des Großvaters, die ihm „Jugend" und Kraft spendet, als eine, die das „Leben ( . . . ) knebelt" (124), entgegengesetzt. Sie bildet damit das den ganzen Text durchziehende negative Gegenbild, vor dem sich die positive Darstellung der Freude Rositas und der Liebe des Großvaters (und Peter A's) zu ihr um so deutlicher abzeichnet. In einer ungefähr in der Mitte des Textes angesiedelten Szene wird der Höhepunkt dieses Konfliktes entwickelt. Der Dame, die auf Einhaltung der gesellschaftlichen Konvention achtet (ein Kind, das von einem Erwachsenen ,ausgeführt' wird, hat sich bei diesem zu bedanken), stellen sich „Peter A.", „Großvater" und nun auch erstmals der Erzähler als geschlossene feindliche Gruppe entgegen. Die Rede des Dichters, daß „sie uns giebt und giebt und giebt" wird dabei mit analogen Wortfolgen aus der viel später erst erscheinenden Rede der Dame verknüpft: „Immer nehmen und nehmen und nehmen" und gibt damit nochmals ein pointiertes Bild des Gegensatzes (im Anschluß daran wird
Die Prosagedichte in „Was der Tag mir zuträgt"
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denn auch das „Programm" der Gruppe der „alten Herren und der Dichter" vom „Herrn Peter" „hart und aggressiv" formuliert: „Die, die nicht mehr betteln am Wege des Lebens, ( . . . ) die Könige, die vom Geben leben! Siehe, krebsrot sind wir vor Liebe!!" 126 f.). Das im langen, durch die Drohung der Dame „Bedanke Dich, nun wird es?!" (126) unterbrochenen, Erzählerkommentar enthaltene Wort vom „Teufel" verknüpft das Urteil über das aktuelle Verhalten der Frau mit den Bemerkungen über den „Feind ihres Lebens": das Unfreie der Liebesbeziehung wird weitergegeben in der autoritär achtlosen Erziehung des eigenen Kindes. Ohne daß im Text dieser Kausalzusammenhang explizit thematisiert würde (und dies geschieht auch nicht an dieser Stelle, an welcher schon ansatzweise eine Selbstinterpretation geleistet wird), gibt die Wortrekurrenz einen Hinweis auf das vom Leser zu entdeckende Bedingungsverhältnis. Das scheinbar kindlich sinnlose Wispern Rositas, welches die Szene abschließt, setzt in Wahrheit die Erzählerbemerkung, daß das „bedanke Dich" gar „keinen Inhalt" habe, in konkrete Sprachhandlung um: „Der alte Herr hörte nur: ,bs bs bs bs bs .' ( . . . ) von Dankesworten keine Spur." (126) Der Chiasmus: „Ich war in einem Theater! ( . . . ) In einem Theater war ich!" (127) gibt einen Hinweis auf die Gleichwertigkeit der Satzsegmente des Leitmotivs, zeigt, weshalb man nicht mehr zu sagen braucht. Diese leicht modifizierte Rekurrenz ist nicht tautologisch, sondern gibt die Möglichkeit differenzierter Betonung und weist damit sowohl auf das Erlebnis als auch auf das Subjekt, welches dieses Erlebnis haben konnte, hin — jeweils den einen Aspekt des Zusammengehörenden betonend. Und Rosita allein gab ihren Begleitern als „süsses Leben" (127), als Vorbild die Möglichkeit die gleiche Freude mitzuempfinden. Das Kind gibt dem Erwachsenen, nicht umgekehrt, es lehrt ihn wieder „Vergessen" (124), ein Aufgehen im Erlebnis, läßt ihn wieder zur „freie(n) Seele im Räume" (128) werden. So jedoch erscheint Peter A. der Dame als „Narr" (128), wenn auch als beneidenswerter. Denn ihrer Entschiedenheit in den Dingen des Alltags, der Konvention, der Sorge ums leibliche Wohl des Kindes (vgl. 123 f.) kontrastiert ein verworrenes Gefühlsleben, in dem die Widersprüche (Ehe und Liebesverhältnis) unversöhnt bleiben, die Liebe zum lebensfeindlichen Element degeneriert: „Die Dame fühlte: .Feindseliger meines Lebens, Edgar! Mit Dir hätte ich Rosita zeugen sollen! Mit Dir, verstehst Du mich?! Gerade mit Dir!' " Der den Text abschließende Kommentar der „alte(n) Kinderfrau" wirft ein ironisches Licht auf das Urteil der Dame, „Alt und verrückt
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
muß man sein" (um Rosita verstehen zu können): „Kinder brauchen Ordnung." sagt das Kindermädchen, „Unsere Frau ist gescheit und nicht so verrückt." (129) So wird die Dame mit der alten Kinderfrau, die das Gefühlsleben ihres Zöglings von der Warte des ruhigen oder unruhigen Schlafes aus beurteilt, zur Gruppe der ,Gescheiten' unter ,Narren' vereint — und wäre doch in Wahrheit nur glücklich (vgl. 128), wenn sie die Kraft hätte, selbst wie ein ,Narr' zu leben. 8.4 Wiener Feuilleton 8.4.1 Ferienerinnerung: „Angenehme Reise-Eindrücke" Die Seen-Landschaft des Salzkammerguts spielt schon in den Texten aus „Wie ich es sehe" eine wichtige Rolle, vor allem in der Reihe „SeeUfer". 3 2 Doch dort geht es nicht darum, ein literarisches Porträt dieser bestimmten Gegend zu entwerfen, schon jede Art von spezifischer Ortsbezeichnung wird vermieden. Diese Landschaft der Seen mit ihren befestigten Ufern haben in den Prosagedichten die Funktion eines symbolischen Raums, der mit allen seinen Merkmalsbestimmungen auf das Handeln der in ihm sich aufhaltenden Figuren verweist. Dabei ist die Perspektive, aus der in diesen Werken Natur geschildert wird, stets eine städtische, Naturphänomene werden mit Vergleichen aus den Bereichen der Mode, des Theaters veranschaulicht. Diese Sicht der Natur vom Leben der Stadt aus sowie das Motiv der Landschaft insgesamt verbindet diese Texte mit der dreiteiligen Skizze „Angenehme Reise-Eindrücke". 33 Doch was dort als literarischer Raum ein Element der Struktur des künstlerischen Textes ist und nicht als isoliertes Realitätspartikel bedeutet, sondern als Teil des Werkganzen auf die Wirklichkeit sich bezieht, wird hier zum unmittelbar aufs Historisch-Identifizierbare referierenden Namen. Die unter dem Untertitel „Gmunden." erzählte Geschichte von „Herr und Hund" wird zur bloßen Anekdote und der Vergleich des glücklichen Lebens in der Provinz mit dem nur an Kultursensationen interessierten Leben der Großstadt ist eine von einem Städter für seine städtischen Leser geschriebene kritische Meinungsäußerung. Die mangelnde Präzision des Ausdrucks („Theater-Berichte liest und so (...) Kainz, Kainz, Kainz. Und andere Sachen.") verweist auf die Belanglo32 33
Zu dem Folgenden vgl. S. 115 ff. dieser Arbeit. Wt, S. 2 5 3 - 2 5 6 .
Wiener Feuilleton
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sigkeit des Inhalts; doch nicht nur des Inhalts der städtischen Vergnügungen, sondern leider auch auf den des Feuilletons selbst: gipfelt doch dieser erste, angenehme Reiseeindruck in einem nurmehr peinlich zu nennenden Lobgesang auf die treuliebende Hundeseele: „Wunderbares Thier, edelster Geber, Geber!" (253). Der Kontext enthält keinerlei Hinweise, daß das Pathos des Superlativs etwa ironisch gemeint sein könnte. Der zweite Abschnitt des „Gmunden"-Teils enthält als Selbstzitat einen später im Buch noch einmal abgedruckten Ansichtskartentext 34 , hier erweitert um eine kurze Skizze, in welcher auf falsche und richtige Rezeption hingewiesen wird. Wichtig ist der intentionale Wirkungszusammenhang, in den der Autor sein kleines Werk hier stellt: „Dieses schickte ich an ein ganz junges Mädchen, um sie (?) zu warnen." Altenberg sieht sein Werk — wie schon in den programmatischen Aussagen der „Was der Tag mir zuträgt" einleitenden Texte 35 — in unmittelbar praktischer Funktion: Literatur als Lebenshilfe. Es geht im weiteren auch nicht um die Aufnahme dieses einen Textes, sondern um „diese(n) Altenberg" allgemein und um das, was „er denn eigentlich" möchte. In ironisch distanzierter Weise mokiert sich der Autor über Unverständnis und Ignoranz, die ihm entgegengebracht werden: „Er ist nur für reifere Menschen. Denen kann er wenigstens nicht schaden!" Dies sagt eine Dame, welche, dem See ständig nur den Rücken zukehrend, die Schönheiten der Natur nicht wahrnimmt, der also — wie der Text suggeriert — positiv formuliert, Altenbergs Ratschläge und Mahnungen gerade nützen könnten. Und natürlich vertritt „ein Mädchen" die Gegenposition: „Nein ( . . . ) , er befreit uns ." (254) Die Belanglosigkeit von Urlaubsgesprächen wird dargestellt, deren zufälliger Inhalt nun „dieser Altenberg" ist. Der Kontrast zum einleitenden literarischen Selbstzitat — des nichtssagenden Geredes zum prägnant aphoristischen Sprechen — ist dabei wirkungsvolles Mittel der Kritik. Bei der diesen Teil abschließenden ,Gedankenstrich-Inflation' bleibt unklar, auf welche Auslassung sie den Leser wohl hinweisen soll, es sei denn auf ein bloßes „Undsoweiter, undsoweiter" in bezug auf die belanglosen Gespräche der Seebad-Gäste. Auch das Mittelstück des Textes gliedert sich in zwei Abschnitte, beidesmal handelt es sich um einen Lobpreis des Landlebens: zunächst wird die den Städter zum „wirklichen Primitiven" verwandelnde Macht Wt, S. 314. Auf diese besondere, meines Wissens nur bei Altenberg vorhandene literarische Textform werde ich in einem späteren Kapitel eingehen. " Vgl. S. 175 ff. dieser Arbeit. 34
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
der Atmosphäre des Seeortes „Hallstadt" am Traunsee behauptet (als einziges Belegbeispiel dient das Bild der nicht „englisch", sondern wie die Einwohner des Urlaubsdorfes „stehend" rudernden Gäste), und in einem zweiten Schritt wird die im Bild des Ruderns enthaltene Beschreibung der „Ruhig, langsam, bedächtig(en)" Lebensweise auf die psychische Kondition der Landbewohner selbst übertragen. Um das Vorbildhafte dieses ruhig-konzentrierten, nicht sofort alles „Herausbringenwollen" (255) gegenüber der Art des immer „reden, reden" müssenden Städters besonders pointiert zu benennen, bildet ein Vergleich zwischen „Bauer" und „Genie" den Schluß dieses Teils: „sehr viel Ähnlichkeit hat er (der Bauer) mit dem Genie. Er glotzt, glotzt, glotzt, läßt sich brachliegen. Plötzlich blitzt es, schlägt ein vor überschüssigen aufgehäuften Spannkräften. A b e r I h r , V e r z e t t e i e r ! ? ! " 3 6 Auch hier gibt es keine Ironiesignale im Text, der Zwang, die Bilder der Intention, die Vorbildlichkeit des Landlebens zu propagieren, unterzuordnen, führt zu diesen .verunglückten' und ,überzogenen' Vergleichen. Im letzten Teilstück fehlt diese didaktische Ausrichtung des Textes. Der Eingangssatz „Abends promenierte ich auf der Landstraße" gibt Auskunft über die Perspektive, aus der hier die von „weiten umzäunten Wiesen" umgebenden Villen des Seeorts „Goisern" geschildert werden. Die zufallig möglichen Einblicke in das abendliche Leben der Villenbewohner, die verstohlenen Blicke auf die Veranden, die auf der Straße hörbaren Gesprächsfetzen, riechbaren Essensgerüche konstituieren das synästhetische Bild der Deskription. Das sich hier entfaltende kaleidoskopartige Abbild des Seeortes bleibt ohne jede erkennbare Ordnung und weist in seiner akzidentellen Folge vor allem auf das Subjekt des Betrachters. Die zweimalige, leicht modifizierte Rekurrenz des Anfangssatzes im Schlußabschnitt dieses Teilstückes — und damit des Textes insgesamt — unterstreicht durch die syntaktische Ordnung und syntagmatische Wortfolge (das „Ich" als Subjekt des Satzes in der betonten Stellung als erstes Wort) genau diesen Aspekt. Insgesamt kennzeichnend für den Text „Angenehme Reise-Eindrücke" ist es, daß er nurmehr bestimmte Motive aus den früheren Werken Altenbergs zitiert, bloß Anspielungen auf das in den Prosagedichten als Einheit der Form Gestaltete liefert. Der Wandel der Gattung — vom Prosagedicht zum Reise-Feuilleton — verändert auch das an der Oberfläche scheinbar identische Material.
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Zu Beginn dieses Absatzes steht noch „Aber wir ...", nun nimmt sich Altenberg am Schluß wieder als der, der es besser weiß, aus dem Vorwurf heraus . . .
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Hinzu kommt eine in den ersten beiden Teilstücken deutliche didaktische Intention, die ein Sich-Beziehen auf die Autorinstanz als Beglaubigung der behaupteten Meinung zunehmend wichtiger werden läßt. Dem entspricht die Betonung der bloß perspektivischen Sicht der Realität im Schlußstück, der keine Kohärenz der Satzfolge des Beobachtungs-Inhalts mehr entspricht, das Sinnzentrum also einzig im Subjekt behauptet, damit jedoch verweist auch dieser Teil der Reise-Schilderung auf die Autorpersönlichkeit und läßt den Text schließlich insgesamt als ,subjektivistisches' Feuilleton verstehen.
8.4.2 Männerphantasien: „La Zarina" Bei dem Text „La Zarina" 37 handelt es sich um eine witzig-anekdotische Selbstironisierung des Altenbergschen Frauenkults. In sechs Bildern wird der Weg der Verehrung, die „A. L." (wahrscheinlich Adolph Loos) und „P. A." (also Peter Altenberg) einer Kokotte entgegenbringen, dargestellt. Dabei bezieht sich die Ironie auf bestimmte Übertreibungen dieser „Liebe", so etwa darauf, daß A. L. und P. A. sich nach dem Anblick des „Vollkommenen" der Frau ganz „befreit von dem bisherigen entsetzlichen Lügedasein" vorkommen. Das darüber hinaus jedoch an dieser Art der Frauenvergötterung grundsätzlich Fragwürdige wird nicht kritisiert. Eine ganze Reihe von Indizien bestätigen nochmals das schon bei der Analyse der programmatischen Texte sich ergebende Urteil: das zunächst nur als ein wichtiges Motiv unter anderen, nun losgelöst und von Altenberg selbst als das Hauptanliegen verkündete Moment des Frauenkultes basiert in Wahrheit auf einem Männerverhalten, das sich gegen eine gesellschaftliche Befreiung der Frau richtet. Dieser Aspekt des Eingebundenseins der nur scheinbar neuen Sicht der Frau in die herkömmliche Ideologie der Zeit, die den Frauen nur eine entmündigte Stellung in der Gesellschaft zuwies, wird schon im ersten Bild deutlich. A. L. und P. A. erblicken „das (!) Vollkommene" auf einer Photographie; auch schon zur Jahrhundertwende diente das neue Medium Photographie nicht zuletzt der massenhaften Verfügbarkeit des Frauenkörpers. Die Reduktion der Frau aufs bloße der männlichen Lust dienende Objekt wird im dritten Bild noch gesteigert: „La Zarina" stellt „bei
37
W t , S. 2 1 6 - 2 1 8 .
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Vom ,poeme en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Ronacher Poses plastiques". 38 Die beiden „Verehrer" müssen noch nicht einmal mehr dorthin gehen, haben sie doch die Entkleidung ihrer Angebeteten schon in ihrer Phantasie vollzogen: „In Kleidern, Süsse, sahen wir dich bereits nackt, Vollkommene!" (216) Wenn es auch zum ,Beruf der Kokotte gehört, zu den sie aushaltenden Männern stets „unbeschreiblich liebenswürdig" zu sein, so ist es doch auch der Wunsch der Zahlenden, daß es bei ihnen aus wirklicher Zuneigung geschehe. Genau diesem männlichen Bedürfnis entspricht das zweite Bild, in welchem A. L. und P. A. „La Zarina" mit drei Adeligen Champagner trinkend „edelste Menschenfreundlichkeit" (216) und Liebenswürdigkeit „überallhin" verbreiten sehen. Die in Bild fünf enthaltene Vorstellung, daß „La Zarina einst verarmen sollte und verkommen", ist zum einen für das Schicksal der meisten Kokotten sicherlich realistisch und entspricht zum anderen doch auch dem für den Bürger unbedingt als Reiz Dazugehörenden — ist es doch die Tatsache, daß diese Frauen außerhalb der sozial etablierten Moral- und Wohlstandssphäre stehen (inclusive gerade der Möglichkeit zu verkommen), die sie für den wohlsituierten Mann erst wirklich anziehend macht. Daß „La Zarina" „sogar geheiratet" 39 wird, weist auf das Außerordentliche eines solchen Falls, daß die Freunde, obwohl sie nicht „verarmte und verkam", immer „jedoch ( . . . ) noch getrost" weiter sammeln, zeigt auf den geheimen Wunsch, daß sie verarmen und verkommen möge. Hätten sie doch dann die Gelegenheit als Herrscher — so wie sie „ihre (.) treuen süssen Freundinnen" (da diese nicht so vollkommene Schönheiten sind) von sich stoßen — nun im Gegenteil „La Zarina" zu sich hinaufzuziehen. Bild sechs schließt als ironisch witzige Pointe den Text ab und enthält tatsächlich den „ganz passenden Abschluß dieses Liebesabenteuers" (218). Das Geld, das sie nun vertrinken, war von vornherein nicht im interesselosen Hilfsbedürfnis gesammelt worden, und daß die Ansichtskarte an „La Zarina" den Text enthält, den schon viele Karten der Freunde an andere Frauen trugen, verweist nun offen auf die Austauschbarkeit des jeweiligen Objekts der Verehrung. Die Tatsache der Reduktion jeder einzelnen von ihnen auf ihren Körper, der Frau in diesem Frauenkult aufs bloße Objekt bleibt dabei von der Selbstironie der anekdotischen Erzählung ausgeklammert. Die im Text explizit enthalte 38
39
Derartige Darstellungen lebender Bilder hatten zu dieser Zeit meist die Funktion einer Umgehung des Nacktheits-Verbots. Das „Ronacher" ist ein in der damaligen Zeit in Wien sehr bekanntes Vergnügungsetablissement. Hervorh. von mir, S. N.
Die „Lokalnotiz und deren Dichtung": „Gift"
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nen Wertungen zeigen zwar die Unernsthaftigkeit der Übertreibungen auf, lassen jedoch den Frauenkult im Kern unangetastet. Altenbergs literarische Produktionen, die als nicht künstlerische Texte eine bestimmte Frauenverehrung unmittelbar proklamieren, sind durchweg Bestätigung männlicher Vorurteile über das „Wesen" der Frau. „La Zarina" ist nur eine amüsante, leicht selbstironische Spielart davon. Als anekdotische Erzählung, die zielgerichtet als in sich abgeschlossene Geschichte (ohne vom Leser auszufüllende Lücken) zur Schlußpointe hinführt, erfüllt der Text als witzig-geistreiches (aufgrund des einfachen Aufbaus leicht zu rezipierendes) Feuilleton, das nichts wirklich in Frage stellt, reine Unterhaltungsfunktion. Die Freude daran nutzt sich jedoch — wie Karl Kraus anmerkte — schnell ab: „Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten, es ist als stünde man plötzlich hinter den Kulissen und sähe, daß alles von Pappe ist." 40 8.5 Die „Lokalnotiz und deren Dichtung": „Gift" Der kurze Prosatext „Gift" 41 wurde zuerst im Jahre 1899 in der „Wiener Rundschau" 42 veröffentlicht, gehört also von seiner Entstehungszeit her noch in die Nähe der in „Ashantee" aufgenommenen Skizzen. Der Text gliedert sich in drei typographisch durch Querstriche markierte Teile: ein drei von den insgesamt vier Seiten umfassendes dialogisches Hauptstück und zwei im zeitlichen Verlauf des Geschehens später anzusetzende Schlußabschnitte. Jeder erste Satz jedes Teils enthält das die thematische Progression einleitende und insgesamt für den Text dominante Element der semantischen Strukturebene. Das Wort „Kragen" rekurriert allein auf den ersten drei Seiten fünfmal und ist unzweideutig das Hauptleitmotiv des Textes: so dreht sich der Dialog zwischen dem „junge(n) Mädchen" und seiner „Mama" zunächst einzig um die Frage nach diesem Bekleidungsstück. Erst gegen Ende der ersten Seite wird der Leser aufgeklärt über die Symbolfunktion, die diesem „Stehkragen" im Text zugeschrieben wird. 40 K. Kraus, Werke Bd. 3: Beim Wort genommen, S. 113 f. « Wt, S. 2 3 - 2 6 . 42 3. Jahrgang, Nr. 10.
