Das Pathos in Schillers Jugendlyrik [Reprint 2018 ed.] 9783110822618, 9783110002065


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German Pages 188 [196] Year 1964

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Table of contents :
VORWORT
INHALT
EINLEITUNG
ERSTER TEIL Die pathetischen Haltungen
ZWEITER TEIL Die Grundformen des pathetischen Stils
DRITTER TEIL Interpretationen ausgewählter Gedichte
BIBLIOGRAPHIE
GEDICHT-REGISTER
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Das Pathos in Schillers Jugendlyrik [Reprint 2018 ed.]
 9783110822618, 9783110002065

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KELLER DAS P A T H O S I N S C H I L L E R S

JUGENDLYRIK

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

BEGRÜNDET

VON

BERNHARD T E N BRINK U N D WILHELM

SCHERER

N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN

KUNISCH

15 (139)

W E R N E R KELLER DAS PATHOS IN SCHILLERS JUGENDLYRIK

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN VORMALS G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG —• J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNER — VEIT & COMP.

DAS PATHOS IN SCHILLERS JUGENDLYRIK

VON

WERNER KELLER

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN V O R M A L S G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG



J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG —• GEORG R E I M E R K A R L J . TRÜBNER —

VEIT &

COMP.



Archiv-Nr. 43 3064/3

© Copyright 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. GÖschen'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44.

Für I. und G.

VII

VORWORT Die hier vorgelegte Untersuchung des „Pathos in Schillers Jugendlyrik", die in den Jahren 1957 und 1958 — teilweise neben der schulischen Tätigkeit — gesciirieben und von meinem Tübinger Lehrer, Herrn Professor Dr. Friedrich Beißner, als Dissertation angenommen wurde, teilte bisher das Geschick der vielen maschinenschriftlichen Arbeiten. D a ß sie jetzt, nach fünf Jahren, noch im Druck erscheint, danke ich dem freundlichen Entgegenkommen des Herausgebers der „Quellen und Forschungen", Herrn Professor Dr. Hermann Kunisch. Die Arbeit wurde, wie erwähnt, vor Beginn des Schiller-Jahres 1959 abgeschlossen, das in den beiden Monographien von Gerhard Storz 1 und Benno von Wiese 2 seinen wissenschaftlichen Ausdruck fand. In einem Vortrag 3 sagte Storz damals, zu den dringlichen Erfordernissen des Jubiläumsjahres gehöre es, die reifen Werke des Lyrikers Schiller angemessen zu vergegenwärtigen (S. 17), doch bekennt er in seiner Monographie, die Aufgabe, „die Schillers Gedichte der literaturgeschichtlichen Forschung stellen, geht über die Grenzen dieses Buches hinaus" (S. 197). Seiner kunstnahen Absicht entsprechend, die Dichtung als geistige Gestalt zu begreifen, fragt er nach den Bedingungen, den Eigentümlichkeiten und nicht eindeutig bestimmbaren Vorbildern dieser rhetorischen Lyrik, der die beiden Grundtöne der zeitgenössischen Dichtung — die intime Selbstaussprache und die Naturinnigkeit — fehlen und deren lyrische Unmittelbarkeit erst durch dramatische Situationen freigesetzt wird. Die Darstellung von Benno von Wiese, die den weiten geistigen Zusammenhang beschreibt, in dem sich Schillers Entwicklung vollzieht, in umgreifenden Kapiteln Freundschaftsenthusiasmus und Todeserfahrung als „Grundformen des Erlebens" (S. 32—52) entwickelt, die Hauptgedichte der „Anthologie" bespricht und vor allem „Die Struktur der Schillerschen Phantasie" (S. 565—579) im Blick auf die klassische Lyrik und ihre Gattungen (S. 579—624) herausarbeitet, bedeutet die Zusammenfassung der früheren und die Voraussetzung der künftigen SchillerForschung. 1 2 3

Gerh. Storz: Der Dichter Friedrich Schiller, 2. Aufl., Stuttgart 1959. Benno von Wiese: Friedrich Schiller, Stuttgart 1959. Gerh. Storz: Der Lyriker Schiller, in: Der Deutschunterricht, Jg. 12, 1960, Heft 2, S. 5—17.

VIII

Vorwort

Doch obschon F.-W. Wentzlaff-Eggebert 4 in seiner Rezension v. Wies es Kapitel über die klassische Lyrik mit einem „Superlativ des Lobes" (S. 668) bedenkt, so vermißt er gleichwohl „eingehendere Hinweise auf Formprobleme bei der Lyrik" (S. 672). Daher rührt es, daß Hans Mayer in einem die beiden genannten Werke einbeziehenden Aufsatz über „Schillers Gedichte und die Traditionen der Lyrik" 5 sagen konnte, daß in der Darstellung des „Einzigartigen" der aufklärungsverhafteten Lyrik Schillers die Forschung erst am Anfang stehe (S. 75). Meine Arbeit versucht, für die gedankenspröde und gestaltarme Jugendlyrik der oft erhobenen Forderung nachzukommen, indem sie Schillers hyperbolische Imagination und die durch sie bedingten Haltungen und Stilformen in ihrer Einheit beschreibt. Der Textteil konnte, das sei betont, inhaltlich völlig unverändert bleiben, doch wurde in Anmerkungen der Forschung der letzten fünf Jahre Rechnung getragen. Zwar hätte ich gerne den grundlegenden ersten Teil, die Geistesart und die Haltungen des Pathetikers wie seinen Wirklichkeitsbegriff betreffend, umgearbeitet und die Bezüge der Jugendlyrik zum Drama, zur klassischen Lyrik und Ästhetik noch entschiedener ermittelt, doch auch für eine unprätentiöse Abhandlung gilt Goethes Wort, daß man es bei Verbesserungen früherer Schriften weder anderen noch sich selbst recht mache: „Ein frischer Gehalt geht nicht in die alte Form." Schillers Verhältnis zur lateinischen Tradition, sein lateinisches Erbteil zu bestimmen, stellt sich der Forschung als Aufgabe 6 , der mit dem Aufweis isolierter rhetorischer Stilkonstanten wenig, mit der Darstellung des Dichtungsbegriffs, der pathetischen Einbildungskraft und ihres Vorstellungs- und Bildschatzes am ehesten gedient ist. Zudem bedarf die klassische Lyrik in ihrer Einheit von ästhetischer Reflexion und dichterischer Gestaltgebung der einläßlichen Beschreibung, wie sie Storz für den „Spaziergang" begann und v. Wiese mit dem glücklichen Begriff der „ästhetischen Synthesis" vorbereitete. Köln, Oktober 1963 4 5 6

W.K.

In: DVjs., 34. Bd., i960, S. 667—672. In: Jb. d. Dt. Sdiillergesellschaft, 4. Jg., 1960, S. 72—89. Karl Otto Conrady (Lateinische Dichtungstraditionen und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, bes. S. 39) deutet die Linie der Tradition („nichtlyrische Lyrik") an, in die Schiller einzuordnen ist. Die Antrittsvorlesung Conradys über „Schiller und die Tradition der Lyrik" ist bisher unveröffentlicht. (Vgl. Zitat bei B. v. Wiese a. a. O., S. 571 und S. 841, Anmerkung 7.) Eine bedeutende Vorarbeit bietet, wenngleich ohne ausgesprochene Beziehung auf Schillers „Laura"-Oden, Hans Pyritz: Petrarca und die deutsche Liebeslyrik des 17. Jahrhunderts (H. P.: Schriften zur deutschen Literaturgeschichte, 1962, S. 54—72, bes. S. 61 und 68 f.).

I N H A L T VORWORT EINLEITUNG

VII I

ERSTER TEIL: D i e pathetischen H a l t u n g e n Jugendpathos und Affekt Die pathetisch verabsolutierte Größe Der pathetische Dualismus Die pathetische Höhendimension Der pathetische Transzendierungsdrang Die pathetischen Objektivationsformen

11 17 29 42 51 62

ZWEITER TEIL: Die Grundformen des pathetischen Stils Die pathetische Wortwahl Die Sentenz Die Antithese und das antithetische Prinzip Die Apostrophe Die Allegorie und das Allegorische Metrum und Rhythmus

75 82 87 91 97 110

DRITTER TEIL: Interpretationen ausgewählter Gedichte D a s affektreine Lyrikon „Meine Blumen" Die dithyrambischen Gedidite „Die Gröse der Welt" „Die Freundschaft" „An die Freude" Die elegisch empfundenen Gedichte „Freigeisterei der Leidenschaft" und „Resignation" „Die Götter Griechenlandes"

127 132 135 144 152 159

BIBLIOGRAPHIE I. Quellen II. Monographien und Aufsätze Nachbemerkung Gedichtregister

175 175 178 179

EINLEITUNG In seiner Abhandlung über die Schillerforschung der jüngsten Vergangenheit — die Berichtszeit umfaßt die Jahre zwischen 1937 und 1953 — schreibt Benno von Wiese: „Für den Bereich der Schillerschen Lyrik, das Stiefkind der Schillerforschung, ist nur wenig geschehen."1 Dieses Eingeständnis verwundert zunächst sehr, da die Dramen und die Ästhetik Schillers während dieses Zeitraums eine Fülle von neuen Deutungen erfuhren und die „Wissenschaft von der Dichtung" sich weithin zu einer Interpretationswissenschaft vornehmlich lyrischer Gebilde entwickelte. Doch diese „Kehre" hin zum Sprachkunstwerk, dessen autonomes Wesen endlich mit dem ihm zukommenden Ernst ins allgemeine Bewußtsein aufgenommen wurde, ging nicht ohne neue Einseitigkeiten vor sich. Die Auswahl der Gedichte verband sich für die Deuter mit einer vielleicht unbewußten Wertung, traf sich zumindest mit der Vorliebe für das „reine", „selig in sich selbst" wesende Lyrikon wie für die hohe hymnische Dichtung. Schillers Lyrik — und zumal die der Jugend — hat daran nur gelegentlichen Anteil, denn ihr fehlt die Innigkeit, an deren Stelle sie Größe setzt 2 ; ihr fehlt das Naturhafte, für welches Willensakte stehen. Schwankend zwischen Begriff und Anschauung, führt sie über Natur und Leben hinaus, wirbt für die Idee, sucht durch die Gestaltung zu begreifen, indem sie abwägt, urteilt und deklamiert. Sdiiller sei „eigentlich zum Redner geboren und nie Volldichter gewesen", behauptete Max Kommerell 3 , und — so ließe sich die allgemeine Kritik in einem Satz zusammenfassen — die Idee stehe stets am Anfang und bediene sich des dichterischen Ausdrucks als einer bloßen Schmuckform. Wilhelm von Humboldt hatte dagegen in seiner „Vorerinnerung" zum Briefwechsel mit Schiller betont, daß zwar der Gedanke das Element seines Lebens 1

Deutsche Vierteljahrsschrift für Lit.Wiss. und Geistesgeschidite, Bd. 27, 1953, S. 479.

2

Vgl. G. Storz: Schillers Dichtertum, in: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955, bes. S. 128.

s

M a x Kommereil: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, S. 177.

1

Keller,

Schiller

1928,

2

Einleitung

war, „die philosophischen Ideen aus dem Medium der Phantasie und des Gefühls" sich indessen entwickelten.4 Wollte man den Vorwürfen leichthin begegnen, die Schillers Jugendarbeiten gleichermaßen gelten, so wäre diesen damit kein Dienst erwiesen, denn der Hang zum Außerordentlichen, der das Natürliche verdrängte, will weder entschuldigt noch gestützt, sondern einfach hingenommen werden wie manches Dilettantische, Grelle und Schreiende, manches Schwärmende, Überspannte und Geschmackswidrige auch. Der reife Dichter selbst verurteilte in der Vorerinnerung zum zweiten Band der Ausgabe seiner Gedichte im Jahre 1803 „die wilden Produkte eines jugendlichen Dilettantism, die unsichern Versuche einer anfangenden Kunst und eines mit sich selbst noch nicht einigen Geschmacks . . ." 5 Zu Beginn des historisch-philosophischen Intervalls bekannte der Dramatiker Schiller überdies, daß er „das lyrische F a c h . . . eher für ein Exilium als für eine eroberte Provinz" ansehe.6 Bedeutende Dichter unseres Jahrhunderts: Hofmannsthal, Borchardt und Schröder, fühlten sich nichtsdestoweniger von Sdiillers Lyrik — und von seiner Jugendlyrik im besonderen — fast enthusiastisch angesprochen, und Borchardt und Paul Ernst 7 gingen sogar so weit, die Jugenddichtung über die klassische zu stellen, die in der Goethe-Nachahmung und der Verleugnung des eigenen feurigen Stils befangen sei. Die übermächtige Innerlichkeit des jungen Schiller drückt sich im Gedicht unmittelbarer noch als im Drama aus, da in Schauspielen die Gestalten dem Gesetz der Handlung verpflichtet und in ein Netz von Bezügen eingeordnet sind. Später wurde die Lyrik für Schiller Ausdruck seines hohen Kunstverstands, dessen Einsichten in das Wesen der Kunst im Gedicht selbst Kunst wurden. Die deutsche Philologie des vergangenen Jahrhunderts tat sich genug im Sammeln und Kommentieren der Werke Schillers, versäumte jedoch 4

Zit. nach der von Albert Leitzmann besorgten dritten Ausgabe, 1900, S. 26. Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 112. • An Körner, 25. Februar 1789. 7 Rudolf Borchardt: Rede über Schiller, in: Reden (o. J.), S. 165 f., und Paul Ernst: Der Zusammenbruch des Deutschen Idealismus, 3. Aufl., 1931, S. 282. Herrn Professor Kunisch verdanke ich den freundlichen Hinweis auf ein Gespräch zwischen Gottfried Benn und Werner Bergengruen: „Der Anlaß war Schillers Lyrik, für deren Rang Sie beide gleicherweise eintraten . . Herrn. Kunisch: Erinnerung und Besinnung, S. 31 f., in: Dank an Werner Bergengruen, hg. v. P. Schifferli, 1962. Zur Wirkungsgeschichte, für die natürlich nur Vergleichspunkte zu konstatieren sind, vgl. jetzt Edgar Lohner: Schillers Begriff des Scheins und die moderne Lyrik, in: Dt. Beiträge zur geistigen Überlieferung IV, 1961, S. 131 bis 181. 5

Einleitung

3

auf der emsigen Suche nach dem „Ererbten, Erlebten, Erlernten", das Gedicht selbst zu hören. Die jüngere Vergangenheit aber, deren ideengeschichtliche Forschung in Schiller reiche Nahrung fand, begnügte sich, die Weltanschauung des Dichters, seine Stellung zu den verschiedensten Fragen von Kunst und Wirklichkeit zu ermitteln, wodurch auch sie die autonome Würde der Gedichte übersah: ihre spezifische Form, die das Gedanklich-Ideelle als einen Teilaspekt unter anderen mitumfaßt. Angesichts dieser Einseitigkeit mußte ein bekannter Schillerforscher — im Blick auf das Drama — gestehen: „Von so vielen tief- und scharf sinnigen Werkinterpreten der abgelaufenen Epoche nicht einer, der die szenisch bildhafte und die sprachkünstlerische Gestaltung als seiner deutenden Auslegung mitaufgegeben betrachtet hätte. Sie haben diese Dimension wie selbstverständlich abgezogen." 8 Für die selten beachtete Lyrik gilt, wie gesagt, ähnliches, doch mit der glücklichen Einschränkung, die Reinhard Buchwald" und Ernst Müller zu verdanken ist, besonders auf Grund von dessen erweiterter Schiller-Monographie unter dem Titel „Der Herzog und das Genie", 1955, die vor allem die Werkinterpretationen neu faßte und die „Laura"-Dichtung ausführlich behandelte. Dennoch nahm im gleichen Jahr Hans Mayer den Ruf nach Untersuchungen der Lyrik und Ästhetik Schillers wieder auf und betonte nachdrücklich deren Bedeutung: „Fruchtbarkeit oder Sterilität der Schillerforschung erweist sich weitgehend daran, ob es ihr gelingt, seine Lyrik und seine Ästhetik zu bewältigen." 10 Da das geisteswissenschaftliche Verstehen an die Kenntnis des geschichtlich Gewordenen gebunden ist, erwuchs für die vorliegende Untersuchung die Aufgabe, vor der Beschäftigung mit Schillers reifer Lyrik Einsicht in seine vorgegebene Entwicklung zu nehmen. Daraus ergab sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit eine selbständige Abhandlung, die allerdings auf die klassische Lyrik vorzuweisen beständig bedacht ist. Da der Erläuterungsband der Gedichte der Nationalausgabe noch aussteht, wurde bei Einzelfragen vor anderen in den Anmerkungen von Viehoff, Jonas und Petersen Rat gesucht. Daß indessen die eigentliche Aufgabe dieser Arbeit die Beschreibung der Einbildungskraft, der Haltungen und 8 9 10

l*

Kurt May: Friedrich Schiller, 1948, S. 254. Vgl. auch S. 170. Reinhard Buchwald: Schiller, 2. Auflage, 1953. Hans Mayer: Schillers Vorreden zu den „Räubern", in: Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze, 1957, S. 416. Die Schwierigkeit der Untersuchung erkannte schon Hebbel in seiner Besprechung der von Hrch. Viehoff kommentierten Gedichte: „Die Schillerschen Gedichte stehen freilich in einem wunderlichen Verhältnis zur Lyrik und sind ein schweres Problem der Kritik." (Hist.-krit. Ausg., besorgt von R. M. Werner, 1. Abt., Bd. X, S. 386.)

4

Einleitung

Formen ist, die Schillers eigentümlichen Stil, sein Pathos, bedingen und äußern, zeigt schon die Überschrift an. Was Pathos sei, glaubt jeder zu wissen. Jedenfalls legt die fast einhellige Abneigung gegen das Pathos die Ansicht nahe, daß, was abgelehnt wird, zuerst gut geprüft worden ist. Liest man zu diesem Zweck die wenige Literatur über das Pathos, so gewahrt man gar bald, wie beiläufig die abwertenden Urteile oft gewonnen sind: als wortreich und leer, manieriert und überschwenglich, als bloßer rhetorischer Prunk wird es meist abgetan. Die stilbildende Funktion des pathetischen Ausdrucks wird selten erkannt, noch seltener für die Stildeutung fruchtbar gemacht. Dabei stammen die Gründe, die die landläufige Meinung gegen das Pathos anführt, keineswegs aus diesem selbst: Das Pathos wird zum einen mit Maßstäben gemessen, die einem anderen, dem Poesie-Begriff der Romantiker und Symbolisten zumeist, entnommen sind, zum andern hat es für den Mißbrauch zu büßen, der im politischen Bereich von der wesensfremden, aber seine sprachlichen Möglichkeiten ausbeutenden Demagogie getrieben wurde. Unverständnis und Unwille gegen das Pathos liegen im übrigen als unbedachte Voraussetzung in der Eigenart unserer Gegenwart. Die Frage nach dem Pathos erschwert schon die Wortdeutung. Obwohl dieser Begriff erst seit dem endenden 17. Jahrhundert in deutschen Texten vorzufinden ist, wurde er schon im 18. Jahrhundert ein Modewort, von Sulzer und Bodmer abgehandelt, bei Johann Elias Schlegel 1740 kunsttheoretisch bezeugt. Der Begriff Pathos war wohl gleichbedeutend mit der Neubildung des Wortes Leidenschaft für das französische „passion", die Philipp von Zesen 1647 leistete und Campe dahin verfeinerte, daß er es als Ausdruck großer Leidenschaften verstand und ihm bereits Erhabenheit und festliche Würde zusprach.11 Es war Lessing, der auf Aristoteles zurückging und Pathos mit Leiden übersetzte. Von einem fortgesetzten Mißverständnis, diesen Begriff angemessen zu übertragen, sprach Max Kommerell, als er Lessings Aristoteles-Studien beschrieb und zeigte, daß der vielfache Wortgebraudi bei Aristoteles zwar die passive Färbung nirgends aufgegeben habe, in Hinsicht auf den tragischen Mythos die „Dreifaltigkeit" des Begriffs — „im Tun, Leiden und Verfall eine Sphäre" — jedoch hervortrete. 12

11

Vgl. Deutsches Fremdwörterbuch von Sdiulz-Basler, Bd. 2, 1942, und das Wörterbuch der philosophischen Begriffe von Johannes Hoffmeister, 2. Auflage, 1955.

" Max Kommerell: Lessing und Aristoteles, 2. Auflage, 1957, bes. S. 186. — Zum Pathosbegriff, der den Menschen in der Unbedingtheit seiner Selbstbestimmung meint, vgl. Otto Mann: Poetik der Tragödie, 1958, Anmerkung S. 334.

Einleitung

5

Wie verstand Schiller selbst das Pathetische? Sein Aufsatz über dieses Thema, den er im Jahre 1793 schrieb, bleibt in der Dialektik von Leiden und Leidensüberwindung befangen. Die übliche Gleichsetzung von Pathos und Affekt wird nachdrücklich abgelehnt, vom tragischen Künstler, den Schiller hauptsächlich anspricht, die Darstellung des Übersinnlichen gefordert, das sich in den über das sinnliche Leiden triumphierenden „Vernunftwesen" realisiert. Der Unterschied zum eigenen jugendlichen Pathos ist bezeichnet, wenn Schiller feststellt, daß weder die bloße sinnliche Kraft des Affekts noch die Sdiilderung des Leidens das Pathos erreichen könne. 13 In seinen „Vorlesungen über die Ästhetik" verband Hegel Pathos und handelnden Charakter. Seinem Denken entsprechend maß er dem Begriff objektive Realität bei und teilte „zwischen den Mächten, welche in ihrer Selbständigkeit auftreten", und den gemüterfüllenden Kräften. In der engen Nachfolge Schillers läßt er die Übersetzung des Wortes naftos als „Leidenschaft" nicht zu, da diese stets den „Nebenbegriff des Geringen, Niedrigen" mit sich führe. Wie hoch Hegel das Pathos einschätzt, geht aus seinem zentralen Satz hervor: „Das Pathos nun bildet den eigentlichen Mittelpunkt, die ächte Domaine der Kunst; die Darstellung desselben ist das hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer. Denn das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust widerklingt." 14 Friedrich Theodor Vischer15 verdanken wir die Beobachtung, daß das „erhabene Subjekt", der Endlichkeit von Zeit und Raum verhaftet, im Pathos als Unendlichkeit über sich hinausstrebe. Im übrigen besitzt der große Theoretiker nicht mehr die mächtige Vorstellung vom Pathos, die Hegel ausgesprochen hatte. Zwar schreibt er dem Pathos eine „selbstbewußte Kraft" zu, doch ist er ängstlich beflissen, Pathos und Leidenschaft durch den sittlichen Zweck, den das erste wolle, zu unterscheiden. Da Schiller das Pathos nur in der negativen Form des Kampfes gegen die eigene Leidenschaft und ihre Triebe gekannt habe, gesteht ihm Vischer ebenfalls nur noch negative Momente zu: Das Leiden geht bis zur äußersten Grenze, an welcher sich die Bewährung des freiheitlichen Willens einstellt. Diese mit wenigen Worten charakterisierten Ansichten sagen über die jeweilige Methode und die zugrunde gelegte Ästhetik mehr aus als 18

Vgl. Säk. Ausg. Bd. XI, bes. S. 246—249. Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe von H. Glockner, Bd. XII, S. 314. " Friedrich Th. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Auflage, 1922, Bd. I, S. 270 ff. 14

6

Einleitung

über den Gegenstand selbst. Die Schillerforschung kam natürlicherweise immer wieder auf das Pathos zu sprechen, doch gelegentlich nur und ohne seiner thematischen Bedeutung gerecht werden zu können. Eine Ausnahme macht in neuerer Zeit Paul Böckmann1"6, der für das Drama Schillers erkannte, daß das Pathos nicht nur die Situationen, die Charaktere, die Entschlüsse und Reden bestimme, sondern auch die Grundstrukturen. Zwar leitet Böckmann Schillers Pathos allzu psychologisch von den J u genderfahrungen der Karlsschule ab, auch begnügt er sich weithin damit, dessen eigene Ausführungen über das Pathetische und das Erhabene zu deuten, doch förderlich ist die Auskunft, daß der Totalanspruch der Idee eine eigene, die pathetische Darstellungsform verlange, in der die gewohnte Wirklichkeit zurücktritt und der Bezug zur Welt des Unbedingten wirklich wird. Den wichtigsten Beitrag zum Wesen des Pathos und der pathetischen Verhaltensweisen bot Emil Staiger in seinen „Grundbegriffen der Poetik" 1 7 . Als eine Art des spannenden Stils ist das Pathos nicht dem Drama vorbehalten, in der odischen Dichtung können vielmehr Pathetisches und Lyrisches ineinander übergehen. Ausgehend von Aristoteles' Rhetorik, T, 7 (1408 a), versteht Staiger unter Pathos nicht so sehr Leiden und Leidenschaften als die pathetische Rede, die Leidenschaften, nä'&rj, erregt, auf die menschlichen Leidenschaften wirkt und einen wie auch immer gearteten Widerstand irgendeines Gegenübers voraussetzt, der gebrochen werden soll. Die unmittelbare pathetische Bewegung richtet sich über das Bestehende, das hinter den pathetischen Forderungen zurückbleibt, in einen „Raum der Zukunft". Vom Unbedingten ergriffen und einer vorwärtsdrängenden Kraft unterworfen, verlieren die Träger des Pathos von ihrer Individualität. — D a auch Staiger im Blick auf ein System und im Gegensatz zur „reinen" Lyrik seiner „Grundbegriffe" formuliert, überdies etwas vereinseitigend von der pathetischen Wirkung ausgeht, müssen gelegentliche überpointierte Sätze hingenommen werden. Indessen möchte auch der vereinzelte Widerspruch, der im Laufe dieser Arbeit zu erheben sein wird, die Verpflichtung gegenüber Staigers grundlegenden methodischen Ausführungen keineswegs verringern. Die vorliegende Arbeit nun sucht Schillers Pathos von der Jugendlyrik her in den Griff zu bekommen, und zwar mit Maßstäben, die nicht Goethe oder Hölderlin, die unserer Gegenwart näher stehen, sondern nach Möglichkeit den vielen Briefen, Rezensionen und ästhetischen Ab" 17

Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, 1949, S. 668 ff. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, dritte Auflage, 1956, S. 144—156. Dieser Beitrag zur Poetik wurde mit geringfügigen Abweichungen zuerst in Trivium, Jg. II, 1944, S. 7 7 — 9 2 , veröffentlicht.

Einleitung

7

handlungen Schillers entnommen sind und ein einheitliches Verstehen gewährleisten. 18 Da seine Bestimmungen der Dichtung und der dichterischen Gattung im besonderen bewußt die Empfindungsweisen, den „Geist" des Dichters und seine „Individualität" betreffen, so folgt daraus die zweifache Aufgabe, zunächst die stilbedingenden pathetischen H a l tungen mit Hilfe des „Pendelverfahrens", das dem Wechselverhältnis von Stilmerkmal, Anschauungsform und Haltung nachkommt, zu beschreiben und zugleich den ganzen Horizont der Gedichte abzuschreiten, um dem unumgänglichen hermeneutischen Zirkel zu genügen. Was in der Beschreibung der pathetischen Dichtungsart im ersten und der mehr formalen Elemente im zweiten Teil isoliert und in vorsichtiger Weise unter einheitliche Gesichtspunkte gebracht wird, wollen die Interpretationen zentraler Gedichte im dritten Teil zusammennehmen. Schillers Gedichte sind Dramenkeimen vergleichbar und dem Gedanken zugänglich, wodurch das deskriptive Vorgehen des Deutenden beeinflußt wird. Da auch die erscheinenden sinnlichen Elemente eine geistige Bedeutung besitzen, ist das interpretative Ziel gegeben: Einsicht in das Geflecht von Relationen zu vermitteln, deren Ausdruck das Gedicht ist.

18

Zeugnisse sind in genügender Zahl vorhanden, obgleich sie mehr über das Verhältnis des Dichters zu seinem Stoff als über den Stil aussagen. Die Aspekte sind zu eng, die K a r l Toggenburger: Die Werkstatt der deutschen Klassik, Zürcher Beiträge zur dt. Lit.- und Geistesgeschichte Nr. 1 (1948), S. 161, wählte: Unter der Überschrift „Undiskutiertes: Lyrik" beschränkte er seine Untersuchung auf den Briefwechsel Goethes mit Schiller und zudem noch auf das Lyrische im Sinne Staigers.

ERSTER TEIL

Die pathetischen Haltungen

JUGENDPATHOS U N D AFFEKT Der Furor agiert in Schillers pathetischer Jugendlyrik, und nichts scheint neben dem Übermaß an Leidenschaft verbindlich zu sein.1 Im „Geheimniß der Reminiszenz" beispielsweise wird beschrieben, wie die Empfindungen des Dichters diesen beim Anblick Lauras überfluten und wie ihn die „korybantischen" Affekte im Taumel der Leidenschaft „außer sich" bringen: Laura? träum' ich? ras' idi? — die Gedanken Oberwirbeln des Verstandes Schranken — . . . (v. 16 f.)

Der Dichter ist vom Wirbel der exzentrischen Empfindungen hingerissen. Die stürmischen Affekte verwehren ihm die geordnete Unterscheidung, so daß, wie die nachfolgenden Verse anzeigen („Sieh! der Wahnsinn ist des Räzels kunder"), die Sinnesverwirrung mehr Einsicht in das Geheimnis der Anamnesis gewährt als das „weise", das besonnene Nachdenken. Schon dieses Beispiel zeigt, welch erstaunlicher Eigenwert dem Affekt zugebilligt ist, dessen theoretische Begründung die medizinischen Probeschriften der Karlsschulzeit mit ihrer Affektenlehre unternehmen. 5 Der Affekt, sofern er pathetisch ausgesprochen wird, entzündet sich nur an den entscheidenden Fragen des Lebens, an Liebe, Tod und Unendlichkeit, und sein Unmaß sucht sich genug zu tun in der Vergrößerung der Gegenstände, die seine mächtige Energie ergreift, um sie dithyrambisch zu steigern, um sie anzuklagen oder zu beklagen. Die Ekstasen der Lust wie das Grauen der Pest werden dargestellt — immer aber dient das fremde Objekt als Mittel, die Selbstaussprache des eruptiven Innern aufzuneh1

2

Man vergleiche damit auch die Eindrücke der Jugendfreunde Schillers: „Wenn er dichtete, brachte er seine Gedanken unter Strampfen, Schnauben und Brausen zu Papier." Schillers Persönlichkeit, hrsg. v. Hecker und Petersen, II, S. 26 f. Es brauchen in unserem Zusammenhang diese Affektenlehre und ihre verschiedenartigen Quellen nicht dargelegt zu werden. Hingewiesen sei lediglich auf die griechischen Rhetoren, die die Affektstufen als nd&os und fj&og unterschieden. Quintilian gebrauchte für beide den Begriff affectus und bestimmte n a d o s als affectus concitati, Tj&og als affectus mites. Schillers Entwicklung führt, so könnte abgekürzt gesagt werden, vom Pathos zum Ethos, vom genus vehemens zum genus sublime.

12

Die pathetischen Haltungen

men. Die Gründe brauchen im einzelnen nicht angeführt zu werden, die die Affekte aufrühren: Entscheidend ist der stilbestimmende Vorgang, daß das pathetische Subjekt — als Träger und Schauplatz der „stürmenden Affekte" („An die Parzen" v. 37) — sich selbst im Affekt gegenständlich setzt. Das Pathos nimmt den seine Formen erfüllenden forcierten Ausdruck auf, so daß beide ununterscheidbar verbunden sind. Es liegt auf der Hand, daß die extremen Affekte unmittelbar ins Wort münden müssen, um nichts von ihrer explosiven Energie zu verlieren, und es beleuchtet auch den Zusammenhang von Pathos und Affekt, wenn wir uns erinnern, daß der junge Herder aus dem urtümlichen Drang zum Ausdruck den Ursprung der Sprache ableitete.3 Für den jungen Schiller herrscht folgerichtig von der Empfindung bis zum Ausdruck der Empfindung „die schnelle und ewigbestimmte Sukzession, als von Wetterleuchten zu Donnerschlag" 4 . Nicht nur der Sinn dieser Worte, auch die Bildwahl bezeichnet das entscheidende Verhältnis: Empfindung und Ausdruck sollen nicht nur einander entsprechen, sondern geradezu zusammenfallen. Wie glücklich war Herder, als ihm aufgegangen war, daß „Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck sich zueinander verhalten, wie Piatons Seele zum Körper" 5 ! Dem jungen Schiller war dieses „organische" Denken von der leib-seelischen Einheit des Gedankens und seines Ausdrucks nicht gegeben, doch durfte ihm die „schnelle und ewigbestimmte Sukzession" der nach Vergegenständlichung drängenden Empfindung nie durch eine Reflexion gestört werden. An Corneilles Monolog tadelt er deshalb, daß dessen Personen „frostige Behorcher ihrer Leidenschaft — altkluge Pedanten ihrer Empfindung"' seien; an Haller und anderen ihm verwandten Dichtern wird bemängelt, daß ihre künstlerische Intelligenz über der Beobachtung des eigenen Dichtens oder der Beobachtung des Eindrucks, den ein Zustand oder Gegenstand machen, die unmittelbare Dar® „Schon die antike Theorie kennt diese Ableitung der Sprache aus dem Affekt, aus dem nä&os der Empfindung und der Lust und Unlust" — so Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, 2. Auflage, 1954, S. 91. Überdies wurden Affekt und Pathos von den alten Theoretikern gleichgesetzt. 4 „Über das gegenwärtige teutsche Theater" (1782), Säk. Ausg. Bd. X I , S. 85. Das angeführte Zitat braucht nicht auf den schauspielerischen Ausdrude beschränkt zu werden. 5 Suphan, Bd. I, S. 397. 6 Säk. Ausg. Bd. X I , S. 83. — Hier rührt Schiller an einen eigenen Mangel, denn auch seine Dramenfiguren belauern sich selbst, wie Iffland schon bemerkte (vgl. Ernst Müller a.a.O., S. 325). — Vgl. auch den wichtigen Brief an Reinwald vom 14. April 1783 über das Verhältnis des Dichters zu seiner Dichtung und den gegen Lessings „Emilia Galotti" gerichteten Passus. Hebbel hinwieder sah Schillers Gedidite als „die kalten Früchte des Verstandes" an (Hebbel an E. Lensing, 18. Juni 1837).

Jugendpathos und Affekt

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Stellung des Innern versäumt. Zeichen und Bezeichnetes sollen eins sein.' Nur was in der Sprache ausgedrückt ist, ist wirklich erfahren, so daß das zudringlich erfassende Wort des Pathetikers nichts verschweigen, sondern die ihn bestürmenden Affekte in ihrer oft chaotischen Fülle herausstellen will. Dabei soll die Sprache „affektwahr" sein, das Gemeinte ausschöpfen und mit allen ihren sensuellen Mitteln: den Geräuschwörtern wie den klanglichen Dissonanzen und Lautmalereien, erregend wirken. Daß die Intensität des Ausdrucks nicht fürs Auge, sondern eher für das Gehör taugt, bemerkte Jean Paul in seiner „Vorschule": „.. . das Ohr ist der unmittelbare Gesandte der Kraft und des Schreckens."8 In der Tat läßt sich Schillers sprachdynamischer Sinn besonders auf das Akustische9 zurückführen: Im „Eroberer" steht der Vers: „Wenn des Weltgerichts Wag durch den Olympus schallt . . . " (v. 82), und in der „Morgenfantasie" (v. 38 und v. 42) heißt es: „Säusle nieder Abendroth und flöte . . . " Zum Schall und zur Deklamation des Worts wird als weitere Bedingung die hochgenaue Wiedergabe des Affekts erstrebt. Dieses genaue Wort findet sich erst im wiederholten Andrängen ein, da der große Affekt nur in eine Vielzahl von Worten zerlegt ausgedrückt werden kann. Eine Sprachnot des unsagbaren Restkalküls wegen bedrückt daher alle „Stürmer und Dränger", zumal die einmalige, unvergleichliche Empfindung sich eines allgemeinen Worts bedienen muß, das für tausend andere Menschen ebenso passen soll.10 Daher die präzisierten Emotionen des jungen Schiller sogar für rausch- und ohnmachtähnliche Zustände 11 , daher auch die kräftige Versinnlichung des logischen Sinns durch das akustisch betonte Wort. Schiller besaß in seiner Jugend eine von Abel unterstützte starke sensua-

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Vgl. Säk. Ausg. Bd. XII, S. 175 f. Berend, Bd. XI, S. 93 f. — Die pathetische Diditung verlangt denn auch das deklamatorische und mimische laute Lesen. 0 K. und M. Groos: Die akustischen Phänomene in der Lyrik Schillers, Zschr. f. Ästhetik, Bd. V, 1910, S. 551, beobachteten, daß Schiller „in der Verwertung sinnlich gemeinter akustischer Fälle die Jugendlyrik Goethes um mehr als das Doppelte übertrifft". — Weniger überzeugend ist der statistische Nachweis der beiden Forscher in der Zschr. f. Ästhetik, Bd. IV, 1909, S. 564, daß Schiller „ungefähr doppelt so viele optische Qualitäten als der junge Goethe" biete. Wie der junge Schiller vom Geräusch- und Doppelwort gedacht hat, steht im „Fiesko" (III, 2) zu lesen: „Zerstücke den Donner in seine einfachen Silben, und du wirst Kinder damit in den Schlummer singen; schmelze sie zusammen in einen plötzlichen Schall, und der monarchische Laut wird den ewigen Himmel bewegen." a0 Vgl. Schillers Brief an Lotte vom 10. Februar 1790. " Die Deutung des emotionalen Lebens und seines physiologischen Ausdrucks untersuchte Georg Kilian: Psychologisch-statistische Untersuchungen über die Darstellung der Gemütsbewegungen in Schillers Lyrik, Diss. Gießen 1910, bes. S. 66 ff. 8

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listische Komponente — wie ihm eine ausgeprägt realistische immer eigen blieb —, die dazu anhielt, Gegenstände und Vorgänge in Affekte, in Reize und Assoziationen aufzulösen und zu versinnlichen. Der Affekt kommt vor dem Gedanken, der Klang vor dem Bild und ebenso die Bewegung vor der Anschauung und die Empfindung vor der Reflexion. Doch davon später mehr. Der Affekt ist keine Beigabe, sondern die Energie, die das jugendliche Pathos in seinem Drängen erfüllt. Wenn der reife Schiller von Dichtung sprach, so konnte er sich nie genug gegen ein Ubermaß an Affekt verwahren. Freiheit vom Affekt ist eines der zentralen Themen seines erzieherischen und normativen Wollens und für den Dichter insbesondere verbindlich. „Der Affekt, als Affekt, ist etwas Gleichgültiges, und die Darstellung desselben würde, für sich betrachtet, ohne allen ästhetischen Wert sein."12 Diese wenigen Worte bedeuten teilweise eine Ablehnung der Jugenddichtung, wie sie zuvor in der in Einsicht und Tadel gleich großen Bürger-Rezension ausgesprochen worden war. Im Namen der Kunst wird Bürgers Lyrik verurteilt, da dessen Affekte nicht bloß der Gegenstand seines Dichtens, sondern oft der ihn begeisternde Apoll seien. In fast jedem Verweis ist zu spüren, wie Schiller auch mit den eigenen „Matadorstücken der Jugend" abrechnet, da sie, „unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts" 13 geschrieben, vom dichtenden Subjekt nicht „losgewickelt" wurden. Ein Vergleich zwischen einigen jugendlichen und einigen klassischen Versen möge den Unterschied verdeutlichen und Schillers Aussage auf ihr verbindliches Maß zurückführen: Die „Todenfeyer am Grabe Riegers" beginnt mit den Worten: Noch zermalmt der Schreken unsre Glieder — Rieger todt! Noch in unsern Ohren heult der Donner wieder — Rieger, Rieger todt!

Die Trauerkunde wird vergegenwärtigt, in der „Wir"-Form der übersteigerte — auch den Dichter bedrängende — Affekt wiedergegeben.14 Anaphora und Epiphora steigern die Expression, und die Verbalmetaphern (zermalmen und heulen) geben mit körperlichen Merkmalen den ungeheuren Eindruck an, den die Todesnachricht auslöste. Mit den stärksten Worten, mit „tönenden Machtwörtern" (Herder), sucht der selbstbetroffene Dichter die allgemeine Betroffenheit auszudrücken, um die schmerzliche Empfindung ganz auszumessen. In der fünfzehnten Strophe des „Reichs der Schatten" hingegen ist das Leid, das Unglück und Tod ver12 13 14

„Über das Pathetische", Säk. Ausg. Bd. X I , S. 249. Nat. Ausg. Bd. X X I I , S. 256. Das totale Engagement wird ähnlich zu Beginn der Trauerode auf Wildmeister ausgedrückt: „Grimmig wirgt der Todt durch unsre Glieder! —"

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Ursachen, als allgemeines Leiden der Menschheit verstanden. 15 Kein gegenwärtiges Ereignis wird herangezogen, — im Bild des Laokoon „individualisiert" sich der namenlose Schmerz, der Menschen befallen kann: Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen, Wenn Laokoon der Schlangen Sich erwehrt mit Namenlosem Sdimerz, D a empöre sich der Mensch! Es schlage An des Himmels Wölbung seine Klage, Und zerreisse euer fühlend Herz! (v. 141—146)

Von einem erhabenen Standort aus apostrophiert der Dichter die Menschen. Das dichterische „Ich" ist vollkommen objektiviert — nur im Zuruf ist der Dichter anwesend, im Aufruf zu einer Lebensform, die aus der Gemeinschaft der Mitleidenden gebildet ist. Laokoons Schmerz wird nicht ausgemalt, denn schon im Mannheimer Antikensaal" hatte Schiller an dessen „stummer Klage" erkannt, daß es einen Grad des Schmerzes gibt, der nicht mehr in einem unmittelbaren Schrei aufgefangen werden kann: Die Verhaltenheit wirkt ergreifender: Wie im „Rieger"-Carmen herrscht auch in der „Laokoon"-Strophe höchste Leidenschaft vor — die Strophe spannt sich auf ihren vierten Vers zu, der die Anerkennung des Leidens erheischt —, aber das eine Mal ist das pathetische Subjekt überwältigt vom Affekt, dessen Größe hinausgeschrien werden soll, das andere Mal hat sich der Dichter durch den Anruf distanziert von der Klage und Anklage." Die verinnerlichte Leidenschaft ist nur als Substrat des Ausdrucks zugelassen, der die vermittelnde Kunstform nirgends verletzt. Die beiden Beispiele mögen für andere stehen. Die Jugendlyrik verlangt, daß das pathetische Subjekt von der Intensität des Affekts überwältigt ist, den es oft gegenständlich setzt. N u r der jeweils stärkste sinnliche Eindruck wird zugelassen, der in die pure Expression umgesetzt werden soll. Mit der dichterischen Überwindung des im Affekt dargestellten Affekts und der Läuterung der Empfindungsweise beginnt die klassische Phase Schillers, die „idealisierende Dichtkunst", die das Zufällige, das Individuelle von sich weist und aus besonnener Distanz das 16

Im Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung" (Säk.Ausg. Bd. XII, S. 104) rühmt Schiller an Ossian, wie sich die Erfahrung eines bestimmten Verlusts zu der Idee der Vergänglichkeit erweitert habe. " Vgl. Säk.Ausg. Bd. X I , S. 103, und die weiteren Bemerkungen über den Laokoon im Aufsatz „Uber das Pathetische", Säk.Ausg. Bd. XI, S. 257 ff. 17 Die Bedeutung der Bürger-Rezension für Schillers objektivierende Haltung beschreibt Elizabeth M. Wilkinson: Uber den Begriff der künstlerischen Distanz bei Schiller, in: Dt. Beiträge zur geistigen Uberlieferung III, 1957, S. 69 ff. Vgl. dazu das Kapitel über die Apostrophe (S. 96 bes.) in der hier vorgelegten Arbeit.

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„Idealschöne"18 zu gestalten sucht. Mit vielen Hinweisen könnte belegt werden, wie Schiller gegen die ekstatische Erregtheit der Jugendlyrik und die gelegentliche Gleichsetzung von Pathos und Affekt anging. „Kälte für seinen Gegenstand"19 postuliert er als Voraussetzung für den klassischen Stil. An anderer Stelle, in dem großartigen Aufsatz „Uber das Erhabene", wird dem Künstler die Darstellung „der absolut höchsten Grade des Affekts" 20 , wie sie seine Jugenddichtung kennt, untersagt. Schiller verwahrt sich allgemein dagegen, daß das Pathos durch die bloß sinnliche Kraft des Affekts erreicht werden könne, und definiert apodiktisch: „Das Pathos ist nur ästhetisch, insofern es erhaben ist." 21 Die klassische pathetische Dichtung ist also nicht von der Gewalt der Affekte abhängig, sondern von deren Verwandlung als Substrat der ästhetischen Darstellung. Soll das Pathos des reifen Schiller in einen Begriff gefaßt werden, so ist es als erhaben zu verstehen im Gegensatz zum expressiven der Jugend. Dieses jugendlich-expressive Pathos darf allerdings nicht mit dem Pathos der Expressionisten verwechselt werden, da deren Ausdrucksverlangen fast inhaltsfrei zu sein scheint im Vergleich zu den großen Gegenständen, die der junge Schiller übernimmt oder erschafft. Unter dem engen Aspekt dieses Kapitels ist zu sagen: Von der extremen Empfindung führt Schillers Weg zur erhöhten Empfindung, vom Affekt zur Besonnenheit, vom ungestümen Ausbruch zur adeligen „Gedankenwürde". Als äußere Kennzeichen verbinden der große Duktus und der mitreißende Schwung das expressive mit dem erhabenen Pathos.

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Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 256. An Goethe, 28. November 1796. Säk.Ausg. Bd. X I , S. 252. Ibid. S. 251. Schiller unternimmt allerdings nicht, das Erhabene als Stilmerkmal zu deuten. Erhaben ist, was den Geist befreit, damit er dem eigenen Gesetz untersteht. Diese Kategorie des Erhabenen, die eine lange Tradition von Pseudo-Longin (negl vipovg) bis hin zu Herder („Kalligone") anbietet, als genus dicendi für die Stiluntersuchung — und insbesondere für den klassischen Schiller — fruchtbar zu machen, stellt sich als dringliche Aufgabe.

DIE PATHETISCH VERABSOLUTIERTE GRÖSSE In seiner Besprechung der „Räuber" im „Wirtembergischen Repertorium" stellte Schiller lakonisch fest: „Der Geist des Dichters scheint sich überhaupt mehr zum Heroischen und Starken zu neigen als zum Weichen und Niedlichen. Er ist glücklich in vollen saturierten Empfindungen, gut in jedem höchsten Grade der Leidenschaft, und in keinem Mittelweg zu gebrauchen." 1 — Diese „höchsten Grade der Leidenschaft", die sich im pathetischen Stil unmittelbar äußern und als vielgestaltige Größe objektivieren, diese intensiven Ausdruckskräfte und superlativischen Gebärden bilden die Konstante vor jeder weiteren Bestimmung des Pathos. Da jeder Stil einer bestimmten Weise entspricht, in der ein „Ich" sich und die Welt erfährt, so folgt, daß der pathetische Stil ein leidenschaftliches Verständnis des Daseins ausdrückt. Als „Gefühl" erfuhr die dichterische Generation der „Stürmer und Dränger" das Leben, als ekstatische Auflösung der in der Aufklärung verhärteten Formen. Natürlich differenziert sich dieses allgemeine „Gefühl", sobald es sich objektiviert — das „glühende Herz" 2 war indessen für diese jungen Menschen das wesentliche Organ, mit dem sie die Welt ergriffen und dessen „ Herzkraft" nur an der eigenen Größe und an übermächtigen Gegenständen Genüge fand. Die Leidenschaft Schillers, die sich in der Erschütterung der TrauerCarmina wie in der Ekstase der „Laura"-Gedichte ausspricht und als ursprüngliche Kraft eine gepriesene Gabe der Natur ist, diese Leidenschaft, die ihre dichterischen Gegenstände erschafft oder durchwirkt, war ihm durch die Beschäftigung mit den älteren „Stürmern und Drängern" sakrosankt geworden. In seiner Rede über das Genie (1776) hatte Abel, der begeistert-begeisternde Lehrer auf der Karlsschule, das Leitbild jener jungen Generation ausgesprochen: daß „nie etwas Großes, nie etwas » Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 124. Vgl. Elisabeth Blochmann: Schiller und die Empfindsamkeit, Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. 24, 1950, S. 483—499, und Joachim Müller: Der Begriff des Herzens in Schillers Kabale und Liebe, Germ.-Rom. Monatsschrift X X I I , 1934, S. 429—437. Man vergleiche auch Hermann Schneider: Vom Wallenstein zum Demetrius . . ., S. 12: Der scheidende Max Piccolomini erwähnt in siebzig Versen das Herz nicht weniger als acht Mal („Wallensteins Tod" III, 21).

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Ruhmvolles geschehen, nie ein großer Gedanke gedacht oder eine Handlung der Menschheit würdig vollbracht •worden" sei ohne des Herzens Leidenschaft. Abel gab seinem Schüler in formelhaft-magischen Worten das „Gefühl seines Selbst", indem er das Genie schilderte, wie es sich in diesem regte: „Ungezählte Empfindungen wallen durch seine Seele, Gedanken stürmen auf Gedanken, Wellen schlagen auf Wellen . . . Fülle des Gefühls, Fülle und Stärke der Gedanken, Erfüllung und Schöpfungsgeist, sonderbare Zusammensetzungen und Verhältnisse, aber auch bisweilen die sonderbarsten Verwirrungen und Torheiten sind Zeichen und Folgen desselbigen..." Und Abel legitimierte Schillers pathetische Art im voraus, daß es gelte, „jeden Gegenstand mit Feuer aufzufassen", dem „königlichen Adler gleich weit über die kleine niedere Erde hinwegzufliegen . . ." 3 Schon in Sdiillers frühem Gedicht „Der Abend" wird das „Gefühl" immer wieder — und synonym mit Geist und Begeisterung — genannt. Die Beschreibung des Sonnenuntergangs im ersten Abschnitt wird unterbrochen, das von der Abendstimmung aufgerührte Gefühl ausgesagt: Jezt schwillt des Dichters Geist zu göttlichen Gesängen, Laß strömen sie, o HErr, aus höherem G e f ü h l . . . (v. 9 f.)

Das Gefühl, mit wesenerhöhenden Beiworten in diesem Abschnitt versehen, erhebt den Dichter und befähigt ihn zu „göttlichen Gesängen". Grund und Ziel der Gefühlsbewegung werden angegeben. Dies bietet einen vorläufigen Hinweis, wie Schillers Lyrik mehr die gedeutete als die erscheinende Wirklichkeit darstellt und in ihrem das „Abend"-Gedicht formenden Wechsel von Schauen und Fühlen, Denken und Wollen stets sich zu begründen und ein Höheres zu erstreben sucht. Die Bitte um das „höhere Gefühl" geschieht, um den Gott angemessen groß fühlen und dichten zu können. Erst dem großen Gefühl ist seine Erfülltheit sagbar: so sehr sind Gefühl und Gesang eins. Wenn der Dichter nachher ins Loblied der Natur einfällt und sagen kann: „Verstumm Natur umher, und horch der hohen Harfe, / Dann GOtt erzittert ihr . . . " (v. 67 f.), so ist bereits eine leise Einssetzung von Gott und Gesang geschehen, die die Macht gibt, die Natur verstummen heißen zu können. Für die Jugendzeit ist damit ein wichtiges Verhältnis ausgesprochen: Das höhere, das — wie s

Zitiert nach R. Buchwald: Schiller, 2. Aufl., 1953, S. 190 ff. Wie stark diese Vorstellung von der „Fülle des Herzens" und dessen Enthusiasmus jene Zeit beherrschte, zeigt sich an entlegenen Beispielen: F. L. Stolberg pries sie, und sogar Kant erachtete sie für notwendig (vgl. die Einleitung in die „Metaphysik der Sitten"). Hingewiesen sei nebenbei auch auf die fast vergessenen Ausführungen Joh. Caspar Lavaters über „Genie und Gefühl" in seinen „Physiognomischen Fragmenten" (1. Abschnitt, 10. Fragment, und 2. Abschnitt, 3. Fragment), wo er „Elastizität" vornehmlich, leichte Rührbarkeit und Schnellkraft dem Dichter zuweist.

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die anderen Epitheta des zweiten Abschnitts heißen — herrliche, das paradiesische Gefühl ist die Voraussetzung, sich des Höheren, des Großen allgemein zu vergegenwärtigen und dieses dichterisch darzustellen, und die Aufnahme des Höheren in Gefühl und Gesang ermächtigt ihn, über andere Dinge zu verfügen. Der erstrebte große Stil, der Stil grandis atque robustus, verlangt die große Seele, die ßsyakoipvyja. Das große Gefühl an sich braucht inhaltlich nicht näher bestimmt zu werden. Die Frage nach dem Selbstverständnis des jungen Schiller beantworten der „Vorwurf" und die „Melancholie" als ein ungeheures Bedürfnis nach Ruhm, an dessen sternenhohem Monument „Chronos Sense" dereinst splitternd niederfallen sollte („Vorwurf an L a u r a " v. 61—66). Andere in pathetischer Manier geformte Zeugnisse schließen sich an. Es dürfen indessen viele Stellen der „Anthologie" nicht ernster und wörtlicher genommen werden, als sie ihr Autor verstanden haben wollte. Das kraftgenialische Gebaren Schillers, das den verlästerten Stäudlin an Lohenstein als Ahnherrn denken ließ, braust nicht nur in den treffsicheren Satiren, — auch die Dithyramben sind von einem bewußten Kraftmeiertum manchmal durchzogen. Wer die Gedichte hört, sollte neben der demonstrierten Kraft und Größe oft genug das befreiende Gelächter dessen vernehmen, der mit einer Lust an Ulk, Witz und manchem Kraftwort schockieren wollte, dabei aber, wie das Vorwort zur „Anthologie" und die Rezension beweisen, genau wußte, daß Ausschweifungen der Einbildungskraft keine Empfindungen sind. Das große Gefühl verlangt nach Selbstdarstellung, wobei im Selbstempfinden und in der Selbstdarstellung die äußere Welt angeeignet werden muß, die der Pathetiker übergehen möchte. Wie notwendig diese Aneignung ist, zeigen die Oxymora in den „Laura"-Gedichten: Die Gefühlsintensität läßt sich nicht mehr direkt ausdrücken, sondern nur noch durch den steigernden Griff, der das Gegenteil mitumschließt und die Gefühlsweite in ihrer ganzen Ausdehnung umfaßt. Alles andere, die kleinen irdischen Dinge zumal, werden darüber nichtig. Das pathetischgroße Gefühl unterlegt deshalb der Welt und ihren Dingen seine Unendlichkeit; die pathetische Imagination erweitert die Horizonte, auf die hin das Beschränkte bezogen wird. Unüberwindlich scheint allerdings die Neigung des expansiven Gefühls 4 zu sein, Dinge und Menschen auf sich zu beziehen. Sogar in der „Freundschafts"-Ode ist Raphael nur der spiegelgleiche Vermittler für das große, sich selbst fühlende Gefühl. Wie das wesentliche Organ verselbständigt werden kann („Hüpft der Heldin noch dis Herz entgegen?" „Vorwurf" v. 25), so kann das „ D u " des 4



„ D i e I d e a l e " , v . 41 f., sprechen diese „personale E x p a n s i o n " direkt a u s : „ E s dehnte mit allmächtgem Streben / D i e enge Brust ein kreisend A l l " .

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Freunds vom pathetischen „Ich" der gegenseitigen Steigerung wegen gesetzt werden. Vom Subjekt her ist diese pathetische Lyrik bestimmt. Die sichtbare Welt ist für die Klopstockschüler von minderem Rang, und die Darstellung des Gefühlswerts der Objekte bedeutet eine Übertragung der subjektiven Eigenschaften. Mit welchen Größen die pathetische Lyrik umgeht, lehrt „Laura am Klavier", wo der „goldne Saitenguß" mit dem „Schöpfungssturm" verglichen wird, oder es lehrt dies der großartige Vergleich im „Monument Moors des Räubers", der mutwillige Jünglinge an die Mythe von Sol und Phaethon erinnert. Auch das Einfache wird mit größtem Aufwand an Worten gesagt. Die „überwiegende Subjektivität" Schillers, welche Humboldt in seiner „Vorerinnerung" zum Briefwechsel mit diesen Worten betont, steigert Laura in den Liebesgedichten in eine wahrlich unnatürliche Größe. Ungeheure Stoffmassen werden bewältigt, das All sogar wird im Pathos bewegt. N u r das Große an sich ist dem pathetischen Subjekt erträglich, so daß es das Endliche an das Unendliche knüpft, damit es an dessen Größe teilhaben kann. Die persönliche Verbitterung Karl Moors weitet sich zum Zeichen der Größe in einen Universalhaß aus. In den Gedichten wirkt die „überwiegende Subjektivität" noch auf eine weitere Art: Der Dichter liebt „das Ausschließende in der Liebe und überall", heißt es in der bereits erwähnten Rezension der „Räuber". 5 Diese Ausschließlichkeit bedeutet, daß beispielsweise in den Leichen-Carmina der Tod als einzige Größe gilt und das Leben dabei übergangen wird; sie bedeutet, daß in den Liebes- und Freundschaftsgedichten die Liebe als die einzige, All und Menschenwelt belebende und weckende Gefühlskraft erfahren wird. Noch in den „Göttern Griechenlandes" wird alles Licht auf die Antike gehäuft — die „ e i n e Vorstellungsart", die Schiller brieflich verteidigt 6 , erhöht und vergrößert bewußt einseitig, wie sie das Christliche bewußt einseitig degradiert. Daß diese „ e i n e Vorstellungsart" neben der Funktion, zu erhöhen und zu überhöhen, noch teilhat an der polaren Struktur des Pathos, sei vorerst nur angedeutet. Wie das große Gefühl Möglichkeiten der Selbstaussage schafft, sei am Beispiel der syntaktisch ungefügen asklepiadeischen Ode „Der Eroberer" (1777) aufgewiesen: Ein Tyrann von übermenschlichen Maßen wird dargestellt, in immer neuen Vorwürfen werden seine Untaten aufgetürmt. Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 119. Kein Zufall ist, daß Schillers Lieblingsautor auf der Karlsschule Plutarch war. D a diese Dinge jedermann bekannt sind, erübrigt sich auch, vom Geniekult und den „großen Kerls" als Mittel der Selbstdarstellung zu sprechen. • An Körner, 25. Dezember 1788.

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Das pathetische Subjekt schleudert — in der Ich-Form — dem Eroberer seinen ungeheuerlichen Fluch entgegen, dessen Größe ermessen werden kann, wenn Weltmeer und Orkus ihn aufnehmen und weitertragen sollen (Strophe 4). Das pathetische Subjekt fühlt sich ermächtigt dazu, denn es spricht nicht nur in eigener Person, sondern als Mund der gequälten Menschheit klagt es an. Die Fürsprache steigert die Verfluchung. Auf die Frage der achten Strophe aber: H a ! Eroberer, sprich: w a s ist dein heisester D e i n gesehntester Wunsch?

schließt sich noch in derselben Verszeile die Antwort an, die eine Identifikation des pathetischen Subjekts mit dem Eroberer als Objekt erkennen läßt: — Hoch an des H i m m e l s S a u m Einen Felsen zu bäumen, Dessen Stirne der A d l e r scheut, D a n n hernieder v o m Berg, trunken v o n Siegeslust, A u f die T r ü m m e r der Welt, auf die E r o b r u n g e n Hinzuschwindeln im T a u m e l Dieses A n b l i k s hinweggeschaut. 7 O ihr wißt es noch nicht, welch ein G e f ü h l es ist, Welch Elisium schon in dem G e d a n k e n blüht, Bleicher Feinde Entsezen, Schreken zitternder Welt zu seyn, M i t allmächtigem Stoß hoch aus dem Pole, dann Auszustossen die Welt, fliegenden Schiffen gleich Sternen an sie zu rudern, A u d i der Sterne Monarch zu seyn. (v. 3 0 — 4 4 )

Die Entwicklung der Antwort läuft der progressiven Identifizierung des pathetischen Subjekts mit seinem zuvor verfluchten Gegenstand parallel. Als Zeichen des höchsten Pathos werden die Strophenenden überflutet (vgl. auch die Verse 77—108). In Vers 37 tritt der Dichter ganz über in den Eroberer ( „ O ihr wißt es noch n i c h t . . . " ) und apostrophiert die Menschen. Erst in Vers 48 nimmt er sich wieder zurück und distanziert sich, in der Anklage scheinbar ungezwungen fortfahrend. „Identifikation" und „Distanz" als wesentliche Stileigenheiten der pathetischen Lyrik lassen sich am „Eroberer" besonders eindrucksvoll aufzeigen, doch benötigen auch „Das Geheimniß der Reminiszenz" oder die „Freigeisterei" diese Darstellungsweise. „Der Eroberer" legt in seinem Wechsel von Identifikation und Distanz nahe, an Schillers Rezension der „Vermischten poetischen Stücke" Stäudlins im Jahre 1782 zu erinnern. Stäudlins Man7

„ H i n w e g g e s c h a u [ r ] t " : Diese K o n j e k t u r vertritt F r i t z J o n a s in seinen läuterungen (S. 11) auf G r u n d v o n vielen Parallelen.

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gel an echtem Gefühl und wahrer Begeisterung wird dort kritisiert und gesagt: „In dem überwallenden Gefühl wird der wahre Dichter unwillkürlich in den Gegenstand hingerissen."8 Diese Definition der pathetischen Jugendlyrik und des „wahren Dichters" vergleiche man mit den Postulaten der Bürger-Rezension, um den Weg zu ermessen, den Schiller zurückzulegen hatte. Die Darstellung der vom Pathetiker bewunderten und verabsolutierten Größe soll nebenbei auf den Doppelcharakter dieser Größe aufmerksam machen: Die in der Gefühlskraft gegründete, in der sichtbaren Tat sich manifestierende Größe braucht beileibe nicht „moralisch" zu sein; oft ist sie anarchisch.9 Wer von den theoretisierenden Abhandlungen des reifen Schiller her richtet und dazu noch Nietzsches Schimpf über den „Moraltrompeter" in Erinnerung hat, dürfte von einer solchen Feststellung überrascht sein, so selbstverständlich sie auch dem von Gundolf und Kommereil unbeeinflußten Kenner der Jugenddichtung scheinen mag. Die moralische Theorie herrscht nicht über die dramatische Praxis, obgleich Schillers Rezensionen diese Ansicht nahelegen. Wie einige der Dramenhelden ihre Größe aus der Ungeheuerlichkeit ihres Verbrechens ableiten, so ergehen sich „Der Eroberer" oder das „Monument Moors des Räubers", das die chiffrierte „Anthologie" eigens Schiller zuschreibt, in der Bewunderung für die „natürliche", nicht aber für die „moralische" Größe. 10 Wenn auch natürlicherweise den Gedichten nicht in gleichem Maße wie den Jugenddramen zu entnehmen ist, daß die Moral oft nur ein Vorschub zu sein hat, die Größe als solche — in der Selbstüberwindung, im Verzicht — gesteigerter noch hervorgehen zu lassen, so zeigt doch „Der Eroberer", daß das Böse der ihm anhängenden Größe wegen reizt. Die Macht des Bösen wird verabsolutiert, damit sich die strafende Moral bewähren kann. Selbst für den „majestätschen Sünder" Moor, dem ein „Monument" mit einem Gedicht errichtet werden soll, dessen pathetischer Schwung der Syntax weit voraus ist, heißt es: „Zu den Sternen des Ruhms / Klimmst du auf den Schultern der Schande!" Diese Worte nennen das Grundmotiv des Fiesko, dem die Schande mit der wachsenden Sünde abnimmt (vgl. „Fiesko" I I I , 2). 8 9

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Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 189. Im Gegensatz zum barocken Menschen, dessen Pathos noch ein selbstverständlicher Ausdruck des Repräsentierens und der angeborenen „schicksalhaften Größe" sei, empfange der Mensch in Schillers Dichtung „seine Würde nur noch durch die Moral". Solche undifferenzierten Gedanken trug Fritz Usinger v o r : Friedrich Schiller und die Idee des Schönen. Mainzer Abh. der Klasse der Lit. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Nr. 1, 1955, S. 3 f. Vgl. H . A. Korff: Geist der Goethezeit, Bd. II, 2. Aufl., 1954, S. 208.

