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German Pages 345 [348] Year 1970
DAS PARISER NOMINALISTENSTATUT
Q U E L L E N UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN V O N PAUL WILPERT f
BAND XIV
1970
WALTER
DE
GRUYTER
& CO.
/ B E R L I N
VORMALS G. J. GDSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, BUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TROBNER · VEIT
VERLAGS& COMP.
DAS PARISER NOMINALISTENSTATUT ZUR ENTSTEHUNG DES REALITÄTSBEGRIFFS DER NEUZEITLICHEN NATURWISSENSCHAFT (OCCAM, BURIDAN UND PETRUS HISPANUS, NIKOLAUS VON AUTRECOURT UND GREGOR VON RIMINI)
VON RUPRECHT PAQUß
1970
W A L T E R
DE
G R U Y T E R &
CO.
/ B E R L I N
VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J . TRÜBNER · VEIT & COMP.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen
Ardiiv-Nr. 34 96704 © 1970 by Walter de Gruyter ic Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photomecbanisdien Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten Satz und Druck: H. Heenemann KG, Berlin — Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Seite
Einleitung
1
Wortlaut des Statuts der Universität Paris vom 29. Dezember 1340 (lateinisch und deutsch)
8
1. ABSCHNITT: DIE SITUATION DES STATUTS
Quellen, Überlieferung, Literatur
17
2. ABSCHNITT: DER TEXT DES STATUTS
I. Kapitel: Der erste Absatz II. Kapitel: Der zweite Absatz a. Terminus und Supposition bei Occam b. Die Suppositionslehre bei Petrus Hispanus c. Die Rolle des Ausdrucks „de virtute sermonis" bei Occam d. Terminus und Supposition bei Johannes Buridan e. Die Trennung von Wort und Sache bei Johannes Buridan 1. 2. 3. 4. 5.
30 35 35 41 52 63 70
Zur Rektoratszeit Buridans Gemeinsamkeiten Occam - Buridan Ähnlichkeiten Statut - Buridan Konsequenzen Unterschiede Buridan - Occam
70 72 73 75 75
a) Die Gemeinsamkeiten der neuen vorstellbaren Realität . . . . b) Verschiedenes Verhältnis von Sprache und Realität bei Occam und Buridan
75
6. Die Doppelstellung Buridans und des Statuts 7. Die Doppelstellung als diplomatische Leistung 8. Der menschliche und hochschulpolitisdie Sinn der diplomatischen Lösung
III. Kapitel: Der dritte Absatz 1. Distinguere bei Petrus Hispanus 2. Distinguere bei Occam 3. Distinguere beim Statut und bei Buridan
IV. Kapitel: Der vierte Absatz
81 84 86 89
92 93 94 102
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Inhaltsverzeichnis
VI
Seite
V. Kapitel: Der fünfte Absatz und seine Hintergründe a. Worauf bezieht sich das Wissen b. Die beiden Bereiche der Realität bei Occam 1. 2. 3. 4.
Die 'Wahrnehmungstheorie Occams Die Seinsweise von Bild und Vorstellung Die zwei Stadien Occams Die Absicherung der Selbständigkeit des intramenalen Realitätsbereiches durch die „Potentia dei absoluta" 5. Die Verankerung der erfahrenen (reproduzierten) Wahrheit in der Subjektivität
c. Die Haltung Buridans 1. Wahrnehmung und Erfahrung 2. Von Spradie und Ding zu Anschauung und Gegenstand 3. Die zentrale Rolle der Vorstellung (terminus mentalis, intentio animae, conceptus) 4. Der zweite Realitätsbereidi 5. Jeder seine eigene Metaphysik 6. Der Begriff „scientia" bei Buridan
VI. Kapitel: Der sechste Absatz
121 121 129 129 134 139 145 147
149 150 154 156 159 160 162
168
a. Autrecourt - ein Skeptiker?
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b. Autrecourt und das Statut
176
1. Allgemeine äußere Situation 2. Autrecourt und der Inhalt des Statuts a) Die Universalienfrage und Suppositionslehre (zu Absatz 1-4 des Statuts b) Die erkenntnistheoretisdie Frage (zu Absatz 5 des Statuts) . .
c. Der Sinn des verurteilten Satzes 1. Das „complexe significabile" Gregors von Rimini und Elies Deutungsversuch unseres Satzes
176 178 179 191
196 198
Der Gegenstand des Wissens nadi Gregors Sentenzkommentar S. 200 - Die drei Bedeutungen von „aliquid" und „ens" S. 204 Elies Deutung unseres Satzes und ihre Fragwürdigkeit S. 206 Die heutige Fragwürdigkeit der Subjekt-Objekt-Trennung S. 208 - Das Vordringen der Substanzialität und Gregors Verteidigungsstellung S. 210 - Sachverhalt und Einzelding bei Buridan und Occam S. 214 - Autrecourts Haltung zum „complexe significabile" und Elies These S. 217 2. 3. 4. 5.
Andere Deutungsmöglichkeiten unseres Satzes Der Unterschied von Singular und Plural als Anlaß unseres Satzes Buridan als Beleg dafür Theologische und philosophische Hintergründe unseres Satzes . .
223 226 228 232
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νπ Seite
Der Rahmen der Buridansdien Quaestio S. 233 - „Einzelsein" auch beim Allgemeinen: Buridansches und Autrecourtsches Verständnis unseres Satzes S. 237 - Die Doppelstruktur unseres Satzes als Symbol für die Begegnung zweier Welten S. 239
d. Der sechste Absatz im Zusammenhang des Statuts, der Occamschen Ontologie und der Situation Autrecourts . .
240
e. Die diplomatische Hand Buridans und der ontologische Sinn der Zweideutigkeit
243
3. ABSCHNITT: ZUSAMMENFASSUNG
Übersicht
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a. Der Gegner des Statuts
253
Der erste Absatz S. 253 - Der zweite Absatz S. 254 - der dritte Absatz S. 254 - Der vierte Absatz S. 255 - Der fünfte Absatz S. 256 - Der sediste Absatz S. 257
b. Die Haltung Buridans
260
c. Die geistesgeschichtliche Situation
263
Das Bewußtsein des Umbruchs S. 263 - Das neue Realitätsverständnis als Grundlage der aufkommenden Naturwissenschaft S. 264 - Logik und Realitätsverständnis als Einheit S. 266 - Suppositionslehre und Ontologie S. 266 - Substantialität und Nominalismus S. 268 - Das Nebeneinander von Innen- und Außenwelt S. 270 Die Frage nadi der einheitlichen Realität der „zwei Welten"S. 270 - Die Realität als Gegenständigkeit S. 272 - Die Heideggersdie Deutung S. 274 - Die nächste Stufe: Das Seiende als Bestand S. 275 - Der Zerfall der Natur und Mensch umfassenden Gesamtordnung S. 276 - Der Umbruch des 14. Jahrhunderts S. 279 - Die Abtrennung der Theologie S. 280 - Zur Gewalt des Wortes S. 282 Das Einzelne und das Allgemeine S. 284 - Das Einssein beim Menschen S. 286 - Die heilsgeschichtliche Natur S. 288 - Die festgestellte Natur S. 291 - Sein ohne Zeit bei Buridan S. 293 - Die Bestimmung des Unbestimmten in Sprache (logos), Natur (physis) und Kunst (techne) S. 294 - Von Aristoteles zu Occam S. 295 Die aristotelische hyle (materia) als Vermögen S. 295 - Der moderne Kausalitätsbegriff S. 296 - Die festgestellte Substanz S. 298 - Ausdehnung, Raumerfüllung, Elementargestalt S. 300 Jenseits des .Bergs' der Materie S. 301 - Der eine ,Raumc des Geistes S. 302
Inhaltsverzeichnis
VIII
Seite
Anhang I: Erstes Statut gegen Occam von 1339 (mit deutscher Ubersetzung)
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Anhang II: Bibliographie
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Zur Universität Paris Zu Wilhelm von Occam Zu Johannes Buridan Zu Petrus Hispanus Zu Nikolaus von Autrecourt Sonstige Sdiriften und Quellen Literatur (allgemein und Einzelfragen)
Anhang III: Personen- und Sachregister a) Historische Personen und ältere Autoren b) Neuere Autoren und lebende Personen c) Sachregister
312 312 316 319 320 321 322
327 327 328 329
Einleitung Die vorliegende Untersuchung geht ursprünglich zurück auf einen im Kreis von Prof. Hochstetten damals Göttingen, ausgesprochenen Hinweis von Prof. Berges, damals ebenfalls Göttingen, heute Berlin, der mich unter besonderer Betonung der hier nicht behandelten politischen Schriften Occams und Buridans auf die Bedeutung des „Magister in artibus" der Universität Paris Johannes Buridan (etwa 1300 bis nach 1358) hinwies. Die daraufhin geplante Biographie Johannes Buridans, deren Betreuung nach der Berufung von Prof. Berges und Prof. Hochstetter nach Berlin bzw. nach Münster freundlicherweise Herr. Prof. Hermann Heimpel, Göttingen, übernahm, mußte nach umfangreicher Materialsammlung und Beginn der Niederschrift aufgegeben werden, da inzwischen die hervorragende, auf umfassender Quellenauswertung beruhende Biographie Buridans von Edmond Faral in der „Histoire litt^raire de France" erschienen war. Das interessanteste Dokument, auf das ich bei meiner für die Biographie gedachten Materialsammlung gestoßen war, schien mir das in der Literatur (bei Michalski, Hochstetter, Boehner, Moody, Preti, Reina u. a.) dem Rektorat Buridans zugeschriebene sogenannte „Nominalistenstatut" der Universität Paris vom 29. Dezember 1340 zu sein. Angeregt vor allem durch zwei Aufsätze von Philotheus Boehner O.F.M. und Ernest A. Moody O.F.M. in den Franciscan Studies, die entgegen der herrschenden Meinung die Ansicht vertraten, das obige Statut sei nicht gegen Occam bzw. vielleicht sogar gegen Nikolaus von Autrecourt gerichtet, sah ich midi zu einer Untersuchung der Quellen über das Statut und zu einem Vergleich des Statutstexts mit den Schriften Occams und Buridans sowie später auch Nikolaus von Autrecourts veranlaßt. Nachdem meine Gegenthese (Occam als Gegner des Statuts), die sowohl auf den damaligen und späteren Quellen über das Statut als auch vor allem auf einem Textvergleich mit den Schriften Occams und Buridans sowie mit dem Logikhandbuch von Petrus Hispanus (des späteren Papstes Johannes XXI.) beruhte, für die ersten drei Absätze des Statuts niedergeschrieben war, wurde die Arbeit leider 1950 durch eine schwere
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Einleitung
Krankheit unterbrochen, die auf Jahre hin eine Wiederaufnahme ausschloß. Der Ermutigung von Herrn Prof. v. Weizsäcker, Hamburg, früher Professor für Physik an der Universität Göttingen, auf dessen Fragestellung nach der Herkunft des Materiebegriffs der klassischen Naturwissenschaft und des neuzeitlichen Realitätsverständnisses meine eigenen Fragen an die „via moderna" des 14. Jahrhunderts in erster Linie zurückgehen, sowie von Herrn Prof. Wilpert, Köln, der unabhängig vom Dissertationszweck eine Veröffentlichung der Arbeit zusagte, durch seine lebhafte Teilnahme und durch sein Occamseminar die Wiedereinarbeitung förderte und mich in einzelnen Punkten der Darstellung beriet, verdanke ich es, daß ich die Arbeit nach jahrelanger Unterbrechung 1966 doch noch abschließen konnte. Ebenso zu danken habe ich Herrn Prof. Zimmermann und Herrn Prof. Volkmann-Schluck, beide Köln, die die von Prof. Wilpert schon angenommene Arbeit nach dessen Tod am 31. Dezember 1966 freundlicherweise übernahmen. Ihren Vorlesungen und Übungen verdanke ich zahlreiche indirekte Anregungen, die mich zu Ergänzungen vor allem der allgemeineren Überlegungen veranlaßten. Die Auseinandersetzung mit Autrecourt sowie mit dem „complexe significabile" Gregor von Riminis und der diesbezüglichen These H. Elies habe ich im Anschluß an die Überarbeitung der Literatur als Ergänzung des mit gleichem Ergebnis schon vorliegenden 6. Kapitels erst nach dem Tod von Prof. Wilpert niedergeschrieben, um die Untersuchung auch gegen diese zwei anderen Thesen Moodys und Elies abzusichern. Obwohl die vorliegende Untersuchung in erster Linie eine Auseinandersetzung mit den genannten Thesen Boehners, Moodys und Elies sowie eine Abklärung der Rolle des zwisdien den Fronten stehenden Johannes Buridan ist, schien sie mir doch nur sinnvoll im Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Versuch, durch einzelne Rückblicke und Vorblicke (vor allem in Kapitel 5 und 6) sowohl die Thematik des Statuts als auch die fast ausschließlich auf logische Fragen beschränkte Fragestellung der genannten Arbeiten wenigstens andeutungsweise in einen umfassenderen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Eines der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit liegt eben darin, daß der neuzeitliche Begriff von Natur und Realität sowie vermutlich audi das technische Denken sich nicht in einer voraussetzungslosen Naturbeobachtung, sondern in einer sogenannten „sprachlogischen" Diskussion des Verhältnisses von Wort und Saclie im Rahmen der damaligen „terministisdien" Suppo-