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Vom .poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Im Zusammenhang mit der hier entscheidenden „Notiz aus einer englischen Zeitung", die das Mädchen der wiederholt fragenden Mutter schließlich als schriftliche Antwort überreicht, ist nicht wesentlich, daß hier im Text — authentisches oder fingiertes? — dokumentarisches Material verarbeitet wird. Wichtiger ist der entschieden rhetorisch deliberative Gestus dieses Zitates selbst. Diese zentrale Textstelle besteht in ihrem Kern aus imperativisch eingeleiteten Sätzen, die unmittelbar als Handlungsanweisungen fungieren. Dabei wird das erste Denotat des Satzes „Lasset sofort alle steifen Umhüllungen weg" 43 , welches durch die vorher erwähnte Handlung des Mädchens gegeben ist (Abschneiden des Stehkragens) im „Zeitungstext" durch immer mehr zum Allgemeingültigen tendierende Formulierungen bedeutend erweitert: „Jeder Zwang ermordet irgendetwas." Die logische Übertragung, in welcher die beengenden Kleidungsstücke zu emblematischen Verweisungen auf die gesellschaftlichen Zwänge insgesamt werden, folgt in konzentrierter Form direkt im nächsten Satz: „Das Mieder die Brüste, der Kragen den Hals, die heutige Ordnung die Seele." Das darauf folgende, an den vorletzten Satz wieder anknüpfende „Alles" bildet die universale Klammer, die das Kleinste (als Verweisung) mit dem Größten verbindet. Daß die „Notiz" dann wieder zu jenem zurückkehrt — „Verbannet alle Leinenkragen! ( . . . ) Turnet!" — und sein Ziel findet in der mit Sperrdruck akzentuierten Aussage: „Ein B l ä h h a l s ist f a s t ein m o r a l i s c h e s V e r b r e c h e n " bleibt zwar somit im Bereich der logischen Struktur dieser Rede, entbehrt jedoch wohl nach den universalistischen ,Höhenflügen' des Mittelteils nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik. Die aus der Lektüre des Zeitungstextes resultierende, ausführlich beschriebene Aufregung der „Dame" scheint jedoch immerhin genügend motiviert. Das Argumentationsmuster der Zeitungsrede wird im folgenden Dialog übernommen: die Mutter erhält dabei den auf die sachliche („kleine") Ebene bezogenen Part, während „Dodo" die universalisierenden Interpretationen liefert. Auf die Rede der „Dame": „Man müßte direkt die Zeitungen vor Dir verstecken. Woher hast Du dieses?" antwortet das Mädchen: „Es lag in der Welt, wie alle Wahrheiten." (24) Der Mutter geht es bei ihren insistierenden Bitten, den Kragen nicht abzutrennen, nur um das Kleidungsstück. Die Tochter erkennt einerseits die „Nichtigkeit des Anlasses" des Streits, nämlich, daß es bei der Mutter nicht um grundsätzlichen Widerspruch geht —
43
Der Punkt am Schluß dieses Satzes ist sicherlich ein Druckfehler.
Die „Lokalnotiz und deren Dichtung": „Gift"
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was durch ihren zurückhaltenden Verweis nach erfolgter ,Tat' bestätigt wird; andererseits liefert Dodo anschließend eine lange Erklärung, die nicht nur eine umfassende Theorie der Sozialisation der Elterngeneration enthält, sondern auch die logische Verknüpfung der Handlung des Kragenabtrennens mit dem Satz: „Wir aber müssen uns von uns aus vervollkommnen!" leisten muß. Die Parallelführung zum strukturellen Aufbau der Notiz findet ihren Abschluß in der hier im Dialog nun gleichermaßen erfolgenden Rückkehr von der „Vervollkommnung" zum „Turnen", das von Dodo als zweites Element der Handlungsanweisung noch befolgt werden muß. Auch hier enthält der Schlußsatz durch adverbiale Zuordnung von „ewig" zu „turnen" als unfreiwillige Komik der Figurenrede eine leicht ironisierende Tendenz. Die beiden letzten Textteile bilden eine Art kommentierenden Nachtrag zum Vorhergehenden. Darin wird einerseits der Symbolcharakter der Handlung und damit die Interpretation der Zeitungsrede und die dieser folgenden des Mädchens bestätigt: die „Dame" hält den ganzen Vorgang für eine beim „Souper" dem „Vater" berichtenswerte Information — und „Tante Z." schätzt das Betragen der Nichte gar als „Scandal" (26) ein. Die achtlos indifferente Haltung des Vaters und die Tatsache, daß — wie es hier bezeichnenderweise zum erstenmal heißt — „Fräulein" Dodo „nicht lange Zeit" später wieder (als Folge der verwandtschaftlichen Entrüstung) folgsam steife Kragen tragen muß, verweist auf der einen Seite wieder auf die kindliche Unernsthaftigkeit der Revolte. Doch am Schluß des Textes steht die Sehnsucht des „jungen Mädchens", für welches die „Forderungen der verehrten und geliebten unbekannten englischen Dame" Verheißungen einer besseren Zukunft sind: „Mein Töchterchen wird freien Hals tragen und schön und stark sein, daß sie nackend durch die Straßen schreiten könnte in Wind und Wetter!" Die hier proklamierten reformatorischen Anliegen sind noch gebunden an bestimmte Perspektiven, an die der Zeitungsnotiz und des Mädchens. Doch schon entschiedener als in den Texten der „StudienReihe" „Revolutionär" aus „Wie ich es sehe", die in den Reden der Hauptfigur schon diätetisch-reformatorische Positionen überliefert, wo diese jedoch nicht von der einen bestimmten Figurenperspektive abzulösen sind, ist hier das ideologisch-propagandistische Element in den Mittelpunkt gerückt. Der argumentativ-deliberative Text der Notiz wird zum textstrukturierenden Zentrum, um das herum die übrigen Teile sich gruppieren als Beispielerzählung in nur der Veranschaulichung dienenden Funktion. Der Status des Zitats ist hier ein ganz anderer als
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
etwa in der Skizze „Locale Chronik" 44 , dem Text, der — nach seinen eigenen Angaben — Altenbergs literarische Karriere begründet hat. 45 Dort dient die Zeitungsnotiz als zur nachfolgenden literarischen Gestaltung in Opposition gesetzte stoffliche Folie und ermöglicht so eine Darstellung des Dichtungsprozesses in der Dichtung selbst, wobei die Sprache der Zeitung und die der Literatur in bewußter Abgrenzung nebeneinanderstehen. Auf diese Verarbeitung des durch den PresseArtikel gelieferten Stoffs bezieht sich die Äußerung Karl Kraus', daß ihm „die letzte Lokalnotiz oder deren Dichtung bei Peter Altenberg stets unendlich mehr gesagt" 46 habe als die literarische Großform des Romans. 47 In „Gift" dagegen ist der Zeitungstext funktional integriert in den Gesamttext in einer Weise, die ihn insgesamt zum handlungskonstituierenden Strukturelement werden läßt: die Notiz ist dabei nicht mehr stoffliche Vorlage, sondern dieser Ratgebertext mit seinen unmittelbaren Handlungsanweisungen bildet den Kern der Skizze, der narrative Teil nur dessen Hülle.
8.6 Aphorismus und didaktische Intention Es ist eine Konsequenz der verstärkt reformatorisch-didaktischen Funktionsbestimmung der Literatur in „Was der Tag mir zuträgt", daß der Aphorismus hier eine bedeutende Rolle spielt. Die 22 Seiten umfassende Sammlung „Ganz kleine Sachen" 48 enthält fast ausschließlich Aphorismen, dazu kommen noch die unter dem Titel „Ansichtskarten" 49 zusammengefaßten Texte sowie die „Aphorismen einer Primitiven". 50 In „Wie ich es sehe" gibt es Aphorismen nur in der Skizzen-Reihe „Revolutionär". 51 Dort sind sie als Teil der künstlerischen Produktion des „Revolutionärs" deklariert und nur in diesem Zusammenhang einer notwendigen Rückbindung an die Figurenperspektive zu verstehen. 44
Wt, S. 159 — 165. Dieser Text war Altenberg so wichtig, daß er ihn gleich an drei verschiedenen Orten publizierte: als seine erste Zeitschriften-Publikation überhaupt in „Liebelei", Nr. 3 (1896), dann in der 1. Auflage von „Ashantee" (1897) und schließlich in „Was der Tag mir zuträgt". 45 Vgl. P. Altenberg, Semmering 1912, S. 35 f. 46 K. Kraus, Werke Bd. 2: Die Sprache, S. 207. 47 Vgl. S. 216 dieser Arbeit. 48 Wt. S. 2 6 3 - 2 8 4 . 49 Wt, S. 3 1 0 - 3 1 5 . 50 Wt, S. 3 2 2 - 3 2 4 . 5' Vgl. S. 111 ff. dieser Arbeit.
Aphorismus und didaktische Intention
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Dies bedeutet in einigen Fällen eine durch den Reihen-Kontext bedingte Relativierung des aufklärerisch-provokativen Gehalts. Mit Ausnahme der als Rollentexte ausgewiesenen „Aphorismen einer Primitiven" ist bei den übrigen aphoristischen Texten in „Was der Tag mir zuträgt" keine derartige Kontexteinbindung mehr festzustellen. Der Leser hat sich der gerafft ausgesprochenen Behauptung ohne die Möglichkeit einer Distanzsetzung zu stellen. Der Aphorismus kommt als Textform der provokatorisch-didaktischen Intention am weitesten entgegen, zwingt er doch den Leser zur unmittelbaren Überprüfung des mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit Gesetzten an der eigenen individuellen Erfahrung. Diese Notwendigkeit des unmittelbaren Vergleichs mit der subjektiv erfaßbaren Wirklichkeit, macht jedoch auch die Beschränkung des Aphorismus aus: mit der Zustimmung oder Ablehnung (Korrektur durchs private Wirklichkeitsmodell) der .Lehre' endet die Beschäftigung mit dem Text. Der Aphorismus wirkt nicht längere Zeit, als der Leser zur Bildung seiner eigenen Meinung zur im Text ausgesprochenen benötigt. Dies geht um so schneller, je simpler die Bauform das Lehrhafte hervorkehrt: Der Kuss. Der erste Kuss kommt i m m e r zu früh und nie zu spät. Merke das, Du armer „ n i c h t w a r t e n K ö n n e n d e r " , Mann! Merke das, Du reiche „ e w i g w a r t e n K ö n n e n d e " , Frau! (268)
Anders verfahrt ein Aphorismus wie: An seinen Idealen zu G r u n d e g e h e n können, heißt l e b e n s f ä h i g sein! (274)
Auch dieser Text enthält einen unmittelbaren lebenspraktischen Ratschlag (,Du sollst Deinen Idealen im Leben unbeirrt folgen!'), jedoch hier ins provozierende Paradox gekleidet, und nicht in der direkten imperativischen Wendung zum Adressaten, wie in dem Text „Oben": Auf Gipfeln sollst Du wandern! An Abgründen! Bereit, zu zerschellen, bereit! Aber in den Thälern liegt der träge Dunst und die armselige Sicherheit! (275)
Hier ersetzt der Pathos der Rede die fehlenden Gedanken, wird die Antithese zum bloß redundanten negativen Ausdruck des Gleichen. Im schlimmsten Fall verkommt der Aphorismus zum bloß erweiterten Sprichwort, das seine besondere Aussagekraft von der Zuschreibung zum „Dichter-Herz" empfangen muß:
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
Panta rei. „Rast' ich, so rost' ich „Rast' ich, so rost' ich
" sagte das Dichter-Herz. " fühlte die Frauen-Seele (279)
Die „Frauen-Seele" „fühlt", was der Dichter ,ausspricht' — nur daß hier das Vertrauen in die das Zitat umgangssprachlicher Lebensweisheit verwandelnde Instanz des Dichters überstrapaziert wird, die Zeilen trotz des anspruchsvollen — für sich jedoch auch schon sprichwörtlichen — griechischen Titels unverändert banal bleiben. Die Sammlung „Ansichtskarten" stellt einen einzigartigen Versuch dar, dieses Massenkommunikationsmittel Ansichtskarte, das üblicherweise nur als Urlaubsgruß Verwendung findet, als Medium für einen künstlerischen Text zu nutzen. Die daraus resultierende Struktur ist die des Emblems: das nicht überlieferte Bild fungiert dabei als ,pictura', die Überschrift, die immer stichwortartig kurz den Gegenstand der Abbildung benennt, als ,inscriptio' und der unter ihr stehende aphoristische Text als ,subscriptio'. Das Wechselspiel zwischen ,inscriptio', dem vom Leser zu imaginierenden Bild und interpretierend auslegender ,subscriptio' ergibt dabei erst den Sinn, die aphoristische Sentenz für sich isoliert bliebe entweder unverständlich oder beliebig vieldeutig. Blumenkorso in Gmunden. Aber den Menschen genügt nicht die stille Natur feiern! (314)
sie müssen lärmende Feste
„Stille Natur" bezieht sich dabei auf die reizvolle Landschaft des Traunsees in Oberösterreich, an dem Gmunden liegt, der dem konkreten Bild inhärente Kontrast zwischen „Blumenkorso" und „Seenlandschaft" dient der ,subscriptio' zunächst zur verobjektivierenden Entwicklung und dann umgekehrt zur Veranschaulichung der Sentenz. Die „Aphorismen einer Primitiven' sind Darstellung einer eindimensionalen, tatsächlich „primitiven" Reflexion einer Prostituierten über ihre Kunden bzw. Geliebten. Die hier an die Rollendefinition gebundenen „Weisheiten", Lebensregeln sind insgesamt nur belustigend und sollen es wohl auch sein. Umgangssprachliches Sprechen, Grammatikfehler und Dialekt haben die Aufgabe, den Texten den Charakter von Authentizität zu verleihen. Dies gelingt nicht immer: Wenn er mich prügelt, dann ist es 'mal sicher wenigstens, das seine Neigung bis zur P r ü g e l - E m o t i o n ging! Er prügelt gerade soviel aus mir heraus als seine Kränkung gross war, die ich, leider, ihm bereitet habe! Det is doch eene C o n t r o l l e ! Eine Ohrfeige, det is was s i c h e r e s ! Aber die L i e b e s s c h w ü r e ? ! ? (323)
Die Versgedichte in „Was der Tag mir zuträgt"
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„Prügel-Emotion" — durch Sperrdruck noch hervorgehoben — paßt wohl kaum zum übrigen Duktus der Rede. Die sozialdeklassierten Prostituierten, in vielen Texten Altenbergs gegen gesellschaftliche Vorurteile verteidigt, werden hier in schlimmster Weise für's pure Amüsement der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Aphorismus fungiert hier nicht mehr als Ausdruck des Verhältnisses zwischen .Darstellung des Wirklichen' und .Entwurf des noch nicht Wirklichen' als Konflikt 52 , sondern einzig als bestätigender Spiegel der Realität. 53 8.7 Die Versgedichte in „Was der Tag mir zuträgt" Die Abkehr von der Form des Prosagedichts in „Was der Tag mir zuträgt" führt nicht nur auf der Seite der Prosa hin zur anekdotischen Erzählung, sondern in Richtung auf den anderen Teilaspekt ,Poesie' auch wieder zur Verslyrik. Das Buch enthält neben dem schon erwähnten „Motto" in Versen einen sechs gereimte Versgedichte umfassenden Zyklus „Gedichte an Ljuba". 54 Darüber hinaus ist noch ein Text mit dem Titel „Gedichte" 55 zu finden, der in seiner unfreiwilligen Selbstentlarvung äußerst aufschlußreich ist. Man kann ihn als provozierende Antithese zu „Wie wunderbar" aus „Wie ich es sehe" 56 verstehen. In beiden Fällen steht ein Gedicht im Zentrum der Textstruktur, während es sich jedoch bei „Wie wunderbar" um eine polemische Wendung gegen schablonenhafte .Reimerei' und eine Lyrik in Versen überhaupt richtet, wird hier nicht nur im Gedicht der Prostituierten der Reim wieder betont verwendet, sondern sogar der dialogische Rahmentext schließlich zum Reim geführt. Wurde in „Wie wunderbar" gerade der Aspekt von Authentizität des nicht durch künstliche Artistik verfälschten Sprechens hervorgehoben, so werden hier kindlich hilflose Reime als „Ausdruck der Seele" gewürdigt: „Ich hab' Dich so gern. Nun bist Du fern
."
Die dritte Zeile des Gedichts (die als seine letzte noch einmal wiederholt wird): „Das macht nichts" ist zugleich die signifikant rekurrierende 52 53
54 55
Vgl. G. Neumann, Einleitung zu: Der Aphorismus. Hrsg. v. G. Neumann, S. 13. Daran ändern leicht kritische Elemente wie in dem Text „Die Männer sind blöde " (324) nichts, betreffen doch auch sie die Situation des Sprechenden nur indirekt. Wt, S. 2 0 5 - 2 1 2 . Wt, S. 296. Vgl. S. 54 ff. dieser Arbeit.
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Wortgruppe des Prosakontextes. Der elliptische Charakter dieses Satzes ist nur Folge mangelnder Präzision der umgangssprachlichen Formulierung, die jeweilige Bedeutung ist durch die unmittelbar vorausgehenden Textsegmente fixiert, die Rekurrenz dieses bestimmten Syntagmas bleibt ohne erkennbare Funktion bloß redundante Wiederholung. Immerhin verknüpft sie jedoch das Gedicht mit dem Rahmentext. Sie stellt die Äußerung, die sich zunächst auf die Unwichtigkeit der Abwesenheit des Freundes und die Tatsache bezieht, daß niemand den Namen des ,bis über den Tod hinaus' Geliebten erfahren wird, gleich mit der Bemerkung über die Unwichtigkeit der Höhe des zu zahlenden Geldbetrags für den „Dienst" der Prostituierten. Der Hohn, der sich in dieser Parallelführung nur indirekt ausspricht, äußert sich peinlich offen in der Reimbindung der letzten Zeilen: „Sieh', Mädchen, wie genau ich zähle 5 für Deinen süssen Leib und 5 für Deine süsse Seele!"
Im Reim, der Rechnung und Seele miteinander verknüpft, wird zunächst die in diesem Satz ausgesagte Totalität des Warencharakters im Prostituiertendasein betont, nicht mehr nur ihr Leib, sondern der ganze Mensch hat seinen Preis, ist käuflich! Dieser (hier im doppelten Sinn) unreine Reim ist somit exakter Ausdruck des perfiden Gedankens der letzten Zeilen. Die „Gedichte an Ljuba" zeigen jedoch, daß auch die primitive Reimtechnik und das nichtstimmige Versmaß des Gedichts in „Gedicht" nicht auf diesen Fall, wo sie noch als Darstellung des niedrigen Bildungsstandes und der mangelhaften Kunstfertigkeit der Prostituierten verstanden werden können, beschränkt bleibt. So heißt es in dem ersten Gedicht des Zyklus „Was kann er für sie thun?!?": Ich kann mein Opernglas Dir leihen im Theater und Komplimente über seine Tochter machen zu Deinem Vater" (205)
Hier führen unstimmiges Versmaß und durch den Reimzwang bedingte Inversion nur zu einer „gestammelten Prosa". 57 In „Das neue Kleid" entstehen durch Oppositionssetzung der Reimwörter unterstützte Antithesen, die immerhin in ihrer Zuspitzung ein — es steht 57
Peter Wapnewski („Die Zeit", v. 28. 1. 1977, S. 25) spricht von „steckengeliebene(r) Prosa" und vom „Tagebuch im Stammel-Look", bezieht diese Ausdrücke jedoch auf reimlose moderne Lyrik, die sich, aus der Versschreibung gelöst, fast widerstandslos wieder in Prosa umwandeln lasse. Diese traditionalistische, pauschale Kritik erscheint mir vollkommen falsch zu sein: die Umschreibung Wapnewskis läßt andere Textelemente betonen und ändert damit den Textsinn.
Die Versgedichte in „Was der Tag mir zuträgt"
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zu befürchten: nicht vom Autor intendiertes — komisches Bild des unerhörten Liebhabers geben: Für leeren Ritterdienst bin ich zu alt, für echten Liebesdienst bist Du zu kalt! Dein altes Kleid und Dein neues Kleid schaffen mir nur Herzeleid!
Warum, sagen die zwei folgenden Zeilen: Ein jedes Deine Schönheit barg wie ein Sarg. (210)
Den Abschluß des Zyklus bildet das einzig gelungene Gedicht des Buches, das — in sinnvoller Weise die Möglichkeiten des Verses und des Reimes nutzend — ein prägnantes Bild des Absterbens der unerwiderten Liebe zeichnet. Neben „Das neue Kleid" ist dies auch der einzige weitere Text aus diesem Zyklus, der von Karl Kraus in seine Auswahl aufgenommen wurde 58 : Und endlich stirbt die Sehnsucht doch Und endlich stirbt die Sehnsucht doch Wie Blüthen sterben im Kellerloch, die ewig auf ein bißchen Sonne warten. Wie Thiere sterben, die man lieblos hält, und alles Unbetreute in der Welt! Man denkt nicht mehr: ,wo wird sie sein — ?!?' Ruhig erwacht man, ruhig schläft man ein. Wie in verwehte Jugendtage blickst Du zurück, und irgendeiner sagt Dir weise: ,S'ist Dein Glück!' Da denkt man, dass es vielleicht wirklich so ist, wundert sich still, dass man doch nicht froh ist! (212)
Die erste Zeile enthält das eine für das gesamte Gedicht bestimmende Thema, die auf die Gedankenstriche folgenden Zeilen sind quasi deren Ausfüllung. In den Versen 2 — 5 liefert die ,enumeratio' 59 der elliptischen Vergleichssätze die Begründung für den im ersten Vers ausgedrückten Sachverhalt. Das Absterben der Sehnsucht wird als natürlicher Vorgang begriffen, wie „alles Unbetreute" muß auch die unerwiderte Liebe irgendwann einmal in der Mangelsituation zugrunde gehen. Pointiert hervorgehoben wird das Kausalverhältnis durch das Fehlen einer Reimbindung in der dritten Zeile; die Wiederholung wird dann schon auf einen einzigen Vers konzentriert (Zeile 4).