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Das luziferische Unwesen des Eroberers braucht nicht näher betrachtet zu werden. Seine Größe ist hybrider Mißbrauch der Macht, eine Fehde des Bösen mit Jehova. Der Dichter kennt die Motive des Angeklagten. „Wer das Laster stürzen will, der muß es zuerst in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen." 11 Mit ganzer Anteilnahme stellt der Pathetiker beides dar: die nackte Abscheulichkeit wie die kolossalische Größe, die an die Grenze der Vorstellungskraft reicht. Der Dichter leiht seine Größe dem Bösen, das er nachträglich stürzen will. Ein didaktisch-moralisierender Zwang ist am Werk — wie in den „Räubern", wo der funktionale Bau vom moralisierenden Beweisbedürfnis überwuchert und Franzens unmotivierter Stimmungsumschwung damit begründet wird, daß sich das Gewissen an diesem Menschen, der „ganz Bosheit" ist, bewähre. So konnte Schiller in der zweiten seiner Vorreden seinem Drama gar „einen Platz unter den moralischen Büchern"12 zuweisen. Nicht der große sittliche Mensch ist es also, der in der Jugend dargestellt wird und im Leiden seine Überlegenheit über das Sinnenhafte demonstriert. Die Größe ist verführerisch, wie die Jugendtragödien lehren, in denen das Übermaß an Leidenschaft zugleich der Anlaß zum Untergang ist: Der besessene Wille zur Größe um jeden Preis wird in der Verfolgung des Ziels überspannt; die Selbstverblendung verwandelt Recht in Unrecht. Die große pathetische Leidenschaft, die immer neue Möglichkeiten der Selbstaussage durch personifizierte Vorstellungen erzwingt, drängt zu einer Ausweitung, die keine Distanz mehr zuläßt. Die Schwierigkeit, das große Gefühl gegenständlich anzufüllen, zeigt sich schon im Anfang für Schillers pathetische Lyrik. Auch die größte Empfindung ist, wie die Matthisson-Rezension 13 lehrt, ihrem Inhalt nach nicht darstellbar, da das Selbstempfinden, das daraus entspringt, die Aneignung der Welt stört, die ihre Inhalte bereitstellen muß. « Säk.Ausg. Bd. XVI, S. 15. 12

Vgl. die vorzügliche Einführung in den dritten Band der Nat.Ausg. durch Herbert Stubenrauch, S. X X . Auch der Brief Schillers an Körner vom 29. August 1789 über den Philosophen Reinhold („Er wird sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal nodi in der Wirklichkeit, erheben, und das ist schlimm . . .") sollte neben vielen anderen Zeugnissen davor bewahren, in Schiller nur den Moralisten zu sehen. Man erinnere sich ferner des merkwürdigen Briefes, den Jean Paul am 20. Juni 1795 auf Grund eines Schiller-Portraits schrieb: „. . . es stellet einen Cherubin mit dem Keime des Abfals vor und er scheint sich über alles zu erheben, über die Menschen, über das Unglük und über die — Moral." (Die Briefe Jean Pauls, hrsg. v. Ed. Berend, Bd. II, 1922.) Vgl. ferner Sdiiller an Huber, 28. August 1787.

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Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 271 f.

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Noch ein weiteres Charakteristikum enthüllt die „Eroberer"-Ode: Gefühl äußert sich in Kraft, wobei diese die Möglichkeit der Zerstörung einschließt. Allgemein kann gesagt werden, daß sich dem jungen Schiller das Wesen eines Dinges in seiner Wirkung ausweist. Lauras Liebesgefühl beispielsweise, das der Dichter ins Unmäßige steigert, befähigt sie, über „lauschende Naturen" pathetisch zu gebieten („Laura am Klavier" v. 11). Auch die Freude wird in dem ihr gewidmeten Lied ihrer Erscheinung und ihrem Ursprung nach nur genannt, um sogleich in ihrer Wirkung im Makro- wie im Mikrokosmos dargestellt zu werden. Ein Denkverhältnis drückt sich für den Pathetiker darin aus, daß sich das Wesen eines Dings durch seine Kraft bestimmt und legitimiert.14 Aber auch die pathetische Dichtung selbst will, von dynamischer Energie erfüllt, wirken, sie will schockieren, karikieren, erschüttern und erheben. Das selbstvergessene Verschweben der „reinen" Lyrik ist ihr fremd; ihr Affekt ist ein Mittel, einen gleich großen Effekt zu erzielen. Das pathetische Wort will tätig und wirklich werden. Die Spannung des Geistes auf die Tat hin sammelt sich in ihm. Daß Lyrik wirken wolle, befremdet noch immer in unseren Tagen, wiewohl die Kunsttheorie des „l'art pour l'art" inzwischen einer „littérature engagée" zu weichen hatte. Der junge Herder hatte die einseitige Vorstellung vom Gedicht, das sich selbst genug ist, inauguriert und mit dieser Vorstellung nicht nur seine eigene Ansicht, daß die Lyrik ein Mittel sei, die Menschen zu beeinflussen16, geändert, sondern sich auch in Gegensatz zu den damals noch herrschenden „Wirkungsästhetiken" gestellt: Bodmer und Brei tinger lasen die künstlerische Wirkung an der Steigerung der Affekte ab; Baumgarten definierte: Affectus movere est poeticum; Lessing ging vom Eindruck des fertigen Kunstwerks aus, und selbst Klopstock bewertete in seinen ästhetischen Theorien nachdrücklich die Wirkung, die „Aktion", in welche die Seele des Hörers versetzt wird. Schillers pathetische Lyrik unterscheidet sich denn nicht zuletzt durch ihren Willen zum Effekt von der innigen und liedhaften Lyrik. „Dem Dichter kömmt es darauf an, die höchste Wirkung, die er sich denken kann, zu erreichen", steht in einer Fußnote zum „Don Carlos" in der „Thalia" (1786) zu lesen.1' War es für Klopstock und Hölderlin der reli14

Es darf nebenbei auf die Umdeutung des spinozistischen Substanzbegriffs in den Kraftbegriff hingewiesen werden, die Herder in seinen „Gesprächen über Gott" (1787) vollzog. Die Gleichsetzung von Wesen und Kraft scheint symptomatisch zu sein für manchen der „Stürmer und Dränger", desgleichen die U m setzung von Qualität in Quantität, Worttiefe in Worthäufung. 15 Vgl. Klopstocks „Gedanken über die Natur der Poesie" und Herders „Lyra" „Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst" im ersten der „Kritischen Wälder". » Säk.Ausg. Bd. X V I , S. 51.

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giöse Grund des Dichtens, der sie ergriff, so bedeutete dem Pathetiker Schiller der Eindruck mehr, den das Dichten erzielt. Noch in der Reifezeit lag ihm daran, in dem Gedicht „Die Macht des Gesanges" die „eigenthümliche Macht der großen Dichtkunst treu auszudrücken" 17 , und Humboldt erwähnte später in seiner „Vorerinnerung" zum Briefwechsel: Was dem Dichter den Stoff für „Die Kraniche des Ibykus" wert machte, „war die daraus hervorspringende Idee der Gewalt künstlerischer Darstellung über die menschliche Brust" 18 . Schillers Auffassung vom Theater als „moralischer Anstalt", die pathetischen Postulate und Imperative, wie sie sich am Schluß des Liedes „An die Freude", am Schluß der „Künstler", wie sie sich in „Ideal und Leben" finden, überhaupt der pädagogische Eros und das herrscherliche Empfinden Schillers brauchen nur erwähnt zu werden, um die These zu festigen, daß sein Pathos seiner Intention nach nicht nur über jede Form und jede Gestalt hinausstrebt, sondern auf Wirkung bewußt bedacht war. Rührung als eigentümlichen Zweck der Tragödie betont Schiller am Schluß seines Aufsatzes „Über die tragische Kunst" 1 ', und von einer „gewissen Berechnung auf den Zuschauer", die Goethe geniere, glaubt er den tragischen Dichter nicht dispensieren zu können. 20 Es interessiert in diesem Zusammenhang nicht die Theorie der Tragödie, die Schillers Ansichten bedingt, auch kann von weiteren Zeugnissen abgesehen werden, die sogar für seine Schönheitslehre weithin psychologische Begründungen enthüllen — aufmerksam gemacht werden muß noch auf den Widerspruch, der Schillers Wirkungsästhetik vor allem in der Matthisson-Rezension durchzieht: Der Dichter ist dort geheißen, einerseits den Hörer in Freiheit zu setzen, andererseits aber eine bestimmte Empfindung in ihm zu bewirken.21 — Als Ergebnis dieser Digression ist festzuhalten, daß zum Wesen 17

An Körner, 8. September 1795. Humboldt fährt fort: „Diese Macht der Poesie, einer unsichtbaren, bloß durch den Geist geschaffenen, in der Wirklichkeit verfliegenden Kraft, gehörte wesentlich in den Ideenkreis, der Schiller lebendig beschäftigte." (Leitzmann a.a.O., S. 10.) — Vgl. dagegen Goethes frühe Ablehnung, eine Sache nach ihrem Effekt zu beurteilen: Emil Staiger: Goethe, Bd. 2, 1956, S. 13 f. " Säk.Ausg. Bd. X I , S. 118. 20 An Goethe, 12. Dezember 1797. — Schon Aristoteles schuf keine unabhängige Theorie des Kunstschönen, sondern definierte auch die Tragödie nach der sie kennzeichnenden Affekterregung anthropologisch. Damit ist schon am Anfang der europäischen Ästhetik „der Begriff des Ästhetischen in sich aufgehoben": Max Kommerell: Lessing und Aristoteles, 2. Aufl., 1957, S. 38. — Wie sehr Schiller, der den gedanklichen Teil seiner Lebensarbeit ausdrücklich als „Anthropologie" betrachtete, verwandte Wege ging, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden. 21 Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 267 f. 18

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des Pathos sein Wirkungswille gehört, der sich in der ausgelösten Erschütterung oder Erhebung kundtut. Eine Betrachtung pathetischer Gedichte darf also nicht nur in Hinsicht auf sie selbst und auf den Diditer, sondern muß auch in Hinsicht auf das Publikum geschehen.22 Das Theater ermöglicht am stärksten, durch Kunst zu wirken. „Mein Klima ist das Theater, in dem ich lebe und webe . . ." 23 , schrieb Schiller am 5. Mai 1784 an Reinwald. Seine Lyrik auch schafft immer wieder theatralische Situationen, benützt Theatervergleiche und setzt eine Hörerschaft voraus, die in manchen Gedichten sogar apostrophiert und in den Stimmungskreis hereingenommen wird. Im „Rieger"-Carmen kann der Dichter mit einer großen theatralischen Gebärde ausrufen: „Krieger KARLS! erlaubt mir hier zu halten, / Tretet her ihr lorbeervollen Alten!" (v. 38 f.). Der Pathetiker, der, beherrscht vom Affekt, den Affekt äußert, überträgt sein Engagement auf andere: „Auf! was Mensch heißt folge mit!" („Weckerlin" v. 10). Die „Freigeisterei", die eine rein persönliche Auseinandersetzung enthält, in deren Verlauf das Recht des Herzens mit dem Anspruch des Gewissens kollidiert, gewinnt in ihrer Schlußstrophe ein allgemeingültiges Ergebnis: „O diesem Gott laßt unsre Tempel uns verschließen" (v. 85). Viele pathetische Gedichte, zur dramatischen Gattung hin geöffnet, wollen mehr sein als bloße Affektmitteilung. Der Pathetiker spricht im Namen eines fiktiven Publikums, dessen Einverständnis vorausgesetzt wird. In der „Resignation" sind es die Freunde, die aufgefordert werden, über sein Geschick zu klagen (v. 8), in der „Freudendithyrambe" wird das Erdenrund mit einer großen Geste in die begeisterte Stimmung aufgenommen: „Seid umschlungen, Millionen! / Diesen Kuß der ganzen Welt!" (v. 9 und 10). Die Darstellung der pathetisch verabsolutierten Größe kann nicht abgeschlossen werden, ohne daß man des Strebens gedacht hat, in wel22

2S

Das Pathos will wirken — das braucht nicht zu heißen, als Schillers zentrale Frage auszugeben, wie man durch Dichtung wirke. (Vgl. M a x Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, 1928, S. 178, und: Geist und Buchstabe der Dichtung, 3. Aufl., 1944, S. 191.) Auch Emil Staiger, für den die Idee des Lyrischen alle rhetorische Wirkung ausschließt, formuliert in seinen „Grundbegriffen" zwar folgerichtig, aber zu pointiert, wenn er schreibt, das Pathos werde „eingeprägt oder eingehämmert", und „dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer Rede Gewalt" (S. 147 und S. 150). Eine richtige und notwendige Einsicht verliert überspitzt an Berechtigung. Es sei in diesem Zusammenhang auch an Staigers bedeutsamen „Agrippina"-Aufsatz erinnert (Wiederabdruck in: Die Kunst der Interpretation, 1955, bes. S. 160), wo der nur im Vollzug auflösliche Widerspruch von Gesetz und Autonomie in Schillers Theorien benützt wird, dem Freiheitsanspruch des sich selbst bestimmenden pathetischen Subjekts den Herrschaftsanspruch über andere anzuhängen. An Reinwald, 5. Mai 1784.

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chem sich der pathetische Drang nach Größe und Vollkommenheit verkörpert, den der Begriff der Gottgleichheit24 nur ungenügend wiedergibt. Durch Schillers ganzes Werk zieht sich der Gedanke, daß der Mensch zu Höherem bestimmt sei, und immer wieder — von der „Philosophie der Physiologie", wo die Gottgleichheit als menschliche, aber nie erfüllbare Bestimmung gesehen ist, von den „Philosophischen Briefen" über den dritten Brief an den Augustenburger und den elften „Über die ästhetische Erziehung" — hier und noch öfter kehrt der Gedanke wieder: „Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sidi." 25 Keine Selbstvergottung oder irgendein verblendeter Übermenschenkult verbirgt sich hinter diesem Enthusiasmus; der Glaube Schillers ist ausgesprochen, daß der Mensch sich selbst transzendieren könne, daß er „schaffender Spiegel" der Gottheit sei (wovon auch Werther weiß). Und in uns ein unersättlich Drängen Das verlorne Wesen einzuschlingen Gottheit zu erschwingen. („Das Geheimniß der Reminiszenz" v. 58—60)

Im Zusammenhang mit dem platonischen Mythos bedeutet dieser Gipfel des Gedichts, auf den hin sich die vorhergehenden Verse spannen, daß die verlorene vorirdische Einheit die Liebenden gottähnlich sein ließ — ein Zustand, der im transzendierenden Aufschwung wieder gewonnen werden soll. In den „Göttern Griechenlandes" feiert Schiller die AllEinheit, den vertrauten Umgang der Götter und Menschen, wovon er die schöpferische Lust der Griechen ableitet. Vor den Kunstwerken im Mannheimer Antikensaal hatte er gefühlt, daß der griechische Mensch mehr geschaffen hatte, als er selbst war: „Wenn der Mensch nur Mensch bleiben sollte — bleiben könnte, wie hätte es jemals Götter und Schöpfer dieser Götter gegeben?"26 Der gottgleich schaffende Künstler als Verheißung, das „Genie-proprior Deus" (Lavater) — der Pathetiker ahmt den Schöpfer nach, indem er eine Welt sui generis entwirft, die die vorhandene übersteigt. Die Spaltung des Ganzen in seine Teile, der unerklärbare Übertritt des Unendlichen ins Endliche ist die Ursache aller irdischen Bedrängnis. Da der Pathetiker das Bedingte nur mit dem Unbedingten verknüpft ertragen kann, muß er den Schöpfungsvorgang gleichsam zurückdrehen, um seinem Bedürfnis nach dem, was größer ist als der Mensch, nachzu24

Den überraschenden Gottgleichheitswillen als Wurzel der Lebensaskese des Gryphius beschreibt Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Epochen der deutschen Literatur, Bd. 2, 2. Teil, 1935, S. 114.

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Säk.Ausg. Bd. X I , S. 41.

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Säk.Ausg. Bd. XI, S. 106.

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kommen. Die Möglichkeit hierfür erklärt die „Theosophie des Julius" mit einem Vergleich: Wie im Prisma sich ein weißer Lichtstreif (das göttliche Ich) in sieben dunklere Strahlen (in die endlichen Dinge) teilt, so können diese sieben Strahlen wiederum den Hauptstrahl hervorbringen. 27 In der Liebe 28 schließen sich Schöpfer und Geschöpf zusammen. Der Transzendierungsdrang wird als Möglidikeit ergriffen, das principium individuationis zu überwinden, das den Menschen an sich selbst fesselt. „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen?" („Das Reich der Schatten" v. 21) — die Ablösung von der Sinnenwelt und die reinigende Erhebung zum Geisteswesen ist Voraussetzung, diese göttergleiche Freiheit in einem Reich reiner Formen zu erleben. Unwesentlich ist dem Pathetiker, ob sich seine Forderung verwirklichen lasse; mit kühner Gebärde hält er an, zu vollbringen, was in der augenblicklichen Begeisterung möglich scheint, und gestaltet dafür das herakleische Urbild der Selbstvollendung am Ende des „Reichs der Schatten". Manche Deuter fühlen sich aufgerufen, den Finger mahnend zu erheben und eine prometheische Hybris zu beklagen, da sie einen Selbsterlösungswillen gewahren, der die herrschende Religion erübrigen könnte. Nur die hymnische Begeisterung kann einen Dichter befähigen, dem „Sohn Kronions" an die Seite zu treten — die Hölderlinforschung beweist, wie schwer sich mancher Interpret dahin versteht, die Wahl des Dichters zum Bruder eines Halbgotts anzuerkennen. 29 Das Herakles-Motiv Schillers bietet weniger Anlaß zum Unverständnis, da es, weniger wirklichkeitsgefüllt und eschatologisch bezogen, auch weniger ernst genommen wird. Die pathetische Lyrik versucht sich nicht an den Göttern wie ein Karl Moor im Drama, der die Sache des Himmels ausführen will und dessen eigentlicher Gegenspieler der Richter-Gott ist. Die pathetische Lyrik wölbt sich auf und drängt an, die getrennten Sphären der Götter und Menschen einander zu nähern, die Antithesen zu verringern. Daß der Mensch den hohen Göttern eigen sei, spricht „Die Macht des Gesanges" (v. 35) aus, daß er ihnen gleiche, will die pathetische Lyrik beweisen, wenn sie die Kräfte des Alls nach ihren Gesetzen zu bewegen, wenn sie in adlerkühnem Aufflug zu transzendieren sucht. 2'

Säk.Ausg. Bd. XI, S. 127. Vgl. die Anfangs- und Leitstrophe der Hymne: „Der Triumf der Liebe". 2 ' Selbst ein weltoffener Theologe wie Emil Brunner (Der Mensch im Widerspruch, 3. Aufl., 1941, S. 251, Anmerkung) spricht von Hölderlins „verwegenster Selbstvergottung". — Zu diesem Thema: Fr. Beißner: Hölderlins Hymne an das Schicksal, in: Publications of the English Goethe Society, New Series, vol. X X I , 1952, bes. S. 98 f., und Ulrich Hötzer: Die Gestalt des Herakles in Hölderlins Dichtung, Forschungen zur Kirchen- und Geistesgesdiidite N. F., Bd. I, 1956, S. 132 ff.

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DER PATHETISCHE

DUALISMUS

J e absoluter sich das pathetische Subjekt setzt, desto entschiedener gerät es mit der Welt als Widerstand und Begrenzung in Konflikt. Das „aufschwellende" Gefühl, wie Schiller es nennt, will die Welt in sich erleben; auf andere Objekte übertragen, verwandelt es sich diese durch die gemeinsame Empfindung an. Als expressive Selbstaussprache möglich, hat das Pathos in anderen Fällen die Intention, sein Objekt aufzuheben, das es wie selbstverständlich auf sich bezieht. Die Andersartigkeit der „Gegenüber" bringt zugleich das pathetische Subjekt zu sich selbst und erregt seine Leidenschaft, die eigene intendierte Totalität durchzusetzen. „Die göttliche Anlage der Kräfte" läßt es ein Ungenügen am Leben und seinen Grenzen erleiden, in dessen Namen es den unverstandenen Tod erschüttert ausspricht. Im Zeichen des Widerspruchs behandelt es die ungenügenden gesellschaftlichen Verhältnisse; im Namen der Moral sucht es Raum zu schaffen für das eigene unbedingte Wertempfinden. Im Begriff des Ungenügens wird das dichterische Pathos faßbar als das, was in seiner Wortbedeutung mitenthalten ist: als Leiden, als Leiden an der Endlichkeit und ihrer polaren Struktur. 1 Schillers Anschauungsformen sind durchgängig antithetisch bestimmt. Nur in Gegensätzen konnte er denken. Empfindung und Welt, Idee und Wirklichkeit, Pflicht und Neigung, Selbstbestimmung und Determiniertheit — das Lebendige überhaupt trennte sich ihm in entgegengesetzte Teile, die einander bedingen, wie sie einander ausschließen können. Wenn er in seinem großen Brief an Goethe, am 31. August 1794, eingestand, nur über wenige Begriffe zu verfügen, so genügten diese doch, die Vielfalt der Dinge in ihren Gegensatzpaaren zu umgreifen. In der Polarität als der eigentümlichen Anschauungsform Schillers gründen die Prinzipien, nach denen er seine Lyrik gestaltete. Sein Pathos nimmt nicht einfach hin, sondern es urteilt apodiktisch. Der Satz bedingt den Gegensatz; der Ge1

Die polare seelische Grundstruktur behandelt unter psychologischen Gesichtspunkten Eduard Spranger: Schillers Geistesart, Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Phil.-histor. Klasse, Jg. 1941, N r . 13, S. 2 1 — 2 8 . — Irmgard Böger: Bewegung als formendes Gesetz in Klopstocks Oden, Germanische Studien 207, 1939, begründet ihre Abhandlung über die Bewegung und Gegenbewegung aus Klopstocks polarer Erlebnisweise.

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gensatz ist aber vor allem das Mittel, zu steigern, zu erhöhen oder zu vergrößern. Das Pathos bedient sich daher der Gegensätze, ja, es vergrößert sie noch, wie „Die Götter Griechenlandes" beispielsweise zeigen, um das Ziel der Aussage zu erreichen. Das bedeutet, daß die antithetisch strukturierte Anschauungsweise eine wesentliche Vorbedingung für den steigernden und spannenden pathetischen Stil ist. Der Riß in der Schöpfung geht durch den Menschen hindurch und teilt ihn in ein geistiges und ein sinnliches Wesen. Dieser körperlich-seelische Dualismus muß als erster in jener Reihe dargestellt werden, die das Verhältnis von pathetischem Subjekt und Wirklichkeit betreffen, wenngleich er nicht die Bedeutung in der Lyrik gewinnt, die dem Zwiespalt der menschlichen Natur als tragischem Keim der Dramen zukommt. Schon in der ersten Prüfungsarbeit auf der Karlsschule sucht Schiller die altgewohnte cartesianische Unterscheidung durch die Konstruktion einer „Mittelkraft" zu überbrücken. Die Einleitung zu der Abhandlung „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" postuliert ebenfalls die Ganzheit des Menschen. Wie stark den Dichter zeitlebens diese Relation in allen möglichen Konsequenzen beschäftigte, zeigen besonders die Briefe „Uber die ästhetische Erziehung", die den Menschen als Doppelwesen mit einem höheren (idealischen) und einem niederen (empirischen) Ich in Übereinstimmung bringen wollen. Der Wille zur widerspruchslosen Einheit lebt von Anfang an in Schiller, obgleich sich allmählich erst sein dualistischer Idealismus2 herausbildet und die Überzeugung der Karlsschulzeit verdrängt, daß sich die geistigen Fähigkeiten des Menschen aus seinen sinnlichen Trieben entwickeln. Der Körper setzt die erste hart empfundene Beschränkung des „unendlichen Gefühls" 3 , die der Monolog der Marfa im „Demetrius" noch beklagt. Wo die subjektive Innerlichkeit alles ist, muß der Leib hemmend und fremd erscheinen, zumal wenn das Gefühl, der Geist, als das Höhere bewertet, das Körperliche aber mit der Vorstellung des Unschicklichen behaftet wird. Von ihrer höheren Abkunft erfüllt, sucht die „Geistseele" die leibliche Fessel abzuwerfen, um die Vereinigung mit der Geliebten erreichen und in der erlösenden Einheit aufgehen zu können. Gemäß den sensualistischen Ansichten seiner Jugend drückt der Pathetiker Schiller die Affekte in körperlichen Symptomen aus. Das Körperliche steht für die äußere Welt — die Natur liefert nicht die Metaphern, die Nuancen des Gefühlszustands auszudrücken. Von einer sezierenden Psychologie 2

3

Daß aller Idealismus dualistisch sei, hat Erich Rothacker im Anschluß an Dilthey dargelegt: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Handbuch der Philosophie, 1926, S. 38 ff. Vgl. „Demetrius" II, 1.

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zeugen die „Laura"-Gedichte, die sich auf das Moment der ekstatischen Leidenschaft hinspannen, bis diese, „losgeraft vom Kettenband der Glieder" („Reminiszenz" v. 14), den Körper zu überfluten scheint. Folgerichtig fortschreitend anerkennt die klassische Lyrik den Körper nur noch als Objekt der sinnlichen Triebe und dadurch den „dunklen Schicksalsmächt e n " 1 Untertan.

Erschütternd erfuhr der Mediziner Schiller den Dualismus von Endlichkeit und Unendlichkeitsverlangen in der Todesverfallenheit des Menschen. Der Tod ist in allem 5 ; er ist mitten im Leben, er nährt sich vom Leben und entwertet es durch das Ende, das er ihm setzt. Die Möglichkeit des Sterbens enthüllt das Leben als Larve, die den Tod überdeckt. Am Tod eines Freundes entzündet sich das expressive Pathos, das den Dichter derart beherrscht, daß die intensive und distanzlose Empfindungsweise den Gesetzen der elegischen Gattung, wie er sie später aufstellte, widerstreitet.® Der Dichter steigert die Erschütterung im „Weckerlin"Carmen, da sein kontrastierendes Pathos den toten Jüngling aus der „schneidenden Erinnerung" (v. 30) in „früher Morgenblüth" (v. 7) darstellt. Der Tod kann nicht in die Schöpfung eingeordnet werden; der „Mißklang auf der großen Laute" (v. 35) ist besonders unbegreiflich für jene Epoche, die von einer Theodizee und der Welt als der besten unter den möglichen ausging. Nur noch „sub contrario", als „komisch-tragisches Gewühl" (v. 88), kann das Leben gefaßt werden, so daß die polare Aussagebewegung des Pathetikers schließlich den Toten als einzigen Glücklichen preist. Kein innerer Abstand verbleibt im Schmerz; die Vgl. „ D a s Reich der Schatten" v. 31 f. Man erinnere sich des „Spaziergangs unter den L i n d e n " , des Gegenwurfs zu den „Philosophischen Briefen", w o Wollmar auf jedem Punkt des Universums nur das monarchische Siegel des Todes erkennen kann (Säk.Ausg. Bd. II, S. 144). D a in unserem Zusammenhang die Ergründung der die Stilformen bedingenden Haltungen wesentlicher ist als eine einläßliche Beschreibung des Lebens- und Todesgefühls des jungen Schiller, sei auf Diltheys Buch „Von deutscher Dichtung und M u s i k " , ed. 1933, S. 368, und auf die Studie über den „Todesgedanken in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik", Buchreihe d. D t . Vierteljahrsschrift, 14, 1928, von Walther Rehm hingewiesen. D o r t (S. 351) steht zu lesen: „Schillers Todesgefühl aus der Zeit seiner Skepsis läßt sich nidit mehr übersteigern." Zu der „Melancholie" bemerkt Rehm (S. 350): „. . . wohl das schauerlichste Liebesgedidit, das es in der deutschen Literatur gibt" und das nur mit Gedichten von H o f m a n n s w a l d a u zu vergleichen ist. In der T a t wirkt in Schillers Threnodien die barocke vanitas-Vorstellung besonders stark nach. ' Daher sind die Trauergedichte des jungen Schiller ebensowenig Elegien im strengen Sinn der Gattung wie die barocken eines Gryphius: Friedrich Beißner: Geschichte d. dt. Elegie, Pauls Grundriß d. germ. Philologie, Bd. 14, 1941, S. 84 und S. 138.

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„ e i n e Vorstellungsart" deutet das Leben nur noch vom Tod her, stellt das gültige Dogma in Frage und verwehrt den abschließenden Aufschwung auf eine eschatologische Zukunft hin, wie dies in den Trauergedichten für Rieger und Wildmeister in hymnischem Ton geschieht. In der Klage um den Freund konzentriert sich die polare Struktur des Daseins auf seine Widersprüchlichkeit, der Schauplatz des Lebens verengt sich in pathetischer Verdichtung auf den Grabhügel hin („Ach! die Erde ist selbst / Grabeshügel geworden". „An die Sonne" v. 36 f.). Der Unterschied zwischen den ohne genügenden inneren Abstand geschriebenen LeichenCarmina und den Dithyramben (wie „Die Freundschaft" oder „An die Freude") offenbart sich eben darin, daß die einen die Polarität fast absolut setzen, die die letzteren nicht einmal mitkonzipieren. Charakterisieren die einen fast „naturalistisch", so idealisieren die anderen hymnisch.7 Ein Schauder vor dem Leben, der „langen Narrheit" mit theatralischem Schein („Weckerlin" v. 97), bleibt dem Pathetiker, sofern sich seine Imagination nicht aufschwingen oder eine eigene Welt entwerfen kann. Das bedeutet, daß das volle, warme Leben, dem der Pathetiker ursprünglich schon fremd begegnet, noch mehr von der gegenständlichen Bereicherung seiner Dichtung ausgeschlossen ist. Die Erscheinungswelt besitzt einen geringen Eigenwert und verstellt den allein bedeutsamen geistigen Hintergrund. Nur als Behelf des Ausdrucks dient die sichtbare Welt, als Repräsentation jener geistig-unsichtbaren, die in der vielgebrauchten Allegorie versinnlicht werden soll. Der ungestüme leidenschaftliche Ausbruch in der Erfahrung der irdischen Hinfälligkeit will in seinem Schmerz anerkannt werden. „Weltregierer, ich begreif es nicht!" („Weckerlin" v. 36) — Gott ist der geheime Zuhörer der Trauergedichte, wie er in der „Freigeisterei" der Gegenspieler ist. Das Pathos bäumt sich auf, nicht ungehört zu verhallen, sondern Antwort zu erhalten und fühlende Herzen zu ergreifen. Das Bewußtsein des „eigenen Tods" hingegen veranlaßt im Vollgefühl der Kraft weder Wehmut noch Klage: Wie Goethe in seinem „Prometheus"Fragment, so wähnt der junge Schiller, die Unendlichkeit in einem Augenblick verdichten und den Tod als höchstes Moment des Lebens empfangen zu können. 8 Der alternden Zeit soll entgangen werden. Die Todesvorstellung ist andererseits ein Mittel, die Menschen und ihre Gesinnungen zu ändern. In der „Melancholie" schildert der Dichter die gesteigerte Schönheit als gesteigerte Vergänglichkeit, um Laura fester noch an sich zu binden. Die Zukunft soll die Gegenwart bestimmen, und Schil1

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Man vergleiche damit auch den Gegensatz, der sich zwischen der „Theosophie" und dem „Spaziergang unter den Linden" auftut. Vgl. „Melancholie" an Laura.

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ler zögert nicht, die physische Auflösung mit grausiger Deutlichkeit zu schildern. Es geht ihm dabei weniger um das Grausame, für das ihm nach Goethes Worten ein gewisser Sinn immer anhing 9 , es geht vielmehr um die sensuellen Effekte, die ein taedium vitae Lauras erreichen wollen. Weil Häßlichkeit, „von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu sein aufhört, wird sie dem Dichter brauchbar", schrieb Lessing im 23. Abschnitt seines „Laokoon". Ein Gedicht wie „Die Pest" ist geradezu die Anwendung des von Schiller formulierten Prinzips: „Wir sind geneigter den Stempel der Gottheit aus den Grimassen des Lasters herauszulesen, als ebendenselben in einem regelmäßigen Gemälde zu bewundern." 10 Am Negativen wird das Positive demonstriert; das antithetische Darstellungsprinzip erzwingt die pathetische Steigerung und die abschließende Pointe. Die Erkenntnis: „Rauch ist alles irdsdie Wesen" („Das Siegesfest" v. 149) ist schon dem jungen Tragiker eigen, gewährt ihm aber zugleich ein ausgeprägtes Wertbewußtsein, das von der Grenzsituation des Todes aus die fehlerhaften menschlichen Dinge betrachtet und attackiert. Das vorrevolutionäre, mächtige Selbstgefühl seiner Generation, das auch in ihm wach ist, heißt ihn mit der Waffe des Worts gegen das intrigante, in Klassen gespaltene, „tintenklecksende Säkulum" („Räuber" I, 2) angehen. Hatte des „Liedes Sprache" in der „Abend"-Pastorale dazu gedient, die Herrlichkeit der Schöpfung zu besingen, so richtet sich dessen aggressive Kraft unter Schubarts Einfluß in den „Schlimmen Monarchen" gegen tote Fürsten in ihren Grüften. Der Tod, der zuvor als der „schlimme Würger" erschreckte, stellt in diesem Gedicht die wahre Ordnung wieder her, die weder Institutionen noch soziale Unterschiede kennt. Fürstenmacht und Grabesmoder werden kontrastiert. Das Pathos geht gegen angemaßte und ungerechte Größe vor und schafft den Raum für die eigenen Werte. Der „Stürmer und Dränger" setzt sich für das Naturrecht des wahren großen Menschen ein: Die Verehrung der Größe und die Verhöhnung der Gesellschaft gehen in „Roußeau" ineinander über. Bezeichnend für Schillers Pathos ist, daß fast jeder andere Verfemte für Rousseau stehen könnte: an der individuellen Person und ihren individuellen Problemen ist wenig gelegen. Die streitende Lyrik kämpft gegen die Welt als Gegenüber an. Sie kämpft gegen die Konvention und die Regel der Syntax, wie sie für Originalität und Selbstbestimmung eintritt. Im Dienst der als wahr erkannten Ordnung verweist die „pathetische Satire" 1 1 auf überzeitliche Werte. Mit einer imperatorischen Geste fegt der Pathetiker „Rang und Macht, die lächerlichen Flitter" („Rieger" v. 34), hinweg und

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Goethe zu Eikermann, 18. Januar 1825.

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Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 119.

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Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 193.

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K e l l e r , Schiller

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verlegt, indem er die Zukunft für die Gegenwart aktiviert, den Gerichtstag nach vorne: „Und der Pomp — ist Nichts. — " („Rieger" v. 37.) Welcher Unterschied zur liedhaften Lyrik! Am Widerspruch steigert sich die pathetische Rede, deren glühendes Wollen gegen die Trägheit der stumpfen Welt gerichtet ist. Freiheit, das entscheidende Wort des reifen Schiller, fällt in der Jugend noch selten 12 , dennoch darf sein Denken und Dichten als allgemeiner Befreiungsprozeß gefaßt werden. „Durch alle Werke Schillers geht die Idee von Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Kultur weiterging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging; in seinem späteren Leben die ideelle . . . " l s Diesen von Goethe erwähnten Fortschritt von der physischen zur ideellen Freiheit, die die Freiheit einer überpersönlichen Vernunft ist, deren Gesetzen sich die empirische Person fügt, diesen vergeistigten „Weg nach innen" zeigen die Postulate seiner pathetischen Lyrik. Keine schrankenlose Freiheit wird gefordert — das pathetische Subjekt, das sich als Leidenschaft und Größe in einer superlativischen Sprachform manifestiert, trägt sein Korrektivum und seine Bindung in sich: In der „Freigeisterei" widerstreiten einander Leidenschaft und Gesetz, bis sich die als Tugendgöttin verabsolutierte Moral zur Anerkennung bringt. Diese Begrenzung liegt in der Leidenschaft selbst, wie sehr auch das „Naturrecht" der Leidenschaft gegen Konvention und Sitte betont werden mag, in denen sich das gescholtene und begrenzende Bewußtsein objektiviert. 14 Der sinnlich-sittliche Konflikt ist in das Subjekt selbst verlegt, obgleich dieses den Nero-Gott als Gegenspieler erachtet. In der „Resignation", wo die Zeit auf die Todeserwartung verkürzt und die Entscheidungsmöglichkeit auf „ H o f n u n g und G e n u ß " reduziert werden, reinigt das problemgebundene Pathos mit seiner unbedingten Aussage die Atmosphäre: der Sinn des Strebens liegt im Streben selbst, auch wenn das Trachten des Pathetikers auf das Jenseits zielt. Und die

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Symptomatisch für die frühe Jugend ist die bekannte, den Begriff indifferent belassende Stelle in den „Räubern" (I, 2): „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus." Goethe zu Eckermann, 18. Januar 1827. Zwar bedeutete es, die behutsame Empirie einer stilkritischen Arbeit an die Spekulation verloren zu haben, wollte man in der sich selbst begrenzenden Subjektivität die Begründung der festen Formen von Begriff, Vers und Strophe wahrnehmen, die Schillers Irrationalismus bändigen und ein Teil seiner barock-objektivistischen Anlage sind, doch ist ein Zusammenhang von Größe und begrenzender Moral, Subjektivismus und begrifflicher wie überpersönlicher Objektivität immer wieder spürbar.

D e r pathetische Dualismus

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individuelle Entscheidung erweitert die Rede des Genius zum allgemeinen Schicksal. Im Dienst der als wahr und verbindlich erkannten Lebenswerte tritt das Pathos mit seinem unbedingten Anspruch für überzeitliche und überpersönliche Maßstäbe ein. Die jugendliche Form seines Idealismus bildet sich: Der Widerstand der stumpfen Welt soll gebrochen und eine reinere und höhere an ihre Stelle gesetzt werden. Die Schlußstrophen des Liedes „An die Freude" beispielsweise postulieren die Sittlichkeit einer weltüberwindenden Bruderschaft — in Geboten, die das Schicksal selbst mutig zu ertragen anhalten. Das Wollen nimmt die Empfindung in Besitz. Im Überschwang der Begeisterung postulieren die pathetischen Imperative Haltungen, die das menschliche Vermögen überfordern: „Allen Sündern soll vergeben, / und die Hölle nicht mehr seyn" (v. 103 f.). Das voluntative Pathos geht in seinen Forderungen über das Individuum noch hinaus und zielt auf eine völlig verwandelte Ordnung. „Der Mensch ist das Wesen, welches will" 1 5 , steht am Anfang des Aufsatzes „Über das E r habene" — das voluntative Pathos ist der Ausdruck dieser anthropologischen Bestimmung, auf der Schillers theoretische Schriften basieren. Das geballte pathetische Wort will bereits eine Verwirklichung sein. Aufrufe zur ideellen Freiheit stellt „Das Reich der Schatten" dar: Aus dem Objekt der Natur soll sich der Mensch zum Subjekt der Freiheit aufschwingen und den physischen Kausalitäten entrinnen. Der Dualismus zwischen Vernunft und Sinnenhaftigkeit soll aufgehoben und der Geistperson die Erfüllung des Sittengesetzes in einem harmonischen Ausgleich von moralischen und ästhetischen Kräften möglich werden. Unwichtig werden neben diesen großen Beispielen des voluntativen Pathos die wenigen moraldidaktischen Gedichte des jungen Schiller. Mit der naiven Gleichsetzung von „Glück und Weisheit" räumte er schon in seinem gleichnamigen Gedicht auf, und die Ermahnung eines Vaters an seinen Sohn scheidet klar äußeres und inneres Glück, Lust und Pflicht („Ein Vater an seinen Sohn" v. 15). Doch, wie gesagt, diese zweckhafte Gebrauchskunst einer nachwirkenden eudämonistisch bestimmten Zeit hat mit den pathetischen Postulaten wenig gemein. Die Figuren vertreten allegorisch-allgemeine Konflikte oder bloße Gesinnungen. Wie in den Satiren enthüllt sich der Pathetiker als ein heimlicher Moralist. Der Dualismus von Leib und Seele, Leben und Tod, Sein und Schein steht für das umfassende Spannungsgefüge der pathetisch erlebten Welt. Daß die Polarität jede Seinsmöglichkeit bedingt, mag unerörtert bleiben, 15

3*

Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 2 6 5 . — D a s klassische Beispiel für den antizipierenden pathetischen Willen bieten in anderem Zusammenhang die „ C o l u m b u s " Distidien (bes. v . 6 ) : N a t . A u s g . Bd. I, S. 2 3 9 .

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da unserer Darstellung der wesentlichen Züge des pathetischen Dualismus daran gelegen ist, nachzuweisen, daß die gegenwärtige Wirklichkeit ohne rechte Erfüllung für den Pathetiker bleibt. Die Bedeutung der Dinge dünkt ihm wichtiger als deren Erscheinung. Die gegenwärtige dürftige Wirklichkeit — ein dumpfer Nachklang eines vorirdischen Einsseins im „Geheimniß der Reminiszenz" — vollendet sich in einer eschatologisch geschauten Zukunft (wie im ,,Rieger"-Carmen) oder in der Spannung auf eine würdige Zukunft hin, welche die Postulate — nach Friedrich Theodor Vischer und Emil Staiger zukunftsgerichtet — entwerfen. Der transzendierende Bezug, von dem noch zu reden sein wird, und der voluntative Bezug sind also die beiden Formen des zukunftsgerichteten pathetischen Bewußtseins, hinter dem sich das Bedürfnis nach Vollkommenheit und Einheit des Getrennten verbirgt. Als eine Kraft, die den Dualismus von Erde und Himmel, Vergangenheit und Zukunft, Wirklichem und Möglichem, Wesen und Erscheinung zu überschwingen sucht, kann abschließend das Pathos definiert werden. Die bekannte Kritik Schillers an Hölderlin und Jean Paul" kann in ihrer Umkehrung auf das übermächtige Selbstgefühl des jungen Pathetikers angewendet werden: Die Opposition des idealischen Hangs gegen die empirische Welt ist ein Zeichen seines Pathos. Das Subjekt ist stets dem Objekt übergeordnet; sein ungestümes Wollen prägt das herrscherliche Pathos der empirischen Welt auf. Die Kraft übt sich am Widerstand, der sie sichtbar machen soll.17 Herrscherlich begegnet der Pathetiker der Welt; herrscherlich unterwirft er sie als bloßen Stoff seiner Dichtung und subsumiert die Vielfalt der Erscheinungen seinen vielgebrauchten Begriffen. Der inhaltliche Dualismus weist gleichzeitig auf die divergierenden Züge der pathetischen Dichtungsart hin: Zwischen Stoff und Imagination drängt sich der Selbstbezug des „gefühlten Gefühls", die Reflexion. Das Reflektieren „über den Eindruck, den die Gegenstände machen"18, stört immer wieder die erstrebte unmittelbare Aussprache und bezeugt den erwähnten Abstand des pathetischen Subjekts von seinen stofflichen Objekten. Die Welt ist der Spiegel des Geistes. Gleich im ersten Brief an Goethe vom 31. August 1794 gab Schiller Rechenschaft über diese Mängel seines Dichtens. Er bekennt, daß in seiner Jugenddichtung ein steter Kampf zwischen Verstand und Phantasie stattgefunden habe. Das ist gewiß richtig, doch darf dabei nicht übersehen werden, daß die „empfundenen Gedanken" und die „gedanklichen Empfindun" An Goethe, am 17. August 1797. 17

Man vergleiche damit den Aufsatz über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Säk.Ausg. Bd. XI, bes. S. 146).

18

Säk.Ausg. Bd. XII, S. 192.

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gen" das pathetische Spannungsgefüge noch intensivieren, wie sehr sie auch dem Dichterischen abträglich sein mögen. An anderer Stelle gesteht Schiller, daß er in dichterischen Werken zuerst den Dichter aufgesucht, im Subjekt das Objekt angeschaut habe: „Ich war noch nicht fähig, das Bild der Natur aus der ersten Hand zu verstehen." 19 Ähnliches gilt für sein Dichten: Das Subjekt drängt sich vor das Objekt. Nur im Vorbeigehen wurde bisher das Verhältnis des Pathetikers zur Natur erwähnt. Daß aber dieses Verhältnis die Dichtungsweise des Lyrikers bestimmt, betont der Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung" eindringlich. Schillers Naturauffassung, die hauptsächlich die Kalliasbriefe und der Aufsatz „Über Anmut und Würde" ausführen, braucht hier nicht dargelegt zu werden 20 , wohl aber der Bezug von Natur und pathetischer Dichtung, um ihre allegorischen Formen einsichtig zu machen, denen im zweiten Teil dieser Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Die Natur als Teil der Wirklichkeit verwandelt sich nicht, wie man annehmen möchte, in eine Chiffre der übermächtigen Empfindung, die in ihrer gewollten Autonomie zu einer Begegnung weder fähig noch geneigt ist; die Natur als Abbild des Geistes repräsentiert sichtbar das GeistigUnsichtbare. Weder ein ausgeprägtes sinnliches noch ein inneres Anschauen besitzt der Pathetiker; er anthropomorphisiert und verwendet die Naturdinge nicht um ihrer selbst, sondern um der Versinnlichung oder des Schmucks willen. Gewiß gelangen schon dem jungen Schiller schöne Naturschilderungen wie im „Abend", am Schluß des „Triumfs der Liebe", in „Elisium", wo die Landschaft in Empfindung und Musikalität umgesetzt ist. Doch keine sinnlich gesättigte Anschauung findet sich ein: Die Darstellung „idealisiert" wie die Landschaftskunst Claude Lorrains und sucht die elysischen Gefilde mythologisierend und typisierend zu geben. Neben diese idyllische tritt in Schillers Jugendwerken die stürmische Natur, die in der „Hymne an den Unendlichen" ungegenständlich fast und ungeheuerlich ist und als „Spiegel Jehovas" (v. 10) den Gott vergegenwärtigen soll. Wie den jungen Dichter bewegte Landschaften 19 20

Säk.Ausg. Bd. XII, S. 184. Ed. Spranger a.a.O., S. 28 ff., betont Schillers Naturferne. Erst auf dem Umweg über das Ästhetische habe Schiller die Natur entdeckt, die die Idee nicht mehr transzendent, sondern immanent als substantia formalis enthalten habe. — Unter den vielen Beiträgen zu Schillers Naturauffassung und den Problemen seines geistigen Seins ist besonders hervorzuheben: Ernst Cassirer: Freiheit und Form, 1916, S. 424 ff. — Wilhelm Iffert: Der junge Schiller, 1933, 2. Aufl., S. 112 ff., spricht übertreibend von Schillers Naturauffassung, die von Rousseau beeinflußt sei, als einem „apriori konstruierten Idealbegriff". Welche Vielzahl von Anschauungen Schiller unter den einen Begriff der Natur subsumierte, geht aus der Abhandlung von H. Lutz hervor: Schillers Anschauungen von Kultur und Natur, 1928.

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reizen, geht aus seiner Übersetzung des „Sturms auf dem Tyrrhener Meer" (Äneis, 1. Buch, v. 34—156) hervor, die, schon 1780 in Haugs „Schwäbischem Magazin" veröffentlicht, weit mehr Verse für die Sturmszene braucht als Virgil. Da wir aber seit Goethes Sesenheimer Liedern gewohnt sind, die dichterische Stimmung vollkommen verwandelt als Naturstimmung zu erfahren, befremdet sogar die schöne und persönliche „Morgenfantasie", denn die morgendliche Natur und ihre gleichgestimmten Dinge sind abgelöst vom Menschen. Zu Beginn des vierten Abschnitts wird dem Frieden der Natur die Friedlosigkeit des Dichters unvermittelt entgegengesetzt: „Den Frieden zu finden, / Wohin soll ich wenden / Am elenden Stab? / Die lachende Erde / Mit Jünglingsgebärde / Für mich nur ein Grab" (v. 30—35). Wie in barocken Gedichten ist der antithetische Bau gewählt, um die Kontraste zu steigern und den Flüchtling in seiner trostlosen Verlorenheit darzustellen. Natur und Seele schwingen nicht gelöst ineinander über wie in Goethes zweitem „Wanderers Nachtlied", wo die Ruhe von der anorganischen Natur über Pflanzen und Tiere zum Dichter allmählich herniederreicht, ihn in ihren wundersamen Frieden einzuhüllen. Der Pathetiker redet nicht von den Dingen her. Die Natur verharrt beziehungslos und objektiv und bleibt immer gegenüber. Als Träger der Stimmung dient sie — in ossianischer Düsterkeit — in der „Leichenfantasie" beispielsweise, die triste Empfindung zu versinnlichen: „Mit erstorbnem Scheinen / Steht der Mond auf todenstillen Haynen . . . " (v. 1 f.) Wer von Schillers theoretischen Schriften her urteilt, könnte, sofern er die wechselnden und oft widerspruchsvollen Standpunkte nicht genügend beachtet, zu einem anderen Verständnis kommen. Die erst im Jahre 1786 in der „Rheinischen Thalia" veröffentlichten „Philosophischen Briefe" sprechen, vielleicht unter dem Eindruck spinozistischer Gedanken, Gott und Natur als zwei „vollkommen gleiche" Größen an. Die Natur ist ein Abbild der göttlichen Substanz, „ein unendlich geteilter Gott" 21 . Obgleich der Begriff des Abbilds an die barocke Literatur und ihre Spiegelbilder erinnert, die Schiller aus einem ähnlich abgeleiteten Naturverhältnis heraus verwendet, gewinnt Schillers Naturauffassung in diesen Briefen die Nähe zu Toblers Naturhymnus und — theoretisch jedenfalls — zu Goethes jugendlichen pantheistischen Naturgedichten. Aber Schillers Verherrlichung der Natur ist zweck gerichtet22; sie dient dazu, die Liebe zu erklären — die Liebe, die die Vereinzelung der Menschen aufhebt und 21 22

Säk.Ausg. Bd. XI, S. 126. Vgl. auch Hebbels Tagebucheintragung (Nr. 1703, 19. Oktober 1839): „Schillers Poesie tut immer erst einen Schritt über die Natur hinaus und sehnt sich dann nach ihr zurück."

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mit der ganzen gotterfiillten Welt innig verknüpft. Das Wesen des über die Naturdinge letzthin verfügenden — nicht aber dem Schauen hingegebenen — Pathetikers drückt, obgleich hier in der dichterischen Praxis eine innige Naturnähe erreicht scheint, das einzige Jugendgedicht Schillers aus, das, allerdings nach bedeutenden Änderungen, im Jahr 1800 für würdig befunden wurde, in die Sammlung der reifen Gedichte aufgenommen zu werden: „Meine Blumen". Die Blumen gewinnen die Beseelung, die ihnen am Ende der ersten und zweiten Strophe abgesprochen worden war, schließlich durch Lauras liebendes Bemühen: „Leben, Sprache, Seelen, Herzen / Flügelboten süser Schmerzen! / Goß euch, diß Berühren ein." Auf diesen Schluß hin ist das Gedicht angelegt: Die anthropomorph verstandene Natur und ihre Schönheit sind bloße Mittel, das Liebesgefühl Lauras zu verherrlichen. Schillers Naturverhältnis, wie es in seiner Jugendlyrik Gestalt gewinnt, zeigt am wahrsten demnach ein Brief an Charlotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz vom 12. September 1789, worin er die erhabene Einfachheit und die reiche Fülle der Natur preist, mit einem entscheidenden Nachsatz jedoch pathetische Subjektivität und Naturwirklichkeit ins rech e Verhältnis setzt: daß unsere Seele frei mit der Schöpfung schalte und sie alles von der Seele empfange: „Nur durch das, was wir ihr leihen, reizt und entzückt uns die Natur." Als „Herr der Natur" apostrophieren „Die Künstler" den Menschen (v. 10)23 — das ist die Haltung des über sie gebietenden und verfügenden Pathetikers. Mit erstaunlicher Folgerichtigkeit behielt Schiller diese naturfremde Meinung in der viel zu wenig beachteten Matthisson-Rezension (1794) bei. Die unbeseelte Natur, so formuliert er bezeichnenderweise, ist bloßer Stoff, ohne eigene Würde, und erst die Weise der poetischen Behandlung macht den Dichter. Nicht die wirkliche Natur darf der Dichter darstellen, sondern die durch eine „symbolische Operation" dem Menschen anverwandelte. 34 Schiller rät sogar, wie Goethe ein andermal Hölderlin, Menschen zu zeichnen, da der Mensch für die Klassik der höchste Gegenstand der Kunst ist, nicht aber die Natur, von der im Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung" zu lesen steht, daß der Dichter sie habe oder aber suche. Der Dichter unterlegt auf Grund der Analogie des menschlichen Herzens mit den Naturerscheinungen diesen seine Empfindungen. Dieser Begriff der Analogie, den das Barock gern verwendete, gibt genau an, daß die Natur nicht eigengesetzlich, nicht erfüllt ist, sondern vielmehr als Zeichen für etwas anderes steht. Die

23

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Vgl. „Würde der Frauen": Seines Willens Herrschersiegel Mann auf die N a t u r (v. 35 f.) N a t . A u s g . Bd. X X I I , S. 271.

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Natur hat die Aufgabe, das Geistig-Unsichtbare zu repräsentieren; Natur und Seele sind allegorisch verknüpft. 25 Es überrascht daher nicht, daß Schiller sein im Jahre 1795 entstandenes Gedicht „Der Abend" nach einem Gemälde und mit vielen mythologischen Namen gestalten konnte, dem Zwang der „Ut pictura poesis"Lehre allerdings glücklich entging, da er die in der Matthisson-Rezension aufgestellten Grundsätze von der genetischen Darstellung des „simultanen Eindrucks des Ganzen" 26 überlegt anwendete und das Bild in die sukzessive Zeitfolge auseinanderfaltete. Wenn Schiller am 21. September 1795 Körner mitteilen kann, daß die poetische Bewegung seiner „Elegie" („Der Spaziergang") nach „strenger Zweckmäßigkeit" fortschreite, so läßt schon dieser Hinweis vermuten, daß sogar in diesem Weihegesang auf die ewig-eine Natur, die wandellos im raschen Wechsel der Kulturen verharrt, diese weniger als eigener poetischer Gegenstand denn als Sinnund Gegenbild des heillosen menschlichen Treibens erscheint.27 In der Tat dient der anschauungsgesättigte Anfang dazu, zum Gleichnis von Natur und früher Kultur aufzusteigen 28 ; der Übergang von der natürlichen zur künstlichen Natur bedeutet einen Übergang der Anschauung in die visionäre Betrachtung der triadisch ablaufenden Kulturzyklen. Nirgends sonst atmet Schillers Lyrik ein ähnlich glückliches Verhältnis zur warmen und bergenden Natur — das Gesetz der pathetischen Dichtung erfüllt sich dennoch auch hier: daß die poetische Konzeption vorgegeben, die Natur der Anreiz und das Ziel ist, bedeutsame Gedanken zu entwickeln, wie vollkommen daneben das Gleichgewicht von Anschauen und Abstraktion auch gewahrt sein mag.29 Über die Natur als Antithese zum Gedanken der Freiheit wie über das spezifische Naturverhältnis, das nach Schiller die elegische, satirische und idyllische Gattung bestimmt, braucht nicht gesprochen zu werden. Der Weg zwischen den Polen begeisterter Naturverehrung und äußerster Entfremdung wird mehr als einmal von ihm durchmessen. In der Zeit seiner klassischen Reife warb er um die Natur, wie sie Goethe erfüllte, dessen Ziel seit der italienischen Reise darin bestand, die Natur gleichsam von innen her nachzuschaffen, nachdem das jugendliche Erlebnis, das 25 28 27 28

211

Vgl. das Kapitel über das Allegorische, S. 97—109. Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 274. Vgl. Fr. Beißner, Gesch. d. dt. Elegie, S. 144 f. und S. 190. Von der Bergeshöhe aus blickt der Dichter visionär über die Gefilde der Kulturgeschichte — in der jugendlichen „Herrlichkeit der Schöpfung" hingegen erfüllt die ausgebreitete weite Natur den wieder von oben Schauenden derart, daß er sich aufgehoben fühlt über Länder und Meere. Was in der Jugend trunkene Phantasie ist, ist in der Reifezeit geschichtliche Schau. Vgl. Goethes Brief an Schiller vom 6. Oktober 1795.

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eigene Herz als Herz der Schöpfung zu fühlen, verklungen war. Schiller besaß keinen Naturglauben, und ein Gefühl pflanzenhaften Wachsens der äußeren wie der seelischen Welt blieb ihm dauernd versagt. Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, steht in der Vorrede 30 zur „Braut von Messina", das heißt zugleich: die Natur ist kristallisierter Geist, die Idee ist allegorisch umhüllbar. Wer Schillers Stil deutet, darf daher nicht übersehen, daß eben diese naturfremde Haltung sein eigentümliches Pathos bedingt. Die Natur als ein Teil der dualistisch erfahrenen Wirklichkeit ist dichterisch verfügbarer Stoff, dem sich das selbstbestimmende Denken aufprägt. 31 Hegel sah etwas Wesentliches, als er schrieb: Es kann „das Äußre, die Naturumgebung und ihre Scenerie nur als untergeordnetes Beiwerk auftreten, um die Wirkung des Pathos zu unterstützen" 32 . Voraussetzung des eigenen, des pathetischen Stils ist, was im Vergleich mit Goethes Lyrik als Mangel erscheint, — ein, wenn man will, „notwendiger Fehler", falls jener Ausdruck benützt werden darf, mit dem Lessing seine „Miß Sara Sampson" im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie vor unverständigen Kritikern verteidigte.

30 31

32

Säk.Ausg. Bd. XVI, S. 121. In einem Brief an Körner vom 23. November 1795 charakterisiert Humboldt Schillers „Alleinherrschaft des Geistes selbst in der Art, wie die Natur auf ihn einwirkt". Hegel a.a.O., S. 314.

DIE PATHETISCHE H Ö H E N D I M E N S I O N Falls es erlaubt ist, ein Paradoxon zu formulieren, so könnte man sagen, daß eigentlich nur der Gegensatz zur Wirklichkeit es ist, der den Pathetiker mit ihr verbindet. Nicht das Irdische in seiner erscheinenden Vielfalt hält ihn fest, sondern vielmehr der Drang, dieses zu verändern oder gar zu überwinden. Die Sehnsucht des Pathetikers geht über die enge Wirklichkeit hinaus, führt nach oben, in die Höhe. Die Höhe ist die eigentliche, die ihm wesensgemäße Dimension. Die eingangs beschriebene Leidenschaft für Größe ist mit der Höhe verbunden — die Aspekte, unter denen das Pathos in der vorliegenden Arbeit betrachtet wird, überlagern sich hier, wie sie sich notwendig ergänzen, um eine geschlossene Darstellung zu gewährleisten. Wie zur „Größe" die „Höhe" tritt, so findet sich neben der dynamisch-antithetischen Grunddisposition, von welcher das letzte Kapitel handelte, die kosmische Auflösung jener inneren gefühlten Unendlichkeit ein, der die Wirklichkeitsenge keinen Raum bietet. Und der Zusammenhang der Höhendimension mit dem Drang zur Transzendenz, von dem im nachfolgenden Kapitel zu reden sein wird, sei mit Schillers Worten angedeutet, daß der „Trieb zum Absoluten" den Menschen erfülle, indem vor seiner Imagination „das Unendliche aufgeht" 1 . Schon von Anfang an drückt sich in Schillers Lyrik dieser Drang „nach oben" aus. Im „Abend"-Gedicht wünscht er, zu Gott emporzufliegen und „über Sphären, himmelan, gehoben" (v. 13) zu sein. Die vielen Selbstdeutungen bestätigen, wie sehr es als wesenseigen empfunden wird, über der Welt und den Dingen zu sein. Im „Vorwurf an Laura" beispielsweise bezeichnet Schiller sich selbst als „Adler" (v. 26), der auf „Adlerpfaden" zur Gottheit flog (vgl. v. 13) und „jenseits dem Kozytus" (v. 16) schweben wollte. In der „Herrlichkeit der Schöpfung" lauten die Verse 15—17: In dieser Ansicht schwamm vom Bröken oben Mein Auge trunken, als ich aufgehoben Mich plözlich fühlte . . . 1

Vgl. den 24. der Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen", Säk.Ausg. Bd. XII, S. 95.

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Der Standort ist auf einem Berg gewählt, und die den Aufschwung ermöglichende Bedingung ist das große, das „trunkene" Gefühl. Die Naturbetrachtung dient dazu, das Gefühl zu entzünden, das sich nach oben sehnt. Immer mehr entfernt sich alsdann der Flug von der Erde: Zunächst weichen „schimmernde Königesstädte zurük" (v. 24), Berge und Meere, bis, „in den saphirnen Höhen" (v. 31), Raum- und Zeitgefühl ineinander übergehen, da sie immer ungegenständlicher werden und dem Schwebenden der Frühling entgegenweht (v. 35). Die Phantasie ergänzt, was sich dem Auge entzieht, welches der Pathetiker vernachlässigt.2 Die Übermacht des Erlebens beschränkt die Möglichkeit des Schauens, wie sie auch die Sprache überfordert: „O welch Gesicht! Mein Lied! wie könntest du es sagen . . ( v . 39). Fugenlos und unbekümmert vollzieht sich der Übergang vom wirklich Sichtbaren zum visionär Erlebten. Vom Nahen geht die dichterische Bewegung sogleich zum Entferntesten, wie sie auch leicht von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion geht. Raum und Zeit — am einen soll sich die Grenzenlosigkeit des anderen entfalten, beide haben sie einen wirklichen und einen ideellen Wert. Wenn auch die „Unendlichkeitsdichtung" des jungen Schiller eine bloße Projektion anthropomorpher Begriffe ins Kosmische zu sein scheint, so sei doch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Unendlichkeit des Raums nicht nur der Spiegel der pathetischen Imagination ist, sondern auch eine neue, dem Barock unbekannte Qualität, die der Erfahrung des Absoluten dient. In der noch der Karlsschule zuzurechnenden „Hymne an den Unendlichen" wird in der ersten Strophe der dichterische Standort „zwischen Himmel und Erd" gewählt: Zwischen Himmel und Erd, hoch in der Lüfte Meer, In der Wiege des Sturms trägt midi ein Zakenfels Wolken thürmen Unter mir sich zu Stürmen, Schwindelnd gaukelt der Blik umher Und ich denke dich, Ewiger. 2

„Eine Fantasie" nennt Schiller diesen Hymnus in bezeichnender Weise. Phantasie bedeutet in der Aufklärungszeit auch Einbildungskraft und damit das „exakte Vermögen, Gedanken in hohen Empfindungen auszusagen" (Ernst Müller a.a.O., S. 272). Diese Relation ist zu beachten, wenn immer wieder gesagt werden muß, daß sich Schillers Pathos an Gedanken ebenso wie an Empfindungen, an bloßen Möglichkeiten ebenso wie an Wirklichkeiten entzünden könne. Im übrigen schließen sich die unfesten Begriffe („Gedanke", „Empfindung") nicht aus; vielmehr gehen sie fast ineinander über: Wie für Klopstock der Gedanke versinnlicht ist, so ist für den jungen Schiller die Empfindung rationalisiert. Dieses Verhältnis zeigt Herders „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele" (1778), wo es gegen Ende heißt: „. . . wie fein ist die Ehe, die Gott zwischen Empfinden und Denken in unserer Natur gemacht hat."