Einleitung
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sitionslehre herausgebildet haben. Erst diese Auseinandersetzung, die den mittelalterlichen Universalienstreit zugunsten des konzeptualistischen Nominalismus der „via moderna" zu beenden suchte, stellte den Weltentwurf bereit, in dessen Rahmen dann die Formulierung von kausalen Hypothesen und Naturgesetzen möglich wurde. Diese galten und gelten nicht in einer menschlichen Welt von personalen Partnern und von Dingen, die aus dem in der Sprache angelegten Sinngefüge einer soldien Welt heraus verstanden werden, sondern in einer aus dem Sinnzusammenhang der menschlichen Welt herausgenommenen, entsprachlichten Welt bzw. objektiven Natur. Die Naturgesetze sind zwar dem Namen nach noch „Gesetze", d. h. Verhaltensvorschriften einer personalen Autorität, orientieren sich jedoch am Leitbild eines ideenhaften und idealen mathematischen Funktionszusammenhangs und werden nicht durch natürliche Erfahrungen — wie noch in der aristotelischen experientia — sondern zunehmend durch künstliche Experimente, d. h. durch die Nachprüfung von (mathematischen) Hypothesen unter nicht von selber vorkommenden, sondern gestellten Bedingungen bestätigt. Das — u. a. in diesem experimentellen Stellen und Umstellen, Herstellen und Bereitstellen vorkommende — technische Verhalten, das sich hier schon als Voraussetzung und nicht erst als Folge der modernen Wissenschaft andeutet, scheint — vorbereitet in der vom Mittelalter übernommenen aristotelischen Logik — im „sprachtechnischen" Umgang mit den „natürlichen" und „künstlichen" Zeichen des terministisdien Nominalismus zum erstenmal eingeübt und praktiziert worden zu sein. Die logischen Untersuchungen der Scholastik, die sich letztenendes bis in die heutige Logistik fortsetzen, haben in diesem Falle das geistige Rüstzeug und Werkzeug geliefert, mit dem bewaffnet der moderne Mensch den gottgegebenen mittelalterlichen Garten der Natur in eine vom Menschen kontrollierte und neugestaltete Umwelt von Stoffen und Kräften zu verwandeln versucht. Solche und ähnliche Überlegungen, die sich im Gang der Untersuchung meist unversehens ergaben und oft aufdrängten, haben zu einer gewissen Doppelgleisigkeit der anfänglich nur auf Gegner und „Inhalt" des Statuts abzielenden Untersuchung geführt. Die völlige Trennung einer „rein philosophiegeschichtlichen" von einer eher „systematischen" Untersuchung schien mir jedoch weder möglich noch wünschenswert, da sich die Anlässe zu den allgemeinen Fragen meist erst und gerade an der Detailforschung ergeben und umgekehrt die allgemeineren Fragen die Einzelforschung erst rechtfertigen und sinnvoll machen.
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Einleitung
Angesichts von Horizonten, wie sie Heidegger oder auch die philosophische Selbstkritik des cartesianischen Denkens der bisherigen Naturwissenschaften erschlossen haben, ist zudem die traditionelle Terminologie — etwa zur Behandlung des Universalienstreits — zumindest ohne eine Neudeutung kaum mehr ausreichend. Indem Europa — gleichzeitig mit der Ausbreitung seines bisherigen Denkens über den ganzen Erdball — in seinen geistigen Vorläufern das Ende der Metaphysik erfahren hat, lernt es sich langsam nicht nur geographisch von den nicht-europäischen Ländern aus, sondern audi zeitlich im Rücklauf vor die sokratische Philosophie und im Vorlauf in ein nach-metaphysisches Denken gewissermaßen von außen zu sehen. Es kann und konnte nicht die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein, die einzelnen Stadien der Geschichte der Metaphysik, in denen das Sein des Seienden jeweils in epochemachender Weise neuverstanden wurde, herauszuarbeiten oder die Herkunft des am Seienden haftenden metaphysischen Denkens aus der Geschichte der Wahrheit, d. h. aus der Geschichte des geistigen Raums zu bestimmen, i n ' d e m überhaupt erst Seiendes für den Menschen ist. Dennoch konnte ich nicht umhin, die neugewonnene Distanz zu manchen traditionellen Begriffen durch gelegentliche Nebenüberlegungen oder zumindest durch Anführungszeichen anzudeuten. Audi das eigentliche Ziel der Aufsätze von Boehner und Moody, die Ehrenrettung ihres Ordensbruders Wilhelm von Occam gegenüber dem bis heute erhobenen Vorwurf einer „Zersetzung" und „Zerstörung" des scholastischen und vor allem thomistischen Lehrgebäudes, wird sich wohl nur dann bleibend erreichen lassen, wenn die in der Trennung von Theologie und Philosophie und dann von Philosophie und Naturwissenschaft gefährdete oder verlorengegangene Wahrheit nicht durch starres Festhalten an geistesgeschichtlich überholten Positionen, sondern im Uberschaubarwerden der Geschichte der Methaphysik und im rück- und vorlaufenden Hinausgehen über diese auf legitime Weise zurückgewonnen werden kann. Auch unser Statut steht — freilich innerhalb dieser Geschichte der Metaphysik und an einem entscheidenden Stadium derselben — mitten in einer Zeit des geistigen Umbruchs. Die bisherigen universalen Mächte — Kaiser und Papst — haben ihren Höhepunkt überschritten und die Päpste befinden sich nach der erfolgreichen Auseinandersetzung Philipps des Schönen mit Bonifaz VIII. seit 1309 sogar in Avignon. In Westeuropa beginnen sich die modernen Nationalstaaten zu entwickeln und treten die Volkssprachen — etwa mit Dante und Petrarca, die beide Zeitgenossen Occams und Buridans
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sind — neben das bisher allein eines Gebildeten würdige Latein 1 . Die rationale Geldwirtschaft löst die mit persönlichen Bindungen verknüpfte Naturalwirtschaft ab und entzieht dem Feudalismus seinen Boden. Nach dem Vorbild der römischen Kurie und der lombardischen Städte entwickeln sich, zuerst in Sizilien und nun in Frankreich und England die Ansätze zu einem modernen Finanz- und Steuerwesen. Die Städte, mit ihnen die Bürger und mit diesen wiederum ein nicht allein auf Geburt und althergebrachte Ordnung, sondern auch auf die Vernunft und den Standpunkt des Einzelnen gegründetes Denken (ein „Standpunkt", der übrigens auch in der gleichzeitig aufkommenden Perspektive der Malerei sinnfällig wird) treten in den Vordergrund gegenüber der traditionsgebundenen und eher unreflektierten Welt von Adel und Kirche. Paris erlebt mit dem Aufstand des „pr£vot des marchands" Etienne Marcel in gewissem Sinne sogar schon seine erste bürgerliche Revolution. Seine Universität — nach deren Vorbild jetzt in Prag, Krakau und Wien und später auch in Heidelberg und anderen Städten neue Universitäten gegründet werden — erfährt in der der Theologie, Jurisprudenz und Medizin vorgeschalteten Fakultät des „artes liberales", d. h. der freien, nicht dem Broterwerb dienenden, Künste, aus der die spätere philosophische und naturwissenschaftliche und letztenendes auch die wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der heutigen Ordnung hervorgehen, einen unvorstellbaren Massenzulauf an Studenten 2 . Eben diese Fakultät, die als „Unterbau" der Universität mit den sogenannten „vier Nationen" oder Landsmannschaften zusammenfällt und deshalb den Rektor stellt, gewinnt zur Zeit Buridans nicht nur nach langen, schon ins 13. Jh. zurückreichenden Kämpfen universitätspolitisch den Vorrang und Vorsitz gegenüber den bisher herrschenden Theologen 24 , sondern versucht, in der Nebeneinanderstellung von Wissen und Glauben zunächst die alte „Magdrolle" abzuschütteln und, wie die weitere Entwicklung zeigt, auch die geistige Führung zu übernehmen. Mit der neuen Aristotelesrezeption im Anschluß an die Kreuzzüge und die Die Theorie dazu gibt ebenfalls Dante mit seiner (lateinischen!) Kritik am „künstlichen" Latein in seiner Schrift über die Volkssprache („De vulgari eloquentia", in: „Dantis Alagheri opera omnia I I " , Leipzig (Insel) 1921, S. 383 ff. 2 Wenn man nach der Zahl der Magister gehen darf, die z. B. allein in einer an den Papst gerichteten Liste von noch nicht mit Pfründen versorgten Magistern in dieser Fakultät 514 (!) ordentlich lesende Magister (in der Theologie 32, dem Recht 18, der Medizin 46) umfaßte (1283 nur 120, 1348 514, 1362 noch 441). Vgl. H . Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Μ. Α., Berlin 1885/Graz 1956 S. 109/ 123. 2a s. S. 178. 1
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Berührung mit der mittelmeerisch-arabischen Welt gewinnt sie neuen Stoff und neue Bedeutung, nicht zuletzt auch durch die aristotelische Politik und Ethik, die zu den logischen Schriften, der Physik und Metaphysik hinzukommen und die neue Fragestellung nach dem eigenen Staatswesen und der bürgerlichen Moral unabhängig von der Bibel und den Vätern anzuregen und zu nähren vermögen. Kaum zur Herrschaft gekommen, wird freilich die „via antiqua" der traditionellen Logik und des vor allem von Thomas von Aquin und Albert dem Großen eingeführten Aristotelismus sdion wieder von einer neuen Richtung, der weitgehend aus England eingeführten und z. T. von Franziskanern wie Wilhelm von Occam getragenen „via moderna" in Frage gestellt, die mit der „via antiqua" in einen jahrhundertelangen „Wegestreit" gerät. Diese „via moderna", die nicht so sehr von erfahrungswissenschaftlichen Ansätzen als von logischen Fragen herkommt, versucht den mittelalterlichen Streit um die Realität der sogenannten Universalien dadurch zu lösen, daß sie diese nicht nur für „bloße Worte" hält, wie der „vokale Nominalismus" Roscellins und auch — mit Einschränkung durch die Zuordnung von „sermo" zum „conceptus" bzw. „intellectus" sowie durch den „objektiven" Hintergrund des „status" — der Nominalismus Abaelards, sondern zugleich in einem, freilich von der Wahrnehmung abgeleiteten „konzeptualistischen Nominalismus" psydiologisch zu erklären sucht. Mit ihrer neuen Metaphysik und ihrer in der Tat von der eigenen Sinneswahrnehmung und Erfahrung ausgehenden Haltung droht diese neue Richtung, die sich in „heimlichen Zusammenkünften" und „nächtlichen Sitzungen" auch an der Pariser Universität ausbreitet, die Tradition des Universalienrealismus und vor allem audi die Autorität des Aristoteles und der inzwischen an ihn gebundenen Theologie und Kirche, in gewissem Sinne sogar jegliche Autorität, in Frage zu stellen. Trotz anscheinend begeisterter Aufnahme in den „unteren" Kreisen der zugereisten, soziologisch offeneren und somit sowieso schon autoritätsfremden Studenten findet die neue Lehre daher den heftigen Widerstand der offiziellen Stellen. Diese sehen in ihr wie in einer Vorahnung der kurz darauf in Europa wütenden, Hunderttausende c^der Millionen von Opfern fordernden „Schwarzen Pest", der 1349 auch der von England nach Avignon zitierte und von dort zu Ludwig dem Bayern nach München geflohene „Vater" der Neuerer, Wilhelm von Occam, erliegt3, 3
am 9. 4. 1349; vgl. Rud. Hohn O. F. M.: Wilhelm von Occam in München, Franziska Studien 32, 1950, S. 142—155.