58 59
Vgl. Peter Altenberg. Auswahl aus seinen Büchern v o n Karl Kraus, S. 91 f. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, §§ 6 6 9 - 6 7 4 , S. 3 3 7 - 3 4 0 .
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Die zwei folgenden Zeilen beschreiben nun in ihrer Antithese die Situation, die auf das Ende der Liebe folgt, und der Vergleich des folgendes Verses setzt einen Schlußpunkt, welcher nach diesem Ende die Größe des gefühlsmäßigen Abstands zu dem Vergangenen betont. Die Rede von den „verwehte(n) Jugendtage(n)" korrespondiert dabei mit dem Adverb „weise" der nächsten Zeile und unterstützt die Behauptung einer Sinnhaftigkeit im Absterben der Sehnsucht. Doch der Schlußvers des Gedichts macht die Zwiespältigkeit des Gefühls deutlich, man „denkt" nur, „dass es wirklich so ist", während man doch in Wahrheit „nicht froh ist". Die Unstimmigkeit des Versmaßes verweist hier auf die Ambivalenz dieses „Glück(s)". Wirkliches Glück wäre ja nur die Erfüllung der Sehnsucht, die Erwiderung der Liebe. Zudem wird hier ein unhaltbarer Zustand (die Sehnsucht, die keine Hoffnung auf Erfüllung haben kann) beendet nicht durch eine vom Subjekt gewollte Handlung, sondern bloß im Sinne eines natürlichen Vorgangs, der sich gleichsam als ungerufenes rettendes Schicksal einstellt.
8.8 Zusammenfassung der Ergebnisse Auch in „Was der Tag mir zuträgt" lassen sich noch eine Reihe von Prosagedichten finden, die nicht hinter den früheren aus „Wie ich es sehe" zurückstehen. Die meisten von ihnen sind jedoch — wie schon erwähnt — aus älteren Publikationen in dieses Buch übernommen worden. Insgesamt ist die schon in den programmatischen Texten eindeutig formulierte Neuausrichtung für die Struktur des Werks bestimmend. Die Akzentsetzung auf die Wirkungsabsicht im Hinblick auf die Vermittlung eines bestimmten weltanschaulich-ideologischen Gehalts hatte beim Autor eine Vernachlässigung der Frage nach der Form zur Folge. Für Altenberg ging es nurmehr um die beliebige Verpackung einer bestimmten Meinung. Tatsächlich hat diese Entscheidung auf die Form einen ganz und gar nicht zufällig-beliebigen, sondern in der neuen Funktionsbestimmung und den damit veränderten intendierten Wirklichkeitsbezug sehr gut zu begründenden, modifizierten Effekt. Die Betonung des inhaltlichen Moments, der Meinung, verweist über den Text hinaus auf denjenigen, der diese äußert als eine Instanz, die ihr Glaubwürdigkeit verleihen muß. Der „Dichter" als Persönlichkeit wird nicht nur bei rein didaktischen Texten wichtig, sondern auch in den erzählenden Werken. Für diese bedeutet das zum einen die
Zusammenfassung
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Entwicklung, die, entfernt von der relativen Autonomie des künstlerischen Prosagedichts, in „Was der Tag mir zuträgt" zum „Wiener Feuilleton" („Angenehme Reise-Eindrücke") führt, einer Form kurzer Prosa, wie sie sich in den Literatur-Spalten der Wiener Zeitungswelt fest etabliert hatte. Es kommt dabei nur auf die Erfüllung der Unterhaltungsfunktion an, die am besten gelingt, wenn Erlebnisse, Ereignisse ,subjektivistisch' dargeboten werden, dem Leser also eine wirkliche Auseinandersetzung mit derartig Privatem möglichst bequem gemacht wird. Dies heißt zum anderen auch eine Tendenz zur direkt anekdotischen Erzählung („La Zarina"), der amüsanten, in sich abgeschlossenen kurzen Geschichte, die den Leser nicht zu anspruchsvoll unterhaltend zur witzigen Schlußpointe führt. Auch mit Texten dieser Art reiht sich Altenberg ein in das gängige Repertoire des Feuilletons. Eine andere Gebrauchsfunktion ist der kurzen Prosa mit der zunehmend didaktischen Ausrichtung zugewiesen. In vielen Texten wird die Handlungsanweisung zum strukturellen Textzentrum und läßt — wie anhand der Analyse der Skizze „Gift" gezeigt wurde — ein narratives Element nur noch in der Funktion als Beispiel- und Rahmenerzählung zu. Die in bestimmten Strukturrelationen scheinbar feststellbare Nähe dieser Texte zur Form des Prosagedichts bringt gerade hier den Ablösungsprozeß um so deutlicher ans Licht: es ist nur eine formale Identität, nur eine Übernahme literarischer Verfahren im Sinne von Techniken, die als äußerliche Instrumente zum Transport des (Meinungs-)Inhalts Verwendung finden. Daß in einem Werk, das Literatur wesentlich als ,Lebenshilfe' begreift, die Form des Aphorismus einen breiten Raum einnimmt, ist nicht erstaunlich. Wichtig in bezug auf die in „Was der Tag mir zuträgt" so zahlreich vertretenen aphoristischen Texte ist jedoch das Ergebnis, daß übermächtige didaktische Intention sich hier oft äußerst nachteilig auf die Qualität der Texte auswirkt. Die als nackter Imperativ gesetzte Handlungsdirektive nutzt in ihrer Eindimensionalität nichts mehr von den Möglichkeiten, die der Aphorismus bieten kann. In der Formenvielfalt des Buches „Was der Tag mir zuträgt" erscheint nun auch wieder die Verslyrik. Vers und Reim sind hier wieder notwendig als Signale für den rein künstlerischen Text, der sich damit schon durch äußerliche Merkmale von den Ratgeber-Texten absetzt. Es handelt sich jedoch nicht nur um in Verszeilen umschriebene Prosa, sondern es gelingt immerhin in einem Fall („und endlich stirbt die Sehnsucht doch") gute Verslyrik, die die Formen des Reims und Metrums tatsächlich semantisiert.
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Vom ,poème en prose' zum Versgedicht: „Was der Tag mir zuträgt"
In „Was der Tag mir zuträgt" dominiert nicht mehr die künstlerische Form des Prosagedichts, sondern eine sich in verschiedenen Formen ausprägende Gebrauchsliteratur: eine schriftstellerische Produktion, die reine Unterhaltungsfunktion erfüllt, vor allem aber als Ausdrucksmittel einer bestimmten ,reformatorischen' Meinung fungiert. Das Werk Altenbergs verläßt hier schon den Weg des Prosagedichts. Die künstlerische Form des offenen Kunstwerks, des Prosagedichts als Fragment, als „sprachlich anberaumter Ort für Utopie" 60 , das die Widersprüche nicht in harmonischer Einheit versöhnt, sondern sie als unversöhnte, den Leser zur aktiven Rezeption fordernd, in der Form bloßlegt — dies von Altenberg in „Wie ich es sehe" errungene Ziel seiner Kunst wird hier verdrängt von einem Versuch, Utopie positiv zu füllen, Literatur als Vermittlung von besserem Wissen praktisch werden zu lassen. Die positive Lehre erweist sich schon in „Was der Tag mir zuträgt" als der hoffnungslose Versuch, auf die zuvor in der eigenen Kunst gestellten Fragen die bestimmten richtigen Antworten zu geben. Und diese Antwort reiht sich ein in das vieltönig unharmonische Konzert der Meinungen, in der sie dann als beliebig Subjektives schnell dem Vergessen anheim fallt.
60
G. Ueding, Fragment und Utopie, S. 72.
9. Literatur als Lebenshilfe: „Pródromos" Die Entwicklung im Werk Altenbergs zu einer positiv lehrhaften Literatur erreicht mit dem vierten Buch „Prödrömös" (1905) ihren Höhepunkt. Als Abschluß des Weges vom künstlerischen Prosagedicht zum reinen Ratgebertext soll diese eigentlich nurmehr als Kuriosität erwähnenswerte Veröffentlichung kurz behandelt werden. Da Wagner „Prödrömös" nicht mehr zum Frühwerk zählt und so auch keine Beschreibung der Gesamtkomposition liefert 1 , muß hier vorab ein grober Überblick über den Aufbau des Buches gegeben werden. Ein bestimmtes Anordnungsprinzip ist nicht auszumachen; das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses selbst für die nicht aphoristischen Texte erschwert die Orientierung für den Leser. Die Seiten 7 bis 114 enthalten ausschließlich Aphorismen, darunter in S. 52 — 57 bis auf die Weglassung der Titel unverändert aus „Was der Tag mir zuträgt" 2 übernommene Texte. Schon diese Übernahme spricht gegen einen zwischen dem dritten und vierten Buch Altenbergs anzusetzenden Bruch im Werk dieses Autors, sondern im Gegenteil für eine Kontinuität, die hier in „Prödrömös" nur eine bestimmte, schon vorher festzustellende Tendenz radikalisierend weiterentwickelt. Auf den Seiten 114 bis ca. 165 finden sich neben weiteren Aphorismen nun auch kürzere Essays und Prosaskizzen, während die Seiten 166—168 wieder ausnahmslos aphoristische Texte enthalten. Auf den letzten zwanzig Seiten (bis S. 205) folgen dann nochmals einige Prosaskizzen und etwas umfangreichere Essays. Insgesamt dominiert in diesem Werk eindeutig die aphoristische Textform und füllt ca. zwei Drittel der Seiten. Die Aphorismen und die sie verdeutlichenden, ihnen zugeordneten Essays oder Beispielerzählungen lassen sich nach thematischen Gruppen ordnen: Neben ca. 75 Texten verschiedenen Inhalts (über Pferdemißhandlung, Kino, Wagner und Hofmannsthals ,Elektra') sind es im wesentlichen Texte, die eine Diäthetik und Hygiene (in „Prödrömös" auch als „seelische Hygiene" zu verstehen) verkünden. Darunter finden
1 2
Vgl. P. Wagner, Peter Altenbergs Prosadichtung, S. 7 u. 12. Vgl. Wt, S. 2 6 2 - 2 7 2 .
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Literatur als Lebenshilfe: „Prödrömös"
sich nur ca. 67 Texte, die sich mit dieser neuen Lehre in allgemein räsonnierender Weise beschäftigen, davon sprechen ca. 44 etwa über Themen wie die Notwendigkeit des Haushaltens mit psychischen Energien überhaupt, über die Antithese Wissender (der, der die Lehre annimmt) und Unwissender (der, der die Lehre zurückweist), über den Dichter als Künder der Zukunft. 3 Immerhin rund 23 Texte sind dem Verhältnis zum „Weib" gewidmet, 4 dem wieder eine wichtige Anregerfunktion bei der geistig-seelischen Vervollkommnung des Mannes zugeschrieben wird: Wie ein beglückter Gärtner, will ich dieses Edelste, „Mannesgehirn', betreuen, beschützen, fördern. Und mein Triumph sei seine Gipfel-Höhe! (67)
Der Großteil der Texte widmet sich Detailproblemen, ca. 141 mal werden Ratschläge für eine diäthetisch richtige Lebensführung gegeben. Auch hier sind Schwerpunkte feststellbar, am häufigsten gibt es Hinweise zur richtigen Ernährung (ca. 42 Texte) 5 , dabei vor allem die ständige Empfehlung, nur leichtverdauliche Speisen zu sich zu nehmen; eine zweite große Gruppe befaßt sich mit der notwendigen Schlafmenge (ca. 15 Texte) 6 , mit der richtigen Bewegung eine andere (ca. 15). 7 Die Empfehlung möglichst weiter und karger Bekleidung enthalten ca. 13 Texte8, ca. 12 befassen sich mit dem Hinweis auf die heilende Wirkung frischer Luft 9 , ca. 11 geben Ratschläge zu Problemen des Sexuallebens 10 , immerhin 6 Texte empfehlen die „Vibrations-Massage" 11 , und 21 Texte schließlich befassen sich mit den verschiedensten Einzelfragen wie Nagelpflege, die richtige Schreibfeder usw. 12 Die Hauptpunkte seiner „Lehre" hat Altenberg in einem einzigen Text zusammenfassen können: 3
4
5
6 7 8 9 10
11 12
Vgl. S. 29, 31, 33, 37, 38, 40, 43, 45, 48, 49, 52, 53, 60, 75, 77, 80, 83, 86, 93, 96, 100, 102, 111, 112, 120, 167, 169, 172, 173, 180. Vgl. S. 17, 29, 30, 58f., 64, 66f., 90f., 95, 97f., 103f., 107, 131, 1 3 8 - 1 4 1 , 169f., 181, 183. Vgl. S. 1 3 - 1 5 , 2 1 - 2 5 , 27, 3 2 - 3 4 , 42, 49f., 50, 57, 59f., 6 6 - 6 9 , 71, 7 8 - 8 0 , 82, 88 f., 94 f., 101, 103 f., 110, 168 f. Vgl. S. 9, 26, 60f., 63, 75, 7 7 - 7 9 , 84, 106, 1 4 1 - 1 4 3 , 154, 167. Vgl. S. 46f., 61 f., 70, 72, 81, 83, 90, 96, 105, 1 1 4 - 1 1 7 , 130, 179f., 183. Vgl. S. 11 f., 37, 45, 6 9 - 7 1 , 88f., 123, 1 9 4 - 1 9 6 . Vgl. S. 7, 8 f., 12 f., 44, 59, 61, 74f., 87, 94, 105. Vgl. S. 11, 24 f., 28, 34, 36, 58, 90, 170, 178. Von der letzten Seite ein Beispiel: „Einen Menschen erziehen heißt seine sexuellen Dinge in seelische Angelegenheiten umwandeln können! Die R ü c k - U m w a n d l u n g geschieht dann von selbst." Vgl. S. 25 f., 35, 59 f., 80, 89. Vgl. S. 31, 35, 41, 46, 70f., 8 1 - 8 3 , 102f., 1 1 0 f . , 144, 1 7 8 - 1 8 0 , 193f.
Literatur als Lebenshilfe: „Prödrömös"
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Vino Condurango, ein Likörglas nach der Mahlzeit, in kurzen Schlucken getrunken. Tamar Indien Grillon, morgens vor dem Frühstück eine Pastille, gut zerkaut. Vibrations-Massage, ausgiebig bis zum ersten Ermüdungsgefühle. Schlafen bei geöffneten Fenstern, das Bett hart an das Fensterbrett herangerückt. Essen von Rekonvaleszenten-Kost, Wöchnerinnenkost, leichtverdaulich und nahrhaft. Warten können auf Hunger, auf Bergpartie-Hunger! So wirst du zu einem John Rockefeiler deines Lebens-Kapitales! (59 f.)
All dieses wird ständig wiederholt, manchmal wortwörtlich, manchmal nur leicht variiert. Altenberg sah sich selbst genötigt, dafür eine Rechtfertigung zu geben: „Immer wieder auf gewisse Dinge zurückkommen?!? Ja, man kommt immer wieder darauf zurück, dass 2 und 3 6 ergebe." (26)13 (Nur tut man dies eben nicht in simpler Wiederholung der gleichen Form und nicht in ein und demselben Buch). Die Anpreisung der abführenden und entschlackenden Mittel oder etwa der besten Zahncreme gerät Altenberg oft zum direkten Reklametext: „Pasta Suin de Boutemard. Ideales Zahnputzmittel. In Wien bei Twerdy, Apotheke Kohlmarkt." (82) Auch hier versucht Altenberg den vom Leser zu erwartenden Einwand vorwegzunehmen: „Was bezahlt Grillon für die Reklame?!?" (16) läßt er seine „Verwandten" im Text selbst fragen. — Die Liste derartiger kurioser Fälle ließe sich ins Unübersehbare verlängern und so mögen diese beiden Beispiele genügen. Diese kurzen Texte versuchen nicht logisch argumentierend zu überzeugen, sondern geben direkte Ratschläge, die oft als Befehl formuliert sind („Wir reagieren leider nicht auf Träumereien. Nur auf F e l d h e r r e n - B e f e h l e ! Das Moltke-Gehirn in uns — Gehirn, der Sieger! NachtTräume sind nicht zwingend. Aber Tag-Erkenntnisse!") 14 und oft auch in Beschimpfung der potentiellen ,Lernunwilligen' ausarten: „Bei geschlossenen Fenstern schlafen und so die Luft, die der Organismus als für seine Zwecke unbrauchbar ausatmet, wieder einatmen müssen, heisst ein i d i o t i s c h e r S e l b s t b e t r ü g e r sein!" 15 An einer anderen Stelle wird das Essen von grünen Erbsen mit Schale anstatt Erbsenpüree zur „Betätigung eines Blödsinnigen" erklärt. Zu dieser gesamten Diäthetik und den untrennbar dazu gehörenden fürchterlichen Entgleisungen in den Texten soll hier nur (der in diesem Fall zutreffende und dabei noch äußerst zurückhaltende) Kommentar Thomas Manns zitiert werden:
13 14 15
Vgl. S. 45 u. S. 52. Prödrömös, S. 8 (vgl. S. 48, 167 f.). Prödrömös, S. 12 (vgl. S. 10, 166).
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Literatur als Lebenshilfe: „Prödrömös"
Die Zukünftigkeit, das Propheten- und Führertum der Künstler ist etwas Organisches, das sich im Sein und Tun bewährt, als direkte Lehre aber auf eine hilflose Weise sich zu vergröbern, zu veräußerlichen und zu entgeistigen immer größte Gefahr läuft. Altenbergs neuer Adel, sein Instinkt für verfeinerte und entwickelte Menschlichkeit, sein humanes Führertum äußerte sich didaktisch in einer Gesundheitslehre und Diäthetik, zu der er den literarischen Mut aus gewissen Seiten des ,Ecce homo' schöpfte und die, verständigen wir uns, ein fürchterlicher Unsinn war. 16
Einer der in „Prödrömös" enthaltenen Texte über Pferdemißhandlung („Dekadenz", 104) wurde für Th. W. Adorno Anlaß zu einer Diskussion des Dekadenz-Begriffs in seiner Rezension der AltenbergAuswahl von Karl Kraus (1932): „Der politische Wille manifestiert sich in der Sprache des Privaten und bricht die private Romantik." Altenberg sei — wie Kraus — zuzuschreiben, daß er „die Forderungen an ein wahrhaft,ungestörtes' Privatleben gerettet hat als exakte Antizipationen gesellschaftlicher Forderungen aus der Sicht des Individuums" (Frankfurter Zeitung, 123/124, 1932). J. Habermas weist darauf hin, daß Adorno das Altenberg-Beispiel noch in seinen Vorlesungen der sechziger Jahre anführte und kommentiert: „Altenbergs ,Nervenschwäche' bezeichnet in der Tat eine Form extremer Individuation, die heute allein den Platz freihalten kann für eine einst zur Humanität fortgeschrittene Menschheit." 17 Adorno und Habermas interessiert hier die politische Position des Autors und nicht die Frage nach dem künstlerischen Wert des Textes. Die Herausstellung der inhaltlichen Position der Verteidigung des „Privaten" ist etwas ganz anderes als der Begriff für die Wirkung der Textstruktur, der gleichfalls aufs „Private" (d. h. die nicht geleistete Verobjektivierung) dieser anekdotischen Erzählung verweist. Adornos Verständnis des Dekadenz-Begriffes ist jedoch auch für die Analyse des literarischen Textes relevant, vor seinem Hintergrund gibt es eine Möglichkeit, die Entwicklung des Altenbergschen Werkes zu begreifen. Je größer nämlich das persönliche Leiden des Autors an der Realität, je übermächtiger das Erlebnis der alltäglichen Brutalität, desto geringer wurde bei ihm die Fähigkeit, sich dazu in Distanz zu setzen, das Erlebte Form werden zu lassen. Statt dessen unterlag Altenberg dem Zwang,
16
17
Th. Mann, in: Altenberg-Buch, S. 75. Der „Unsinn" Altenbergs geht bis zur antisemitischen Geistestrübung: „Es gibt zweierlei Menschen: Die, die in irgendeiner Weise den Plänen des Schöpfers in bezug auf die Sanierung der Menschheit Vorschub leisten, und die ,Apres moi le de'luge-Menschen', also C h r i s t l i c h e und J ü d i s c h e ! " (81) Vgl. auch S. 102! J. Habermas, Ein philosophischer Intellektueller, in: Über Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1968, S. 35 f. Zit. in: Bohn, Kritische Erzählungen, S. 229.
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dem Schreien der gequälten Kreatur mit einer gleichfalls immer schrilleren Antwort sofort zu begegnen. Die Texte lesen sich immer mehr wie — Flugblättern ähnliche — Bekenntnisse eines von der gesellschaftlichen Realität angewiderten Individuums, welches, davon überzeugt die Wahrheit des besseren Lebens zu besitzen, seine Parolen der Welt entgegenbrüllt. Daß im Rahmen einer solchen mit großem reformatorischen Eifer vertretenen Lehre für Kunst kein Platz ist, muß nicht weiter betont werden. Auch die längeren Prosatexte in „Prödrömös" dienen nur der Veranschaulichung des in den Aphorismen schon bis zum Überdruß Gepredigten. Das in dem Aphorismus: „ Ä s t h e t i k ist D i ä t e t i k ! Schön ist, was g e s u n d ist." (128) enthaltene Programm bedeutet für die Literatur Altenbergs das Ende der Kunst. Der Autor des ersten „Versuch(s) einer p h y s i o l o g i s c h e n R o m a n t i k " (110), die in Wahrheit zu einer Unterdrückung und Schwächung des Körpers führen würde, möchte auch mit den Fragen nach der künstlerischen Form nicht behelligt werden, die Zeiten, da er versuchte, in deutscher Sprache die Kunst des Prosagedichts in spezifischer Form zu etablieren, sind nur noch ferne Erinnerung. Ich bitte diejenigen inständigst, die sich bei mir an Form, Kleinheit des Repertoires und so weiter stoßen, sich wenigstens das ihnen plausibel Erscheinende herauszunehmen. Ich will gern beschimpft werden, wenn nur die feige schamlose Furcht vor Z u g l u f t aus dem Leben der Menschen bisschen verschwinden könnte . (105)
Auch Karl Kraus, der Altenberg stets zu verteidigen sucht, muß hier zugeben, daß man „gegen Altenbergs neuestes Gebräu einer seelischökonomischen Weltanschauung und gegen seine Heilslehre, die den Ankauf einer Zahnpasta unter Leugnung von Sexualempfindungen predigt, satirisch gestimmt" 18 werden könne.