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Schon die Überschrift drückt das den Gott Klopstodts am vornehmsten kennzeichnende Attribut der Unendlichkeit aus. In der Unendlichkeit des Raums wird der Unendliche angemessen zu erfahren gesucht. Die beiden nachfolgenden Strophen verdeutlichen noch stärker, wie sehr die Ergriffenheit durch den unendlichen Gott der ungeheuren, der großen Natur und des Gewittersturms als „Spiegel" seines Wesens bedarf. Der Gott erscheint nicht auf morgendlich glänzenden Wolken, eine ganymedische All-Sehnsucht zu stillen — in der Zeichenschrift des Blitzes gibt er sich der geängstigten kreatürlichen Demut zu erkennen, die dem autonomen Selbstgefühl des Pathetikers, das diese Situation erzwang, geradezu entgegengesetzt ist. Wie die von Klopstock für die „aufsingende" odische Dichtung eroberte unendliche Höhendimension von Schiller als Gegenstand übernommen wird, zeigt andererseits das kühne Gedicht „Die Gröse der Welt" 3 . Schon der Ausgangspunkt liegt außerhalb der engen Wirklichkeit. Der Flug der Einbildungskraft soll zum „Markstein der Schöpfung" (v. 6) führen; nach einem neuen Einsatz drängt er weiter „zum Reich des Nichts" (v. 13). Der Raum, von den Grenzen her erlebt, soll in seiner unendlichen Ausdehnung durchmessen und dichterisch bewältigt werden. Von der Größe des Raums hat sich die Größe des personhaften Schöpfers fast abgelöst. Was anfangs noch Transzendenz ist, nimmt die pathetische Imagination allmählich in ihre Welt auf, um sie schließlich als Bedingung der pathetischen Formen vorauszusetzen. Diese Beispiele mögen genügen. Sie sollten zeigen, daß die Schwerkraft für den Pathetiker nach oben zu wirken scheint4 und er gleichsam in der Höhe verankert ist, wo das für ihn Wesentliche sich befindet. 5 Die dichterische Gebärde Schillers ist nach oben gerichtet. Alle Bewegung 3

Vgl. die Interpretation der „Gröse der Welt", S. 132—35.

4

Ein schönes Beispiel für diese „ antigrave" Tendenz ist Schillers Beschreibung der Apollo-Statue im Mannheimer Antikensaal: „Die Statue schwebt . . . alle Muskeln wirken aufwärts, und scheinen sie sichtbar emporzutragen" (Säk.Ausg. Bd. X I , S. 104). Dieser Wesenszug Schillers wurde immer wieder hervorgehoben: Von Schillers Christustendenz sprach Goethe, und Grillparzer schrieb, daß Schiller nach oben gehe, während Goethe von oben komme. Vgl. auch Friedrich Beißner: Schillers dichterische Gestalt, in: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955, S. 158: „Größe hat verschiedene Dimensionen. Schiller gehört wie keinem andern die steile Höhe, die adelig aufgereckte Gebärde des schwerelosen Aufflugs."

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Theophil Spoerri: Der Weg zur Form, 1954: „So ist die Vertikale die Linie der Werte: der Himmel ist oben, die Hölle ist unten" (S. 44). „Unser Wertgefühl drückt sich am elementarsten im Höhentrieb aus" (S. 116). (Dazu auch B. Brecht in „Trommeln in der Nacht": „Im Sitzen gibt es kein Pathos.")

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fließt aufwärts. Wenn die Größe heischende Gebärde, die im ersten Kapitel besprochen wurde, sich vornehmlich der Hyperbeln bedient, ihr übermächtiges Verlangen auszudrücken, so verlangt die nach oben gerichtete als Träger des ausdruckssteigernden Verlangens Komparative und Klimakes. Diese Höhe, diese „Adlerperspektive" des Pathetikers bestimmt seinen Stil: Er verliert sich nicht an die verwirrende Vielfalt der Dinge; diese verbleiben in weiter Ferne. Über den Dingen zu sein, bedeutet, befreit zu sein von den irdischen Verflechtungen® und jene herrsdierliche Übersicht zu haben, die der Pathetiker benötigt. Es ist bekannt, wie der reife Schiller bestrebt war, den Stoff zu unterwerfen und ihm seinen Formwillen aufzuprägen. Die Höhe gewinnt dabei als Standpunkt über den Dingen einen symbolischen Wert.7 So ermahnt in direkter Anrede Schiller die Künstler (im gleichnamigen Gedicht), „zum Strahlensitz der höchsten Schöne" zu schwingen (v. 460) und sich „mit kühnem Flügel" hoch über den Zeitenlauf (vgl. v. 466 f.) zu erheben. Wie er selbst diesen Standort über den Dingen einzunehmen gewillt war, zeigt in schöner Weise das 1795 verfaßte Gedicht „Der Tanz", in dem der Dichter, wie ein Zuschauer in der Galerie, über den Tanzenden steht und ihren Tanzfiguren Ordnung und Maß entnehmen kann. 8 Der jugendliche Pathetiker löst sich von den Dingen. Vor der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen bewahrt das als Einheit in der Imagination erfaßte Universum: Was in der Wirklichkeit getrennt ist, * In Übereinstimmung dazu stehen die-Sätze aus dem Aufsatz „Über das Erhabene": „Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer H ö h e n , der weite O z e a n zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen Geist der engen Sphäre der Wirklichkeit und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens" (Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 274). Diese Befreiung ist in der Jugend als Befreiung des unendlichen Gefühls verstanden. 7 Emil Staiger stellt in seinen „Grundbegriffen" fest: „Das Pathos ist erhaben. Die H ö h e erscheint als Wesenszug" (dritte Auflage, 1956, S. 151). Diese Gleichung von H ö h e und Erhabenheit gilt nur f ü r den klassischen Schiller. Die H ö h e ist z w a r ein Strukturmerkmal und Voraussetzung des e r h a benen Pathos, dodi nichtsdestoweniger auch mit dem jugendlichexpressiven verbunden. 8 In übertragener Bedeutung ist die „ H ö h e " auch sonst zu beobachten. Über „Das Glück" schrieb Körner am 22. August 1799 bewundernde Worte und pries dabei „den hohen Standpunkt, aus dem das Ganze gedacht ist". — Vgl. auch die Ausführungen über die Sentenz und die Apostrophe. — Wie die H ö h e auch die Möglichkeit hat, „Fallhöhe" zu sein, beweist „Das Geheimniß der Reminiszenz": „ . . . P o c h e siegend an des Himmels Schwelle / — T a u m l e rük zur Hölle" (v. 109 f.), und der „ V o r w u r f " (v. 34 ff.). Was diese Verse räumlich ausdrücken, h a t auch übertragen Bedeutung: Die polare Aussagebewegung des jugendlichen Pathos schwingt vom Erhabenen zum Gewöhnlichen, v o m Sinnlichen zum Abstrakten, vom Überhitzten zum Nüchternen. Elevation u n d Resignation — die Extreme lösen einander ab.

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schaut er in seinen Bildern zusammen. Die pathetische Imagination verliert sich nicht im Unendlichen, da sie das Heterogenste, das Größte und das Kleinste, in einem Griff zusammenfaßt: Das Sonnenstäubchen wird den Sphären beigefügt. Auf das Ganze ist die Vorstellungsweise gerichtet, auf den Totaleindruck, der bei Schiller alle gewohnten Maße überschreitet. Man braucht sich nur seiner Plurale zu erinnern: der Sonnen, der Welten, seiner Zahlwörter auch, um einzusehen, daß seine eigentümliche Metaphorik einen raumentfaltenden Charakter hat. 8 Schillers „individuelle Kombinationsweise" (Dilthey), über die noch gesprochen werden muß, benötigt diese All-Vorstellungen, um das Endliche an das Unendliche knüpfen zu können. In der „Freundschafts"-Dithyrambe beispielsweise ist das Sternensystem in einen psychischen Vorgang hineingenommen: Auf Grund einer echt pathetischen Analogie entspricht der seelische Bezug zweier Freunde der korrespondierenden Bewegung der Sphären. Die von der kosmischen Phantasie des Pathetikers entworfene Unendlichkeit gewährt die notwendige Parallele für die irdischen Vorgänge. Nochmals sei „Die Gröse der Welt" herangezogen, um neben der Unendlichkeit des Raums und dem bildhaften Totaleindruck auf die Bewegung, die „Schnellkraft", wie sie Lavater forderte, aufmerksam zu machen, die darin vorherrscht: „Anzufeuren den Flug weiter zum Reich des Nichts, / steur' ich muthiger fort, nehme den Flug des L i c h t s . . . " (v. 13 f.) Die grenzenlose Weite ist die Bewegungskraft; für den pathetischen Weltenschwung. Schon oft wurde angemerkt, mit welcher Hast die Personen in Schillers Jugenddramen ihre Funktionen erfüllen. 10 „Bewegung", ein Lieblingsbegriff Klopstocks und mit dem der „Aktion" verwandt, wurde von den „Stürmern und Drängern" als wesenseigen übernommen. 11 Die eigene Bewegung soll die der Zeit überspringen — Bewegung, innere Bewegung, die sich unmittelbar nach außen zur Darstellung bringen soll, herrscht in den „Laura"-Gedichten, in der „Freigeisterei", deren Gefühlsausbrüche als Bewegungs-Abläufe festgehalten sind; Bewegung bedingt den schnellen Wechsel der Gemütszustände, die ohne * Herbert C y s a r z : Schiller, 1 9 3 4 , S. 43, schreibt: „Auch Schillers Pathos ist ja eine raumschaffende K r a f t ; das W o r t erzeugt oft weniger den Inhalt als den R a u m dieses Inhalts." 10

Erinnert sei an den Mohren im „Fiesko". — „Bewegung" als eines der G r u n d w o r t e der Jugend dient nodi später zur Bestimmung des Dramatischen, da Schiller die H a n d l u n g unter das „Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens" stellt. D e r den Menschen bindende sukzessive A b l a u f der Zeit soll übergangen werden.

11

S o erzeugt das „Haudern" „ekles Schwindeln" in Goethes D i t h y r a m b e „ A n Schwager Kronos".

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genügende Begründung bleiben.12 Die Bewegung der Gedichte läßt weder logische noch syntaktische Entgegensetzungen zu, sie entwertet die Einzelwörter, hüpft von Vers zu Vers, von Vorstellung zu Vorstellung und begründet die gattungsbestimmenden saltus dithyrambici. Damit hängt auch zusammen, daß Imagination und Reflexion dauernd ineinander übergehen und den einheitlichen Ton stören. „Hier ist der Ausdruck lyrisch und episch, dort gar metaphysisch, an einem dritten Ort biblisch, an einem vierten platt." 13 Der rasche Ablauf der Bewegung entläßt die Bilder unausgeführt. Einfühlsam hat Hugo von Hofmannsthal Schiller charakterisiert: „Kein Deutscher ist wie er so ganz Bewegung. Sein Adjektiv ist wie in der Hast des Laufes errafft, sein Hauptwort ist der schärfste Umriß des Dinges, von oben her im Fluge gesehen; alle Gewalt seiner Seele ist beim Verbum. Sein Rhythmus ist andringend, widerstrebend, sein Entwurf kühn und groß . . . " u Da Bild und Rhythmus als Ausdrude der inneren wie der äußeren Bewegung später noch dargestellt werden sollen, mögen diese Andeutungen genügen. Welchen Anteil die Schillers pathetischer Lyrik voraufgehende Anschauung des Unendlichen hat, läßt sich vom Negativen her besonders deutlich illustrieren. Wie kann das Unendliche, das, nach einem Wort des Novalis, dem Geist am leichtesten erreichbar ist, dichterisch dargestellt werden? In der „Gröse der Welt" leisten dies der Weltenschwung und das Gespräch der einander begegnenden Weltenfahrer. „Schwindelnd gaukelt der Blik umher", lautet der fünfte Vers der „Hymne an den Unendlichen", womit angezeigt ist, daß der Widerspruch der unendlichen Ausdehnung mit dem Gefühl, das des Gegenständlichen nicht entraten kann, Schwindel und Angst wie in Hallers „Hymne über die Ewigkeit" ergibt. So ist die „leere Unendlichkeit", wie sie Schiller nennt, Ausdruck des allverlangenden, aber auch ungegenständlichen Gefühls, das nur sich in seiner Unbegrenztheit geben, kein Bild aber schenken kann, in dem es wiederzufinden wäre. In der Jugend ging die Sehnsucht ins Ungebundene, die Grenzen zu überfliegen (vgl. „Melancholie" 12

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Den raschen Wechsel der inneren Bewegtheit zeige eine Stelle aus dem „Vorwurf an L a u r a " : Nachdem über viele Strophen hin der Verlust der Jugendkraft wegen Lauras „losen" Wesens beklagt worden ist, genügt am Schluß die Frage, ob sie ihm wieder ein Lächeln schenke, um alles vorher Gesagte sofort zu w i d e r r u f e n : „Nein! nichts hab ich verloren!" (v. 67). — Mit der überkräftigen äußeren und inneren Bewegung und deren überraschenden Wechseln hängt auch die sorglose Motivierung zusammen, die in seinen D r a m e n oft zu beobachten ist. Vgl. die Selbstrezension der „Räuber", Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 130, und den wichtigen Brief an Körner vom 15. April 1786. H u g o von H o f m a n n s t h a l : Gesammelte Werke, hrsg. von H . Steiner, Prosa II, 1951, S. 181.

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v. 83 f . : „ K ü h n durchs Weltall steuern die G e d a n k e n , / Fürchten nichts — als seine S c h r a n k e n " ) ; darüber v e r s ä u m t e die v o n nichts gehaltene I m a g i nation, die sinnliche Anschauung zu kräftigen. Wie „ d a s D u n k l e f ü r das Tiefe, das Wilde f ü r das K r ä f t i g e " , so w i r d auch „ d a s U n b e s t i m m t e für das Unendliche g e n o m m e n " 1 5 . D i e G e f a h r der A b s t r a k t i o n , der Schillers L y r i k oft nicht entging, liegt nahe, und die lebenslange Mühe, sich d a v o n zu befreien, bezeugt, wie sehr er bedacht w a r , v o m A l l g e f ü h l zur R a u m gestalt zu gelangen, an der er als Lehrling Goethes und der Griechen später seine Dichtung maß. Seinem unendlichen R a u m , dessen Wesen er in der. J u g e n d gestalten wollte, fehlen beispielsweise die H ö l d e r l i n s Welt bestimmenden K r ä f t e , d a ihm weder B e r g e noch S t r ö m e noch der Äther jemals mythische E r f a h r u n g e n wurden. D i e K r ä f t e , die sein dichterisches U n i v e r s u m erfüllen, sind ins G r o ß e gesteigerte Ü b e r t r a g u n g e n eigener gefühlshafter V o r g ä n g e — sei es die Liebe, die Freundschaft o d e r die Freude. Ebenso fehlt Schillers R a u m der A b g r u n d , auch wenn er, w i e in der „ F r e u n d s c h a f t " , A n f a n g , H ö h e und E n d e und im „ T r i u m f der L i e b e " sogar den O r k u s als fixe K o o r d i n a t e n seiner L y r i k setzt. Selbst „ D i e G r u p p e aus dem T a r t a r u s " ist reines S t i m m u n g s b i l d , eine wenig zeitgemäße W i r k u n g einer Lesefrucht wie die F r a g e in der „ F a n t a s i e " , ob nicht auch in der H ö l l e „fürchterliche S y m p a t h i e " (v. 4 6 ) herrsche. E i n e a u s g e p r ä g t e Eigenheit muß mit einem M a n g e l erkauft w e r d e n ; verallgemeinernd k a n n gesagt werden, d a ß Schillers L y r i k die geistig-sinnliche Tiefendimension fehlt, die seine D r a m e n - H e l d e n im A b g r u n d des verf ü h r b a r e n H e r z e n s besitzen. D a Schillers unendlicher R a u m als Seelenr a u m nicht eingefühlt u n d nicht vergegenständlicht werden k a n n , haftet ihm die Leere des reflektierenden V e r s t a n d s an, z u m a l d a seine I m a g i nation nicht weniger geschärft ist als sein erkennender Verstand. A n die Stelle des Gegenständlichen muß der Ausdruck des megalopsychischen Subjekts treten. S o bleibt seiner expressiven J u g e n d l y r i k das Elementare, das „ F e u e r v o m H i m m e l " verwehrt, von dem H ö l d e r l i n an Böhlendorff a m 4. D e z e m b e r 1801 schrieb. D e n entscheidenden E i n w a n d gegen die „ K u n s t des Unendlichen" f ü h r t e Schiller selbst aus in seiner A b h a n d l u n g „ Ü b e r n a i v e u n d sentimentalische D i c h t u n g " . Sieben J a h r e z u v o r , a m 15. A p r i l 1788, h a t t e er in einem Brief an K ö r n e r auf J u l i u s , den alltrunkenen J ü n g l i n g seiner „Philosophischen B r i e f e " , angespielt und gemeint, es sei bei ihm wohl 15

„Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen" heißt bezeichnenderweise der Aufsatz, dem dieses Zitat entnommen ist (Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 140). Vgl. auch die dort vorgenommene Unterscheidung des Begriffe beachtenden Verstands und der Imagination: „Die Imagination liebt in ihren Zusammensetzungen Freiheit, und erkennt dabei kein anderes Gesetz als den Zufall der Raum- und der Zeitverknüpfung" (S. 124).

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„individuell", daß sich sein Julius gleich mit dem Universum eingelassen habe. Als nun der reife Schiller, der die Griechen und Goethes „ins Reale verliebte Beschränktheit" 1 6 kennengelernt hatte, die Dichtungsarten in zwei große Gruppen teilte, fühlte er sich veranlaßt, die „ K u n s t des Unendlichen" der neueren Dichtung allgemein zuzuweisen und sie in Gegensatz zur gerühmten und jetzt nachdrücklich erstrebten „ K u n s t der Begrenzung" Homers zu stellen. 17 Als Hauptvertreter dieser philosophierenden „ K u n s t des Unendlichen" wird Klopstock genannt, dessen Sphäre immer das Ideenreich sei: „Ins Unendliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüberzuführen." 1 8 Die „übersinnlichen S t o f f e " der modernen sentimentalischen Dichter bringt Schiller in einseitigen Zusammenhang mit ihrem vorherrschenden Gefühl fürs Unendliche, wobei sich das Merkmal ergebe, daß sich die Phantasie vor die Anschauung, die Denkkraft vor die Empfindung dränge. 1 " An Haller, dem anderen Protagonisten der philosophierenden sentimentalischen Dichtung, wird gerügt, daß er nie den Gegenstand selbst gebe, daß ihn vielmehr seine Distanz zu den Dingen und Vorgängen zur Reflexion verleite und er schließlich noch die Belehrung vor die Darstellung rücke. 20 Gegen die Romantik w a n d t e Schiller später ein, das Universum könne man nicht lieben und nicht darstellen, da das H e r z ein Bild von der Phantasie fordere. 2 1 Der klassische Schiller suchte daher seiner lyrischen Dichtung Gestalt zu geben, deren Wesen und Notwendigkeit ihm an der griechischen Plastik aufgegangen war. In die zeitliche Bewegung des Gedichts sollte die räumliche Tiefendimension treten, die dem lyrischen Verfließen wie der leeren Abstraktion entgegensteht. Hexameter und Pentameter verhalfen dazu. Als Zuschauer in der Galerie nahm er sich selbst im „ T a n z " aus der Bewegung heraus, die, als strengbegrenztes reines Bild, gleichnishaft die bewegliche Ordnung des Lebens darstellt. Doch in der Jugend galt f ü r ihn, den „Bürger des Universums", was er in der „Würde der Frauen" dem Manne allgemein zuwies: Er „schwingt sich in des Himmels Weite, / U n d verliert der Erde S p u r " (v. 183 f.). Wie sehr ihn indessen das Problem beschäftigte, seine Imagination zu vergegenständlichen und zu verkörpern und den Menschen an sich im belebten R a u m zu beheimaten 2 2 , beweist die Vielzahl von Hinweisen, die " 17 18 19 20 21 22

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Goethe an Schiller, 6. M ä r z 1801. S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 191. S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 211. S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 206. S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 207. Vgl. F r i t z Strich: Deutsche K l a s s i k und R o m a n t i k , 3. A u f l . , 1928, S. 317. M a n erinnere sich auch an H u m b o l d t s „Theorie der B i l d u n g " , die ähnliche G e d a n k e n über die V e r k n ü p f u n g des Ich mit der Welt darlegt. K e l l e r , Schiller

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er diesen Problemen widmete: Zu Beginn des neunzehnten der „Briefe über die ästhetische Erziehung" heißt es: „Wir müssen die Gestalt im endlichen Raum begrenzen", und an anderer Stelle führt er aus, „daß alle Form nur an einer Materie, alles Absolute nur durch das Medium der Schranken erscheint"23. Nur durch Beschränkung ist die Wirklichkeit zu erfassen. Jeder Raum muß begrenzt, jedes Zeitganze geteilt, jede Empfindung aber vergegenständlicht werden, da sie vom klassischen Dichter dem Inhalt nach nicht dargestellt werden darf. Daß überdies das Unendliche die Endlichkeit konstituiert, ist ein wesentlicher Gedanke des reifen Schiller, der ihn die Mythologie dichterisch verwenden ließ, da diese einen unendlichen Sinn in einer individuellen Gestalt birgt. Die klassische Lyrik setzt das Unendlichkeitspathos voraus: Die Distanz bedeutet jetzt „mildernde Ferne" zum Affekt; die Höhe bedeutet Herrschaft über den Stoff; die Unendlichkeit ist einem geistigen Hintergrund gleich, auf welchen das Einzelne, das Beschränkte, bezogen wird. Mit großartiger Dialektik definiert Schiller die Position des Dichters, der in der Welt über der Welt ist: „Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler: daß er sich über das Wirkliche erhebt und daß er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. Wo beides verbunden ist, da ist ästhetische Kunst." 24 Der Jugendlyrik war diese Verbindung noch nicht gegeben. Nur das eine war ihr jeweils ganz möglich. Versetzte sie sich in die Wirklichkeit, so mußte sie sich entgegensetzen; erhob sie sich über die Wirklichkeit, so war sie über jede Beziehung zu ihr erhaben. Wie sehr daneben selbst dem Sinnlichen ein entschiedener Wille zum Transzendieren eigen ist — davon handelt das nächste Kapitel.

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Säk.Ausg. Bd. XII, S. 43. An Goethe, 14. September 1797.

DER PATHETISCHE TRANSZENDIERUNGSDRANG Ein gleichnishafter Charakter kommt dieser aufwärtsgerichteten Tendenz zu, denn sie ist ihrem Wesen nach der Ausdruck dafür, daß das Transzendieren 1 der endlichen Subjektivität des Pathetikers notwendig zugehört. In den Stilformen der Ekstase will sich der Augenblick verewigen und das Irdische ins Überirdische erhöhen. Da das Wesen des transzendierenden Pathos skizziert werden soll, braucht nicht der ganze Kreis der „Laura"-Gedichte abgeschritten zu werden; und da sich in diesen merkwürdigen Liebesgedichten viel Gemeinsames findet, genügt es für unseren Zusammenhang, das Typische an einem einzelnen Gedicht herauszuarbeiten. Die mit „brennender Phantasie und allzu unbändiger Imagination" 2 verfaßten Gedichte widerstreben allerdings dem Zugriff der beschreibenden Prosa, denn was dem exaltierten Pathos möglich ist, hört sich hier recht wunderlich an. In den „Seeligen Augenbliken" 3 , die Stäudlin um zwei Strophen (v. 31—36 und v. 43—48) verkürzt und damit verstümmelt hatte, schildert der Dichter eingangs den übermächtigen Eindruck, den Laura bewirkt. Dem Anruf schließt sich sogleich der Transzendierungsgedanke an: „Laura, über diese Welt zu flüchten / Wähn ich — . . . " Dessen Begründung wird nachgetragen: sind es in der ersten Strophe Lauras Blicke, die das anaphorische „wenn" anführt, so sind es in der zweiten ihre „Silbertöne" und in der dritten ihre Tänze. Zu der ersten Empfindung (— „über diese Welt zu flüchten" —) fügen sich immer neue Vorstellungen, die das von Laura ausgelöste Gefühl versinnlichen wollen: „Ätherlüfte", „Leyerklang" und „Harfenschwung" werden, von fernher rührend, beschworen. Die Vorstellungen werden von Strophe zu Strophe intensiver; sie sind alle auf das pathetische Subjekt bezogen und beherr1

Vom „Transzendieren der Poesie" spricht Max Kommerell: Gedanken über Gedichte, 1943, S. 431 ff., allerdings unter Einschränkung auf die freirhythmischen und priesterlichen Formen der Dichtung.

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Vgl. die Selbstrezension der Laura-Gedichte, Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 133. Noch in einem Brief an Körner vom 27. Mai 1793 nennt Schiller dieses Gedicht eines seiner fehlerfreiesten.

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sehen es völlig (vgl. v. 9: „Ras' ich in mein trunken Ohr zu ziehn"). War anfangs noch ein „irrealer" Aussagemodus („wähn ich", „träum" ich") eingehalten, so werden im Fortgang der pathetischen Steigerungen die Vorstellungen „wirklich": „Amoretten seh ich Flügel schwingen, / Hinter dir die trunknen Fichten s p r i n g e n . . . " (v. 13 f.). Lauras Liebesgefühl wird in wachsender Intensität vorgestellt — im Marmor sogar vermöchte sie es zu objektivieren. Von dieser Höchststufe der lebenschaffenden Liebeskraft aus setzt das Gedicht in der fünften Strophe neu ein und überflutet die Grenze zur nachfolgenden hin. Die Emotionen erreichen die Peripherie des Sensoriums; die „Seelen wie entbunden", schwingen sich auf, „der Endlichkeit vergessen". Wie das Leben im äußersten Schmerz um den jungen Toten nur paradox ausgedrückt werden konnte, so ist der ekstatische Affekt nur in Oxymora angemessen aussagbar: „Qualentzüken Paradisesschmerzen! " (v. 31). Die Gedankenstriche bezeichnen die Pausen des Bewußtseins; andere Empfindungsdaten hält der dichtende Mediziner genau fest, denn er sucht „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen" 4 . Nichts Intimes wird verschwiegen: das Unsinnliche wird noch leidenschaftlich versinnlicht. Schillers Jugenddramen lehren, daß er das Amt des Dichters mit dem eines Seelenforschers gleichsetzte und die Schaubühne zu zeigen bestimmte, wie „das menschliche Herz auf der Folter der Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet"5. Der Körper hat die extremen Seelenzustände zu vergegenständlichen6, und die sechste und siebte Strophe der „Seeligen Augenblike" erinnern an den Schluß der medizinischen Dissertation, daß Lust wie Schmerz auf die Auflösung des Menschen hinzielen. Unter der Herrschaft der Empfindung ist der Pathetiker „außer sich"7; dem äußer-

4

Nat.Ausg. Bd. III, S. 5.

5

Säk.Ausg. Bd. X I , S. 91.

' Der Mediziner Schiller zerlegt die Liebe in ihre physiologischen Vorgänge und versucht die körperlichen Abläufe mit vielen Umschreibungen zu erfassen. So können im „Geheimniß der Reminiszenz" die Geister ( = die Gefühle) dem Meister ( = dem ordnenden Verstand) entlaufen (v. 11 ff.), die Seelen durdi meineidige Vasallen ( = die personifiziert gedachten Körper, die den Bund von Leib und Seele nicht einhielten) verkauft werden, diese Seelen aber auch „mit des Staubs Tyrannensteuer pralen" ( = da sie sich vom Körper, der sie gefangenhielt, befreiten) (vgl. v. 116 ff.). In der „Melancholie" (v. 91 und 92) ist das Leib-Seele-Verhältnis als „kühnste Harmonie" bezeichnet, die vom „Saitenspiel" zerstört werden kann. Die dichterische Genialität verzehrt ihren Träger. 7

Vgl. den 12. Brief „Über die ästhetische Erziehung", in welchem Schiller diesen Zustand beschreibt, der die Person aufhebe und sie zu einem bloßen Moment der Zeit mache.

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sten Affekt versinken Zeit und Welt. Der Vers: „Und die Welt ist. . . Nichts . . . " (v. 42), gemahnt auch an den heimlichen Triumph des Pathetikers, die Welt von sich gewiesen, mit einer imperatorischen Geste den Raum umher freigefegt zu haben. Nach der Akme ist nur noch ein „Abgesang" möglich: Anruf, Annäherung, Vereinigung und Entfernung bestimmen als Phasen des Gefühlsablaufs den Bau des Gedichts. Die im Ohnmachtstaumel erlebte „Elisiumssekunde" wird in ihrem unendlichen Wert ausgedeutet: für „tausend Monde" steht sie vielleicht. Die verfließende Zeit wird nie schmerzlicher gefühlt als nach den vergänglichen seligen Augenblicken. So drücken die Wunschsätze der Schlußstrophe mit ihrem Verlangen, die Zeit stillstehen zu lassen, die Bitterkeit aus, daß die „Elisiumssekunde" trotz ihres fast verabsolutierten Werts vergänglich ist. Was im pathetischen Transzendierungsdrang als wirklich gefühlt wurde, macht die wechselnde Zeit zu einem Traum (vgl. v. 48). Der vergängliche ekstatische Moment vertieft das Leiden an der Vergänglichkeit, wie es in den Leichen-Carmina zum Ausdruck kam. N u r für selige Augenblicke richtete sich aus der Zeithorizontale eine Vertikale auf, die den Zeitfluß zu hemmen schien. Der Zustand der Zeitlosigkeit ist bewußt erfahrbar nur um den Preis seiner Aufhebung. Entscheidend ist nun, daß die Gefühlsgröße die Bedingung des transzendierenden Aufschwungs ist, der sich in der „Elisiumssekunde" zu verewigen trachtet. Der Pathetiker bedarf demnach des intensivsten Gefühls, des totalen Engagements, denn der Transzendierungsdrang setzt eine leidenschaftliche Ergriffenheit voraus, die in die Dichtung angemessen und vergegenständlicht übertragen werden soll. Welches Unverständnis also, das jugendliche Pathos Schillers seiner Intensität und der daraus folgenden Dissonanzen wegen zu tadeln! Zu seiner Dialektik gehört, daß das Übersinnliche nur über die extremste Sinnlichkeit zu erleben ist. Zweitrangig nur ist dabei die Frage, ob das individuelle Gefühl solche Aberrationen vom Gewohnten überzeugend begründen kann. Vom Körperlichen muß sich der Pathetiker befreit haben, wenn die Seele transzendieren will; erst über viele Stufen hinweg schwingt er sich trotz des intensiven Anfangs an die dem Menschen gesetzten Grenzen. Der Vergangenheit und Zukunft am meisten zugetan, verdichtet der Pathetiker die Gegenwart in der „Elisiumssekunde". Als Form des Augenblicks, der sich aus der Zeit herausnimmt und die Trennung von Subjekt und Objekt aufhebt, kann diese pathetische Liebeslyrik bezeichnet werden. Auch der junge Goethe kannte den absolut gesetzten großen Augenblick, doch er verdichtete — im „Schwager Kronos" vor allem — das ganze weite Dasein in den hochgefühlten Augenblick und erschloß diesem das antizipierte Leben.

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Der „monumentale Moment" 8 — dieser Begriff sei gewählt, da Schiller vom Marmorbild der Zeit in den „Seeligen Augenbliken" spricht — ist ein „verfestigter", zeitenthobener Augenblick. Auf ihn spannt sich das Gefühl zu. Im „Geheimniß der Reminiszenz", dem wichtigsten Gedicht des „Laura"-Kreises, das das beliebte platonische Anamnesis-Motiv entwickelt, drängt das Verlangen nach Einssein in den Strophen 23 bis 25 ebenfalls auf die Lustsekunde (vgl. v. 126) zu, die die Geistseele freisetzt und die „Orexis" ermöglicht. Als Diebstahl jener vormals erlebten Götterstunden (vgl. v. 126) werden die Lustsekunden gewertet, die durch Enjambements als Zeichen der überwundenen „despotschen Schranken der Endlichkeit" kenntlich gemacht sind. In der Liebe, einem emotional-transzendenten Akt, einem „non plus ultra" der Empfindung, übersteigt der Liebende sich selbst. Die überweltliche und außerzeitliche „unio mystica" der Liebenden läßt Laura fast unberücksichtigt. Sie bleibt gestaltlos und unpersönlich wie ihr konventioneller Name. 8 Die Kommentatoren haben oft gerügt, daß sie kein Eigenleben gewinne; in der Tat werden nur ihre Augen, ihr Haar, ihr „Silberton", an anderer Stelle ihr Klavierspiel besonders erwähnt — und dies nur, um den für Schillers Lyrik notwendigen Nexus von Ursache und Wirkung anzugeben.10 Der Dichter verweilt nicht über ihrer körperlichen Schönheit (man vergleiche damit die barocke Dichtung, die sich nicht genug tun konnte, die Angebetete mit exotischen Reizen auszustatten, um einzusehen, wie weitläufig die Verwandtschaft Schillers zum Barock sein kann): Wird Laura als Person nicht unwesentlich über dem ungeheuren Eindruck, den sie ausübt und den darzustellen die ganze Lust des Pathetikers ausmacht? Der oft beschworene biographische Hintergrund der „Laura„-Diditung verliert vollends seine Geltung, wenn erkannt wird, daß es weder um eine „wirkliche" Liebe noch eine „wirkliche" Geliebte geht. Wenn in dem Gedicht „Laura am Klavier" der Pathetiker ausrufen kann, ob ihn Wirbel emportragen (vgl. v. 45), und er im Aufschwung Gott erfährt (vgl. v. 50), so ist damit das Wesen dieser Liebe gekennzeichnet. Als Zauberin und Herrscherin ist Laura angesprochen, als „Weltzernich8

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Vom „statuarischen Moment" spricht Kurt Wölfel, dessen ausgezeichneter Aufsatz (Pathos und Problem. Ein Beitrag zur Stilanalyse von Schillers „Fiesko", Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 38, 1957, S. 224—244) mir erst nach der Niederschrift dieses Kapitels bekannt wurde. Auch Ernst Müller: Der Herzog und das Genie, 1955, S. 284, betont, mit Laura werde keine Geliebte im persönlichen Sinn angeredet, „sondern ein Phantom, ein Idol". In Übereinstimmung dazu merkt Gerhard Storz zum „Fiesko" an: „Die Charaktere werden mit dem Gang der Handlung und mit dem Gefüge des Dramas nicht eigentlich vereinigt, sie werden vielmehr aus seiner Struktur gefolgert" (S. 74).

Der pathetische Transzendierungsdrang

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ter" („Reminiszenz" v. 26), und von ihr kann gesagt werden, was Schiller über Amalia im „Wirtembergischen Repertorium" sagte: daß sie des Außerordentlichen wegen um das Natürliche gebracht worden sei.11 Die ungeheuren Affekte, die die Amazonengleiche bewirkt, sind es, die den Dichter beständig nach der Herkunft ihrer Liebeskraft fragen lassen (vgl. „Laura am Klavier" v. 37 f.: „Mädchen sprich! Ich frage, gieb mir Kunde:/ Stehst mit höhern Geistern du im Bunde?"). Nicht aus dem Unbewußten steigt die Liebe des Pathetikers auf; ihre Wirkungen sind selbstverständlich Spiegelungen seines megalomanischen Bewußtseins, das sie auf Natur, Menschen und Dinge überträgt (vgl. „Melancholie" v. 13 f.: „Wüsten öd und schauerlich / Lichten sich in deiner Stralenquelle"). Die spekulierende „Fantasie an Laura" versteht die Liebe als kosmisches Prinzip, das die Sphären lenkt und erhält, doch gelingt es allein in der „FreundschaftsHymne", die vollkommene Analogie der individuellen und der kosmischen Kraft darzustellen. Der Pathetiker bedarf also einer Liebe, deren Größe die gewöhnlichen Maße überschreitet. Eine nur „menschliche" Liebe wäre überfordert. Der in der deutschen Seelengeschichte seit den Tagen der hohen Minne zu beobachtende Vorgang, daß durch die Liebe Erlösung von der Welt gesucht wird, beherrscht auch Schillers „Laura"-Lyrik, die kein jugendliches Glück in seinem Wechsel von Abschied und Wiederfinden schildert, sondern ihre Darstellung auf die Wirkungsgröße richtet und auf die ekstatischen Momente reduziert. Zu vordergründig ist das Verständnis, wenn der verdienstvolle Heinrich Viehoff „allenthalben nur sinnliche Begierde"12 bezeugt findet. Sinnliches und Übersinnliches gehen vielmehr ineinander über und bedingen sich gegenseitig. In einer mystischen „Einung" begegnen sich die „Seelen wie entbunden". Die Empfindung, wie sie im vorangehenden Kapitel dargestellt wurde, drängt in die Höhe; die Empfindungsintensität sucht in den „Laura"-Gedichten das principium individuationis abzuwerfen 13 und über Ich und Welt hinauszugehen. Das pathetische Subjekt bezieht Vorstellungen und Vorgänge auf sich; die äußere Welt spiegelt sein übergroßes Empfinden wider. In der „Elisiumssekunde", die „tausend Monde verpraßt", genießt sich das exzentrische Gefühl selbst. Sind „Streben" und „Genuß" die Pole des geistig-sinnlichen Drangs von Goethes „Faust", so sinnliche Spannung und Transzendierungsdrang die Agentia der Liebeslyrik Schillers. Daß der Selbstgenuß des ekstatischen Gefühls eine metaphysisch orientierte Tendenz hat, braucht nach dem Gesagten nicht mehr 11 12 13

Nat.Ausg. Bd. X X I I , H. Viehoff: Schiller's So kann Schiller an „ewige innere Hang, hineinzuschlingen, es

S. 124. Gedichte erläutert . . ., 3. Aufl., 1859, Bd. I, S. 108. Reinwald schreiben (am 14. April 1783), Liebe sei der in das Nebengeschöpf überzugehen, oder daßelbe in sich anzureißen . .

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hinzugefügt zu werden. In „Hofnung" und „Genuß" teilt die „Resignation" das Leben ein, als Spannung auf den sinnlich durchglühten Selbstgenuß des übersinnlichen Aufschwungs verstehen die entsprechenden „Laura"-Gedichte die Liebe. Der verewigte Moment, eine höhere Qualität des Augenblicks, kann nur im „Ohnmachtstaumel", im unkörperlichen Seelenmoment, erfahren werden. Theoretische Ausführungen über die Zeit, wie sie als Anschauungsform dem Bewußtsein vorgegeben ist, braudien hier nicht gemacht zu werden — genug, wenn erkannt wird, daß der für den „Sturm und Drang" hochbedeutsame Augenblick in Schillers Jugendlyrik als Zeit außerhalb der Zeit sich findet und die Spannung auf den monumentalen Moment, in Einstimmung, Vereinigung und Lösung auseinandergefaltet, den Aufbau bestimmt, ohne natürlich als konstitutiver Dreischritt in die Darstellungsform wie bei Hölderlin aufgenommen werden zu können. Allein in diesen Gedichten findet sich der unendliche Wert des Augenblicks ein — nur die „Resignation" hält in der Mannheimer Zeit nochmals die unwiederbringliche Sekunde fest, die nicht die Zeit transzendiert, sondern eigenwertig ist, da die Transzendenz nunmehr als Lebensersatz ausscheidet. Der erfüllte Augenblick kommt auch in den reifen Gedichten nicht als gegenständliches Motiv vor; so billigt der „Spruch des Confucius" (1796) der Gegenwart nur noch den Charakter des Schnittpunkts zwischen Vergangenheit und Zukunft zu. Wie nun eine eschatologisch verstandene Zukunft den pathetischen Transzendierungsdrang bedingt, wird anschließend zu zeigen sein." Nicht nur die Liebes- und Freundschaftsgedichte, auch die Leichencarmina streben, wenngleich auf andere Weise, eine „unio" an. Ist es dort der zeitlose Augenblick der „Einung", dessentwegen sich das Gedicht aufgipfelt, so wird es hier eine eschatologisch verstandene gemeinschaftliche Zukunft, auf die sich die Gedichtschlüsse hinspannen, ist es dort die Empfindungsintensität, die die Zeitenthobenheit gewährt, so wird es hier eine jenseitige Zukunft, die den Aussagezusammenhang erreicht. Die den Toten apostrophierenden letzten Verse der „Rieger"-Klage möge verdeutlichen, was gemeint ist: Dort, w o D u bei ewgen Morgenröthen Einen Lorbeer, der nie welket, pflükst, Und auf diesen traurenden Planeten Sanften Mitleids niederblikst, Dort w o D u an reine Seraphinen Dich in ewigem Umarmen schmiegst, Und bei jubelvollen Harfentönen Kühne Flügel durch den Himmel wiegst, " Daneben erscheint die Zukunft in ihrem dargelegten voluntativen und, wie im Barock, in ihrem „negativen" Charakter als „Todenflur" („Morgenfantasie" v. 41).

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Dort wo Rieger unter Edens Wonne Dieses Lebens Folterbank verträumt, Und die Wahrheit leuchtend wie die Sonne, Ihm aus tausend Röhren schäumt, Dorten sehn wir — Jauchzet Brüder — Dorten unsern Rieger wieder!!!

(v. 8 1 — 9 4 )

Die aufsteigende pathetische Bewegung entfaltet sich in diesen Versen in der Darstellung des Jenseits. Die parallel gereihten Verspaare spannen und steigern wie die Anaphern („dort"), die stets das zielstrebige Pathos einleiten, doch ist diese Steigerung nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung für den transzendierenden Übergang, der im Enjambement vor dem abschließenden Verspaar statthat. Die pathetischen Schwünge sind angesetzt, die Endlichkeit zu überwinden und die Hoffnung eines zukünftigen Wiedersehens als wirklich erscheinen zu lassen. 15 Dieser „durchgeführte Bogen", diese Antizipation enthüllt einen wesentlichen Zug des Pathos. Der Pathosbogen spannt sich auf die Grenze hin — wie der unendliche Raum die Weltenschwünge, so bewirkt die eschatologische Zukunft als eigentliche Bewegungskraft das Transzendieren. Das pathetische Subjekt weiß sich dabei zum Tatsächlichen in einem gleichen Abstand wie zum Gedachten, zum Gewünschten und Erstrebten: Im Transzendierungsdrang sollen sich die Trennungen aufheben. Die Länge der pathetischen Gedichte ist nicht nur Ausdruck der pathetischen Maßlosigkeit, sondern, wie der angeführte Abschnitt überzeugend erkennen läßt, die Voraussetzung des transzendierenden Übergangs. Man versuche, einige Verse wegzulassen, und der Entwicklungsraum reicht für das mitschwingende Gefühl nicht mehr aus. Gewiß sind die pathetischen Gedichte oft zu lang, da sie die Größe des Gegenstands oder Zustands durch Häufungen von Prädikaten ausschöpfen, die Intensität durch Extension kenntlich machen wollen. 1 ' — Schiller führte selbst bewegte Klage darüber in der Rezension der „Anthologie" und während der Arbeit an den „Göttern 16

"

In den „Künstlern" wird dieses Tun, das zerbrochene Leben ins Jenseits dichterisch zu begleiten, besonders gewürdigt (v. 2 3 7 — 2 5 3 ) : „Da führtet ihr aus kühner Eigenmacht / den Bogen weiter durch der Zukunft Nacht . . Audi Storz a.a.O., S. 43, weist darauf hin, daß die Szenenführung der „Räuber" zeige, „auf welche Weise gerade Intensität zur Extensität werde". In Übereinstimmung mit dem oben Gesagten gilt für die transzendierenden Gedichte das auf die Szenenschlüsse der „Räuber" bezogene W o r t von G. Storz: „Eine Verlängerung über diesen Endpunkt hinaus ist weder nach der Sache noch nach der Sprache denkbar" (S. 27). — Die ermüdende Länge vieler Gedichte Schillers entspringe „der Eindringlichkeit des Zeigens" (Storz, S. 200). Im übrigen verbindet die vielstrophige Reihung die Gedichte Schillers mit der Gesangbuchlyrik, deren kennzeichnende Merkmale ebenfalls Prädikation und Aretalogie sind.

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Die pathetischen Haltungen

Griechenlandes" und den „Künstlern". Aber da das Pathos nicht wie die „Erlebnislyrik" das „punktuelle Zünden" (Fr. Th. Vischer) von Seele und Natur darstellt, sondern um ein Problem kreist, Gründe und Wirkungen bedenkt, die Vergangenheit aktualisiert und Haltungen postuliert; da das Pathos zu überzeugen und mitzureißen sucht, darf es nicht mit gattungsfremden Maßen gemessen werden. Im poetischen Bereich scheinen die pathetischen Gedichte kein Ende finden zu können, weswegen das Lied „An die Freude" schließlich in die Wirklichkeit übergeht, gegen die alle möglichen Postulate aufbereitet werden, während nicht nur die Leichencarmina für Rieger und Wildmeister mit der erreichten Transzendierung abschließen, sondern auch Gedichte wie „Der Abend" und „Der Eroberer" das beglückende oder richtende Jenseits anstreben und vorwegnehmen. 17 Die Kritiker rügen allerdings diese Möglichkeit des Transzendierens, das Pathos des Auswegs, das den Elegien noch einen hymnischen Ton beimischt, das die Erde verläßt, um sich dem Antagonismus zur Gegenwart zu entziehen, und bezeichnen, wie Grillparzer, Schillers Chiliasmus als verhüllte Theodizee. Von einem Abstand geht das Pathos aus, den es zu überschwingen sucht. Abstand und Spannung zwischen Subjekt und Objekt lösen sich für einen Augenblick in der Liebeseinheit; der Abstand zur eschatologischen Zukunft hebt sich im transzendierenden Überschwang auf, der die polar entgegenstehende Gegenwart in die Zukunft hinüberführt: Immer geht es um die Verringerung der Antithesen. Auch wenn nur eine behutsame Antwort auf die Frage nach den Gründen des Transzendierungsdrangs möglich ist, so kann doch für den jugendlichen Pathetiker gesagt werden, daß sich ihm das Irdische erst im Überirdischen erfüllt. Ein Ungenügen am Leben, eine tragische Auffassung, verbirgt sich dahinter. Reinhold Schneider erkannte, daß in Schillers Jugenddramen die Liebenden, die aus dem Herzen zu leben versuchen, einander verfehlen und einander verderben: „Die eigentliche Liebe verwirklicht sich erst im Übersinnlichen."18 Wie die Liebe, so sind die anderen 17

18

Auch in den „Künstlern" (v. 425 ff.) wird das „reife Ziel der Zeiten" und „des jüngsten Mensdienalters Dichterschwung", der in die Arme der Wahrheit führen werde, antizipiert, anschließend aber werden die zeitgenössischen Künstler noch apostrophiert. Reinhold Schneider: Tragik und Erlösung in Schillers Weltbild, in: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955, S. 276—303. — Wenn auch in den Liebesgedichten, deren Ekstatik nicht eingefügt zu werden braucht in die allseitige Korrelation von Charakterentwicklung und Handlungsführung des Dramas, die „seeligen Augenblike" möglich sind, so kann doch nicht von einer „Liebesseligkeit, in der alles Sehnen Erfüllung geworden ist", gesprochen werden, wie dies Hartmut Horchler tut. (Studien zur Wortwahl in Schillers Anthologie-Gedichten. Mschr. Diss. Heidelberg 1950, S. 117 f.)

Der pathetische Transzendierungsdrang

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pathetischen Kräfte der Freude und Trauer Dasein und Zeitlichkeit überschreitende Haltungen. Es liegt nahe, daß der Pathetiker Schiller eine Dichtung erstrebte, aus der die Zeit selbst ausgeschlossen sein würde, so wie er als Denker versuchte, den Menschen „aus der Sinne Schranken" zu verhelfen und dem „Gesetz der Zeit" zu entheben (vgl. „Das Reich der Schatten" v. 17 ff.). In der Darstellung Elysiums wurde die erstrebte Dichtung zunächst inhaltlich erreicht. Die Vorstellung von Arkadien und Elysium, wie sie Schillers Zeit beherrschte, braucht hier nur angedeutet zu werden: als „Insel der Seligen" wurde Elysium ein Topos der deutschen Dichtung. Elysium — das ist für Schillers antikisierende Auffassung der Raum einer „zeitlosen" Zukunft, über dem Erdenstreit geglaubt, dem Leben nachgelagert und dem Orkus unten entgegengesetzt.1' Von Augenblicken, „wo meine Seele aus ihrer Hülle schwebt und mit freierem Fluge durch ihre Heimat Elisium wandert", schreibt er Körner am 10. Februar 1785. An elysische Gefilde erinnern fast alle seine Naturschilderungen, ohne daß diese Eigenart allein mit seinem mangelnden Gesichtssinn abgetan werden dürfte. In seinem Gedicht „Elisium" drückt die bukolisdie Natur die Stimmung der Seligen aus. Die Spannungen des irdischen Lebens wirken nur noch als Kontraste der Darstellung. Die selige Traumwirklichkeit ist eine Vorahnung des von Schiller später proklamierten Reichs des „schönen Scheins". Doch während in der Jugend der Moment der Erhebung im Gedicht dargestellt wird, versuchen die reifen Gedichte, den Menschen über sich selbst zu erheben. Diese Ausführungen wollen zugleich die Vorliebe des „satirisdi" angelegten Schiller für die von ihm am höchsten geschätzte lyrische Kunstform der Idylle verständlich machen, deren gestaltete Zeitlosigkeit die Übereinstimmung des Ideals mit dem wirklichen Zustand darstellen soll. Zwar leitete er in seinem Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung" die Idylle aus dem Verhältnis von Natur und Wirklichkeit ab, doch entspricht seine Bestimmung, daß in ihr „aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideal . . . vollkommen aufgehoben" 20 sei, der hier vorgetragenen, die von der zeitenthobenen und überirdischen, doch inhaltlich nicht bestimmten Zukunft ausging. Die Idylle, die Schiller als Gattung auf die Empfindungsweise bezieht, solle den Menschen nach 19

20

Zu Schillers Vorstellung von Arkadien und Elysium vgl. im Anschluß an Josef Kroll und Bruno Snell die einläßlichen Ausführungen von B. v. Wiese a.a.O., S. 122 ff.: Elysium „ist eine Art innerweltlicher Transzendenz" (S. 123), „. . . die Schillersche Chiffre für eine paradoxe Realität, die geistige Seligkeit und sinnliches Glück zugleich meint" (S. 124). Auch v. Wiese deutet die Idylle Schillers als Fortführung der Elysiumsvorstellung. Säk.Ausg. Bd. XII, S. 228.

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Die pathetischen Haltungen

Elysium führen, da er nach Arkadien nicht mehr zurück könne. Wie mit der „Elegie" („Der Spaziergang"), so wollte er, wie aus dem großen Brief an Humboldt am 30. November 1795 hervorgeht, mit einer Idylle ein kanonisches Vorbild geben und die sentimentalische Dichtung über die naive triumphieren lassen.21 Im Anschluß an die Auffahrt des Herkules im „Reich der Schatten" sollte eine Szene im Olymp gedichtet werden: die Vermählung des Herkules mit Hebe, der Übertritt des Menschen in den Gott: „ . . . in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen — keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allem mehr zu sehen." In ergreifender Weise manifestiert sich Schiller in diesem Plan und seinen einzelnen Bestimmungen. Ohne „Beihülfe des Pathos", ohne also das Gemüt zu erregen, darstellend, nicht lehrend, sollte das Ideal der Schönheit objektiviert und idealisiert werden, ohne Kontraste, ohne Zeitlichkeit, als reine Gegenwart, die notwendige Bewegung einzig durch den zwischen Menschen und Göttern vermittelnden Herkules gewährleistet. Der Plan blieb unausgeführt. Wie konnten die „reinen Formen" mit der geistigsinnlichen Sprache dargestellt, wie konnte das Ideal zur Anschauung gebracht werden? Wie konnte die Ruhe des Vollkommenen mit den Mitteln der sukzessiv fortschreitenden Sprachbewegung geleistet, wie konnte das schicksallose Dasein der Olympischen voll versinnlicht werden? Die geplante Idylle als ein „Maximum der Poesie" und als vollkommene Harmonie enthält keimhafl, was der klassische Schiller an dichterischer und menschlicher Sehnsucht in sich trug. Eine Kunst- und Lebenslehre entwickelte er daraus, als er ein Eigenreidi der Dichtung und die Erlösung vom Irdischen durch das Schöne proklamierte. „Droben, im olympischen Reich Zeus-Vaters, war seine dichterische Heimat." 22 Die aufweisende Gebärde und das Verlangen des Geistes, zu transzendieren 23 , offenbaren, wie der Pathetiker aus der Erscheinungswelt in die der Ideen, aus dem Bedingten ins Unbedingte getrieben wurde. In den Gedichten nimmt die geistige Sehnsucht Gestalt an: Stellen sie in ihren Schlüssen den Aufschwung ins Transzendente dar, das in der Reife" In einer überaus erhellenden Studie ordnet Horst Rüdiger „Schiller und das Pastorale" (Euphorion, 53. Bd., 1959, S. 229—251) in die gesamteuropäischen Bezüge ein und zeigt die Bedeutung der pastoralen Tradition für Schillers Werk auf. So wird die „Jungfrau von Orleans", deren Weg von Arkadien nach Elysium führe, als einzige „Pastoraltragödie" der deutschen Literatur verstanden (S. 247). 12 Zit. nach Rudolf Alex. Schröder: Schillers Ruhm, 1937 (Die Aufsätze und Reden, in: Ges. Werke, Bd. II, 1952, S. 633). 23 Vgl. auch Goethe: „Howards Ehrengedächtnis" (v. 52): „Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt."

Der pathetische Transzendierungsdrar.g

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zeit weder christlich noch irgendwie sonst inhaltlich bestimmt gedacht werden darf, so erleichtert und glättet sich, wie im „Wiltmaister"-Carmen, die spröde pathetische Sprache, wird durchsichtig und wie mühelos. Kein ärgeres Mißverständnis der Lyrik Schillers, als an ihr zu tadeln, daß sie sich in einer bloßen Idealisierkunst gefalle, aus einem Mangel an Wirklichkeitssinn der Wirklichkeit vorenthalte, was ihr zukomme, nur nehme, wie Hebbel sagte, was das Ideal brauchen könne. Wer dürfte übersehen, daß der A u f f a h r t des Herkules die herkulischen Mühen vorangehen? Die schwer empfundene Wirklichkeit wird vorausgesetzt oder erst im transzendierenden Aufschwung abgestreift wie alle anderen „Zeugen menschlicher Bedürftigkeit" („Das Reich der Schatten" v. 119 f.).

DIE PATHETISCHEN OBJEKTIVATIONSFORMEN 1 „Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein Herz in eine Idealenwelt aus — aber unbekannt mit der wirklichen, von welcher mich eiserne Stäbe schieden.. ." 2 Mit diesen Worten charakterisiert Schiller in der Ankündigung der „Rheinischen Thalia" seine jugendliche Haltung. Daß sich daneben seine eigentümliche Art auswirkt, Natur und Menschenwelt zu erleben, ist selbstverständlich. Immer wieder war im Gang unserer Darstellung darauf hinzuweisen, wie selten sich Schiller an Selbsterlebtes halten konnte. Weder Ort noch Stunde noch Gelegenheit, an denen sich Goethes Lyrik bildete, erscheinen in seine Lyrik verwoben. Zum gegenständlichen Schauen, wie am Anfang der „Elegie", gelangte Schiller erst spät und nur mühevoll und vorübergehend, denn seine selbsttätige und energische Imagination verminderte seine Empfänglichkeit und überging zudem die Erlebnisobjekte, wie sie die Natur bereithält. Was ihm die Wirklichkeit vorenthielt, suchte er mit Hilfe der Einbildungskraft zu gewinnen, und so sind seine jugendlichen Dichtungen Antizipationen der Welt vor aller Erfahrung.® Das Bedürfnis nach Gehalten, die die Person übersteigen, ließ seine spekulative Ima1

2

3

Wie dieser Begriff gemeint ist, möge eine Stelle aus Diltheys Basler Antrittsvorlesung zeigen (Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 12 ff.), die von Sdiillers „Freundschaft", der „Resignation", dem Lied „An die Freude" usw. handelt: „Es macht den Charakter dieser Gedichte aus, wie sich überall das Schicksal seines leidenschaftlichen Lebensdranges in metaphysischen Konzeptionen spiegelt." Das vorliegende Kapitel faßt den aus den Gedichten erarbeiteten Begriff der Objektivation des Subjektiven nach seiner realen wie ideellen Geltung hin noch etwas weiter. Für Schiller selbst scheint in den beginnenden Reifejahren, wie der wichtige Brief an Körner vom 10. November 1794 bezeugt, alles auf das „Verhältnis von Objektivität und Subjektivität" und ihre gegenseitige Durchdringung anzukommen: Er fordert eine „generalisierte Individualität" und zugleich die Subjektivierung des Objektiven, die beispielhaft erfüllt ist im „Spaziergang", der die allgemeine Entwicklung der menschlichen Kultur aufs engste verknüpft mit dem individuellen Gang des Wanderers durch die Natur. Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 94. Vgl. auch Nat.Ausg. Bd. I, S. 183: Für Caroline Schmidts „Dom Karlos". Vgl. Goethe zu Eckermann am 26. Februar 1824.

Die pathetischen Objektivationsformen

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gination eigene Wirklichkeiten entwerfen, „Idealenwelten", ohne sich herabzulassen, die äußere Wirklichkeit als Korrektivum anzuerkennen. 4 Das Dinglich-Welthaltige fehlt daher seiner Lyrik, und es ist ergreifend zu sehen, wie Schiller diesem Mangel später zu begegnen suchte und sich abmühte, den vorherrschenden Gedanken poetisch erscheinen zu lassen. 5 Seine Briefe vor allem bezeugen, daß er seine Art als typisch für den „nordisch-philosophierenden Dichter" auffaßte, der, wie der Brief an Sophie Mereau formuliert, gedrungen sei, „die Erde . . . mit Ideen zu bevölkern und auszuschmücken" 6 . Schon fünf Jahre zuvor hatte er Körner den Unterschied zum „griechischen" Goethe erklärt und festgestellt, daß dieser aus der Sinnenwelt nehme, wo er selber „aus der Seele hole" 1 . Nun aber muß das Seelische in Erscheinung treten, um dichterisch zu sein. Vollkommen sinnliche Gegenwart zu erreichen, war der pathetischen Lyrik nicht gegeben — andernfalls hätte sie auch nicht mehr pathetisch genannt werden können. Der stärkste Drang der pathetischen Empfindung scheint überdies ebenso sehr bestrebt zu sein, sich „realiter" zu verwirklichen wie alle Sinne der Hörer zu beschäftigen. Lauras Empfindungsgröße vermöchte in den „Seeligen Augenbliken" die eigene Glut zu übertragen. Wie die alte Deutung, das Denken Gottes sei sein Tun, sein Bewußtsein sei Wirklichkeit zugleich — wie diese Vorstellung unausgesprochen und in übertragener Weise in der pathetischen Dichtung als einem urtümlichen Tun enthalten ist, zeigt die siebte Strophe des großen „Freundschafts-Hymnus": „Stünd im All der Schöpfung ich alleine / Seelen träumt' ich in die Felsensteine / Und umarmend küßt' 4

Gegen Schillers gelegentlich sorglose Weise der Motivierung sprach sich schon Goethe (im Gespräch mit Eckermann, 18. Januar 1825) aus; seine Lizenzen und „handfeste Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit" aus dramaturgischen Gründen beschrieben zuletzt G. Storz (S. 52) und Emil Staiger (Schillers Größe, in: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959, ed. 1961, bes. S. 303 ff.). Das wichtige Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit bedachte der reife Schiller immer wieder: Er konzedierte, von der Autonomie der Kunst durchdrungen, nicht nur die Wahrscheinlichkeit, die „in der innern Möglichkeit der Sache" liege, gegenüber der Richtigkeit des historischen Faktums (Säk.Ausg. Bd. X I , S. 271), sondern trennte auch die poetische Darstellung von der gemeinen Wirklichkeit, „— weil sie absolut wahr ist und niemals mit ihr koinzidieren kann" (an Goethe, 4. April 1797).

5

Vgl. den Brief an Humboldt vom 29. November 1795.

• Brief vom 18. Juni 1795. Vgl. an Goethe, 14. September 1797: Auch hier findet sich Schillers oft ausgeführte Meinung, daß der neuere Künstler ganz auf die Imagination angewiesen sei: „Er legt einen poetischen Gehalt in sein Werk, das sonst leer und dürftig wäre, weil ihm derjenige Gehalt fehlt, der aus den Tiefen des Gegenstands geschöpft werden muß . . ." ' An Körner, 1. November 1790.

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ich sie . . ." 8 Die pathetische Empfindung erkennt sich im Übermaß ihrer Bewegtheit die Befähigung zu, sich selbst verkörpern und selbstschöpferisdi werden zu können. Diesem schöpferischen „Fiat" ist zu entnehmen, daß der Pathetiker seiner emphatischen Vorstellung Wirklichkeitsgehalt beimißt. So merkwürdig sich diese Dinge in der begrifflichen Fassung auch anhören, so wesentlich ist es doch für den Betrachter der Jugendlyrik, diese Voraussetzung nachzuvollziehen: Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken wollen sich verwirklichen; für den Pathetiker besitzen sie bestimmte Realitätsgrade. Es sei nebenbei an Klopstocks „Wenn-" Sätze erinnert, deren bloße Denkmöglidikeit die ganze odische Bewegung auslösen 9 ; es sei auf Schillers reife Lyrik vorgewiesen, die die „Idee" als wirklicher, mächtiger und verpflichtender glaubt und fordert als die stoffliche Welt umher. Das „Pygmalion"-Motiv 1 0 zeigt die erste und inhaltliche Form der pathetischen Objektivierung. Dieser „reale" Personifikationsbetrieb entspringt dem Ungenügen am bloß Gedachten und konstituiert die pathetische Haltung, das empfundene Objekt selbst werden zu können: „Welchen Zustand wir wahrnehmen, in diesen treten wir selbst." 11 Wie nach Goethes Wort Schillers Entwicklung von der physischen zur ideellen Freiheit führte, so kann sein dichterischer Weg als eine fortschreitende Vergeistigung des Sinnlichen verstanden werden. Das Pygmalion-Motiv und die personale Expansion, die der autonom auftretende Subjektivismus des „Stürmers und Drängers" erstrebt, zeigen inhaltlich, was die pathetischen Formen, die in diesem Kapitel zu beschreiben sind, auszeichnet: die Projektion der Subjektivität ins Objektive. Es verlangt die äußerste Subjektivität nach Erweiterung und Übertragung — und zwar real wie ideell. Die Welt zu ergreifen, hat den Vorrang vor dem Versuch, sie zu begreifen 12 ; die vitale Geltung geht der ideellen voran wie die sensuelle der psychischen. In der Übertragung des Individuellen auf das Generelle gewinnt also Schiller die formale Objektivierung seines Stils. Wenn in den „Räubern" der „Privathaß" gegen Vater und Bruder in einen „Universalhaß" gegen das Menschengeschlecht sich auswütet 18 , wird sie dem Inhalt nach 8

8 10

11 12 13

Zum Verhältnis von Phantasie und Wirklichkeit, von „Vorstellung" und Besitz des Vollkommenen vgl. die „Theosophie des Julius" („Idee"): Die Real-Idee impliziert die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Gedachten. Vgl. auch Schillers „Vorwurf an Laura" (v. 35 f.). Vgl. „Der Triumf der Liebe" (v. 55 ff.) und „Die Ideale" (v. 25 ff.). — Es ist beiläufig audi an den Denkmalskult der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erinnern. Säk.Ausg. Bd. X I , S. 119. Vgl. Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 48. Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 120.