Einleitung
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eine „pestbringende Krankheit" und „verderbenbringende Saat", der man schleunigst — natürlich durch Verbote — vorbeugen muß. In diesem Zusammenhang und dieser Atmosphäre der Bekämpfung „eingeschleppter" „anglikanischer Subtilitäten" entstand — ein Jahr nach einem vorbeugenden Generalverbot der Schriften Occams4 und übrigens auch ein Jahr nach Beginn des hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich — unser vom 29. Dezember 1340 datiertes Statut der Pariser Fakultät der freien Künste. Dieses Statut gegen die „verderblichen Spitzfindigkeiten" gewisser Leute, die „mehr wissen wollen als nötig ist" und die mit diesen Spitzfindigkeiten zu „unerträglichen Irrtümern nicht nur in der Philosophie, sondern auch bei der Auslegung der Heiligen Schrift" Anlaß geben, galt lange Zeit als eine gegen Wilhelm von Occam gerichtete Spezifizierung des allgemeinen Verbots von 1339. In den erwähnten Aufsätzen in den Franciscan Studies haben Boehner und Moody dies jedoch bestritten. Das Statut sei nicht gegen Occam, sondern, wie Moody meint, vermutlich gegen den 1346/7 offiziell verurteilten Neuerer Nikolaus von Autrecourt aus Lothringen gerichtet. Mit diesem Statut wollen wir uns daher im folgenden beschäftigen. Wir schicken den lateinischen Wortlaut mit deutscher Ubersetzung voraus, präzisieren dann die Frage, ziehen die einschlägigen Quellen über das Statut zu Rate und untersuchen schließlich nacheinander in sechs Kapiteln die sechs Absätze mit den sechs einzelnen Verboten unseres Statuts. Die Behandlung des sechsten Absatzes führt dabei notwendig auch zur Beschäftigung mit Person und Lehre des in ihm zitierten Nikolaus von Autrecourt sowie zu einer Untersuchung des sogenannten „complexe significabile" Gregors von Rimini, auf das H. Elie das Zitat Autrecourts bezieht. Nach dem ersten Abschnitt zur Situation des Statuts und dem ausführlichen zweiten Abschnitt zum Text des Statuts behandelt der dritte Abschnitt als Zusammenfassung nochmals getrennt die drei Fragen — nach dem Gegner des Statuts, — nach der Stellung Buridans und — nach der geistesgeschichtlichen Situation.
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Wir geben den Text dieses Statuts vom 25. 9. 1339 im Anhang -wieder (lat. u. dt.).
Wortlaut des Statuts (mit Übersetzung)
Statutum Facultatis Artium De Reprobatione Quorumdam Errorum Ockanicorum 1340 Dec. 29 Parisiis Universis presentes litteras inspecturis omnes et singuli magistri actu regentes Parisius in artium facilitate salutem in Domino. Erroribus obviare, quantum potest, unusquisque tenetur, et viam omnimode ad eos precludere, maxime cum ex hiis possit agnitio veritatis occultari. Verum quia ad nostram noviter pervenerit notitiam, quod nonnulli in nostra artium facultate quorundam astutiis perniciosis adherentes, fundati non supra firmam petram, cupientes plus sapere quam oporteat, quedam minus sana nituntur seminare, ex quibus errores intolerabiles nedum circa philosophiam, sed et circa divinam Scripturam, possent contingere in futurum: hinc est, quod huic morbo tam pestifero remediare cupientes eorum fundamenta prophana et errores, prout potuimus, collegimus, statuentes circa illa per hunc modum:
s. Kap. I Videlicet quod nulli magistri, baccalarii vel scolares in artium faculs 30 · täte legentes Parisius audeant aliquam propositionem famosam illius actoris cujus librum legunt, dicere simpliciter esse falsam, vel esse falsam de virtute sermonis, si crediderint quod actor ponendo illam habuerit verum intellectum; sed vel concedant eam, vel sensum verum dividant a sensu falso, quia pari ratione propositiones Biblie absoluto sermone essent negande, quod est periculosum. Et quia sermo non habet virtutem, nisi ex impositione et usu communi actorum vel aliorum, ideo talis est virtus sermonis, qualiter eo actores communiter utuntur et qualem exigit materia, cum sermones sint recipiendi penes materiam subjectam.
Übersetzung
Statut der Fakultät der Freien Künste zur Zurückweisung gewisser occamistischer Irrlehren Paris, den 29. Dezember 1340 Allen künftigen Lesern dieses Schriftstücks wünschen sämtliche Magister der Fakultät der freien Künste zu Paris Heil im Herrn. Jedermann ist gehalten, Irrtümern und Irrlehren (erroribus) nach Kräften entgegenzutreten und den Zugang zu ihnen mit allen Mitteln zu verschließen, ganz besonders, wenn durch diese Irrlehren die Erkenntnis der Wahrheit verdunkelt werden könnte. Nun ist uns aber neuerdings zur Kenntnis gekommen, daß einige Angehörige unserer Fakultät der freien Künste, die gewissen verderblichen Spitzfindigkeiten (astutiis perniciosis) anhängen, nicht vom festen Felsen (der Wahrheit) ausgehen und mehr wissen wollen als nötig ist, gewisse ungesunde Keime (quaedam minus sana) auszustreuen suchen, aus denen künftig unterträgliche Irrtümer nicht nur im Bereich der Philosophie, sondern auch im Bereich der Heiligen Schrift erwachsen könnten. Im Bestreben, dieser so pestbringenden Krankheit (morbo tarn pestifero) Abhilfe zu schaffen, haben wir daher, so gut wir es vermochten, ihre unheiligen Grundlagen und Verirrungen (fundamenta prophana et errores) zusammengetragen und setzen dazu nun in aller Form folgendes fest: Kein Magister, Baccalaureus oder Scholar, der in Paris in der s. Kap. I Fakultät der freien Künste Vorlesungen hält, möge sich unterstehen, S. 30 einen bekannten Satz eines Autors, über dessen Buch er Vorlesungen hält, für schlechthin falsdi (simpliciter falsa) oder für wörtlich genommen falsch (de virtute sermonis falsa) zu erklären, wenn er glaubt, daß der Autor beim Aufstellen dieses Satzes das Richtige meinte. Vielmehr soll er entweder diesen Satz anerkennen oder die richtige und die falsche Bedeutung unterscheiden, denn mit der gleichen Begründung müßten sonst Sätze der Bibel dem reinen Wortlaut nach für falsch erklärt werden und das ist gefährlich. Und da die menschliche Rede (sermo) ihre
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Wortlaut des Statuts
Item quod nullus dicat simpliciter vel de virtute sermonis omnem S- 35 propositionem esse falsam, que esset falsa secundum suppositionem personalem terminorum, eo quod iste error ducit ad priorem errorem, actores enim sepe utuntur aliis suppositionibus.
s. Kap. II
s. Kap. III Item quod nullus dicat quod nulla propositio sit distinguenda, s 92 · quoniam hoc ducit ad predictos errores, quia si discipulus unum propositionis sensum recipit, et doctor alium intellexerit, discipulus falso informabitur, donec propositio distinguetur. Similiter si opponens unum sensum recipiat, et respondens alterum sensum intelligat, disputatio erit ad nomen tantum, si non fiat distinctio.
s.Kap. IV s 105
·
Item, quod nullus dicat propositionem nullam esse concedendam, si non sit vera in ejus sensu proprio, quia hoc dicere ducit ad predictos errores, quia Biblia et actores non semper sermonibus utuntur secundum proprios sensus eorum. Magis igitur oportet in affirmando vel negando sermones ad materiam subjectam attendere, quam ad proprietatem sermonis, disputatio namque ad proprietatem sermonis attendens nullam recipiens propositionem, preterquam in sensu proprio, non est nisi sophistica disputatio. Disputationes dyalectice et doctrinales, que ad inquisitionem veritatis intendunt, modicam habent de nominibus sollicitudinem.
s. Kap. V Item, quod nullus dicat scientiam nullam esse de rebus que non s 121 · sunt signa, id est, que non sunt termini vel orationes, quoniam in scientiis utimur terminis pro rebus, quas portare non possumus ad disputationes. Ideo scientiam habemus de rebus, licet mediantibus terminis vel orationibus.
Wortlaut des Statuts
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Bedeutungskraft (virtutem) nicht von sidi aus, sondern lediglich durdi willentliche Festsetzung (ex impositione) und durch den allgemeinen Sprachgebrauch (ex usu communi) der Autoren oder der anderen Menschen hat, richtet sich, der Wortsinn (virtus sermonis) nach dem allgemeinen Sprachgebrauch der Autoren und nach der zur Rede stehenden Sache (materia), denn man muß die Äußerungen derMensdien(sermones) von der zugrundeliegenden Sache her (penes materiam subjectam) verstehen. Desgleichen soll niemand behaupten, ein Satz sei schlechthin (simpliciter) oder wörtlich genommen (de virtute sermonis) falsch, wenn er nach der personalen Supposition der Termini (secundum suppositionem personalem) falsch wäre, denn die Autoren brauchen auch oft andere Suppositionen. Desgleichen soll niemand behaupten, kein Satz sei nach seinen verschiedenen Bedeutungen hin zu unterscheiden. Das führt zu den schon genannten Irrtümern, denn wenn der Schüler den einen Sinn eines Satzes versteht und der Lehrer den anderen meint, wird der Schüler falsdi unterrichtet, solange der Satz nicht nach seinen verschiedenen Bedeutungen hin unterschieden wird. Ähnlich ist es, wenn der Opponent in der Diskussion die eine Bedeutung verstanden, der Verteidiger der These aber die andere gemeint hat. Wenn man hier keine Unterscheidung (distinctio) vornimmt, ist die ganze Disputation ein bloßer Streit um Worte. Desgleichen soll niemand behaupten, man dürfe keinen Satz anerkennen, der nicht in seinem eigentlichen Sinn (sensu proprio) richtig sei. Das führt zu den genannten Irrtümern, denn die Bibel und die Autoren verwenden die Worte nicht immer nach ihrer eigentlichen Bedeutung. Wenn man einer Äußerung zustimmt oder sie verneint, sollte man daher nicht so sehr auf die eigentliche Bedeutung der Worte (ad proprietatem sermonis) als vielmehr auf die zugrundeliegende Sache (materiam subjectam) achten. Eine Disputation, die nur auf die eigentliche Bedeutung der Worte aus ist und keinen Satz gelten läßt, der nicht in seinem eigentlichen Sinne richtig ist, wird zur bloßen Sophisterei. Bei dialektischen Disputationen und Lehrdisputationen, in denen es um die Suche nach der Wahrheit geht, achtet man nicht allzu sehr auf Worte (de nominibus). Desgleichen soll niemand behaupten, es gäbe kein Wissen von den Dingen (de rebus), sondern immer nur von den Zeichen (signa), d. h. von den Begriffen und Ausdrücken (termini vel orationes), denn in den Wissenschaften benutzen wir die Begriffe (terminis) für die Dinge (pro rebus), die wir nicht zu unseren Disputationen tragen können. Unser
s. Kap. II s 35 ·
s. Kap. III s 92 ·
s. Kap. IV S. 105
s. Kap. V s 121 ·
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s. Kap. VI Item, quod nullus asserat absque distinctione vel expositione, quod S. 168 Socrates et Plato, vel Deus et creatura nichil sunt 1 , quoniam verba prima facie male sonant, et quia talis propositio sensum unum habet falsum, videlicet si negatio in hac dictione „nichil" implicita intelligeret cadere non solum super ens singulariter, sed et supra entia pluraliter.