18
„Fackel", Nr. 213, 8. Jahrgang (1906), S. 24.
10. Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar 10.1 Einleitung Zuletzt wurde es von der Kritikerin (und Kennerin der österreichischen Literaturgeschichte) Hilde Spiel behauptet: Unübersehbar ist, zumal in den frühen Arbeiten, die Nähe zu dem geliebten und zu dem gefürchteten Zeitgenossen, zu Altenberg und Kraus. 1
Immer wieder wird dieser Be2ug vor allem zu dem „geliebten Zeitgenossen" hergestellt, Polgar als ,Erbe' 2 oder ,Epigone' 3 Altenbergs gesehen. Begründet wurden diese Behauptungen nie. Daß Altenberg und Polgar miteinander befreundet, beide ständige Gäste des Café „Central" waren, genügte für die Annahme einer Abhängigkeit der literarischen Produktion des späteren vom Vorläufer. Nun gibt es aber Äußerungen von Zeitgenossen, die von einer Begeisterung Polgars nicht nur für den Menschen, sondern auch für den Autor Altenberg, Zeugnis geben: „Von dem Augenblick, da Altenberg sein erstes Manuskript ( . . . ) veröffentlicht, war er ein geliebter Autor. Wir liebten es, wie er die Welt ansah; insbesonders Alfred Polgar hat ihm vom ersten Tag an eine schwärmerische Zuneigung entgegengebracht", erinnert sich etwa Stefan Großmann.4 Es soll in dem folgenden Kapitel dieser Arbeit nicht um das persönliche Verhältnis dieser beiden Schriftsteller zueinander gehen, sondern um die Analyse konkret zwischen den Werken feststellbarer Strukturrelationen. Inwieweit die bei Altenberg in ganz spezifischer Weise entwickelte Form des Prosagedichts im Werk des frühen Polgar weiterwirkt, soll untersucht werden — jedoch nicht in dem Sinne einer ,Einflußforschung', sondern als Versuch einer Beantwortung der Frage nach der Evolution einer neuen literarischen Form als einer neuen Form von Erkenntnis. 1 2 3 4
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 11. 1982. Vgl. C. Magris, Der habsburgische Mythos, S. 190. Vgl. U. Weinzierl, Er war Zeuge. Alfred Polgar, S. 11. St. Großmann, Ich war begeistert, S. 108.
Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung
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10.2 Kurze Anmerkung zur Rezeption in der Forschung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk Alfred Polgars setzt — außer einigen rein theaterwissenschaftlich interessierten Dissertationen5 — erst sehr spät ein, mehr als zehn Jahre nach seinem Tod (1955) und weit mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner ersten Buchveröffentlichung (1908) vergehen bis zur Entdeckung des Prosawerks durch die Germanisten. Bis heute gibt es insgesamt nur vier umfangreichere Arbeiten, die sich auch dem erzählerischen Werk dieses Autors widmen. Nur zwei davon erscheinen mir hier erwähnenswert6: die Dissertation von Volker Bohn7, die sich vornehmlich mit den Erzählungen Polgars beschäftigt, und die gleichfalls aus einer Dissertation entstandene Monographie von Ulrich Weinzierl.8 Bohn liefert knappe Informationen zur Biographie, essayistische Bemerkungen zu „einige(n) Perspektiven"9, die ihm als kennzeichnend für das Gesamtwerk erscheinen, und neben drei exemplarischen Einzelanalysen auch ein Kapitel über den „literarischen Umkreis". 10 Leider enthält dieser Teil seiner Arbeit nur eine vergleichende Zusammenstellung von Meinungsäußerungen der Zeitgenossen Polgars (Loos, Kraus, Altenberg, Friedell) über bestimmte kulturpolitische Fragen und über Literatur und keine Analyse der Relationen zwischen Werken aus einer zeitgleichen Phase der literarischen Evolution. Bohns Bemerkungen zum Frühwerk Polgars aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg umfassen insgesamt nur knapp vier Seiten11 und ord5
6
7
8 9 10 11
H. Kirnig, Alfred Polgar - Alfred Kerr. Ein Vergleich (1950); G. Fritsche, Die Kritiken Alfred Polgars in der „Weltbühne" als Spiegel des Wiener Theaters 1 9 0 6 - 1 9 2 9 (1964). R. Schwedler („Das Werk Alfred Polgars") gibt einen recht brauchbaren .statistischen' Überblick über das Werk Polgars, übersteigt in den Einzelanalysen jedoch nicht die Aussagekraft der Paraphrase (enthält nichts zum Frühwerk). In bezug auf das Buch von E. Philippoff: „Alfred Polgar. Ein moralischer Chronist seiner Zeit" verweise ich auf die Rezension von U. Weinzierl: „Polgar: reichlich zerzaust" (FAZ v. 8. 5. 81). Dem dort ausgesprochenen Urteil ist nichts hinzuzufügen, der erste Satz Philippoffs ist Ausdruck für die „Qualität" dieser Dissertation insgesamt: „Polgar wußte und wollte sich Moralist" (S. 1)! V. Bohn, Kritische Erzählungen. Zur Prosa Alfred Polgars. Diese Dissertation wurde schon 1968 abgeschlossen, jedoch erst zehn Jahre später gedruckt (vgl. dazu Weinzierl, S. 265, Anm. 14). U. Weinzierl, Er war Zeuge. Alfred Polgar. V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 54. V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 153. V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 17—21.
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nen es wertend unter der Kategorie ein, die mit dem Schlagwort „Kaffehausliteratur" Literatur bloß etikettiert und nicht zu verstehen sucht: „Die meisten frühen Erzählungen Polgars sind unverkennbar aus der Perspektive des ,Centralisten' geschrieben." 12 Er schränkt dieses Urteil dann später ein: „Jedoch wollen die Geschichten, soweit sie vom Kaffehaus handeln und in ihm spielen, nicht v o n diesem, sondern anhand seiner erzählen." 13 Die Antwort darauf, wie sie dies tun, bleibt Bohn bedauerlicherweise schuldig. 14 Das Buch von U. Weinzierl enthält ohne Zweifel die meisten Informationen zum Leben — und die am genauesten recherchierte Übersicht über das oft in entlegenen, schwer zugänglichen Zeitungen und Zeitschriften publizierte Werk Alfred Polgars. Weinzierl beschäftigt sich auch als erster ausführlicher mit den frühen Prosatexten. 15 Das Problematische seiner Arbeit liegt dabei jedoch in der durchgängigen Vermischung von Werk und Leben des Autors, die immer wieder zu Determinierungen des Werkverständnisses durch biographische Fakten und zu einer bei den Einzelinterpretationen auftretenden Trennung von inhalts- und formbezogenen Bemerkungen führt. 16 Das hat bei den Analysen einzelner Texte des Frühwerks zur Folge, daß an eine deren Hauptteil ausfüllende Inhaltsparaphrase einige formale' Kennzeichen hervorhebende Aussagen bloß angefügt werden. So kommt Weinzierl erst am Schluß seiner zusammenfassenden Bemerkungen zur frühen Kurzprosa auf die „Sprachbehandlungen" zu sprechen, bei der „sich eine Entwicklung von der Metaphern-Logik — nämlich einer Galerie natürlicher' (unbeschädigter) Bilder — zu satirischer Montagetechnik, den etwas ,verrückenderen' Gebrauch fixierten sprachlichen Materials, feststellen" 17 lasse. 18 Was er in diesem Zusammenhang mit „psychologisch-impressionistischer Technik" meint, ist nur schwer 12 13 14
15 16
17 18
V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 19. V. Bohn, Kritische Erzählungen, S. 20. Was Bohn mit den „Masken" und „Refugien" meint, hinter denen sich die „antibürgerlichen Effekte" (S. 20) verbergen sollen, ist unklar. U. Weinzierl, Er war Zeuge. S. 38 - 44. Begründet wird dieser methodische Fehler, der oft auch tautologische Aussagen über den einen mit dem anderen Bereich zur Folge hat, mit folgender merkwürdigen Äußerung (S. 12) über Polgars Gesamtwerk: „Wir besitzen von ihm kein repräsentatives Einzelwerk, das für sich genommen den Anspruch erheben könnte, losgelöst von der Person des Schreibers betrachtet zu werden." U. Weinzierl, Er war Zeuge. S. 44. Die begrifflichen Unklarheiten dieses Satzes verweisen auf eine insgesamt bei Weinzierl zu konstatierende terminologische (und das heißt auch zugleich: methodische) Unsicherheit.
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aufzuklären, soll die Tatsache, daß ein „Großteil der Handlungen ( . . . ) sich im Innenleben" 19 abspielt, als „psychologische Technik" bezeichnet werden? Kritisch merkt Weinzierl an: „Gesellschaftskritik erfolgt, wenn überhaupt, als Sprach- und Bewußtseinskritik". 20 Die Fixiertheit aufs Stoffliche mißachtet gerade die spezifischen Möglichkeiten der Literatur als eines Erkenntnisbereichs, der sich doch nur als Sprache der Kunst und Kunst der Sprache und somit in diesem Sinne auch nur als Sprachkritik (und nicht als Beitrag zur ökonomischen Gesellschaftsanalyse) zur immer für sich selbst schon sprachlich vermittelten Wirklichkeit verhalten kann. Weinzierls zahlreiche Anmerkungen zum Verhältnis Polgar-Altenberg betreffen als Folge des primär biographisch orientierten Interesses seiner Arbeit hauptsächlich deren persönlich-freundschaftliche Beziehungen, nicht mögliche Korrespondenzen zwischen den literarischen Werken der beiden Autoren. 10.3 Kleine Form und Feuilleton Im „Fischer-Lexikon: Publizistik" findet sich im Rahmen des Artikels „Journalistische Stilform" folgender Abschnitt 21 : Feuilleton als Stilform (auch ,Kleine Form' genannt) schildert in betont persönlicher Form die Kleinigkeiten, ja Nebensächlichkeiten des Lebens und versucht, ihnen eine menschlich bewegende, erbauliche Seite abzugewinnen, die das Alltägliche interessant macht. Nicht selten wird dabei das scheinbar Banale gleichnishaft überhöht und zu exemplarischer Bedeutung stilisiert. Als deutschsprachige Klassiker der Kleinen Form gelten Victor Auburtin und Alfred Polgar.
Von Letzterem nun wurde der Begriff geprägt (dies war dem ArtikelSchreiber wohl nicht mehr bekannt). Es handelt sich um den Titel (und Gegenstand) einer kurzen Abhandlung, die Polgar als „quasi ein Vorwort" seiner 1926 erschienenen Sammlung „Orchester von Oben" vorangestellt hat. 22 Im Anfangsteil dieses Textes spricht Polgar von der freundlichen Aufnahme, die sein Band „An den Rand geschrieben" 23 beim Publikum gefunden habe, dann heißt es: 19 20 21
22 23
U. Weinzierl, Er war Zeuge. S. 43. U. Weinzierl, Er war Zeuge. S. 44. E. Noelle-Neumann, W. Schulz, ,Fischer-Lexikon': Publizistik, S. 75. Vgl. Knobloch, Vom Wesen des Feuilletons, S. 93. A. Polgar, Orchester von Oben, S. 9—13. A. Polgar, An den Rand geschrieben, erschienen 1926.
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Doch war der Titel nicht glücklich gewählt. Er regte doch manche an, aus der Bescheidenheit des Namens, den das Buch führte, auf Bescheidenheit des Inhalts zu schließen, andere wieder brachte er auf den zierlichen Einfall, daß meine Literatur, schriebe ich sie an den Rand, eben dort stünde, wo sie hingehört. Mit dem Schlagwort, das den Lesern der Titel in die Hand gab, schlugen sie mich, und das Stichwort, das er ihnen brachte, versetzten sie mir. 24
Im eingangs zitierten Lexikon-Artikel wird der Begriff „Kleine F o r m " in vergleichbarer Weise mißverstanden, wenn der Verfasser das Epitheton zur Bestimmung des Inhalts heranzieht und nun von „Kleinigkeiten, ja Nebensächlichkeiten des Lebens" schwadroniert. Genau diesem Mißverständnis glaubte Polgar schon damals entgegentreten zu müssen. U m genauer begreifen zu können, worum es Polgar bei dieser Begriffsbestimmung geht, an welche Tradition er anzuknüpfen sucht und wovon er sich abgrenzt, sollen hier die wesentlichen Passagen aus dieser Abhandlung zitiert werden: Verderblicher noch als der Titel wurde den unter ihm zusammengelegten Arbeiten d i e k l e i n e F o r m , in die sie gefaßt sind ( . . . ) Mühelos sprang in den Wertungen meines Buchs sein Leichtgewicht aus dem Materiellen ins Geistige, aus dem Unmetaphorischen ins Metaphorische über, und Lektüre, zu der man fünf Minuten braucht, legte den kritischen (wenn man so sagen darf) Gedanken nahe: Lektüre, wenn man was für fünf Minuten braucht. Als Stunden, meistens hieß es .Stündchen', in die mein Buch tauge, wurden angegeben: das Stündchen nach dem Mittagessen. Das nach dem Abendessen. Das vor dem Einschlafen. Das in der Straßenbahn. ( . . . ) Als Position, die beim Lesen einzunehmen wäre: jede lässige, bequeme entspannte. Obwohl mich so mein konsequentes, mit mancher Qual verknüpftes schriftstellerisches Bemühen aus hundert Zeilen zehn zu machen, zum Autor für Nachspeise- und Vorschlummerstündchen herabgesetzt hat, ( . . . ) will ich doch keineswegs behaupten, daß meinen Büchern Unrecht geschehe, wenn man sie als Bagatelle behandelt. ( . . . ) Aber ich möchte für diese kleine Form, hätte ich nur hierzu das nötige Pathos, mit sehr großen Worten eintreten: denn ich glaube, daß sie der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß ist, gemäßer jedenfalls, als, wie eine flache Analogie vermuten mag, geschriebene Wolkenkratzer es sind.
Nur der sich aufs einzelne Ereignis konzentrierende kurze Text sei die der heutigen Zeit angemessene schriftstellerische Produktion — aber natürlich: Außer Debatte bleibt ja das Wunder des großen Werks, bleibt die Berechtigung der tausend Druckseiten für eine Vision, deren ideelles Riesenmaß in geringerem Raum nicht Erscheinung werden könnte.
Die Zeit der großen visionären Phantasien aber ist vorüber! Wo ist der Geist, den gemeine Welt, sich ihm verbindend, so Wichtig-Neues von ihrem Chemismus offenbarte, daß solche Offenbarung zu fixieren die knappste Form
24
A. Polgar, Orchester von Oben, S. 9.
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und Formel nicht genügte? ( . . . ) Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft f ü r Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe. ( . . . ) Ewigkeiten erweisen sich als zeitlich, die solidesten Götter als Götzen, alle Anker sind gelichtet, kein Mensch weiß, wohin die Reise geht, aber daß sie geht und wie tausend rasch sie geht, spüren wir am Schwindel: wer wollte da mit überflüssigem Gepäck beladen sein? Ballast ist auszuwerfen — und was alles entpuppt sich nicht als Ballast? — kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde. Auch das ästhetische. Dick ist beschwerlich, dick ist häßlich; und ,schöne Literatur' mit geschwollnem Wanst ein Widerspruch im Beiwort. 2 5
Wogegen sich Polgar hier wendet, ist deutlich: der Roman erscheint ihm als in heutiger Zeit obsolet, nicht mehr zur .schönen Literatur' zählend. Die Form wird radikal historisiert, in einer durch schnellsten Wechsel aller geistigen und materiellen Werte geprägten Industriegesellschaft wird die literarische Großform des Romans unmöglich. So verwandelt sich die anfangliche scheinbare Verteidigung des „großen Werks" in deren klare Antithese. Literatur ist nur noch als kurzer Text, als „knappste Formel" wahre Erkenntnis von Welt, „Offenbarung", alles andere ist sinnloser „Ballast", bloß zeitraubend. Der Adressat dieser Kritik ist unschwer auszumachen. Es handelt sich um Thomas Mann. Direkt genannt wird ein Werk dieses Autors am Schluß einer an späterer Stelle in die Sammlung aufgenommenen Skizze mit dem Titel „Ich kann keine Romane lesen". 26 Dort gibt der „Zauberberg" das prominente Beispiel für die das Bewußtsein des ohnehin durch die Eindrucksflut der „zum Platzen geschwollenen Welt" überforderten Menschen noch zusätzlich sinnlos belastenden „Scheinwelt" 27 des Romans. Doch Thomas Mann wird auch im zitierten Text mehrmals indirekt angesprochen. Um dies zu bemerken, muß man die Folie kennen, auf die Polgar hier referiert. Mann hatte einige Jahre vor Abfassung dieser Einleitung zu „Orchester von Oben" zu dem von Egon Friedell herausgegebenen „Altenberg-Buch" 28 einen als Lobrede getarnten Schmähartikel beigetragen. Dieser Text war Polgar (von welchem übrigens auch ein Aufsatz in jenen Band aufgenommen ist), dem Altenberg-Freund und guten Bekannten des Editors Friedell, ohne Zweifel bekannt. Darin ist etwa vom „ G e i s t d e r E p i k (...), der zeitlos und unsterblich ist" die Rede. Dies gibt es für Polgar nicht mehr, der „Geist", auch der der Epik, ist 25 26 27 28
A. A. A. E.
Polgar, Orchester v o n Oben, S. 1 0 - 1 3 . Polgar, Orchester v o n Oben, S. 2 6 3 - 2 6 9 . Polgar, Orchester v o n Oben, S. 267. Friedell, Altenberg-Buch.
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
zeitgebunden, „ E w i g k e i t e n erweisen sich als zeitlich". D i e überholte literarische F o r m ist Ergebnis einer auf ewige, zeitlose Werte abhebenden falschen Weltsicht, Ideologie. D e m Verdacht „primitiver Fortschrittlichkeit" 2 9 wird ironisch entgegnet, daß es heute für den Mythos keinen Platz mehr gibt, wen „der D ä m o n treibt" 3 0 , der ist eben O p f e r einer anachronistischen Verblendung: „ D a kann man nichts m a c h e n " 3 1 , oder (böser): der spekuliert auf den „Fettnapf der A n e r k e n n u n g " 3 2 , ist Lohnschreiber, Trivialautor, „häßlich". 3 3 N o c h eine andere Stelle der Mannschen Altenberg-Kritik ist hier relevant: „ U n d doch, was Tragen heißt, wie es tut, J a h r e lang unter der Spannung eines Werkes zu leben; Pathos und E t h o s der großen K o m p o s i tion ( . . . ) , — davon wußte sein lyrischer J o u r n a l i s m u s nichts". 3 4 D i e hierauf antwortenden A n k l ä n g e im Polgar-Text sind, glaube ich, so deutlich, daß ich hier auf eine A n f ü h r u n g im einzelnen verzichten kann. D i e R o m a n - K r i t i k Polgars greift hier ähnliche Überlegungen v o n K a r l K r a u s wieder auf, die dieser einige J a h r e zuvor in der „ F a c k e l " äußerte. Da ich infolge einer angeborenen Unzulänglichkeit Romane nicht zu Ende lesen kann, indem ich ( . . . ) schon beim geringsten Versuch, mir zu erzählen, daß Walter beim Betreten des Vorzimmers auf die Uhr sah, was mich sowenig angeht wie alles was weiter geschah, in tiefen traumlosen Schlaf verfalle, so sind mir sicherlich, nebst allem, was die Menschheit in Spannung versetzt, zahllose Perlen entgangen, die gesammelt ein Schatzkästlein deutschen Humors 3 5 ergeben würden. Selbst die anerkanntesten Abkürzer ( . . . ) konnten mir's nicht leichter machen, da ich mir eben nichts .erzählen' lasse und mir die letzte Lokalnotiz oder deren Dichtung bei Altenberg stets unendlich mehr gesagt hat als jedes Werk einer Kunstform, die wie keine andere der Sprachschöpfung entraten kann (um alles anderen willen was nichts mit der Sprache zu schaffen hat, wie Bericht und Psychologie). (...) Es scheint mir überhaupt keine andere Wortkunst zu geben, als die des Satzes, während der Roman nicht beim Satz, sondern beim Stoff beginnt. 36
D e n letzten Punkt der Kritik vertritt Polgar ironisch mit, wenn er der Lektüre v o n R o m a n e n die v o n Grammatiken entgegenstellt: „Ich kann jedes Kapitel (einer G r a m m a t i k ) immer wieder lesen, bin immer 29 30
31 32 33 34 35
36
E. Friedeil, Altenberg-Buch, S. 74. A. Polgar, Orchester von Oben, S. 12. Bei Thomas Mann heißt es: „das Werk als fixe Idee" (E. Friedell, Altenberg-Buch, S. 74). A. Polgar, Orchester von Oben, S. 12 f. A. Polgar, Orchester von Oben, S. 11. A. Polgar, Orchester von Oben, S. 13. E. Friedell, Altenberg-Buch, S. 74. Dieser zuerst in der „Fackel" v. Nov, 1921 veröffentlichte Aufsatz beschäftigt sich mit dem Thema „Humor und Lyrik". K. Kraus, Werke Bd. 2: Die Sprache, S. 207 f.