Die pathetischen Objektivationsformen

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manifest. Karl Moor zieht nicht aus, sich allein zu rächen — im Namen aller Unterdrückten will er an der verderbten Menschheit Rache üben. Im „Freundschafts-Hymnus" hingegen erscheint die Freundschaft zwischen Julius und Raphael als Teil der kosmischen Konstellationen: „War's nicht diß allmächtige Getriebe, / Das zum ew'gen Jubelbund der Liebe / Unsre Herzen aneinander zwang?" (v. 13—15). Die Freundschaft erhält ihre Bedeutung durch ihre Teilhabe am Unendlichen, denn die Übertragung des Persönlichen auf das Kosmische erst stillt das Verlangen der megalomanischen Imagination. Das Zufällige soll damit auf das Notwendige, die Erscheinung auf das Gesetz, das Endliche auf das Unendliche bezogen werden. Wurde bei der Besprechung des Verhältnisses zur N a tur gesagt, der Pathetiker gehe keine Einsfühlung mit der beseelten und gleichgestimmten Natur ein, so muß nunmehr ergänzt werden, daß er seine Empfindungen mit den Grundkräften von Welt und All gleichsetzt. Die Bewegung des Herzens findet sich als Vorgang im All wieder. D a eine substantielle Identität nicht möglich ist, so ist diese selbstentworfene Welt nach der Analogie von Individuum und Kosmos gedacht. 14 Auf Grund dieser Entsprechung trägt dieses Gedicht mehr intellektuelle und mechanistische als sinnlich erscheinende und persönlich beseelte Züge. Die Unendlichkeit ist nicht Kulisse oder Kontrastmittel wie die gegenständliche Natur, sondern, eine unbekümmerte Anthropozentrik übersteigend, der notwendige Horizont, das Subjektive durch die Objektivierung zu vergrößern. Mit herrscherlicher Souveränität leiht der Pathetiker „den Sphären seine Harmonie" (vgl. „Die Künstler" v. 285). 1 5 „Den Überschuß von Selbsttätigkeit", den Humboldt am 16. Oktober 1795 seinem Freund bestätigt, und zwar „eine solche, die sich auch den Stoff, den sie bloß empfangen sollte, noch selbst schafft, aber sich hernach mit ihm, wie mit einem bloß gegebenen verbindet", — diese dichterische Energie waltet im Lied „An die Freude" vor, dem paradigmatischen Jugendgedicht, das sein Ideal aus der hochgestimmten Innerlichkeit erschafft. Im Anruf und Aufschwung personifiziert sich das Gefühl, und die gefeierte Kraft wächst zur Göttin auf: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligthum. 14

15

5

Natürlich ist diese Analogie im ganzen naturwissenschaftlich spekulierenden 18. Jahrhundert — und schon früher — ausgesprochen, doch stellt diese U m deutung kosmischer Gesetze ins Psychische einen besonders in Schillers Jugendlyrik gepflegten Versuch dar, das individuelle Erleben der kosmischen Welt einzuordnen. Wie sehr im Pathos über die Welt und ihre Dinge vom Subjekt aus verfügt wird, führen „Die Künstler" mehrfach wörtlich aus. Keller,

Schiller

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Die pathetischen Haltungen

Schon im Anfang wird im „feuertrunkenen" Aufschwung die umgebende Wirklichkeit verlassen, eine freudebeherrschte dafür mit Hilfe der einen und ausschließlichen „Vorstellungsart" des Pathetikers gesetzt. Das Angerufene soll in der Aufwärtsbewegung ergriffen werden. „Selbstschaffung" des Ideals und „Verbindung" mit dem Gegenstand, wie es Humboldt aussprach, leisten schon diese einleitenden Verse; die Transformation der gefeierten Kraft in die Allkraft und in "Wirkung und Bild folgt daraus wie die geistige Verknüpfung von Menschen und Dingen unter der Herrschaft dieser Allkraft. Bezeichnenderweise erwähnen die beiden Schlußstrophen die Freudenkraft nicht mehr, doch unter ihrem Eindruck werden Postulate erhoben, die Wirklichkeit in jenen vollkommenen Zustand zu verwandeln, der zuvor als herrschend vorgegeben war. Wenngleich im Affekt noch gedichtet wird, so ist doch auf dieser Stufe die Empfindung nicht mehr der eigentliche Gegenstand der Aussage, sondern deren hymnisches Substrat. Die Empfindung hat sich vergegenständlicht — ohne daß Schiller allerdings die Weltkraft seiner Freude von jener der Liebe oder der Freundschaft unterschiede. Unter wechselnden Namen werden dieselben Kräfte gefeiert. Von anderer Art ist die Objektivierung in den elegisch empfundenen Gedichten. Das eigene und schmerzliche Entsagen der „Freigeisterei" anerkennt die „Resignation" als eine der beiden möglichen Lebensformen und als Weltgesetz. In den Versen, die der Genius spricht, objektiviert sich die Antwort des Pathetikers, die allgemeine Gültigkeit beansprucht. Das Individuelle ist nur als Sonderfall des Generellen behandelt. „Die Götter Griechenlandes" dann, die wie die anderen in diesem Kapitel besprochenen Gedichte im dritten Teil unserer Untersuchung betrachtet werden sollen, ordnen das Gesetz der Entsagung, das die „Resignation" neben dem Genuß als Alternative offenließ, der nach-christlichen Epoche zu, stellen es in übergreifende geschichtliche Zusammenhänge und verstehen Thema und Gegenthema unter dem antik-christlichen Dualismus. Ganz ähnlich geht die Entwicklung im „Don Carlos" vor sich. Wollte Schiller anfangs ein empfindsames „Familiengemälde" eines Königshauses geben, so erweiterte sich sein Plan im Verlauf der langwierigen Ausführung um mehrere Handlungskreise, die zum Zusammenstoß der persönlichen Leidenschaften noch größere realpolitische und sittlich-humane Konflikte fügen. Indem Marquis Posa zur Hauptgestalt reift, tritt, wie Schiller im dritten Brief über dieses Drama mitteilt, „an die Stelle eines Individuums bei ihm das ganze Geschlecht; ein vorübergehender jugendlicher Affekt erweitert sich in eine allumfassende unendliche Philanthro-

"

Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 146.

D i e pathetischen O b j e k t i v a t i o n s f o r m e n

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Ein weiteres Gedicht der „Anthologie" sei noch besprochen, das sich durch verschiedene Formen der pathetischen Objektivierung ausweist 17 und dessen Aufbau den der viel späteren „Künstler" (1789) in vielen Elementen vorwegnimmt. Angeregt von Bürgers „Nachtfeier der Venus", führt der „Triumf der Liebe" eine bestimmte zeitliche Entwicklung ein: Diese Hymne, wie sie Schiller nennt, stellt die Zeit nach der Deukalionischen Sintflut dar, die noch ohne Liebe war, und schließt erst an sie, um kontrastieren und damit das Gefeierte überhöhen zu können, die Geburt der allesverwandelnden Venus an. Waren in den „Laura"-Gedichten die Phasen des Gefühlsablaufs entscheidend für den Aufbau, so sind im „Triumf der Liebe" die verschiedenen Epochen und Wirkungsbereiche der Liebe dafür bestimmend. D a aus der Distanz zur Welt der Mythologie gedichtet wird, ist die pathetische Subjektivität geradezu negiert und die gewohnte Selbstdarstellung des Affekts vermieden. Doch wie in der „Freude" oder den „Künstlern" geht es darum, die Wirkung der gefeierten Kraft in allen ihren Erscheinungsweisen auszubreiten. Schiller „deduziert" dabei: Die Liebe ist gleichsam als Oberbegriff gesetzt, wovon alles andere abgeleitet werden kann. Die anfangs gegebene und dreimal refrainartig wiederholte Leitstrophe schlägt das Thema 3-n:

Seelig durch die Liebe Götter — durch die Liebe Menschen Göttern gleich! Liebe macht den H i m m e l Himmlischer — die E r d e Z u dem Himmelreich.

Diese Leitstrophe, fast elliptisch geformt und mit betonten Enjambements, die die gegenseitige Annäherung formal unterstützen, verbindet die verschiedenen Bereiche, die das Gedicht als liebedurchwirkt anführt. Die liebesseligen Götter — davon berichtet „episch" breit der erste Hauptteil, dem die Beschreibung der liebesleeren Zeit und der Geburt der Venus folgt. Auch „Die Künstler" hatten, wie ein Brief Körners vom 16. Januar 1789 bezeugt, anfangs den trostlosen Zustand einer Vergangenheit ohne Kunst dargestellt. Im Olymp wie im Orkus wird der Triumph der Liebe gezeigt, denn Schillers Lyrik betont, wie erwähnt, die Bezüge von Unter- und Überwelt, von Anfang und Ende, von Ursache und Wirkung, indem sie von Grenze zu Grenze geht. Der zweite Haupt17

5'

D a die in diesem K a p i t e l untersuchten Jugendgedichte f a s t ausschließlich die Tendenz der Objektivierung und Generalisierung des Individuellen zeigen, so sei nachträglich hingewiesen auf die ergänzende Gegenbewegung der Phantasie des klassischen Schiller, das G a t t u n g s h a f t - A b s t r a k t e zu veranschaulichen und zu konkretisieren: Als „ästhetische Synthesis" bestimmt in vorzüglichen A u s führungen B. v. Wiese (Schiller, S. 568) den dialektischen V o r g a n g , das Ideelle im Konkreten, das K o n k r e t e im Ideellen „ a u f z u h e b e n " .

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Die pathetischen Haltungen

teil, der das Thema von den durch die Liebe göttergleichen Menschen ausführt, verläßt die Mythologie und beschreibt das Wirken der Liebe in der „ewigen" Natur. Die Naturdinge werden dabei zu bloßen Bedeutungsträgern, vage und auswechselbar. 18 Um visuelle Eindrücke bemühen sich die Verse 135—152, um akustische die nachfolgenden (153 —161). D a ß schließlich die Weisheit der Liebe unterstellt und diese zum „Vater der Natur" (v. 179), wie die Schönheit in den „Künstlern" zur Wahrheit, führen wird, entspricht dem Schema, das sogar pathetischen Gedichten anhängt. Losgelöst vom Affekt, mit wechselnden Metren und in Abschnitte geteilt, in weitläufigen Beschreibungen und belebenden Apostrophen (z. B. v. 55 ff.) dargeboten, hebt sich „Der Triumf der Liebe" von anderen Jugendgediditen ab und weist trotz des bedeutsamen geistigen Rangunterschieds auf „Die Künstler" vor. Obgleich noch keine historische Konzeption vorgelegt wird, läßt die jugendliche „Hymne" in der Distanzierung des Dichters vom Gegenstand und der Übertragung des Gedankens auf mythologische Situationen jene beiden Grundformen des objektivierenden pathetischen Stils erkennen: die Loslösung vom bedrängenden Affekt und die verwandelnde Darstellung historisierender Stoffe. Denn Schiller nahm die Geschichte, da er, wie man gesagt hat, bei der Natur nicht in die Lehre gehen konnte, um in ihr seine Ideen zu versinnlichen und sich, wie Goethe sagte, „aufzuerbauen" 1 9 . „Die Geschichte ist mein Feld, wo alle meine Kräfte ins Spiel kommen, und wo ich doch nicht immer aus mir selbst schöpfen muß", schrieb Schiller an Körner am 17. März 1788. Die pathetische Subjektivität konnte sich in historischen Gegenständen objektivieren, die die Phantasie bereicherten, dieser aber auch zugleich Zügel anlegten 20 , wollte der herrscherlich verfügende Pa18

"

i0

Nur mit einer gewissen Einschränkung kann also dem Lob, das Viehoff (in seinen Erläuterungen Bd. I, S. 93) und Kurt Wendt (Hölderlin und Schiller, Germanische Studien, Bd. 70, 1929, S. 71) diesem Gedicht spenden, zugestimmt werden. Goethe zu Eckermann am 23. Juli 1 8 2 7 : „Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei großen Dingen: zur Philosophie und Geschichte." — Uber Schillers vielbeschriebenes Verhältnis zur Gesdiichte unterrichtet Gerhard Fr icke: Schiller und die geschichtlidie Welt, in: Studien und Interpretationen, 1956, S. 9 5 — 1 1 8 . Vgl. den bedeutenden Brief Schillers an Karoline von Beulwitz vom 10. Dezember 1788 über die Geschichte als „Magazin der Phantasie". „Die Gegenstände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden." Dieser echt pathetischen Haltung ist auch die Antrittsvorlesung in Jena vom 26. Mai 1789 verpflichtet, in welcher der „Historiker" auffordert, „den weltgeschichtlichen Stoff mit dem Gedanken in Übereinstimmung zu bringen". Vgl. Säk.Ausg. Bd. X I I I , S. 21.

D i e pathetischen O b j e k t i v a t i o n s f o r m e n

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thetiker sein Wollen mit den geschichtlichen Tatsachen in Übereinstimmung bringen. Daß sich Schiller durch die Bindung an die Fakten indessen nicht fesseln ließ, zeigen „Die Künstler" mit ihrer teleologischen Verknüpfung der historischen Epochen als Entwicklungsstufen zur eigenen Gegenwart hin. Geneigt, die eigene Haltung des objektiven Pathos als verbindlich auszugeben, deklarierte Schiller in den beginnenden Reifejahren seine Dichtungsweise fast als Gesetz. Für diese Art der pathetischen Objektivierung brauchen nur wenige Zeugnisse angeführt zu werden. In der Bürger-Rezension (1791) bestand er darauf, keine „streng individuellen Charaktere und Situationen darzustellen" 21 , in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" (1795) erklärte er: „In dieser Reduktion des Beschränkten auf ein Unendliches besteht eigentlich die poetische Behandlung." 22 Abgeleitet werden diese Auffassungen auch von der anthropologischen Einsicht, der Mensch sei so gebildet, „daß er immer von dem Besondern ins Allgemeine gehen will" 2 3 . Wie nun das Individuelle zum Allgemeinen zu erheben, zu objektivieren sei, lehrt die idealtypische Darstellung in den Einleitungsversen der „Künstler": Wie schön, o Mensch, mit deinem P a l m e n z w e i g e stehst du an des J a h r h u n d e r t s N e i g e , in edler stolzer Männlichkeit, mit aufgeschloßnem Sinn, mit Geistesfülle, voll milden E m s t s , in thatenreicher Stille, der reifste Sohn der Zeit . . .

Die Apostrophe kennt keinen Einzelnen, sondern versteht „den Menschen" als das die Gattung repräsentierende Wesen. Das dichterische „Ich" erscheint nicht mehr; in der Abstand wahrenden Anrede ist es objektiviert. D a nach Schillers Forderung Gegenstände geschaffen werden sollen, in denen sich die Menschheit erhöht wiedererkennt, stellte er den Menschen „in seiner jetzigen Vollkommenheit" und das Jahrhundert „von seiner besseren Seite" 2 4 vor. Die bewußt vorgenommene Idealisierung, welche über die bloße Objektivierung hinausführt, wurde vom Thema gefordert, das dem kunstgeadelten Menschen der Gegenwart als 21 22 23

"

N a t . A u s g . B d . X X I I , S. 255. S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 204. S ä k . A u s g . B d . X V I , S. 125. A n K ö r n e r , 9. F e b r u a r 1789. — D e n Z u s a m m e n h a n g v o n Objektivierung und Idealisierung erkannte besonders J e a n Paul („Vorschule" a.a.O., S. 460 f.): der „höhere" Stil begreife stets das Allgemeine, Rein-Menschlidie, und schließe die Zufälligkeiten der I n d i v i d u a l i t ä t aus. — Z u r wichtigen K o r r e lation v o n „ I d e a l " und „ T y p u s " v g l . die erhellenden S ä t z e in E m i l Staigers » T i t a n " - S t u d i e (in: Meisterwerke deutscher Sprache, 2. Aufl., 1948, S. 71 ff.).

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Die pathetischen Haltungen

vorläufigem Höhepunkt der Entwicklung galt. Daß Schiller daneben den Menschen seiner Zeit sah, wie er wirklich war, beweisen beispielsweise die Briefe an den Augustenburger (13. Juli 1793) und an Goethe (20. Oktober 1794), die nicht erwähnt werden müßten, würden nicht immer wieder Idealismus und Idealisierungskunst Schillers der Illusion verdächtigt. — In der „Glocke" offenbart sich vollkommen die objektivierende Gestaltungsweise Schillers, das Individuelle als das Zufällig-Vergängliche mit dem Allgemeinen zu verknüpfen: an den Glockenguß fügt sich die jeweilige Betrachtung, an die Entwicklungsphasen des Individuums schließt sich die übergreifende Epoche, an das Einzelleben das gesellschaftliche und völkische Leben an.25 Daß dem Drama die „Reduktion" des Individuums auf die Gattung, der Erscheinung auf das Gesetz, abträglich sein kann, braucht nur angedeutet zu werden: Die Handelnden verlieren leicht ihren einmaligen und unbedingten Charakter und verkümmern zu Bediensteten der richtenden Idee. Vom Prinzip der Objektivierung und Generalisierung aus beurteilt, bedeuten die klassischen Gedichte nur eine gereinigte Fortentwicklung der in der Jugendlyrik emphatisch ausgeführten Darstellungsweise. Die verschiedenen Formen der vergegenständlichten Empfindung und der generalisierenden Anschauung seien zum Schluß unter dem Begriff der erstrebten „Objektivität" zusammengefaßt, ohne die sich Schiller keinen vollkommenen Stil denken konnte: „Reine Objektivität der Darstellung ist das Wesen des guten Stils: der höchste Grundsatz der Künste!" 26 Auf dem mühevollen Weg zur klassischen Objektivität und zum klassischen Gleichmaß stellte sich die Aufgabe, die überschwenglichen Empfindungen der Jugend „loszuwickeln" und den darzustellenden Gegenstand in besonnener Distanz zu halten. Lessing hatte lange zuvor schon die regellosen Genies, denen er einstmals vorgearbeitet hatte, als Trunkenbolde gescholten und für sich entschieden, daß das Dichten „mit Absicht" zu geschehen habe 27 ; Goethe war Schiller, dem jüngsten der „Stürmer und Dränger", mit der „Iphigenie" und dem „Tasso" verpflichtend vorangegangen. Zeigte der Pathetiker in den kennzeichnenden Jugendgedichten seine affekterfüllte Subjektivität, so hatte diese in der mit den „Künst25

26 27

Z u dem keineswegs überraschenden, doch p a r a d o x anmutenden Ergebnis, d a ß es Schillers Individualität am meisten entsprach, das Typische zu gestalten, kam Friedrich Meinecke: Schiller und der Individualitätsgedanke, 1937. — Pointiert formuliert B. v. Wiese in seinem Buch, Schiller habe „niemals und zu keiner Zeit das Individuum als solches interessiert . . ." (S. 142). An Körner, 28. Februar 1793. Vgl. Lessings Nachlaß-Aufsatz „Über eine zeitige Aufgabe", etwa 1776. Zur U m w e r t u n g des Geniebegriffs vgl. überdies H e r d e r s „Vom Erkennen und Empfinden der menschlidien Seele", 1778 (Suphan, Bd. V I I I , S. 224).

Die pathetischen Objektivationsformen

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lern" beginnenden Reifezeit zurückzutreten und den Gegenstand in seiner Objektivität vorzuweisen. 29 In wiederholten Spiegelungen das Wesen des jugendlichen Pathos zu beschreiben, war die Aufgabe dieses ersten Teils der vorliegenden Arbeit. Die besprochenen Haltungen, Gebärden und Anschauungen der Jugendlyrik sind natürlich nicht im einzelnen Gedicht versammelt anzutreffen; die satirischen, burlesken und balladesken Stücke konnten wie die lyrischen Passagen der „Räuber" überdies nur unvollständig berücksichtigt werden. Der zweite Teil der Arbeit ist den grundlegenden Formen, Bildern und Figuren des pathetischen Stils gewidmet, da, wie man weiß, das Verständnis eines Gedichtes Schillers von der Einsicht in die antithetischen, rhythmischen oder allegorischen Verhältnisse nicht weniger abhängt als von der Kenntnis der Kantischen Ästhetik etwa und ihres Einflusses auf seine Dichtung.

28

Vgl. den Brief an Körner, 28. Februar 1793. — Daß die Verpflichtung der idealen Forderung gegenüber gelegentlich befangen machen konnte, zeigt der Briefwechsel über „Die Ideale". Humboldt (23. August 1795) liebte das Gedicht und seinen „so nahen Bezug" auf Schiller, fand sich aber zu fragen veranlaßt, ob der Eindruck ganz rein sei und das Gefühl durch die „reine Form" hervorgerufen werde. Schiller (7. September 1795) gestand denn auch ein, daß der Stoff mehr als die Form den Eindruck begründe, das Individuum ein Bedürfnis befriedige und diese Elegie also zu „subjektiv wahr" sei.

ZWEITER TEIL

Die Grundformen des pathetischen Stils

DIE PATHETISCHE W O R T W A H L Die Darstellung des Wesens des Pathos hatte die Aufgabe, den gemeinsamen Grund freizulegen, dem die Gedichte entstammen. Ihr vornehmstes Ziel war, mit der Funktion des Pathos dessen typische Darstellungsweisen — heutzutage gern Strukturen genannt — zu bestimmen, und zwar dergestalt, daß die Stilfiguren, deren sich das Pathos bedient, als seine notwendigen und ihm allein zukommenden Ausdrucksmittel gleichsam hindurchschienen. 1 Schicken wir uns nunmehr an, einige wesentliche „Figuren" zu beschreiben, die, von altersher bekannt, früher überlegt als „rhetorische" Mittel angewendet wurden, so dürfte es nicht unangebracht sein, dem Verdacht entgegenzutreten, als werde hier Pathos und Rhetorik leichthin gleichgesetzt: Aus einer leidenschaftlichen Erlebnisart heraus — von der Wirklichkeit bedrängt und vom Ideal entflammt — verwandelt sich der Pathetiker die rhetorischen Elemente an. Der rhetorische Stil ist dem pathetischen Ausdrucksverlangen angemessen — er verliert nicht an möglicher Erfülltheit und nicht an innerer Notwendigkeit, wenn sein wechselndes Geschick in einer langen Stilgeschichte verfolgt und oft genug als bewußte Zutat und schmückender Zierat entlarvt werden kann. Die Barockforschung hat überzeugend dargelegt, wie gleichartige stilistische Erscheinungen einem verschiedenartigen Formwillen entstammen können. 2 Der Stil offenbart, wie die gedichtete 1 2

V g l . H e r m a n N o h l : Friedrich Schiller, 1 9 5 4 , S. 1 2 0 . So konnte K a r l V i e t o r (Deutsche Barockliteratur, wiederabgedruckt in: Geist und Form, 1 9 5 2 , S. 1 3 — 3 4 ) die v o n Fritz Strich an barocken Gedichten a u f gezeigten Erscheinungsformen w i e gehäufter, steigernder, übertreibender Ausdruck, Spiel mit Gegensätzen und Paradoxien, Vorliebe f ü r Bilder und V e r gleiche usw. auch f ü r das 16. J h . als z u t r e f f e n d bezeidinen. Maßgeblich ist, w i e sich die individuelle pathetische Bewegung die traditionellen Formen, Figuren und Topoi a n v e r w a n d e l t und umschaift. W ä h r e n d der letzten J a h r e w u r d e die R h e t o r i k besonders durch E. R. Curtius und H r d i . Lausberg auch der Germanistik als Gegenstand der Stiluntersuchung wieder nahegebracht. S o bemängelt H e r m a n M e y e r in einem wegweisenden und umfassenden A u f s a t z (Schillers philosophische Rhetorik, Euphorion 53, 1 9 5 9 , S. 3 1 3 — 3 5 0 ) und teilweise im Anschluß an K l a u s Dockhorn (Die R h e t o r i k als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur und Geistesgeschichtc, in: Nachrichten d. A k a d e m i e der Wissen-

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Die G r u n d f o r m e n des pathetischen Stils

Welt erlebt und geschaut ist — der Stil in seiner unauflöslichen Einheit von Gehalt und Gestalt, darin sich Sinn und Klang ergänzen und alle Elemente — wie Bild und Bewegung und Syntax — in inniger und eigentümlicher Beziehung zueinander stehen. Daher kann der pathetische Ausdruck weder in einzelnen rhetorischen Figuren isoliert, noch in einer Vollständigkeit erheischenden Aufzählung aller seiner Merkmale angemessen erfaßt werden. 3 Bei der Beschreibung einiger wesentlicher stilistischer Formen muß man sich also bewußt sein, daß diese, dem Zusammenhang entnommen, nur ungenau den Individualstil repräsentieren und deshalb stets in Hinsicht auf ihre Funktion und ihren Stellenwert zu deuten sind. Es sucht demnach ein vorgegebener Inhalt nicht nachträglich seine stilistischen Figuren; diese sind vielmehr in der kompositionellen Einheit des Gedichts integriert. Der erwähnten Vorbehalte eingedenk, erörtern wir in der Folge einige Schillers pathetische Lyrik auszeichnende Merkmale, um das Pathetische auch von da aus in den Griff zu bekommen und in den späteren Einzelinterpretationen deren Bedeutung voraussetzen zu können. Auf das Wort, auf die Wortwahl sieht man sich dabei zuerst verwiesen, denn schon diese drückt eine bestimmte und bestimmbare Welt- und Wertbetrachtung aus. Bloße statistische Aufzählungen sind hier wie anderswo in stilkritischen Arbeiten unangebracht; unsere Darstellung kann sich zudem mit einem kursorischen, mit einem ergänzenden Überblick begnügen, da, wie erwähnt, Hartmut

3

Schäften zu G ö t t i n g e n , 1949, S. 109—150), d a ß die Bedeutung d e r rhetorischen T r a d i t i o n f ü r die Ästhetik u n d P o e t i k zu w e n i g untersucht sei. M e y e r verweist auf H a u g , den Lehrer Schillers auf der Karlsschule, der über R h e torik las, u n d nachdrücklich auf Sdiillers Q u i n t i l i a n - L e k t ü r e (1793) und f o r d e r t v o n daher, Schillers Dichtung „ m i t angemessenem R ü s t z e u g " auf ihre rhetorischen Elemente hin zu untersuchen. P a u l Böckmann ( G e d a n k e , W o r t u n d T a t in Schillers D r a m e n . J b . d. D t . Schillergesellschaft, Jg. 4, 1960, S. 2—41) möchte die F r a g e nach der R h e t o r i k auf ihre Voraussetzungen hin geprüft und „ z u r F r a g e nach dem Verhältnis v o n W o r t u n d T a t " weiterg e f ü h r t wissen (S. 13, A n m e r k u n g ) . Dieser F o r d e r u n g ist z u z u s t i m m e n : Es darf bei Untersuchungen des rhetorischen Stils nicht die isolierte Figur u n d deren T r a d i e r u n g in ihrer Z u f ä l l i g k e i t im V o r d e r g r u n d stehen, vielmehr m u ß die den rhetorischen Stil b e g r ü n d e n d e E i n b i l d u n g s k r a f t zuerst dargestellt w e r d e n , denn eine Formel v e r ä n d e r t ihren Sinn durch eine v e r ä n d e r t e geistige Haltung und Anwendung. In seinen „Studien z u r Sprache des Sturms und D r a n g s " , G e r m a n i s c h - R o m a nische Monatsschrift X X I I , 1934, S. 428, b e t o n t Friedrich Beißner, d a ß die Beschreibung rhetorischer Figuren u m ihrer selbst willen zu sehr an d e r O b e r fläche bleibe: „Es gibt eine Erlebnisart, die n o t w e n d i g zu einem rhetorischen Ausdruck d r ä n g t , das jugendliche Verlangen nach einem göttlichen O b j e k t , das als etwas g a n z andres, viel größeres n u r u n b e s t i m m t geahnt u n d geschaut w i r d . Was wir ,rhetorisch' nennen, w i r d also hier wesentlich m i t k o n z i p i e r t . "

Die pathetische Wortwahl

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Horchler „Studien zur Wortwahl in Schillers Anthologie-Gedichten" durchführte. 4 Diese Dissertation widmet ihre Ausführungen der „Erkenntnis des Auswahlprinzips für das ,auffallende, bedeutende Wort'" (S.5), verzichtet darüber auf jede geschichtliche Einordnung der Sprache des jungen Schiller und unterläßt es auch, verständnisschwere Wörter, Neuschöpfungen und Suevismen aufzulösen. Doch eindringlich und überzeugend beschreibt Horchler die „Kraft"- (z.B. „Hollunk") und „Situationswörter" („Zakenfels"), das komische, ernste und „typisch-schöne" Wort, das, wie man weiß, dem anakreontischen Bereich entstammt. 5 — Überaus groß ist Klopstocks Einfluß, der „Wörter von ausgemachter Stärke" („Von der Sprache der Poesie", 1758) empfohlen und seine Sprache dynamisch gemacht hatte, indem er das Simplex anstelle des Kompositums und das Transitivum anstelle des Intransitivums setzte. 6 Schiller besaß keineswegs Klopstocks Sprachethos, das diesen die deutsche Dichtersprache zu erneuern befähigt hatte; wie seine lyrischen Gegenstände, so sind auch seine Wörter recht verschiedenen und widersprüchlichen Anregungen ver' Der Untertitel dieser mschr. Heidelberger Dissertation, 1950 verfaßt, lautet: „Das Wort als Ausdruck eines rhythmisch-dynamischen Grundverhaltens." Grundsätzlich gilt, daß das Einzelwort, mitgerissen vom Rhythmus, in Schillers Jugendlyrik zurücktritt. Die pathetische Bewegung vermindert die Sprache als Sinn und geht über die einzelnen Wörter — wie über die Widerstände der Wirklichkeit — hinweg, um in langen Reihungen Wesen und Wirkung der gefeierten Kräfte auszubreiten. So vertraut sich der Pathetiker weniger dem konstitutiven Wort, dem Stützwort, als vielmehr der nachdrücklichen Worthäufung an. Daß die Begriffe „Gegensätzlichkeit" und „Harmonie", mit deren Hilfe zusammenfassend Schillers Gedichte verstanden werden sollen, einerseits nicht weit und andererseits nicht differenziert genug gewählt sind, beweist u. a. Hordilers Erklärung der „Pest" („Gräßlich preisen Gottes Kraft/Pestilenzen . . ."): die „Harmonie" sei als „Dennoch" gefordert (vgl. S. 129/130). Schillers barocke Tendenz, durch Kontrast und Paradox ungeheuerlich zu steigern, ist darin vielmehr zu erkennen. * August Langen: Deutsche Sprachgeschichte . . ., Spalte 1277 ff., ordnete den jungen Schiller in die Klopstock-Nachfolge, in den Irrationalismus des „Sturms und Drangs" usw. ein und unterschied zwischen einer „idealistischen", „materialistischen" und rokokohaften Sprachschicht. So willig man dem angedeuteten biblischen und barocken Einfluß zustimmt, so unwillig macht Langens Behauptung, Schillers Sprache sei „stets durch das Medium der bewußten rhetorischen Überlieferung hindurchgegangen". Schillers Distanz vom Affekt im Affekt wurde in der vorliegenden Arbeit wiederholt erwähnt, doch wird man derart kategorischen Rückschlüssen nicht beipflichten können, da die nötigen Vorarbeiten fehlen. * Über Schillers Assimilierung des großen Vorbildes neuerdings: Jean Murat: L'influence de Klopstock et les premieres poesies de Schiller, Etudes Germaniques, XIV (1959) S. 386—402.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

pflichtet.7 Neben jenen Wortstürmen, die „Zentnerworte" zusammenballen, finden sich — und zwar bis zur klassischen Epoche — viele empfindsame, verschwebend-leichte rokokohafte Laute, die in dieser U m gebung seltsam anmuten. „Jede Empfindung ist nur einmal in der Welt vorhanden, in dem einzigen Menschen, der sie h a t . . s c h r i e b Schiller an Lotte am 10. Februar 1790. Um das „genaue" Wort ringen denn die Jugenddichtungen, die „fiebrisch wilden Affekte" auszudrücken, die sich meist erst im wiederholten Andrängen einfinden. Auch die subtilste und extremste Gefühlsnuance soll adäquat — richtig und unmittelbar — wiedergegeben werden; erst das genaue Wort erlöst die Erfahrung. So haben die Worthäufungen den zweifachen Sinn, dem gesuchten Ausdruck immer näher zu kommen und zugleich durch die Wiederholung von Wörtern, die derselben Bedeutungssphäre entstammen, eine vermehrte Wirkung zu erzielen („Brüder kommt! — erblasset! — schauert! zittert! / Bebe j e z t . . „Wiltmaister"-Threnodie v. 7 ff.). Dynamik und Intensität entscheiden bei der Wahl der Verben. „Ewig fliehn sich unsre Herzen zu" („Die Freundschaft" v. 24) — das Verb ist derart intensiviert, daß es fast metaphorische Bedeutung erhält und oft mit dem Nomen nicht mehr übereinstimmt: „Wo die Waage rollt" des jenseitigen Gerichts („Die schlimmen Monarchen" v. 96). Es ist nicht nötig, Schillers zahlreiche „Verbalmetaphern" zu erwähnen 8 (zittern, wimmeln, wimmern, wirbeln usw.), die in die extremsten Bereiche übergreifen und als „tönende Verba" kompensieren, was manchmal ihnen, oft aber ihren Nomina im Gegenständlichen mangelt. Die pathetische Sprache ist mit dieser „Zweischichtigkeit" charakterisiert: die intensive klangliche Sinnlichkeit ersetzt, was dem „Sentimentalischen" an natürlicher Sinnenhaftigkeit des Ausdrucks abgeht. Die Exaltation als Stilprinzip: „Noch zermalmt der Schreken unsre Glieder — " („Rieger" v. 1) — die Sprache muß notwendig hyperbolisch und superlativisch sein und wie die pathetischen Vorstellungen „kolossalisch" (Ich „schalle mit Sturmgeheul / deinen Nahmen, Verworfner . . ." „Der Eroberer" v. 10 ff.). Die erwähnte Klangsinnlichkeit bei gegenständlicher Entsinnlichung drücken besonders Schillers Substantive aus. Schon früh verfügt er über eine große Anzahl von durchfühlten Abstrakta (Gott und Liebe, Tugend und Freundschaft usw.), die allerdings mit den späteren, seine Dichtung tragenden Begriffen wie Natur, Freiheit, Ideal und Form usw. weder in ihrer repräsentativen Bedeutung

7

8

Sdion Iffland sagte vom „Fiesko", daß seine Sprache „aus allen Jahrhunderten gemischt" sei. (Nach E . Müller: Der Herzog und das Genie, 1955, S. 324.) Vgl. das Wortregister zum 1. Bd. der histor.-krit. Ausgabe Goedekes.

Die pathetische W o r t w a h l

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noch in der Häufigkeit des Gebrauchs zu vergleichen sind. Die Welt, die der „naive" Dichter in ihren Erscheinungen aufleuchten läßt, versucht der Pathetiker im verselbständigten Begriff zu erfassen. Dabei nimmt die dynamische Ausdrucksbewegung des Pathos die Abstrakta auf und löst sie aus ihrem festen Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem. Zur Verdeutlichung seien einige Verse des Liedes „An die Freude" angeführt: Groll und Rache sei vergessen, unserm Todfeind sei verziehn Keine T h r ä n e soll ihn pressen, keine Reue nage ihn. ( v . 6 5 — 6 8 )

Die Affektsprache wird zudem von den Verben, den Urworten und „Machtwörtern", wie Herder sagte, in Aktion gebracht. Ihre Bewegung verhindert, daß die Epitheta andere als überall passende, typische Eigenschaften formelhaft zugeteilt bekommen. Sie sind von außen beigegeben, ebenso fest wie anschauungsleer, bloße Beiworte meist, deren Bedeutung oft schon im Substantiv enthalten ist. Nur ein Beispiel sei gegeben, dessen anschauungsarme Epitheta allerdings weniger die daktylische Bewegung als vielmehr den Mangel an individueller Sprachgebung zeigen: „Elisium": die „stönende Klage", „ewige Wonne, ewiges Schweben"; „ewiger M a y " , „ewig Hochzeitfest", „lachende Fluren", „flötender Bach", „unendliche Räume", „unendliche Freude", „trauerndes Leyd", „wallende Pilger", „säuselnde Schatten" usw., wobei besonders die tautologischen Personifikationen auffallen.' Kräftiger und eigener sind Schillers Komposita, die mit gegenständlichen und emotionalen Gehalten die geschiedenen Bereiche verknüpfen wollen. Die bedeutsamen Grundworte gehen immer neue Verbindungen ein (Sonne — Sonnenhügel, -blick, -pracht, -ball; Fels — Felsenadern, -stein, -kraft; Flamme — Flammenwind, -äugen, -kerzen; Adler — Adlergang, -gedank, -pfad; Purpur — Purpurflamme, -gewölk, -blut usw.); regelrechte „Wortballungen" suchen Atmosphäre, Bild, Vorgang und Empfindung zusammenzugeben: „Schauernachtgeflüster" („Laura am Klavier" v. 34), „Lebenslampenschimmer" („Melancholie" v. 94) sind Beispiele dafür, wie der Pathetiker mit suggestiver Intensität die Wortkraft in einem Punkt verdichten will. 10 Damit ist der Weg zur Verwendung der Oxymora beschritten, die in Verbindungen wie „Qualentzüken — Paradisesschmerzen" („Die see* H e r m a n n Schneider: V o m Wallenstein zum Demetrius . . ., S. 1 1 4 ff., findet in jenen „termes banals" recht eigentlich die Verwandtschaft des D r a m a s Schillers mit dem spätklassischen französischen bestätigt. 10 Ein schönes Beispiel hierfür ist die V e r d r ä n g u n g des Nomens durch eine Interjektion: „Ausgegossen in ein heulend A c h " ( „ E i n e Leichenfantasie" v . 1 3 ) : D e r v o m Schmerz überwältigte V a t e r ist auf den K l a g e l a u t „reduziert".

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Die Grundformen des pathetischen Stils

ligen Augenblike" v. 31) auftreten, in der paradoxen Fügung die sich berührenden Extreme noch zu steigern suchen und sich in vielen Wendungen fortsetzen wie diesen: „stumme Donnersprache" („Die Kindsmörderin" v. 66), der „leise Donner des Gewissens" („Der Venuswagen" v. 15). Baudelaires Ausspruch ist bekannt, daß man, um die Seele eines Dichters zu durchschauen, in seinem Werk diejenigen Wörter aufsuchen müsse, die am häufigsten vorkommen: „Das Wort verrät, wovon er besessen ist." 11 Das Schlüsselwort, das Sdiillers jugendliches Lebensgefühl enthält, ist für Horchler 12 zu Recht die „Wollust", die das rauschhafte Ineinander von Sinnlichem und Metaphysischem, das Zugleich von Emotion und transzendierendem Verlangen ausdrückt, als „schwesterliche Wollust" und „Wollust der Weisen" einen weiteren Bedeutungsumfang als heute hat und sich in viele einprägsame Komposita verzweigt (Wollustflammen, -funken, -wellen usw.). Andere Wörter könnten beigesellt werden, doch erlangen sie in der Jugendlyrik, wie gesagt, nicht die beherrschende Stellung jener Stützworte, die späterhin das klassische Weltverständnis voll vielfältiger Bedeutung tragen. Um den Unterschied in der Wortwahl des jugendlichen und des klassischen Schiller zu ermessen, bedarf es nur des Blicks auf die einführenden Verse des „Reichs der Schatten": Ewig klar und spiegelrein und eben Fließt das zephyrleidite Leben Im Olymp den Seligen dahin. Monde wechseln und Geschlechter fliehen, Ihrer Götterjugend Rosen blühen Wandellos im ewigen Ruin.

Hüpfte bisher die Sprache vom esoterischen zum grellen, vom begrifflichen zum extrem-sinnlichen Wort ohne Übergang, so sind jetzt fast alle Wörter einer gemeinsamen geistig-sinnlichen Sphäre entnommen und bilden eine vollkommene klangliche Einheit. In der Jugend ging es, unbekümmert um das Unmaß der Empfindung, darum, das höchste Maß an Richtigkeit zu erzielen und, diesem gleichgeordnet, die Unmittelbarkeit der großen Emotion im Ausdruck aufleben zu lassen — und zwar derart, daß die Sukzession von Emotion und Wort gleichsam wegfallen sollte, denn: „ S p r i c h t die Seele so spricht ach! schon die S e e l e nicht mehr" 13 . Das Wortproblem ist natürlich das Problem der Sprachgebung überhaupt. Schillers klassische Sprache hat das Ziel, Individua11

12 13

Zit. nadi Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 1956, S. 33. Vgl. Horchler a.a.O., S. 23 ff. und S. 118 ff. Vgl. Nationalausgabe Bd. I, S. 302: „Sprache".

Die pathetische Wortwahl

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lität und Anschauung trotz der eigenen sentimentalischen Anlage zu erreichen: Individualität, obgleich Schiller oft darüber klagte, daß die Sprache ihrer Natur nach eine Tendenz zum Allgemeinen habe und den Gegenstand seiner individuellen Besonderheit beraube 14 ; Anschaulichkeit, obwohl die „Idee des Übersinnlichen", von der im Aufsatz über die tragische Kunst als dichterischer Aufgabe die Rede geht, nicht darstellbar ist, sondern, in Kants Worten, darstellbar allein das „sinnliche Scheinen der Idee" ist, welches das Schöne ausmacht. Um den charakterisierten Unterschied zwischen den beiden Epochen auf Begriffe zu bringen, und zwar auf diejenigen, die Schiller selbst darbietet, bleibt festzuhalten, daß das jugendliche Wort die Empfindung „präsentieren", das klassische aber die unausdeutbare Idee „repräsentieren" soll. Die oben angeführten Eingangsverse des „Reichs der Schatten" besitzen eine sublime Gegenständlichkeit. Die Worte entwerfen ein Bild, das einen bedeutungsvollen Hintergrund erscheinen läßt: wie sehr dieses auch reines Bild ist, so hat es daneben noch die Funktion, jenes „Reich" zu repräsentieren, zu dem sich zu erheben der Aufruf geht, und den Anfang mit dem Ende des Gedichtes zu verbinden. Von der Erhebung des Sinnlichen ins Ideelle handelt es — in seiner Sprache durchdringen sich Sinnliches und Geistiges und erinnern an Schillers These von der Poesie, die im „Indifferenzpunkt des Ideellen und Sinnlichen" 15 liege. Der erhabene Gegenstand der klassischen Epoche verlangt das edle, feierliche Wort. Ausgeschieden ist alles Unreine — das expressive, das schwülstige, das überhitzte Wort der Jugend. In der geistig-sinnlichen Sphäre des „Reichs der Schatten" werden selbst die bezugnahen Dingworte transparent. Das Mythologische, das in der Jugend als sdiöne Beigabe erschien, den Stil zu erheben, ist ein Teil der reinen Darstellung geworden. Erläuterte Schiller die Sprache des Schulverstandes damit, daß das Zeichen dem Bezeichneten heterogen, die Sprache des Genies aber mit dem Gedanken so sehr eins sei, „daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößt erscheint" 16 , so kennzeichnete er seinen eigenen klassischen Sprachstil, wie er „Das Glück" (1799) vornehmlich durchwaltet.

14

15 16

6

Vgl. den Brief an Körner vom 20. Juni 1793, den Brief an Goethe vom 27. Februar 1798. Säk.Ausg. Bd. X V I , S. 125. Säk.Ausg. Bd. X I I , S. 175 f. K e l l e r , Schiller

DIE SENTENZ Es wurde schon mehrfach betont, daß sich Schillers subjektivistisches Ausdrucksverlangen in den überkommenen Stilkategorien selbst bändigt. Alle pathetischen Äußerungen durchzieht das Streben nach „Prägnanz", das sich in den Sentenzen verdichtet. Auf den ersten Blick scheint die pathetische Unendlichkeits-Lyrik der knappen Sentenz wenig gewogen zu sein 1 , zumal ihre Finalität und übergeordnete Objektivität sogar dem Drama und seinen handelnden Personen oft als abträglich vorgehalten wird, da sie das Individuelle beschneide, den Handlungsablauf leicht hemme und einen Standort über den dramatischen Verwicklungen verlange, denen die Sprechenden just verhaftet sind. Doch die pathetische Lyrik ist — dem Monolog im Drama nahe verwandt — wohl geeignet, die Sentenz aufzunehmen: In einem einzigen knappen und prägnanten Satz zieht der Pathetiker die „Summe", die die Bewegung staut, die Bedeutung der Aussage erschließt und die Einzelheit auf das Ganze, das Persönlich-Zufällige auf das überpersönliche Gesetz bezieht. 2 Von Schillers „Zitaten" und „geflügelten Worten", die, ihres Kontextes beraubt, heutzutage ein Eigendasein führen, braucht nicht gesprochen zu werden. Dieser Überblick erfordert auch nicht, die Sentenz gegen verwandte Stilmöglichkeiten wie Gnome und Sprichwort abzugrenzen und eine eingängige Begriffsbestimmung zu geben. An einigen Beispielen — und zwar zunächst solchen, die die Vergänglichkeit des

1

So schreibt Robert Petsch: Zur inneren Form des Dramas, Euphorion X X X , 1929, S. 25, die Sentenz sei „eine spezifisch dramatische F o r m " . Schiller selbst empfiehlt in seinem Aufsatz „Ober die tragische Kunst", „allgemeine Sentenzen" zu gebrauchen. — Stil und Nachwirkung antiker „Pathosformeln" (z. B. „Nur über meine Leiche!"), auf die zuletzt E. R . Curtius (Ges. Aufsätze zur roman. Philologie, 1960, S. 2 3 — 2 7 ) im Anschluß an Aby Warburg kurz hinwies, böten eine willkommene Gelegenheit, die pathetische Imagination des jungen Schiller mit der des Lucan vor allem zu vergleichen und damit Schillers lateinisches Erbteil typologisch zu bestimmen. (Vgl. zu Lucan: Eduard Fraenkel: Lucan als Mittler des antiken Pathos. In: Vorträge der Bibliothek W a r burg 1924—1925, 1927, S. 2 2 9 — 2 5 7 . )

2

André Jolles: Einfache Formen, 1930, S. 157 und S. 164, versteht die Sentenz aus ihrer betrachtenden Einstellung und behauptenden Haltung.

D i e Sentenz

83

Irdischen betonen — suchen wir die Verwendung der sentenzhaften Aussage durch das Pathos zu verdeutlichen. Während am Ende des achten Abschnitts des Trauergedichtes auf Weckerlin der Tote noch angesprochen wurde, lauten die Anfangsverse des neunten: O , so klatschet! klatscht doch in die H ä n d e , R u f e t doch ein frohes Plaudite! — Sterben ist der langen N a r r h e i t Ende, In dem G r a b verscharrt m a n manches Weh . . . (v. 9 5 — 9 8 )

Mit der Hinwendung zu den Trauernden und der seltsamen Aufforderung an sie geht die Klage um den toten Freund in die allgemeine Feststellung über: „Sterben ist der langen Narrheit Ende". Das in den vorhergehenden Abschnitten in seinen Gegensätzen gestaltete unendliche Leben wird auf eine eindeutige „Formel" gebracht (eine „lange Narrheit") und zugleich in seiner Hinfälligkeit erfaßt. Die „Narrheit" ist zudem noch das Keimwort für die folgenden Verse, die in „theatralischen" Bildern das Wesen des Erdenbürgers — „Gaukler, theatralisch ausstaffirt . . . " — begreifen und auch entlarven. In „Riegers Todenfeyer" lobt der Dichter zunächst die persönlichen Tugenden des Verstorbenen — in verallgemeinerten Vorstellungen allerdings, wie man sie jedem hochgestellten Toten beizugeben pflegt, und fährt dann fort: R a n g und Macht, die lächerlichen Flitter, Fallen ab am T a g e des Gerichts. Fallen ab wie Blätter im Gewitter, U n d der P o m p — ist Nichts! — (v. 3 4 — 3 7 )

Diese sentenzhaften Verse, die durch den beliebten Naturvergleich bekräftigt werden, wenden sich wieder an eine Zuhörerschaft, an die „Krieger K a r l s " diesmal. Der Pathetiker spricht also die ihn erfüllenden Erfahrungen in autoritativer Form aus, wenn es gilt, ein Publikum zu gewinnen. Um seinem Wertempfinden Annahme zu verschaffen, muß die Aussage das Unwesentliche, das Persönlich-Zufällige abgestreift und die Fülle der Möglichkeiten vereinheitlicht haben. 3 3



In seiner stoffreichen A b h a n d l u n g über die Sentenz unterschied P a u l N i e m e y e r die vorder-, hinter- und untergründige Sentenz ( G e r m a n . Studien 146, 1934, S. 34 ff.). N a c h ihm gestaltet die vielgebrauchte hintergründige Sentenz die Welt des Moralischen und das Wesen der Erscheinungen. D i e v o r d e r g r ü n d i g e Sentenz sei „ w e l t k l u g " , die untergründige spreche v o m Transzendenten, v o n Schicksal und Z u f a l l . D a er seine Begriffe an Schillers klassischen D r a m e n v o r allem ablas, v e r b o t es sich, sie zu übernehmen, zumal die oben angeführten „sentenzhaften P r ä g u n g e n " in ihrer pathetischen F u n k t i o n betrachtet werden.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

Immer wieder nimmt eine sentenzhafte Prägung die Natur und ihr gesetzmäßiges Werden und Vergehen auf und überträgt sie auf die menschlichen Dinge. Im Gedicht „An Minna" stehen die Verse: „Schwalben, die im Lenze minnen, / Fliehen wenn der Nordwind weht" (v. 29 f.). Der nicht eben glückliche Vergleich ist gewählt, um Minna an ihre vergängliche Schönheit zu ermahnen. Es war Herder, der die in den Sentenzen anzutreffende Lehrhaftigkeit für selbstverständlich erachtete4, doch gestand der junge Schiller der Sentenz der moralischen Nutzanwendung oder des Schmuckes wegen weniger Raum zu als die barocke Dichtung. Die Sentenz setzt die Distanz des Dichters von seinem Gegenstand voraus. Daher ist es kein Zufall, daß die im Affekt den Affekt darstellenden Jugendgedichte zwar stets die feste Kontur von Begriff und Vers bewahren, die Objektivität der Sentenz aber erst im Laufe der Jahre erreichen. So ist die „Resignation" 5 das von Sentenzen am stärksten geprägte Gedicht des Übergangs, in dem die dichterische Reflexion das unmittelbar Bedrängende entfernt, dessen sich die früheren Gedichte im affektgeladenen Ausbruch entledigt hatten. Die Klage geht darüber, die Jugend nicht gelebt zu haben, da das tugendsame Gelöbnis sich dem jenseitigen Lohn verschwor und das Irdische dafür geringachtete. Sinnfällig beweist die Einführung des Genius, daß die Sentenz aus der „Höhe", aus einem Standort über den Dingen gefällt wird. Das menschliche Leben wird in „Hofnung" und „Genuß" geteilt, eine Art Geschichtsphilosophie in wenigen Versen entworfen. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" (v. 95). Ein weites Sinngefüge leuchtet in dieser Schlußsentenz auf: Der universale Aspekt des Pathetikers bildet sich fortschreitend vom Einzelfall zum Weltgesetz heraus.* Die persönliche Betroffenheit — das Ansatzmoment der pathetischen Bewegung — wird auf das allgemeine Geschick bezogen; die unmittelbare Bedrängnis verliert sich in der vorwaltenden Gedanklichkeit. Eine zweifache Tendenz läßt dieser vielumworbene Vers damit erkennen: einerseits die Erweiterung des Individuellen (indem die eigene Not auf den Horizont der Weltgeschichte projiziert wird), andererseits die Ver4

Vgl. Herders Gedanken über „Spruch und Bild": Suphan, Bd. VI, S. 150 ff.; vgl. audi Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, 9. Auflage, 1947, S. 270. Gundolf findet in Schillers Sentenz die Beziehung der jeweiligen Situation zur moralischen Weltordnung angegeben.

5

Vgl. die Interpretation der „Resignation", S. 154—59.

6

Von der auch für viele Gedichte geltenden „Finalität der Anlage" in den „Räubern" spricht G. Storz (S. 27): „. . . immer ist dem Pathos ein Telos zugeordnet — ein Entschluß oder ein Faktum."

D i e Sentenz

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dichtung der Fülle der Möglichkeiten auf ein einziges Gesetz (indem die Weltgeschichte auf das Weltgericht reduziert und mit ihm identifiziert wird). Damit hat die Sentenz ihrer Aufgabe genügt, den Einzelfall in die Gesamtheit der Fälle einzugliedern, ihn „aufzuheben". Das Weltgesetz bestimmt die Antwort, die der Genius in der Schlußstrophe dem resignierenden „Du" gibt. Das Verhältnis des Persönlichen zum Überpersönlichen, das die Sentenz ausdrückt, ist demnach dem Verhältnis des pathetischen Ausdruckswillens zu den vorgegebenen rhetorischen Stilmitteln analog: der persönliche Ausdruck wird bestimmt durch die übergeordneten Maße, die ihn aufnehmen, ohne ihn einzuengen. In der knappen und geschlossenen Form der Sentenz offenbart sich eine Erlebnisweise, die den Lebensstoff zu prägen unternimmt, Sinn und Bedeutung ermittelt und im geschliffenen Wort aussagt. Als „adhortado" wie als „exclamatio" auch verwendet sie der junge Schiller häufig; in den satirischen Gedichten bilden sie die überraschende, schlagende Pointe; an anderer Stelle geben sie ein Resume, das beispielsweise die zweite Fassung der „Götter Griechenlands" großartig abschließt und vor allem die Szenen- und Aktschlüsse vieler Dramen Schillers kennzeichnet. Wie die sentenzhaften Prägungen mehr als nur eine einzelne Funktion des pathetischen Stils erfüllen, so gewähren sie auch mehr als nur eine Möglichkeit, sie zu deuten. Ihre erste Funktion ist, die Ergriffenheit des Pathetikers zu begreifen, die zweite, einer bestimmten Situation ein allgemeingültiges Gesetz zu geben. Innerhalb der affektgetriebenen Sprache ist sie einem Verhalt gleich, distanzierend und überhöhend, abstrahierend und verallgemeinernd. Denken und dichterisches Schauen vereint die Sentenz 7 , doch dient sie keinem System, noch bedarf sie des Beweises f ü r ihre Thesen. Die Welt und ihre Dinge, deren erscheinende Vielfalt dem Pathetiker „transparent" ist, finden ihre Einheit in der sinngebenden Gestalt der Sentenz. Verglichen mit Schillers klassischen Dramen, besitzen seine Gedichte natürlich nur wenige Sentenzen, deren Zahl sich noch verringerte, würde an sie der Maßstab der Schultheorie angelegt. Dies ist der Grund, weshalb die angeführten Beispiele, die viele andere vertreten, als „sentenzhaft geprägt" bezeichnet wurden. Neben der erwähnten Distanz und 1

Man wird Paul Bödtmann: Schillers Geisteshaltung . . ., S. 60, nur teilweise beipflichten können, wenn er die Sentenz als „bloß rationale Vernunfterkenntnis" erklärt und damit ihre Anschaulichkeit übersieht. So gewiß diese Stilfigur geistiger N a t u r ist — „eine Form der Reflexion" nadi Hebbel (Tagebuch N r . 2712, 22. Juni 1843) —, so gewiß ist sie auch bildlich — wobei diese Bildhaftigkeit des Pathetikers die Schärfe des erkennenden Verstandes aufweist, wie auch die Epigramme später zeigen.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

Prägnanz und der Ausrichtung auf ein Objektives haben sie die echt pathetische Aufgabe, „im kleinsten Punkte die höchste Kraft" 8 zu sammeln, um eindringlich wirken zu können.

8

Vgl. „Breite und Tiefe" v. 12 (Nat. Ausg. Bd. I, S. 384).

DIE ANTITHESE U N D DAS ANTITHETISCHE P R I N Z I P Mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand erzielen die Thesen und Antithesen Schillers ein Maximum an Aussagekraft. In den zahlreichen Oxymora keimhaft angelegt, sind die Antithesen mit der Sentenz, der Parallele, dem Vergleich und dem Chiasmus eng verwandt. Satz und Gegensatz bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Von der polaren Grundstruktur der dichterisch erfaßten Welt des jungen Schiller wurde gesprochen1 — die Antithese entstammt der dualistischen Vorstellung des Tragikers. Man hat Schillers Antithesen geradezu als auffälligste Kennzeichen seines pathetischen Stils deklariert: nur bedingt kann dieser Meinung zugestimmt werden, und überdies mit der weiteren Einschränkung, daß erst die späteren Versdramen dieses Stilmittel zur Vollendung brachten, während die Jugendgedichte weniger schulmäßige Beispiele aufweisen, als man auf Grund der wesenhaft dialektischen Anlage ihres Verfassers vermuten möchte. In Bezug auf die Gedichte ist es also ratsam, mehr von antithetisch geformten Versen zu sprechen als von Antithesen, die als Beispiele für eine Poetik dienen könnten. Schon in der „Abend"-Pastorale bittet der Dichter: „Theil Welten unter sie — nur, Vater, mir Gesänge" (v. 20). In diesem Wunsch wird geschieden zwischen dem äußeren Besitz und der künstlerischen Befähigung. „Da die Götter menschlicher noch waren, / Waren Menschen göttlicher" („Die Götter Griechenlandes" v. 191 f.): In dieser einprägsamen „Formel" sammelte Schiller den Gegensatz, der sich zwischen Antike und Moderne auftut. Aufschlußreicher als diese Beispiele sind Verse des Liedes „An die Freude": „Hoffnung auf den Sterbebetten, / Gnade auf dem Hochgericht!" (v. 99 f.): Die pathetische Ausschließlichkeit, die sich in der „ e i n e n Vorstellungsart" dokumentiert, nimmt lebendige Gegensätze auf, die die leidenschaftliche Bewegung zusammenfaßt und als lösbar postuliert. Der junge Schiller hebt enthusiastisch den einen Pol des Gegensatzes in seinen Gedichten zugunsten des für „positiv" erachteten 1

Vgl. S. 29 ff.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

anderen auf. Das unterscheidet inhaltlich seine Form der Antithese in charakteristischer Weise von der barocken2, die den unversöhnlichen Gegensatz von Diesseits und Jenseits, Wesen und Erscheinung ausdrückt, indem sie, vom Alexandriner noch unterstützt, das eine Gegenglied ausschließt. Für den jungen Schiller ist die Antithese die Form, die den überwindbaren Gegensatz bezeichnet sowie den Versuch ermöglicht, die unendliche Welt zu erfassen. Daneben ist sie das vorzüglichste Mittel der Steigerung, das die Gegensätze nicht um ihrer selbst willen darbietet, sondern das ihr Wesentliche: die Erhöhung des Geistigen in allen seinen Erscheinungsweisen, im Fortgang der dichterischen Entwicklung mit immer größerer Eindringlichkeit wiedergibt. Von nachdrücklicher Bedeutung ist das antithetische Prinzip für den Bau der Gedichte. In der „Morgenfantasie" ist die Stimmung des heimatlosen Flüchtlings dem herrlich erwachenden Tag der Natur bewußt entgegengesetzt. Die kontrastierende Darstellungsform soll die trostlose Situation nicht nur verdeutlichen, sondern zuleich eindrucksvoll steigern. Im Leichencarmen für Weckerlin verstärkt die Entgegensetzung des gegenwärtigen Leids und der hoffnungsfreudigen Vergangenheit das Pathos. Den adversativen Charakter des Gedichts betont auf grelle Weise noch der Beginn des siebten Abschnitts (v. 71 ff.), der den umtrauerten Toten mit „Aber wohl Dir! . . ." anredet. Den Gegensatz von Gegenwart und Vergangenheit gestaltet ausführlich „Das Geheimniß der Reminiszenz", welches das Verlangen der Liebenden nach Einssein durch den platonischen Gedanken einer vorweltlichen Wesenseinheit begründet. Aus dem Gegensatz zur wirklichen Welt gestaltet ist „Elisium" — eine Idylle, in der eine vollkommen gelöste Stimmung atmet. Das Irdische ist überwunden, doch drängt es sich als schwere Erinnerung noch in die elysische Heiterkeit. Mit jugendlicher Lust am Gräßlichen ist „Die Pest, eine Fantasie", geschrieben, die — quia absurdum — Gottes Kraft eben durch Seuchen preisen läßt. 3 Weitere Beispiele (wie die „Fantasie an Laura") anzuführen, erübrigt sich. Die Frage ist, ob der reife Schiller sich nicht des Kunstmittels, 2

In der Festschrift für Muncker (1916) und nachher in seinem bedeutenden Buch: Deutsche Klassik und Romantik, 1928, 3. Aufl., S. 205 ff., brachte Fritz Strich die Unterschiede wohl zu apodiktisch auf einen Nenner: Die barocke Antithese „schloß nicht ab, sondern sie schloß aus". Die „klassische" Antithese bestimmte er als ein Synthese, die, wie man hinzufügen muß, die Polarität bewußt hinnimmt und überhöht.

3

Vgl. auch „An die Parzen", wo, wie in Klopstocks Gedicht „Die Braut", vier Strophen ausführen, was der Dichter nicht besingen will.

D i e Antithese und das antithetische Prinzip

89

Gedichte antithetisch zu bauen, begab. Die „Götter Griechenlandes" 4 beweisen, d a ß die antithetische Anlage dieser Elegie es ist, aus der sich das Pathos entwickelt. Unversöhnlich stehen die antike Götterwelt und der aufgeklärte Monotheismus der Gegenwart einander gegenüber. Die eigene Gegenwart wird völlig entwertet, um die vergangene „schöne Welt" desto herrlicher erstehen und den erlittenen Verlust desto schmerzlicher fühlen zu lassen. Den bewußten Gegensatz brachte die fünf Jahre später, 1793, geschriebene Fassung noch klarer zum Ausdruck, indem sie zwar die aggressiven Töne von früher mied, den elf „antiken" Strophen jedoch vier die eigene gottfremde Welt darstellende ohne Übergang angliederte und damit entgegenstellte. Im „Reich der Schatten" folgt auf die Exposition der freischweifenden Eingangsstrophen der antagonal strukturierte Mittelteil: Mit der neunten Strophe beginnen die vier Strophenpaare, die immer neue Gegensätze auftun, um, einander ergänzend, immer neu aufschwingen zu können. Das irdische Leben mit seiner Gebundenheit und Verwirrung, das überwunden werden soll, geben die „Wenn"-Strophen wieder, während die das übergeordnete, ins Ideal gehobene „Reich der Formen" abbildenden mit dem adversativen „Aber" anfangen. Herrscht in der Wirklichkeit hier der Kampf, so dort, im „Jenseits des Sinnenhaften", das ein Sein „in der Welt über der Welt" bedeutet, der Friede; muß hier mit dem Stoff gerungen werden, so entsteht dort die Form frei, „wie aus dem Nichts gesprungen" (v. 11); reicht hier keine Anstrengung aus, das Gesetz zu erfüllen, so ist dort aller Gegensatz von Sinnlichem und Sittlichem geschwunden; tut hier Mitleiden not, so ist dort alles Leid gestillt. Mit dieser angedeuteten Vielfalt von Gegensätzen steigern sich die Strophen gegenseitig und bereiten auf den Schluß vor, der ihnen entwächst und der im Symbol des gepeinigten Herakles und seiner A u f f a h r t in den Olymp die endlich erreichte Vollendung darstellt. Die abschließende Strophe weist auf die einführende, die das olympische Leben der Seligen gestaltet, wieder zurück. Damit sind die antithetischen Mittelstrophen in der ausgewogenen zyklischen Grundstruktur der Dichtung wundersam aufgehoben. Weniger vollkommen gelang es in jenem fruchtbaren Sommer 1795, die beiden Geschlechter in der „Würde der Frauen" voneinander abzuheben. Der „Frauenpreis", außer in der Eingangsstrophe stets (acht Mal) mit „Aber" begonnen, ermüdet durch seine zahllosen Variationen, während die dem Manne gewidmeten „Gegenstrophen", die die „fraulichen" unterbrechen, dessen Wesen durch den überanstrengten Willen zum reinen Gegenbild der Frau verzeichnen. Gefahr und Grenze des antithetischen 4

Vgl. die Interpretation dieses Gedichts S. 159—74.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

Prinzips 5 machen sich bemerkbar, wenn der Pathetiker die ohnehin abstrahierten „Idealtypen" in ihrer undifferenzierten Einseitigkeit und Gegensätzlichkeit noch steigert. Uberhaupt wird man von den nachfolgenden psychologiesüchtigen Zeitläuften aus sagen müssen, daß die typisierende Menschendarstellung der klassischen Idealisierungskunst Schiller selten glückte, obgleich sich diese in ihrer dialektischen Anlage neben der „Reduktion" des Individuellen auf das Genus ebenso durch dichterische „Individualität" auszeichnen sollte. Die leicht spöttischen und subjektivistisdien Romantiker ließen es sich denn auch nicht entgehen, die „Würde der Frauen" nach ihrer Manier zu persiflieren.