Si quis autem contra premissa, vel aliquod premissorum attemptare presumpserit, a nostro consortio ex nunc prout ex tunc resecamus et privamus, resecatum et pricatum haberi volumus, salvis in omnibus que de doctrina Guillelmi dicti Ockam alias statuimus 2 , que in omnibus et per omnia volumus roboris habere firmitatem. Datum Parisius sub sigillis quatuor nationum, videlicet Gallicorum, Picardorum, Normannorum et Anglicorum, una cum signeto rectoris Universitatis Parisiensis, anno Domini MCCCXL, die veneris post Nativitatem Domini.
Arch. Univers. Paris., Reg. 94, no 59, p. 67, sub rubrica ut supra. — Bulaeus IV, 265. — In Reg. procur. nat. Anglic. (Archiv f. Literatur und Kirchengesch., V, 261) legimus ad an. 1341, Jan. 13-Febr. 10: „Tempore procurationis mag. Henrici de Unna Daci sigillatum fuit statutum facultatis contra novas opiniones quorundam, qui vocantur Occhaniste, in domo dicti procuratoris, et publicatum fuit idem statutum coram Universitate apud Predicatores in sermone." — In Bibl. max. Patr., XXVI, 482, exstat documentum mutilum, continet enim tantum paragraphos: „Quod nullus magister, baccalareus vel scolasticus... entia pluraliter", sub. rubrica: „Isti articuli quid secuntur fuerunt condemnati Parisius in facultate artium MCCC XL I U I (sie) in festo Nativitatis Domini", et sie etiam, cum textu corrupto, inveniuntur in calce quarti libri Sententiarum, edd. vet. 1
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Quod et magister Nicolaus de Ultricuria (infra no. 1124) asseruit. Nicolaus an. 1340 Parisiis legebat. Cf. no. 1041. V. supra no. 1023 ( = Anhang I dieser Untersuchung) S. 276 ff. Denifle et Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis, im folgenden abgekürzt „Ch. U . P."
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Wissen ist daher ein Wissen von den Dingen, wenn auch auf dem Weg über die Begriffe oder Ausdrücke. Desgleichen möge niemand ohne eine Bedeutungsunterscheidung s. Kap. VI oder Erläuterung (absque distinctione vel expositione) sagen, daß „So- S. 168 krates und Plato" oder „Gott und die Kreatur" „nichts" seien1, denn diese Worte klingen dem ersten Anschein nach falsch und ein solcher Satz hat auch eine falsche Bedeutung, nämlich dann, wenn die in dem Ausdrude „nichts" (nichil) enthaltene Verneinung sich nicht nur auf Seiendes als Einzelnes (super ens singulariter), sondern auch auf Seiendes im Sinn von mehreren Dingen (supra entia pluraliter) bezieht. Sollte sich jedoch jemand anmaßen, gegen das Vorstehende oder einen Teil des Vorstehenden zu verstoßen, dann schließen wir ihn schon jetzt mit Wirkung zu dem betreffenden Zeitpunkt aus unserem Konsortium aus und wollen, daß er ausgestoßen und ausgeschlossen bleibt, unbeschadet all dessen, was wir anderwärts schon über die Lehre Wilhelms genannt Ockam festgesetzt haben 2 , was in all seinen Teilen und für all seine Teile weiterhin voll in Kraft bleiben soll. Geschehen zu Paris unter den Siegeln der vier Nationen, d. h. der gallischen, picardischen, normannischen und anglikanischen Nation, zusammen mit dem Handsiegel des Rektors der Universität Paris, im Jahr des Herrn MCCCXL am Freitag nach der Geburt des Herrn. Arch. Univers. Paris, Reg. 94, no. 59 S. 67 unter dem obigen Titel — Bulaeus IV 265. — Im Prokuratorenregister der anglikanischen N a tion (Archiv f. Literatur u. Kirchengesch. V, 261) lesen wir zum Jahr 1341, Januar 13 — Februar 10: „Als Magister Henricus de Unna aus Dacien Prokurator war, wurde im Hause des Prokurators ein Statut der Fakultät gegen gewisse neue sogenannte occamistische Lehrmeinungen gesiegelt, das dann vor der Universität bei den Dominikanern in der Predigt verkündigt wurde." — In der Bibl. max. Patr. XXVI, 482, gibt es eine beschädigte Urkunde, die nur die Abschnitte enthält: „Quod nullus magister, baccalareus vel scolasticus . . . entia pluraliter" und unter dem Titel steht: „Diese nachfolgenden Artikel wurden in Paris in der Fakultät der freien Künste im Jahre MCCC XL I U I (sie) beim Weihnachtsfest verurteilt" und ebenso finden sich die Artikel mit entstelltem Text auch am Rand des vierten Sentenzenbuches, edd. vet. 1
Was auch der Magister Nicolaus von Autrecourt (vgl. unten N o . 1124) behauptet hat. Nicolaus las im Jahr 1340 in Paris. Vgl. N o . 1041. 2 Vgl. oben N o . 1023. ( = Anhang I dieser Untersuchung) S. 277 ff. Denifle et Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis (im folgenden abgekürzt „Ch. U. P.". Tomus II, N o . 1042, S. 505 f.
ERSTER ABSCHNITT Die Situation des Statuts
Quellen, Überlieferung, Literatur Wer sind nun diese Neuerer, die das Statut angreift? Der Text spricht von „einigen Angehörigen unserer Fakultät der freien Künste". Welche Schule, welcher Lehrer steht hinter ihnen? Der Titel des Statuts — „de reprobatione quorundam errorum Ockanicorum" — läßt auf Wilhelm von Occam und seine Anhänger schließen. Wilhelm von Occam aus der südostenglischen Grafschaft Surrey, der von Papst Johannes XXII. nach Avignon zitiert worden war und von dort nach vierjährigem Warten am 28. Mai 1328 zusammen mit seinem französischen Ordensgeneral Michael de Cesena im Zusammenhang mit dem Armutsstreit zwischen Franziskanern und Papst an den Hof Ludwigs des Bayern floh (der ihn „mit dem Schwert" verteidigen sollte so wie ihn Occam „mit der Feder" verteidigen wollte und dann auch in zahlreichen Schriften gegen die weltlichen Ansprüche des Papstes verteidigte), gilt mit seiner Logik als der Vater der sogenannten „via moderna". Im Anschluß an den früheren Pariser Nominalismus löst sich dieser „neue Weg" von der „via antiqua" der Uberlieferung ab und vertritt, von der Logik oder genauer vom Verhältnis zwischen Wort und Sache ausgehend, eine neue „nominalistische" Schule, deren Denkweise eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der modernen Naturwissenschaften wurde. Occams Lehre war schon ein Jahr zuvor in einem anderen Statut verboten worden, das ohne Erwähnung einzelner Punkte, aber unter Namensnennung Occams die heimliche oder gar öffentliche Verbreitung seiner Lehre untersagte1. Auf dieses vorhergehende Statut bezieht sich vermutlich die Bemerkung im Schlußabsatz unseres Statuts: „ . . . salvis in omnibus que de doctrina Guillelmi dicti Ockam alias statuimus, que in omnibus et per omnia volumus roboris habere firmitatem."
ι Chartularium Universitatis Parisiensis, hrsg. v. Denifle und Chatelain (nachstehend „Ch. U. P." genannt), Bd. II N o . 1023, S. 485 von 1339 September 25 (s. u. Anhang I) S. 276 ff.
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Die Situation des Statuts „ . . . unbeschadet all dessen, was wir anderwärts schon über die Lehre Wilhelms genannt Ockam bestimmt haben und was in all seinen Teilen und für all seine Teile weiterhin voll in Kraft bleiben soll 2 ."
Dieser Vorbehalt würde sich am besten so verstehen lassen, daß das vorhergehende allgemeine Verbot der Occamschen Lehre nicht durch die jetzige Spezifizierung einzelner Punkte auf diese Punkte eingeschränkt •werden soll. Es spricht also zunächst alles dafür, daß unser Statut ganz oder teilweise gegen Occam oder zumindest gegen „occamistische" Lehren gerichtet ist. Eben dies wird jedoch von der neueren Forschung bestritten. Den ersten Schritt auf diesem Weg geht Hochstetten In wenigstens einem Punkte stimme die Haltung des Statuts mit der vermeintlich angegriffenen Haltung Occams überein3. Einen Schritt weiter geht dann der inzwischen verstorbene Ordensbruder Occams, Philotheus Boehner, in den „Franciscan Studies": Danach ist das Statut nicht in einem, sondern in allen wesentlichen Punkten mit Occams Lehre einig. Es sei nicht gegen Occam selbst, wenn auch
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Ch. U. P. II, No. 1042, S. 505; audi die Herausgeber verweisen an dieser Stelle in einer Anmerkung auf das obengenannte Statut von 1339 Sept. 25. Zu Occams Flucht vgl. u. a. seinen Brief vom 15. Mai 1334 an das Ordenskapitel in Assisi zur Rechtfertigung seines Nichterscheinens, ed. K. Müller in: Zeitschrift für Kirchengeschidite 6, 1883 S. 108 ff., zusammen mit anderen Dokumenten. Occam blieb in München, wo er 1349, vermutlich an der Pest, gestorben ist. Zur Verurteilung seiner Thesen, insbesondere über die Gleichsetzung von »Substanz" und „Quantität", vgl. A. Pelzer: „Les 51 articles de G. Occam censures etc." in: Revue d'histoire ecclesiastique 18, 1922, S. 240—70, sowie C . K . B r a m p ton: Personalities at the Process against Ockham at Avignon 1324—26, in: Franciscan Studies 25, 1966, S. 4—25. Zu Occams Schriften und ihrer Datierung vgl. vor allem Erich Hochstetter: Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre W. v. Occams, Berlin u. Leipzig 1927, Ph. Boehner O. F. M.: Der Stand der Ockham-Forschung in: Franziskanische Studien 34, 1952 S. 12—31 und in: Collected Articles on Ockham, ed. Ε. Μ. Buytaert Ο. F. Μ., St. Bonaventure, Ν. Y., Löwen u. Paderborn 1958 sowie C. K. Brampton: The probable order of Ockham's non-polemical works, in: Traditio 19, 1963 S. 469—83. Einen Ansatz für die innere Einheit der sonst immer getrennt behandelten theologisch-philosophischen und kirdienpoltisch-polemischen Schriften zeigt Wilhelm Kölmel in dem schönen Buch Wilhelm Ockham u. seine kirchenpolitischen Schriften, Essen 1962. Die sonstige Occam-Literatur ist zu zahlreich, um hier genannt zu werden. E. Hochstetter: Occam-Forschung in Italien. Zft. f. philos. Forschung Bd. 1, Reutlingen 1946, S. 571.