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wieder überrascht von den Neuigkeiten, die es mir mitzuteilen hat. Versuchen sie das mit dem ,Zauberberg'." 37 Auch der Hinweis von Kraus auf Altenberg findet seine Parallele bei Polgar. Dieser versucht nicht nur, sich von einer Weise der Literaturproduktion, die er für überholt und unzeitgemäß hält, abzugrenzen, sondern zugleich ist er bestrebt, mit seiner „kleinen Form" positiv an eine bestimmte literarische Tradition anzuknüpfen. Die indirekte Verteidigung ist auch zu lesen als ein Hinweis darauf, an dessen Werk, an dessen Prosagedicht-Zyklen gemessen werden zu wollen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß das Wort „Feuilleton" nicht fallt, der Autor dagegen nur von seinen „kleine(n) Erzählungen und Studien" 38 spricht. Auch dies ganz im Sinne einer Altenberg-Nachfolge, über den Karl Kraus in seinem Nachruf sagte: „Nun ist der uns so schmerzhafte Augenblick gekommen, ihnen, dem Philister und seinem Redakteur, sagen zu müssen, daß Du ihnen nicht gehört hast! Daß Deine Nachbarschaft, Deine Verkleidung nur der Zufall zeitlicher Umstände war und der Zwang, Dich vor ihnen zu verstecken." 39 So ist für Polgar das Feuilleton nur das Versteck für seine Erzählungen und Studien, die in der Buchsammlung erst richtiger Aufnahme geöffnet werden. Das ist auch der Grund, weshalb ausführlich verfehltes Leseverhalten angemerkt wird, denn alle diese Möglichkeiten „nach dem Mittagessen, ( . . . ) nach dem Abendessen ( . . . ) lässig ( . . . ) entspannt" zu lesen, sind doch die üblichen Zeitpunkte und Weisen, in denen der Kulturteil der Zeitung zur Hand genommen wird. Gegen die Einordnung in dieses Massenmedium und dessen bestimmter Rezeption, gegen das — ihm, wie man am oben zitierten LexikonArtikel sehen kann, noch heute widerfahrende — Mißverständnis als Autor der „Kleinen Form" nur ein etwas anders schreibender Reporter zu sein, richtet sich der empörte Hinweis auf sein „mit mancher Qual verknüpftes schriftstellerisches Bemühen aus hundert Zeilen zehn zu machen". Daß es sich bei seinen Texten um Kunst handelt, die auch ohne den Kontext der für den Tag gedruckten Zeitungen bestehen kann, dies sollten die nach 1908 in steter Folge von ihm herausgegebenen Sammelbände beweisen. Nach U. Weinzierl ist es ihnen nicht gelungen: „Bleibt bei ihrer (der Erzählungen, S. N.) Beurteilung die konkrete Situation, in der sie 37 38 39
A. Polgar, Orchester von Oben, S. 269. A. Polgar, Orchester von Oben, S. 9. Das Adjektiv fehlt in folgendem Text. K. Kraus in: „Fackel" 5 0 8 - 5 1 3 (1919), S. 10.
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entstanden, unberücksichtigt, wirken sie belangloser, als sie sind. Sein Oeuvre besteht nach üblichem Verständnis aus den von ihm zusammengestellten (unhistorischen) Auswahlbänden, innerhalb derer der einzelne Text in vielen Fällen austauschbar erscheint und sein Profil verliert." 4 0 Belanglosigkeit könnte eine Folge der Bedingungen für Kunstproduktion zur Zeit der Wiener Jahrhundertwende sein, in denen die Zeitung zur größten Mäzenatin der Literatur wurde, Literatur und Presse sich verschwisterten. „ D a s freie Schrifttum hat seine besten Säfte an das Feuilleton, hier und dort gar an den Leitartikel abgegeben" 4 1 , behauptet Karl Kraus schon 1899. Dies kann sich rächen, wenn der Literat sein für die Zeitung Produziertes nun aus diesem Kontext in den freien Raum der Kunst entlassen will. Daß das nicht so sein muß, daß seine Rede von Unterjochung der Novellisten durch die Journalistik 4 2 nur eine Regel bezeichnet, die auch noch Platz für Ausnahmeerscheinungen läßt, hat Kraus im Falle Altenbergs (s. o.) selbst hervorgehoben. Doch Text und Textsammlung haben sich dem Verdacht der Belanglosigkeit zu stellen, nur die genaue Analyse des Einzelfalls kann erweisen, ob das aus dem ursprünglichen Veröffentlichungskontext Herausgelöste als literarisches Kunstwerk bedeutet oder nur als Zeitungsfeuilleton eine inzwischen uninteressant gewordene Meinung vertritt. Die begriffliche Unterscheidung zwischen einer „Ästhetik der Gegenüberstellung" und einer „Ästhetik der Identität" versucht diese — nie scharf zu ziehende — Trennungslinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst etwas genauer zu definieren. 43 Zur Klasse „Ästhetik der Identität" sind Texte zu zählen, deren Strukturen vorgegeben sind und der Ausführung bestimmter Erwartungen der Rezipienten entsprechen. Zum Bereich „Ästhetik der Gegenüberstellung" sind dagegen nur künstlerische Texte zu zählen, deren jeweils besonderer K o d e ein vor dem Hintergrund zum Verständnis von Literatur unabdingbarer Regelhaftigkeit neuer und dem Publikum unbekannter ist. Auch in der Klasse „Ästhetik der Identität" ist eine individuelle Meisterschaft durch Variation im festen Rahmen der gesetzten Regeln möglich. Im Prinzip jedoch lassen sich Texte dieser Art, da sie durch klare Normen definiert sind, regelgemäß nachahmen. Für
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U. Weinzierl, E r war Zeuge. S. 12. K . K r a u s in: „Fackel" 2 (1899), S. 8. Z u dem Gesamtkomplex „Literatur und Presse" vgl. H. Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information, darin S. 38 obiges Zitat. K . K r a u s in: „Fackel" 2 (1899), S. 8. Z u m Folgenden vgl. J . M. Lotman, Die Struktur des literarischen Textes, S. 408—419 und J . M. Lotman, Analyse des poetischen Textes, S. 187 — 198.
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Werke des anderen Typs dagegen schlägt J. M. Lotman folgendes Wertungskriterium vor: „ ,Ein System, das keine mechanische Modellierung zuläßt' ", 44 Ein künstlerischer Text der Moderne muß zu einer höchstmöglichen „Komplexität der textexternen Struktur" bei „Vereinfachung des Textes" tendieren, das Verständnis seiner „scheinbare(n) Einfachheit" einen „Reichtum an extratextuellen Kulturbezügen" erfordern. Ist die Struktur im Text maximal ausgeführt, liegen die Bauprinzipien klar zutage, handelt es sich um eine „kontrastreiche Schwarz-Weiß-Struktur" 45 , sind also die extratextuellen Bezüge im Text selbst explizit gemacht, so kann von einem Text im Bereich der „Ästhetik der Gegenüberstellung" gesprochen werden, der nach dem Prinzip der „Ästhetik der Identität" verfahrt. Dies wäre dann der Fall, wo man von einem schlechten literarischen Text', von Trivialliteratur sprechen dürfte. Oder bei deutlich anderer funktionaler Bestimmung handelt es sich um eine Orientierung an spezifischen Gebrauchsmustern literarische Normen zwecks Erfüllung einer definierten Kulturfunktion in bestimmten Gebrauchssituationen, also um Gebrauchsliteratur. Die Definition dieser Art von Literatur erfolgt wesentlich von deren außerliterarischen funktionalen Zusammenhang her, welcher immer der einer bestimmten historischen Epoche ist, insofern — als sie diesen funktional-historischen Aspekt ausklammert — greift H. Kreuzers Definition der Trivialliteratur 46 „als Bezeichnung eines Literaturkomplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren" zu kurz; dem Verständnis erschließt sich auch die nichtkünstlerische Literatur nur durch ein Begreifen ihrer besonderen Form schriftlichen Ausdrucks. Zu diesen ,mühelose' Rezeption ermöglichenden Texten gehört auch eine vielleicht als .Meinungsliteratur' zu bezeichnende Schriftproduktion, die sich im Feuilleton als besonderer, mit den Mitteln literarischen Sprechens verfertigter Zeitungsartikel ausprägt. Oder, wie es Hans Weigel ausdrückt: „Das Feuilleton: Eine Reportage ohne Gegenstand. Noch Journalismus und schon Literatur."47 Genau die Bedenken, zu ersterem gezählt zu werden, bestimmten Polgars Apologie der „Kleinen
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J. M. Lotman, Die Struktur des literarischen Textes, S. 417. J. M. Lotman, Die Struktur des literarischen Textes, S. 419. H. Kreuzer, Trivialliteratur als Forschungsproblem, Deutsche Vierteljahresschrift (1967), S. 185. H. Weigel, Große Mücken, kleine Elefanten, S. 168.
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Form", wenn er seine Texte davor schützen will, als Bagatell-Lektüre zum Morgenkaffee zu dienen (nach oder mit der Tageszeitung). Zwei Jahre vor Veröffentlichung von „Der Quell des Übels" sprach Karl Kraus dem werdenden Schriftsteller Polgar — gerade unter dem Hinweis auf mechanische Wiederholung eines Musters — die Fähigkeit zu künstlerischer Produktion ab: „Ich habe diesen jungen Journalisten einmal in die Literatur eingereiht. 48 Ich sehe mich längst genötigt, ihn wieder zurückzuziehen. Ein gutes Feuilleton, das Herr Polgar seinerzeit geschrieben hat, hat alles Unheil verschuldet. Seither schrieb er dasselbe Feuilleton wohl hundertmal, und es ist nicht besser geworden." 49
10.4 Das Café als Bild der Welt: „Der Quell des Übels" In den vorhergehenden Bemerkungen zur Rezeption wurde schon auf den Vorwurf, dem sich Polgars frühe Prosa wiederholt aussetzen mußte: daß sie fast ausschließlich aus der Perspektive des „Centralisten" geschrieben sei, hingewiesen. Der Rückzug ins Kaffeehaus, der seine Legitimität als Geste der verneinenden Abkehr von der kritisierten gesellschaftlichen Wirklichkeit gewinnt, läßt immer wieder den Realitätsgehalt der von diesem Produktionsmilieu ausgehenden Literatur problematisch werden. Das Bestreben, sich ,rauszuhalten', weckt den Vorwurf der Affirmativität: „Gerade die Autarkie der neuromantischen und symbolistischen Schönheit, ihre Zimperlichkeit jenen gesellschaftlichen Momenten gegenüber, an denen allein Form eine würde, hat sie so rasch konsumfähig gemacht. Sie betrügt sich dadurch über die Warenwelt, daß sie sie ausspart; das qualifiziert sie als Ware." 50 Auf der ersten Seite seines Sammelbandes „Hiob" wehrt sich Polgar gegen diese — auch in oben zitierten Sätzen Adornos enthaltene — Fixierung aufs Stoffliche, die der Literatur vom Material her einen beschränkten Wirklichkeitsgehalt vorwirft. Er macht ironisch seine Konzession an das Publikumsbedürfnis nach (möglichst exotischem) Faktenreichtum in den Geschichten offen als eine solche deutlich: „Als er sich jetzt ins Zimmer wandte, wo Wladimir Kojakiewitsch saß und mit schmutzigen Nägeln am Samovar bastelte am Samowar 48
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„In die Literatur eingereiht" hat Kraus ihn durch ausgiebiges Zitieren eines Feuilleton Polgars aus der „Wiener Allgemeinen Zeitung" v. 2 1 . Juni 1903 in einer Kritik über Wedekinds „Erdgeist"; in: „Fackel", Nr. 42 (3. Juli 1903), S. 1 6 f. K . Kraus in: „Fackel", Nr. 2 1 3 (1906), S. 23. Th. W. A d o r n o , Ästhetische Theorie, S. 352.
Das Café als Bild der Welt: „Der Quell des Übels"
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bastelte (ich habe den Vorwurf satt, daß alle meine Geschichten im Café ,Central' spielen — )". 51 Polgar weist damit darauf hin, daß ihm gerade nicht um eine möglichst abwechslungsreiche Materialfülle zu tun ist. Weinzierls Vorwurf einer „gewaltsamen Transponierung der Atmosphäre" 52 zeigt wieder einmal, daß auch das offensichtlichste satirische Kunstmittel noch als ernsthaft mißverstanden und gegen den Erfinder gewendet werden kann. Denn jene ,Gewaltsamkeit' wird gerade nicht verschwiegen, sondern der Text deutet ja mit dem oben zitierten Erzählerkommentar direkt auf die künstliche Verfremdung, die als eigentlich unnötige herausgestellt wird! „Der Quell des Übels", die Geschichte, die Polgars erster Buchveröffentlichung den Titel gegeben hat, gehört zu den Texten, die das Kaffeehaus direkt als literarische Raumbezeichnung angeben. 53 Der Schauplatz und die hier beschriebene Situation stellt einen offensichtlichen Bezug zum Prosagedicht „Ecce domina" Altenbergs (aus der Reihe „Frau Fabrikdirektor von H.") 54 her: eine Frau betritt ein mit ausschließlich männlichen Gästen besetztes Kaffeehaus, der Leser erhält in beiden Fällen einen Bericht über die Reaktion der Männer. Während es jedoch bei dem Text Altenbergs ausschließlich um die Perspektive der Dame und nebenbei um die des sie begleitenden Herrn geht, betont „Der Quell des Übels" genau die dort ausgesparte Seite: eine ausführliche Deskription des Bewußtseinsinhalts und der wirklichen Handlungen der Gäste, die die Dame erblicken, wird zu einer Satire des Vorbilds benutzt. Die Verschiebung der Perspektive ist vor allem auch in den unmittelbar korrespondierenden Teilen, in welchen der Augenblick des Eintritts selbst beschrieben wird, relevant: „Etwas Weißes, Weibliches erscheint; es ist jung, blond und allein." 55 In der Synekdoche dienen die Einzelheiten der äußeren Erscheinung der Eintretenden, so, wie sie in den Blick kommen, als Stellvertreter der Figur als Ganzes. Es wird hier ironisch auf das, was die Gruppe der männlichen Gäste einzig interessiert, verwiesen. Dies ist gerade das Austauschbare an ihr, das, was sie als Sexualobjekt tauglich macht. Daß es sich hier nur um ein bloßes Objekt handeln kann, ist offenbar: es 51 52 53 54 55
A . Polgar, Hiob, S. 9. U. Weinzierl, Er war Zeuge. Alfred Polgar, S. 42. A . Polgar, Quell des Übels, S. 9 - 1 6 . „Wie ich es sehe", S. 95; vgl. S. 89 f. dieser Arbeit. Vgl. auch hier die Parallele bei Altenberg: „Ein weißes Batistkleid fliegt heran . Aschblonde, lange, offene, seidene Haare. Schlanke zarte Beine in schwarzen Strümpfen. Sie ist dreizehn Jahre alt." („Der Grieche", „Wie ich es sehe", S. 118)
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ist ein „etwas", ein „es" und der Tisch im „Zentrum der JungenHerren-Gruppe" (10) wird zu einer Ausstellungsbühne. Mit der den Text bestimmenden Darstellungsintention auf das Werbungsverhalten der männlichen Betrachter und der von ihnen nur als Objekt rezipierbaren Frauenschönheit erschöpft sich die Satire auf Altenberg an einem für dessen Text nicht hauptsächlichen Aspekt. In der Skizzen-Reihe ist „Ecce domina" primär wichtig als Teil der Deskription des Figurenbewußtseins, die Reduktion zum Objekt in der „Verehrung" der Männer kommt indirekt gleichfalls zum Ausdruck. 56 Wichtiger ist für diesen frühen Text Polgars auch darüber hinaus die schon hier deutlich werdende satirische Intention als insgesamt in der Darstellung dominierende. Das Kaffeehaus wird zum Abbild der (Männer-)Gesellschaft in verkleinertem Maßstab: die nacheinander aufgezählten Berufs- und Sozialstatusdefinitionen zu Beginn des Textes markieren keine (im Sinne einer semantisierten Sozialstratifikation) trennenden Unterschiede, sondern der identisch gesetzte Artikel bezeichnet die anwesenden Gäste als Typen, die keine spezifischen Qualitäten aufzuweisen haben. „Man kennt einander" (9) heißt auch: im Kaffeehaus ist man auf gleicher Stufe. Das Kaffeehaus ist Ort asozialer Gleichmacherei, daher können hier „der Bankbeamte und der Hochstapler" (10) miteinander Schach spielen. Der syntaktische Parallelismus (SP-O-Folge) der auf den ersten Absatz folgenden Zeilen lenkt den Blick von den Figuren weg auf die diesen jeweils zugeschriebenen Handlungen. Die höchste Aktivität besteht im Schachspielen und Zeitunglesen, und insgesamt ist die Atmosphäre gekennzeichnet durch ein allgemeines Nichtstun, bei welchem man einander nichts mehr vormacht; es handelt sich um die exakte erzählerische Entfaltung des Eindrucks B. Viertels, der sich über das Kaffeehaus empörte: „ein demoralisirendes Nebeneinanderhocken, eine traurige Kameradschaft im Schwachsinn. Im Café handelt niemand, aber jeder spricht."57 Gesprochen wird in „Der Quell des Übels" erst im Fall des offenen Konflikts. Die Gemeinschaft der verschiedensten sozialen Schichten angehörenden Gäste des Kaffeehauses ist nur so lange intakt, als sie sich in der Interesselosigkeit oberflächlich harmonischer Langeweile zusammenfindet. Jedoch erweisen sich die Männer in ihren Reaktionen aufs weibliche Objekt gleichfalls als negative Einheit. Das künstlich Angemaßte im Verhalten der Figuren, die Gefühle nur vortäuschen, geistreichen Witz nur vorspiegeln, vereinigt die im Konkurrenzkampf 56 57
Vgl. S. 89 f. dieser Arbeit. B. Viertel, zit. in: Das Wiener Kaffeehaus, S. 34.
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entzweiten im gemeinsamen Imponiergehabe. Ein gewisses Maß an Komik enthält der Text, wenn in der Beschreibung die Wirkungsintention mit dem tatsächlich Zugrundeliegenden scharf konfrontiert wird: der Schriftsteller „leitet" mechanisch „von innen her Glanz und Ausdruck in seine Augen" (11), um diese sehr schnell wieder zurückzuziehen, nachdem die Dame den Gastraum verlassen hat: „Glanz und Ausdruck der Augen sind in den Magen abgerutscht, oder von wo sonst her sie gekommen sind." Insgesamt leidet diese — schon in den einzelnen Beschreibungen der Figuren bis zur Groteske überdeutliche — satirische Darstellung unter expliziten Selbstinterpretationen im Text, die die intendierte Kritik am Männerverhalten dem Leser noch einmal als Begriffe aufdrängen. „Das ganze aufgestörte Ameisennest von kleinen Eitelkeiten, Coquetterien, Werbeinstinkten, von Affektationen, Gemeinheiten, Ich-Süchteleien und Verlogenheiten gerät wieder allmählich in Ruhe" (15), heißt es gegen Schluß der Geschichte. Die Übernahme der Altenbergschen Sujets und bestimmter Kunstmittel des Prosagedichts (die Synekdoche, dann vor allem auch die Leitmotivtechnik: vgl. die Rekurrenz des Zeitschriftenartikels „Chic Parisien" S. 10, 13(2), 14, 16) dient der parodistischen Intention, die jedoch nicht die Prosagedichtform, sondern stoffliche Einzelaspekte des Altenbergschen Werkes treffen will. 10.5 Der .literarische Charakter' auf der Anklagebank: „La femme incomprise" Der Text enthält schon auf den ersten beiden Seiten einige direkte Anspielungen auf das Werk Altenbergs. Die Ortsangabe des Eingangssatzes, „Seeufer" (19), verweist auf die gleichnamige Reihe aus „Wie ich es sehe". Liest man dort genauer nach, so findet sich selbst der Titel „La femme incomprise" in der Skizze „St. Wolfgang" (WS 27 — 29). Die Erwähnung der „Lieblingsfarbe" der Hauptfigur „nil-grün" (20) läßt sich direkt auf das „lila-grün" des im Prosagedicht so beschriebenen Kleides der Frauenfigur beziehen, man muß dies jedoch nicht auf diesen Verweis einschränken, da derartige Farbdeskriptionen und auch preziöse Ding-Beschreibungen anderer Art (hier bei Polgar das „Buddhapüppchen") eine Konstante im Altenbergschen Werk darstellen. Es ist keine Frage, daß mit dem „Dichter" Peter Altenberg und mit „jene(m) Buch" dessen erfolgreichstes erstes Werk gemeint sind. Dennoch hat Polgar hier keinen Text im Stil seines Freundes geschrieben, noch ist es ihm geglückt, eine gelungene Parodie zu verfassen.