5

Es sei in diesem Zusammenhang an Goethes Unwillen über die Gestalt des Franz in den „Räubern" erinnert, der, als pure Kontrastfigur zu Karl, eher eine Fratze sei, als eine bedeutende Gestalt wie Richard III.

DIE APOSTROPHE Am Widerspruch entzündet sich .das pathetische Sprechen gleichwie am Übermaß der ins Wort drängenden Leidenschaft. Als Anruf und Ausruf bestimmt es den Stil, dessen Bewegung auf ein gescholtenes oder gefeiertes Gegenüber gerichtet ist. Schon das erste Gedicht des jungen Schiller, „Der Abend", kennzeichnet beispielhaft, was diese Sätze meinen: Der zweite Abschnitt redet nach der Beschreibung des Sonnenuntergangs im ersten direkt des „Abends Schöpfer" an: „Laß die Begeisterung die kühnen Flügel schwingen, / Zu dir, zu dir, des hohen Fluges Ziel" (v. 11 f.). Am Anfang steht das göttliche, im Aufsingen erstrebte „Du", welches das dichterische „Ich" erst erwirkt, denn während im neunten Vers noch des „Dichters Geist" in der dritten Person bloß genannt wird, erfordert die Anrede in den nachfolgenden Versen das sprechende Subjekt („O GOtt, du gäbest mir Natur, / Theil Welten unter sie — nur, Vater, mir Gesänge" v. 19 f.). Der neunte Abschnitt (v. 85 ff.) desselben Gedichts, der auch die Natur apostrophiert, ist unter dem Eindruck der göttlichen Schöpfermacht sogar in der Form der Selbstanrede gehalten („O Dichter schweig... dein feurigster Gesang . . . " ) . Diese Selbstanrede, die Klopstock und die „Stürmer und Dränger" oft in der Überfülle des Gefühls verwenden, findet sich immer wieder auch bei Schiller, gelegentlich als Anrede an das beherrschende und verselbständigte Organ oder Vermögen wie in der „Gröse der Welt": „Senke nieder / Adlergedank dein Gefieder, / Kühne Seeglerin, Fantasie, / Wirf ein muthloses Anker hie" (v. 27—30). Mit der „Waffe des Worts" verhöhnt Schiller „Die schlimmen Monarchen", die er direkt anredet und deren fingierte „Gegenrede" er in die eigene Rede aufnimmt. Von einem großen Monolog möchte man hierbei sprechen — wie auch in der „Kindsmörderin", dodi ist wesentlicher, den Wechsel der Anrede, wie er im „Eroberer" statthat, festzuhalten. Schon im Eingangsvers wird dieser angerufen, in den folgenden Strophen wiederholt, bis der Abstand zu Beginn der fünften Strophe („Ha! dort schreitet er hin . . . " v. 17) gewonnen ist und sodann der „Erhabene", die „Väter", die „Erde" sogar flüchtig apostrophiert werden können. Die rhetorische Frage der achten Strophe gewinnt das nahe

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Die Grundformen des pathetischen Stils

Gegenüber des Tyrannen wieder; daraus entwickelt sich die Identifikation mit dem titanischen Verhaßten und Bewunderten, die beschrieben wurde. 1 Innerhalb der Antwort findet sich eine Anrede an die Menschen: „O ihr wißt es noch nicht, welch ein Gefühl es i s t . . ." (v. 37), die beweist, daß Schiller das Publikum mitdachte und seine Lyrik eng verwandt ist mit der dramatischen Darstellung, der, wie man weiß, Selbstanrede und Redewechsel nicht vorbehalten sind. Um den Wechsel der Anrede nochmals zu verdeutlichen, sei von vielen Beispielen ein weiteres ausgewählt: Das „Rieger"-Carmen, das, wie früher die Muse, den „weinenden Gesang" (v. 14) anruft, Rieger zu feiern, spricht ausführlich den Toten an; sodann wendet es sich an die „Krieger Karls". Wie auf dem Theater bei einer neuen Szene tritt eine neue Figur auf: der Tod übernimmt im fünften Abschnitt die Rede an die „Erdengötter". Darauf wird nochmals Rieger in direkter Anrede gefeiert, bis er in Vers 89 in die dritte Person zurücktritt. In einer kühnen, von Anaphern unterstützten Steigerung „transzendiert" die pathetische Bewegung, die die Anwesenden aufnimmt: „Dorten sehn wir — Jauchzet Brüder — / Dorten unsern Rieger wieder". Diese szenischen Wechsel gewinnen dialogische Belebtheit in der erwähnten „Gröse der Welt", deren Unendlichkeit durch Rede und Gegenrede zweier einander begegnender „Weltenfahrer" versinnlicht wird. Auch die „Resignation" erhält ihren unmittelbaren und bedrängenden Eindruck durch die eingestreuten Reden und Gegenreden. 2 Die Wahrheit redet den Resignierenden an und verspricht ihm jenseitigen Lohn, den die „hohnlächelnde Welt" — ebenfalls in direkter Rede — bestreitet. Schließlich antwortet dem Dankheischenden sogar noch ein Genius, der, nachdem er ein Weltgesetz verkündete, den Fragenden selbst anredet. Mühelos können diese Beispiele eines dialogischen Prinzips erweitert werden; für die balladenhaften Gedichte („In einer Bataille" z. B.) ist die Rede und Widerrede ohnehin kennzeichnend. Es ist von Interesse, sich daran zu erinnern, daß das dialogische Prinzip selbst den Aufbau der damals beliebten Briefromane bestimmte. Vor allem für Schillers pathetische Jugendlyrik gilt, daß sie starken Anteil am Dramatischen hat. So ist es kein Zufall, daß er die tiefe Einsicht vom „wechselseitigen Hinstreben" 3 der Gattungen zueinander aussprach.

1

Vgl. S. 20 ff.

2

Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit sollte ja die Dialogform ausdrücken und die Leidenschaften in den eigenen Äußerungen der Personen wiedergeben, wie die unterdrückte erste Vorrede der „Räuber" angab. Schiller wollte seltsamerweise einen „dramatischen Roman" und kein „theatralisches Drama" schreiben. (Vgl. R. Buchwald a. a. O., Bd. I, S. 300.)

s

An Goethe, 25. April 1797.

Die Apostrophe

93

Ist die Geliebte oder der Freund angeredet, so sucht die Anrede die Annäherung herbeizuführen. Das Gedicht erhält seinen inneren Aufbau durch die Bewegung, die jede trennende Distanz überspringen möchte. Die selbstverständliche Kommunikation von Mensch zu Mensch ist nicht gestört — ebensowenig der Bezug vom Menschen zur Transzendenz. Das Angerufene — die rhetorischen Fragen und Antworten 4 ergeben dies — befindet sich in der gleichen Gefühls- und Denksphäre. Die Bewegung zum zugeordneten „ D u " des anderen macht zugleich die Weite des eigenen Gefühls bewußt. Die „Freundschafts"-Hymne ist ein lehrreiches Beispiel dafür, wie die Bewegung zum Freund hin von den immer leidenschaftlicher werdenden Anrufen begleitet ist, bis die N ä h e der Freunde in der fünften Strophe in die liebende Einheit übergehen will: Die sich anschließende Beschreibung schafft die notwendige Distanz, welche die erregte Steigerung der sechsten Strophe, die den Wunsch nach Vertauschung der Wesen darstellt, überdies in einer Frage auffängt, wodurch die erzielte Distanz noch betont wird. Die ohne direkte Anrede folgenden Strophen erweitern nur noch diese Ferne. Die apostrophische Bewegung der „Laura"-Oden, die die Geliebte nur in Steigerungen und Aufschwüngen ansprechbar glaubt, ist gleichgerichtet. Noch die „Freigeisterei" zeigt, wie die Darstellung des Gefühlszustandes die Beschreibung unterbricht und die aufwallende Leidenschaft die direkte Anrede gewinnt. Vers 39 beschreibt lediglich: „Wag ich es stumm, an meinen Busen sie zu pressen"; drei Verse später ist die vergrößerte Empfindung durch die nähespendende Anrede charakterisiert: „wie schnell o Laura floß / Das dünne Siegel ab von übereilten Schwüren . . . " In der „Freigeisterei" wird die Tugendgöttin, in der „Resignation" die Ewigkeit selbst angeredet. Das Pathos schafft sich also durch Personifikation die Möglichkeit der Apostrophe, wenn diese nicht durch ein einfaches und selbstverständliches Gegenüber gewährt ist. Andererseits gewinnen die „natürlichen" Gegenüber — und sollten sie selbst die Geliebte oder der Freund sein — selten genug Eigenleben oder Anschaulichkeit. Sie bleiben schemenhaft, „idealische Masken und keine eigentlichen Individuen" 5 , wie Schiller sogar die vorbildlichen dramatischen Personen der Griechen erschienen. Die Gegenüber haben demnach die Bedeutung, eher Medien des pathetischen Ausdrucksverlangens als eigen4

3

In diesem Zusammenhang sei an „Das Geheimniß der Reminiszenz" erinnert, dessen erste drei Fragestrophen („Wer enträzelt dieses Wutverlangen?") mit H i l f e der Muse und gemäß dem Mythos des Aristophanes in Piatons „Symposion" beantwortet und begründet werden können — und z w a r systematisch angeordnet in den Strophen 13—15 („Darum Laura dieses Wutverlangen . . ."). An Goethe, 4. April 1797.

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Die G r u n d f o r m e n des pathetischen Stils

wertige Geschöpfe zu sein. Ein besonders ausdrucksvolles Beispiel für diesen Vorgang bietet das Lied „An die Freude": Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligthum.

Die Freude wird angerufen und vergöttlicht. Die pathetische Empfindung personifiziert sich, indem sie anruft, indem sie das Wesen der „Göttin Freude" auslegt. Anruf und Aufschwung sind im hymnischen Pathos nicht zu trennen; die lange Gattungsgeschichte der Hymne zeigt, daß zur Epiklese die Aretalogie gehört. Das Angeredete soll ergriffen werden und ist somit gleichzeitig die bewegende Kraft, die Distanz zu überwinden. Nachdem die Freude, eine Empfindungs- wie auch eine Begriffsgöttin, wesenhaft eingeführt ist, kann die zweite Hälfte der Strophe — und alle nachfolgenden Strophen — ihre Wirkung als Weltkraft in allen möglichen Erscheinungsweisen verkörpern. Ruf und Rede gehen in die Explikation dieser Wirkung über. Die Chorstrophen wieder verlebendigen das Gedicht, da sie die Menschheit an- und aufrufen: Seid umschlungen Millionen! Diesen K u ß der ganzen Welt! (v. 9 f.)

Das intime „Du", das sich in den rein lyrischen Gedichten findet, ist auf die große Welt im dithyrambischen Pathos erweitert und übertragen. Die Verschiedenheit des Angeredeten in den „Göttern Griechenlandes" offenbart die antithetische Darstellung. Die Klage unterbricht die lange Beschreibung, die sich an die anfänglichen Apostrophen anschließt, da sie das Verlorene wiedergewinnen möchte: „Schöne Welt, wo bist du? — Kehre wieder, / holdes Blüthenalter der Natur!" (v. 145 f.). Noch stärker als in der Klage tritt das pathetische Subjekt in der Anklage gegen den neuen Gott hervor, der in einer leidenschaftlichen Apostrophe, die über die Strophenhälfte drängt, gefragt wird: „Was ist neben D i r der höchste Geist / derer, welche Sterbliche gebahren?" (v. 188 f.). In der selbstgegebenen Antwort stellt sich die geziemende Distanz wieder ein, die in der Schlußstrophe und ihrem bittenden Anruf gewahrt bleibt. Die apostrophischen Einschnitte der „Künstler" markieren den Aufbau dieses „nicht poetisch, sondern philosophisch gedachten Gedichtes"' weniger deutlich, als die Formen der Darbietung: Anrede und Darstellung, erwarten ließen. Das Thema des Gedichtes ist der Lobpreis der Kunst und der Künstler und der unter ihrer Führung zu einer vorläufigen schönen Vollkommenheit „an des Jahrhunderts Neige" gelangten Mensch6

Körner an Schiller, 11. Mai 1793.

Die Apostrophe

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heit. Apostrophiert wird in der Introduktion der „Mensch" (v. 1 und v. 33), der in idealtypischer Form die Menschheit repräsentiert und seine hohe Menschlichkeit der Kunst allein verdankt. Aussagesätze nehmen, wie in den früheren hymnischen Gedichten, anschließend das Thema von der Bedeutung der Kunst wieder auf und variieren und explizieren es vielfältig. Der achte Abschnitt (v. 99 ff.) ist als „Gelenk", als Wendepunkt des Gedichts durch eine entschiedene Apostrophe der Künstler herausgehoben: Freut euch der ehrenvollen Stufe, worauf die hohe Ordnung euch gestellt. . . (v. 99 f.)

Damit erst beginnt der Hauptteil, der den Ursprung und die Entwicklung der Kunst neben vielen Nebenthemen, die fast Selbständigkeit beanspruchen können, weitläufig darstellt. Die eingestreuten Anreden beleben zwar den Gang des Gedichts, doch erst die hymnische Anrufung vom 23. Abschnitt an (v. 316 ff.) ist als neue Wendung zu werten. Sie bezeichnet den Übergang zu jenem Teil, der der Rezeption der antiken Kultur, ihrer Wiedergeburt in der Neuzeit und dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft gewidmet ist. Den genau bezeichneten Abschluß leitet ein emphatisch mahnender Aufruf an die Künstler der eigenen Gegenwart ein, die Würde der Menschheit zu bewahren (v. 443 ff.). Wie die beiden letzten Strophen des Liedes „An die Freude" die Freunde an ihre Pflichten erinnert hatten, so werden am Schluß der „Künstler" „der freysten Mutter freye Söhne" (v. 458) mit den erhabenen Postulaten bedacht, sich geeint über den Zeitenlauf zur Schönheit emporzuschwingen. Nochmals muß zugestanden werden, daß die Gliederung der „Künstler" mit Hilfe der hymnischen Anrufe nicht mehr befriedigt als eine Aufteilung, die die inhaltliche Entwicklung des Philosophischen und Historischen, deren Trennung von Schiller in der Tat erwogen wurde, zu Rate zieht. Diese Unsicherheit ist Ausdruck der Unbestimmtheit der „Gegenüber". Unwirklich in seiner idealen Vollkommenheit ist der einleitend beschworene „Mensch". Trotz des einheitlichen Bezugspunktes, den die historische Fixierung liefert, wechseln die Standorte des Anredenden: „Jahrtausende hab ich durcheilet, / der Vorwelt unabsehlich Reich . . . " (v. 347 f.), — was dem pathetischen Subjekt 7 erlaubt, die Künstler der alten und neuen Zeit im folgenden Abschnitt (v. 351 ff.) in einem Atemzug anreden zu können, als glichen sie einander nidit nur nach Beruf und Berufung, sondern wären über die Zeiten hinweg dieselben. (Die Kunst, „die einst mit flüchtigem Gefieder / voll Kraft aus euren Schöpferhänden stieg, / in eurem Arm fand sie sich w i e d e r . . . " ) ' Kurt Wendt: Hölderlin und Schiller, Germanische Studien 70, 1929, S. 28, will keine „Ich-Beziehung" des Dichters zum Thema wahrhaben.

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Die Grundformen des pathetischen Stils

Diese Anrufe sind mehr fiktiv denn wirklich; sie meinen mehr den Typus als die Individualität. Im „Reich der Schatten", dem Höhepunkt von Schillers idealisierender Kunst, ist die Anrede, wie sie in den Jugendgedichten mit heftiger Subjektivität ausgestoßen wurde, nicht mehr zugelassen. Auch bedarf es nicht des Anrufs, wie in den jugendlichen Dithyramben, der das Gedicht eröffnet. Da der vollkommene Dichter nach Schillers klassisch-sentimentalischer Forderung nicht nur die eigene Individualität „zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern" 8 , nicht nur „das Ganze der Menschheit"" auszusprechen, sondern „das Ganze der Menschheit" in der Dichtung auch anzusprechen und wiederherzustellen hat, so müssen sich beide: das Apostrophierte wie der Apostrophierende, ihrer beschränkenden Individualität zuvor begeben haben. Im Kallias-Brief vom 28. Februar 1793 hatte Schiller schon vermerkt, daß, während der mittelmäßige Künstler sich selbst und seine Subjektivität zeige, der große Künstler den Gegenstand, das Objekt, vorweise. Da das pathetische „Ich" — das zu umschreiben sich die früheren Gedichte mit immer neuen Einfällen angelegen sein ließen — da ein „Ich" im „Reich der Schatten" nicht mehr geduldet ist10, muß auch das apostrophierte „Ihr" der Menschen notwendig unpersönlich bleiben. Mit dem fehlenden „Ich" verblaßt das angeredete „Du". Zwar hatte auch das Lied „An die Freude" die „Millionen" angerufen, doch war das pathetische Subjekt in Anruf und Bewegung hineingenommen, während im klassischen Gedicht von einem erhabenen Standort her durch den überpersönlichen Dichter, dem Weltgesetze verkündenden Genius der „Resignation" in der Distanz 11 verwandt, Lehren und Anweisungen zu einem höheren Sein gegeben werden. Damit wird deutlich, wie innig in der idealisierenden Kunst des hohen Pathos die Formen des Anrufs und der Darstellung verbunden sind: Die Individualität des pathetischen Subjekts tritt, auf die Idee bezogen, in eine „objektivierende Ferne" zurück; sein überpersönlicher Anruf gilt der Überwindung der empirischen Person durch die idealische; die Angerufenen sind Wesen, die das „Jenseits" der Sinne im „Diesseits" des Irdischen erfahren können. 12 Im erhabenen Pathos löst das Uberpersönliche die Person, das Übersinnliche die sinnliche Wirklichkeit ab. Reine Idealität charakterisiert den Gegenstand, reine Objektivität die Darstellung. 8 9 10 11

13

Vgl. die Bürger-Rezension Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 246. An Goethe, 27. März 1801. Vgl. Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie, a. a. O., S. 142 f. Nietzsches Begriff vom „Pathos der Distanz" ließe sich demnach auf die klassische Lyrik Schillers ebenfalls anwenden. Wilhelm von Humboldt rühmte in einem Brief an Schiller vom 23. Oktober 1795, Stoff und Form seien „miteinander amalgamiert".

D I E ALLEGORIE U N D DAS ALLEGORISCHE Das Verhältnis des Pathetikers zur Wirklichkeit ist dargestellt worden — das Ergebnis besagte, daß dieser das Sinnliche dem Geistigen unterordne, da der Sinn der sichtbaren Welt außerhalb ihrer selbst liege. Die eigentliche, die als wirklich erfahrene Welt des Pathetikers ist ein aus der dualistischen Spannung von Erscheinung und Wesen erlöster „mundus spiritualis" — in der Jugendlyrik Schillers weniger inhaltlich ausgesprochen als im Telos der transzendierenden Bewegung enthalten. D a die sichtbare Welt die geistig-unsichtbare nur repräsentiert, kommt den Dingen lediglich ein stellvertretender Wert zu. Sie bleiben austauschbar; das eine kann für das andere auf Grund der „analogia entis" stehen. Die durchgeistigte Welt besitzt sinnliche Äquivalente — so ist das Körperliche in den „Laura"-Gedichten lediglich Ausdruck und Zeichen, die Intensität und die Veränderungen des Gefühlszustandes anzugeben. Der Körper ist, entgegen den theoretischen Darstellungen des Karlsschülers von der leib-seelischen Einheit, der Kerker der „weltexzentrischen 0 Seele (Sdieler). 1 Was für das Verhältnis von Körper und Seele gilt, trifft allgemein für den „Geist" und die ihn äußernde Erscheinungswelt zu: „Jeder Zustand der menschlichen Seele hat irgend eine Parabel in der physischen Schöpfung, wodurch er bezeichnet wird." 8 Diese „Parabeln" bot, umgemünzt ins Bild, die literarische Tradition an, so daß man schon von einer Schatzkammer sprechen konnte, die sich dem pathetischen Dichter durch diese öffne. Die Bilder sind allerdings weniger geschaut als gedacht, weniger erlebt als angelesen. Das „Übersinnliche" soll ins Bild gefaßt, die unsichtbare Idee in die sichtbare Gestalt verwandelt werden. Die Eigenart des Pathetikers, herr-

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1

Vgl. „Das Reich der Schatten" v. 67 f.: „Ehe noch zum traurgen Sarkophage / Die Unsterbliche herunter stieg."

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Säk. Ausg. Bd. X I , S. 118; vgl. auch die Matthisson-Rezension, Nat. Ausg. Bd. X X I I , S. 272, wo von der Analogie des menschlichen Herzens und der Naturerscheinung die Rede ist. Diese Stelle beweist, was auch andernorts auffällt: daß Schiller noch in reiferen Jahren allegorisch dachte und nicht zufällig von „symbolischen Behelfen" schrieb (an Goethe, 29. Dez. 1797), ja, daß Symbol und Allegorie von ihm weithin synonym gebraucht wurden. Keller,

Schiller

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Die Grundformen des pathetischen Stils

scherlich über die Dinge zu verfügen, kommt seiner Neigung entgegen, im direkten Zugriff Dinge und Worte zu gebraudien. Dem direkten Zugriff entspricht die direkte Aussage, und Goethe unterschied denn auch einmal („Über die Gegenstände der bildenden Kunst", 1797) das Allegorische vom Symbolischen dadurch, daß dieses indirekt, jenes direkt bezeichne. Die Allegorie versinnlicht, doch ohne die Einheit von Idee und Gegenstand berücksichtigen zu können. In ihr sind die zwei geschiedenen Welten gedanklich verbunden, wie in einem Vergleich einander zugesellt, so daß die einzelnen Glieder der Allegorie isolierbar sind und Zug für Zug nachgeprüft werden können. Darin unterscheidet sie sich vom Symbol, in dessen Bild erscheint, was durch Worte nicht sagbar ist. Die Allegorie bedeutet zeichenhaft — das Symbol „ist" wesenhaft: in dieser Formel finden sich die vielfältigen Bemühungen wieder, beider Wesen zu bestimmen. Die Abwertung, die die allegorische Dichtung seit der Symbolkunst der Goethezeit erlitten hat, da sie die Beziehung des Besonderen zum Allgemeinen suche, nicht aber in diesem Besonderen das Allgemeine auffinde, hat in der neueren Literaturwissenschaft 3 der gerechten Einsicht weichen müssen, daß die Allegorie, wenn nicht gleichrangig, so doch notwendiger Bestand einer Dichtung ist, die man pathetisch nennt. Nur nebenbei sei der Personifikation gedacht, die der Pathetiker selbstverständlich gebraucht, wenn er von „Lunas horchendem Gang" („Der Eroberer" v. 5), von den „Ohren der Mitternacht" (das. v. 12) usw. spricht, das „Totenreich gähnen" läßt („Weckerlin" v. 54) und die Erde einen „trauernden Planeten" („Rieger" v. 83) nennt. Kennzeichnender für den pathetischen Stil sind die attributiven Beziehungen: ein Abstraktumzieht eine anschauliche Versinnlichung nach sich: der „Schwermut Schauerschlund" („Die Parzen" v. 43), des „Ruhmes Donnerglocken" („Vorwurf" v. 43), der „Wahrheit höchster Sonnenhügel" („Reminiszenz" v. 44), des „Glückes Nietentonne" (das. v. 52), der „Sätt'gung Ankerbande" (das. v. 54), der „Endlichkeit despotsche Schranken" (das. v. 124). Solche bildhaften Vorstellungen könnten in Überfülle angeführt werden; 3

Zu erwähnen sind vornehmlich: Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, 9. Aufl., 1947, der in seiner Einleitung Symbol und Allegorie zu definieren unternimmt, dabei allerdings die Allegorie dem „bloßen Denken" unterstellt; ferner Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, S. 155 ff. Der vorliegende Abschnitt ist dem bedeutenden Buch von Gerhard Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius, S. 228 ff., verpflichtet. Eine nachdrückliche „Rehabilitierung der Allegorie", die der Sphäre des Logos und der Rhetorik angehöre und nicht an den Vorstellungen der Erlebnisund Genieästhetik gemessen werden dürfe, vollzog in jüngster Zeit HansGeorg Gadamer: Wahrheit und Methode, 1960, bes. S. 66—76.

D i e Allegorie und das Allegorische

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sie alle weisen das eine aus, daß im Pathos Sinn und Bedeutung dem Bild vorangehen. Personifikation und bewußte Beseelung von Eigenschaften und Affekten sind allerdings in dieser Weise fast jeder Dichtung eigen, obgleich sie sich durch Häufigkeit unterscheiden; jedenfalls ist die pathetische Dichtung genauer charakterisiert, wenn man im Vorbeigehen die allegorisch dargestellten elementaren Lebensmächte erwähnt: den Tod zuvörderst, die Zeit, das Leben und den Menschen in seinen wechselnden Gestalten sodann. In konventionellen, der barocken Dichtung verwandten Formen, die abgegriffen sind und dem eigenen Einfall wenig Spielraum lassen, geschieht dies. Der Tod ist der „Würger" („Weckerlin" v. 99), der „Falsche" (das. v. 133), des „Himmels fürchterlicher Presser" („Die schlimmen Monarchen" v. 98), der Tod fordert „Zinsen" („Melancholie" v. 45). 4 Auffällig ist die direkte Bezeichnung des Todes; im „Rieger"-Carmen kann er selbst auftreten — und zwar in einer ein Publikum erfordernden Weise ohne allegorische Vermummung durch eine Umschreibung. Auch für das Leben, das „Welttheater", stehen solche konventionellen, man möchte sagen, archetypischen — von Menander über Marc Aurel reichenden — Bilder, die eine Erfahrung an eine anschauliche Vorstellung knüpfen. Das Leben ist eine „Jahrmarktsdudelei" („Roußeau" v. 78); viermal ist es mit einem „Meer" verglichen, verschiedentlich mit einem „Lottospiel". Es ist in den Trauergedichten, die besonders stark dem überkommenen Stil verpflichtet, von diesem aber durch den eigenen leidenschaftlichen Ton unterschieden sind, bezeichnenderweise ein „Theater", von den Menschen, den „Gauklern" mit verteilten Rollen, in Szene gesetzt. Das irdische Dasein des Hauptmanns Wiltmaister war „wie ein Bach durch Blumenbeete" (v. 20) rieselnd, die toten „schlimmen Monar-

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Abgehoben v o n dieser „naturalistischen" A r t , den T o d zu bezeichnen, ist die »ästhetische", welche Schiller in seinem E p i g r a m m im Musenalmanach f ü r das J a h r 1797 ( N a t . A u s g . B d . I, S. 286) allerdings in F r a g e stellt: Der T o d , ein „Genius mit der umgekehrten F a c k e l " , w a r eine beliebte Allegorie jener Zeit, die Schiller a m Schluß der „Melancholie" a u s f ü h r t (vgl. auch den „ S p r u n g " v o n v . 114 zum folgenden), in der „ R e s i g n a t i o n " , den „ G ö t t e r n Griechenlandes" und den „ K ü n s t l e r n " v e r k ü r z t verwendet. Winckelmann hatte sie im Einleitungskapitel zum „Versuch einer Allegorie, besonders f ü r die K u n s t " (1766) ins allgemeine Bewußtsein gebracht; drei J a h r e später schrieb Lessing den A u f s a t z „ W i e die Alten den T o d g e b i l d e t " , wobei er den schauspielerischen „ G e s t u s " dieser Allegorie eigens erwähnt, den auch Schillers Theater-Verstand a m Schluß der „Melancholie" glücklich benützt. Aus Winckelmanns Einleitungskapitel sei nodi die folgende Definition herangezogen: „ D i e Allegorie ist . . . eine A n d e u t u n g der B e g r i f f e durdi Bilder."

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Die Grundformen des pathetischen Stils

dien" 5 in ihren Grüften waren „stolze Pflanzen in so niedern Beeten" (v. 49). Wie abstrakten Begriffen eine Gemütsbewegung oder ein Anschauungsgehalt zuteil wird, so den Pflanzen eine anthropomorphe Schau. Die Zeit als „Strom", die Ewigkeit als Kreis („Gruppe aus dem Tartarus" v. 13) 6 , die Vergänglichkeit als „Welle" — die dürftigste Prosa kennt diese Allegorien. Der junge Goethe erkannte im Strom die Lebensform des Genies, während dieser Bildkreis dem jungen Schiller das unwiederholbar Vergängliche des Daseins versinnbildlicht. Das jeweilige Menschenalter wird mit den Tages- und Jahreszeiten verglichen (. . . im „Mai der Jahre — / Weggepflükt in früher Morgenblüth", „Weckerlin" v. 6 f., während die frühere Lebenskraft des Verstorbenen an ein „Roß im Eisenklang", v. 25, und den „Vogel in den Lüften frey", v. 26, erinnert). In der „Melancholie" vertritt die „entblätterte Rose" das Alter; Lauras Zukunft wird sogar mit folgendem kühnen Bildvergleich ausgedrückt: „Rauhe Winterstürme pflügen die Wangen" (vgl. v. 70). Man könnte Beispiel auf Beispiel allegorischer Nennungen in Schillers Lyrik häufen 7 , doch ergeben schon diese Andeutungen, daß seine konventionell genormte Bildlichkeit weniger schmückenden als versinnlichenden Wert hat und mit ihren sogenannten Genetiv- und Verbal„Metaphern" den pathetischen Gesetzen der expressiven Intensivierung untersteht. So geboten es ist, diese Allegorien ihrer Häufigkeit wegen zu nennen, so wenig besagen im Grunde diese Aufzählungen, da ihr allgemeiner Charakter kaum zuläßt, sie auf einen bestimmten Dichter zu beziehen. Damit erhebt sich die Frage nach Schillers pathetischem Bilderstil, der sich als sein Eigenes ausweist und ihn von anderen Dichtern unterscheidet. Jeder weiß, wie bestimmte Bilder nur einem bestimmten Dichter angehören — sogar die wenig „subjektiven" Barockdichter besitzen, obwohl aus der Fülle tradierter Formen schöpfend, eine eigene „HandObgleidi der Versuch undurchführbar ist, jene Gedidite dironologisdi zu fixieren, die sich durch besondere allegorische Kühnheit auszeichnen, so wird man dodi mutmaßen dürfen, daß Gedichte wie „Die sdilimmen Monarchen" oder „Roußeau" der Karlsschulzeit angehören. Ungeheuerlich ist beispielsweise die Vorstellung, die die Kritiker Rousseaus verhöhnt (v. 13—24) und diese in der N ä h e des Tierreichs ansiedelt; überkühn, gesucht und schwer verständlich sind manche Verse der gescholtenen Monarchen (z. B. v. 37—39 und v. 85—87). • Vgl. Säk. Ausg. Bd. X I , S. 118. ' Schillers Lieblingsvorstellung vom „Uhrwerk", vom Räderwerk in Mensch und Kosmos, ist nodi zu erwähnen, die sich im „Venuswagen" (v. 87 f., v. 133), „An Laura" (v. 17, v. 35), in der „Melancholie" (v. 35), der Reminiszenz" (v. 48), der „Freundschaft" (v. 4) und der „Freude" (v. 40) usw. findet. Vgl. die Erläuterungen von Fritz Jonas a. a. O., S. 31. 5

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schrift", die sich in Bild und Ton am leichtesten erschließt. Die Frage ist also: Welches ist Schillers „personaler" Bilderstil? Die erste Strophe des Liedes „An die Freude", mit dem die Jugendlyrik abschließt, möge den notwendigen Einblick gewähren: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, W i r betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligthum. Deine Zauber binden wieder, was der Mode Sdiwerd getheilt; Bettler werden Fürstenbrüder, w o dein sanfter Flügel weilt.

Wer diese Strophe spricht — und sie muß gehört werden, denn das Pathos wendet sich vornehmlich an das Gehör —, wird vernehmen und bemerken, daß der Ton vor dem Bild, die Bewegung vor der Anschauung kommt. Unverbunden stehen die allegorischen Nennungen nebeneinander (und in vielen Fällen gegeneinander): Die „Freude" erscheint als „schöner Götterfunken", sie ist eine „Tochter aus Elisium", eine „Himmlische" 8 mit „sanftem Flügel". Nachdem dergestalt ihr Wesen umschrieben ist, wird ihre Wirkungskraft dargestellt: ihre „Zauber binden", was die Konvention unter den Menschen trennte. . . Kein sinnlich gesättigtes Bild enthält diese Strophe; Vorstellung reiht sich an Vorstellung, — im dithyrambischen Sprung zum folgenden Vers wieder fallengelassen. Tadelte Schiller an Bürger einen „Zusammenwurf von Bildern, eine Kompilation von Zügen" 9 , so tadelte er gleichzeitig das eigene „Matadorstück". Die leidenschaftliche Bewegung läßt keine Bildlichkeit ausreifen — das bedeutet, daß die Bildschaffung für die pathetische Dichtung minder wichtig ist als der dynamische Rhythmus, der beide, Dichter und Hörer, mit sich fortzwingt. 10 Die „Überstürzung der Gedanken erzeugt", wie Schiller an Körner schrieb11, die „Anarchie" der Bilder und Ideen. Da die oben angeführte Einleitungsstrophe paradigmatische Bedeutung hat, sei ihre Art der Bildlichkeit mit Nietzsches Begriff der „Bilderfunken" wiedergegeben: Eine sinnlich-anschauliche Vorstellung flammt auf, um, sofort wieder erloschen, von einer anderen abA n anderer Stelle ist die Religion die „Himmelstochter" („Roußeau" v. 44 f.) oder Venus, die Göttin der Liebe („Triumf der Liebe" v. 36). • Nat. Ausg. Bd. X X I I , S. 253. 10 Nur vereinzelt sind in der Jugendlyrik ausführliche Allegorien und Vergleiche enthalten. Im „Geheimnis der Reminiszenz" entwächst dem asyndetischen Nebeneinander der Nomina der Strophe 16 ein weit hergeholter zweistrophiger Vergleich, der in einen ganz anderen Stoffbereich führt und darüber selbständige Bedeutung erhält. 11 A n Körner, 15. April 1786. 8

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gelöst zu werden, die ihrerseits ohne selbständige und ausgeführte Funktion bleibt. Konnte der reife Schiller, der das Lied „An die Freude" dieser Mängel wegen ablehnte, die Sprünge von Allegorie zu Allegorie vermeiden? Die Elegie „Die Ideale", 1796 veröffentlicht, die ihres gattungsbedingten Unterschiedes wegen ohne das Feuer, ohne die Kraft und den dynamischen Rhythmus des „Freudenliedes", doch mit warmem Gefühl gestaltet ist, zeigt dennoch deren allegorische Disposition, ungleichartige Bilder nebeneinander zu häufen, die weniger geschaut als gedacht sind. Die verlorenen Ideale — in der ersten Strophe des „Lebens goldne Zeit", dessen „Wellen" ins „Meer der Ewigkeit" eilen — sind in der zweiten „heitre Sonnen", eine schöne, jetzt „erstarrte Frucht", „frohe Träume", aus denen eine rauhe Gegenwart aufscheucht... Die dritte Strophe fährt fort, die Jugendzeit und ihre Ideale als „die Schöpfung der Gedanken", „der Dichtung schönen Flor", den „süßen Glauben" an eigene Traumgeburten wehmütig in Erinnerung zu bringen. Die nachfolgenden Strophen — und besonders die vierte mit dem Pygmalion-Motiv — bemühen sich mit mehr Erfolg, dem Pluralismus der Vorstellungen eine übergeordnete Einheit zu geben. Humboldt konnte ein leichtes Unbehagen dennoch nicht unterdrücken, so daß Schiller ihm zugestehen mußte, daß „mehr eine materielle, als formelle Kraft" in dieser Elegie sei und der Eindruck dem Stoff verdankt werden müsse.12 Die späteren Änderungen und Verkürzungen (die zweite und dritte Strophe werden zu einer einzigen zusammengezogen; die siebente, einen weiten Vergleich einleitende, fällt weg) begegnen jedenfalls in ihrer Intention den Mängeln, die Jean Paul in seiner „Vorschule" 13 karikierte, indem er gegen die Vielzahl der die Ideale versinnlichenden Bilder anging: „Die 1., bildliche Hälfte seines Gedichtes konnte er so weit fortbauen und dehnen, als die Wirklichkeit Glanz-Gegenstände reicht, durch deren Erbleichung er den Untergang der Ideale a u s d r ü c k t . . . " Und der Kritiker versäumte nicht, mit sarkastischen Beispielen „fortzubauen und zu dehnen". Die „Bildfunken" des pathetischen Stils weisen darauf hin, wie innig die kräftige Bewegung, von der im nächsten Kapitel die Rede sein wird, und die mangelnde Anschauung zusammenhängen, die Schiller stets be12 13

An Humboldt, 7. September 1795. Sämtliche Werke, histor.-krit. Ausg., hg. v. Ed. Berend, 1. Abteilung, 11. Bd., 1935, S. 3 9 3 — 3 9 7 . — Auf Seite 278 der „Vorschule der Ästhetik" aber befürwortet Jean Paul überzeugend Schillers „Bildfunken" und deren Eigenwert: Es komme darauf an, sagt Jean Paul, daß „das sinnliche Bild sinnliche Anschauung, nicht aber eben Wirklichkeit habe; z. B. ich kann einen Regen von Funken sinnlich denken; folglich kann Schiller sagen: ein Regen von Wollust-Funken".

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kümmerte. Unstimmige Bilder und Katachresen sind die Folge.14 Immer wieder rühren die Freundesbriefe an diesen Mangel. Körner sucht den Grund anzugeben, indem er schreibt: „Aber dein Genius scheint der Phantasie nicht Zeit zu lassen, ihr Geschäft zu vollenden . . ."15, und Schiller selbst klagt, die Dinge „nicht vors Auge und nur mit unsäglicher Kunst vor die Phantasie" 16 bringen zu können. Zu den „Bildfunken" des allegorisch-dithyrambischen Pathos kommt als dessen zweites bedeutsames Kennzeichen das „visionäre" Bild hinzu, das indessen keine religiösen Inhalte birgt, wie der Wortgebrauch nahelegt, sondern großräumige, vor- und endzeitliche Bilder mit einer ungeheuer kühn anmutenden Gestaltungskraft entwirft. So ist in der „Fantasie an Laura" die zukünftige Vereinigung der Liebenden mit der eschatologischen Vorstellung vom Zeitenende verbunden: „Weltenbrand wird Hochzeitsfakel werden / Wenn mit Ewigkeit die Zeit sich traut" (v. 63 f.). Die reinen Abstrakta „Zeit" und „Ewigkeit" sind im „visionären" Bild aufgelöst; das Endliche verliert sich nicht nur, es erfüllt sich auch, indem es ins Unendliche entfaltet wird. Auf die Richtigkeit des mythologischen Gebrauchs kommt es dabei nicht an17, wohl aber auf den ungeheuren Horizont, der sich öffnet und auf den hin bezogen wird. Das Visuelle räumt seinen Platz dem „Visionären" ein — die Häufigkeit dieses Vorgangs macht kenntlich, wie sehr dies dem pathetischen Stil entspricht. Lauras Klavierkünste beispielsweise werden mit folgendem Vergleich darzustellen gesucht: Wie des Chaos Riesenarm entronnen, Aufgejagt vom Schöpfungssturm die Sonnen Funkend fuhren aus der Finsternuß,

Strömt der goldne Saitenguß. („Laura am Klavier" v. 19—22) In hyperbolischer Größe ist die Wichtigkeit des Verglichenen ausgedrückt. Der Pathetiker kann sich darin nie genug tun; sein Griff in das Reich der Mythologie hilft mit, das, was überwältigend vor seinem Sinn steht, angemessen wiederzugeben. Immer ist der Vergleich oder das Bild aus einem erhöhten Bereich genommen. Im „Monument Moors des Räubers" werden die Jünglinge angehalten (v. 39 ff.), sich nicht von diesem „majestätschen Sünder" verführen zu lassen. An die Warnung schließt sich die Mythe von Vater Sol und Phaethon aus den „Metamorphosen" Ovids, die in einem kosmischen Dimensionen entliehenen Vergleich die Gefährlichkeit 14

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Schillers Katachresen anzuführen, erübrigt sich. Ein Beispiel stehe für viele andere: „. . . Bohr es plözlich eine Höllenwunde/In der Wollust Rosenbild" (vgl. „Die Kindsmörderin" v. 43—48). An Schiller, 19. September 1794. An Körner, 28. November 1796. So kommt Schiller mit zwei Parzen aus (vgl. „An die Parzen").

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der jünglingshaften Tatenlust anzeigt und die Größe erläutert, mit der das Verglichene bedacht wird. In diesen Mythen, die den Kreis menschlicher Wirkungsfähigkeit unendlich überschreiten, spricht sich das Lebensgefühl des „Stürmers und Drängers" aus. Die mythologischen Elemente in Schillers Jugendlyrik im einzelnen zu beschreiben, würde zu weit führen. Die mythologisierenden Jugendgedichte, wie „Die Gruppe aus dem Tartarus" oder die Kantate „Elisium", sind Bildungsdichtung, „Fingerübungen", deren sich Schiller befleißigte, um Feierlichkeit und Würde zu erlangen und Zustände oder Vorgänge ohne die Glut der pathetischen Affekte darzustellen. Die Jugendlyrik schon enthält eine erstaunliche Zahl mythologischer Namen und Anspielungen, die ebenso isoliert und flüchtig wie die „Bildfunken" gesetzt sind. Die rokokohafte Nomenklatur findet sich zwischen hochpathetischen Stellen unerwartet ein, und mit sorgloser Großzügigkeit ist oft Christliches und Antikes vermischt.18 Doch selten ist, wie in der Vorstellung von Arkadien und Elysium, die mythologische Nennung Ausdruck pathetischer Erfahrungen; nirgends objektiviert sich in einer großen mythischen Vorstellung — wie in Goethes „Ganymed" oder „Prometheus" — das eigene Gefühl völlig in der mythisch überhöhten Gestalt. Audi in den „Göttern Griechenlandes" vermochte Schiller nicht deren Wirklichkeit im Gedicht zu vergegenwärtigen; er wählte vielmehr „die lieblichen Eigenschaften der griechischen Mythologie" aus und verdichtete diese in der „ e i n e n Vorstellungsart" 19 . Später, in der klassischen Zeit, beglückte es Schiller, in den griechischen Mythen Gestalt und Bedeutung in ungeschiedener Einheit gefunden zu haben. Gewiß verstand er diese Mythologie seiner „nordisch-philosophischen Natur" entsprechend zu ideell — nicht zufällig meinte er, der Grieche habe jeder Idee zugleich den Leib angebildet —, aber er bediente sich ihrer nicht um einer bloß bewußten Allegorisierung willen, seine Gedanken zur Erscheinung zu bringen.20 Diese klassischen Gedichte nehmen eine Mittelstellung ein zwischen symbolischer und allegorischer Darstellung. Mehr denn bloßes Zeichen, nähern sie sich dem Sinnbild, das einen tiefen Sinn in sinnlich-individualisierter Weise verhüllt. Mag die mütterliche „Klage der Ceres" (1796) die Trauer über 18

19 20

Vgl. v. 93 des „Eroberers": „Und du da stehst vor Gott, vor dem Olympus da . . ." Ferner ist u. a. an die „Reminiszenz" zu erinnern, die Platonisches und Alttestamentliches durcheinanderwirft, und an das Lied „An die Freude". An Körner, 25. Dezember 1788. Vgl. Fritz Strich: Die Mythologie in der deutschen Literatur . . ., Bd. I, 1910, S. 262 ff. Strich beschreibt, wie die griechischen Mythen für Schiller die Verkörperung seiner ästhetischen und philosophischen Grundideen bedeuteten, wie sie ihm dazu dienten, Naturerscheinungen poetisch zu gestalten und abstrakte Ideen zu versinnlichen (vgl. den Anfang von „Anmut und Würde").

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den frühen Tod und den Trost, im Kreis der Natur geborgen zu sein, zu gleichnishaft-eindeutig noch auffassen, so wachsen in der „Nänie" (1799) die mythologischen Bedeutungen von Adonis und Achill, dem gestaltgewordenen Schönen und Vollkommenen, zu einem einheitlichen Existenzsymbol auf, dessen Einzel-Vorstellungen in der klagenden Preisung integriert sind. Ähnlich groß ist der Fortschritt von den „Künstlern" zum „Reich der Schatten", wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß sich diese beiden Gedichte in großen mythischen Personifikationen erfüllen. Das letztgenannte gewinnt in vollkommener Weise durch das Herkules-Symbol nicht nur den abschließenden „transzendierenden" Aufschwung, der die beiden entgegengesetzten „Reiche" verbindet — in diesem Symbol ist anund ausgelegt, was das ganze Gedicht ausdrücken will. An der Abkunft des Halbgottes haben Zeus, der Gott, und Alkmene, eine Sterbliche, teil, wie auch die apostrophierte Menschheit in sich „das Unsterbliche" besitzt, welches die irdische Hülle abwerfen soll. In der Mühsal des Knechts des Eurystheus sind alle Nöte und Verstrickungen, von denen die „Wenn"Strophen spredien, gesammelt; in des Herkules Taten manifestieren sich die Kräfte, die den Übertritt ins olympische Reich, das das „Reich der Formen" versinnlicht, ermöglichen. So vollzieht sich in der Gestalt des Herkules die Erhebung des Menschen aus der Sinnenwelt, und zwar in einer Selbstbefreiung ohne den Beistand einer fremden Hilfe. — Das Herkules-Symbol hat demnach nicht nur eine isolierte Funktion in diesem Gedicht zu erfüllen; es ist in der Komposition des Ganzen enthalten und in seine Einzelzüge verflochten. Das Symbol ist die Synthese. Derart Idee und Gestalt zu versöhnen und eine Symbiose von Dichtung und Philosophie zu erzwingen, hatten sich „Die Künstler" zuvor vergebens bemüht. Die „sanfte" Cypria und die „furchtbar herrliche" Urania bleiben Begriffsgöttinnen, die den alten Gegensatz von veritas und pulchritudo versinnlichen, aber allzu bewußt „einkalkuliert" sind in den Gang der Darstellung, an dessen Beginn und Ziel Cypria (v. 54 ff.) und Urania (v. 433 ff.) stehen — wechselnde Erscheinungsweisen der als identisch proklamierten vergöttlichten Begriffe. Indes, das umfängliche Gedicht erhält seine gedanklich geschlossene Form nicht so sehr dadurch, daß Anfang und Schluß aufeinander bezogen sind, sondern mehr noch durch die Einführung der Cypria, die als Schönheit für die Wahrheit der Urania steht, als welche sie, „umleuchtet von der Feuerkrone" (v. 434), erst den „Mündigen" wird erscheinen können, Schönheit und Wahrheit in einem, nachdem sie sich anfangs dem „Kindersinn" (vgl. v. 63) nur „mit abgelegter Feuerkrone" vorstellen konnte. Da der Gang des Gedichts von der hier empfundenen Schönheit bis zur einstens entgegenkommenden Wahrheit (vgl. v. 64 f.) führt, dabei die dunklen Anfänge des Kunst-

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D i e G r u n d f o r m e n des pathetischen Stils

Schönen und seinen veredelnden Einfluß auf die Entwicklung der Menschheit berührt, so erhalten Cypria-Urania nicht nur eine wesentliche Eigenbedeutung, sondern eine Funktion für das Ganze des Gedichts zugewiesen, die sie, fremd und abstrakt und isoliert, nicht erfüllen können. Schiller selbst dachte sich „die Hauptidee des Ganzen, die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in die Schönheit", als „ e i n e Allegorie, die ganz hindurchgeht, mit nur veränderter Ansicht", die er dem Leser „von allen Seiten ins Gesicht spielen" lassen wollte. 21 Mit dieser wichtigen Erläuterung, daß nicht nur Cypria-Urania, daß selbst die Hauptidee des Gedichtes allegorisch sei, weist Schiller auf dessen allegorische Anlage hin, die aber nicht nur den „Künstlern" eignet, sondern auch die Grunddisposition des Liedes „An die Freude" und der Ideendichtung allgemein bildet. Die allegorische Form ist schon durch die Thematik der Gegenstände bedingt. Damit finden wir wieder zum Ausgang dieser Betrachtung zurück. Neben den „Bildfunken" 2 2 und dem kosmisch-visionären Bild, deren entgegengesetztes Verhältnis etwas von der heterogenen Struktur des Pathos verdeutlicht, bestimmt die a l l e g o r i s c h e A n l a g e den pathetischen Stil der Lyrik Schillers. Auch das Lied „An die Freude", den „Idealen" vergleichbar, ist eine durchgängige Allegorie, in der sich das große Gefühl objektiviert. Die Freude wird personifiziert als Göttin, als Weltkraft, die den Menschen erfüllt und ihn übersteigt, alles Lebendige durchdringt und noch den Kosmos bewegt. Mensch und Welt haben die Funktion, ihre Wirkung zu veranschaulichen; Mensch und Welt sind — allgemein ausgedrückt — sichtbare Substrate für die geistig-sinnliche Idee der Freude. Die „Gegenstände" Schillers mit ihrer Affinität zum Ideellen neigen zur Allegorie, die den Gedanken und das „vergeistigte" Gefühl „poetisch" veranschaulichen soll, ohne aber die Einheit von Idee und Gestalt gewährleisten zu können. D a Gedankliches und Empfundenes fugenlos ins Bild zu übertragen sind, liegt die Gefahr des Stilbruchs oder des unpassenden Vergleichs recht nahe. So überwuchert das allerdings einheitliche Bild der ersten — wohl schon 1788 verfaßten — Stro21

A n K ö r n e r , 9. F e b r u a r 1789. — Wielands unvergleichliches Stilgefühl spürte auch die M ä n g e l der „ K ü n s t l e r " a u f . Schiller schrieb darüber K ö r n e r am 25. F e b r u a r 1789, es störe Wieland, d a ß sich die Allegorie alle Augenblicke in eine neue verliere oder gar in eine philosophische Wahrheit übergehe; audi blende ihn „ d a s luxuriöse Übergehen v o n Bilde z u B i l d e " .

22

D i e „ B i l d f u n k e n " sind Ausdrude der allegorischen Disposition der dichterischen Gegenstände; ein Blick auf den „ E r o b e r e r " oder „ D i e Freundschaft" zeigt, d a ß auch die großräumigen, die „ v i s i o n ä r e n " Bilder in der sie übergreifenden thematischen Disposition angelegt sind, die E r d e , H i m m e l und H ö l l e , die Weltschöpfung und das E n d g e r i d i t einschließt.

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phe der „Macht des Gesanges" das Verglichene: den geheimen Ursprung der Dichtung, wenn es einen „Regenstrom aus Felsenrissen", mit „Donners Ungestüm" usw. heranbrausend zur Veranschaulichung anführt, dokumentiert indessen eindrucksvoll die nachwirkende pathetische Manier der Jugendzeit in doppelter Weise: zum einen in der Versinnlichung, deren der „Gegenstand", der Gesang, bedarf, zum andern in der ausgemalten hyperbolischen Wirkung, die sich unausgesprochen auf das Verglichene überträgt. „Das Mädchen aus der Fremde", das im Sommer 1796 gedichtet wurde, ist dagegen von der Idee und dem wirkungskräftigen Pathos gänzlich entfernt, obschon wiederum die geheime höhere Abkunft und das Wesen der Dichtkunst in ihm allegorisch dargestellt werden. Den Gegenpol der pathetischen Lyrik Schillers verkörpert dieses einfache „idyllische Faktum" 23 , das, ohne der allegorischen Disposition entraten zu können, mit ungewohnt zarter Anmut seinen Sinn verhüllt. 24 Es mag aufgefallen sein, daß Stileigenheiten wie „Bildfunke" oder „Vision" oder auch „allegorische Disposition" eine nahe Verwandtschaft mit der barocken Dichtung bezeichnen, auf welche im Gang dieser Arbeit — bei der Besprechung des antithetisch-hyperbolischen Stils und anderwärts — nachdrücklich hingewiesen wurde. In der Tat: die Verwandtschaft beispielsweise der „Bildfunken" Schillers mit der barocken Bildlichkeit ist offensichtlich, denn auch das barocke Bild ist „eine Summe isolierbarer und an sich selbständiger Einzelglieder" 25 , aber doch im allgemeinen eine ausgeführte Umschreibung, die schmücken soll, illustrieren und oft genug maskieren. Schillers „Bildfunken" dagegen sind Abkürzungen ohne den ornamentalen Schmuck oder das künstlich verknüpfte barocke Bildgefüge, das zum Beispiel eine Geliebte dekoriert und mit allen Schönheiten der Natur ausstattet, während Schillers Laura ebenfalls unpersönlich bleibt, doch aus anderem Grunde: da der heiße Atem der dargestellten Affekte Gestalt und Bild verdrängt. Schillers barocke Anlage hatten schon seine Zeitgenossen erkannt — allen voran Stäudlin, der Stuttgarter Rivale, mit seiner Persiflage des „Kraftgenies" ä la Lohenstein; die heutige Schillerforschung betont allgemein seine barocke Ader. In einer gelehrten Abhandlung über „Schiller und das Barockdrama" führte Walther Rehm aus, was Böckmann, Cysarz u. a. angedeutet hatten. Rehm suchte Schiliers „Christlichkeit", 23

24

25

Der Ausdruck „idyllisches Faktum" ist Goethes Brief an Schiller vom 28. Juni 1797 entlehnt, worin er mitteilt, was er Hölderlin als Gegenstand seines Dichtens empfohlen habe. Vgl. den Brief an Goethe, 24. November 1797. ein „liebliches Rätsel" und merkt an, daß dieses „Produkt der Phantasie" zum Glück nicht für den Verstand gewürzt sei. Gerhard Fricke a. a. O., S. 210.

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sein „Christentum ohne Christus" (Eichendorff) zu begründen, indem er seine tragische Darstellung mit der des Gryphius verglich und nur einen graduellen, nicht aber -wesensmäßigen Unterschied „innerhalb der Gemeinschaft des Religiösen"26 auffand. Doch dieses kühne und dehnbare Urteil schränkte Rehm nachher selbst ein, als er Sdiillers Wendung zu selbstverantwortlicher Freiheit, zur Autonomie des moralischen Willens beschrieb und den endlichen „Sieg des metaphysischen Gedankens" anführte. Größere Überzeugungskraft gewann die erwähnte Dissertation von Ernst Läuchli27, da sie weniger geistesgeschichtliche als formvergleichende Ziele intendierte: In der „Wirkungskunst", im Heroischen", in der „rationalen Musikalität der Sprache", vor allem aber in der dramatischen Darstellungsweise des Menschen fand er viele anschauliche Punkte, in denen sich Schiller mit den schlesischen Dramatikern vornehmlich berührt. Die barocke „Genealogie" Schillers, vor allem des jungen Schiller, steht also fest wie sein lateinisches Erbteil, doch ist es der Zweck unserer Digression, vor einer leichthin vorgenommenen Einordnung zu warnen, wie sie einstens Klopstock durch Oskar Walzel geschah, als dieser behauptete, daß „Klopstock im echteren Sinn des Wortes Barock verwirklichte als die deutsche Dichtung des sogenannten Barockzeitalters" 28 . Verpflichtend ist die vornehme Zurückhaltung von Hans Pyritz, der in seiner Fleming-Monographie 2 ' den Terminus „Barock" der „Wirrnis der Aspekte und Definitionen" wegen vermied, da Flemings Entwicklung geradezu als „antibarock" in hochbarocker Zeit zu bezeichnen wäre: So wenig 28 27 28

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30

Walther Rehm, Götterstille und Göttertrauer, 1951, S. 84/85. Ernst Läuchli: Schiller und das Barock, Diss. Basel 1952. Oskar Walzel: Barockstil bei Klopstock, Festschrift für Max H. Jellinek, 1928, S. 167—191 (Zitat S. 177). Hans Pyritz: Paul Flemings deutsche Liebeslyrik, Palaestra 180, 1932, S. 208 ff. So kann — nachträglich sei dies hinzugefügt — die generalisierende Feststellung von Wolfgang Paulsen (Friedrich Schiller 1955—59. Ein Literaturbericht. Jb. d. Dt. Schillergesellschafft, 6. Jg., 1962, S. 369—464), Schiller sei uns „längst so sehr in die Barocktradition gerückt, daß wir die dichterischen Kategorien des Barock für ihn fast als verbindlich empfinden" (S. 408), nur mit einer Ergänzung akzeptiert werden: Die rhetorischen Stilelemente des jungen Schiller sind — ausgenommen vor allem die der Totenklagen — mit den der Aufklärung und Empfindsamkeit verdankten neuen Gehalten (wie Freundschaft, Liebe und Freude als Allkräfte) aufgefüllt. Vgl. dazu Hans Mayers Nachweis der strukturellen Verwandtschaft Schillers und der Aufklärungslyrik bei inhaltlicher Unterscheidung (Schillers Gedichte und die Traditionen deutscher Lyrik. Jb. d. Dt. Schillergesellschaft, 4. Jg., 1960, bes. S. 87) und die ausgewogenen Bemerkungen B. v. Wieses a. a. O., S. 118, der Schiller von den voraufgehenden „Stürmern und Drängern" wegrückt (S. 142).

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decken sich die Ausbildung des Ich-Bewußtseins und die Ausbildung des als barock deklarierten Stils. Der junge Schiller ist mehr als nur ein Nachfahr der barocken Epoche. Subjektivistisch und objektivierend zugleich, bekenntnishaft und unbedingt, hebt er sich von dieser ab. Von Artistik und Formsucht gleichweit entfernt, hat sein Stil — der Ausdruck seiner ureigenen pathetischen Haltung — barocke Züge ebenso integriert, wie er die aufklärerischen Gedanken seiner Zeit und den stürmischen Lebensdrang seiner Generation ins Eigene verwandelte. 30

METRUM U N D R H Y T H M U S Während der Umarbeitung des „Wallenstein" schrieb Schiller am 24. November 1797 an Goethe, er habe sich jetzt augenscheinlich überzeugt, wie genau in der Dichtung Stoff und Form zusammenhängen: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher." Im Blick auf die Versgebung des „Wallenstein" ist hier das klassische Urteil gesprochen, zu dem sich Goethe und Schiller bekannten: Prosa verhält sich zum Vers wie das Ungeordnete, das Regellose, zu Ordnung und Maß. Diese ordnende Kraft des Metrums, ihre regelmäßig wiederkehrende und die Sprache gliedernde Bewegung war für die Klassiker eine Bedingung, die der notwendigen Umsicht, der Distanz vom Affekt und der Herrschaft über den Stoff wie auch seiner „Poetisierung" Genüge tun sollte. Die „formalste" Form der Dichtung, das Metrum, bedeutet demnach keine leere und äußerliche Konfiguration — in der „äußeren" Form ist der Gehalt jeweils schon vorgeprägt. Metrum und Inhalt sind — wie alle anderen stilbildenden Qualitäten auch — im Gedicht unlöslich verbunden, so daß vom einen nicht gesprochen werden kann, ohne Bedeutung und Einfluß des anderen erwogen zu haben. Schon bei der Niederschrift des „Don Carlos" hatte Schiller erfahren, daß die Umwandlung der Prosa in Verse einen veränderten Gehalt erzwingt. Die Exzentrik der vorangehenden Jugenddramen 1 war nur in Prosa in einem solchen Ubermaß möglich. Aus diesen Gründen wird es immer verwundern, daß der junge Lyriker Schiller die überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte in Versen und Strophen formte und letztlich beider Integrität wahrte. Die übermächtige Bewegung seiner Gedichte ist meist den Gesetzen von Vers und Strophe unterstellt — das bedeutet, daß der Dichter auch im Ausbruch seines leidenschaftlichen Uberschwangs Herr über die Form ist und das Begrenzende für die unbegrenzten Imaginationen und Expressionen noch findet. In diesem sicherlich bewußten Gestalten erweist sich das Maß im Übermaß, das Schiller von Jugend auf besaß und das ihn erst fähig 1

Bezeichnenderweise ist das vom „Verfasser der Räuber" geschriebene „Monument Moors des Räubers" in „freien Rhythmen" verfaßt, die allerdings syntaktisch geordnet sind und an eine „künstliche Prosa" erinnern, wie sie Lessing an Klopstock im 51. Literaturbrief gerügt, weil mißverstanden hatte.

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machte, den Weg zur „Klassik" zu gehen. Auch im Taumel der Leidenschaft setzte seine Reflexion die Distanz, und -wohlbekannt ist seine Klage, „der Operation seines Dichtens", einem Zuschauer gleich, beiwohnen zu können. Wie er als Mensch gedanklich des georteten Punktes seiner jeweiligen Entwicklung dringend bedurfte — wovon die Briefe, Rezensionen und Abhandlungen genügend Zeugnis ablegen —, so brauchte er die metrische Form, deren Festigkeit ihm die Welt im Gedicht zu bewegen gestattete. Vers und Strophe bedeuteten f ü r den jungen Schiller also beides: die Nötigung einerseits, die Affekte zu bannen, andererseits den H a l t , sich nicht in „expressionistischen" Ausbrüchen zu verlieren. Überdies legen Schillers feste Formen nahe, des objektiven Bezugs zu gedenken, der seine H a l t u n g und seine eigentümliche Weltschau bestimmt und seine Verwandschaft mit der barocken Dichtung aufs neue demonstriert: der überkommene und die Vielheit wie die Gegensätze umschließende „ordo" wird gewahrt, auch wenn die Subjektivität des „Stürmers und Drängers" die Inhalte verändert, sie säkularisiert oder idealisierend umdeutet. In einer überraschend großen Zahl metrischer Schemata — die allerdings einander ähnlich sind — drückt sich die reiche Formkraft des jungen Schiller aus. Die einzelnen Vers- und Strophenformen hat Eduard Belling 2 mit der notwendigen Akribie, doch zugleich in jener beckmesserischen Manier beschrieben, die, f ü r Ausdruckswerte unempfindlich, von der „Korrektheit" der Verse her richtet und ängstlich bedacht ist, das vorgegebene M a ß nicht „überflutet" oder „unerfüllt" vorzufinden. So konnte Belling von 57 abgehörten Jugendgedichten nur 17 als „korrekt" bezeichnen (u. a. „Meine Blumen", „Das Geheimniß der Reminiszenz", „An Minna", „An den Frühling", „ H y m n e an den Unendlichen"), während er in der zweiten Entwicklungsphase, die „Die Künstler" noch enthält und eine Strophenform nur jeweils einmal verwendet, mit ihren 19 Gedichten 11 wegen des durchgehaltenen Maßes loben kann. D a sich Belling weder auf die Schönheit noch auf den Ausdrudeswert einer versetzten oder schwebenden Betonung noch eines Zeilensprungs oder eines elegischen Verhalts verstand, konnte er „dieselbe Maß- und Zügellosigkeit auch in der metrischen Form" (S. 9) 3 antreffen, die in den leidenschaftlichen 2 3

Eduard Belling: Die Metrik Schillers, 1883. Ernest L. Stahl (Darstellung. In: Gestaltprobleme der Dichtung, Festschrift für Günther Müller, 1957, S. 283—299) urteilt gerechter und überlegener über den jungen Schiller: „But he was a master in the presentation of significant verse forms" (S. 296). Stahl spricht Schiller eine bemerkenswerte Geschicklichkeit schon in seinen frühesten Bemühungen zu. Sehr gut ist auch seine Beobachtung: „In Schillers poetry the stanza is obviously the organizing formal unit" (S. 294).