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wahrscheinlich gegen einige „Occamisten" gerichtet, die Occams Lehren übertrieben und überspitzt hätten 4 . Den letzten Schritt auf diesem Weg einer Versöhnung des Statuts mit Occam macht schließlich ein weiterer Ordensbruder Occams und Boehners, E. A. Moody: Das Statut stimme in allen, nicht nur in den wesentlichen Punkten mit Occam überein5. Moody vergleicht Absatz für Absatz des Statuts mit Stellen Occams. Auch die Konzession, das Statut sei zwar nicht gegen Occam selbst, aber doch wenigstens gegen die „Occamisten" gerichtet, macht Moody nicht mehr. Er versucht vielmehr zu zeigen, daß sich das Statut gegen Nikolaus von Autrecourt richte, bei dem das zunächst seltsam klingende Zitat aus dem sechsten Absatz unseres Statuts zu finden ist6. Dieser Nikolaus von Autrecourt sei nicht — wie man bisher meinte — ein Anhänger, sondern vielmehr ein entschiedener Gegner der Occamschen Lehre gewesen, jedenfalls in der Form, in der diese Lehre von einem Ordensbruder Occams in Paris vertreten worden sei. Die ausdrückliche Wiederholung des Gesamtverbots der Occamschen Lehren am Schluß unseres Statuts versucht Moody folgendermaßen zu erklären: Da Nikolaus von Autrecourt in Wahrheit nicht ein Anhänger, sondern ein Gegner Wilhelms von Occam gewesen sei, hätten manche vielleicht aus der Verurteilung Autrecourts voreilig auf einen „Freispruch" seines Gegners Occam schließen können. Um einem solchen Rückschluß vorzubeugen, habe man das Verbot der Occamschen Lehren in dem Statut gegen Autrecourt sicherheitshalber nochmals wiederholt. So gesucht die letztere Argumentation klingt, hätte diese These jedoch den Vorteil, daß damit ein anderer Widerspruch gelöst würde. Als der Rektor, der das Statut unterzeichnet hat, gilt gewöhnlich Johannes Buridan, ein damals bekannter Magister der Fakultät der „artes liberales", der sogenannten „Artistenfakultät", der mehrfach — so * Ph. Boehner: „Ockhams Theory of Supposition and the Notion of Truth", Franciscan Studies 1946, S. 277, und in der Sammlung „Ph. Boehner: Collected Articles on Ockham", ed. F. M. Buytaert O. F. M., The Franciscan Institute, St. Bonaventure Ν . Y., Löwen und Paderborn 1958, S. 232 ff. 5 Ε. Α. Moody: „Occam, Buridan and Nicholas of Autrecourt", Franciscan Studies 7» 1947, S. 113—146. 6 „quod Socrates vel Plato, vel Deus et creatura nichil sunt"; schon die Herausgeber weisen in einer Anmerkung hierzu auf Nikolaus von Autrecourt hin; vgl. Ch.U.P. Bd. II N o . 1124 und die verurteilten Sätze bei J. Lappe: Nikolaus v. Autrecourt, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. 6, Münster 1908, S. 34*: „Item dixi in quadam disputatione quod Deus et creatura (non sunt ali) quid" und S. 41*: „Item quod Deus et creatura non sunt aliquid".
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auch im Jahr 13407 — das Rektorenamt bekleidete, diplomatische Missionen im Namen der Universität und des Königs durchführte, schon zu Lebzeiten zu hohem Ansehen und reichen Pfründen gelangte und in der Sage — als Held eines Liebesabenteuers in „Tour de Nesle" und als Gründer der Universität Wien — sowie im Gleichnis von „Buridans Esel8" bis heute fortlebt9. 7
Vgl. Auctuarium zum Ch. U. P. col. 41 Z. 25. Vermutlich auf Grund dieser Quelle gilt Buridan in der gesamten Literatur von Duhem und Michalski bis M. E. Reina als Unterzeichner unseres Statuts. Zum genauen Wahldatum sowie zum Ende von Buridans Rektorat vgl. jedoch unten S. 70 f. β Dieses Gleichnis von dem zwischen zwei gleich großen Heubündeln unentschieden verhungernden Esel, das sich sowohl für als auch gegen die Willensfreiheit auslegen läßt, ist in den bisher bekannten zahlreichen Schriften und Manuskripten Buridans noch nicht gefunden worden. Zum gleichen Gedanken — ohne den Esel — vgl. Aristoteles: De caelo II 13, S. 295 b 32 und Dante: Parad. IV. Buridans Haltung zur Freiheit ist sehr gut dargestellt bei Edward J. Monahan: Human liberty and free will according to John Buridan, Medieval Studies 16, 1954 S. 72—86. Vgl. ferner: James J. Walsh: Is Buridan a sceptic about free will? Vivarium 2, Assen 1964 Sfl 50—61. 9
Vgl. die Biographie Buridans von Ε. Faral in: Histoire litteraire de la France, Bd. 38, Paris 1949 sowie als Sonderdruck. Die in der Bibiliothfcque de 1' Ecole des Chartes LI, 201 und an anderen Stellen angezeigte Dissertation von Camille Bloch über „Jean Buridan, philosophe de 14£me siecle" vom 30. Januar 1890 ist nicht gedruckt worden und auch im Original verlorengegangen (Schriftliche Auskunft der Ecole Nationale des Chartes vom 23. 5. 1950). Nach Birkenmaier (Philos. Jahrbuch d. Görres-Ges. 1922, S. 89) hat auch K. Midialski eine „umfangreiche" Monographie über Buridan verfaßt, die jedoch damals „immer noch nicht veröffentlicht" war. Vgl. dazu jedoch M. Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben III, München 1956, S. 222, wonach die Arbeit „nicht verwirklicht" wurde. (Poln. Inhaltsangabe des geplanten Werks in den Sitzungsberichten d. Krakauer Akademie, Jg. 1916, Nr. 10, S. 25—34). Zur Sage über den Tour de Nesle vgl. u. a. P. Duhem: Etudes sur Leonard de Vinci I I I : Les pricurseurs Parisiens de Galilee, Neuauflage Paris 1955, S. 16 sowie Michel Zevaco: Buridan, le h£ros de la Tour de Nesle, Tallandier 1952. Die von H a u ^ a u angenommene Flucht Buridans nach Wien wird schon von H . Denifle und P. Duhem abgelehnt (vgl. Grabmann, a.a.O., III, S. 221). Sinn und symbolischer Kern der Sage liegt wahrscheinlich in der dortigen Verbreitung von Buridans Schriften: Vor allem Buridans Physikkommentar gehörte dort zur Pflichtlektüre (vgl. Grabmann a. a. O. S. 225) und ein anderer, jüngerer Nominalist, der stark von Occam, Buridan und Nikolaus von Oresme beeinflußte spätere Bischof von Halberstadt, Albert von Sachsen, war erster Wiener Rektor (1365/66) und maßgeblich an der Gründung der Universität beteiligt. Ebenfalls nach Wien gingen zwei weitere Pariser Magister aus der Schule Buridans, Heinrich v. Hainbuch (v. Langenstein) und — auf dem Weg über Prag — Heinrich v. Oyta (beide t 1397).
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Nach Martin Grabmann war Johannes Buridan „einer der bedeutendsten Philosophen und der fruchtbarste Aristoteleserklärer des 14. Jahrhunderts, wenn nicht der ganzen Scholastik10. Befeuert durch nationale Begeisterung hat Pierre Duhem und in großartigen problemgeschichtlichem Einzeluntersuchungen hat Anneliese Maier gezeigt, welche Bedeutung Buridans Schriften, die durch seine Schüler auch an die damals neugegründeten Universitäten Wien, Krakau und Heidelberg gelangten und die von Florenz über Köln bis Schottland „Hunderte von Jahren von Tausenden von Studenten" gelesen wurden (mit hoher Wahrscheinlichkeit audi von Kopernikus und Galilei) für die Herausbildung der modernen Naturwissenschaften hatten11. Audi in dem einzigen mir bekannten kritischen Urteil gegenüber der „Originalität" und „Tiefe" Buridans (das vielleicht nicht zuletzt auf eine gewisse anglo-amerikanische Reaktion gegen den überbordenden Nationalstolz Duhem's zurück-
Die von P. Duhem vorgenommene und nodi in den neuesten Auflagen (audi im „Systeme du Monde", Bd. VI) beibehaltene Trennung in einen Jean Buridan 1 und II" (der zweite um 1400) mit einer entsprechenden Unterteilung seiner Werke (vor allem einer Abtrennung des Ethik- und Politikkommentars) ist schon von Midialski durch Zitate über gegenseitige Bezugnahme von Buridans Werken aufeinander 1922 als „endgültig unhaltbar" bezeichnet worden (Vgl. K. Midialski: Les courants philosophiques έ Oxford et Paris, in: Bulletin International de 1* Acadimie polonaise des sciences et des lettres, classe de philologie, d'histoire et de philosophie, ann6e 1919, Krakau 1922, S. 81 f.), was nidit hindert, daß der Name Buridan mit anderem oder demselben Vornamen später nochmals auftaucht. ίο M. Grabmann: Methoden und Hilfsmittel des Aristotelesstudiums im Mittelalter, Sitzungsber. d. Bayr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt., Mündien 1939 S. 50 f. und: Die mittelalterlidien Kommentare zur Politik des Aristoteles, Sitzungsber. d. Bayr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt. 1941, Bd. II, Heft 10 S. 36. 11 Vgl. P. Duhem a. a. O. (Etudes sur Leonard de Vinci III) und Le Systeme du Monde — Histoire des doctrines cosmologiques de Piaton ä Copernic, insbesondere Bd. V I I : La physique parisienne au 14£me siecle (I), Paris 1957, wo audi unser Statut in Übersetzung wiedergegeben und diskutiert wird. Zu den zahlreichen Arbeiten Anneliese Maiers, insbesondere über die Begründung des allein von der causa efficiens ausgehenden Kausalitätsbegriffs der neuzeitlichen Wissenschaft bei Buridan und seine Impetuslehre, vgl. die Bibliographie. Zu Florenz vgl. ferner: „E. G." (audi im Impressum nicht aufgelöste Abkürzung): Jean Buridan, in: Giornale critico di filosofia italiana 37, Florenz 1958, S. 153 f.; zu SAottland vgl. James J. Walsh: Buridan and Seneca, in: Journal of the History of Ideas, 27, New York 1966, S. 23—40, dort S. 24. Zu Köln vgl. Etienne Gilson: La philosophie au Moyen ige des origines patristiques h la fin du 14ime si£cle, 2 eme id. τέν. et augm., Paris 1947, S. 674, wonach Buridans Logik 1398 in Köln zum Pflichtlektüre gehörte. Nach Heidelberg gelangten Buridans Schriften durch seinen Schüler Marsilius von Inghen, den ersten Rektor Heidelbergs.