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Für die Zeitgenossen war wohl deutlich, daß Polgar sich hier über den Menschen Altenberg lustig machte (vgl. 20), doch in bezug auf dessen Werk kann man der Versuchung nicht widerstehen, den Text selbst zu zitieren: „Was schadet es ihm?"! Ohne Zweifel werden in parodistisch-kritischer Absicht Elemente (stofflich-motivischer, stilistischer Art und — s. o. — als wörtliches Zitat) aus dem Oeuvre des Vorgängers verwendet, jedoch dann in einer Weise neu kombiniert und in den Darstellungszusammenhang integriert, daß ein Text anderer, und nicht im Sinne der Parodie als „Spiegel"Gattung entsteht. So wird schon die Gattungswahl für Polgar zum primären Moment kritischer Distanzsetzung. Nicht mehr handelt es sich um einen Text, der noch irgendeine Verwandtschaft mit dem Prosagedicht zeigte, sondern um einen kurzen Erzähltext, der sich nicht der Gefahr aussetzt, vom Leser erst zu Ende geschrieben werden zu müssen. Gerade in diesem Sinne ist die Theatermetaphorik des ersten Abschnitts ein wichtiger immanenter Hinweis auf die Poetik dieses Textes. Hier wird direkt am Anfang das Grundmuster deutlich gemacht; es gibt nicht wie in der zuvor interpretierten Skizze „Wie wunderbar" irgendein Rätsel über die Rolle der Figuren oder um das, was denn insgesamt das Thema der Darstellung ausmache. Die „Solisten" werden herausgehoben und auch gleich der, der im Hintergrund die Fäden zieht: der Ehegatte; es wird auch schon klar gesagt, von welcher Figur man nichts zu erwarten hat; derjenige, der später für die Frau Partei ergreifen wird, ist als „guter Onkel" schon vorab als lächerliche Person gebrandmarkt. Jeder hat schon seine ihm vorab zugewiesene Rolle. Wenn dann im zweiten Abschnitt die eine der beiden „Solisten" beschrieben wird, so überrascht nicht die Dominanz des Erzählerkommentars. Dieser spricht in ironischer Rede das Urteil über „Frau Lolotte". Denunziert wird dabei die Figur selbst, an der das Vortäuschen von Gefühl bei wahrer Gefühllosigkeit (ihre Augen sind „wie zwei seelenvolle Tümpelchen in einer Mondlandschaft", 20) verurteilt wird, und zum anderen die Gesellschaft, der es „appetitlich" erscheint, wie sie nach „Melancholie" „roch". Zu diesem Kreis der affektierten Bewunderer zählt auch der „Dichter", der gleichfalls durch die Reihung der Superlative seiner Anbetung der Frau lächerlich erscheint. In diesem Rahmen wird der Witz, daß sie Locken trägt, „die miteinander noch keine Frisur, sondern nur die geniale Skizze zu einer Frisur ausmachten" auch zu einem über die Prosagedichte Altenbergs, die dieser selbst ja gerne als „Skizzen" bezeichnet wissen wollte.
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Die Kritik an der Frau schreckt auch nicht vor der Applikation antisemitischen Vorurteils zurück: konnte man den ersten Hinweis des Erzählers „sie war eine geborene Abeles" (19) noch als neutrale Information mißverstehen, so läßt der Satz „die abelessische Nase störte nicht weiter" (20) nicht an Eindeutigkeit zu wünschen übrig. 58 Um derartige Deutlichkeit besorgt ist auch der darauffolgende Schluß des zweiten Abschnitts. War die Rede vom „kleinen Quell von Seele" und der eigentlich dominierenden seelenlosen „Mondlandschaft" schon direkt genug, so wird dies nun aber noch ausführlicher entwickelt: „Die Dame hatte einfach jene Seele angezogen, die zu ihrem Teint, zu ihrem bläßlich-leidvoll-sensitiven Antlitz paßte" (20 f.). Daß der Leser von einer solchen Dame in der Hauptrolle nicht viel zu erwarten hat, ist schon an dieser Stelle des Textes entschieden. Die folgenden Dialoge bis zur Einführung des zweiten „Solisten", des Musikers, sind nur vordergründig kontrovers, in Textfunktion dienen sie nurmehr der Illustration des klaren Urteils über die Figur und dem Leser bleibt dabei gar nichts anderes übrig, als dem hämischen Sprechen des Ehegatten über seine Frau zuzustimmen: „Eine femme incomprise! . . . Das ist ein innerer Beruf, ein Charakter, eine seelische Charge. Die schreckliche Veranlagung zur femme incomprise ist angeboren." (23) Bei diesen Frauen gibt es nichts zu verstehen, sie spielen einfach ihre Rolle und sie können dies nur, da die sie eigentlich vollkommen durchschauenden Ehemänner ihnen das genügende Geld für dieses Spielchen zur Verfügung stellen (vgl. 21 f.). Der Gatte ist nicht wie in den Texten Altenbergs derjenige, der fürsorglich verstehend die Sehnsucht seiner Frau nicht versteht, sondern hier ist er der Theaterdirektor, der als Impresario sich seine Frau quasi als unterhaltsamen und belustigenden ,Tanzbär' für den Feierabend hält: „Eine unverstandene Frau behandelt man nicht damit, daß man sie zu verstehen sucht. Das heißt, ihr ihren Charme, ihre Stärke nehmen, die Quelle ihres seelischen Lebens stopfen." (24) Der „große Kreis von Freunden", der die Frau umgibt, wird ironisch dargestellt als vom Ehegatten zusätzlich eingeplante Rollen, die das kostbare Spielzeug bei Laune zu halten haben. Auch ihre Zuwendung ist natürlich unecht, sie sind die Opfer, die es wohl verdienen, der „hysterische(n) Bestie" (21) zum Fräße vorgeworfen zu werden. Auch der „Musiker" gehört zu diesem Kreis der „Versteher": „Derzeit war ein Musiker in Front. Ach, Musiker! — das ist ein eigenes Kapitel." 58
Man sollte sich vergegenwärtigen, was eine solche Aussage in einem im Geiste Karl Luegers erzogenen Wien bedeutete; vgl. dazu: A. Janik, S. Toulmin, Wittgenstein's Vienna, S. 54 ff. et passim. C. E. Schorske, Wien, S. 126—138.
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(25) Und nun beginnt die Darstellung eines exemplarischen Falls von Annäherung der lächerlichen Verehrer an die in ihrer Vortäuschung von Gefühlsreichtum gefühlsarme und damit nur spottwürdige Frau. Sein „Verständnis für die unverstandene Frau (er hatte ,Ärmste' geblickt)" (27) ist deutlich als Hohn auf beide Figuren intendiert, hieß es doch zuvor: „Der Favorit war nun der, welcher . . . sich die Augen auskegelte und mit den Blicken brüllte: ,Ärmste!' " Die Überdehnung der Metapher wird zum Mittel der Pejoration des Figuren Verhaltens, ein Stilmittel, welches sich den ganzen Text hindurchzieht und jede positive Wertung so sehr entleert, daß sie sich ins genaue Gegenteil verkehren muß. Mit zu diesem Bereich gehört auch die Weise des Erzählers, Metaphern wörtlich mißzuverstehen und in ernüchternder Referierung auf ,prosaische' Wirklichkeitsbereiche in neue entlarvende Bilder zu transformieren: die spezifischen Mittel des Musikers seine — nichtvorhandenen — Gefühle vor der Frau zu exhibitionieren „machen Frauenseelen so weich, daß der Musiker sie sich bequem aufs Brot schmieren kann" (25). Dies sollte ihm nun auch mit „Frau Lolotte" gelingen. Jedoch „weich" werden nur ihre „großen harten Worte" (27), denn ihre „Seele" ist nur der innere Spiegel ihres luxuriösen Äußeren (vgl. 21), und seinem künstlichen „Sturm der Empfindung" antwortet nur ihre „blonde(n) Temperamentlosigkeit" und seinem „Feuer", in das er nicht ,gerät', sondern das er selbst „legte", entsprechen auf ihrer Seite nur die „zaghaften Flämmchen" „ihre(r) ganze(n) kümmerlichen Lasterhaftigkeit" (28). Es scheitert die .Attacke' des gerade „in Front" liegenden Verehrers kläglich und die „grande Scène" endet in einem Fiasko vom Niveau eines Kabarett-Sketches (vgl. 28). So liefert dann der Schlußabschnitt des Textes die nochmalige — nun jedoch szenisch ausgearbeitete — Bestätigung des Urteils, das der Ehemann mit jeder Unterstützung der vom Erzähler gesetzten Wertungen schon genau in der Mitte des Textes fällen dürfte: das Schlimmste, was der ,femme incomprise' passieren kann, ist verstanden zu werden, denn dann zeigt sich, daß da gar nichts von enttäuschten Gefühlen zu finden ist, und das einzige, was ihr „schönere Momente im Leben" (29) zu bringen vermag, ist das .Verstehen' ihres ,Unverstandenseins'. Denn dieses, so der Schlußspruch des Textes, ist ihr einziges Gefühl, ihr Charakter. Die Worte des Erzählers, die Sprache des Textes insgesamt sind Werkzeuge der Gewalt, die eine literarische Figur vernichten sollen. „Die Methode des Erzählers ist die eines Kritikers, der die schlechte Komödie der Worte und Gefühle erbarmungslos rezensiert" heißt es bei U. Weinzierl. 59 Nur gehört dabei nicht nur der Erzähler, sondern 59
U. Weinzierl, Er war Zeuge, S. 39.
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auch das von ihm Kritisierte zur literarischen Wirklichkeit und diese ist so komponiert, daß dem verachteten Charakter auch nicht ein ernstzunehmender Verteidiger zugesprochen wird. Der Text reduziert sich auf die Exemplifizierung eines „erbarmungslosen" Urteils und erscheint als eindimensionaler Meinungstext oder — positiv formuliert — gehört in den Bereich satirischer Typologie. In seinem Bemühen, das vorab gefällte Urteil durch es wiederholende andere Figurenperspektiven und Szenen aufzufüllen, erhebt er den Anspruch eines realistischen Charakterportraits. „Realistisch" nur mit der Einschränkung, die Elias Canetti anläßlich einer Schallplattenaufnahme seiner eigenen Darstellung von „fünfzig Charakteren" 60 treffend formulierte: Uber einen einzigen Menschen, wie er wirklich ist, ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Auch damit wäre er nicht erschöpft und man käme mit ihm nie zu Ende. Geht man aber dem nach, wie man über einen Menschen denkt, wie man ihn heraufbeschwört, wie man ihn im Gedächtnis behält, so kommt man auf ein viel einfacheres Bild: es sind einige wenige Eigenschaften, durch die er auffallt und sich besonders von anderen unterscheidet. Diese Eigenschaften übertreibt man sich auf Kosten der übrigen und sobald man sie einmal beim Namen genannt hat, spielen sie in der Erinnerung an ihn eine entscheidene Rolle. Sie sind, was sich einem am tiefsten eingeprägt hat, sie sind der Charakter.
Indem in karikierender Weise bestimmte Eigenschaften des zentralen Frauentypus des Altenbergschen Werkes isoliert und übersteigert dargestellt werden, ergibt sich noch keine Parodie der Prosagedichte. Die literarische Figur soll lächerlich gemacht werden als ein so in der Wirklichkeit doch nicht vorhandener Charakter: ,in Wahrheit ist die femme incomprise nur gefühlskalt und will gar nicht verstanden werden' lautet ja der Spruch des Polgar-Textes. Diese satirische Verurteilung der fiktiven Frauenfigur bedeutet schon für sich keine Desavouierung des Werkkontextes, in dem jene erscheint. Denn erst die Stellung der Figur im Werk macht sie zu dem, was sie ist: nicht realistisches Porträt, sondern poetische Fiktion und als solche bloß Teil des nur aus der Gesamtstruktur des jeweiligen Prosagedichts zu lesenden Modells von Wirklichkeit. Die Kritik Polgars zielt am Prosagedicht vorbei und reduziert sich in richtigem Verständnis auf eine Meinung über einen bestimmten Wirklichkeitsaspekt, gibt nurmehr Auskunft über ein problematisches ,Frauenbild', so daß der Informationsgehalt — denn nur nach einem 60
E. Canetti, Der Ohrenzeuge. Die Schallplatte „Elias Canetti liest ,Canetti: Der Ohrenzeuge'" wurde im selben Jahr (1974) aufgenommen. Der zitierte Text findet sich nur auf der Plattenhülle.
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solchen kann in diesem Ergebnis journalistischen Handwerks gefragt werden — dieses Textes der „kleinen Form" somit nicht sehr hoch zu veranschlagen ist.
10.6 Sensitive Teilnahmslosigkeit: „Die Innerlichen" Auch in dem Text „Die Innerlichen" aus dem zweiten Sammelband Polgars „Bewegung ist alles" geht es wie bei „La femme incomprise" um die satirische Bloßstellung eines bestimmten Frauentypus der Jahrhundertwende-Literatur, der gleichzeitig verstanden werden kann als Spiegel einer in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit real vorhandenen ,ästhetizistischen' Weltsicht. Daß man sich bei der Kritik der Literatur an einen bestimmten Adressaten zu halten hat, wird wiederum deutlich gemacht durch ein direktes Zitat eines bekannten Werktitels, hier spricht die männliche Hauptfigur vom „Ruf des Lebens", den sie „stark . . . empfinde", doch nur „schwach . . . darauf antworten" (141) könne. Nach Peter Altenberg steht nun also Arthur Schnitzler im Zentrum der intendierten Entlarvung. Die direkte Anspielung auf das 1905 erschiene Theaterstück bedeutet nicht, daß nun gerade nur dieses Werk zum Vergleich herangezogen werden müßte. Es steht als jüngeres und prominentes Schauspiel eher stellvertretend für das Oeuvre Schnitzlers insgesamt, bzw. für einige in Polgars Kritiken häufig angemerkte, ihm bedenklich erscheinende Aspekte desselben 61 — die Besprechung von „Der Ruf des Lebens" ist übrigens für Polgar erstaunlich positiv ausgefallen. 62 Bei den folgenden Bemerkungen Polgars zu Schnitzlers „Der einsame Weg" (1904) ist der Bezug jedoch sofort deutlich: Es ist Herbst und Abenddämmerung, immer Abenddämmerung. Eine zarte Stunde! Langsam, langsam öffnet sich die Hand der Nacht und läßt das Dunkel frei. Da macht es die Seele des Menschen gern ebenso. Zumal so gepflegter Menschen, wie sie da, fein und still, längs des .einsamen Wegs' leidwandeln, und in gepflegten Parks mit gepflegten Worten gepflegter Betrachtungen und Erinnerungen pflegend. (...)
61 62
Vgl. A . Polgar, Ja und Nein, Bd. 1, S. 2 4 9 - 2 7 3 . Vgl. A . Polgar, Ja und Nein, Bd. 1, S. 2 5 7 — 2 6 1 . Keimzellen der Satire sind jedoch auch in dieser Kritik schon auszumachen; vgl. S. 259: „Aber vielleicht wars Absicht zu zeigen, daß der Weg zum Glück über Leichen geht."
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Schnitzler liebt das Spiel mit dem Tod, um den Tod herum. A u f dunkelsten Hintergrund malt er mit Vorliebe die witzig-wehmütigen Ornamente seiner feinen, delikaten Geistigkeit. 6 3
Bestimmender Darstellungsmodus ist der Dialog, auf der zeitlichen Strukturebene erfährt der Text mittels der von Altenbergs Prosagedichten übernommenen Leitmotivtechnik eine strenge rhythmische Gliederung. Eingerahmt wird der dialogische Hauptteil von einem Erzählerbericht zu Beginn und Schluß des Textes, der — wie sich noch zeigen wird — als ,subscriptio', (symbolisch deutende) Interpretation des Dialogteils (als ,pictura') fungiert. Die Opposition der dominanten Leitmotive des den Dialog in kurzen Abschnitten durchsetzenden Erzählerberichts einerseits und der Figurenrede andererseits konstituiert schon ganz eine erste semantische Ebene des Textes: „zu Hilfe!" (140, 142, 143) vs. „innerlich" (141, 142, 144)
Dem Hilferuf folgt stets nur eine ruhige reflektierende Rede der Figur über ihr eigenes Fühlen, über den „innerlichen" Aspekt des äußeren Geschehens. In den einzelnen Darstellungsszenen wird dieser Widerspruch zur Situationskomik gesteigert: als Bertram und Maria den Hilferuf zum erstenmal vernehmen, ist ihre erste wirkliche Reaktion die, sich auf eine Bank am Flußufer zu setzen (140). Die Selbstanklage der Handlungsunfähigkeit wird im gleichen Atemzug zurückgewiesen, indem das eigene Unvermögen seine überhöhende Begründung findet im schicksalhaften Verhängnis („der Fluch meines Lebens", 140). Positive Umdeutung ist somit schnell bei der Hand und dem „schrille(n)" Ruf des Rettungssuchenden steht das ,dumpfe Murmeln' (142) des vom „Blick in die Tiefe seines Innern" Plaudernden gegenüber: „Das kosmische Empfinden macht uns lebensunfähig in der eigenen Kleinwelt" (142). Betrachtet man nur die Dialogpartien, so ist der Text zunächst als die Entfaltung eines einzigen Bildes ,ästhetizistisch-sensitiver' Weltsicht zu lesen, das Maria schon in ihrer ersten Antwort auf Bertram — „gedankenvoll" „mit der Spitze ihres schneeweißen, langen Spazierstöckchens . . . in den Sand stochernd" — formuliert: ,Sie sind nun einmal kein Tatmensch, Bertram; ersparen Sie sich also unnötige Kämpfe; Ihre Seele ist zu kompliziert, um den Trieben einfach und rasch zu gehorchen.' (141)
« A . Polgar, Ja und Nein, Bd. 3, S. 252 u. S. 261.
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
Die Rede der Figuren fungiert als satirische Selbstentlarvung dieser Position der Innerlichkeit als in Wahrheit gefühlloser — aber ungemein beredter — Teilnahmslosigkeit. Eine Entwicklung innerhalb des Textprozesses ist ausschließlich in der Steigerung der von Beginn an schon zu Sarkasmus tendierenden Ironie auszumachen, die in der Darstellung des Widerspruchs zwischen der Not des Ertrinkenden und der einzig darauf antwortenden Auskunft Bertrams über sein .Leiden' an diesem „schlimme(n) Erlebnis" (142) liegt — bis hin zu den makabren Szenen, die dieser in seine Erinnerung an die Schicksale seiner ,guten Freunde' malt. Die Geste der „Innerlichkeit" ist nur der verkappte Ausdruck für ein sexuell-erotisches Interesse: wenn Bertram Maria als „eine Frau von seltener geistiger Intensität" anspricht, blickt er gleichzeitig auf „die breiten seidenen Maschen an Marias Schuhen" (145), und zu seiner Rede von ihrer „schimmernde(n), weiche(n), zarte(n) Seele" ergänzt der Erzähler: „Und er betastete mit leisen Fingern Marias schimmernde, weiße, zarte Haut." (146) Die ganze intellektuell-empfindsame Rede stellt sich schließlich als „Trick" (146) heraus, geistvoll nicht zu sein, sondern zu scheinen. So äußert Maria erst dann harte Kritik an Bertrams Verhalten, als es ihr durch eine .triviale Entgleisung', durch eine ungeschickte Formulierung nicht mehr möglich ist, sich an dem Spiel der eigenen Worte „wohlig" (142) zu erfreuen (vgl. 146). Der Ärger darüber, das Spiel vielleicht als Spiel, die intellektuelle Rede der Verstellung als bloß angemaßte vom Anderen erkannt sehen zu müssen, nötigt plötzlich zur Wahrheit: „Paul wäre einfach ins Wasser gesprungen!" (146) lautet dann der lapidare Satz der Anklage, der das vorhergehende Gespräch als das entlarvt, was es war: „affektierte(s) Reden". Dem ersten Leitmotiv (hier nurmehr als abgebrochener Hilferuf des Sterbenden auftretend) antwortet jetzt das ihm gegenübergestellte zweite nicht mehr, statt dessen wird „innerlich", das ja übersteigerte Subjektivität, „eigene Verklärung" bedeutete, durch „Selbstverkleinerung" gleich „Objektivität" ersetzt. Doch „Selbsterkenntnis" und „Objektivität" sind gleichermaßen nur Mittel im Spiel, das aber nicht mehr von einer „kämpferische(n) Stimmung" geprägt ist. Da jedoch auch hier nur eine neue Spielart der „Masken" der Verstellung auftritt, Kritik nur Ausdruck der Verärgerung, Wahrheit nur der zufallige Platzhalter der vorhergehenden Lügen ist und damit selbst zu einer anderen Form der Lüge wird, kann ein direkter Werbungsakt Bertrams den „Frieden" leicht wiederherstellen. Die Ausgangslage des Textanfangs wiederholt sich nun auf einer höheren Stufe der Eindeutigkeit, nun „brodelte es" nurmehr „von Verlangen, Verlangen und Verlangen" (147).
Sensitive Teilnahmslosigkeit: „Die Innerlichen"
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Abschließend berichtet der Erzähler, daß die Leiche des Ertrunkenen inzwischen auf den Boden des Flusses gesunken sei. Hier nun wird der Erzählerbericht zur gleichnishaft deutenden subscriptio zur als pictura fungierenden dialogischen Darstellung. Die Fische umschwimmen „neugierig" den Toten: Was zum Fressen? Kaum. Sie wußten nichts Rechtes mit dem Kadaver anzufangen. Aber immerhin war es eine Abwechslung im Fischdasein, eine Gelegenheit zum Hin und Her um einen absonderlichen Gegenstand und wahrlich kein Hindernis für die Fortpflanzung! (148)
Der Text suggeriert eine Identität im Verhalten der Fische mit dem der beiden Figuren. Nichts haben die „Innerlichen" jenen voraus, auch sie wissen nichts mit dem Ertrinkenden „anzufangen", auch für sie ist er bloß eine anregende „Abwechslung" und nicht nur kein „Hindernis", sondern sogar ein für ihre erotische Annäherung förderliches „Erlebnis". Die beiden Figuren werden als den Fischen gleich, als „niedrigorganisierte Wesen" (139) entlarvt und unmenschlicher Teilnahmslosigkeit und egoistischer Interessegeleitetheit moralisch angeklagt. Eine Gleichgültigkeit dem Leid des Nächsten gegenüber wird hier gegeißelt, deren Darstellung nun die Zukunft, die schon Jean Paul für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft voraussagte, als in der Realität der Gegenwart eingelöste beschreibt: In kalte Zeiten, w o die Menschen nichts mehr im Herzen haben als ihr Blut, verlang' ich nicht einmal hinein; leider sind jene von der ewig wachsenden Volksmenge des Erdballes zu fürchten, die wie eine große Stadt und Reise und aus gleichem Grund Kälte gegen Menschenwerth mittheilt; der Mensch ist jetzt dem anderen nur im Kriege so heilig wie sonst im Frieden, und im Frieden so gleichgültig wie sonst im Kriege. 6 4
Der moderne Bürger des Wiens der Jahrhundertwende hat jedoch nichts mehr mit den von Jean Paul kritisierten ich-süchtigen „poetischen Nihilisten" der Romantik gemein — wenn ihm auch zumindest dem eigenen, großsprecherischen Anspruch nach „Das Klavier" noch als „Zeuge der eigenen Verklärung" nützlich bleibt. Polgars Satire macht mittels harter — und manchmal in ihrer übersteigerten Verzerrung sich ihres Wirklichkeitsbezuges selbst begebender — Kontrastierung die Kluft zwischen Wirklichkeit und Phrase im Rede der Figuren deutlich. Dem Bürger ist .Innerlichkeit' längst zur reinen Entschuldigung verkommen, und sein ,Ästhetizismus' leistet ihm gute Dienste als Maske, hinter der man ungestört seinem Geschäft, seinen Interessen nachgeht.