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Empfindungen vorherrsche. Gewiß, Schiller brachte es leichten Sinnes über sich, Präpositionen in Hebung zu setzen („Die Gröse der Welt" v. 16), oder Wort-, Vers- und logisdien Akzent in Kollision zu bringen — ihn interessierte überhaupt weniger, wie etwas gesagt, als vielmehr, was oder daß gesagt werde. Aber das belebende rhythmische Widerspiel überhörte Belling, das vor der Gefahr des Jamben- oder Trochäen-„Trotts" bewahrte und sich in einem Vers wie diesem, den Belling ankreidet, ausdrückt: „Wallen wir einmüth'gen Ringeltanzes" („Die Freundschaft" v. 52). Das sinnbetonte Wort („einmüth'gen") ist durch den Vers- wie auch durch den Wortakzent gleicherweise hervorgehoben. In der Jugendlyrik herrschen die trochäisch geformten Verse vor — vierhebig meist, wie im Lied „An die Freude", oder fünfhebig wie in der „Freundschaft", in „Roußeau", später in den „Göttern Griechenlandes" und im „Reich der Schatten". Trochäische Verse haben auch die streng alternierenden „Laura"-Gedichte („Das Geheimniß der Reminiszenz", „Die Entzükung", „Vorwurf an Laura"). Jamben scheinen zunächst geringwertigeren Stoffen zugedacht gewesen zu sein — jedenfalls legen Gedichte wie „Männerwürde", „Die Journalisten und Minos", später noch „Die unüberwindliche Flotte" und „Die berühmte Frau", die kurz vor den „Künstlern" entstand, diese Ansicht nahe, stünden nicht die „Freigeisterei der Leidenschaft" und die „Resignation" diesem Urteil entgegen. Doppelsenkungen, besonders im zweiten Abschnitt der „Herrlichkeit der Schöpfung", lernte Schiller vornehmlich durch Klopstock kennen, dessen Hexameter er in seiner Besprechung von Stäudlins „Proben einer teutschen Äneis" als einen „Proteus" rühmte, „der sich in soviel Formen, als Schilderungen sind, hineinzuschmiegen weißt" 4 . Diese Schmiegsamkeit des Metrums suchte Schiller angestrengt zu erreichen, indem er nicht nur ungleiche Verslängen verwendete, sondern beim Wechsel der Empfindung oder des Gegenstands dieses sogar änderte. Das Vorbild also war Klopstock, der eine innere Übereinstimmung bestimmter metrischer Systeme mit bestimmten Gefühlsgehalten annahm. Folgerichtig gestaltete Schiller in der „Leichenfantasie" die drei Mittelabschnitte, die aus der Erinnerung die freudige Jugend feiern, daktylisch, die umrahmenden Abschnitte (jeweils drei) aber trochäisch. Von den vielen anderen Beispielen seien nur noch „Elisium", „Der Flüchtling" und besonders der „Triumf der Liebe" erwähnt, in welchem die Geburt der Venus und die Verjüngung der Welt durch die Liebe in Jamben ausgeführt sind. „Laura am Klavier" übersetzt die musikalischen

4

N a t . Ausg. Bd. X X I I , S. 180.

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Eindrücke in eine Naturschilderung als Sturm, Schauer und Gesäusel; die trochäischen und daktylischen, ungleich langen Verse sollen Heftigkeit und Leichtigkeit ausdrücken — der „Würde der Frauen" ähnlich, deren männliche Strophen trochäisch-ruhig, deren weibliche Strophen aber daktylisch-bewegt sind.5 Nirgendwo besser als in den „Künstlern" zeigt sich, wie Aufbau und Anordnung, Gedanken und Ideen untrennbar verbunden sind mit der Mühe um das adäquate Maß. Die langwierige Genesis der „Künstler" läßt in den Vorformen wechselnde Maße erkennen. Erst allmählich, mit der Gültigkeit des neuerworbenen Kunstideals, findet sich die Sicherheit der äußeren Form ein, die vom Gedanken her ihre abschnittbildende Einheit erfährt. Indessen befriedigt selbst die „Merkur"-Fassung vom März 1789 mancher metrischen Verstöße wegen nicht voll. Die Frage ist, ob die beiden früheren Entwürfe noch rekonstruierbar sind. Daktylisch sind die Verse, die Schiller am 22. November 1788 Lotte zitiert ( „ . . . in der schöneren Welt, / Wo aus nimmer versiegenden Bächen..."); jene anderen, die er im Brief an den Augustenburger (am 13. Juli 1793) erwähnt, sind hingegen trochäisch und erinnern nach Versund wohl auch nach der Strophenform an die „Götter Griechenlandes" („Wie mit Glanz sich die Gewölke malen"). Damit wäre der erste Entwurf der „Künstler", der vor dem 22. November (sogar noch vor Schillers Geburtstag) anzusetzen ist, in Trochäen und Daktylen ausgeführt gewesen — ob aber strophisch gegliedert oder „frei verbunden", wie Robert Petsch6 annimmt, ist schwerlich zu entscheiden. Da Schiller am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1788 Körner gegenüber jambische Verse anführt, so muß in der Zwischenzeit eine große Umwandlung mit dem Gedicht vorgegangen sein, denn das Ethos des steigenden Verses bedingte auch eine inhaltliche Umbildung. Dieser zweite Entwurf, der am 12. Januar 1789 Körner zugeschickt wurde, veranlaßte Petsch zu der Behauptung, ein einheitliches Metrum und „regelmäßige strophische Gebilde" (S. 124) seien auch dieser Fassung fremd gewesen, so daß sie sich von der dritten abschließenden Fassung „in freieren jambischen Gebinden" (S. 121) metrisch nicht unterschieden habe. 5

6

S

Humboldt schrieb darüber an Schiller am 11. September 1795: „. . . das Silbenmaß ist äußerst glücklich gewählt". Die Kontroverse zwischen Robert Petsch und Albert Leitzmann (in: Neue Jahrbücher für das klass. Altertum, Geschichte und deutsche Literatur, Bd. 39, 20. Jg., 1917, S. 115—140 und S. 473—478) über die Entstehungsgeschichte der „Künstler" ist hier auf die Grundlinien reduziert, um die Obersicht zu erleichtern. Den Begriff einer „ersten Fassung" vom November 1788 ließ Leitzmann nicht gelten, sondern sprach von einem mehr vorbereitenden Stadium. K e l l e r , Schiller

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Dieses Urteil löste eine scharfsinnige Replik Albert Leitzmanns aus, nach dessen Meinung sich „Die Künstler" nach dem 12. Januar 1789 „aus einem Gedicht in streng gebauten zehnzeiligen Strophen durch einen fast vulkanisch anmutenden Umbildungsprozeß in die freiere Versform verwandelten, die ihre endgültige Gestalt darstellt" (S. 476). Seine kühne These begründete er, indem er an die erste Strophe der „Macht des Gesanges" („Ein Regenstrom aus Felsenrissen") erinnerte, die Körner als verworfenen Anfang der „Künstler" wiedererkannte 7 , und jene jambische Strophe, die Schiller ohne Angabe der Quelle ebenfalls an den Augustenburger gerichtet hatte („Wenn Sinnes Lust und Sinnes Schmerz . . . " ) , der Fassung vom 12. Januar 1789 zusprach. Die „Macht des Gesanges" besitzt eine zehnzeilige Strophe mit vierhebigen Jamben und ist dreifach geteilt — in zwei Vierzeiler mit gekreuzten und abwechselnd klingenden und stumpf endigenden Reimen und einem abschließenden weiblichen Reimpaar. Darf angenommen werden, daß diese Strophe unverändert in die neue Umgebung verpflanzt wurde? D a die anderen von Leitzmann untersuchten Strophen oder Abschnitte eine gleiche oder verwandte Form besitzen, ist diese Vermutung gerechtfertigt. Nach dem Vorgang von Eduard von der Hellen 8 erklärte er jene mit Ausnahme des vierten Verses nach Metrum und Reimschema gleiche Strophe, die Schiller am 9. August 1790 in das Stammbuch des in Jena weilenden Jens Baggesen eintrug („In frischem Duft, in ew'gem Lenze.. .", Nat. Ausg. Bd. I, S. 217), als die zweite der „Künstler", die sidi nach Körners Meinung nicht eng genug an die erste angeschlossen hatte.' Auch die Stammbuchverse für Karl Graß vom 28. März 1790 (Nat. Ausg. Bd. I, S. 217), deren dreizehnter ( „ . . . das Kunst ihm umgethan, — was bleibt der Menschen Leben?") in den Freundes-Briefen vom 16. und 22. Januar 1789 eigens erwähnt worden war, wies Leitzmann zumindest vom neunten Vers an der verworfenen zweiten Fassung der „Künstler" zu. Zudem fand er in der Endredaktion des Gedichtes noch Teile, die, leicht verändert und dem Zusammenhang angepaßt, sehr wohl aus der erwähnten Fassung vom 12. Januar 1789 stammen könnten: die Verse 187—196, 2 1 0 — 2 1 9 , 351—360, 4 3 3 — 4 4 2 . Leitzmann glaubte, die „streng gebauten zehnzeiligen Strophen" bewiesen zu haben. Das scharfsinnig abgeleitete apodiktische Ergebnis darf jedoch füglich bezweifelt werden, sobald der oben angeführte 13. Vers für Karl Graß und der in der endgültigen „Merkur"-Fassung den Schluß einleitende Vers 443 („Der Menschheit Würde ist in eure Vgl. den Brief Körners an Schiller vom 2. November 1795. Vgl. Säk. Ausg. Bd. II, S. 383. ' An Schiller, 16. Januar 1789. 7 8

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Hand gegeben") berücksichtigt werden: Beide Verse sind (der zweite im Brief Körners an Schiller vom 30. Januar 1789 und in dessen Antwort vom 9. Februar 1789) für die Fassung vom 12. Januar 1789 verbürgt; der berühmte Aufruf an die Künstler überstand sogar das „jüngste Gericht", von dem Schiller am 25. Februar 1789 berichtet. Da es wahrscheinlich ist, daß diese beiden Verse nur jeweils eine Zeile bildeten, so hätten sie die vierhebige jambische Verszeile, die Leitzmann postuliert, gesprengt. Mit einigem Recht kann demnach festgestellt werden, daß die jambischen Strophen variabel genug waren, Verse ungleicher Länge aufzunehmen. Oder fanden sich sogar unregelmäßige Abschnitte in der zweiten Fassung vom 12. Januar 1789? Das gedankliche Werden der „Künstler" braucht in diesem Zusammenhang nicht nachgezeichnet zu werden. Der Umfang der Dichtung wurde im Laufe des Februar 1790 verdreifacht — unter Wielands Einfluß verwandelte sich die Darstellung der „Macht der Kunst" in eine „Apotheose der Kunst". Die dritte metrische Fassung, die schließlich im März im „Merkur" erschien — in Abschnitte und ungleiche Verse aufgeteilt, das jambische Maß betonend — ist von ungleichem Wert — ein Mangel, der zur späteren Abkehr des Dichters beigetragen haben dürfte. Der Gedanke bildet das Maß nach seiner Weise, gliedert sich in kurzen Versen oder vervollständigt sich in weiten Perioden. Der einleitende Abschnitt der „Künstler", der den Menschen „in seiner jetzigen Vollkommenheit" 10 vorstellt, bemüht sich um ausgewogene, der Aussage vollkommen angepaßte Maße: Vier Gruppen zu je drei Versen (vers communs, ein Alexandriner, drei- und vierhebige Verse und ein elfsilbiger Vers vermengen sich) gewähren durch die kunstvolle Reimbildung die Einheit der Vorstellung. Unsere Darstellung wendet sich wieder der Jugenddichtung zu. Die damalige „Schwäbische Schule" spaltete sich in zwei Gruppen: Schubart und Schiller reimten, während Stäudlin und Conz reimlose antike Metren bevorzugten. Über die Art der Reime Schillers, die er in der klassischen Zeit zu reinigen suchte11, braucht man sich nicht mehr aufzuhalten12 — in den Lauten, den Wortformen und dem Wortschatz war seine Sprache durch die heimatliche Mundart bestimmt. Schon den Zeit10 11

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S*

An Körner, 9. Februar 1789. Auf Humboldts Verbesserungsvorschläge hin für „Das Reich der Schatten" (vom 21. August 1795) fragte Schiller bei diesem bezeichnenderweise an, warum er den Reim zwischen Sklave und schlafe, Nerve und unterwerfe anstreiche. „Ich kenne in der Aussprache keine Verschiedenheit, und für das Auge braucht der Reim nicht zu sein." Karl Goedeke machte sich die Mühe, im ersten Band seiner Ausgabe Schillers Reimwörter zu verzeichnen.

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genossen fiel er — und die Schwaben überhaupt — seines harten Ohres wegen unliebsam auf, so daß A. W. Schlegel in seinen „Literarischen Scherzen" spöttelte: „Wenn jemand Schöße reimt auf Rose, / Auf Menschen Wünschen und in Prose / Und Versen schillert: Freunde wißt / Daß seine Heimat Schwaben ist." In der Tat haben damals die anderen Schwaben nicht besser gereimt. Welche Wandlung, welche Entwicklung hin zu den orthographisch reinen Reimen der spätesten Hölderlin-Gedichte! Indessen dürfen die unreinen Reimwörter nicht die Bedeutung verringern, die dem Reimschema im pathetischen Gedicht zukommt. Die in der Anfangsstrophe einmal vorgegebene Reimordnung hielt der junge Schiller in seinen wichtigsten Gedichten durch (z. B. „Die Entzükung", „Die Freundschaft": aab ccb; „Die Reminiszenz" aabbb mit ausschließlich weiblichen Endungen; „Die Freigeisterei" abab; das Lied „An die Freude" und „Die Götter Griechenlandes" abab cdcd, wodurch die Strophe halbiert wird). Dilthey rühmt an Schiller, daß er die idealen Werte für eine neue Menschheit durch die der „Gedankenlyrik" gemäße Behandlung der gereimten Strophe verkündet habe: Schiller „verband wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit ausladenden Ganzen . . . Das starke aber dunkle Gefühl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben sind" 1 3 . Die Reime, die den Zusammenklang unzusammenhängender Elemente herstellen, unterstützen Schillers pathetisches Bestreben, das Entfernte zu verbinden und das Verschiedene anzugleichen: Das Lied „An die Freude" (v. 29—32) ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Reim vereint, was für die Vorstellung getrennt ist („Küße gab sie uns und Reben, / einen Freund, geprüft im Tod. / Wollust ward dem Wurm gegeben, / und der Cherub steht vor Gott"). Die Strophe organisiert die formale Einheit, vom gleichen Metrum und den Reimbindungen unterstützt; es scheint nicht zufällig zu sein, daß nach den gereimten Abschnitten der „Künstler" (der erste ist sogar noch mit dem folgenden verknüpft), die Schiller nur kurze Zeit zufriedenstellen konnten, „Das Reich der Schatten" neben den kunstvollen Reimbindungen auch die feste strophische Form erfüllt. Schiller war in seiner Jugend dem Reim und den einfachen Maßen verpflichtet. 14 Doch auch er, in seinen Anfängen dem schöpferischen Vor13

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Wilhelm D i l t h e y : D a s Erlebnis und die Dichtung, 10. A u f l . , 1929, S. 367 ff. Dilthey beschreibt d o r t den Einfluß der Strophentechnik Schillers auf den jungen Hölderlin. Schillers besondere N e i g u n g f ü r den R e i m zeigt der Brief an W. v . H u m b o l d t v o m 21. M ä r z 1796.

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bild Klopstocks ergeben, versuchte sich in antiken Metren. Im „Eroberer" 1 5 meisterte er trotz der titanischen Ausbrüche die asklepiadeische Form mit überraschender Bravour und, um zwei Trochäen nach den asklepiadeischen Versen und einen zweiten Glykoneus erweitert, verwendete er sie in der „Hymne an den Unendlichen" und der allerdings gereimten „Gröse der Welt". In der kleineren archilochischen Strophe, die dem Hexameter die zweite Hälfte eines Pentameters anhängt, übte er sich in dem Gedicht „An die Sonne", wobei diese Pentameterhälfte wie bei Klopstock zuweilen statt des notwendigen Daktylus den Spondeus oder Trochäus setzt ( — was die in der klassischen Zeit geschriebenen Distichen vermeiden). Natürlich zeigen die jugendlichen Versuche in antiken Maßen bei aller Geschicklichkeit, wie unerreichbar Klopstock war, der seine eigenen Metren immer mehr dem Rhythmus annähern, sie in ein inneres Verhältnis zum Ausdruck bringen wollte, wie „Das Gehör", „Sponda", „Die Maßbestimmung" erweisen. So vielfältig Schillers Maße in der Jugend auch immer sind, so ist deren „variierte Einfachheit", die an das Kirchenlied als Vorbild erinnert, doch nicht zu übersehen, die letztlich eher einem mangelnden Formsinn als einer bewußten Beschränkung entstammt. Eine „variierte Einfachheit", verglichen mit Klopstocks Maßen, wobei es zu bedenken gilt, daß, je kunstvoller ein Metrum ist, es desto mehr an Eigenwert gewinnt; die figurale Dimension bildet in metrisch differenzierter Dichtung gleichsam die geistig-bedeutungshafte ab. 1 ' Uber seine ungenügende metrische Vorbildung klagte er dann auch: „Ich bin der roheste Empiriker im Versbau, denn außer Moritz' kleiner Schrift über Prosodie erinnere ich mich auch gar nichts, selbst nicht auf Schulen darüber gelesen zu haben." 1 ' Nach diesem Überblick über die Funktion des Metrums in der pathetischen Darstellung seien Musikalität und Rhythmus und ihre Wirkung in Schillers Jugendlyrik beschrieben. 15

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Richard Müller: Schillers lyrische Jugenddichtung . . . a. a. O., S. 88, zählt die Verstöße gegen das Metrum auf und bemerkt: „Die asklepiadeische Strophe ist als Gewand für den .Eroberer' wenig glücklich gewählt." Das ist gewiß riditig, aber daneben darf nicht die diese „korybantischen Affekte" beherrschende Übersicht unterschätzt werden. Nur noch einmal, 1795, übte sich Schiller im antiken M a ß : „Der Abend" — nach einem mythologischen Gemälde beschrieben — verwendete zwei phaläkische Verse, einen pherekrateischen und einen glykoneischen. Vgl. hierzu die grundsätzliche Darlegung von Wolfgang Binder: Hölderlins Odenstrophe, Hölderlin-Jahrbuch 1952, S. 85—110. Zu den antiken Metren des klassischen Schiller und zur Entsprechung von Gegenstand und Versform, von Versbewegung und dargestelltem Motiv kurze, aber vorzügliche Hinweise im Schiller-Buch von Gerhard Storz (S. 219 f.). An W . v. Humboldt, 29. November 1795.

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Während die gängige Meinung sich sicher darin fühlt, in seiner Lyrik die bewußte Idee das erste Element zu nennen, die sich des poetischen Gewandes nur bediene, um sich wirkungskräftiger aussagen zu können, beweisen seine eigenen Hinweise das genaue Gegenteil. Körner berichtete er am 25. Mai 1792, was später Nietzsches begeisterte Zustimmung fand und dessen Einsicht in das Verhältnis von Musik und Tragödie stützte: „Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin." Und Goethe gestand er mit ähnlichen Worten am 18. März 1796, bei ihm sei die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand, der sich erst später bilde. „Eine musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee." Damit ist die Stimmung als das „agens" anerkannt, worin alles andere, Gehalt wie Gestalt, gründet. Audi für die fertigen Gedichte blieb die enge Verbindung von Wort und Musik erwünscht. Die „Anthologie" veröffentlichte mehrere Gedichte18 („Elisium" als Kantate, die „Leichenfantasie" mit dem Zusatz: „In Musik zu haben beim Herausgeber"; „Graf Eberhard der Greiner" war ausdrücklich als Kriegslied bezeichnet), die das von den Romantikern intendierte Ziel, Dichtung und Musik der ästhetischen Einheit wegen zu einen, erstrebten. Nicht nur „Die Götter Griechenlandes" zu vertonen, bat Schiller seinen Freund Körner (am 1. September 1788 — nachdem dieser schon die „Freude" in Musik gesetzt hatte), auch „Der Abend (nach einem Gemähide)" veranlaßte ihn Körner gegenüber zu der verhaltenen Bitte: „Vielleicht qualifiziert sich diese Kleinigkeit zur musikalischen Komposition", wodurch die drei Künste: die redende, die malende und die Tonkunst gleicherweise am Ausdruck beteiligt gewesen wären. 1 ' Von den „tönenden" Verben wurde gesprochen; auch wurde schon im Kapitel über den Zusammenhang von Pathos und Affekt die dynamische Ausdruckskunst des Pathos auf das Akustische zurückgeführt und die dissonantische Spannung im Lautstand erwähnt. Es ist die nachdrückliche klangliche Sinnlichkeit, deren sich das Pathos bedient und die aus18

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D e r „ A n t h o l o g i e " w a r überdies „Semele, eine lyrische Operette v o n z w o Scenen", ein R o k o k o - L i b r e t t o , beigegeben. — Z u Schillers Verhältnis zur O p e r vgl. den Brief an Goethe vom 29. Dezember 1797: Er erwarte von der O p e r , d a ß aus ihr wie aus den C h ö r e n des alten Bacdiusfestes das T r a u e r spiel „in einer edleren G e s t a l t " hervorgehen solle. N e b e n K ö r n e r wurden auch Reichhardt und Zelter später mit K o m p o s i t i o n s vorschlägen bedacht. Allerdings w a g t man Zelters W o r t : „ N i e m a n d . . . hatte tieferen Sinn f ü r Musik als Schiller" (Schillers Persönlichkeit I I I , S. 166), nicht ohne weiteres zuzustimmen, eher der Bemerkung v o n Andreas Streicher, daß Schiller in der J u g e n d durch Musik „außer sich selbst versetzt w u r d e " .

Metrum und Rhythmus

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gleicht, was an naturwarmer Sinnenhaftigkeit fehlt. Dazu kommt nun noch die verfeinerte lautmalende Lyrik des jungen Schiller, die in „Elisium" eine gegenständliche Landschaft in Wortmusik zu „übersetzen" sucht, in „Laura am Klavier" — vornehmlich im vierten Abschnitt — den umgekehrten Vorgang wiedergibt, indem der Eindruck, den Klaviermusik erzielt, als Naturschilderung ins Wort transponiert wird. Euphonie und Eurhythmie, deren sich ein Gedicht wie „Elisium" befleißigt, sind dem Pathos gewiß nicht eigen — doch Schiller versuchte seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und ihm fremde dem eigenen Gebrauch dienstbar zu machen. Seine Vorliebe f ü r synästhetische Eindrücke kam überdies dem anfänglich noch unbewußten Ziel zugute, das er in der Vereinigung aller Elemente zu einem harmonischen Ausdruck fand. Wichtiger als die klangliche Sinnlichkeit von Wort und Vers — von stilbildender Funktion ist der Rhythmus im Pathos. Er erst bestimmt die Bewegung eines Gedichtes, „moduliert und modifiziert" (Friedrich Beißner), überspielt das enge Gesetz des Metrums spontan und mit einer Kraft, die sich sehr wohl gegen das Metrum durchzusetzen vermag. Die Emphasis des Pathos ist mit der Dynamik des Rhythmus identisch. 20 N a türlich sind die Bewegungsphänomene der Verse von den vielen anderen Eigenschaften — von Sinn und Klang, Laut und Melodie — nicht abzulösen, doch die Summe aller bewegenden Kräfte ist der Rhythmus des Pathos, in welchem sich die einander wechselseitig bedingenden Phänomene wiederfinden. D a es nicht möglich ist, die Bedeutung des Rhythmus in der pathetischen Darstellung hier eingehend zu untersuchen, möge ein Beispiel genügen, das erkennen läßt, wie der Rhythmus den eigentümlichen pathetischen Schwung, der das Metrum umbildet, erzwingt: Schillers Lied „An die Freude", das repräsentativste Gedicht seiner Jugend, das nachher noch beschrieben werden soll, vermittelt als stärksten Eindruck den seines drängenden, fast „reißenden" Rhythmus: Alle Vorstellungen werden von ihm unaufhaltsam bewegt, verändert, beiseitegeschoben und erneuert. Wie die „Freudenkraft" die Welt, so verlebendigt seine Bewegung die Strophen und gibt dem syntaktisch flächenhaften Stil die fehlende Dimension — die räumliche, die Dimension der Höhe. Der Rhythmus prägt die Strophen mit seinem hohen Einsatz (— so daß schon im dritten und vierten Vers auszurufen gewagt werden k a n n : „Wir betreten feuertrunken / Himmlische dein Heiligthum" —) und der kühn aufwärtsstrebenden Gebärde. Um seine spezifische Funktion zu verdeutlichen, sei die siebente Strophe herangezogen: 20

So konnte Friedrich G u n d o l f : Shakespeare und der deutsche Geist, 9. A u f l . , 1947, S. 266, Bewegung und Pathos in Schillers Sprache gleichsetzen, indem er v o n ihr sagte: „Ihre Bewegung, ihr Fluß und Drang ist immer das Pathos Schillers selbst."

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Die Grundformen des pathetischen Stils Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube goldnem Blut trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt. Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist.

Schon mit dem Anfangswort „Freude" wird ein Hauptakzent gesetzt. Das hohe und kräftige Intensitäts-Niveau hält sich durch den Vers hindurch fast unvermindert; schnellen Schwungs, doch ohne eigentliche Akzentunterschiede streben die nachfolgenden Verse auf ihre gewichtigen Wörter zu: „Sanftmut" ist durch ein kurzes Stocken auch rhythmisch von „Kannibalen" abgesetzt. Der vierte Vers, dem vorhergehenden inhaltlich, syntaktisch und rhythmisch gleichgespannt, zeigt jenes das Gedicht beherrschende Prinzip einer additiven Reihung, deren parallele Gliederung steigernd wirkt und darin mit den Anaphern, den pathetischen Anaphern, vergleichbar ist, die gleichsam Stufen für die aufschwingende rhythmische Bewegung sind. In der Atempause, die die Strophenhälften scheidet, sammelt sich die Dynamik, um den „Gipfelschwung" beginnen zu können. Jedes sinntragende Wort des Ausrufs wird nunmehr emporgetrieben: „ . . . Dieses Glas dem guten Geist". Wie im dionysischen Rausch „fliegt" der Rhythmus auf „zum Himmel". 21 In einer großen Schwingung drängt er sich vorwärts durch die drei Verse, verweilt an ihrem Ende, um jedes Wort des Schlußverses zu sondern und aufzugipfeln. Die erste Strophenhälfte bietet sozusagen die „Sprungbasis" für die zweite, die den gradlinig vorwärtsstrebenden Gang aufrichtet zu einem Hochflug, dessen Schwungkraft nicht überbietbar scheint. Die Strophenverse führen stufengleich zur Chorstrophe empor; diese wiederum nimmt die Schlußverse in ihre Höhe auf: Den der Sterne Wirbel loben, den des Seraphs Hymne preist, Dieses Glas dem guten überm Sternenzelt dort oben!

Geist,

Diese siebte Chorstrophe hält das ihr zugewiesene „Hochplateau" aus eigener Kraft inne. Die Schwerkraft, der alles Lebendige untersteht, ist in Schillers Lied „An die Freude" umgekehrt. Die Schwerkraft seines Rhythmus drängt nach oben, wie sehr auch das trochäische Metrum dem entgegensteht. Das bedeutet, daß dort das Wesentliche gesucht wird, und 21

In Übereinstimmung damit sagt Gerhard Storz: Sprache und Dichtung, 1957, S. 48, der Rhythmus sei eine „orgiastische, dionysische Kraft".

M e t r u m und R h y t h m u s

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erinnert an Schillers schöne Beschreibung von Wielands „Grazie des Herzens", die sich im Rhythmus auch ausdrücke: „ . . . und nimmer fehlt ihm die Schwungkraft, uns, sobald es gilt, zu dem Höchsten emporzutragen." 22 Mit diesen Worten ist die eigentliche, die transzendierende Funktion des Rhythmus in der pathetischen Dichtung bezeichnet. Zwei weitere Ausprägungen dieser übermächtigen Rhythmik seien wiederholt: zum einen, daß eine Bewegung, die derart vorwärtsdrängt und von Vorstellung zu Vorstellung „hüpft", keine Bildlichkeit reifen läßt, zum andern, daß diese Bewegung auch sinnmäßig einander entgegengesetzte Substantive („Hoffnung auf den Sterbebetten, / Gnade auf dem Hochgericht!" v. 99 f.) in ihrer Begeisterung zusammenklammert und jeden Widerstand der dumpfen Wirklichkeit überflutet. Das Einzelwort verliert in Schillers pathetischer Lyrik an Bedeutung, sofern nicht, wie in der „Resignation", die Energie des Denkens auf dieses gerichtet ist. Welch ein Unterschied, ob ein Hörer des Liedes „An die Freude" sich aufgenommen fühlt in die begeisterte Bewegung, oder ob er, als Leser, über manches „Ungereimte" darin reflektiert! Der kräftige Rhythmus befreit die vielen Abstrakta von ihrer intellektuellen und festen Kontur und bereichert den sinnlichen Ausdruck. Er stellt das „orgiastische" Element vor, das eigentlich Irrationale des reflektierenden Pathos, das zwischen Gedanke und Bild unerlöst schwingt. In den „Kalliasbriefen" weist Schiller selbst darauf hin, wie die Bewegungs- und Klangwerte der lyrischen Sprache das Begriffliche überwinden und das Abstrakte hinter dem Sinnlichen verbergen können. Der Rhythmus begleitet jede dichterische Rede — die pathetische Rede wird von ihm geformt, durchdrungen, beherrscht. Überall dort, wo sich Schillers Pathos in weitem Bogen auf das entfernte Ziel einer Aussage zuspannt (wie in der 21. Strophe der „Götter Griechenlandes"), oder wo die Leidenschaft des Affekts die Strophengrenzen überschwingt (wie mehrere Male im „Eroberer", dessen Interpunktion manchmal die Bewegung zu stauen scheint, und in der „Freigeisterei"), oder dort, wo in immer neuen Aufschwüngen Dithyramben und Elegien Raum und Zeit „transzendieren" („Rieger"-Carmen; „Das Reich der Schatten" mit der Auffahrt des Herakles) — überall ist der aufs äußerste gesteigerte Rhythmus spürbar, der „Repräsentant" und „Werkzeug" 2 3 des Pathos in einem ist. D a Schillers Verse in ihrer überwiegenden Mehrheit metrisch gegliedert und die syntaktische und metrische Einheit fast immer kongruent sind, ist ihnen eine ausgeprägte gegenrhythmische Bewegung weithin fremd. Audi in der Affektsprache reiht Sdiiller — im Gegensatz zu Klopstocks Gefühls-Syntax — nach logischen Gesetzen seine Satzglieder anein22 23

» Ü b e r naive und sentimentalische D i c h t u n g " , S ä k . Ausg. B d . X I I , S. 200. Vgl. K ö r n e r an Schiller, 11. Oktober 1796. K ö r n e r bezeichnet das Gedicht als

122

Die G r u n d f o r m e n des pathetischen Stils

ander; die gelegentliche Schwierigkeit des Verständnisses rührt eher von seinen Neologismen her, seinen „Sprüngen", seinen unausgereiften Vergleichen, als von gelegentlichen Inversionen oder Ellipsen. Wie im Lied „An die Freude" die e i n e pathetisdie Vorstellungsart kein Gegenthema zuläßt, sondern den Freundlosen des Bundes der Frohen verweist, so unterbricht auch keine Gegenbewegung den linear aufsteigenden Rhythmus. Die gegensätzlichen Strophenpaare des „Reichs der Schatten", zwischen denen das rhythmische Pendel hin und her schwingt, erwirken ein gesteigertes „Transzendieren" der Bewegung am Ende. Schillers Worte werden indes nicht, wie in Klopstocks und Hölderlins eigenrhythmischen Oden, verselbständigt, vom Ausdruck überlastet und mit einer unendlichen Bedeutungstiefe beschwert, die die logische Folge stört und das bedeutsame Wort (oder das bedeutsame sprachliche Glied) heraushebt und aufgipfelt. 2 4 Wie gesagt, sein Rhythmus verpflichtet sich nicht dem Einzelwort und gestaltet auch nicht durch Inversionen und Eremien die „Raumdimensionen", die Hölderlins reife Dichtung auszeichnet — sein Rhythmus hat die Funktion, jenen Aufschwung, den „Dichterschwung" („Die Künstler" v. 431) des pathetischen Ausdrucks zu erreichen, den er den Dichtern selbst zur Pflicht machte: sich „mit kühnem Flügel" hoch über den Zeitenlauf zu erheben („Die Künstler", v. 466 f.), zu „transzendieren". Schillers jugendlicher Rhythmus besitzt weniger Fülle als zielsichere Kraft 2 5 , weniger H ä r t e als mitreißenden Schwung. Er ist eher schwingend 24

25

Die von N o r b e r t von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin, Diss. München 1910, im Anschluß an die stilistischen Begriffe des Dionysius von H a l i k a r n a ß f ü r die verschiedenen Möglichkeiten der W o r t f ü g u n g eingeführten Bezeichnungen der harten, glatten und wohltemperierten Fügung treffen in dieser allgemeinen Bedeutung f ü r den jungen Schiller nicht zu. Natürlich w u ß t e auch Hellingrath, daß der Rhythmus, dessen individualisierende Kraft sein Wesen ausmacht, selten genug diese Formen rein erfüllt. In den dithyrambischen Gedichten des jungen Schillers ordnen sich die Worte dem dynamisdien Rhythmus unter — seine Bewegung „verflüssigt" die harte und spröde Aussage, ohne d a ß sie sich in einen einzigen Begriff pressen ließe. Man h a t sich daran gewöhnt, Schillers Rhythmus als schmiegsamer und weicher vom erregteren, robusteren des jungen Hölderlin zu unterscheiden: Dietrich Seckel: Hölderlins Sprachrhythmus, Palaestra 207, 1937, S. 106, glaubt diesen Nachweis geliefert zu haben. Es soll in dieser Anmerkung nicht unbillig verfahren werden, also nicht der Dichter, den man eben untersucht, auf Kosten des anderen hervorgehoben werden. Die von Dietrich Seckel angewandte Methode, allgemeine Ergebnisse zu finden, verlangt aber Widerspruch. Es geht nicht an, Schillers Rhythmus an seinen „Idealen" („So willst du treulos von mir scheiden / mit deinen holden Phantasien?) abzuhören, die, erst 1795 gedichtet u n d ausgesprochen elegischen Charakters, ihres mangelnden „energischen" Pathos wegen vom Dichter selbst nachher gering geachtet w u r den — es geht nicht an, diese Elegie mit Hölderlins Tübinger „ H y m n e an die

Metrum und Rhythmus

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als fließend, eher stoßend als schreitend. D e r R h y t h m u s des P a t h o s ist nicht Begleitung der dichterischen Rede, sondern deren „ P u l s " 2 6 , der sie in dieser Stärke erst ermöglicht. Präsentiert er in der Jugendlyrik die Spannungen und reizbaren Veränderungen des grollenden und enthusiastischen Affekts, den die klassische L y r i k ausscheidet, so sublimiert er sich später wie die Vorstellungen und W o r t e dieser Epoche. D e r Hinweis auf die beiden Schlußstrophen des „Reichs der Schatten" m a g genügen — „. . . das Gröbere bleibt zurück, nur das Geistige kann v o n diesem dünnen Elemente getragen w e r d e n " , schrieb Schiller an Goethe über den R h y t h m u s . 2 7

Menschheit" zu vergleichen, deren selbstverständlich größere Sprachdynamik den Interpreten hinterdrein zur Frage versucht, ob diese „Robustheit" überhaupt ein echter „Wesensausdruck" oder ein „Kompensationsergebnis" sei (S. 110). Um den Vergleich angemessen durchzuführen, müßte ein gattungsgleiches Jugendgedicht Schillers abgehört werden, denn in keiner Stileigensdiaft drückt sich der Gattungsunterschied von Hymne und Elegie stärker aus als eben im Rhythmus, was Dietrich Seckel aber als „nicht richtig" zurückweist( S. 110). Warum nahm er für seine Untersuchung nicht das Lied „An die Freude", dessen strophische Form Hölderlin später nachahmt und dessen Rhythmus, trotz der vierhebigen trochäischen („fallenden"!) Verse mit ihren in regelmäßigem Wechsel durchgehaltenen klingenden und stumpfen Ausgängen, mit pathetischer Schwungkraft emporstrebt, von der gesammelten Eigenbewegung gleichsam fortgerissen? " "

Vgl. den Brief an Reinwald vom 27. März und jenen vom 14. April 1783. Am 24. November 1797.

DRITTER TEIL

Interpretationen ausgewählter Gedichte

DAS AFFEKTREINE L Y R I K O N „MEINE BLUMEN"

Nachdem der Horizont pathetischer Haltungen und Formen gesichtet worden ist, deuten wir eingehend einige wesentliche, die dithyrambische und elegische Gattung vornehmlich vertretende Gedichte, um die gewonnenen Ergebnisse zu erproben und um zusammenzufügen, was in der Beschreibung bisher oft getrennt werden mußte. Die ersten drei Gedichte, die besprochen werden sollen, sind der „Anthologie" entnommen und wohl von bleibendem Wert; die vier anderen sind Gedichte des Übergangs, in denen sich Schillers Jugendlyrik verdichtet und vollendet und — zumindest in den „Göttern Griechenlandes" — sich die gereinigte Form des erhabenen Pathos ankündigt. Die Kommentatoren der Lyrik Schillers pflegen „Meine Blumen" dem Kreis der mit „allzu unbändiger Imagination" verfaßten „Laura"Gedichte zuzuweisen, doch verlangen Thema und Darstellungsweise eine gesonderte Stellung. Hinwendung zur Natur und bewußte Absage an die afiektvollen Ausbrüche der „Anthologie" kennzeichnen bereits die Eingangsverse: „Schöne Frühlingskinder lächelt, / Jauchzet Veilchen auf der Au!" Diese beiden parallel gebauten Verse rufen die Blumen an, zu lächeln und, intensiviert, zu jauchzen. In den nachfolgenden Versen werden sie durch ihren Duft gekennzeichnet; ihre Schönheit wird bis zum siebten Vers ausgeführt. Der neue Anruf am Schluß der Strophe bringt eine inhaltlich unmotivierte Wendung, die sich den Anfangsversen genau entgegensetzt: Die Blumen sollen weinen. Der Grund hierfür wird in ihrer Seelenlosigkeit gefunden. Die zweite Strophe bezieht die Tierwelt auf die Blumen. In einen „Raum der Minne" werden Nachtigall und Lerche aufgenommen. Die Blumen erhalten eine lediglich vermittelnde Funktion („Schuf nicht für . . . " ) . Die parallel zur ersten Strophe ausgeführten Schlußverse nehmen auch deren Anruf wieder auf: „Trauert Blümchen auf der Flur!" Diesmal ist ihre Liebesunfähigkeit der Grund, wodurch sogar die Fliegen von ihnen abgehoben sind. Die Schlußstrophe setzt mit einem starken „Aber wenn . . ." ein, das die bisherige Aussage aufhellt und umdeutet. Laura, die die Kraft der Be-

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Interpretationen ausgewählter Gediente

seelung auszeichnet, wird eingeführt. Indem sie, „vom Dom umzingelt" 1 , die Blumen zum Kranze windet und dem Geliebten schickt, teilt ihre Berührung mit, was ihnen ermangelt: „Leben, Sprache, Seelen, Herzen". So kann das Gedicht folgerichtig mit dem gebotenen Lächeln und Jauchzen der Blumen schließen. Der Anfang findet sich im überhöhten Ende wieder. Dieser Uberblick läßt einen streng durchgeführten Baugedanken erkennen. Der Dichter steht außerhalb des Gedichts, wie er auch der N a tur gegenübersteht. Daher kann er die Blumen auffordern, zu lächeln oder zu weinen; daher kann er zwischen unbeseelter Natur (Strophe eins) und beseelter (Strophe zwei) unterscheiden. Wo die Natur derart anthropomorph geschaut ist, muß ihr der Mensch das ihm Wesentliche gewähren. Die Eigenschaften der Pflanzen werden diesen von außen her zugeteilt: Flora schmückt sie und Dione fächelt sie an. Keine Begegnung von Mensch und Natur findet statt, wie es die Überschrift vermuten läßt, auch wird die Natur nirgends Metapher der Seele. Die Blumen dürfen nicht in fühllosem Selbstgenügen leben; sie sind vielmehr als dichterisches Material in den funktionalen Bezug der Teile auf das Ganze eingespannt. Was die Natur den Blumen versagt („verneinet"), vermag die Liebende zu geben. Somit wird deutlich, daß das Gedicht dieser „Pointe" wegen geschrieben wurde: Der Verherrlichung der Liebe Lauras ist es gewidmet. Die bloße Funktionalität, die das Gedicht den Blumen zuspricht, ist vom Kunstverstand des Dichters diktiert, der prüft und ordnet und die Einzelheit dem Gesamtplan unterwirft, damit sich die Absicht mit gerader Notwendigkeit ergebe — die Liebe Lauras in ihrem seelenspendenden Vermögen darzustellen. Eine überschäumende Leidenschaft hätte dies nicht überzeugender tun können als die einfach gehandhabte Darbietungsweise dieses Gedichts. Der Dichter nimmt dafür Unstimmigkeiten ohne Zögern in Kauf, denn die Aufrufe — zu lächeln oder zu trauern — setzen eine seelische Empfindung voraus, die der neunte Vers den Blumen eben abspricht. Zum Wesen dieser intentionalen Bauform gehört, daß die Einzelheiten anfangs nur begrenzt ihren Sinn für das Ganze offenbaren und erst vom Ende her ihre eigentliche Bedeutung erhalten. Die Mittelstrophe, die Blumen und Tiere bezeichnenderweise entgegensetzt, bringt die Aussage dem Ziel nicht näher; sie hemmt bewußt den Gang des Gedichts mit ihrer detaillierten Schilderung des Tierreichs und betont verstärkt den Mangel der Blumen. Die vorherrschende Spannung ist bereits in den Versreihen 1

Nadi Kluge-Götze (Etymolog. Wörterbuch der dt. Sprache, 16. Aufl., 1953, S. 142) ist hierbei Dom schwäb. täum, mhd. toum „Dunst, Duft, Dampf". Damit scheint sich die Erklärung dieses vielumrätselten Ausdrucks durdi Friedrich K a u f m a n n (Zschr. f. dt. Philologie, Bd. 47, 1918, S. 10 ff.) durchgesetzt zu haben: vom »balsamischen Duft betäubt" ( = „überwältigt").

Das affektreine Lyrikon

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angelegt: Den parallelen Versen eins und zwei entsprechen die Verse acht und zehn, doch sind sie einander inhaltlich streng entgegengesetzt. Zwischen den Polen der Ausrufesätze ist eine gelöste Mitte gegenständlicher Beschreibung (von Enjambements unterstützt: v. 3 und 4, v. 6 und 7; vgl. auch v. 15, 16 und 17). Sind in Strophe 1 und 2 jeweils die Schlußverse der Aussage der vorhergehenden Verse entgegengestellt, so übernimmt die dritte Strophe diese Funktion für das ganze Gedicht. Die Konjunktion „aber" leitet Nebensätze ein, die die bisherige Zuständlichkeit in Vorgänge umformen. Die Blumen erfahren in ihrer dienenden Funktion die Beseelung durch Laura. Als „Kinder der Flora" werden sie Amoretten der Venus. Der syntaktische „Sprung" (v. 24/25) und der Tempuswechsel gewinnen einen besonderen Ausdruckswert. Das Vorganghafte (v. 21—24) wird in den reinen Zustand der erfolgten Beseelung aufgenommen. Die strenge Geformtheit des Aufbaus, die den Einzelvers zum integrierenden Teil des Ganzen macht, unterstützt die Geschlossenheit der Verse und Strophen. Alle dreißig Verse sind dem vierhebig-trochäischen Maß unterworfen, doch haben die männlichen Reimwörter die letzte Senkungssilbe abgestoßen. Die Reimstellung der zweiten und dritten Strophe ( a b a b / c c d / e e d ) findet sich in der Anfangsstrophe des identischen Reims wegen (der den zweiten und zehnten Vers verbindet) noch mehr vereinfacht vor. Daß trotz des ungewohnt ruhigen Tons expressive Verben (wie jauchzen, zerkniken, gießen) gebraucht werden und Dialektreime vorkommen, erinnert nachdrücklich an den jugendlichen Pathetiker. Die anderen Verben (wie fächeln und flöten) entsprechen der anakreontischen Nomenklatur der Substantive (wie Balsamathem, Perlenthau, Dione). Da auch die wenig variierenden Beiwörter der gleichen Sinnsphäre entnommen sind, wird die „Simplizität" der Darstellungsweise von der Wortwahl bestätigt. Das anmutige Motiv dieses Gedichts — der Blumengruß der Geliebten — ist anakreontisch 2 , also seelengeschiditlich jener Epoche verpflichtet, für die die Natur nur Dekoration und die Geliebte Gegenstand des Reizes und einer fröhlichen Sinnenhafligkeit ist. Die Welt ist für Spiel und Tändelei geschaffen, die Sprache, um der Empfindung den zierenden Ausdruck zu schenken. Mit diesen Andeutungen ist zugleich auch der Unterschied zum vorliegenden Gedicht angezeigt, das trotz seiner anakreontischen Diminutivformen und des traditionellen Frauennamens eine Zielstrebigkeit besitzt, die jener Epoche weithin fremd war. Der Vergleich mit Goethe drängt sich auf, dem es in seinem motivisch verwandten Sesenheimer Lied „Kleine Blumen, kleine Blätter . . . " gelungen ist, dieses * Vgl. auch Hans Pyritz a. a. O., S. 149 f. 9

Keller,

Schiller

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

seinem wahrgefühlten Gehalt nach der Anakreontik entgegenzusetzen. Schillers Laura trägt keine individuellen Züge — das erlaubt auch der strenge Bau des Gedichts nicht —, doch die Äußerung ihrer Liebe zeigt sie voll weichen Gefühls. „Thränend" schickt sie die „Flügelboten süser Schmerzen" dem Geliebten zu. Von der Nähe der „Empfindsamkeit", unter deren Zeichen das Gedicht zum andern steht, erfährt hier der Betrachter. Mit den „mit brennender Fantasie" geschriebenen „Laura"-Gediditen hat das vorliegende odisch gespannte Gedicht, wie eingangs gesagt, wenig gemein. Während dort der Dichter in eine Ekstase versetzt zu sein scheint, die Empfindungen von Pol zu Pol schwingen und die Imagination Aberrationen vom Normalen und Natürlichen bevorzugt, haben „Meine Blumen" den Affekt ausgeschieden. Die Phantasie ist wohlgeordnet, so daß jedem Vers die vorgegebene Form aufgeprägt werden kann. Daß Pathos und Grazie sich schlecht vertragen, schrieb der junge Goethe, und so schließt die „gefällige" 3 Darstellung das übliche Pathos des jungen Schiller fast aus. Im Frühjahr 1793 verwarf Schiller seinen Plan, seine gesammelten Gedichte herauszugeben. Ein unrechtmäßiger, überdies noch schlecht ausgeführter Nachdruck des Frankfurter Buchhändlers Behrens zwang ihn im Jahre 1800 aber, einen ersten Teil seiner Gedichte zum Sammeldruck zu geben. Der lyrischen Ernte der Freundschaft mit Goethe, Humboldt und Körner war aus der ganzen Jugendzeit nur das eben besprochene Gedicht beigegeben — „Die Blumen" jetzt geheißen. So wurde dieses zum Band, das die reife Lyrik, in der Idee und Anschauung eine glückliche Einheit fanden, mit dem frühen Schaffen verknüpfte. Die klassische Absicht, die Subjektivität „loszuwickeln" und die Einheit des Kunstwerks über der Vielfalt der Teile zu wahren, schien Schiller hier zuerst erreicht. Wie die blühende Natur dem dichterischen Plan, so sollte jeder Stoff der Form unterworfen werden. Die Überarbeitung, die Schiller dem in eine veränderte Umgebung verpflanzten Gedicht angedeihen ließ, entsprach völlig dem Stil der erreichten Höhe. Die Anrufe wurden gemildert und unpassende Stellen (wie v. 13—17) geglättet. Von der Umformung wurde vornehmlich die dritte Strophe betroffen: Der Dichter sendet diesmal Nanni die Blumen zu und verwischt damit die Innigkeit der ersten Fassung, die die Besee3

„Meine Blumen" erinnern an die von Hagedorn in der Vorrede zu seinen „Oden und Liedern" beschriebene „gefällige Ode", die aber, nach Karl Vietor, nur dem Namen nach zur Gattung der Ode gehört. (K. Vietor: Geschichte d. dt. Ode, 1923, S. 95.) Vietor anerkennt auch keines der Gedichte Schillers als Ode.

Die affektreine Lyrikon

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lungskraft von Frauenhänden pries. Das Maß wird nodi vom Menschen her genommen und die intentionale Bauform beibehalten, die die Verherrlichung der Liebe erstrebt. Die beseelten Blumen erhalten in Schlußversen, deren Vollkommenheit einzig durch den mangelhaften Reim getrübt ist, ihre klassisch geformte Deutung: U n d der mächtigste der Götter Schließt in eure stillen Blätter Seine hohe Gottheit ein.

DIE DITHYRAMBISCHEN GEDICHTE „ D I E GRÖSE DER W E L T "

Es berührt seltsam, daß die „Anthologie" — den großen Vorbildern Klopstock und Haller mannigfach verpflichtet — nur ein einziges Gedicht enthält, das unmittelbar an Gott gerichtet ist: die „Hymne an den Unendlichen". Eng verwandt mit der „Gröse der Welt" und mit ihr in Vers- und Strophenmaß übereinstimmend, darf allerdings der dichterische und vor allem der geistesgeschichtliche Unterschied zwischen den beiden Gedichten nicht übersehen werden. In der „Hymne an den Unendlichen", dem sicherlich älteren und weniger reifen Gedicht, offenbart sich Gott = Jehovah (v. 10) in der Chiffre des Sturmes und im Zeichen des Gewitters. Der Unendliche — mehr als eine bloße naturwissenschaftliche Größe — erregt kreatürlichen Schrecken; die „ungeheure Natur" ist der Spiegel, der ihn erkennen läßt und zugleich personhaft verbirgt. In der „Gröse der Welt" dagegen ist der von dem erscheinenden Gott abgelöste unendliche Raum Gegenstand. Das hierbei vorausgesetzte kopernikanische Weltbild hatten Haller, Klopstock und auch Uz in die Dichtung aufgenommen, denn „bis zum dritten Dezennium des 18. Jahrhunderts herrschte noch das ptolemäische System" 1 . Brockes hatte die eigentliche Raumschilderung begonnen und Raum und Gott in genaue Beziehung gesetzt; Haller und Klopstock erweiterten den dichterisch dargestellten Raum ins Kosmische. 2 War für Haller und Uz die Größe und Geordnetheit der Welt noch ein Argument im Streit für eine aufgeklärte Theodizee und ein Sinnbild für lehrhaft abgehandelte ethische Fragen, so empfing Klopstods durch seine erhabene Unendlichkeitsvorstellung bereits pantheistische Eindrücke, wie fraglos er auch am biblischen Gott festhalten mochte. Klopstock bezog sich nicht nur auf den von der Naturwissenschaft eröffneten unendlichen Raum, sondern versetzte sich bereits in ihn und stellte sein Raumgefühl im Ton der Verkündigung dar.

1

C h r i s t o f J u n k e r : D a s W e l t r a u m b i l d in der deutschen L y r i k v o n O p i t z bis Klopstock, Germanische Studien 1 1 1 , 1 9 3 2 , S. 9.

!

Z w e i Beispiele mögen hierfür genügen: Klopstocks „Frühlingsfeier" und H a l lers „ U n v o l l k o m m e n e s Gedicht über die E w i g k e i t " .

Die dithyrambischen Gedichte

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Die kühne pathetische Imagination des jungen Schiller, von der vor allem im ersten Teil dieser Arbeit wiederholt gesprochen wurde, suchte die Unendlichkeit an sich auszumessen. Der R a u m ist zwar geschaffen, aber fast von der Person des „schaffenden Geistes" abgelöst, wie es der erste Vers der „Gröse der "Welt" mit einem neutralen und geniehaften Terminus bezeichnet (vgl. auch v. 22: „seine Welt"). 3 Man vergegenwärtige sich den Wandel, der stattgefunden hat! Die Schüler Newtons hatten noch mit ausdrücklicher Billigung ihres Lehrers den unendlichen Raum als Sensorium Gottes verstanden; am Anfang dieses Denkens gar war die räumliche Unendlichkeit f ü r den Cusaner ein Abbild der über jedes menschliche Begreifen hinausgehenden absoluten Unendlichkeit Gottes gewesen. Weitere Namen und Tatsachen zu erinnern, erübrigt sich, doch ist festzuhalten, daß sich bereits in der „Gröse der Welt" die Übertragung von bisher Gott vorbehaltenen Eigenschaften auf den Raum vollzogen hat. Schillers jugendlicher Enthusiasmus, wie er sich in der „Theosophie" und im „Freundschafts-Hymnus" ins Wort drängt, konnte sich vor den Folgerungen bewahren, die dem neuen Schein-Mythos der Naturwissenschaft mit seiner „leeren und abstrakten" Unendlichkeit anhingen. Die „tote Einsamkeit" trotz des verwegenen Flugs des Denkens „bis in die unbefahrensten fernsten Himmelsstriche der Wahrheit" (an Körner, 7. Mai 1785) blieb ihm ebensowenig fremd wie der Schmerz über das entgötterte All der Natur, dem er in den „Göttern Griechenlandes" seine Stimme lieh. Doch in der „Gröse der Welt" rief der unendliche Raum Schillers kühne Imagination hervor. Mit einer Inversion beginnt das Gedicht: der Relativsatz, der sich auf „die schwebende Welt" des zweiten Verses bezieht, ist vorgestellt. Schon in den beiden Anfangsversen hat die kosmische Phantasie des Pathetikers den unendlichen Raum entworfen und die Situation angegeben. Der fiktive Standort befindet sich außerhalb der Erde; als Ziel des Fluges wird der „Markstein der Schöpfung" (v. 6) bezeichnet — die Grenze zwischen der unendlich gedachten Welt und dem räumlich verstandenen „Nichts". Der Pathetiker will sich nicht ergehen in den grenzenlosen Räumen, ihn reizt vielmehr ein Endpunkt, wobei natürlich die Unendlichkeit nach Analogie des Endlichen vorgestellt ist. Nach der Exposition der ersten Strophe greift die zweite zurück und berichtet im Praeteritum von der bereits erreichten Ferne, die die auferstehenden Sterne zu sehen gestattet. Auch hier ist das schöpferische „ Werden" betont, der Augenblick gleichsam des Entstehens, den Schiller immer wieder zu ergreifen sucht, gleichviel, ob er das Aufdämmern eines ® Vgl. „Melancholie" v. 78 ff. Der in der Vorstellung gegenwärtige Schöpfer braucht nicht erst namentlich erinnert zu werden.

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

Kunstwerks in der eigenen Phantasie beobachtet oder den Moment festhält, da Venus dem Schaum des Meeres entsteigt („Der Triumf der Liebe" v. 35 f.). 4 Die zweite Strophe, die, wie gesagt, die bereits überwundenen Entfernungen angibt und den Standort des pathetischen Subjekts näher kennzeichnet, stellt im Gang der Verse die Bewegung dar, die schließlich bis zu den „Sternenleeren" Räumen führte. Zeitliche und räumliche Ausdehnung ergänzen dabei einander. Der Tempuswechsel in der dritten Strophe und das komparativische „muthiger" unterstützen die Beschleunigung, die der „Flug des Lichts", mit dem „Windes Flug" verglichen, bedeutet: Alle Horizonte werden verschoben. Geschwindigkeit und Entfernung lassen die „Himmel" „neblicht trüb" und die „Weltsysteme" zu bloßen „Fluten im Bach" verringert erscheinen. Meeresgleich ist das „Luftmeer" gedacht, und beide divergierenden Vorstellungen gehen ineinander über, so daß das Flugziel sein kann, Anker zu werfen am „Markstein der Schöpfung" und an deren Gestade zu segeln. Die pathetische Imagination, die sich in dieser abstrakten Unendlichkeit nicht mehr vergegenständlichen kann, stört es nicht, daß die Bezeichnungen wechseln und einmal den Segler, das andere Mal den Pilger, den Waller oder Sonnenwandrer meinen. — N u r noch ein Totaleindruck, aus Analogien gebildet, ist möglich, den die der sinnlichen Orientierung beraubte megalomanische Phantasie gibt. Die Bewegung, die dieses Gedicht inhaltlich wie rhythmisch auszeichnet, verändert dazu dauernd die Aspekte und übergeht zweimal die feste syntaktische Ordnung (vgl. die elliptischen Verse 15 und 23). Das asklepiadeische Strophenmaß, das Schiller kühn durch einen Ditrochäus vor dem Pherekrateus und einen zweiten Glykoneus erweitert, versinnlicht, wie man deuten möchte, in den Asklepiadeen die räumliche Weite 5 und in den Trochäen, die ohne Verhalt in den Pherekrateus übergehen, die flüchtige Bewegtheit des Gedichts. Mit erstaunlichem Geschick hielt Schiller das edle Maß durch; lediglich in den Versen 17 und 18 „wandert" der Daktylus innerhalb des Glykoneus, und der Pherekrateus hat in Vers 28 eine unbetonte Silbe zuviel. Wie angemessen dem Inhalt das vorgegebene Metrum ist, zeigt der Dialog der Schlußstrophe. Die vorhergehende vierte Strophe hatte die unendliche Ausdehnung der Schöpfung mit einem glänzenden Einfall versinnlicht, indem sie einen auf den Lichtpfaden entgegenkommenden „Pil4 5

Vgl. „Das Reich der Schatten" v. 114 ff. Von der Raumform der asklepiadeischen Strophe handelte grundlegend Wolfgang Binder: Hölderlins Odenstrophe, Hölderlin-Jahrbuch 1952, S. 85 bis 110.

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ger" einführte und die Begegnung mit dem wesentlichsten dramatischen Element des Gedichts, dem Dialog, wiedergab. Dadurch war die Gefahr der Abstraktion und Strophenhäufung gebannt und die „Peripetie" bezeichnet. Als Antwort auf den Anruf des Entgegenkommenden wird in eindringlicher sinngemäßer Übereinstimmung mit der Exposition der ersten Strophe das Ziel des Flugs nochmals angegeben. Die beiden asklepiadeischen Verse der Schlußstrophe nun gewähren das gleiche Maß für die gleiche Rede. Zwar wiederholt die jeweils zweite, der ersten spiegelbildlich zugeordnete Vershälfte nur dem Sinn nach die gemeinsame Erfahrung der Dialogpartner, auch fehlt hier die Reimbindung, die alle anderen Verse paarweise zusammenschließt, doch unterstützt der parallele Gang der Asklepiadeen vorzüglich die beiden gleichgerichteten Aussagen, obgleich sie inhaltlich einander entgegenstehen. Das Hauptorgan, das im „Sturm und Drang" oft verselbständigt und angeredet werden kann, wird in der „Gröse der Welt" ebenfalls abschließend apostrophiert: „Adlergedank" und „Fantasie" sind als die allegorisch versinnlichten Kräfte genannt, welche die imaginativen Weltenschwünge ermöglichen und ausführen. Ihre Bedeutung für das Pathos ist bereits dagelegt worden: mit der Phantasie bezeichnete man im 18. Jahrhundert ein spekulatives, der Anschauungsarmut des Pathetikers dienliches Vermögen 6 ; mit dem „Adlergedanken" drückte der junge Schiller sein Streben aus, kühn über die Erde und ihre niederen Dinge hinwegzufliegen. D a ß die Unendlichkeit des Raumes von keiner menschlichen Vorstellungskraft auszumessen sei, ist das halb resignierte Ergebnis dieses dramatisch angelegten Gedichts. Die pathetische Imagination mußte eine Grenze anerkennen, doch nicht die räumliche der Schöpfung, sondern die der eigenen Anlage. So blieb nur, ein „muthloses Anker" zu werfen. Über der Erde und jenseits der beengenden Wirklichkeit, an keinen O r t gefesselt und von keinem Gegenüber bedrängt, erprobte der Pathetiker seine unendlichkeitsverlangende „Fantasie", die die „Gröse der Welt" erfuhr, je mehr sie an die eigene Grenze stieß. 7

„DIE

FREUNDSCHAFT"

In der „Anthologie" aufgeführt mit dem Hinweis: „Aus den Briefen Julius an Raphael; einem noch ungedruckten Roman", bilden die Stro' Daß der spekulative Geist mit Gattungen, der intuitive mit Individuen beschäftigt sei, ist eine der bestimmenden Einsichten Schillers für seine Dichtungstheorie (an Goethe, 23. August 1794). 7 Herbert Cysarz: Schiller, 1934, S. 79, nannte dieses Gedidit „das erste Meisterstück eigener Zeidienfindung für das Obersinnliche".