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zuführen ist) gibt C. W. Jones zu, daß Buridan der typische Durchschnittsrepräsentant einer wichtigen Epoche (the academic average of a most important period) gewesen sei und durchaus eine Zwischenstellung zwischen Aristoteles und Newton eingenommen habe12. Johannes Buridan gilt nun jedoch als einer der führenden Vertreter des Nominalismus der damaligen Zeit. So wie Occam als „Vater", so wird auch Buridan als „Erfinder" und zumindest als Vertreter und Verbreiter der „via moderna", der neuen Lehre, gerühmt13. Die Zusammengehörigkeit Occams und Buridans hat sogar dahin geführt, daß ein späterer Sammler solcher Verurteilungen von „Irrlehren", Du Plessis d'Argentre, im 18. Jh. meint, das Statut von 1339 sei gegen Buridan und seine Schüler gerichtet gewesen. Buridan habe die von Occam erneuerte nominalistische Lehre der Pariser Schulen überliefert und sei in Parteigegensatz gegen die alten, dem Aristoteles anhängenden Akademiker geraten. Sein Name sei in dem Statut nur verschwiegen und die Lehre unter dem Namen Occams verurteilt worden 14 . Der Rektor gab gewöhnlich die Initiative zu einem Statut, beauftragte — falls nötig — eine Deputation mit dem Studium der betreffen-
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C. W. Jones: Besprechung zu Moody's Ausgabe von Buridans: „Quaestiones super Libris Quattuor de Caelo et Mundo" (Mass. 1942) in: American Journal of Philology, Bd. 66, Baltimore 1945, S. 82—24. „Buridanus, maximus Philosophus, qui invenit viam modernorum." (Rerum Familiarumque Belgicorum Chronicon Magnum, coll. et ed. Joh. Pistorius, Frankfurt. M. 1654, S. 293 2 . 25. — Die Stelle wird wörtlich und ohne Kritik zitiert von Cesar Egassius Bulaeus: Historia Universitatis Parisiensis, Paris 1668. Vgl. auch die Äußerung eines Schülers und Zeitgenossen von Buridan, des oben schon genannten ersten Rektors der Universität Heidelberg (1386), Marsilius von Inghen („Oratio dictiones, clausulas et elegantias oratorias distinctis caracterum notis signatas complectens", Heidelberg 1499, zitiert nach dem Dictionnaire von Pierre Bayle, Paris 1697, 11. Aufl. Paris 1820 unter dem Stichwort „Buridan"): „Nolite arbitrari Guilhelmum Occam, Buridanum contemporaneum n o s t r u m . . . (es folgen zahlreiche andere Namen) . . . omnium bonarum artium ignaros vacuosque fuisse, propterea quod Nominalium viam et modernorum doctrinam (veluti vos appelatis) enixe ac peculiariter assecuti sunt." C. Du Plessis d'Argentri: Collectio judiciorum de novis erroribus, Paris 1728, Bd. I, S. 337. Zum Dekret von 1339: „Contra Joannem Buridanum et eius discipulos hoc decretum latum videtur. Buridanus enim insignis philosophus, qui anno 1327 (gemeint: Ende Dezember 1327 bis März 1328) Rector Universitatis Parisiensis extiterat, scriptis suis et sermonibus Nominalium doctrinam ab Okam innovatam tradidit in Parisiensibus Scholis. Quae causa magna dissensionis fuit inter veteres Academicos Aristoteli adhaerentes et Buridani fautores. Sed, tacito nomine Buridani, eadem via et ratio tanquam Okam reprobata est.
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den Fragen, berief die beschlußfassende Versammlung ein und trug als Unterzeichner die Hauptverantwortung. Seine Rolle läßt sich somit nicht übergehen. Wenn das Statut gegen Occam gerichtet ist, wäre — so scheint es — die Lehre Occams von einem „Occamisten" verurteilt worden. Dieser Widerspruch wäre in der Tat gelöst, wenn Moody mit seiner These recht hat, daß Occam gar nicht der Gegner des Statuts ist. Gegen diese These Moody's und auch gegen die These Boehners sprechen jedoch wiederum die zeitgenössischen Äußerungen über das Statut:
1. In Denifle's Chartularium der Pariser Universität steht das Statut unter einem Titel und Denifle bestätigt ausdrücklich, daß dieser Titel auch über dem Original steht („sub rebrica ut supra"): „Statutum facultatis artium de reprobatione quorundam errorum Ockamicorum" „Statut der Fakultät der freien Künste zur Verwerfung gewisser Occamisdier Verirrungen"
Auch der spätere Sammler und Herausgeber C. E. Bulaeus, der das Statut nadi dem Prokuratorenbuch der gallischen und pikardischen Nation wiedergibt, sagt, daß es dort unter diesem Titel gestanden habe15. Es kann sich also nicht um einen nachträglichen Zusatz handeln. Warum sollte dieser Titel mit Occams Namen gewählt worden sein, wenn das Statut gegen Nikolaus von Autrecourt gerichtet war und wenn dieser, laut Moody, nicht auf derselben Seite wie Occam stand und damit auch nicht einmal ein „Occamist" gewesen ist? 2. Sodann gibt es eine Stelle im Prokuratorenbuch der anglikanischen Nation der Universität Paris, in der die Besiegelung und Veröffentlichung des Statuts erwähnt ist: „ . . . statutum facultatis contra novas Occhaniste..." ·
opiniones
quorundam,
qui
vocantur
„ . . . Statut der Fakultät gegen gewisse neue, sogenannte Occamistische Ansichten ja in ewiger Bewegung bewegt. " (Phys. VI q. 8 fol. 100 c.)
Damit es so etwas wie „Sich-Verändern" oder „Sidi-Bewegen" gibt, muß diesen Worten also etwas „Reales", eine „res singularis", etwas „Vorstellbare" „entsprechen", auch wenn mit diesen Worten gar kein vorstellbares, „vorhandenes" „Einzelding" gemeint ist. Der Wortsinn ist nicht entscheidend oder kann nicht entscheidend sein, wenn einmal im vorhinein feststeht (und hierin liegt der metaphysische Entwurf), daß es nur „reale Einzeldinge" gibt bzw. daß nur solche „konkreten Dinge" „vorhanden" sind — deren Vorhandensein durch die punktuelle, einer Momentaufnahme gleichende „sinnliche Wahrnehmung" der cognitio intuitiva erfahren bzw. nachgeprüft werden kann. Alle nicht in dieser Weise feststellbaren Sinngehalte werden von hier aus gesehen in gewissem Sinne „irreal" und es ist daher jetzt sehr schwer, von ihnen „de proprietate sermonis" zu sprechen — bis sie dann später zu ebenfalls feststellbaren „Bewußtseinsinhalten" werden. Occam wie Buridan — und viele andere — machen auf diese Weise die Erfahrung, daß die Sprachwelt oder ganz wörtlich die sprachlich verstandene Welt nicht mehr der Realität entspricht. Es ist die Erfahrung, auf der letztenendes der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu beruhen scheint, ein Gegensatz, der bis heute, wo die Ansätze zu einer Uberwindung sichtbar werden, für das geistige Leben des neuzeitlichen Europa bestimmend war 10 .
io Es i s t allerdings zu bemerken, daß z. B. Buridan ausdrücklich sagt, daß die „singularitas" dieser „realen" Einzeldinge nicht von der Ausdehnung (extensio) oder Stofflichkeit (materialitas) hergeleitet werden kann, die dann bekanntlich die Haupteigenschaft der „res extensa" Descartes' und der Atome des modernen „Atomismus" (vor der Physik der Komplementarität) darstellt: „Non est verum quod singularitas proveniat ex extensione vel materialitate quia ita singulariter et distincte ab aliis existit deus et intellectus noster sicut aliud extensum immo etiam terminus universalis ita simpliciter et distincte ab aliis existit in intellectu tuo vel meo sicut albedo in pariete." „Es ist nicht wahr, daß die Singttlaritas von der Ausdehnung oder Stofflichkeit herkommt, denn Gott und unser Geist existieren genau so singulär und unter-
Der zweite Absatz
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b) Verschiedenes Verhältnis von Sprache und Realität bei Occam und Buridan Dennoch reagieren Occam und Buridan auf die gleiche Erfahrung in verschiedener Weise: Wenn Occam die Meinung des Aristoteles oder eines anderen Autors mit seinen Worten wiedergibt und den betreifenden Satz für „wörtlich genommen falsch" erklärt, dann meint er stets zugleich, daß es auch einen anderen Satz „gleichen" Inhalts gegeben hätte, der auch wörtlich genommen richtig gewesen wäre. (Wir haben oben schon gesehen, wie Occam solche Sätze zu rekonstruieren versucht — und dabei allerdings in große Schwierigkeiten gerät.) Occam versucht somit, die Wörtlichkeit wiederherzustellen, auf der die primär vom Wort ausgehende Wissenschaft des Mittelalters beruhte. Wenn Buridan die gleiche Erfahrung macht und genau wie Occam einen überlieferten Satz als „wörtlich genommen falsch" ausgibt, geht er zwar in gewissem Sinne auf diese Forderung der Wörtlichkeit ein. Man hat jedoch niemals den Eindruck, daß er sie sich zu eigen macht, sondern er schiebt mit diesem Ausdruck „wörtlich genommen falsch" die Sprache sogar eher von sich. Während Occam durch seine „regulae generales" die festen und eindeutigen Beziehungen zwischen Wort und Sache wiederherstellen will, verweist Buridan ausdrücklich auf die Willkür des Sprachgebrauchs und damit der Subjektivität. Er versucht gar nicht, die Sprache wiederherzustellen und zurechtzudrechseln (was angesichts der von ihm behandelten, über die Occamschen Beispiele hinausgehende Sachverhalte auch immer schwieriger, wenn nicht unmöglich wird), sondern gibt die Wörtlichkeit der Sprache bewußt und ausdrücklich auf. Schon bei seiner Sprachtheorie haben wir gesehen, daß sich die Worte für ihn nicht unmittelbar auf die Sachen, sondern nur auf die „Vorstellungen" beziehen11. Diese Vorstellungen stehen im Vordergrund des Bewußtseins und die Worte sind völlig sekundäre, willkürliche Zeichen geworden, an die man sich weder halten kann noch soll. schieden von den anderen Dingen wie etwas anderes, das ausgedehnt ist, ja sogar ein allgemeiner Begriff existiert ebenso einfach und unterschieden von den anderen Dingen in Deinem oder meinem Geist wie die weiße Farbe an der Wand." Ii Ebenso bezieht schon Aristoteles die Worte (t& en t£ ρΐιοηέ) auf die „Seelenzustände" (pathimata), die ihrerseits den Dingen (pragmata) „ähnlich" sind. Die Sprache ist durchgehend von der Zeidienfunktion her gedacht (symbolon, sema):
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Der Text des Statuts
Buridan weiß zwar, daß einige Leute versuchen, das Urteil über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines Satzes — auf der Basis der Wörtlichkeit und der suppositio personalis — von der subjektiven Auslegung der Sprache unabhängig zu machen: „Quidam d i c u n t . . . , quod de virtute sermonis Veritas vel falsitas debet attendi . . . secundum suppositionem personalem." „Manche sagen . . . daß über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit (eines Satzes) nach seiner wörtlichen Bedeutung auf Grund der suppositio personalis entschieden werden soll." (Sum. log. I I I , cap. 3, Ms. Stradomiensis in Krakau, fol. 58 a, zitiert nach Michalski, Les courants philosophiques etc. Krakau 1922, S. 77.)
Und genau das ist ja auch, wie wir gesehen haben, die Ansicht Occams. Buridan selbst jedoch ist anderer Meinung: „Tertia opinio, cui ego assentio, est ista, quod vox in signiiicando vel in supponendo non habet virtutem propriam nisi ex nobis." „Die dritte Ansicht, der auch ich zustimme, besteht darin, daß das Wortzeichen sowohl beim Bezeichnen als auch beim Supponieren keine eigene Bedeutungskraft hat, es sei denn durch uns." (Ibidem 58 d.)
Die Sprache steht frei in der Hand des Menschen, der sie benutzen kann, wie es ihm zweckmäßig erscheint, ohne daß er dabei an einen Die Schrift ist Zeichen f ü r die gesprochenen Worte, diese sind Zeichen f ü r die „Seelenzustände" und diese wiederum Zeichen f ü r die Dinge, wobei die Seelenzustände wie erst recht die Dinge auch f ü r die Menschen verschiedener Sprache und Schrift gleich sein sollen (Vgl. De interpretatione, unmittelbar zu Beginn der Schrift, und dazu „De anima"). Die nominalistisdie Zeidientheorie ist also in diesem Sinne nicht „neu". Neu ist nur, daß dieser Zug jetzt aufgegriffen und hervorgehoben wird. Zu beachten ist freilich der Unterschied zwischen „pathema" (passio, affectus) und „Bewußtseinsvorstellungen" (Terminus mentalis, conceptus, intentio animae, imago rei etc.). Zwar wird pathema oft mit „Vorstellung" übersetzt (so z. B. von Eugen Rolfes, Aristoteles: Lehre vom Satz, Hamburg 1958, S. 95), die Beispiele, die Aristoteles selbst an der genannten Stelle f ü r „pathimata" gibt, sind jedoch keineswegs gefühllos-neutrale, sozusagen „wissenschaftliche", abbildhafte Vorstellungen, sondern Dinge wie „Zürnen", „Mutigsein" oder „Begehren". Das Empfinden oder Wahrnehmen (aisthinesthai) ist hier also kein apparathaft-technisches, sozusagen photographisches Registrieren von Tatbeständen, sondern noch voll einbezogen in das „gestimmte Verstehen" der menschlichen Existenz und des menschlichen Weltverhaltens.