64
Jean Paul, Sämtliche Werke. Hrsg. v. E. Behrend, I, Bd. 9, S. 548.
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
„Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer jener Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann." 65 Die Kritik könnte auf diesen Kernsatz konzentriert werden. Doch die Satire geht leider in ihrer karikaturhaften Übersteigerung des Wirklichkeitsbezuges verloren, wird ihrerseits zum bloßen amüsant ironischen Spiel. Zu derart fast gruselhaften Zerrbildern sich in Distanz zu setzen, wird jedem Leser leicht fallen. Die Ernsthaftigkeit des Ausrufs im letzten Satz (vgl. 148) verstärkt nur noch diese Schwäche, indem ihr die darstellerischen Qualitäten der „Untertreibung und das Beiläufig e ^ ) " (und mit denen — nach H. Arntzen — Polgar in seinen späteren Erzählungen „starke (.) satirische (.) Wirkung" 66 erreicht) durchs entgegengesetzte Extrem verloren gehen, das Erschrecken nun nämlich „im Pathos aufgelöst" 67 erscheint.
10.7 Satirische Kurzprosa: „Einsamkeit" Mit dem Buch „Bewegung ist alles" ist die literarische Auseinandersetzung Polgars mit Altenberg als abgeschlossen zu betrachten. Der erst drei Jahre später (1912) erscheinende Sammelband „Hiob" enthält zwar in dem Text „Drei unnütze Dinge" noch einen kleinen satirischen Seitenhieb auf ein bestimmtes Motiv aus dem Werk Altenbergs 68 ; dieser Hinweis verbleibt jedoch im Bereich des isolierten anekdotischen Witzes. Die gleichfalls aus „Hiob" stammenden Novelle „Einsamkeit" 69 soll hier als ein Beispiel für ein eigenständiges, nicht mehr nur von der Kritik des Vorbilds lebendes Werk Polgars interpretiert werden. Es wird sich zeigen, daß der im Prosagedicht eingeschlagene Weg des Prinzips der offenen Struktur verlassen worden ist, um — mit satirischgesellschaftskritischer Intention — wieder eine Geschichte zu erzählen. Daß U. Weinzierl bei seiner Behandlung von „Einsamkeit" kaum den Bereich der Paraphrase überschreitet 70 , mag ein Hinweis auf die Schwie-
65 66 67 68 69
70
Th. W. A d o r n o , zit. in: H. Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information, S. 173 f. H. Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information, S. 175. H. Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information, S. 174. Vgl. „Hiob", S. 93. A . Polgar, Hiob, S. 9 7 - 1 1 2 . Zuerst in: „Simplicissimus" 1 7 (1912), S. 7 2 f f . Jetzt auch in: A . Polgar, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 2 4 - 3 1 . Vgl. U. Weinzierl, Er war Zeuge, S. 4 2 f.
Satirische Kurzprosa: „Einsamkeit"
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rigkeiten sein, vor die ein sehr stark um Eindeutigkeit bemühter Text den Interpreten stellt. Die Novelle gliedert sich in zwei Teile, ein erster enthält die Vorgeschichte, während der zweite (ab S. 104) vom sich daran anschließenden besonderen Ereignis im Leben der Hauptfigur erzählt. Die Wortrekurrenz des ersten Satzes (die ihrerseits schon eine Wiederaufnahme der Titelworte darstellt) verweist als Pathosformel in „affektisch-vereindringlichender Funktion" 71 auf eine notwendige Auffüllung im folgenden Text, bzw. erklärt diesen zu einer Beispielerzählung für das im ersten Satz gesetzte Allgemeine. Der pathetischen Überhöhung des Eingangssatzes entspricht die groteske Übersteigerung des im folgenden Abschnitts geäußerten Anspruchs, sich „zwei Millionen Menschen" als „Einzelwesen" vorzustellen. Die Aussage, daß „Tobias Klemm" zu keinem einzigen Menschen seiner Stadt eine Beziehung hat, wird ins Paradox des positiven Urteils gewendet, daß ihm die Millionen Einwohner insgesamt „nur" (Hervorh. S. N.) als „durcheinander quirlende Masse" gegenüberständen. Die narrative Ausfüllung der Pathosformel erfolgt erst in den nächsten Textabschnitten, die in nicht notwendiger Folge (etwa im Sinne der Steigerung) schlaglichtartig Beleg-Beispiele für die Behauptung des ersten Satzes liefern. Den beiden mittels des Temporaladverbs „Einmal" auf der zeitlichen Strukturebene markierten Passagen kommt dabei insofern eine besondere Bedeutung zu, als in ihnen jeweils eine Annäherung Klemms an seine Umwelt dargestellt wird. Die erste besteht in einer einfachen Zeugenaussage vor Gericht, für Klemm eine „stolze Zeit seines Lebens", insofern als er „für irgend jemanden Bedeutung an diesem Tage" erhält. Die Sprache des Erzählers verrät die Austauschbarkeit auf beiden Seiten: die passivische Wendung des ersten Satzes korrespondiert mit dem unpersönlichen „man" ( = das Gericht) des zweiten und gipfelt „kurz und gut" im „für irgend jemanden" des letzten Satzes dieses Textabschnitts. So wie Klemm nur in seiner Funktion als Zeuge interessant ist, so ist auch für ihn die Mitwelt nurmehr in verdinglichender Erfahrung zugänglich. Dies weist zurück auf die zuvor erfolgte Raumdeskription, in welcher auf umgekehrt entsprechender Weise den Dingen menschliches, dem Einsamen feindliches Verhalten zugeschrieben wird. Der zweite durch Rekurrenz des Temporaladverbs herausgehobene Textabschnitt gibt ein weiter ausgeführtes Beispiel für die einzige Annä-
71
H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, §§ 612, S. 3 1 1 .
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
herungsmöglichkeit, die Klemm, dem selbst die Dinge feindlich sind, verbleibt: wenn nicht Liebe, so soll doch wenigstens „ein Stückchen Haß" (103) für ihn abfallen (doch selbst bei diesem Versuch scheitert Klemm kläglich). Auf der syntagmatischen Textebene gilt für die Abfolge der einzelnen Textabschnitte des ersten Teils kein bestimmtes Ordnungsprinzip, und Verknüpfungselemente zwischen den jeweils voraufgehenden und jeweils folgenden semantisch zusammengehörigen Satzgruppen, die ein bestimmtes Gesetz für den fortschreitenden Textprozeß erkennen ließen, sind nicht feststellbar. Nicht die Reihenfolge der Textsegmente ist also das Entscheidende, sondern der Bezug des einzelnen Abschnitts je für sich zur Eingangsformel. Alle Abschnitte haben nur Illustrations- bzw. Exempelfunktion und liefern deshalb konsequent auch keine Begründung, wie es zu dieser vorab gesetzten „Einsamkeit" gekommen sein mag. Der zweite Teil des Textes (104—112) folgt einem anderen Strukturmuster. Es werden Ereignisse in chronologischer Folge erzählt, wobei der Zeitraum insgesamt nicht genau zu bestimmen, aber deutlich kürzer ist als der der summarischen Beispielerzählungen des ersten Teils. Es wird also der für die Novelle typische besondere Lebensabschnitt im Dasein des Protagonisten geschildert, im Falle Klemms — wie auf dem Hintergrund des zuvor Berichteten zu erwarten — sein Heraustreten aus der identitätslosen Position des „Niemand" (100). Diese Darstellung des Integrationsprozesses in die Gesellschaft enthält deutliche kritische Ansätze, welche die Ursachen des individuell verfehlten Lebenslaufs im Allgemeinen suchen lassen. Die einzelnen Darstellungsschritte widersprechen gerade dem Erzählerkommentar, der die Begründungen für die Einsamkeit Klemms nur in „dem erbarmungslosen innersten Gesetze seiner Existenz" (109) finden kann. Nicht durch die Herstellung eines Kontaktes mit einem anderen menschlichen Individuum (und die dadurch mögliche Bildung eigener Individualität im Dialog) wird die Isolierung überwunden, sondern bloß durch die Integration in die Masse. Es ist eine besondere Masse, nicht mehr die eingangs des Textes erwähnte, nicht mehr vorstellbare anonyme Masse der Stadtbevölkerung (vgl. 99), für den Status des Einzelnen in ihr ist dies jedoch bedeutungslos. Gleichheit und Verlust der Individualität (die sich ja nur in Distanz zum anderen Menschen erhalten kann) werden an den Vokabeln der Beschreibung ablesbar: Klemm begibt sich „unter die Leute", er wird von einem „Mann" und irgendeiner „Frau" berührt und zuletzt wird die ihn umgebende Menge in seiner Erfahrung reduziert zu den „Hände(n), die ihn als Stütze gebrauchen" (104). Die Figur wird
Satirische Kurzprosa: „Einsamkeit"
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schließlich Teil des „Geschrei(s)" der Masse, „ohne zu wissen, weshalb man schrie" (und auch dem Leser wird keine Distanzsetzung zur personalen Perspektive ermöglicht, auch er erfahrt nicht, warum hier geschrien wird). Auch bei der hierauf folgenden Szene in der Wirtschaft kommt es nur auf die massenhafte „Erregung" an, Klemm nimmt am allgemeinen Gespräch teil, jedoch handelt es sich auch hier um ein aufgeregtes Gerede, das fern wahrer Kommunikation inhaltsleer bleibt, einzig funktioniert als Ausdruck qualitätslos massenhaften Verhaltens. Dieses Moment wird im Fortgang des Textes satirisch gesteigert in der nun einsetzenden Verwechslungskomödie, in welcher die Figur zum „Helden" des Aufruhrs wird. Auch Klemms Zimmerwirtin geht es nicht um die Wahrheit ihres Sprechens, sondern nur um dessen mögliche Wirkung „der nachbarlichen Neugier und des Aufsehens". Die unechte, selbstinszenierte Aufregung findet ihren genauen Ausdruck in einem Sprechen, welches nurmehr zu stammelnden Ausrufen fähig ist: „ ,Freili is er's ' und ,Na so was!' und ,Jessas Mariand Joseph! . . . und noch einmal ,Na so was!' . . . " (106) Es macht die besondere Ironie des Textes aus, daß unmittelbar nach dieser Szene der „unerbittliche Reporter der illustrierten Zeitung'" ins Spiel kommt. Der schon vorher gegebene Hinweis darauf, daß Klemm in der Zeitung sein „Jugendbild" erblickt, läßt die Parallele zwischen dem Handeln der Zimmerwirtin, der es gar nicht darum geht, die Leiche genau zu identifizieren, und dem der Zeitung, der es genausowenig um den Wahrheitsgehalt des Berichteten, sondern nur um die Nachricht als solche geht, deutlich werden. Dem Stammeln der Frau entspricht hier die pathetische Leere des Artikels: Klemm wird zum „Opfer im Kampfe um Freiheit, Recht und Fortschritt" erklärt (106). In der Darstellung der Wirkungsmacht der Phrase gewinnt der Text eine kaum mehr zu überbietende Qualität .schwarzen' Humors. An dem, was in den Zeitungen steht, ist nicht zu zweifeln, der „Niemand" wird als „Opfer" Gegenstand der Teilnahme und Rührung der Masse, die mit ihm, der jetzt Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist, nun stets verbunden gewesen sein will. Klemm erzählt selbst „gerührt von Klemm, den er so gut gekannt hätte, wie kein anderer" (107 f.). Keine Phrase, gegen die der ,Tote' gefeit wäre, ja die öffentliche Lüge, muß von dem, der nur in ihr Bedeutung erlangen konnte, als ,Wahrheit' anerkannt werden: Den Höhepunkt erreichte Klemms Karriere, als im Parlament der Abgeordnete Pollak aufstand und sagte: ,Wir rufen dem Herrn Minister nur ein Wort zu, ein Donnerwort: Tobias Klemm!' Damit war Klemms Schicksal entschieden. Er beschloß, die Stellung eines Donnerwortes dauernd zu behalten, seine frühere Stellung als leerer Schall nie mehr wieder einzunehmen. (108)
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
Schon an diesem Punkt wird vom Text das Bild einer Gesellschaft gekennzeichnet, die im Massenmedium Presse paradigmatisch sich verkörpert, welche in einer neuen mythischen Sicht der Wirklichkeit, die ,verba' und ,res' nicht mehr vergleicht, sondern einzig dem Aufsehen der Nachricht Realität zuerkennt. 72 Das öffentliche Sprechen wird so Ausdruck entfremdeten Seins, das den Einzelnen der Einsamkeit überläßt. Diese Gesellschaftskritik, die nur als Sprachkritik zu einer solchen wird, wird ins Groteske gesteigert, wenn Klemm diesen Vorgang selbst erkennen kann. Er begreift, daß er nun „noch einsamer als zuvor" ist: „Früher hatte er einen Namen gehabt . . . jetzt war der Name verloren." (109) Sein aussichtsloser Kampf gegen das öffentliche Bild eines Klemm, den es nie gegeben hat (und an den er seinen Namen abtreten mußte), bringt ihn schließlich ins „Irrenhaus" und dort dann doch — als Steigerung der witzigen Pointe — ins „Isolierzimmer" (111). Hier wird die Satire zur puren Farce und opfert ihre kritische Potenz dem witzigen Einfall. 73 So bleibt auch der an Shakespeare erinnernde Totengräberdialog der Schlußszene mit seinem Interpretationsangebot hinter der Erkenntnis von Wirklichkeit, die die literarische Darstellung ermöglicht, zurück. Der Satz „Die Gesellschaft war ihm halt z'wider" (112) weist nur auf den privaten Aspekt des Falls und geht über die Formel des Textbeginns nicht hinaus. 74 Dagegen konnte gezeigt werden, daß Klemm tatsächlich als ein „Opfer" — und seine „Einsamkeit" als ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden muß. In seinem Schicksal wird mit satirischer Verzerrung das Bild einer Gesellschaft dargestellt, in welcher der Einzelne Beachtung findet nur als Teil des Sensationsberichts, „Freiheit, Recht und Fortschritt" allein noch existieren als leere Phrasen-
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„Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen" schreibt noch Ludwig Wittgenstein 1 9 1 8 in seinem „Tractatus" (Tractatus logicus-philosophicus, S. 19). Dieser Vorgang der Wahrheitsfindung hat sich hier schon umgekehrt: das „Bild" ist immer „wahr" und die „Wirklichkeit" wird nach seinem Vorbild korrigiert. Wenn etwa bei der Untersuchung der Leiche Klemms die Arzte „den hohen Wert der Autopsie als diagnostisches Hilfsmittel" erkennen, so handelt es sich dabei sicherlich um eine witzige Bemerkung, die jedoch im Text vollkommen funktionslos bleibt. Die Äußerung bezieht sich im unmittelbaren Kontext nur auf die beiden anderen Opfer der Epidemie, mit denen K l e m m in einem Grab begraben werden sollte (schließlich begräbt man ihn „solo"). Die betonte Stellung des Satzes am Schluß der Novelle läßt ihn jedoch ohne Zweifel als auf den gesamten vorausgehenden Text verweisenden (als rezeptionslenkendes Verständnisangebot) verstehen.
Späte Huldigung: Polgars Altenberg-Parodie
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hülsen des öffentlichen Geredes, sei es demjenigen der Zeitung, oder des von dieser schon bestimmten Geschwätzes der Straße und der politischen Rede.
10.8 Späte Huldigung: Polgars Altenberg-Parodie Alfred Polgar hat noch im Jahre 1923 eine direkte Parodie auf die Prosagedichte Altenbergs verfaßt, die an unauffälliger Stelle in seinem Werk (versteckt in einem der „Ja und Nein"-Bände) publiziert wurde. 7 5 Sie findet sich im Mittelteil einer kritischen Lobeshymne auf einen Auftritt Fritzi Massarys in einer Operette Leo Falls: Sehr viel hübsche und anmutige Frauen sind im Theater, junge und reifere, schmackhaft zubereitet in der kosmetischen Küche. ( . . . ) Ihr Lebenslauf ist Lieb und Lust (wenn keine Panne eintritt). ,Wir können tanzen': so sitzen sie. ( . . . ) Zweiter Akt, da hat die Massary ihr übermütiges Duo. Dreimal kommt der Refrain. Dreimal in immer anderen Farben blüht der blühende Unsinn aus ihrem Mund, ihren Gebärden. O Elfenzauber im Garten der Torheit! Märchen-Kurve des Lebenslaufs, der Lieb und Lust ist, durchschlingt ihn. Ein Vogel pfeift, unirdisch und überzeugend, auf Würde und Wichtigkeit. Unsinn, du siegst, und ich, aber gern! muß untergehen. Viele hübsche Frauen sind im Theater, um vergnügte Mundwinkel ein leiser Zug von Ärger und Beschämtheit. ( . . . ) .Auch wir können tanzen!': so sitzen sie. Sie spüren ihre Kilo (...). Peter Altenberg hätte das kürzer gesagt. ,Lilith war rosig Er fühlte: Süßeste!!! Die heilige F. M. tanzte! tanzte!! tanzte!!! Lilith erblaßte Er sagte verlegen: gnädige Frau! ' (...)
„P. A. hätte das kürzer gesagt" schreibt Polgar und gibt damit zu verstehen, nachdem er zuvor ja mehr als eine halbe Druckseite — gegenüber den fünf Zeilen der Parodie — auf die Beschreibung verwendet hatte, daß er die Kürze des Prosagedichts für unangemessen hält. Das kürzer Gesagte ist ohne die Vorabinformation der längeren Schilderung unverständlich. Schon in diesem ersten Teil des Textes vor der Parodie findet sich in dem mehrmals genutzten Mittel der Rekurrenz eine Reminiszenz an das literarische Verfahren des Prosagedichts, v o r allem, wenn in der 75
A. Polgar, Ja und Nein, Bd. 3, S. 180 f. Erstveröffentlichung in „Der Tag" v. 3. 3. 1923, S. 3. Titel: „Massary-Pompadour" (diesen Hinweis verdanke ich Herrn Ulrich Weinzierl).