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

phen 3—10 dieses Gedichts die hymnische Mitte der „Theosophie des Julius", die, erst 1786 als Hauptteil der „Philosophischen Briefe" in der „Rheinischen Thalia" veröffentlicht, in enthusiastischen Gefühlsgedanken das Glaubensbekenntnis des Karlsschülers aussprach. Die nachfolgende Interpretation der „Freundschaft" wird nicht deren vordergründige und in den Grundzügen unschwer verständliche Gedanklichkeit zu analysieren, ihre Abhängigkeit von verschiedenen Denkriditungen festzustellen suchen.8 Das Vorgehen von Herbert Cysarz schreckt ab, der zu diesem Gedicht bemerkte: „Die Begriffe gemahnen an Herder, Hemsterhuis, Ferguson, Hutcheson, Shaftesbury, vornehmlich Leibniz und letztlich Plotin." 8 Wer könnte diese wenig besagende Aufzählung nicht mühelos fortsetzen? Ohne Zweifel verwertet Schiller sein theoretisches Wissen in diesem Gedicht; fast wörtliche Anleihen übernimmt er aus seinen „Philosophischen Briefen". Aber es ist festzuhalten, daß er kein System einer rationalen Weltauffassung entwirft oder eine allgemein verbindliche Wahrheit verkündet: „Mein Herz suchte sich eine Philosophie, und die Phantasie unterschob ihre Träume. Die wärmste w a r mir die wahre." 10 Die Wärme der Leidenschaft wird also der gedanklichen Richtigkeit vorgezogen; ihre Beziehung auf das Subjekt verheißt, daß sich im Gedicht die Selbstsetzung des Dichtenden vollzieht. „Ich habe immer", so schreibt Schiller an Körner am 15. April 1788, „nur das aus philosophischen Schriften genommen, was sich dichterisch fühlen und behandeln läßt". Die Anregungen, die Schiller philosophischen Werken verdankt, sind hinlänglich bekannt, weniger bekannt aber ist die Behandlung „dichterischen Gefühls". „Die Freundschaft" entstammt thematisch dem kultischen Gemeinschaftsgefühl des 18. Jahrhunderts, das, von Pyras und Langes „Freundschaftlichen Liedern" vorgebildet, in Klopstocks „Wingolf"-Oden gipfelt. Es ist bekannt, wie sich im „Zürchersee" die vielstufige odische Bewegung im Preis der Freundschaft erfüllt 11 , in Klopstocks Leben und Dichtung der eine Geist, der „allen gemein" ist, eine fast religiöse Weihe erfährt. In der Ode „An Ebert" (älteste Form v. 67) deutet Klopstock die „Seele zur Freundschaft erschaffen" und bezeichnet damit ihre BeVgl. Wilhelm liiert: Der junge Schiller im Weltanschauungskampf seiner Zeit, 2. Aufl., 1933. Iffert bespricht die Ideenwelt der „Anthologie" und die geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts in ihrer Wirkung auf den jungen Schiller. Ferner sind zu erwähnen Franz Koch: Schillers philosophische Schriften und Plotin, 1926, und wiederum Ernst Müller: Der Herzog und das Genie, 1955, S. 287—292. » Herbert Cysarz: Schiller, 1934, S. 77. 1 0 Säk. Ausg. Bd. XI, S. 1 1 7 . 1 1 Vgl. Friedrich Beißner: Klopstocks Ode„ Der Zürchersee". Vortrag 1952, S.23. 8

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deutung für die hochgemute Jugend jener Zeit. Es ertrug keiner das Leben allein — dieses Gefühl beherrschte auch Schiller, wie die späteren Briefe an Körner bezeugen. „Einzeln können wir nichts", schrieb er dem Freund am 7. Mai 1785. 1 2 Das Gedicht Schillers beginnt mit einem Zuruf an den Freund und personifiziert damit das Thema: die Freundschaft. Doch keine Beteuerung freundschaftlicher Gefühle schließt sich an, sondern eine unvermittelte Aussage über den „Wesenlenker". Sogleich werden „kleinmeisterische Denker" getadelt, — ohne die grammatische Konstruktion zu erfüllen — , die nach einer Vielzahl von Gesetzen forschen, darüber das eine und einheitliche Urgesetz aber nicht zu erkennen vermögen. Die empirische Erkenntnis wird, vom hohen Standpunkt Newtons aus beurteilt, geringgeachtet. Die dem 18. Jahrhundert verhaftete Vorstellung scheidet die beiden Reiche des Spirituellen und Materiellen, die — im Sinne der „prästabilierten Harmonie" — gesetzmäßig aufeinander bezogen und enthusiastisch geeint sind durch das gemeinsame Ziel. „Geisterreich" und „Körperweltgewüle" und ihre gegenseitige Abhängigkeit geben, auf Begriffe gebracht, die vereinfachten Probleme wieder, mit denen sich der junge Mediziner auf der Karlsschule hauptsächlich beschäftigthatte. In der „Freundschaft" ist den „Geistern" eine teleologische Ausrichtung, den „Körpern" eine universale Determiniertheit zugesprochen. Die zweite Strophe erweitert die Vorstellungen, die die erste erschlossen hat. In Labyrinthenbahnen gehalten, drehen sich die Sphären um die Mitte der Welt, während sich die „Geister" zielsicher auf die „Geistersonne" zubewegen. Die dritte Strophe erst gibt den Grund an, warum diese „riesenmäßigen Projekte" („An die Parzen" v. 39) bemüht wurden: Das „umarmende System", das „allmächtige Getriebe" ist die Ursache und der kosmische Hintergrund der Freundschaft zwischen Julius und Raphael. Die unendliche Urkraft selbst ist es, die die Freunde zusammenführte und zum „Vollendungsgang" anhält. Die folgenden drei Strophen (4—6) schließen sich eng an die dritte an. Sie schildern das Glück, das Julius durch den Freund erlebt. Eine kosmische Wahlverwandtschaft hat sie einander eigen gemacht, und selbst die Gegenkräfte des geordneten Alls vermöchten nicht, ihre Herzen 12

Die Freundschaft als eine „ G r u n d f o r m des Erlebens" beschreibt B. v . Wiese a. a. O., S. 3 2 — 4 3 , in ihrer biographischen Bedeutung, ihrer Spannung zur Dichtung und ihrem religiösen Anspruch. In der Freundschaft gehe es „um die Annäherung an die Gottheit selbst" (S. 4 0 ) — dies schließt aber das v o n B . v . Wiese verneinte erhöhte Bewußtsein des eigenen Ich durch die Freundschaft nicht aus, wie die hier gegebene Interpretation zeigt, auch wenn es sich bei Schiller nie um eine bloße Selbstdarstellung handeln kann.

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Interpretationen ausgewählter Gedidite

zu trennen. Sein neues Leben lebt Julius nur vom Freunde her, seine Lust, die Schönheit der Erde und des Himmels genießt er gesteigert durch den Freund. Nicht nur Vermittlung und Erhöhung des Lebensgefühls verdankt er diesem, sondern auch tatkräftige Hilfe im Leiden. In einer überkühnen Hyperbel ruft er aus, daß die Glut des Entzückens sidi zu entäußern und ihr begrenztes Maß zu überschreiten sucht. Die siebte Strophe steht isoliert im Zusammenhang des Gedichts. Im Irrealis gegeben, spricht sie das übermächtige Gefühl aus, das derart nach dem „Du" der Freundschaft verlangt, daß Julius, einsam gelassen, selbstschöpferisch werden müßte. Die achte und neunte Strophe zeigen fast wörtliche Anklänge an die Gefühlsgedanken der vorhin erwähnten „Theosophie". Sentenzhaft kurz und prägnant geben sie Denkergebnisse wieder, die besagen, daß die Liebe uns erweitert um das, was wir lieben. Während Egoismus und H a ß isolieren, treten die Geschöpfe in der Liebe aus ihrer Vereinzelung. Diese Liebe ist nicht ein gewöhnlicher, sondern ein göttlicher „Drang", der die individuellen „Substanzen" einer hierarchisch abgestuften Ordnung durchwaltet, deren Rang durch ihre Schaffenskraft und die Klarheit, mit denen sich das Universum in ihnen spiegelt, bestimmt wird. Der erhabene Gedanke der Schlußstrophe, der die Erschaffung des Menschen aus dem „Mangel" des Weltenmeisters an befreundeten Wesen begründet — dieser teilte sich in die Endlichkeit seiner Geschöpfe, die ihn zum Bewußtsein seines Selbst bringen — dieser Gedanke ist in der achten und neunten Strophe kühn umgedeutet, fast umgekehrt, enthalten: Die ins Unendliche vervielfältigte Anziehung der Geister durch die Liebe kann Gott hervorbringen, wie es in der „Theosophie" heißt. 13 Zwei Vorstellungen liegen hierbei zugrunde: eine, die dem Menschen eine göttliche Anlage zuspricht, eine andere, die das unendliche Wesen als vergrößerte Endlichkeit begreift.14 Eine kosmische Phantasie ist, wie in der „Gröse der Welt", in diesem Gedicht am Werk, die ungeheure Räume eröffnet, alles Individuelle mit dem Unendlichen verknüpft und die Freundschaft als Teil des All-Bezugs ausführt. Die uns umgebende Wirklichkeit ist übergangen und eine eigene grenzenlose dafür in imaginativer Schau errichtet. Die Unendlichkeit ist der Raum, den Schillers Pathos voraussetzt, in dem erst seine Vorstellungen sich angemessen objektivieren können. Schon der erste Vers schiebt alle menschlichen Aussagemöglichkeiten beiseite, spricht von 15

14

Säk. Ausg. Bd. X I , S. 127. Daher kann in Vers 44 gesagt werden: „Götter — wenn wir liebend uns umfassen!" Vgl. auch E. Müller a. a. O., S. 291, der den Gedanken der Vollendbarkeit Gottes durch seine Geschöpfe vornehmlich auf Oetinger zurückführt.

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der „Genügsamkeit" des Wesenlenkers und fügt in den folgenden Versen den Parallelismus des Geistigen und Materiellen und das Walten einer „prästabilierten Harmonie" hinzu. Dieses „deklamierende" Pathos erweitert in der zweiten Strophe das Weltbild ins Grenzenlose; des „Rades Schwung" 15 hält die Kreisbahnen der Sphären und die korrespondierende Zielbewegung der Geister in Gang. Der unendliche Vorgang im „All der Schöpfung" begründet den endlichen der Freundschaft; das physikalische Gesetz der Anziehung bedingt das soziale der beiden Menschen. Die Freundschaft untersteht den Gesetzmäßigkeiten des Alls; sie selbst hat Anteil an den „umarmenden Systemen". Das Urgesetz bewirkte die Freundschaft, zwang die Freunde zusammen; als Erlebnis wird es zum Glück, zum Wagemut und zur stolzen Sicherheit der Gemeinschaft. Das „allmächtige Getriebe" ist reflektiert im Gefühl erlebbar. Das Endliche gewinnt f ü r den jungen Schiller seinen großen Eigenwert durch die Teilhabe am Unendlichen, es ist in jedem P u n k t auf das Unendliche verwiesen und wird von ihm gesetzmäßig bestimmt. Das Bedingte ist durch das Unbedingte ermächtigt. Wenn für den reifen Tragiker Schiller die Entscheidungsfrage lautet, wie die Freiheit des Menschen gegenüber der durchgängigen Determiniertheit des Geschehens sich behaupten könne, so ist f ü r den jungen Lyriker festzustellen, daß er aus der Begründung und Einordnung, aus dem Anteil an den Kräften des Alls, dem „süsen Fesselzwang", die Erlebnisfülle wie die Größe und Würde seiner Freundschaft erfährt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Schiller-Literatur gewann Hofmannsthal die bedeutende Einsicht: „Selber Gestirn, folgt er einer Bahn. Gebundenheit ans Höchste war ihm alles." 18 Das Pathos Schillers ist also seinem Wesen nach ein Pathos der Unendlichkeit. Die räumliche und zeitliche Unendlichkeit, „Maaß und Zeit" (v. 54), sind ungeschieden, und es ist bedeutsam, einzusehen, was die neunte Strophe ausführt, daß die Aneinanderreihung endlicher Wesen die Unendlichkeit ergeben kann. Die Endlichkeit, die die Grenze ist f ü r den diskursiven Verstand, kann von der pathetischen Bewegung übersprungen werden. Es besteht f ü r Schiller kein qualitativer Unterschied zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit; die physikalische Zeit ist im Gedicht wie selbstverständlich übergangen. Am Ende der neunten Strophe, da „sterbend untertauchen M a a ß und Zeit", geschieht kein Umschlag, der das „ganz Andere" der Unendlichkeit wiedergäbe. Die Schöpfung des Menschen wird in der Zeit verstanden, auch der „grose Wel15

16

Vgl. die Erläuterungen von Fritz Jonas a. a. O., S. 31, der viele Parallelen zu dieser Lieblingsvorstellung anführt. Schillers Selbstcharakteristik aus seinen Schriften (o. J.) 1926. Erstmals von Döring, neu herausgegeben von H. v. Hofmannsthal. Vorwort, S. 15.

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tenmeister" ist in die raumzeitliche Vorstellung und in die menschliche Gefühlssphäre hereingenommen: Er war freundlos (v. 55) — er ist genügsam (v. 1). Mit diesen beiden Eckstrophen, die vor- und rückgreifend einander bedingen und erhellen, hat das Gedicht seine Spannung, der gestaltete Vorgang seine zeitliche Fixierung erfahren. Zur zeitlichen Orientierung kommt die räumliche hinzu. Die achte und neunte Strophe stellen die räumlichen Koordinaten fest: Der göttliche Drang waltet „aufwärts durch die tausendfache Stufen" (v. 46). Dieser in Vers 49 gedeutete Regressus im Gegensatz zur vorhergegangenen Emanation zeigt die Höhe als eine Stileigenschaft des Pathos. Dem Zug zur Ewigkeit entspricht der Drang nach oben, der das Irdische hinter und unter sich läßt. Dieses Pathos der Unendlichkeit — imaginatives Pathos vielleicht zu nennen — entwirft Weltenräume, die der Pathetiker wie ein „königlicher Adler" (Abel) durchmißt. Die fiktiven Wechsel vor einem ungegenständlichen Zeithorizont ergeben den Aufbau des Gedichts, das aus mehreren Strophengruppen besteht. Die Veränderung der Distanz, die unendlich groß ist in den beiden Anfangsstrophen, geht mit der ersten Hälfte der dritten Strophe über in die Nähe, die sich am Ende der sechsten Strophe im liebenden Ineinander der Freunde „aufheben" will, um dann, sich selbst bewahrend, in der siebten Strophe umzuschlagen in die gedanklich geschaffene Distanz. Allmählich entfernt sich in den Strophen acht und neun das pathetische Gegenüber, erweitert sich sogleich in „Gruppen" und „zalenlose Geister" (v.47) und entschwindet ins „Meer des ew'gen Glanzes" (v. 53). Die Distanz wird von der allgemein gehaltenen Schlußstrophe, die Anfang und Ende des Gedichts verbindet, wieder ins Unendliche vergrößert. Ferne bedeutet, daß der Mensch ihren Dingen herrscherlich begegnen kann; er kann über sie verfügen, wie Schiller über die Kräfte der Welt im Gedicht verfügt, die er in erhabener Einseitigkeit als Kräfte der Freundschaft schaut. Dieser Abstand übergeht die Einzeldinge, sie sind „untergeordnetes Beiwerk" (Hegel), er abstrahiert Gesetze in jener mechanistischen Weise, wie es das 18. Jahrhundert zu tun beliebte. Aber da diese Ferne auch die Nähe enthält, wird sie Nähe, die sich im Freund konkretisiert, Kontakt vermittelt, um aus der zu innigen Annäherung, die die fünfte und sechste Strophe behandeln, wieder als Ferne hervorzugehen. Die subjektive Seelenbewegung des Pathetikers findet sich in der universalen Bewegtheit seiner dargestellten Welt wieder. Dynamische Bewegung ist in allem: im Weltall wie im Wechsel der Standorte und Vorstellungen und vornehmlich in den Bewegungswörtern. Kein Verweilen ist im Gedicht angegeben; alles Geschaffene ist in unaufhaltsamer Be-

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wegung wie die Zeit selbst, die gekennzeichnet ist durch die nach oben Strebenden. Dieses Streben, das die ganze Menschheit umfaßt, ist in die Zukunft gerichtet. 17 Das bedeutet, daß der faktisch-gegenwärtige Stufengang „nach oben" in eine unwandelbare Zukunft projiziert ist, die in aller Vergangenheit (vgl. Strophe zehn) schon gleicherweise war. Darin spiegelt sich die leidenschaftliche Erlebnisweise des jungen Schiller, der sich des augenblicklichen übermächtigen Gefühls versichert, indem er es in die Vergangenheit und die Zukunft unveränderlich erweitert. Unendlichkeit und H ö h e sind, wie gesagt, Wesenszüge des Schillerschen Jugendpathos. Dazu kommt seine Bewegtheit, deren „Pendelschwung" (F. Beißner) am Ende des Gedichts „transzendiert". Diese Bewegung sei der „Puls" des Gedichts genannt, um den Begriff zu verwenden, mit dem Schiller seinem damaligen Freund Reinwald am 14. April 1783 bezeichnete, was er als sein Eigenstes dem „Carlos" mitgegeben zu haben glaubte, während dieser seine Seele vom „Hamlet", „Blut und Nerven" vom „Julius von Tarent" habe. Die besprochenen Anfangs- und Schlußstrophen, die die Allbezüge der Freundschaft zwischen Raphael und Julius darstellen, werden in den Mittelstrophen motivisch oft reflektiert. Die Freundschaft der dritten Strophe ist in der neunten Strophe auf die ganze Menschheit, die vom Einfachsten bis zum Weisesten reicht, ausgedehnt („Vom Mogolen 18 bis zum griechschen Seher"). Der Spiegel, der in der fünften Strophe dem Freund die Welt im Freund wiedergibt, entspricht dem unendlichen Spiegel, in dem der „Weltenmeister" (Strophe 10) seine unendliche Seligkeit genießt. 19 Raphael, der Freund, gewinnt keine Gestalt und kein 17

18

19

Vgl. R u d o l f U n g e r : D e r Unsterblichkeitsgedanke im 18. Jahrhundert und bei unseren Klassikern, in: Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethezeit, 1944, bes. S. 17. In den „Philosophischen Briefen" heißt dieser Vers bezeichnenderweise „Vom Barbaren bis z u m . . .". Mit gutem Grund (vgl. auch die K l i m a x und die Vorrede der „sibirischen Anthologie", N a t . Ausg. Bd. X X I I , S. 85) gab daher Julius Petersen in der Faksimile-Ausgabe der „Anthologie" Mogolen als Druckfehler für Mongolen an. — Friedrich Beißner hingegen beläßt den T e x t der N a t . Ausg. unverändert und weist darauf hin, daß die Form M o g o l oft für Mogul stehe und erinnert an „Die Räuber" ( N a t . Ausg. Bd. III, S. 68, 14), an A. W. Schlegel (in: „Was ihr wollt" II, 5 und 111,5) und Joh. Chr. Günther (Krämer, I, 315, v. 92). (Man könnte auch an Christian Reuter denken, der seinen „Schelmuffsky" dem „Großen Mogol" widmete.) Während im Barock der „Spiegel" als Abbild und Nachahmung aufgefaßt wurde, ist an dieser Stelle der Lyrik Schillers im Anschluß an die „Monadologie" der „schaffende Spiegel" der Seele gemeint, der Bilder entwirft, die in dem Maße die Wirklichkeit übersteigen, wie die Seele umbildende Kraft besitzt. N u r in Ausnahmefällen wird in Schillers Jugendlyrik ein Gegenstand ohne überhöhende Beteiligung des pathetischen Subjekts dargestellt. D i e Be-

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Eigenleben und bleibt schemenhaft. Ein dialogisches Leben ohne Partner scheint sich zu vollziehen,wobei der Freund nur Medium des gesteigerten Selbsterlebens ist (v. 27—30). In diesen Versen ist der „Stürmer und Dränger" ganz enthalten, dem alles Fühlen oft genug ein Sich-selbst-fühlen ist20, ein Selbstbezug, da seine Überfülle zu keiner Einfühlung in fremdes Seelenleben bereit ist. Die ganze Welt — eine Welt der Freunde, vom „Weltenmeister", der ehedem „freundlos" war, zur Freundschaft erschaffen — ist nach Analogie des eigenen Gefühlszustands des Dichters gebildet. Das große schöpfergleiche Gefühl, das sich des Freunds als des „schöneren" spiegelgleichen Vermittlers bedient, pocht in der sechsten Strophe an die Grenzen der Individualität. Schiller sprach oft aus, daß sich das beschränkte „Ich" in der Freude oder der Liebe aufgeben wolle, und bezeichnete dies in dem bereits erwähnten Brief an Reinwald als „den ewigen inneren Hang, in das Nebengeschöpf überzugehen", als eine „wollüstige Verwechselung" der Wesen, ein Streben nach „Vermischung". Wie in den „Laura"-Gedichten soll das principium individuationis aufgehoben werden. In dieser nicht überbietbaren Gefühlsintensität des Strophenendes, das in einen bewußten Fragesatz gezwungen ist, vollzieht sich eine Art Peripetie des Gedichts, welches in einen imaginären Seinsmodus gleichsam überspringt: In der siebten Strophe, der „Prometheus"-Strophe des jungen Schiller, bemächtigt er sich der überraschenden Vorstellung, im „All der Schöpfung" allein zu sein. Der Einsame würde sich zum schöpferischen Wesen aufschwingen — aus Mangel, der auch den „Weltenmeister" zur Erschaffung der Geister trieb. Das Pathos, das keine Grenzen achtet, anerkennt im Bewußtsein der eigenen Schöpfermacht keine Gegenkraft: Der härteste Stoff, Felsgestein, wird genommen, das weiche Gefühl des Träumenden in ihm zu verwirklichen. Die Imagination des Pathetikers, einem „intellectus archetypus" gleich, wie ihn Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" (§ 77) beschrieb, sucht eine Welt sui generis zu schaffen, zum Realschöpfer der Wesen und nicht nur zum „second maker" der Welt in der Phantasie zu werden. Die zweite Hälfte der siebten Strophe — gleichsam in einen imaginären Raum gesprochen — gibt den Wechselbezug von All und Mensch

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deutung des Spiegelmotivs für Schiller wird von August Langen (Zur Geschichte des Spiegelsymbols in der dt. Dichtung, Germ.-Rom. Monatssdirift, 28. Jg., 1940, S. 269—280) nicht erwähnt. — Vgl. auch Franz Koch a. a. O., S. 81. Audi Werther spricht in seinem Brief vom 18. August vom „schäumenden Becher des Unendlichen". Vgl. Wolfg. Binder: Dichtung und Zeit in Hölderlins Werk, mschr. Habilitationsschrift, 1955, S. 48: „In dieser Rückbeziehung des Gefühls auf das fühlende Ich und nicht etwa schon in der Betonung des Gefühls als solcher liegt der subjektivistische Charakter der neuen Bewegungen des ,Sturms und Drangs' und der .Empfindsamkeit'."

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wieder. Im Schlußvers (v. 42) erinnert sich der Dichter, der sich als Dichtenden beobachtet, seiner Torheit 2 1 , seiner Trunkenheit, mit der er der „süßen Sympathie" hingegeben ist. Auch die Romantiker ergaben sich einer unendlichen Bewegung, einer Bewegung ihrer Sehnsucht, die aber, sich selbst genug, im All verschwebte. Die Bewegung Schillers dagegen, nach Gedanke und Form stets gesammelt und geordnet, treibt einem vorgegebenen Ziel zu. Auch im Taumel „stürmender Affekte" („An die Parzen" v. 37) bleibt das Pathos des „Freundschaftsgedichtes" strophisch gebunden. Mit großer Bewußtheit ist das Gedicht gestaltet: der atemlose Fluß der Sätze ist durch rhetorische Fragen unterbrochen, die zur Darstellung noch — zu Beginn der dritten Strophe vornehmlich — die Deutung fügen. Die zehn Strophen des vorliegenden Gedichts verwenden in der Regel fünfhebige Trochäen. Die jeweils dritten und sechsten Verse innerhalb der Strophen, die eigentlidien Stauungsverse, um eine oder mehrere Silben verkürzt, sind audi durch den Reim aufeinander bezogen und damit ein kunstvolles Mittel, die Bewegungen aufzuhalten, die die ihnen jeweils vorgeordneten weiblichen Reimpaare auslösen. Im Dichten und Denken — beide sind gleicherweise beteiligt in der „Freundschaft", ohne sich gegenseitig zu stören — im Dichten und Denken 22 der Unendlichkeit gewinnt der Mensch nach der Überzeugung des jungen Schiller Anteil an ihr. Durch diese Teilhabe empfängt er seine Dignität. D a ß aber die „Bürgerschaft des Universums" teuer erkauft ist, da sie die Konzentration auf die Einzeldinge und deren sinnlich-plastische Gestaltung verwehrt, wurde bereits ausgeführt. Alle erlebbare Wirklichkeit bleibt hinter dem enthusiastischen SeinsEntwurf dieses Gedichts zurück. Der Wille zur Transzendenz projiziert das Irdische auf das Oberirdische, mit dem es fugenlos verbunden erscheint. Der exzentrischen Begeisterung für die Freundschaft sind alle anderen menschlichen und kosmischen Relationen unterworfen. Nach Analogie der Allvorgänge werden die persönlichen Situationen gebildet.

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Vgl. die Erklärung, die Eduard Spranger a. a. O., S. 15, für Vers 42 gibt: „Ein Tor wäre man, wenn man ernstlich von dem Felsen verstehende Antwort erwarten sollte." Der Dichter mißtraue im übrigen der gefeierten Weltsympathie, die aus der verklärenden Subjektivität hergeleitet sei. — Vgl. auch Goethes Wort zu Eckermann am 14. November 1 8 2 3 : „Es war nicht Schillers Sache, mit einer gewissen Bewußtlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren."

22

In der „Freundschaft" hat Schillers Jugendlyrik ihren überzeugendsten Ausdruck gefunden. Der stille Kampf zwischen Verstand und Phantasie, zwischen philosophischem Geist und dichterischer Kraft, über den er in seinem Brief an Goethe vom 31. August 1794 berichtete, ist hier geschlichtet.

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

Der reife Schiller verwarf auch dieses Gedicht 23 , dessen „starke, kühne, wahr-poetischen Züge" er in der Selbstrezension der „Anthologie" gerühmt hatte, doch fand Hegel die leicht abgeänderten Schlußverse würdig genug, seine „Phänomenologie des Geistes" mit ihnen abzuschließen.

„AN

DIE

FREUDE"

Es überrascht, daß der junge Schiller weder die Freiheit noch die Menschheit oder ähnlich große Gegenstände dichterisch darstellte. Die Schwierigkeit der Objektivierung setzte sich einem solchen Unternehmen entgegen, denn die als Liebe und Sympathie, Freundschaft und Freude besungenen Weltkräfte sind in der pathetischen Dichtung kaum voneinander unterschieden.2* Unter anderen Namen bewirken die gleichen Grundgesetze universelle Bedeutungszusammenhänge — allseitige Bezüge von Mensch und Kosmos, vom Kleinsten zum Größten. Im selbstgeschaffenen Ideal erweitert sich der Pathetiker über sich und die Wirklichkeit hinaus. Die jeweilige Begeisterung feiert sich selbst, wie sehr auch Schiller bemüht ist, das Subjekt des Anrufs in allen möglichen Objektivierungen aufzuführen. Wie „Die Freundschaft", so preist auch das Lied „An die Freude" das überschwengliche, mit den Grundkräften der Welt identifizierte Gefühl und ein allen Erscheinungen immanentes bewegendes Prinzip. In den ersten Julitagen des Jahres 1785 in Gohlis gedichtet, sammelt sich in ihm Schillers Jugendpathos, das gleichzeitig zu einem enthusiastischen Abschluß gebracht wird. — Die Bedeutung, die der Übersiedlung Goethes nach Weimar im Spätherbst 1775 zukommt, überwiegt die, die wir mit Schillers Aufenthalt im Freundeskreis um Körner verbinden, schon äußerlich durch die Zahl der Jahre, die sie an diesen Orten verbrachten, zum andern aber durch jene unterschiedliche Art, mit der die äußere Welt auf sie zu wirken pflegte. Die Gleichung von Leben und Werk braucht für Schiller selten bemüht zu werden; mit mehr Berechtigung kann von einem Verhältnis von Druck und Gegendruck gesprochen werden, womit Schiller den Anspruch seines schweren Lebens beantwortete. Mit jener Fahrt nach Leipzig am 17. April 1785 beginnt jedoch ein neuer Abschnitt in seinem Leben, dessen Verlauf wir durch die vielen bekenntnishaften 23

24

Doch hing er, wie ein Brief an K ö r n e r v o m 8. August 1787 bezeugt, den G e danken des Julius noch lange an. Vgl. P a u l Böckmann: Hölderlin und seine Götter, 1935, bes. S. 57, welcher über die T ü b i n g e r H y m n e n Hölderlins Ähnliches sagt.

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Briefe an die Freunde einsehen können. „Ich bin hindurch!" — das ist das Thema, das alle seine Äußerungen wiedergeben. Die innere und äußere Freiheit, die Schiller durch diese Übergangszeit geschenkt wurde, kann am besten in seiner Sicherheit nachgefühlt werden, die ihn, fürs erste fest gegründet, nunmehr vorwärts wie auch rückwärts schauen ließ. Die weitere Entwicklung wurde einem bewußten Plan unterstellt, „die Vergangenheit nachzuholen, den edlen Wettlauf zum höchsten Ziel von vorn anzufangen" 25 . Einige der wesentlichen Stilzüge des Liedes „An die Freude", wie die Invokation, die Prädikation und der Aufschwung, die Deifikation und die Bildfunken, die additive Reihung, die allegorische Disposition und der hochstrebende Rhythmus, sind wegen ihres paradigmatischen Wertes für das Jugendpathos bereits eingehend beschrieben worden. Sie dürfen hier als bekannt vorausgesetzt werden. 26 — In einen reißenden Wechsel sind die Vorstellungen hineingenommen, und der Vorgang der Begeisterung wird an der allseitigen Wirkungskraft des vergöttlichten Ideals entwickelt. Wiederum enthält die Eingangsstrophe eigentlich das Ganze des Gedichts, denn die vielen folgenden Strophen sagen in ihrer variierenden Einsinnigkeit fast das gleiche aus; jede Strophe nimmt das Thema nur leicht verwandelt auf. Die Wiederholung als eigentliche Steigerungsfigur kann an diesem Kompositionsprinzip abgehört werden. Wenn die Extension als Beitrag zur Intensität gewertet werden darf, verlieren natürlich die einzelnen Strophen wie die einzelnen Wörter an Bedeutung. Die große Konzeption der „Freundschaft" fehlt der „Freude". Die sechste Strophe steht fast isoliert, und durch sie wird die „trefliche Composition", die die „Gothaischen gelehrten Zeitungen" am 12. April 1786 an diesem Gedicht „herrlichen Inhalts" rühmten, recht eigentlich gestört. Da jede Strophe eine bestimmte Eigenschaft oder Wirkung der Freude besingt, besitzt eine jede eine überraschende Selbständigkeit. Daher glaubte Schiller in der späteren Ausgabe nur acht Strophen veröffentlichen zu können. Die Schlußstrophe wurde weggelassen — wohl wegen der affektvollen „Grenzüberschreitungen", die schließlich „die Hölle nicht mehr seyn" lassen wollten. Doch die Bewegung, die in dieser Strophe wie am Ende der fünften gleichsam die Grenze überpendelt, wird dadurch mitten im Schwung abgebrochen. Die additive Reihung der Verspaare und Strophen hat die Funktion, im häufenden Nacheinander " An Körner, 3. Juli 1785. Vgl. auch den Brief an Körner vom 7. Mai 1785, wo von einer Sternenfreundschaft die Rede geht, „deren Terrain die Ewigkeit und ihr non plus ultra die Gottheit" ist. 26 Vgl. auch M. Wandruszka von Wanstetten: L' Hymne ä la joie de Friedridi Schiller, Revue des langues vivantes 22, 1956, S. 544—559. 10

Keller,

Schiller

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Interpretationen ausgewählter Gedidite

das „totale Zugleich" auszudrücken, in dem sich auch die durch die allseitige Wirkungskraft des gefeierten Wesens gewährleistete Einheit der Welt vorfindet. Die Freude stiftet die vielheitliche Einheit. Wie den Raum und die Zeit, so verdichtet die pathetische Darstellung alle Kräfte auf eine beherrschende Grundkraft. Der Wille zur Einheit faßt zusammen, was die Wirklichkeit trennt. Zu dem durch Häufung und Wiederholung steigernd wirkenden Stil kommt ein weiteres Element hinzu: Während Vers fünf einfach feststellt: „Deine Zauber binden wieder", intensiviert Vers sieben diese Aussage: „Bettler werden Fürstenbrüder". Besonders am Ende der fünften und neunten Strophe „transzendiert" die Bewegung. Die fünfte Strophe führt geradezu stufenförmig aufwärts: von „der Tugend steilem Hügel" über des „Glaubens Sonnenberge" zum „Chor der Engel". Ein neuer kräftiger Einsatz, der die allgegenwärtige Freude auf eine konkrete Situation bezieht, erfolgt erst wieder mit der siebten Strophe, so daß die sechste, wie erwähnt, isoliert steht und nicht zufällig recht unpoetisch wirkt. Die „vertikale" Steigerung von Vers zu Vers, die dem flächenhaft reihenden Stil die notwendige pathetische Höhendimension zugewinnt, wird durch die „horizontale" Spannung des Entgegengesetzten erweitert, die der einigende Rhythmus aufheben will (v. 7 : „Bettler werden Fürstenbrüder"; v. 2 7 : „Alle Guten, alle Bösen"). Wie in der „Freundschaft", so sind auch im Lied „An die Freude" Kosmos und Menschenwelt der gefeierten Kraft anheimgegeben. Die „ e i n e Vorstellungsart", von der Schiller am 25. Dezember 1788 an Körner schreibt, läßt weder eine Begrenzung noch ein Gegenthema zu. „Gram und Armut" (v. 67) verlieren jede Bedeutung. Der Einsame, der nicht in die Hochstimmung einschwingen kann, sieht sich sogar des Bundes der Frohen verwiesen. 27 Wo sich der Enthusiasmus wie in den beiden Schlußstrophen in einer typisch pathetischen Weise in Willensakten zu konkretisieren anschickt, wird die selbstgeschaffene freudige Welt verlassen. Die „herkulischen Gelübde" der Freunde (an Körner, 3. Juli 1785) übergehen aber sofort wieder in ihrer Ausschließlichkeit die den Menschen gesetzten Willensgrenzen. Die pathetische Imagination über-

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Jean Paul, der — wie vor ihm Klopstock — das vorliegende Gedieht als lückenhaft ansah, nahm an dieser Stelle Anstoß: „Wie poetischer und mensdilicher würde der Vers durch drei Buchstaben: . . . der stehle / weinend sidi in unsern Bund." (Sämtl. Werke, hrsg. v. Ed. Berend, 1. Abt., Bd. X I , 1935, S. 375). Allerdings ist zu bemerken, daß schon Klopstock den „Freundschaftslosen" verachtet hatte: Wolfdietrich Rasch: Freundsdiaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Deutsche Vierteljahrsschrift, Buchreihe, 21. Bd., 1936, S. 248.

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steigt auch in ihren voluntativen Zügen allzuleicht die reale Welt.28 Wollte Schiller seine Lyrik einheitlich gestalten, so blieben ihm später nur zwei Möglichkeiten: entweder der Rückgang auf eine „realistische" Darstellung wie in den elegisch gefärbten Gedichten oder die Erschaffung einer „idealischen" Welt, die nur noch der eigenen Schönheitsregel verpflichtet sein konnte. In der „Freude" hat die Welt die Funktion, sie in ihrem Wesen und ihrer Wirkung zu veranschaulichen. Ausschließlich und einseitig ist die freudig durchwaltete Welt dargestellt, und wie für die „Künstler", so kann auch für das Lied „An die Freude" von einer durchgehenden Allegorie gesprochen werden, von einer „Verhüllung" der Freudenkraft in die verschiedensten Erscheinungsweisen der lebendigen Welt. Die Empfindung ist vollkommen in die wirkende Gestalt übersetzt, die sich als einheitliche Weltkraft erfüllt. In seiner späteren Abhandlung „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie", die im Zusammenhang mit der „Braut von Messina" entstand, schrieb Schiller: „Es legt die lyrische Sprache des Chors dem Dichter auf, verhältnismäßig die ganze Sprache des Gedichtes zu erheben und dadurch die sinnliche Gewalt des Ausdrucks überhaupt zu verstärken." 2 ' Auch wenn diese Sätze nur mit Vorbehalt auf die Chorstrophen des vorliegenden Gedichts übertragen werden können, so paraphrasieren sie doch auch diese. Die Freude verbindet und sucht sich allen mitzuteilen — mit einer inneren Notwendigkeit ist damit der Chor in diesem Preis der gemeinsdiaftsbildenden Kraft verwendet. Endigt die erste Strophe mit der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, so steigert der Chor noch dieses innige Verhältnis: „Seid umschlungen Millionen! / Diesen Kuß der ganzen Welt!" Der Chor nimmt die Worte der ihm vorgegebenen Strophen in die ideale Gestimmtheit seiner hieratischen Sprache auf. Der Chor, der in der Tragödie die großen Resultate des Lebens gibt, wirbt im Gedicht für das Absolute. In acht von neun Chorstrophen — die vierte ist ausgenommen — findet sich seine empordeutende Gebärde. Doch fügt sich nicht jede Chorstrophe so eng und folgerichtig wie die erste an die vorhergehenden Strophen — dem stimmungserfüllten Augenblick 28

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Bezeichnend d a f ü r ist die Umschreibung des Enthusiasmus in einem Brief an H u b e r v o m 5. O k t o b e r 1785: Enthusiasmus sei der kühne und kräftige Stoß, der die K u g e l in die Luft werfe. „ A b e r im süßen Moment der idealischen Entbindung pflegen wir nur die treibende Macht, nicht die F a l l k r a f t und nicht die widerstehende Materie in Rechnung zu bringen." — „ D a s Ideal der Freude die vermehrte G e g e n w a r t . . . Freude schafft was nicht d a ist." Diese bedeutsamen E n t w u r f s k e i m e veröffentlichte erstmals, vorzüglich kommentiert und geistesgeschichtlich eingeordnet, Günter Schulz: Furcht, Freude, Enthusiasmus. Zwei unbekannte philosophische E n t w ü r f e Schillers. J b . d. D t . Schillergesellschaft, 1. J g . , 1957, S. 103—141. Säk. Ausg. B d . X V I , S. 120.

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hingegeben, ist der Chor diesem gleichzeitig enthoben. „Auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge" 30 weiß er um die Erhabenheit dessen, auf den hinzuweisen er nicht müde wird. Wie ihn seine Mittlerschaft heraushebt, so erhöht ihn auch die aufsteigende Form der Strophen, deren mächtiger Rhythmus zu ihm emporführt. Im allgemeinen untersuchen die Interpreten nur den philosophischen Gehalt dieses Gedichts, der Widersprüche und Ungereimtheiten enthält, die der reißenden rhythmischen Bewegung und den dithyrambischen Sprüngen zuzuschreiben sind. Eine „systematische Weltanschauung" 31 ist dem Gedicht gewiß nicht zu entnehmen, und einen Deisten, einen Pantheisten oder Polytheisten könnte man den Dichter nennen, ebenso wie einen Platoniker, einen Aufklärer oder Agnostiker. Daß diesem eher geistgläubigen als naturfrommen metaphysischen Spiritualismus auch noch biblische und mythologische Elemente mitgegeben sind, unterstreicht den unbedenklich ausgeübten Synkretismus des jungen Schiller, der nicht nur „Bürger des Universums", sondern auch Bürger eines universalen geistigen Reiches sein wollte. Damit aber in der dichterischen Bewegung der Freudenstrophen, die wechselnde Perspektiven eröffnen, das Wesentliche nicht verloren werde, weist der Chor in fast formelhaften Wiederholungen zum Ewig-Einen auf. Alles andere ist dem Wechsel der Aspekte anheimgegeben. In einem Aufsatz über „Schiller und die Mythologie" suchte Kurt Berger32 den Punkt zu fassen, an welchem antike und christliche Tradition in Schillers Dichtung zusammentreffen. In den jugendlicil-enthusiastischen Hymnen fand er einen „christlichen Piatonismus", im „guten Geist" (v. 80 und v. 83) der „Freude" aber das „erste Zeichen der Wiedergeburt einer dichterischen Symbolik aus der Mythologie, zugleich die innige Vermählung christlicher und antiker Tradition". Zu sehr beeinflußt von der Dionysos-Strophe der „Götter Griechenlands" und Nietzsches Konzeption des Dionysischen, die dieser an Beethovens Vertonung des „Freudenlieds" gewonnen hatte, glaubt Berger, daß im „ekstatischen Ausklang der Feier die symbolisch-kultische Beschwörung des fernen großen Wesens in des Dionysos Gestalt" stattfinde. — Es ist recht fraglich, ob der Libation des „guten Geistes", der immerhin „überm Sternenzelt" wohnt, eine solche Bedeutung zugemessen werden darf, ohne diese Verse zu überanstrengen. Eine Art Krasis antiker und christlicher Vorstellungen mag 30 31

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Säk. Ausg. Bd. X V I , S. 125. Diese erwähnte Karl Vietor: Die Lyrik Hölderlins, Deutsche Forschungen III, 1921, S. 38. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Lit. Wissenschaft, und Geistesgesch., Bd. 26, 1952, bes. S. 200.

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eher vorgenommen worden sein als eine Identifikation des „Freudenbringers" Dionysos mit Schillers Freudenkraft, die aus Bergers Darstellung gefolgert werden könnte. Man beachte, wie der Pathetiker, von nichts festgehalten, die Weltanschauungen durchstürmt, von jener Abenteuerlust erfüllt, die Hofmannsthal und Thomas Mann an ihm rühmten. Wie sehr im übrigen das Lied „An die Freude" der Dichtungstradition des 18. Jahrhunderts und seinen lebensphilosophischen Einsichten verpflichtet ist, hat Franz Schultz 33 nachgewiesen. Die „Göttin Freude", die als Begriff auf den von Shaftesburys Eudämonismus beeinflußten Hagedorn zurückzuführen sein wird, ist wie die „Stille" oder die „Idee des Reinen" eine „Vorform der Humanitätsidee". Johann Peter Uz 3 4 , der in seiner „Dichtkunst" der dichterisch dargestellten Kulturanschauung Schillers voranging, dichtete im Jahre 1768 seine Ode „An die Freude" („Freude, Königin der Weisen . . . " ) , die, ohne Chor, in Metrum, Verszahl und Reimbindung Schillers Lied vorwegnahm. Auf dem Weg zu einer dichterischen Theodizee personifizierte schon Uz die „Göttin Freude" und faltete den Begriff in einzelne Bestimmungen auseinander. Die Freude als enthusiastisch gefeiertes Weltgefühl, als „Evangelium der Weltenharmonie" (Nietzsche) in allen möglichen Erscheinungsweisen darzustellen, gelang allerdings erst Schillers mitreißendem Pathos. 35 Unentschieden ist die Frage, ob die „Freude" eine Hymne oder eine Dithyrambe sei. „Um echte Hymnik handelt es sich nur dort, wo ein höheres Wesen ,über allem Verstand' angerufen wird, wie es in Schillers ,An die Freude' geschieht. Sein Name ist nicht ausschlaggebend; den Ausschlag gibt, wie es vor der Seele des Singenden steht." 3 ' Um seine Ansicht zu stützen, könnte Walter Muschg noch die hymnischen Formen der Epiklese und Aretalogie in der „Freude" anführen, doch Schiller selbst wird sie in späteren Jahren als Dithyrambe gedacht haben. In der

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F r a n z Schultz: Die Göttin Freude, Jahrbuch des Freien dt. Hochstifts, 1 9 2 6 , S. 3 — 3 8 . V o m Einfluß Uzens auf den jungen Schiller berichten Scharffensteins E r i n n e rungen (in: Schillers Persönlichkeit, E r s t e r Teil, 1 9 0 4 , S. 1 6 6 ) . Die Wirkungsgeschichte der „ F r e u d e " (auf M a d a m e des Stael, Beethoven, Hölderlin, Nietzsche, Dostojewski, Barlach usw.) w ü r d e eine eigene U n t e r suchung rechtfertigen. D a Schultz Hölderlins eigenständiges M o t i v der Freude verkennt, sei besonders a u f K a r l V i e t o r (Hölderlins Liebeselegie, in: Geist und F o r m , A u f s ä t z e zur dt. Lit.Gesch., 1952, bes. S. 3 6 3 A n m e r k u n g ) und Friedrich Beißner (Deutung des elegischen Bruchstücks „Der G a n g aufs L a n d " , Hölderlin-Gedenkschrift, 1 9 4 3 , S. 2 5 2 ) verwiesen. Zit. nach W a l t e r Muschg: Tragische Literaturgeschichte, 2. Aufl., 1 9 5 3 , S. 6 1 3 . — Joachim Müller (Schillers lyrische Kunst, in: Sinn und F o r m V I I , 1 9 5 5 , S. 1 8 8 ) spricht in bezug a u f den Freudengesang v o n Schillers „bahnbrechender F o r m der K a n t a t e " , die den Wechsel von Einzelstimme und C h o r zeige.

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

geplanten Prachtausgabe nämlich stellte er hinter den Freudengesang die paradigmatisch benannte „Dithyrambe" („Nimmer, das glaubt mir, erscheinen die Götter, / Nimmer allein. . ."), die im Musenalmanach auf das Jahr 1797 unter dem Titel „Der Besuch" erschienen war. Nicht im jugendlich-pathetischen Aufschwung findet die Begegnung des Sterblichen mit den Himmlischen statt — die verhaltene Bitte des Dichters bemüht sich um die Freude des Göttertranks, der ihm gewährt wird und ihn einer der Olympischen zu sein dünken läßt. Die wesentliche Aussage des klassischen Schiller findet sich erst am Schluß, wo er die innere Ruhe im Zustand dichterischen Schaffens betont: „Der Busen wird ruhig, das Auge wird helle." Dieser Vers vornehmlich begründet die geplante Anordnung: Schiller wollte die „Dithyrambe" als Gegenstück zu dem stürmischen Lied „An die Freude" aufgefaßt wissen37 — so wie er „Elisium" mit der „Gruppe aus dem Taratarus" kontrastierte. Schiller verband mit dem Gattungsbegriff der Dithyrambe nicht mehr ein Preislied auf Bacchus — schon seit Klopstock hatte sich der Bezug der Dithyrambe auf Dionysos gelöst, und Herder hatte geschrieben, daß es der neueren philosophierenden Dichtung nicht mehr möglich sei, eine Dithyrambe im ursprünglichen Sinn zu machen, da sie eine wilde und trunkene Sprache verlange, „wie sie vor ihrer Ausbildung ist" 38 . Dennoch sei Schillers „An die Freude" als eine Dithyrambe gekennzeichnet, wenngleich sie das strophische Maß bewahrt, das Goethes „Wanderers Sturmlied" als dithyrambisches Urbild abwarf, und eine gemeinschaftliche Begeisterung ausdrückt. Wie eng verwandt die Formen der Ode, der Dithyrambe und Hymne sind, die F. Th. Vischer als „Lyrik des Aufschwungs" 39 zusammenfaßte, ist allgemein bekannt. Die Erhabenheit, die seherische Schau und der hohe Ton der Hymne fehlen Schillers Gedicht wie die Gespanntheit der Ode. Das Verdikt, das die Jugendlyrik traf, nahm auch „An die Freude" nicht aus, mit der sie abschloß. Das verwundert nicht, wenn man die Forderungen der Bürger-Renzension liest, der Dichter dürfe, auch wenn 37

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Vgl. Wolfg. Kayser (Schiller: „Dithyrambe", in: Die dt. Lyrik, hg. v. B. v. Wiese, Bd. 1, 1956, S. 344): Das spätere Gedicht „war als Anti-Dithyrambe gemeint". Als Grund dafür gibt Kayser seltsamerweise an, daß Schiller nicht den Stil des jugendlichen Lieds, „sondern den Gedanken als falsch und verwerflich" gefunden habe. Herder (Suphan), Bd. I, S. 307 ff. Fr. Th. Vischer: Ästhetik, Bd. VI, § 890. — Vgl. auch: Friedrich Sieburg: Die Grade der lyrischen Formung, Diss. Frankfurt 1920, S. 35 ff.; ferner: Günther Müller: Grundformen dt. Lyrik, in: Von dt. Art in Sprache und Dichtung, Bd. V, 1941, bes. S. 129. — Vom „ekstatischen Wir der hymnischen Gattung" spricht Rob. Petsdi: Die lyrische Dichtkunst (in: Handbücherei der Deutschkunde, Bd. IV, 1939, S. 77).

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er die leidenschaftliche Bewegung des Gemüts zum Inhalt seines Gedichts mache, diese niemals in der Form zum Ausdruck bringen; er müsse seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anschauen. 40 Folgerichtig und unnachsichtig antwortete er daher Körner (am 21. Oktober 1800), der das Gedicht zur Aufnahme in die neue Ausgabe empfohlen hatte: „Die Freude hingegen ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft, und ob sie sich gleich durch ein gewißes Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter mir laßen mußte um etwas ordentliches hervorzubringen. Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewißermaaßen ein Volksgedicht zu w e r d e n . . . "

" Nat.Ausg. Bd. X X I I , S. 256.

DIE ELEGISCH EMPFUNDENEN „FREIGEISTEREI

DER L E I D E N S C H A F T "

UND

GEDICHTE „RESIGNATION"

Die „Resignation" sei in Stuttgart von H a n d zu H a n d gegangen, und nur aus Rüdssicht auf die Zensur habe sie Schiller erst im Jahre 1786 veröffentlicht. Mit Nachdruck vertritt Reinhard Buchwald 1 diese These, und Schillers Zusatz zur „Freigeisterei der Leidenschaft", daß ihre Entstehung auf die Vermählung Lauras im Jahr 1782 zurückgehe, scheint ihm recht zu geben. Eine genaue chronologische Einordnung wird jedoch kaum möglich sein, zumal da gewichtige biographische Details die Ansicht der älteren Forschung stützen, diese beiden Gedichte seien erst in der Mannheimer Zeit und während der Freundschaft zu Frau von Kalb entstanden. Am 10. Februar 1785 schrieb Schiller an Körner, daß er nicht mehr in dieser Stadt bleiben könne: „ . . . was mir vielleicht noch teuer sein könnte, davon scheiden mich Konvenienz und Situation." Und Schwan, der Buchhändler, glaubte annehmen zu dürfen, die Laura der „Resignation" sei niemand anders als seine älteste Toditer, um die Schiller von Leipzig aus noch warb. 2 Daß sich Schiller gegen irgendwelche biographischen Bezüge in seiner Anmerkung verwahrte und von einem „erdichteten Liebhaber" sprach, ist verständlich, da die neugegründete „Thalia" bei ihren Lesern kein Ärgernis erregen sollte. Hört man die beiden Gedichte, so ist der Unterschied zum „Laura"-Kreis der „Anthologie", an den Buchwald anknüpft, wahrnehmbar: der harte und argumentierende Ton, die neue metrische und strophische Form legen nahe, die Entstehung wie bisher in die Mannheimer Zeit zu verlegen. Indessen braucht darüber nicht gerechtet zu werden, daß in Schillers Jugendlyrik — bis hin zum Lied „An die Freude" — eine stilgeschichtliche Entwicklung kaum feststellbar und auch weniger bedeutsam als etwa bei Goethe oder Hölderlin ist. Der Dualismus von Leidenschaft und Gesetz, der gemildert als Neigung und Pflicht die spätere Ethik Schillers beherrscht, bildet den 1 2

R. Buchwald: Schiller, Bd. I, 2. Aufl., 1953, S. 330 ff. R. Buchwald a.a.O., Bd. II, Anmerkung S. 473. — Über Abels Erklärung psychologischer Begriffe und über den „ K a m p f der Pflicht mit der Leidenschaft", von ihm aufgezeigt am „Othello", vgl. jetzt B. v. Wiese a.a.O., S. 42 f.

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dramatischen Keim der „Freigeisterei" (die in dieser Überschrift an Lessings Jugendlustspiel „Der Freigeist", 1749, und dessen sittliche Auflehnung gegen einen dogmatischen Denkzwang erinnert). Der Konflikt in Schillers Gedicht entwächst dem Gegensatz von Leidenschaft und Gesetz, Liebe und Bindung. Der Dichter ist zunächst gebunden an die Tugend, der er sich heißblütig „im süßen Taumel einer -warmen Stunde" (v. 14) verschwor. Das Geständnis der Gegenliebe Lauras läßt ihn den Vertrag mit der Tugendgöttin kündigen. Die übereilte Selbstbindung wird widerrufen, obgleich er weiß, daß er damit der „Sünde" (vgl. v. 8 und v. 24) und dem Verbrechen (vgl. v. 30 und v. 33) verfallen werde. Die Leidenschaft ist sich ihrer demnach nicht gewiß; sie hat ihre Begrenzung und Hemmung — als Tugendgöttin personifiziert und objektiviert — in sich. Schuld erwartet ihn, wenn er die Tugendpflicht und ihre Begrenzung mißachtet, Liebesleid, wenn er des „Herzens Flammentrieb" (vgl. v. 3) nicht folgt. Der Tragiker weiß, daß er sein Gewissen im Kampf zwischen Leidenschaft und Gesetz nicht rein zurückbringt. Gleichwertig stehen sich die Leidenschaft für die Tugend und die Leidenschaft der Sinne entgegen. D a Laura bereits vermählt ist, stößt das vom „Stürmer und Dränger" proklamierte Naturrecht des Herzens auf eine neue Bindung an Sitte und Gesetz, der wiederum ein „Nein!" (vgl. v. 1 und v. 59) entgegengehalten wird. Die unbegrenzte Leidenschaft findet sich stets auf eine Schranke verwiesen. Die vergegenwärtigte Liebeshandlung, dargestellt in direkter Anrede, Anaphern und Strophen-Enjambements (Strophen 10—13), enthält daher die Peripetie des Gedichts: „Vor deiner Gottheit taumelte mein Muth zurüke" (v. 51). 3 Wider Willen ist damit die Entscheidung für die Tugend gefallen, doch soll, was als Gewissen unübersteigbar ist, als widernatürlich anschließend wegdiskutiert werden, indem sich die Szene zum Tribunal verwandelt. Die Schöpfung — davon geht die „Freigeisterei" in ihrem anschließenden dritten Teil aus — wolle Glückseligkeit für jede Kreatur. Zwar hatte Schiller schon auf der Karlsschule diesen aufklärerischen Optimismus nicht mehr teilen können, doch die anklägerische Leidenschaft des Pathetikers beruft sich auf metaphysische Gründe. Er argumentiert gegen Bindungen und Grenzen, die sich zuvor als unauflösbar und unübersteigbar erwiesen. Laura war ihm vorbestimmt. Nachdem zuerst die Tugendgöttin und nachher Laura in allmählichem Übergang apostrophiert worden sind, wird abschließend Gott angeredet, denn in der pathetischen Dichtung des jungen Schiller ist die eigene Person nur in der Relation zu einem pers

D e r H a n g der „Stürmer und D r ä n g e r " , die gefeierten Wesen zu verabsolutieren und zu vergöttlichen, drückt sich in diesem Vers aus. Inhaltlich deuten läßt sich diese „ G o t t h e i t " nicht.

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sonal gedachten Gott möglich. Jede neue Erfahrung des Lebens betrifft das Verhältnis zu Gott, den allerdings die reifen Gedichte — von den „Künstlern" an — nicht mehr anthropozentrisch demonstrieren, da er, der anwesend Verschwiegene, nicht länger als Objekt der Aussage gesetzt oder gar erkannt werden kann. Die „Freigeisterei" fragt, wie dieser Gott Gebote und Wege zulassen mag, die das Glück seiner Geschöpfe ausschließen. Die Anklage prangert den Nero-Gott an, der der einen, der pathetisch-einseitigen Vorstellungsart, die alle anderen Gründe ausschließt, unterworfen ist. Wie im „Weckerlin"-Carmen geht es auch hier um den „wahren" Gott und um die Berechtigung der ihm zugemuteten menschlichen Vorstellungsarten (vgl. v. 73 f.: „Sanftmütigster der fühlenden Dämonen, / zum Wüterich verzerrt dich Menschenwahn?"). Die Absage gilt dem Gott, der „blutendes Entsagen" (v. 81) heischt. Verlangt wird schließlich nicht mehr Laura allein, sondern das glückverheißende Leben, das zuvor (vgl. v. 67 f. und v. 71 f.) vorausgesetzt worden war. Weder eine Vereinigung der Liebenden im transzendierenden Aufschwung noch eine Rechtfertigung des Sittengesetzes wie in der klassischen Zeit schließen sich an. Der jugendliche Konflikt ist zu schwer, als daß einfach ein Aufruf an das „Ich" ergehen könnte, den „idealischen" Menschen in ihm mit dem situationsgebundenen „empirischen" in Übereinstimmung zu bringen und so die sinnlichen Triebe zu beherrschen. Die „Freigeisterei" bezeugt die Verwandtschaft des Pathetischen mit dem Dramatischen; dies erinnert an die unterdrückte erste Vorrede zu den „Räubern", wonach es eine dramatische Methode auch ohne theatralische Verkörperung gebe. 4 Die vielfältige Auseinandersetzung mit der Tugendgöttin, mit Lauras Belohnung, mit ihrem Mann und mit Gott ist ein dramatischer Modellfall, bei dem es um Leidenschaft und Gewissen geht und der sich als dramatischer „Prozeß" juristischer Begriffe bedient (Eid, Vertrag, Betrug, Schwur, Gericht, Meineid, Gesetz und Vorladung usw.). In der „Freigeisterei" entfernte sich die leidenschaftliche Bewegung immer mehr von der ursprünglichen Situation, der Liebe zu Laura. Die Leidenschaft will sich in ihrem natürlichen Recht anerkannt wissen, auch wenn die eigene Erfahrung dem naiven Glückseligkeitsglauben der Zeit widerspricht. Fast eine Fortsetzung des angeschlagenen Themas bietet die

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Ungeachtet der apostrophischen Wechsel kann von „Rollenlyrik" schwerlich gesprochen werden, wie dies Robert Petsch in seiner Interpretation dieses Gedichts tut (Neue Jahrbücher für das klass. Altertum . . ., Bd. 37, 19. Jg., 1916, S. 343, Anmerkung). Eher berechtigt ist dieser Terminus für die „Resignation".

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„Resignation", die den Verzicht als eine der beiden gegensätzlichen Möglichkeiten der Lebensführung aufzeigt und eine „werkgerechte" Tugend zurückweist. Nur eine einzige Strophe, die achte, ist diesmal der entsagenden Liebe gewidmet. Die Rebellion gegen die Bindung an Tugend, Gesetz und Geschick ist überwunden; die Auseinandersetzung zwischen Lebensgenuß und Hoffnung auf ein belohnendes Jenseits entscheidet ein Genius, dessen Spruch hingenommen werden muß. Die scharfe Reflexion entfernt die bedrängende Leidenschaft, wie sie in der „Freigeisterei" vorherrscht, durch die fortschreitende Objektivierung und gewinnt einen entschiedenen, doch gemäßigteren Ton. Die Anfangsstrophen geben die Exposition: Die Jugendzeit ließ unerfüllt, was die freudeverbürgende arkadische Natur 5 versprochen hatte. Im Angesicht des „stillen Gottes", des Todes, gibt das pathetische Subjekt in der Ich-Form die Gründe an für die glücklich verbrachte Jugend: Über der Ausrichtung des Lebens auf das Jenseits wurden Freude und Glück bewußt versäumt. Es kann daher gegen die arkadische Natur nicht geklagt werden, da ihre Gaben, wie der Fortgang des Gedichts lehrt, der jeweiligen Entscheidung zwischen „ H o f n u n g und G e n u ß " (v. 90) unterstellt und einzig vom Charakter des Menschen abhängig sind. Doch für einklagbar hält der Jüngling die jenseitige Belohnung für seine Jugend, die zeitliche Güter mißachtete, um ewige dafür einzutauschen. So richtet er sich an die „Geistermutter", die Ewigkeit, Recht zu sprechen und ihm seinen Lohn zu gewähren. Er kann sich auf die Wahrheit berufen, die ihn einstens angehalten hatte (Strophe 7—9), Jugend u n d Liebe für die jenseitige Erfüllung zu opfern. Ungeachtet des Hohns und Unglaubens der Welt6, die er neben seiner Glückseligkeit noch zu tragen hatte, vertraute er auf den „Götterschwur" (v. 80) der Wahrheit. Nachdrücklich wiederholt er daher seine Forderung (Strophe 16 und 17), die aber die Antwort des Genius entkräftet (Strophe 18—20): Nicht nur der Genuß, auch Glaube, Hoffnung und Verzicht tragen ihren Lohn in sich. Der Wechsel auf die Ewigkeit kann nicht eingelöst werden. Wiederum ist eine dramatisch konzentrierte Situation gewählt: Auf der „Schauerbrücke", zwischen Leben und Tod, steht der Sprechende, der nur wenige Verse später die irdische Welt als „jenen Stern" und seinen Standort „hier" vor dem Thron der Richterin angeben kann. Der Pathetiker verengt also in diesem dramatisch disponierten Gedicht den Raum, * Zu dieser Vorstellung vgl. H e r d e r (Suphan, Bd. X I I I , S. 253 ff.) und das Motto, das Goethe auf seiner italienischen Reise begleitete. E t in A r c a d i a ego — zum fruchtbaren Mißverständnis dieser Formel, die andeutet, daß der T o d überall zugegen sei, vgl. jetzt H o r s t R ü d i g e r : Schiller und das Pastorale (Euphorion, 53. Bd., 1959, S. 240). • Zu v. 5 7 : vgl. die Lesart von Fritz J o n a s in seinen Erläuterungen, S. 153.

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

ohne die „Einheit des Orts" zur wahren. Er verkürzt die Zeit auf die Todeserwartung, nachher auf den „prägnanten Moment" 7 der Forderung nach jenseitigem Lohn — von diesem „prägnanten Moment" aus läßt sich die Handlung des Gedichts aktualisieren. Auch die zeitlichen Aspekte werden verändert, wenn es die Situation erfordert, so daß die sechzehnte Strophe nicht nur — wie die zweite — vom eigenen Lebensende, sondern vom Ende der Zeiten her zu sprechen unternimmt (und die deshalb später gestrichene neunte Strophe aufhebt). Das Gedicht braucht Grenzsituationen, um das Problem wie auch die gegensätzlichen Haltungen zu betonen. Die direkte Rede verlebendigt den Vorgang. Zunächst zieht das sprechende Subjekt die Summe seines Lebens, redet die „Brüder" an und die Ewigkeit. Um die Bindung an die Entsagung heischende Wahrheit zu verdeutlichen, wird zurückgreifend die Wahrheit eingeführt. In einem „Szenenwechsel" (Strophe 10—15) kommt auch die Reaktion der ganz anders denkenden spöttischen Welt zu Wort, die abgelöst wird von der verstärkten Bitte des Jünglings, der an die Auskunft der Wahrheit anknüpft. Nicht die angeredete Ewigkeit, sondern ein Genius verkündet abschließend das Gesetz von Glauben und Genuß und reduziert die Möglichkeiten des Lebens auf ein einziges Gegensatzpaar. Von einer szenischen Aufteilung des Problems in Haltung und Gegenhaltung, in Rede, Gegenrede und Weltgesetz könnte man sprechen, wobei die Partner noch durch Anmerkungen eingeführt und beschrieben werden (vgl. v. 46 und v. 51). Alle Aussagen des Wechselgesprächs beziehen sich auf den Jüngling, der sich auf den „Vollmachtbrief" (vgl. v. 13) der Natur und den Schwur der Wahrheit beruft, später aber, im Verzicht, sein Geschick wortlos hinnehmen muß. Die höhnische Welt redet ihn an wie auch der Genius, dessen genereller Richterspruch sich in der Schlußstrophe „individualisiert". Wiederum objektiviert Schiller das Problem und personifiziert in barocker Weise die Ewigkeit und die Wahrheit. Um Rede und Gegenrede zu ermöglichen und verbindliche Richtsätze zu verkündigen, bedient er sich dieser dramatischen Mittel. Dabei widerspricht der Genius aber der irdischen Wahrheit (vgl. v. 28). Die dramatische Dialektik, die Ort und Zeit wechselt und im Gang der Auseinandersetzung neue Entscheidungen erzwingt, läßt sich von den selbstgeschaffenen Begriffsgöttern nicht binden. Die Ausgangssituation kann gar nicht folgerichtig durchgehalten werden, da erst der Schluß des Gedichts das wahre Verhältnis zum Leben, zu Tugend und jenseitigem Lohn aufzeigen soll. Gegensätzliche Ansichten treten noch öfters auf: Der Wahrheit entgegen steht die „öffentliche Mei7

An Goethe, 2. Oktober 1797. Der Begriff meint allerdings einen anderen Zusammenhang.