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festen Kanon gebunden wäre. Es ist daher absurd, vom Wort ausgehen zu wollen: „Et absurdum est dicere simpliciter, quod propositio auctoris sit falsa secundum locutionem impropriam, secundum quam est vera, sed debemus dicere, quod vera est secundum sensum verum impositum . . „Und es ist absurd, einfach zu sagen, daß der Satz eines Autors nach dem unexakten Ausdruck falsch sei, nach dem er doch richtig ist, sondern wir müssen vielmehr sagen, daß er nach dem richtigen, ihm unterlegten Sinn richtig i s t . . (Ibidem)
Hier trennen sich also erstens Sinn und Sprache, auf deren Einheit die mittelalterliche Wortwissenschaft beruhte. Buridan spricht zwar vom „Sinn" und vom „richtigen Sinn", aber dieser ist von der Sprache losgelöst an die Vorstellung gebunden, die mit der Sache bzw. jetzt dem Gegenstand übereinstimmen muß, ohne daß das Wort dabei mehr als eine Kode-rolle zur Bezeichnung dieser Vorstellungen spielt. Zweitens taudien jedoch auch in dem vorher so gemeinschaftlichen und in diesem Sinne „objektiven" Bereich der Sprache und des Sprechens ausdrücklich und bewußt die „Subjektivität" und der „individuelle" Wille auf. Es ist daher vielleicht auch kein Zufall, daß Buridan häufig unbefangen seine Person in die Diskussion bringt („Ich glaube, ich meine, die Meinung, der i c h zustimme etc. etc"). Diese vermeintliche Eigenwilligkeit oder Willkür Buridans setzt freilich eine ebenso strenge, nur jetzt eben andersartige Bindung an die Sache voraus, wenn dieses ganze Abenteuer der Befreiung von der überlieferten sprachlichen Wohnung und ihren Fesseln nicht wie der Turmbau zu Babel enden soll. Der Strenge der Textauslegung alter Art, die jetzt aufgegeben wird, entspricht später die Exaktheit der Sachforschung: Die („willkürlich" mit Worten bezeichneten) Vorstellungen selbst müssen „exakt" der „Realität" „entsprechen", d. h. jetzt sich wie ein genaues „Abbild", dessen Ideal später die technische Zeichnung wird, mit der Wirklichkeit „dekken". Die freie oder vermeintlich, freie Wortwahl setzt daher einen gemeinsamen klaren Sachbezug voraus, gerade weil diese Sache jetzt nicht mehr von der gemeinsamen Sprache her, sondern unsprachlich als „materielle Realität" gedacht wird. Buridan fährt daher fort: „ . . . secundum sensum verum impositum, iuxta dictum Aristotelis primo Ethicorum, quod sermones sunt recipiendi et intelligendi secundum materiam subjectam."
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Der Text des Statuts „ . . . nach dem richtigen, ihm unterlegten Sinn richtig ist, gemäß dem Ausspruch des Aristoteles im ersten Budi seiner Ethik, daß man die Worte von der zugrundeliegenden Sadie her auffassen und verstehen soll." (Ibidem)
Einen Augenblick lang scheint hier sogar der Bruch zwischen Sache und Bewußtsein im Direktzugang des „Bei-der-Sache-seins" übersprungen zu werden — wie es ja auch in der alltäglichen, unreflektierten Erfahrung ständig geschieht. Wir werden freilich noch sehen, wie einschneidend dieser Bruch gerade damals wurde (vgl. die Ausführungen zu Absatz 5 des Statuts.). Jedenfalls haben wir jedoch hier einen von der bisherigen Vorrangstellung der Sprache her gesehen neuen Ausbiidt auf die „materia subjecta", die zur Rede stehende Sache. Diese „Sache" erscheint jetzt als „materia" völlig unabhängig vom Wort 12 und wird ja auch in der langsam aufkommenden Naturwissenschaft nicht mehr über Texte — und damit im Raum der bisherigen Sprachwelt —, sondern auf dem Weg über Wahrnehmungen und Beobachtungen erschlossen. Unabhängig vom Bruch zwischen der „selbständig" seienden und der „vorgestellten" Realität ist nach Buridan die Sache selbst (materia subjecta) entscheidend, nicht mehr das zum willkürlichen Zeichen für Vorstellungen abgewertete Wort. Genau dies ist jedoch auch die Haltung unseres Statuts. 6. Die Doppelstellung Buridans und des Statuts Wir sehen also, daß Buridan einerseits der Suppositionslehre, der LJniversaliendeutung und dem metaphysischen Entwurf Occams folgt und insofern Occamist ist, andererseits jedoch nicht mehr wie Occam versucht, durch neue Regeln die alte Bindung von Wort und Sache wiederherzustellen, sondern durch ausdrückliche Trennung von Wort und Sache die radikale Konsequenz aus der neuen metaphysischen Situation zieht. Dies zeigt sich schon in der Kleinigkeit, daß der Terminus nicht mehr unmittelbar für die Sache supponieren kann. Es zeigt sich zugleich als ausdrückliches Programm in den (mit dem Statut übereinstimmenden) Äußerungen Buridans über die Willkürlichkeit der Worte und die Vor15
Übrigens im Gegensatz zum etymologischen Ursprung sowohl von »Sache" (ursprünglich: Rechtssache, Rechtshandel) und „res" (vermutlich von reri).
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rangstellung der materia subjecta gegenüber der mehr oder weniger glücklichen oder genauen Formulierung. Man kann für Buridan aus dem Wortlaut selbst nichts mehr beweisen und ist damit auf den unmittelbaren neuen Zugang zur Wirklichkeit in der äußeren und inneren eigenen Erfahrung angewiesen. Die sogenannten „ sprachlogisdien" Diskussionen bereiten hier also den Boden für die Schlüsselrolle der „experientia" und der späteren Experimentalwissenschaft vor. Scheinbar greifen das Statut und Buridan in Occam einen Neuerer an. In Wahrheit liegen die Dinge jedoch fast umgekehrt: Occam und Buridan gehen von der gleichen Erfahrung einer neuen Realiät aus, bei der sich die früher im Wort aufbewahrte und wiedererschließbare W e l t in eine von der „Wahrnehmung" und vom „Abbild" her zugänglich gemachte N a t u r verwandelt. Im Blick auf die Erfahrung dieser Natur und ihrer Realität wird die an die bisherige Welt und ihre Seinsweise gebundene Sprache ausgehöhlt, da sie weder ihren Inhalten noch ihrem Wesen nach auf die neue Natur paßt. Während jedodi Occam bzw. eine Gruppe seine Anhänger an der Wörtlichkeit der einstigen Sprachwelt festzuhalten scheinen, hat sich Buridan bewußt und ausdrücklich von der Bindung an diese Welt und damit der Verbindlichkeit der Spradie gelöst und versteht es, in unserem Statut diese Haltung zur Grundlage der Abwehr Occams zu machen. Was hier abgewehrt wird, ist also jetzt gerade nicht der entscheidende neue Weltentwurf, der hinter diesen „sprachlogischen" Streitigkeiten einschließlich des Universalienstreits steht, sondern umgekehrt eine alte Bindung von Wort und Sache, die dieser neuen Realität der Natur nicht gerecht wird. So kann Buridan Occam verstehen, kann teilweise auf ihm aufbauen und kann doch zugleich dort, wo Occam (mit seinen „regulae generales" für eine feste Wörtlichkeit) schon „überholt" ist, auf der Seite eines „anti-occamistischen" Statuts stehen. Der ganze Unterschied liegt darin, daß Buridan Occam nicht — wie vielleicht sogar manche Miturheber des Statuts — aus Gründen der Tradition, sondern deswegen verurteilt, weil er schon einen Schritt weiter ist: Er ist nicht „noch", sondern sozusagen „schon wieder" gegen Occam. Das Statut verbietet, einzelne, auch nach Ansicht des Kritikers „richtig gemeinte" oder „nur in der suppositio personalis falsche" Sätze „wörtlich genommen falsch" zu nennen. Hinter diesem Verbot kann einmal der alte „Realist", d. h. der Vertreter der „res universalis" stehen, der diese Sätze deswegen unangetastet lassen will, weil er in ihnen
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den Zugang zur „res universalis" findet (z. B. „homo est dignissima creaturam" oder „color est primum objectum visus", wo weder ein einzelner Mensch noch eine einzelne, bestimmte Farbe gemeint sein können). Hinter den gleichen Wortlaut des Verbots können sich aber auch alle stellen, die wie Buridan überhaupt nichts mehr von verbindlicher Wörtlichkeit, d. h. von Urteilen nach dem Wortlaut ohne Interpretation des „Gemeinten" wissen wollen 13 . 7. Die Doppelstellung als diplomatische Leistung Das Statut scheint das schwierige Problem, daß Buridan und vielleicht noch andere Anhänger Occams wegen der herrschenden Lehre oder öffentlichen Meinung ihren eigenen geistigen Vater verurteilen sollen, durch Verschweigen der entscheidenden Streitpunkte und eine Art „Flucht nach vorn" in die völlige Ablösung der Sprache so geschickt zu lösen, daß es mehr oder weniger beiden Teilen gerecht wird. Und der Ausschuß der Verfasser selbst wird vermutlich auch aus Anhängern beider Richtungen bestanden haben. 13
Sehr schön wird diese Haltung Buridans audi an einer Stelle seiner Quaestionen zur Aristotelischen Politik deutlich, wo er gegebenenfalls die sinngemäße Interpretation eines Gesetzestextes nicht nur durch den Gesetzgeber, d. h. also den „Autor" eines Textes, selber, sondern audi durch die ausführenden Organe, d. h. die Benutzer eines soldien Textes, empfiehlt: „Non semper est licitum ferre sententiam sive iudicare secundum scriptum legis primo modo, sed non procedendo secundum intentionem legislatoris . . . ista (propositio) non est vera, quod illius est solum legem interpretari, cuius est condere. Apparet quia non est dubium quod subditi non possunt legem condere et tarnen possunt leges interpretari, eundo contra litteram legis et eundo ad intentionem legislatoris." „Nicht immer est es erlaubt, auf die erste (oben geschilderte) Weise nadi dem schriftlichen Wortlaut eines Gesetzes ein Urteil zu fällen oder zu richten und dabei nicht nadi der Absicht des Gesetzgebers zu gehen . . . der Satz, daß nur der das Gesetz auslegen darf, der zur Gesetzgebung befugt ist, ist nidit wahr. Dies zeigt sich dadurdi, daß zweifellos die Untergebenen ( = ausführenden Organe) das Gesetz nicht erlassen, aber dennoch die Gesetze interpretieren können, indem sie gegen den Wortlaut des Gesetzes der Absicht des Gesetzgebers folgen." (Quaestiones in libros politicorum lib. IV, q. 1, art. 1, concl. 1, zitiert nach M. Grignaschi: Un commentaire nominaliste de la Politique d'Aristote: Jean Buridan, in: Anciens Pays et Assembles d'Etats 19, 1960, S. 123—42; die Textausgabe ist nicht genannt. Vgl. dazu auch V, q. 8 art. 2, ad rationes dub. ad secundam.)