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
Wiederholung eines Satzes durch leichte Modifikation eine entscheidende Bedeutungsveränderung zunächst nur angedeutet wird: „Wir können tanzen" erscheint einige Zeilen später als „Ach, auch wir können tanzen" und stellt die Beschämung der „anmutigen Frauen" beim Anblick der Massary dar. Der Text Polgars bleibt jedoch nicht bei dieser Andeutung stehen, sondern beseitigt schon im Nachsatz jedes mögliche Mißverständnis („sie spüren ihre Kilo"). Durch entscheidende Veränderungen des unmittelbaren Kontextes setzt die Kritik Sätze, die in ihren Hauptsegmenten identisch sind, zueinander in Opposition, und zeigt so mit sparsamen Mitteln auf die unüberbrückbare Differenz zwischen den Damen des Publikums und der Künstlerin: „Ihr Lebenslauf ist Lieb und Lust (wenn keine Panne eintritt) . . . Märchenkurve des Lebenslaufs, der Lieb und Lust ist, durchschlingt ihn." Für Fritzi Massary bedeutet nach der Meinung des Kritikers Polgar noch nicht einmal der „Unsinn" der Operette eine mögliche „Panne". Diese ohnehin schon in solchen prägnanten Oppositionssetzungen konzentrierten Schilderungen der Kritik noch in einem Prosagedicht auf wenigen Zeilen nochmals komprimierter darstellen zu wollen, ist als zum Scheitern verurteiltes Projekt offene parodistische Huldigung. Nach dem zuvor Gelesenen wird der Text hier zu einer witzigen Kritik des — nach Polgars Meinung — überpointierten Prosagedichts. Bei der Verwandlung der „hübschen Frauen im Theater" zur „Lilith" sollen nun die immerhin fünf vollständigen Sätze, die zuvor zur Beschreibung des weiblichen Publikums nötig waren, in dem einzigen Epitheton „rosig" adäquat ausgedrückt sein. Die gesamte Beschreibung der Kunst der Massary wird nun komprimiert zu der dreimaligen Rekurrenz des „tanzte", wobei die jeweilige Vermehrung der Interpunktionszeichen natürlich als einziges modifizierendes Moment dieses in seiner zentralen Stellung so wichtigen Zeilenausklangs überfordert ist und so genau der parodistischen Intention entspricht (Hinweis auf Redundanz). Darüber hinaus verweist auch die ausgiebige Verwendung von Gedankenstrichen (bis auf die mittlere Zeile enden alle Sätze mit zwei bis drei Gedankenstrichen) auf den oft .inflationistischen' Gebrauch von Interpunktionszeichen bei Altenberg. Polgar vermeidet in diesem Text zu krasse Uberzeichnungen. Die Reduktion auf nur fünf Zeilen (eine Kürze, die sich bei Altenberg nur selten findet) ermöglicht es, bestimmte Strukturqualitäten des Prosagedichts (die Prägnanz der Oppositionen, insgesamt die offene Form, die hier eben vom Leser zuviel erwartet) zu zitieren und durch eine nur leichte Überforderung ins Parodistische zu wenden. Mühelos als Parodie erkennbar sein und wirklich als solche funktionieren kann dieser Text jedoch nur durch seinen Kontext. Polgars
Polgar ohne Altenberg
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Fähigkeit zur Imitation seines Lehrers ist so groß, daß bei einer isolierten Veröffentlichung sicherlich viele mit dem Werk Altenbergs noch vertraute Leser der damaligen Zeit diesen Fünfzeiler jenem selbst zugeschrieben hätten. Eine derartige „goldene Parodie" (Schleiermacher) ist so auch immer ein Beweis für ein hohes Maß an Verehrung, das dem Parodierten entgegengebracht wird. Es ist jedoch der Altenberg der Zeit der Prosagedichte aus „Wie ich es sehe", dem hier gehuldigt wird. Nur mit diesem Werk setzen sich die frühen literarischen Texte Polgars auseinander, und nur dieses scheint ihm so viele Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wert, parodiert zu werden. 10.9 Polgar ohne Altenberg Mit einem Text wie „Einsamkeit" hat Polgar die Form satirischer Kurzprosa gefunden, die sein Werk von nun an — bis hin zum letzten von ihm selbst herausgegebenen Sammelband „Im Lauf der Zeit" 76 — kennzeichnen wird. Die im Frühwerk noch vorhandenen Schwächen der grotesken Übersteigerung und des Abgleitens in die im Textzusammenhang funktionslose, bloß sarkastisch-witzige Bemerkung werden von ihm in den späteren Produktionen immer entschiedener vermieden. Sie allein rechtfertigen auch in keiner Weise Polgars übertrieben selbstkritisches Pauschalurteil aus dem Jahre 1941 über diese ersten hier besprochenen Auswahlbände: „Es sind die überhaupt ersten Sachen, die von mir erschienen sind, lange vor World War I; und der Gedanke, daß jemand in die Bücher hineinschaut, ist so quälend für mich, als der Gedanke, daß jemand eine kriminelle Vergangenheit von mir aufgespürt hätte." 77 Polgar hat in Wahrheit den Blick auf diese Vergangenheit noch lange nach dem ersten Weltkrieg selbst eröffnet, indem er alleine vier der zehn Prosatexte aus „Hiob" 78 (darunter auch „Einsamkeit") in seinen 1926 erschienenen Sammelband „Orchester von Oben" aufnahm. 79 In dem 1919 nach Beendigung des ersten Weltkriegs erschienenen, aber zum größten Teil bereits in den Kriegs jähren publizierte Texte 76 77 78
79
Hamburg 1954. Brief an Rudolf Kommer. Zit. in U. Weinzierl, Er war Zeuge, S. 44. Dazu noch zwei Texte aus „Bewegung ist alles". Vgl. „Orchester von Oben", S. 6 1 - 7 4 . Vgl. „Orchester von Oben", S. 9 5 - 1 0 4 („Hiob"), S. 1 1 1 - 1 2 1 („Einsamkeit"), S. 2 2 1 - 2 2 5 („Drei unnütze Dinge"), S. 2 9 9 - 3 0 4 („Sechsmal Tristan und Isolde").
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Vom Prosagedicht zur Satire: Alfred Polgar
enthaltenden Buch „Kleine Zeit" sind die .Fehler' der Frühzeit — vielleicht sogar bedingt durch die zu einem zurückhaltenden Schreibstil zwingende Zensur — schon nicht mehr zu finden. Es handelt sich durchweg um kurze, fürs Feuilleton bestimmte Prosatexte, die als vorsichtige Satiren in knappen Szenen ein kritisches Bild des österreichischen „Hinterlandes" 80 zeichnen. Diese Darstellungen eines friedlichen Alltags, dessen sich nach außen noch scheinbar normal gebende Fassade mit der dahinter stets von Haß und Gewalt des Krieges dominierten Realität konfrontiert wird 81 , erinnern in nichts mehr an die Form des Prosagedichts. Was Polgars Texte an Schärfe und Prägnanz unmittelbar kritischen Wirklichkeitsbezugs gewinnen, verlieren sie in bezug auf eine in der Struktur des Werks angelegte Förderung aktiver Rezeption. Polgars Texte sind auf diese Weise weniger widerständig und leichter konsumierbar und tragen damit bei deutlich kritischer Intention in Wahrheit weniger zur Aufklärung und das heißt zum eigenständigen Denken bei als das scheinbar so viel ,realitätsfernere' Prosagedicht der Frühzeit Altenbergs. Polgar ist nicht der ,Erbe Altenbergs', wie Claudio Magris behauptet: „Alfred Polgar übernahm das Erbe an Geschick und geistreicher Anmut und führte diesen ironischen, launenbedingten Lebens- und Schreibstil gemeinsam mit anderen, wie Torberg und Friedeil, fort." 82 Dies stimmt höchstens — und auch dies nur in den Anfangsjahren — für den .Lebensstil'. Was den ,Schreibstil' betrifft, muß festgehalten werden, daß die Prosagedichte Altenbergs hier keine Tradition begründen konnten. 83 Hier ist durch die Auseinandersetzung mit dem Werk Altenbergs (in Parodie und den parodistisch intendierten Texten des Frühwerks) eine schriftstellerische Produktion ganz anderer Art entstanden. Polgars Kurzprosa hat mit den am Anfang der hier aufgezeigten Entwicklung
80
81
82 83
Dies ist der Titel des späteren, 1929 nun wieder bei Rowohlt erscheinenden Sammelbandes, in welchem Polgar die meisten Texte des im Gurlitt-Verlag erschienenen Buches wieder aufgenommen hat. Diese Gewalttätigkeit ist in der relativen Sicherheit des Hinterlandes, wie es sie ja im ersten Weltkrieg noch gab, in erster Linie eine, die auf das Denken ausgeübt wird und die sich an dem der Sprache zugefügten Deformationen zeigt, z. B. am ausgiebigen Gebrauch der Phrase v o n der „großen Zeit" in der Alltagsrede wie in den Kriegsfeuilletons und .Dichtungen' — hiergegen richtet sich in polemischer Intention der Titel des Buches v o n Polgar. C. Magris, Der habsburgische Mythos, S. 190. Und die „Essays", die Altenberg später zahlreich verfaßte, werden von den kritischen Arbeiten Polgars weit übertroffen.
Polgar ohne Altenberg
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stehenden Prosagedichten nur noch die Kürze des Textes gemein. Durch den — wie W. Benjamin es nannte — „emblematischen Lakonismus" 8 4 der Darstellung werden die Texte in „Kleine Zeit" zu später nicht mehr übertroffenen satirischen Abbildern der Wirklichkeit. Vielen mag diese Methode zu schmächtig erscheinen, wenn sie, wie eben in diesen Skizzen, auf überlebensgroße Objekte, wenn sie auf den K r i e g angewendet werden soll. E s ist aber durchaus in der Absicht Polgars gelegen, zu zeigen, daß sich die große Zeit an der kleinen, daß sich das ,große Erlebnis' am kleinen Leben ad absurdum führt. 8 5
Die Perspektive der Darstellung ist dabei bestimmt von einer Position der Ohnmacht, die den Verfall nur zu konstatieren, doch nicht aufzuhalten vermag. Polgar gibt sich nicht der hybriden Vorstellung hin, dem Lauf der Zeit eine positive Utopie entgegenstellen zu wollen. Aber er wird „Wortführer aller Streitkräfte der passiven Resistenz", er ist kein mit heilbringender Ideologie gerüsteter Kämpfer, aber in seinen Versuchen satirischer Vernichtung der Realität ist er von Benjamin zu Recht zum „Obersten der Saboteure" 86 ernannt worden.
84 85 86
W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 200. H. Broch, Kommentierte Werkausgabe, Bd. 9/1, S. 346. W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 200.
11. Neun Schlußthesen 1. Egon Friedeil schreibt in seiner „Kulturgeschichte": Und wer das Fin de siècle nur nach seiner Kunst beurteilen wollte, würde aus Ibsen und Maeterlinck, Altenberg und George, Khnopff und Klimt wohl kaum auf ein Zeitalter der Technokratie und Börsenherrschaft, des Imperialismus und Militarismus schließen. 1
Nach dem sozialen Gehalt der Literatur zu fragen, bedeutet nicht, sich aufs Feld der allgemeinen Geschichtsforschung zu verirren. Nicht ,wie es gewesen' interessiert, sondern was das in vergangener Zeit entstandene Werk heute ist. 2. Es kommt darauf an, das in den Artefakten konservierte literarische Sprechen in der Begegnung mit den Werken zum Reden zu bringen. Dies gilt auch für eine bestimmte breitere Phase der literarischen Evolution, die der Literaturhistoriker aus dem kontingenten Fluß der Geschichte isoliert: die den Werken gestellte Frage ändert sich nicht. 3. Als er versuchte, poèmes en prose im Stil von Aloysius Bertrand zu schreiben, habe er — schreibt Charles Baudelaire — noch während der Arbeit bemerken müssen, daß er „da etwas [...] merkwürdig Verschiedenes zustande brächte". 2 Auch Altenberg und Hofmannsthal sind nicht epigonale deutsche Spiegelbilder der französischen Vorgänger. Eben das „Verschiedene" dieser deutschsprachigen Prosalyrik der Jahrhundertwende versuchte diese Arbeit zu erfassen (in Kap. 5 und 6). 4. Die offene Struktur des kurzen Prosa erfordert eine Weise der Rezeption, die ein hohes Maß an aktiver Mitarbeit des Lesers bedeutet. Diese Texte sind Fragmente, die antizipatorisch — ohne zum positiven Entwurf sich zu verfestigen — aufs von der Intention Verfehlte verweisen, über die Literatur hinaus auf das, was nur in der historischen 1 2
E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 797. Ch. Baudelaire, Prosadichtungen, S. 56.
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Wirklichkeit eingelöst werden könnte. Dies — und nicht historisch verifizierbarer Faktenreichtum — macht den sozialen Gehalt des Werks aus. 5. Altenberg nimmt nicht zum „Zauber des Augenblicks und zur Behexung des Fragments Zuflucht" (Magris) 3 , sondern nur in der Flüchtigkeit des Augenblicks und in der Unabgeschlossenheit des Fragments scheinen ihm in der Literatur noch Bilder eines Lebens möglich, die nicht schon aus der Normalität des Herschenden verständlich (und damit unschädlich zu machen) sind: keine selbstgenügsame Flucht aus der Wirklichkeit also, sondern ihr nur blitzhaft erscheinendes, vergängliches Gegenbild. Das Bewußtsein vom noch nicht Eingelösten vereint sich in diesen Texten mit der Vorsicht, nicht zu viel darüber zu sagen, und bewahrt es damit vor der Lüge, es sei schon sicherer Besitz des Wissenden. 6. Hofmannsthals allegorisierende Erzählweise folgt im scheinbar ausführlichen, beredten Sprechen gleich Altenberg einer „Poetik des Andeutens". Der Begriff ist in diesen Prosagedichten zwar unablässig angestrebtes, doch stets sich verweigerndes Ziel. Die auf das Nennen von Details fixierten Deskriptionen sind paradoxer Ausdruck einer fundamentalen Sprachskepsis. Die „einfachen Worte" sind den Mündern von „Engeln" vorbehalten (vgl. Kap. 7.3). 7. Die „Einheit in der Differenz", die zwischen „Was der Tag mir zuträgt", „Pródromos", den frühen Prosatexten Polgars und „Wie ich es sehe" behauptet wird, ist zweifellos Konstruktion des „historischen Diskurses". 4 In den durch die Textanalysen erkannten Strukturrelationen erweist sich der im ersten Fall in der Identität der Autorinstanz, im zweiten in einer Lehrer-Schüler-Konstellation begründete Vergleich jedoch als berechtigt. 8. Schon in „Was der Tag mir zuträgt" tritt die „Poetik des Andeutens" zurück hinter einer „Poetik der Eindeutigkeit", die dann in „Pródromos" allein herrschend wird (Kap. 8.9). Auch die Auseinandersetzung Polgars mit den Altenbergschen Prosagedichten führt zu einer satirischen Kurz3 4
C. Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, S. 189. Vgl. U. Japp, Beziehungssinn, S. 228.
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prosa, die ein unmittelbares kritisches Referieren aufs historisch Wirkliche intendiert (Kap. 10). 9. Abgesehen von den Texten, die ohnehin nur dem bloßen Amüsement dienen, bedeuten sowohl die aggressiv-reformatorische Lehre als auch die direkt satirische Kritik einen Verlust an durch Literatur zu fördernder Aufklärung. Denn deren Erfolg zeigt sich nicht in der Übernahme der — vielleicht richtigen — Meinung, sondern am unbequemen Zwang zum eigenständigen Denken. Dieses Ziel erreichen jedoch die frühen Prosagedichte Altenbergs und Hofmannsthals — wenn auch auf ganz verschiedenen Wegen.
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Namensverzeichnis Kursiv gesetzte Ziffern beziehen sich auf Fußnoten. Adorno, Th. W. 132, 134, 208, 208, 220, 220, 232 Altenberg, P. 1,4f., 7, 12, 15- 21, 25 - 33, 25, 29f., 33, 42, 48, 48, 50, 52, 54, 56, 60 f., 63, 65 f., 93, 97,102, 102,104, 114, 121, 121, 123, 123, 128, 128, 130, 134, 136, 137, 138 f., 145, 152 ff., 171, 171, 1 7 4 - 1 7 7 , 177,180-184, 180,182, 189f. 193, 196, 196, 199, 201, 202 - 211, 208, 213, 2 1 5 - 2 1 8 , 2 2 1 - 2 2 5 , 221, 227ff., 232, 237 - 240, 240, 242 ff. Andics, H. 3 Arntzen, H. 218, 232, 232 Auburtin, V. 213 Bahr, H. 4, 10 f., 1 0 f f . , 13 Barthes, R. 166 Baudelaire, Ch. 1,16, 16,52, 142,143, 242, 242 Bauer, R. 10, 10, 119 Beaugrande, R. A. de: 5, 95f., 178, 181 Behrend, E. 231 Benjamin, W. 52, 138, 138, 241, 241 Bernard, S. 1, /, 17, 18. Bertrand, A. 16, 242 Bibl, V. 3 Bloch, E. 47, 134, 126, 168 Boehringer, R. 12 Bölsche, W. 31 f . Bohn, V. 176, 208, 211 f., 211 f . Braakenburg, J. J. 32 Brecht, B. 48 Broch, H. 241 Calemard du Genestone, M. 182 Canetti, E. 66, 227, 227 Cervenka, M. 4, 16 Colli, G. 170 Coseriu, E. 3, 5 f . Curtius, E. R. 168 Dorfmüller-Karpusa, K. 6 Dressler, W. U. 5, 95f., 178, 181
Eco, U. 133 Engländer, G. 175 Fall, L. 237 Fischer, H. 31, Fischer, J. M. 3, 11, 13, 13f. Freud, S. 59, 5 9 f f . , 61 Friedell, E. 10, 10,18, 18, 25 f., 26,29 - 32, 31f . , 42, 42, 92, 132, 132, 138, 138, 211, 215, 215f., 240, 242, 242 Fritsche, E. 211 Füger, W. 1, 1, 18, 18, 20 Fülleborn, U. 1, 1, 9, 18/., 19, 22, 140, 140 George, St. 12, 242 Geulen, H. 15 Glaser, H. A. 3 Goethe, J. W. 106, 161 Grillparzer, F. 9 Großmann, St. 210, 210 Gugitz, G. 13 Habermas, J. 208, 208 Hamann, R. 26, 73 Hamburger, K. 172 Hempfer, K. W. 16, 166 Hermand, J. 26, 73 Herzfeld, M. 154 Hirsch, R. 8 Hofmannsthal, H. v. 4, 4, 8, 8, 12, 23 ff., 23, 25, 1 4 0 - 1 4 3 , 140//., 146, 146, 150, 151,152 ff., 160,165 f., 166,170 f., 171/., 173, 205, 243 f. Holz, H. 31,31/. Huysmans, J. K. 16 f., 16-21, 19, 21, 65, 65, 177, 183 Ibsen, H. 242 Iser, W. 132/. Jacob, H. 17 Janik, A. 225
258 Japp, U. 243 Jauß, H. R. 16 Jean Paul 231, 231 Jünger, W. 13 Kafka, E. M. 10 Kallmeyer, W. 43 Kann, R. A. 7 Kesting, M. 15, 27, 27 Khnopff, F. 242 Kippenberg, A. 165 Kirnig, H. 211 Klimt, G. 242 Klockow, R. 50 Knobloch, H. 213 Koch, H. E. 119 Kommer, R. 239 Kraus, K. 13, 13f., 30, 30, 101 f., 101 f . , 133, 175, 175, 182, 182, 193, 193, 196, 196, 201, 201, 208 - 211, 209, 216ff., 216ff., 220, 220 Kreuzer, H. 3, 13, 219, 219 Kuh, A. 14 Kuhn, H. 2 Kunz, J. 184 Lämmert, E. 43, 166 Lausberg, H. 7, 37, 177, 201, 233 Le Dantec, Y.-G. 52 Link, J. 33 Loos, A. 191, 211 Lotmann, J. M. 20, 27, 34, 132, 218f., 219 Lueger, K. 225 Lukàcs, G. 119 Lurker, M. 170 Mackensen, L. 184 Maeterlink, M. 45, 178, 242 Magris, C. 5, 9, 240, 240, 243, 243 Mallarmé, St. 1, 16, 17, 138, 138 Mann, Th. 133, 207, 208, 215 f., 216 Marcuse, L. 61, 61 Massary, F. 237 f. Meyer, T. 32 Miller, A. 60, 60 Mitterer, F. 30, 30 Möbius, H. 32 Neumann, G. 111 f . , 199 Nies, Fr. 1 , 1 , 1 7 Nietzsche, Fr. 102, 119, 119, 121
Namensverzeichnis Noelle-Neumann, E. 213 Nolting, W. 7 Novalis 45 Oberzill, G. 13 Petöfi, J. S. 6 Philippoff, E. 31,211 Polgar, A. 5, 8, 8, 14 f., 14f., 138, 175, 176, 210 - 217, 211-217, 219 - 224, 221, 227f., 228f., 231 f., 232, 237 - 241, 237, 240, 243 Polheim, K. K. 9 Prinz, Fr. E. 10 Pütz, H. 100 Randak, E. 29 Rauh, A. 3 Rilke, R. M. 22ff., 23, 183 Rimbaud, A. 1, 17, 143 Ritter, E. 8 Saar, F. v. 11 Schäfer, C. 28, 28, 30 Schäfer, H. D. 7, 15, 134 Schleiermacher, Fr. 239 Schmidt, S. J. 16 Schmidt-Dengler, W. 183 Schnack, I. 23 Schnitzler, A. 11, 54, 61, 228 Schoeller, B. 8 Schorske, C. E. 225 Schulz, W. 213 Schwedler, R. 211 Schweiger, W. J. 7, 29, 29 Shakespeare, W. 236 Simon, D. 7, 137 Spiel, H. 210 Spinnen, W. B. 29 Stanzel, Fr. K. 43, 95, 105 Steinberg, G. 105, 159 Steiner, H. 8, 140 Szondi, P. 2 Tarot, R. 144, 155f„ 160, 160, 172, 172 Thomalla, A. 180 Thurner, E. 9f. Torberg, A. 240 Toulmin, S. 225 Tremel, F. 3 Turgenjew, I. S. 142, 143, 146, 151
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Namensverzeichnis Ueding, G. 204 van de Velde, R. 6 Verlaine, P. 16 Viertel, B. 222, 222 Wagner, N. 65 Wagner, P. 7, 16, 18, 20, 27 f., 28f., 48, 62, 73, 80/., 81, 90, 9 0 f f . , 97, 99, 113, 114, 116, 118, 136, 136, 174f., 177, 182, 184, 184, 205, 205 Wagner, R. 205 Waisnix, O. 54 Wapnewski, P. 200
Wedekind, F. 220 Weigel, H. 13, 219, 219 Weinrich, H. 95 Weinzierl, U. 210-213, 211 ff., 217, 218, 221, 221, 226, 226, 232, 232, 237, 239 Werner, R. 119, 121 Wittgenstein, L. 236 Wysocki, G. v. 18, 28, 28, 1 1 6 f f , 117, 123 Zmarzlik, H. G. 119 Zöllner, E. 3, 137 Zola, E. 32 Zuckerkandl, V. 139, 139 Zweig, St. 3, 11, 11, 50
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER
GÖTZ BRAUN
Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur Groß-Oktav. XII, 312 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 1 0 8 , ISBN 3110082381 (N.F. 81/205) ECKART CONRAD LUTZ
Rhetorica divina Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters Groß-Oktav. XII, 420 Seiten. 1984. Ganzleinen DM 1 7 2 , ISBN 3110098814 (N.F. 82/206) SYLVELIE ADAMZIK
Subversion und Substruktion Zu einer Phänomenologie des Todes im Werk Goethes Groß-Oktav. X, 300 Seiten. 1985. Ganzleinen DM 1 0 8 , ISBN 3110101173 (N.F. 83/207) GERD UEKERMANN
Renaissancismus und Fin de siècle Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende Groß-Oktav. XII, 382 Seiten. 1985. Ganzleinen DM 1 1 8 , ISBN 3110102765 (N.F. 84/208)
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