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nung", die „Man"-Welt, die, in verschiedene Lager geteilt, in den Strophen vier und fünf die Hoffnung des Jünglings auf eine ausgleichende Gerechtigkeit unterstützt, nachher aber (Strophe 10—15) nur Spott, Hohn und Unglauben für seine Entsagung übrig hat und die üblichen rationalen Gründe gegen das Jenseits vorbringt. Alle diese Meinungen setzt der Genius voraus, auf dessen Gesetzeskraft sie hinweisen, gleichviel, ob sie bestätigt oder hinfällig werden. Im Prozeß der fortschreitenden Klärung, den das Gedicht darstellt, verändern sich die Aspekte und Perspektiven: Die Schlußverse führen in ihrer allgemeinen und mehrschichtigen Bedeutung über den ursprünglichen Ansatz der Gedankenführung weit hinaus. Zu den erwähnten Gegensätzen kommt der zentrale Antagonismus von „ H o f n u n g und G e n u ß " hinzu, der einen Kompromiß, einen Mittelweg, ausschließt. Die polar strukturierte Welt des jungen Schiller anerkennt hier, wie später in dem Gedicht „Das Ideal und das Leben" nur zwei einander ausschließende Weisen zu leben. Da es in pathetischer Ausschließlichkeit nur um eine eindeutige Antwort für den Jüngling geht, wird die andere mögliche Haltung, die des Genusses, ohne Bedenken aufgewertet: „Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder" (v. 86). Auch der Genießende ist ein „weiser Finder" (v. 88). Die pathetische Aussage, die eine autonome Sittlichkeit verlangt, kümmert sich nicht um die Spötter und Skeptiker, welche die Götter als bloße Produkte der Lebensangst verstehen; sie ist einzig auf die Desillusionierung einer Moral bedacht, die unlautere Zwecke verfolgt. Zwar erklären sich die einzelnen Verse der „Resignation" ohne Schwierigkeit, doch überlagern sich verschiedene Problemkreise, wenn das Gedicht als Ganzes beurteilt werden soll, zumal die dramatische Disposition und die pathetisch-einseitige Vorstellungsart die erwähnten Inkonsequenzen bedingen. Die Erklärung der „Resignation", die Schiller bei seinem Stuttgarter Aufenthalt (1794) einem Aufsatz von Rapp beifügte, kennzeichnet seinen weiten inneren Abstand zu dem Gedicht. Inzwischen war er, von Kant beeinflußt, dem vielgestaltigen Problem entfremdet und vermochte so ohne Anteilnahme nur noch eine Nutzanweisung daraus zu ziehen: daß das Gedicht nicht gegen die wahre Tugend, sondern gegen die „Religionstugend" gerichtet sei, welche nur auf jenseitigen Kredit hin gut handle. 8 Die Pflicht binde unbedingt und notwendig — schon in den „Philosophischen Briefen" hatte Schiller eine Tugend gefordert, die sich ohne den Glauben an Unsterblichkeit bewährt. Zwar sah Humboldt in seiner „Vorerinnerung" den Hauptgedanken des hochgeschätzten Gedichts nur als vorübergehende Stimmung eines leiden8

Vgl. Goedekes Schiller-Ausgabe, 15. Teil, 1. Band, S. 419.

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schaftlich bewegten Gemüts und nicht als Ausdruck wirklicher Meinungen Schillers an, doch darf daneben das eigentlich Bedeutsame für die Jugendlyrik nicht vergessen werden: Der Pathetiker anerkennt hier am Ende — gleichsam e negativo — unausgesprochen den Wert des Irdischen. Neben dem Grundanliegen: daß die Gesinnung entscheidend sei und die Motive der Tugend rein und absichtslos sein müssen, wird ein weiterer Aspekt offenbar: die dem Verdienst verschlossene Transzendenz verweist auf das Leben als einen nicht ersetzbaren Wert. Als unvollständig kann daher auch Diltheys Deutung gelten, daß „die Versprechungen der Religion nutzlos sind vor dem Genius der notwendig wirkenden und in ihrer Notwendigkeit grausamen Natur" 9 . Der transzendente Bezug ist der werkgerechten Tugend genommen. In seine lapidare Gleichsetzung von Weltgeschichte und Weltgericht reiht der Genius deduzierend die persönliche Betroffenheit des pathetischen Subjekts ein: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" (v. 95): Die Fülle des Weltgeschehens wird auf ein einziges Thema reduziert und das Individuelle vom allgemeinen Menschenlos her bestimmt. Immer wieder hat diese These seit den Tagen Ernst Moritz Arndts die Geister erregt: Sie sagt aus, daß bereits das Geschehen in der Welt jeweils über die Menschen und ihr unterschiedliches Tun richtet. Das vom Genius vertretene Richteramt ist in die Zeit verlegt, und es wird ein Sittengesetz deklariert, das seinen Zweck in sich trägt. Die Verse des Genius besagen also, daß sich das Geschehen der Welt in der Welt entscheidet, daß das irdische Leben nicht nur Durchgang, sondern auch Ziel und Zweck sein kann. Jenseitige Maße und eine ausgleichende Gerechtigkeit entfallen. Der Pathetiker reinigt somit die Vorstellungen der Menschen. Über Schillers eigene Deutung hinaus darf in der „Resignation", die, obgleich als Denkprodukt, als „Phantasie" bezeichnet, nicht entschärft ist, die Mühe um die wahre Haltung nicht nur der Tugend, sondern auch gegenüber dem Leben gesehen werden, nachdem die naive Sicherheit der Jugend und der Epoche geschwunden ist. Der Bezug zum Transzendenten wird dem unlauteren Tun verwehrt, das sich nur im Aufblick zu einem belohnenden Himmel erprobt. Der verzichtenden Haltung und dem „werkgerechten" Tun bleibt eine jenseitige Erfüllung versagt. D a die Transzendenz auf diese pseudoreligiöse Weise nicht erworben werden kann, folgt aus dieser Erfahrung ein neues Lebensverständnis. Die jetzige Minute gewinnt — e negativo zwar, da sie der Jüngling nicht in ihrer Tiefe auslebte — einen bisher unbekannten und unwiederbringlichen Wert, der den Liebesgedichten in der Ekstase und den Trauercarmina in einer eschatologischen Zukunft eingelöst schien. Der barocke Gegensatz • W . Dilthey: Von dt. Dichtung und Musik, ed. 1933, S. 367.

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von Zeit und Ewigkeit, den besonders Gryphius und Fleming in ihren Zeitgedichten darstellten, ist gegen Ende der Jugendlyrik Schillers vorübergehend zugunsten der irdischen Minute entschieden, denn, wie Jean Paul sagt, „an der seeligen Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick" 10 . In der „Freigeisterei" handelte es sich um eine individuell bestimmte Leidenschaft. Ihre Gefühlseruptionen wie ihr fesselloses Sprechen sind in der „Resignation" vermieden. Der Affekt der Jugendlyrik ist zurüdegedrängt und einer scharfsinnigen Argumentation gewichen. Doch liegen die Gründe für die spätere Ablehnung der beiden Gedichte auf der Hand: Noch befriedigt das Individuum ein Bedürfnis, noch werden „moralische Widersprüche" 11 dem Hörer zugemutet. Die „Freigeisterei" und die „Resignation" sind weniger elegisch geformt als empfunden. Das Gedicht, das den Anspruch erheben wollte, rein elegisch zu sein, hätte einen „wirklichen" Verlust zu einem idealischen umschaffen, veredeln und objektivieren müssen.12 Unausgesprochen betrauert die „Resignation" in ihren von Schiller nicht mehr ausdrücklich bedachten Folgerungen die später (1803) bedichtete „Gunst des Augenblicks" und die nie besessene Gnade des glücklichen Lebens, die das erhabene Pathos des „Glücks" (1799) in einem würdigen Verzicht den Götterlieblingen zugesteht.

„ D I E GÖTTER GRIECHENLANDES"

Über die Jahre hinweg zieht sich eine überraschende und genaue Linie von den ersten Gedichten der „Thalia" (1786) zu den „Göttern Griechenlandes", die 1788 im Märzheft des „Merkur", der berühmten Zeitschrift Wielands, veröffentlicht wurden. In dieser elegischen Dichtung ist im Gang der fortschreitenden Objektivierung die eigene Not, vom erfüllten Leben ausgeschlossen zu sein, die eigene Entsagung, das geringe Glück noch als unverstandenes Opfer bringen zu müssen, auf die eigene Epoche übertragen, da die dürftige Gegenwart als Schicksal des christlichmonotheistischen Weltäons erkannt ist. Gleichzeitig entwarf der pathetische Dichter ein strahlendes Bild einer versunkenen Zeit, die dem neuen, dem „Einen Gott" hatte weichen müssen. Aller Glanz der Vorstellungskraft ist in einem reinen „Gegenbild" gesammelt, um das göttergleiche 10

B e r e n d , B d . 8, S. 1 9 .

11

Säk.Ausg. Bd. X I I ,

12

S ä k . A u s g . B d . X I I , S. 2 0 4 . — In d e r „ N ä n i e " ist diese A u f g a b e v o l l k o m m e n

S. 1 9 4 .

g e l ö s t : D i e individuelle B e d r ä n g n i s ü b e r die H i n f ä l l i g k e i t selbst des Schönen ist in e x e m p l a r i s c h e m y t h o l o g i s c h e G e s t a l t e n u n d V o r g ä n g e t r a n s p o n i e r t und in der M ö g l i c h k e i t des „ K l a g l i e d s " g e m i l d e r t .

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

Leben zu gestalten, das dem Dichter die griechische Antike über die Maßen herrlich verwirklicht zu haben schien. Namen, Mythen und Kunst bot Griechenland dar, Schillers fruchtbar gewordene Sehnsucht nach einem höheren und innigeren Leben auszusprechen. Alle Unlust und aller Zorn über das eigene Geschick, das die ganze „moderne" Zeit spiegelt und bedeutet, ohne Götter sein zu müssen, entlud sich in Angriffen gegen den kalten Rationalismus und ein dogmatisch verhärtetes Christentum. Es braucht hier Schillers Griechenbegegnung im einzelnen nicht gedacht zu werden, da sie und ihr Anteil an der Rezeption des Griechentums in der Goethezeit in vorzüglichen Darstellungen nachgelesen werden kann. 13 In diesen Jahren war Griechenland und seine Kunst ein „magischer Spiegel" für Schiller, darin er die eigene Art und deren Bedürfnisse erkannte. Unwesentlich wird darüber die oft gestellte Frage, ob das Bild, das er sich — und die deutsche Klassik überhaupt — vom Griechentum geformt hat, den genauen Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit, wie sie Burckhardt und Nietzsche entdeckten, entbehrt habe — denn „auf das, was sich in diesem Griechenglauben vom Deutschen und seinen Nöten und Sehnsüchten enthüllt" 14 , kommt es an. So anziehend und lehrreich Schillers Griechen-Auffassung ist, so ist doch für unsere Arbeit wichtiger, die Korrektur seines Kunstverstands kennenzulernen, die die angestrengte Beschäftigung mit der griechischen Dichtung in jenen Anfangsjahren des gesammelten Nachdenkens über die Kunst und ihre Gesetze bewirkte. Das Bild Griechenlands wandelte sich in Schillers Anschauung, von der Vorstellung der „ N a t u r " verdrängt, und die Klage um die verlorene „schöne Welt" verstummte, da sich der vorwärtsdrängende Pathetiker nicht in Klagen zu verlieren gestattet, sondern mit kühner Geste ein höheres Sein postuliert. Der bleibende Einfluß der Begegnung mit den 13

14

E r w ä h n t seien besonders Walther R e h m : Griechentum und Goethezeit, 3. A u f lage, 1952, welcher die „ G ö t t e r Griechenlandes" als das Zeugnis rühmt, „in dem vielleicht neben der .Iphigenie' der deutsche Griechen-Mythus am geschlossensten zum Ausdrude gelangte" (S. 198), und F . - W . W e n t z l a f f - E g g e bert: Schillers Weg zu Goethe, 1949, der die Verehrung f ü r Goethe und die A n n ä h e r u n g an die Griechen in ihren gemeinsamen Zügen beschreibt. (Vgl. auch dessen A u f s a t z : Schiller und die Antike, in: Schiller. Reden im G e d e n k jahr 1955. S. 3 1 7 — 3 3 3 . ) Im Schillerjahr 1959 w u r d e wiederum Schillers Verhältnis zur griechischen Antike weit nachdrücklicher betont als seine Beziehung zur lateinischen Tradition. H e r v o r z u h e b e n ist: W o l f g a n g S d i a d e w a l d t : Schillers Griechentum (Schiller. R e d e n im G e d e n k j a h r 1959, S t u t t g a r t 1961, S. 2 5 8 — 2 7 0 ) . Schillers „ A n e i g n u n g der A n t i k e " beschreibt zusammenfassend B. v. Wiese: Friedr. Schiller, 1959, S. 3 9 5 — 4 2 7 . R e h m a.a.O., S. 19.

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Griechen war der eines gereinigten und erweiterten Kunstsinns. Durch die Rezitation Corona Schröters hatte Schiller schon im August 1787 Teile der „Iphigenie" Goethes gehört, aus der ihn der „Geist des Altertums" anwehte und in der er die „imponierende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst, auch in den höchsten Ausbrüchen der Leidenschaft" 15 , vorfand. Jede dieser Bestimmungen seiner Rezension zeigte zugleich auf die eigenen Mängel, jede dieser Bestimmungen war für Schillers geistige Art ein Aufruf, es gleichzutun. Goethes umworbene „griechische Manier" mußte ihn verstärkt dazu drängen, mit Hilfe der Griechen einen von innen her verwandelten Stil zu finden, der des zuchtvollen Maßes nicht länger entbehren sollte wie des einfachen und ruhigen Ausdrucks, unter dessen Zeichen sich Goethes vorbildliche Größe entwickelte. Jenseits des ergreifenden Inhalts sind also die „Götter Griechenlandes" durch den Versuch für uns bedeutsam, einen neuen Stil zu gewinnen. Fast alle Briefe dieses Jahres berichten von dem unablässigen Bemühen, die Schlacken loszuwerden, die dem ungereinigten Pathos anhängen. Am 6. März 1788 schrieb Schiller an Körner: „Laß mir nur Zeit, und es wird werden. Wenn ich meinen Stoff mehr in der Gewalt, meine Ideen einen weiteren Kreis haben, so werde ich auch der Einkleidung und dem Schmuck weniger nachfragen. Simplizität ist das Resultat der Reife, und ich fühle, daß ich ihr schon viel näher gerückt bin, als in vorigen Jahren." „Simplizität" ist das Losungswort für die zukünftigen Werke; in ihm verbirgt sich, was Schiller später unter „naiv" versteht und was er angestrengt erstrebte: die einfache Natürlichkeit des Ausdrucks, die der gefühlten Einheit mit der Natur entwächst. Schon früh, in einem Brief an den Intendanten Dalberg in Mannheim (am 12. Dezember 1781), hatte er im Blick auf „Die Räuber" festgestellt: „Die Simplizität, die uns der Verfasser des Götz von Berlichingen so lebhaft gezeichnet hat, fehlt ganz." Eben diese „Simplizität" lobt er — wie vormals Herder an Shakespeare — jetzt wieder an Goethes „Iphigenie", und von seiner EuripidesÜbersetzung erhofft er mehr „Simplizität in Plan und Stil" 1 6 . Auch wenn das letzte Briefzitat zunächst auf die dramatische Konstruktion bezogen ist und den Aufbau, den Gang der Handlung wie die Dialogführung betrifft, die bei der Arbeit am „Don Carlos" unendlich viel Mühe bereitet 16 19

11

„Iphigenie"-Rezension, N a t . A u s g . Bd. X X I I , S. 212. A n K ö r n e r , 9. M ä r z 1789. Vgl. auch den Brief an K ö r n e r vom 20. M ä r z 1788: „ D i e Alten geben mir jetzt w a h r e Genüsse, zugleich bedarf ich ihrer im höchsten G r a d e , um meinen eigenen Geschmack zu reinigen, der sich durch Spitzfindigkeit, Künstlichkeit und Witzelei von der wahren Simplicität zu entfernen anfing. D u wirst finden, d a ß mir ein vertrauter U m g a n g mit den Alten äußerst wohlthun — vielleicht Klassicität geben w i r d . " K e l l e r , Schiller

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hatten, so bedeutet doch „Simplizität in Plan und Stil" keineswegs eine Beschränkung auf die dramatische Gattung. Schiller, der in diesen Jahren zum naturhaften und ungebrochenen Ausdruck drängte, in welchem die Reflexion aufgelöst und der Gedanke im Bild versinnlicht ist, verstand diesen Begriff in seinem umfassenden, sein Jugendpathos korrigierenden Sinn, der bezeichnet, was ihn von den Griechen und von Goethe schied: die geniale „Naivität". Die „Merkur"-Fassung der „Götter Griechenlandes" zählt fünfundzwanzig Strophen. Schon eingangs wird die „schöne Welt" umtrauert, die „ganz anders, anders" war. Diese Andersartigkeit der verlorenen Zeit gestalten die folgenden Strophen: Einstens war die Schöpfung durchflutet von Lebensfülle; Wahrheit und Schönheit waren geeint. Der Mensch ging auf Wegen, die die Götter gingen, und die Liebe verband Himmlische und Sterbliche. Die Bewohner des Olymps gehörten der Erde an, die ihre Luststätte war. Am Glück der Olympischen hatten die Irdischen teil, und im Kunstwerk suchten sie ihnen gleichzukommen. Von heiterem Licht war jenes Leben umglänzt und in der seligen Einigkeit alles Lebendigen begriffen. Die große fühlende Natur belebten Oreaden, Najaden und Nymphen. Ein fröhlicher Dienst an den Göttern weihte das Fest des Lebens, das der Tod nur umwandelte, damit es sich in den elysischen Gefilden freudig fortsetze. Aber diese gefeierte „schöne Welt" ist vergangen. Die Götter entschwanden und die Innigkeit erlosch, die alle Wesen unter der Sonne beglückte. Mit den menschlich fühlenden Göttern wich alle Daseinslust aus der entzauberten Natur. Schon die dritte Strophe erwähnt, daß die eigene Gegenwart die Natur nur noch als Materie kennt, nicht mehr als Ort des Wirkens und Wesens der Götter. So kann die elfte Strophe in die schmerzerfüllte Klage ausbrechen, daß der Schöpfer, der damals seinen Geschöpfen freudig-nah war, jetzt ferne sei: dem Verstand verschlossen und den Sinnen entfremdet. Die Welt ist leer und dunkel geworden, und Entsagung allein fordert der Gott, der „Eine", der seine Herrschaft und sein Gericht ohne Sinn für die Irdischen ausübt.17 Diesem Gott ist die eigene Vollkommenheit genug; der „ganz Andere" (vgl. v. 179) thront 17

Die Interpretation dieses Gedichts durch Benno v. Wiese (in dem von ihm 1956 herausgegebenen ersten Band „Die deutsche Lyrik") führt die damaligen Kontroversen an. — Eine falsche Deutung wird dem Vers 113 zuteil, wenn v. Wiese erklärt, daß das „unmenschlich Abstrakte moderner Gerichtssprechung in der Wendung ,Nach der Geister schrecklichen Gesetzen' zusammengefaßt" werde (S. 331). Da unsere Darstellung vorwiegend die Stilform dieses Gedichtes beschreibt, so sei noch verwiesen auf: Melitta Gerhard: Schillers „Götter Griechenlands" in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung. (In: Monatshefte für deutschen Unterricht 38, 1946, S. 32 ff.)

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in unerreichbarer Höhe, ein ewiger Vorwurf für die geringen menschlichen Dinge. Mit seiner Herrschaft begann die Herrschaft der kalten Vernunft, die die lebendige Natur in die starren Gesetze der Kausalität und Gravitation bannt und die öde Wiederkehr des Gleichen lehrt. Preis und Klage um die „schöne Welt" sind also vermengt mit der Anklage gegen den christlichen Monotheismus, denn das entleerte Leben ließ nach Gründen für diese Veränderung fragen, die der Dichter in der Religion der Neuzeit und ihrem aufklärerischen Intellektualismus fand. Schiller stand schon in seinem frühen Mannesalter außerhalb der dogmatischen Bindungen. Audi später blieb seine Haltung, der christlichen Ethik verwandt, ohne das entsprechende inhaltliche Bekenntnis. Der empörte Ton, mit dem er gegen den „heiligen Barbaren" anging, mußte fromme Gemüter wie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg verstimmen, wenngleich kein Vorwurf törichter wäre als der des Atheismus. Die Empörung kam nämlich aus der Sehnsucht, aus dem Heimweh nach dem Umgang mit den Göttern und dem Drang nach dem höheren Leben, das ihre Nähe erst verwirklicht. Die Anklage gegen die Gegenwart drückt die N o t aus, dichterisch leben zu müssen, obgleich sich das volle, warme Leben an die Abstraktion und das Bild an den abgezogenen Begriff verloren hatte. Die spätere Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" beweist, wie sehr sich Schiller als Sohn seiner Epoche verstand: Die Mängel der Zeit waren die erkannten Mängel seines Stils. Der von den christlichen Vorstellungen begünstigte, alles durchziehende Zwiespalt, der das Diesseits vom Jenseits scheidet, den Leib von der Seele und die Wahrheit von der Schönheit trennt, machte seinen Stil „zwiespältig": sonderte die Imagination von der Reflexion und die Empfindung vom Gedanken. Viele der in den „Göttern Griechenlandes" verwendeten Motive sind aus früheren Schriften bekannt: „Der Triumf der Liebe" schon hatte das Vermögen der Liebe, Götter und Menschen einander zu nähern, gepriesen 18 ; die 23. Strophe der „Götter Griechenlandes", die den am eigenen vollkommenen Sein sich ergehenden Gott beschreibt, ist geradezu als Gegenstrophe zum Schluß des „Freundschafts"-Hymnus gedichtet; der Nero-Gott der „Freigeisterei" und die Forderung freudlosen Entsagens wie in der „Resignation" sind wieder beigebracht, und Körner konnte sogar „Ideen zum Julian", einem Tragödienplan des jungen Schiller, 18

11*

Wie wichtig die Vorstellung göttergleidien Lebens f ü r den Pathetiker ist, ist beschrieben worden. In der Mannheimer Ausstellung w a r e n Schiller zwei D i n g e besonders a u f g e f a l l e n : d a ß die Griechen das Materielle nur mit dem Geistigen zusammen duldeten und sie ihre Götter nur als edlere Menschen malten, wodurch Götter und Menschen „ K i n d e r einer F a m i l i e w u r d e n " (vgl. S ä k . A u s g . B d . X I , S. 106).

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darin erkennen.1* Was im Lied „An die Freude" als Ideal hymnisch selbstgesdiaffen ist, beklagt die Elegie als unwiederbringlich verloren. Wieder andere Vorstellungen sind in späteren Gedichten und Aufsätzen noch zu finden. So blieben auch die Gedanken der vierzehnten Strophe Schiller besonders nahe, die er in einem Distichon des Musenalmanachs für das Jahr 1798 formulierte: „In das Grab hinein pflanzte der menschliche Grieche noch Leben, / Und du thöricht Geschlecht stellst in das Leben den Tod." 20 Gleicherweise lebendig blieben andere Motive; noch in Schillers Nachlaß war ein Entwurf zu einem Gedicht über Orpheus enthalten, der sich in der Unterwelt weigert, den Tod zu singen, aber dem Leben ein Lied anstimmt. Ungezwungen fügen sich diese zahlreichen Motive in das Gedieht ein, das in der Geschichte der Lyrik Schillers eine erste Vollkommenheit erreichte, die den früheren Gedichten nur in einzelnen Strophen gelungen war. Denn das ist das Neue an den „Göttern Griechenlandes": daß ein umfassendes philosophisches Erlebnis seine unverwechselbare poetische Form gewinnt. Zwar hatte der „Freundschafts-Hymnus" schon enthusiastische Gefühlsgedanken in der angemessenen großen und kühnen Gebärde vorgestellt, doch unvergleichlich ist die Fülle der Einsichten und die überlegene Besonnenheit, die in den „Göttern Griechenlandes" ihre vom dargestellten Affekt gereinigte Gestalt fanden. Die Annäherung an die große Form, die den klassischen Stil auszeichnet, gelang in dieser Elegie; mit gutem Recht kann sie als Übergang zu diesem klassischen Stil betrachtet werden, der in den „Künstlern" seinen beschwerlichen Anfang nahm. Die gereinigte Form ist es, die unmittelbar nach der Niederschrift des Gedichts Körner gegenüber als der wesentliche Gewinn bezeichnet wird: „Wieland rechnete auf midi bei dem neuern Merkurstücke, und da machte ich in der Angst — ein Gedicht. Du wirst es im März des Merkur finden und Vergnügen daran haben, denn es ist ziemlich das beste, das ich neuerdings hervorgebracht habe; und die Horazische Korrektheit, welche Wieland ganz betroffen hat, wird Dir neu daran sein. Ich schreibe Dir von dem Gegenstande nichts. Was wir sonst, wenn Du Dich noch gern darauf besinnen magst, miteinander getrieben haben, die Wortfeile, treibe ich jetzt mit Wieland, und einem Epitheton zu Gefallen werden manche Billets hin und wieder gewechselt; am Ende aber bleibt immer das erste stehen." 21 Die „Götter Griechenlandes" hatten vermocht, das Urteil Wielands, des Stilkünstlers, zu ändern, der noch im Vorjahr Schillers „starke Zeichnung, große und weitläufige Compositionen, ein leb18 20 21

An Schiller, 25. Februar 1788. „Die Urne und das Skelet", Nat.Ausg. Bd. I, S. 378. An Körner, 17. März 1788.

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haftes Colorit" anerkannt, aber „Correction, Reinheit und Geschmack" in seinen Dichtungen vermißt hatte." Das Glück, mit Wieland zu diesem Zeitpunkt bekannt geworden zu sein, ist für Schillers Stilbildung nicht hoch genug zu veranschlagen. Wielands rokokohafte Vorstellung der Antike ist überdies in einzelnen Wendungen spürbar 23 : in den „schönen Wesen aus dem Fabelland" (v. 4), im „Feenland der Lieder" (v. 147) — gewisser und nachdrücklicher aber ist Wielands Einfluß auf Schillers Stilund Versgesinnung, die der Jüngere an Wielands Versepen abhören konnte. Die fünffüßigen trochäischen Achtzeiler sind kreuzweise gereimt, nur der die Strophe beschließende achte Vers ist elegisch verkürzt (— mit Ausnahme der Schlußverse der 4., 7., 13., 14., 17., 19. und 25. Strophe). Der Reimwechsel teilt die Strophen in zwei oft auch syntaktisch geschiedene Hälften, und der kräftige Einsatz der Trochäen wird durch die lebhafte Bewegung von Vers zu Vers fortgeführt, zumal da die beiden Schlußverse keinen Zusammenklang der Reime erstreben. Schon der Wohlklang der ersten Verse gewinnt die Hörer, und die Vollkommenheit der als verloren beklagten Welt findet sich gleichsam wieder in Versen, deren volle Vokale und Diphthonge dominieren und daran erinnern, daß eine „musikalische Gemütsstimmung" Schillers poetische Produktion einleitete: Schöne Welt, w o bist du? — Kehre wieder, holdes Blüthenalter der N a t u r ! Ach! nur in dem Feenland der Lieder lebt noch deine goldne Spur. (v. 145—148)

Diese sprachliche Euphonie hält selbst in erregteren Strophen vor und mäßigt, wohltemperierend, die Ausbrüche am Ende des Gedichts. Wie Schiller die Trochäen meisterte und Sinn und Laut und Rhythmus einander stützen, mögen die Verse 171 und 172 zeigen: „. . . und an ewig gleicher Spindel winden / sich von selbst die Monde auf und ab." Die vielen bloß reihenden Nennungen (vornehmlich der vierten Strophe: „Jener Lorbeer wand sich einst um Hilfe / Tantals Tochter schweigt in diesem Stein, / Syrinx Klage tönt' aus jenem Schilfe, / Philomelens Schmerz in diesem Hayn.") beachten die Versgrenzen ebenso wie die Gedanken und Bilder, deren Rhythmus im allgemeinen über zwei Verse verfügt, um sich auszubreiten. 24 Mit schöner und bislang ungewohnter Freiheit ist das Versenjambement verwendet (z. B. v. 129/30, v. 174/75). 22 23

24

A n Körner, 28. Juli 1787. Vgl. hierzu neuerdings: Melitta Gerhard: Antike Götterwelt in Wielands und in Schillers Sicht: Zur Entstehung und Auffassung der „Götter Griechenlands", in: Schiller 1759—1959, Urbana 1959, S. 1—11. Als Beispiel sei gegeben: „Götter, die v o m H i m m e l niederwallten, / sahen h i e r ihn wieder aufgethan" (v. 55 f.).

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In der 14. Strophe überfließt der Rhythmus sogar die Strophenhälfte, die durdi die beiden gekreuzten Reimpaare betont wird: Damals trat kein gräßliches Gerippe vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß nahm das letzte Leben von der Lippe, still und traurig senkt" ein Genius seine Fackel.

Bezeichnet dieses Enjambement den sanften Übergang des Lebens in den Tod, so erzielen die Zeilensprünge der vorletzten und letzten Strophe, die ebenfalls die Mittelgrenze übergehen, einen völlig anderen Ausdruckswert, der an die pathetisch erregten Stellen der „Freigeisterei" erinnert: die aus Not und Rebellion gemischte Leidenschaft läßt sich nicht beschränken. Die aufzählende Reihung der Verse, welche vornehmlich in der erwähnten vierten Strophe in raschem Wechsel von Daphne, Apoll, Syrinx, Philomele, von Demeter, Persephone und Cythere spricht, ist an anderen Stellen durch eine die ganze Strophe ausfüllende Vorstellung verbessert. Die zehnte Strophe beispielsweise ist ganz dem Freudenzug des Dionysos, des Gotts des Weins, des Feuers und der Freude, gewidmet. Da diese Strophe die bildhaften Einzelheiten des bacchantischen Zugs zeichnet, gelingt es wiederum, die gegenständliche Distanz einzuhalten und die dunkle dionysische Trunkenheit nicht stiländernd wirken zu lassen. Da die Reihung mythologischer Bilder in Versen oder Versgruppen dem strophischen Parallelismus entspricht, so überrascht es nicht, wenn, wie im Lied „An die Freude", das Verhältnis der einzelnen Strophen zueinander locker ist und manche Strophen verpflanzt werden könnten, ohne den Gang des Gedichts zu stören.25 Es darf also kein auf eine Schlußsentenz ausgerichteter Bau gesucht werden, zumal da dies dem Sinn der Griechenland gewidmeten Strophen widerspräche, die das antike Ideal in seiner überall gegenwärtigen Vollkommenheit, nicht aber in der Spannung auf etwas hin, darstellen wollen. Eher gespannt und aufeinander bezogen sind jene Strophen, die die entleerte Welt schildern — die einundzwanzigste Strophe verzögert wirkungsvoll die Nennung der „entgötterten Natur" bis zum Ende. Da Thema und Gegenthema in Vergleich und temporaler Unterscheidung schon von Anfang an gebraucht sind, wandte Schiller die indirekte Charakterisierung überlegen an: „Damals trat kein gräßliches Gerippe / vor das Bett des Sterbenden" (v. 105 f.); „Nach der Geister schrecklichen Gesetzen / richtete kein heiliger Barbar" (v. 113 f.). Diese enge Zuordnung von Thema und Gegenthema unterstützen die daher nur u

Die spätere Fassung gab die Probe aufs Exempel.

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scheinbar „absoluten" Komparative, die besonders die achte und neunte Strophe bilden: „Werther war von eines Gottes Güte / theurer jede Gabe der Natur." Die „komparativischen Anaphern" dieser beiden Strophen, die das trodiäische Maß ermöglicht, zeigen deutlich das Stilprinzip des vorliegenden Gedichts: die unterscheidenden Merkmale werden nachdrücklich betont. Denn der Gegensatz konstituiert „Die Götter Griechenlandes". In der elften und dreizehnten Strophe ist die jeweils zweite Hälfte der ersten schneidend hart entgegengesetzt. Die beiden Zeiten, die antike und die christliche, treffen unversöhnbar aufeinander. Von der neunzehnten Strophe an hat sich das dualistische Stilprinzip durchgesetzt, das in sieben Strophen, zu denen noch die siebzehnte zu zählen ist, die Gottesferne und die entgöttlichte Natur der modernen Zeit darstellt. Der Gegensatz zur verlorenen Antike wird durch jenen zweiten, der die jetzige Gegenwart durchzieht, noch verstärkt: Der Antagonismus der neuen Zeit verdeutlicht sich in der paradoxen Antonomasie des „heiligen Barbaren" (vgl. v. 114). Der Gott ist — aber fern (vgl. v. 84—88), der Gott ist — aber finster (vgl. v. 103), der Gott ist — aber unerreichbar erhaben (vgl. v. 190). So trennten sich in der Neuzeit auch Wahrheit und Schönheit, die in der Stilkunst der Griechen geeint waren (vgl. v. 9 f.). Die unverhüllte Wahrheit „blendet" unerträglich. Wie in den meisten anderen Gedichten Schillers ist es demnach der Gegensatz, an dem sich das Pathos entzündet. Klage wie Anklage entstammen ihm. Die Trauer um das Verlorene drängt zur Rebellion gegen das Neue. Damit ist erneut erwiesen, daß das dualistische Prinzip eine wesentliche Funktion des pathetischen Stils ist. Der Affekt, der der Simplizität und ihrer „imponierenden großen Ruhe" widerstreitet, konnte aus dem Gedicht, das den Antagonismus von antiker und christlicher Welt gestaltet, nicht gänzlich verbannt werden. Gleichwohl sind die „Götter Griechenlandes" nicht unter der „Herrschaft des Affekts", der nach Selbstdarstellung drängt, geschrieben — allein schon die Fülle des Stoffs, der verarbeitet werden mußte, hätte sich schwerlich gefügt. Es ist nicht zu übersehen, daß Besonnenheit über der Anklage wacht. Die Wahl der Worte, die nur noch das geistig-sinnliche, das „gereinigte" Wort zuläßt, um dem hohen Gegenstand gerecht zu werden, offenbart den überlegenen Kunstverstand, der sich zudem des feinsinnigen Urteilsvermögens Wielands bedienen konnte. „Mir gefällt das Gedicht sehr, weil eine gemäßigte Begeisterung darin athmet, und eine edle Anmut mit einer Farbe von Wehmut untermischt...", schrieb Schiller an Körner am 12. Juni 1788. Mag auch diese Briefstelle, die das Gedicht seines Maßes und seines Adels, seiner Anmut und seines ver-

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Interpretationen ausgewählter Gedichte

haltenen Ausdrucks wegen bezeichnenderweise würdigt und an den Brief vom 17. März erinnert, mag sie auch, zu positiv, das Streben schon als Ziel, die Mühe als Gewinn buchen, so ist doch der Fortschritt innerhalb seiner Lyrik deutlich spürbar. Das pathetische Subjekt verleugnet sich indes nicht; es apostrophiert nicht nur die gegenwärtige Gottheit, sondern tritt auch aus der Distanz der Beschreibung, um sich dem dichterisch Vergegenwärtigten zuzuwenden: „ E u r e Tempel lachten gleich Pallästen / euch verherrlichte das H e l d e n s p i e l . . . " (v. 89 f.). In den Versen der neunzehnten Strophe, die die Klage ergreifend steigern und schließlich in die fortlaufende Anklage überwechseln, erfolgt nochmals die unmittelbare Anrede:

Schöne Welt, w o bist du? — K e h r e wieder holdes Blüthenalter der N a t u r !

Nachdrücklicher noch äußert sich das pathetische „Ich", indem es nach dem verborgenen Gott (v. 85—88) fragt, sein Befremden über dessen irdische Wohnung, die finstere Kirche im Gegensatz zum griechischen Tempel, ausdrückt und in der siebzehnten Strophe Gedanken der „Resignation" vorträgt. J e mehr sich die Klage in die Anklage gegen den Usurpator verschärft, desto freier tritt das pathetische Subjekt auf. In der direkten Anrede der vierundzwanzigsten Strophe stellt es die entscheidende Frage, die die begrenzende Strophenhälfte übergeht: „Was ist neben D i r der höchste Geist/derer, welche Sterbliche gebahren?" Die den gereiften Pathetiker auch im Ausdruck der Leidenschaft auszeichnende Distanz verfügt über die Antwort und vermag in einem kunstvollen Chiasmus noch die Summe des Gedichts zu ziehen: „ D a die Götter menschlicher noch waren / waren Menschen göttlicher." Der die Schlußstrophe einleitende Vordersatz hält noch die Distanz ein, bereitet zugleich aber vor auf den neuen Anruf, der um „Flügel, Waagen" bittet und vornehmlich um die „sanfte" Schönheit. Von der „ernsten strengen Göttin" der Wahrheit, die das Abbild der Gott-Substanz ist, wünscht der Dichter erlöst zu werden, denn sie ist nicht mehr umhüllt vom schönen Schein, sondern abschreckend im „blendenden", im kalten Licht ihres richterlichen Spiegels. 26 Die Heftigkeit des Affekts ist weniger im Ton als im verschärften Gegensatz spürbar, dessen Objektivierung der Dichter erstrebte. Die Empfindungen sind erhöht und idealisiert, ohne daß es im Sinne der Postulate der Bürger-Rezension vollkommen gelungen wäre, den Gegenstand der Klage und Anklage von der Individualität loszuwickeln und 26

Walther R e h m a.a.O., S. 202, glaubt einen durdi die Schlußstrophe v e r s t ä r k ten „ Z w i e s p a l t " im Gedicht z u sehen, einen „ M i ß k l a n g in jener H a r m o n i e " , da das griechische Ideal dem Menschen das Letzte, die Wahrheit nämlich, vorenthalten habe. D i e Verse 9 f. sprechen jedoch deutlich v o n der „ m a l e risch" umwundenen Wahrheit.

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in eine „mildernde Ferne" zu stellen. Der Weg dahin war weit. Noch ein Jahr später, über der Arbeit an den „Künstlern", betont Schiller, auf dieser Welt keine wichtigere Angelegenheit zu haben als die Beruhigung seines Geistes. Diese Beruhigung sollte dem klassischen Stil dienen, der in keiner Bewegung die erhabene Ruhe missen wollte. Nach dieser Beschreibung des Anteils der subjektiven Leidenschaft, der die gattungsmäßige Zugehörigkeit der „Götter Griechenlandes" bestimmt, muß nochmals der antithetischen Form gedacht werden, da diese die der pathetischen Dichtung besonders zukommende Eigenart erkennen läßt. Was den Pathetiker an seinem Gegenstand ergriff, war die Vorstellung einer gotterfüllten früheren Zeit; schon in den vorhergehenden Interpretationen wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß die entscheidende Haltung des Pathetikers in seinem notwendigen transzendenten Bezug zu finden ist. „Die Götter Griechenlandes" rühmen daher den vertrauten Umgang mit den Göttern, der alles andere, die Naturnähe wie das Daseinsglück, bestimmt. Keine unübersteigbare Transzendenz, kein unversöhnlicher Antagonismus kennzeichnet die im Gedicht gestaltete griechische Welt, denn derselbe Himmel wölbte sich über Göttern und Menschen, und die Einheit des erfüllten Lebens, die sich noch über das Irdische hinaus bewahrte, umschloß alle Wesen. Die pathetische Imagination ergeht sich in der Darstellung des unbegrenzten und innigen Lebens, das sich vom Olymp ins Reich der Schatten spannte und an jedem Punkt wie in jedem Augenblick erfüllt war. Doch das Gedicht beschreibt den verlorenen „goldenen" Zustand der Menschheit, so daß die Stimme der Klage um so mehr anhob, je mehr der Verlust erwogen und der gegenwärtige Äon entwertet wurde. Jahre zuvor schon, im „Brief eines reisenden Dänen", hatte Schiller die in jenem Zusammenhang überraschende Feststellung, gemacht: „Die Griechen philosophierten trostlos, glaubten noch trostloser . . ."21 — aber die pathetische Einbildungskraft, die sich von keiner geschichtlichen Einsicht binden ließ, sammelte im vorliegenden Gedicht dennoch alles Licht, jene Wirklichkeit ins Ideal zu erheben. Der frei über die Dinge verfügende Pathetiker fühlte sich andererseits nicht angehalten, der eigenen Gegenwart Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern verdunkelte ihr Bild, um das idealisierte noch heller erstrahlen zu lassen. In einem langen Brief an Körner vom 25. Dezember 1788 begründete Schiller seine Haltung, die er als „allgemeine Regel" ausgeben wollte: „Der Künstler und vorzüglich der Dichter behandelt niemals das Wirkliche, sondern immer nur das Idealische, oder das aus einem wirklichen Gegenstand kunstmäßig Ausgewählte; z.B. er behandelt nie die Moral, nie die Religion, sondern nur " Säk.Ausg. Bd. XI, S. 106.

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diejenigen Eigenschaften von einer jeden, die er sich zusammendenken will — er vergeht sich also auch gegen keine von beiden; er kann sich nur gegen die ästhetische Anordnung oder gegen den Geschmack vergehen. Wenn ich aus den Gebrechen der Religion oder der Moral ein schönes übereinstimmendes Ganze zusammenstelle, so ist mein Kunstwerk gut, und es ist nicht auch nidxt unmoralisch oder gottlos, eben weil ich beide Gegenstände nicht nahm, wie sie sind, sondern erst wie sie sich nach einer gewaltsamen Operation, d.h. nach Absonderung und neuer Zusammenfügung wurden. Der Gott, den ich in den Göttern Griechenlands in Schatten stelle, ist nicht der Gott der Philosophen oder auch nur das wohltätige Traumbild des großen Haufens, sondern er ist eine aus vielen gebrechlichen schiefen Vorstellungsarten zusammengeflossene Mißgeburt. — Die Götter Griechenlands, die ich ins Licht stelle, sind nur die lieblichen Eigenschaften der griechischen Mythologie, in e i n e Vorstellungsart zusammengefaßt. Kurz, ich bin überzeugt, daß jedes Kunstwerk nur sich selbst, d . h . seiner eigenen Schönheitsregel Rechenschaft geben darf und keiner anderen Foderung unterworfen ist." Diese Ausführungen, die mehr eine Selbstverteidigung als eine verbindliche Regel enthalten, klingen nicht ungezwungen und drücken, in der Prosa noch verhärtet, die überscharfe Antithetik aus, die das Gedicht bestimmt. Der Ablehnung der „Mimesis"28 und der Auffassung von der Autonomie des Kunstwerks wird man die Zustimmung nicht versagen, auch wenn in der vorgetragenen Weise das ästhetische Prinzip zu unverbindlich und die Forderung nach der jeweiligen Schönheitsregel der halb überwundenen, sich autonom dünkenden Regellosigkeit des „Stürmers und Drängers" entsprungen sein mag. Der Dualismus, der im Gedicht durch die beiden Seiten zukommende gereinigte Form gemildert ist, befremdet in der theoretischen Begründung, da er ausdrücklich und einseitig die „vielen gebrechlichen schiefen Vorstellungsarten" an einem Gegenstand expliziert, der sich einer solchen „gewaltsamen Operation" schicklich entzieht. Man wird das angeführte Zitat nicht überbewerten und nach jener Richtung ausdeuten dürfen, daß auch das Griechentum bloß 18

In einem Brief an Goethe vom 4. April 1797 ist das Verhältnis von Darstellung und Wirklichkeit in spezifischer Weise formuliert: daß eine poetische Darstellung, eben weil sie absolut wahr ist, mit der Wirklichkeit niemals zusammenfallen könne. So hatte Humboldt am 23. Oktober 1795 Anstoß an der zu frühen Einführung der „länderverknüpfenden Straße" („Elegie" v. 47) in die kulturelle Entwicklung genommen. In seiner Antwort am 29. November 1795 fand Schiller diesen Einwand zwar begründet, entschied sich aber dennoch für die Phantasie und die poetische, nicht aber historische Ordnung. Der Pathetiker unterwirft divergierende Einzelheiten der „ e i n e n Vorstellungsart", die dem Gedicht einen geschlossenen Ausdruck verbürgt.

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ästhetisch von Schiller aufgefaßt -worden, sei, obgleidi eine spätere Randnotiz zu Humboldts Abhandlung „Über das Studium des Altertums und des griechischen insbesondere" dies wörtlich anführt. 29 In der Theorie ließ sich überdies das „Wirkliche" und das „Idealische" leichter scheiden als in der Praxis, so daß Schiller am 25. Februar 1789 Körner gestehen mußte, Wieland habe von den „Künstlern" gesagt, „das Durcheinanderwerfen poetisch-wahrer und wirklich-wahrer Stellen inkommodiere ihn". Für die vorliegende Interpretation ist wesentlich, in den „Göttern Griechenlandes" das Pathos aufgezeigt zu haben, das nicht nur die Gegensätze annimmt, sondern in einseitiger Idealisierung diese vertieft und erweitert, konzentriert und konfrontiert. So verstanden, überrascht es auch nicht, wie es manchen Interpreten zuvor erstaunte, daß Schiller nicht versuchte, die beiden geschiedenen und in vieler Hinsicht sich ausschließenden Bereiche, in denen das geistige Abendland wurzelt, zu versöhnen. Dieser Entscheidungsfrage, der sich Hölderlin in unendlicher Anstrengung stellte, war der antithetische Sinn Schillers nicht ausgesetzt. Das Griechische wuchs ihm nie zum Symbol der eigenen Existenz auf, wie sehr er auch in seiner Mythologie dachte. 30 Vom Stil der Griechen wollte Schiller vornehmlich lernen; daneben w a r das „Land der Griechen" mehr eine schöne Vorstellung denn eine seelische Heimat. 31 Die antithetische Form und eine im ganzen gemäßigte Leidenschaft bestimmen den Stil der „Götter Griechenlandes". Natürlich herrscht keine einheitliche Empfindungsweise. Der das glückselige Griechentum hymnisch feiernde Ton wird vom „strafend satirischen" abgelöst, der auf den Widerstreit der modernen Wirklichkeit mit dem griechischen Ideal abhebt. Das ganze Gedicht aber ist „mit einer Farbe von Wehmut untermischt" 32 . In seiner Abhandlung „Uber naive und sentimentalische Dichtung" schrieb Schiller, daß der elegische Dichter die Natur suche, und zwar „als eine Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat" 3 5 . Diese Bestimmung könnte im Blick auf die „Götter Griechen" Die Auffassungen wandeln sich. A m 17. August 1795 schrieb Schiller an Goethe, das Christentum sei, „in seiner reinen Form, Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion". 30 Bezeichnenderweise werden die Götter als „schöne Wesen aus dem Fabelland" (v. 4) apostrophiert. 31 Es ist deshalb angebracht, von einem Glaubensbekenntnis Schillers nur mit Zurückhaltung zu reden. Das Gedicht ist kein „Gebet", wie Rehm sagt, aber mehr als der bloße Preis einer „poetisch verklärten Lebensauffassung", von der Melitta Gerhard (Schiller, 1950, S. 127) spricht. 3 2 A n Körner, 12. Juni 1788. 33 Säk.Ausg. Bd. XII, S. 204.

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landes" verfaßt worden sein, denn hier ist die Idee des gottvollen griechischen Daseins bewußt in einer Vollkommenheit dargestellt, hinter der jede Wirklichkeit zurückbleibt. Damit ist dieses Gedicht in doppelter Weise als elegisch gekennzeichnet — durch die Form der Darstellung und durch die vorherrschende wehmütige Empfindungsweise. Gewiß steht das „energische Prinzip" 34 , das Klage und Anklage erfüllt, der Einordnung in die reine elegische Gattung entgegen35 — doch damit entging es auch der Gefahr, der nach Schillers Meinung Ovid erlegen war, dessen Klagegesänge dem Bedürfnis und nicht der vom Ideal geweckten Begeisterung dienten.36 Als Schiller fünf Jahre später, 1793, eine Ausgabe seiner Gedichte vorbereitete, berichtete er Körner, er wolle „Die Götter Griechenlandes" umarbeiten, denn er sei kaum mit fünfzehn Strophen zufrieden. 37 Doch da diese Ausgabe nicht zustande kam, wurde die zweite Gestalt erst im Jahre 1800 veröffentlicht. Die Umarbeitung hatte das Gedicht verändert und verkürzt 38 — nur vierzehn Strophen der alten Fassung hatten dem verfeinerten Kunstsinn und der Rücksicht auf die Leser genügen können. Die Strophen 6 bis 9 wurden gestrichen, desgleichen 11 und 13; die 14. und 15. Strophe wurden in eine zusammengezogen. Um jene Stellen auszumerzen, die bei der ersten Veröffentlichung ihres schroffen und aggressiven Tones wegen verstimmt hatten, verwarf Schiller auch die siebzehnte und die drei das Gedicht beschließenden Strophen. Zwei neugedichtete Strophen bilden die nunmehr sechste und die letzte, die sechzehnte, wobei die sechste die Grundgedanken der „Freigeisterei" und der „Resignation" wieder aufnahm („Finstrer Ernst und trauriges Entsagen . . .") und den freudigen Gemeingeist der Griechen und ihrer Götter aussprach. Der Steigerungstendenz wegen trat die bisher zwölfte Strophe („Eure Tempel 34

Das. S. 216.

35

Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie a.a.O., S. 138 f., schreibt, „Die Götter Griechenlandes" seien „elegisch in der Empfindungsweise, weniger in der lyrisch beschwingten Form der Darstellung". Erst die gefaßtere Haltung der zweiten Fassung nähere das Gedicht der Elegie.

39

Säk.Ausg. Bd. XII, S. 203.

" An Körner, 5. Mai 1793. 38

Auch dem Einwurf Goethes, das Gedicht sei zu lang, wurde damit entsprochen. (Vgl. den Brief an Körner vom 2. Februar 1789 über Goethes günstiges Urteil.) — Daß die Länge der Elegie wesensmäßig zustehe, verteidigte Schiller ein andermal gegenüber Humboldt (am 7. September 1795) in bezug auf seine „Ideale". Wie sehr Schiller die übermäßige Länge seiner Gedichte fürchtete, geht auch aus dem Briefwechsel mit Körner über „Die Künstler" hervor. Körner wollte „das Historische und Philosophische darin" trennen (am 30. Januar 1789; vgl. auch Schillers Zustimmung am 21. Oktober 1800, als vor der Edition seiner Gedichte eine Umarbeitung notwendig wurde).

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lachten gleich Pallästen") hinter die neu hinzugefügte sechste und noch vor die Dionysos-Strophe (die bislang zehnte, jetzt achte).3' Diese eingreifende Umgestaltung veränderte das Gedicht völlig. Die neue strophische Gliederung betonte durch ihren Aufbau noch mehr das polare Gesetz, als sie den elf „antiken" vier die finstere Gegenwart darstellende Strophen direkt entgegensetzte, deren Spannung sich indessen in der Schlußstrophe und ihrer erhabenen Kunstgesinnung löst. Es ist nicht zu übersehen, daß ein fast neues Gedicht unter der korrigierenden Dichterhand entstanden war, das an frischer Ursprünglichkeit allerdings einbüßte, was es an gefestigter Haltung gewann. Doch der durchsichtig klare und folgerichtige Aufbau hat gewonnen 40 , so daß Verlust und Gewinn einander die Waage halten und die Frage nach der besseren Fassung fast müßig wird. Die zweite Fassung ist reifer — doch eben die reife, die unbeschreibliche Hoheit der Schlußverse ist es, die den vorhergehenden Strophen nicht entwachsen ist, sondern Schillers neuerworbene Auffassung von der Kunst wiedergibt, in der Vergänglichkeit und Tod bewältigt und Klage wie Anklage hinfällig sind. Die Schlußstrophe tilgte auch das Problem der von der Wahrheit geschiedenen Schönheit, das die alte offengelassen hatte, da nach den „Künstlern", die die Wahrheit und Sittlichkeit in der Schönheit zu verhüllen unternahmen, die einseitige Entscheidung der ersten Fassung überholt war. Die Schlußstrophe lautet: Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne, Alles H o h e nahmen sie mit fort, Alle Farben, alle Lebenstöne, U n d uns blieb nur das entseelte Wort. Aus der Zeitflut weggerissen, schweben Sie gerettet auf des Pindus H ö h n ; Was unsterblich im Gesang soll leben, M u ß im Leben untergehn.

Das Motiv der vorgeordneten fünfzehnten Strophe, die Heimkehr der vertriebenen Götter ins „Dichterland", nimmt diese Strophe wieder auf. Wie kann aber „das entseelte Wort" den „unsterblichen Gesang" leisten? So sind, wie erwähnt, die beiden Schlußzeilen von den vorhergehenden Versen kaum begründet; sie erschließen vielmehr eine neue Sinnsphäre, indem ihr erhabenes Ethos der Dichtung eine autonome 39 40

Die anderen geringfügigen Veränderungen anzugeben, würde zu weit führen. Einen „bedenklichen Schematismus" merkt jedoch B. v. Wiese in seiner Interpretation, S. 325, an. Diesem Urteil kann schwerlich zugestimmt werden, wenn man erwägt, daß die zweite Fassung nicht nur den antik-christlichen Dualismus fast symmetrisch anordnet, sondern auch die Spannungen in der „Synthese" der Kunst großartig löst. Im „Reich der Schatten" ist der hier angedeutete Baugedanke zur Vollendung gebracht.

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Seinsweise zuspricht. Die echtpathetische Auffassung vom tragischen Schicksal, das den Menschen erhebt, wenn es ihn zermalmt 41 , ist in diesen Versen erweitert und auf das Verhältnis von Kunst und Leben übertragen: Untergehen muß im Leben, was im Gesang, der ihm übergeordnet ist, wiederauferstehen will. Schillers Ansicht von der Vollendung des Daseins durch die Kunst, die er schon in seinem 1784 geschriebenen Aufsatz über „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet" höher noch als die Religion gestellt hatte, ist am Schluß dieser Elegie folgerichtig ausgeführt. Die Sehnsucht nach der größeren Fülle des Lebens, nach dem „vollen Leben" 42 , hatte die „Freigeisterei" wie die „Resignation", die „Freude" wie die erste Fassung der „Götter Griechenlandes" diktiert. Die zweite Fassung vermindert jetzt verzichtend den Wert des Lebens, — vielmehr: sie setzt das Leben ins rechte Verhältnis zur Kunst. Die Kunst überhöht dieses. Auch der neue Glaube, der an die Stelle des klagenden und begehrenden Pathos das Ethos der weltüberwindenden Kunstgesinnung setzt, verwehrt sich — wie die „Resignation" — die Flucht in die Transzendenz. Es ist die Dichtung, die des Vergänglichen gedenkt und es bewahrt. 43 Wie im „Spaziergang" oder in der „Nänie", so wirkt auch hier der Schluß fast hymnisch und bestätigt, was beinahe ein Gesetz für die hohe elegische Dichtung in deutscher Sprache ist, daß Trauer und Klage nur „im Raum der Rühmung" (Rilke) statthaben dürfen.

41 42 43

Vgl. Säk.Ausg. Bd. I, S. 130; Nat.Ausg. Bd. I, S. 359. „Das Glück" v. 7. Die Abhandlung „Uber naive und sentimentalisdie Dichtung" bezeichnet überraschenderweise die Dichter als „Bewahrer der Natur" (Säk.Ausg. Bd. XII, S. 183), d . h . als Bewahrer der ursprünglichen Einheit von Erscheinung und Idee.

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I I . MONOGRAPHIEN UND AUFSÄTZE:

Nachstehend werden diejenigen Werke angeführt, denen mehr verdankt wird, als durch eine Anmerkung ausgedrückt werden konnte. Den Anregungen aller anderen Schriften wurde an Ort und Stelle durch Zitat entsprochen. Friedrich Beißner: Studien zur Sprache des Sturms und Drangs, German.Roman. Monatsschrift, Bd. X X I I , 1934, S. 417—429. Friedrich Beißner: Geschichte der deutschen Elegie, H . Pauls Grundriß der german. Philologie, Bd. 14, 1941.

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Nachbemerkung

:

Ein vorzügliches Hilfsmittel für die Sdbillerforsdbung ist Wolfgang Vulpius zu verdanken: Schiller-Bibliographie 1893—1958. Bearbeitet von Wolfgang Vulpius, Weimar 1959. Für die nachfolgenden Jahre ist hinzuweisen auf: Paul Raabe und Ingrid Bode: Schiller-Bibliographie 1959—1961. I n : Jahrbuch der D t . Sdiillergesellschaft, 6. Jg., 1962, S. 465—553.

GEDICHT-REGISTER A n den Frühling 111 A n die Freude 25 26 32 35 58 65 }. 67 79 87 f. 94 95 96 ÍOÍ f . 104 106 1 1 2 1 1 6 1 1 8 119—122

123

144—151

164 166 174 A n die P a r z e n 88 98 103 A n die Sonne 32 117 A n M i n n a 84 111 Columbus 35 Das Geheimniß der Reminiszenz 11 21 27 31 36 45 52 54 55 88 93 98 101 104 111 112 116 Das Glück 81 159 174 Das Glück und die Weisheit 35 Das Mädchen aus der Fremde 107 Das Reich der Schatten 15 25 28 31 35 59 60 61 80 f . 89 96 97 105 112 115 116 121 123 134 (Das Ideal u n d das Leben) Das Siegesfest 33 Der Abend 18 f. 33 37 42 58 87 91 Der Abend (nach einem Gemähide) 40 117 Der Eroberer

1 3 20—22

23 2 4 58 78

91 f . 98 104 106 117 121 Der T a n z 45 49 Der T r i u m f der Liebe 28 37 48 64 67 f . 101 112 134 163 Der Venuswagen 80 Die berühmte F r a u 112 Die Entzükung an L a u r a 112 116 Die Freundschaft 19 32 46 48 63 f. 65

78 93 106 112 116 133

135—144

146 163 164 Die Glocke 70 Die Götter Griechenlandes 20 30 66 85 87 89 94 99 104 112 113 116 118

121

159—174

Die Gröse der W e l t 44 46 47 91 112 117

132—135

Die Die Die Die Die Die Die

Gunst des Augenblicks 159 Herrlichkeit der Schöpfung 42 f. Ideale 19 64 71 102 122 172 Journalisten u n d Minos 112 Kindsmörderin 80 91 103 Kraniche des Ibycus 25 Künstler 25 39 45 57 f. 65 67

6 9 f . 94—96

9 9 105 f . 1 1 1

113—115

116 154 171 172 Die Macht des Gesanges 25 28 106 f. 114 Die Pest 33 88 Die schlimmen Monarchen 33 78 91 99 101 f. Die seeligen Augenblike 51—54 63 79 Die unüberwindliche Flotte 112 D i t h y r a m b e 150 (Der Besuch) Eine Leichenfantasie 38 79 112 118 Ein V a t e r an seinen Sohn 35 Elegie 40 60 62 170 174 (Der S p a z i e r g a n g ) Elegie auf den frühzeitigen T o d J o h . C h r i s t i a n Weckerlins 26 31 32 83 88 98 99 100 154 Elisium 37 59 79 88 104 112 118 119 Fantasie an L a u r a 48 103 Freigeisterei der Leidenschaft 21 26 32 34

46 66 93

112

116

121

152—154

159 163 172 174 Graf Eberhard der Greiner von W i r temberg 118 Gruppe aus dem T a r t a r u s 48 100 104 H y m n e an den Unendlichen 37 43 f . 47 111 116 132 In einer Bataille 92 K l a g e der Ceres 104 L a u r a a m K l a v i e r 20 24 54 55 79 112 119

Gedicht-Register

180

Meine Blumen 39 111 127—131 (Die Blumen) Melancholie an L a u r a 19 31 32 47 f. 52 79 99 100 133 Monument Moors des Räubers 20 22 103 110 Morgenfantasie 18 38 56 88 112 (Der Flüchtling) N ä n i e 105 159 174 Resignation 26 34 56 66 84 f . 92 93 96

99

152

154—159

Roußeau 33 99 101 112

163

172

174

Semele 118 Spruch des Confucius 56 T o d e n f e y e r am Grabe Philipp Friederich von Riegers 14 15 26 32 33 36 5 6 / . 58 78 83 92 98 99 121 T r a u e r - O d e auf den T o d t des H a u p t manns Wiltmaister 14 32 58 61 78 99 Vorwurf an L a u r a 19 42 45 47 64 98 112 W ü r d e der Frauen 39 49 89 f. 112

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND K U L T U R G E S C H I C H T E DER G E R M A N I S C H E N VÖLKER Begründet von Bernhard ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge herausgegeben von Hermann Kunisch

GERHARD R U D O L P H

Studien zur dichterischen Welt Achim von Arnims Groß-Oktav. VIII, 171 Seiten. 1958. DM 16,—. Neue Folge 1 (125) EMMY ROSENFELD

Friedrich Spee von Langenfeld Eine Stimme in der Wüste

Groß-Oktav. Mit 25 Abbildungen. X, 299 Seiten. 1958. Ganzleinen DM 45,—. Neue Folge 2 (126) MARIANNE THALMANN

Ludwig Heck „Der Heilige von Dresden" Aus der Frühzeit der deutschen Novelle Groß-Oktav. Mit 2 Abbildungen. X, 194 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 27,—; broschiert DM 24,—. Neue Folge 3 (127) H U G O SOMMERHALDER

Johann Fisch arts Werk Eine Einführung Groß-Oktav. VIII, 137 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 14,—. Neue Folge 4 (128) JOSEFINE NETTESHEIM

Christoph Bernhard Schlüter Eine Gestalt des deutschen Biedermeier dargestellt unter Benutzung neuer Quellen mit einem Anhang bisher unveröffentlichter Briefe von Schlüter Groß-Oktav. Mit 3 Abbildungen. X V I , 299 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 32,—. Neue Folge 5 (129)

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN

QUELLEN U N D F O R S C H U N G E N ZUR SPRACH- U N D K U L T U R G E S C H I C H T E DER G E R M A N I S C H E N V Ö L K E R

ERNST VON REUSNER

Satz, Gestalt, Schicksal Untersuchungen über die Struktur in der Dichtung Kleists Groß-Ofctav. VI, 136 Seiten. 1961. Ganzleinen DM 24,—. Neue Folge 6 (130)

WERNER BRAUN

Studien zum Ruodlieb Ritterideal, Erzählstruktur und Darstellungsstil Groß-Oktav. VI, 117 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 24,—. Neue Folge 7 (131)

RICHARD DAUNICHT

Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland Groß-Oktav. IV, 309 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 36,—. Neue Folge 8 (132)

WOLFGANG FRÜHWALD

Der St. Georgener Prediger Studien zur Wandlung des geistlichen Gehalts Groß-Oktav. VIII, 164 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 38,—. Neue Folge 9 (133)

THOMAS FINKENSTAEDT

You und Thou Studien zur Anrede i m Englischen Groß-Oktav. XII, 301 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 44,—. Neue Folge 10 (134)

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND K U L T U R G E S C H I C H T E DER G E R M A N I S C H E N VÖLKER

HELMUT BRACKERT

Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes

Groß-Oktav. VI, 190 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 28,—. Neue Folge 11 (135)

BERTA MORITZ-SIEBECK

Untersuchungen zu Miltons Paradise Lost Interpretation der beiden Schlußbücher Groß-Oktav. VIII, 274 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 36,—. Neue Folge 12 (136) TILO BRANDIS

Der Härder T e x t e u n d Studien I Groß-Oktav. VIII, 214 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 36,—. NeueFolgel3 (137)

MICHAEL S. BATTS

Studien zu Bruder Hansens Marienliedern Groß-Oktav. VI, 77 Seiten. Mit 3 Textabbildungen. 1964. Ganzleinen DM 12,—. Neue Folge 14 (138)

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN

Schillers Weg zu Goethe von F R I E D R I C H WILHELM WENTZLAFF-EGGEBERT 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Oktav. XII, 338 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 16,— (Die kleinen de-Gruyter-Bände 4)

Die Quellen zu Schillers Wilhelm Teil Zusammengestellt von ALBERT L E I T Z M A N N Oktav. 47 Seiten. 1912. DM 2,25 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 90)

Schillers Anthologiegedichte Kritisch herausgegeben von W O L F G A N G STAMMLER Oktav. 71 Seiten. 1912. DM 1,80 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 93)

WALTER DE GRUYTER & CO • BERLIN