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Von den Dingen, um die es bei der sonstigen Front gegen Occam geht, ist überhaupt nicht die Rede: Die unterschiedliche Auffassung der suppositio simplex, der dahinterstehende Universalienstreit und mit diesem der neue Weltentwurf einer auf die „res singularis" beschränkten, verwandelten Realität kommen nicht zur Sprache. Der Name der ominösen suppositio simplex, an der sich der Streit entzünden könnte, wird nicht einmal erwähnt. Das wird vielleicht audi daran liegen, daß die „suppositio simplex" bei Buridan (und wohl auch anderen) inzwischen „suppositio materialis" heißt und allein schon dadurch Definitions- und Formulierungsschwierigkeiten für den Statutstext auftreten würden 14 . Dies reicht jedoch zur Erklärung des Schweigens nicht aus, um so mehr, als in dieser Namensänderung ja der entscheidende Schritt von der „res universalis" zur „intentio animae" bzw. zum „conceptus" verborgen liegt. „Auetores enim sape utuntur aliis suppositionibus" — „DieAutoren brauchen nämlich oft auch andere Suppositionen" (als die suppositio personalis), heißt es harmlos und unauffällig im zweiten Absatz. Hier liegt aber der springende Punkt: Wenn — wie die Neuerer und auch Buridan meinen — nur mehr die „res singularis" „real" ist, ist die suppositio personalis, die Buridan deswegen ja auch suppositio significativa nennt, die einzige realitätsbezogene Supposition, an der daher auch jeder Satz gemessen werden muß. „Andere" Suppositionen kommen dann — in diesem Sinn — gar nicht mehr in Frage. Der Verfasser umgeht dieses Problem zum Teil, indem er jene anderen Suppositionen zumindest im dunkeln läßt. Die alten Realisten können darunter verstehen, was sie wollen, audi die suppositio simplex. Und die Anhänger der neuen Lehre erhalten zwar den occamistischen Anspruch der alleinigen Vorrangstellung der suppositio personalis nicht bestätigt, stehen aber doch keinem konkreten Einwand gegenüber, der die Realisten ausdrücklich unterstützen würde. Der Verzicht auf den „Prüfstein" der suppositio personalis wird den Neuerern zudem dadurch erleichtert, daß in der erwähnten „Flucht nach vorn" die Wörtlichkeit überhaupt — und damit auch die Notwendigkeit eines solchen Prüfsteins für die wörtliche Richtigkeit — aufgegeben wird. Die Realisten im alten Sinn des Universalienstreits verlieren mit dieser Ablösung der Sprache zwar ihr Hauptargument, eben die Sprache selbst, die ihrem Wesen nach nicht auf „Einzeldinge", sondern auf Sinngehalte bezogen ist und daher von ihnen immer wieder als 14 Vgl. das Zitat auf S. 64
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Kronzeugin angeführt werden konnte (auch wenn die damalige Auslegung dieser Sinngehalte als Ideen oder „formae" sicher nicht die eineinzige Verständnismöglichkeit ist). Auf der anderen Seite können sie sich jedoch kaum dem Argument des „gesunden Menschenverstandes" verschließen, daß es in erster Linie auf die Sache selbst und nicht auf die Worte ankäme. Daß diese „Sache" — und das heißt alles Seiende — jetzt audi eine neue Art von Realität hat und daß sich daher mit dem Blick auf sie auch von selbst die Welt verwandelt, bleibt zwar — vielleicht sogar beiden Teilen — verborgen. Aber die Zeit arbeitete, wie wir heute sagen würden, für die via moderna der neuen unsprachlichen Realität15. Um so eher können es sich die Neuerer leisten, die Tradition nicht unnötig vor den Kopf zu stoßen, konziliante Formulierungen zu finden und durch geschicktes Vorschieben der „sprachtechnischen" Seite die Hintergrundsfrage im Vagen zu lassen. So segelt das Statut geschickt zwischen der Skylla des Bekenntnisses zur res universalis (mit dem sich die Neuerer selbst aufgeben würden) und der Charybdis einer offenen Umdeutung der res universalis zum 15
Eine andere Frage ist der Zeitpunkt des Statuts, das vermutlich einen Anlaß in der Universitätsgeschichte oder im Rahmen der Loyalitätsbezeugungen gegenüber der Kurie hatte, der Buridan und seine Gesinnungsgenossen vielleicht zu dieser „Flucht nach vorn" zwang. Ich selbst konnte keine entsprechenden Zeugnisse finden, eine Untersuchung dieser Frage wäre jedoch sicher interessant. Nachdem Buridan als »Mann von Welt" mit König und Papst in Berührung kam (s. o.; der Kanzler der Universität Johannes Gerson nennt ihn einen „Mann, der viel gesehen, gelesen und geschrieben hat"; Joannis Gerson Epistola quid et qualiter studere debeat novus theologie a u d i t o r . . . ad studentes Collegii Navarrae — Prima pars operum Joannis Gerson. Tribotes 1514, Bd. 18, zitiert nach Duhem: Le Systeme du Monde, Bd. VI, S. 698), sollte vielleicht sogar auch die gewandelte politische Situation berücksichtigt werden: Während zur Zeit des ersten Statuts gegen Occam (1339 Sept. 25, a.a.O.) die Bündnisfront noch zwischen Frankreich und dem Papst auf der einen und England und dem Kaiser (samt Occam) auf der anderen Seite verlief, hatte sich Ludwig der Bayer nach der Niederlage der Franzosen bei Sluis in Flandern vom 24. 6. 1340 aus dem Bündnis mit England gelöst, um zwischen Frankreich und England vermitteln zu können und dadurch den französischen König als Fürsprecher beim Papst zu gewinnen. Der Erfolg beim Papst blieb zwar aus, aber man könnte vielleicht untersuchen, ob sich diese Auflockerung der Front zwischen Frankreich und dem Kaiser samt seinem politischen „Propagandisten" Occam nicht audi teilweise auf die offizielle Haltung der Universität auswirkte und ob die Spezifizierung des Generalverbots von 1339 auf die verbotenen Formulierungen von 1340 trotz Vorbehaltsklausel bezüglich der früheren Verurteilung nicht dodi ein erster Schritt zur Auflockerung der antioccamistischen Haltung war, um so mehr als das generelle Verbot nicht sehr lange wirksam geblieben zu sein scheint.
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Bewußtseinsinhalt (mit der sie sich der noch herrschenden Tradition ausgeliefert oder zumindest die Vorbereitungskommission des Statuts gespalten hätten) über die Klippe der nach beiden Seiten hin auslegbaren „suppositio simplex" hinweg auf das offene Meer eine unsprachlich gesehenen neuen Welt. Buridan — wenn er der Steuermann war — hat sich wie Odysseus zur Vermeidung einer Bindung an irgendeine Seite am Mast seines eigenen, frei manövrierenden Schiffes festbinden lassen und als guter Diplomat im sachlichen Teil des Statuts jede allzu deutliche oder leidenschaftliche Äußerung vermieden, die ihn mit der einen oder anderen Seite in Konflikt gebracht hätte. Natürlich kann die Unterzeichnung des Statuts nach der neuen Rektorwahl und die noch spätere Siegelung und Veröffentlichung ein Zufall sein. Vielleicht hat es jedoch Buridan auch noch fertiggebracht, das zweifellos in seiner Rektoratszeit erarbeitete Statut nicht nur diplomatisch zwischen den Klippen hindurchzusteuern, sondern außerdem auch noch die Veröffentlichung so lange hinauszuschieben, daß er nicht mehr selber verantwortlich war. Die „astutia" (Schlauheit, Spitzfindigkeit) wird nicht zufällig die Haupteigenschaft, mit der später die Sage Buridan auszeichnet, auch wenn es darin nicht um die suppositio simplex, sondern um ein Liebesabenteuer und im Anschluß daran sogar ums Leben geht.
8. Der menschliche und hochschulpolitische Sinn der diplomatischen Lösung Die „bürgerliche Existenz" Buridans mag allerdings bei diesem diplomatischen Meisterstück durchaus auch auf dem Spiel gestanden haben. Allein der Ausschluß aus der Fakultät, mit dem man den Occamisten drohte, hätte ihn schnell seine Stellung samt Rektorat und Pfründen gekostet. Die intellektuelle Artistik, mit der sich dieser — auch sonst bei König und Papst zu diplomatischen Aufträgen ausersehene — geschickte Steuermann durch die drohenden Klippen hindurchrettet, hatte also auch durchaus einen menschlichen Sinn. Dieser bezog sich zudem nicht nur auf Buridan selbst, sondern auf alle Anhänger oder Sympathisierer und Mitläufer der neuen Lehre. Die Diplomatie war um so gerechtfertigter, als sich der scheinbar so unversöhnliche Streit um Occam wenige Jahre später in eitel Frieden aufgelöst zu haben scheint, so daß er so kurz vor dem (allerdings nur vorläufigen) „Endsieg" keine großen „Menschenopfer" mehr wert war:
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Noch zu Zeiten des Statuts konnte die Lehre Occams, in der jene neue Realität und, wie man im 19. Jahrhundert gesagt hätte, „das Verhältnis von Sein und Bewußtsein" in unüberbietbarer, klassischer Klarheit zum Ausdruck kam, nur in geheimen und nächtlichen Versammlungen studiert werden, während sie öffentlich mit schwersten Strafen bedroht war 16 . Wenige Jahre nach den beiden Statuten von 1339 und 1340 finden wir jedoch schon zweimal eine Occamsche Logik als Pfand für nicht bezahlte Gebühren — also „öffentlich" — im Schrein der anglikanischen (d. h. der späteren alemannischen und damit deutschen) Nation 17 , die ihr eigenes, oben erwähntes Statut gegen die „Occamsche Sekte" annulliert18. Und wenn wir schon von diesen beiden Pfandexemplaren wissen, wieviel andere Exemplare „Occams" mag es dann in Paris bei unverschuldeten, finanziell besser gestellten Studenten gegeben haben. Buridan hat somit durch seine Diplomatie nicht nur sich selber geschützt und in die neue Zeit „hinübergerettet", sondern auch all den vielen anderen Anhängern der „via moderna" geholfen, die doch in Kürze recht behalten sollten und jetzt unnötig geopfert worden wären. Zwar blieb das vorangegangene unspezifizierte Verbot der Lehren Occams im neuen Statut bestehen („salvis in omnibus quae de doctrina Guillelmi dicti Ockam alias statuimus"). Die Versachlichung der Diskussion durch Eingehen auf Einzelfragen, die Konzentrierung oder vielleicht sogar ablenkende Beschränkung auf die im Statut erwähnten Probleme und vor " Vgl. Chart. Univ. Par. II No. 1023 (S. 485) von 1339 Sept. 25: „ . . . doctrinam Guillermi dicti Okam . . . dogmatizare presumpserint publice et occulte, super hoc in locis privatis conventicula faciendo." Ferner Auct. Chart. Univ. Par. col. 52 Ζ. 42: „conventicula... occulta" und Ridiardus de Bury in seinem Philobiblion (beendet 1344) cap. 9, zitiert nadi Chart. Univ. Par. II No. 1125, Anm. 4, S. 590: „Anglicanas subtilitates (gemeint sind laut Chart. Univ. Par. Duns Scotus und G. Occam) quibus palam detrahunt, vigiliis furtivis addiscunt." Auct. Chart. Univ. Par. I, col. 135 Ζ. 10 zu 1349 Mai: „Item posuit dominus Ricardus Peterstuna Scotus unam logicam Occam in pignore nacioni nostre pretio X X X sol. in quibus tenebatur dicte nationi pro bursis suis in sua licentia." Auct. Chart. Univ. Par. I, col. 195 Ζ. 5 ff.: „Item vadium trium sociorum dictorum de Goch, scilicet libros Philosophi cum commento Averrois pro 67 solidis et 6 den. Item Ockam cum scriptis super 8 libros Euclidis domini Jacobi Fortis (gemeint: dominus Jac. Helie) pro 33 solidis et 6 den." 18 Nach einer Anmerkung im Auct. Chart. Univ. Par. ist das oben genannte Statut gegen die occamistischen Verschwörungen vom 10. Oktober 1341 (col. 52) „später" gestrichen worden.
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allem die geschickten Lösungen und Formulierungen mußten jedoch auf jeden Fall eine Hilfe gegen blinde Verfolgung bedeuten. Wer einmal den vergleichsweise weitschweifigen, noch an der Rhetorik geschulten Stil des Petrus Hispanus mit der klaren und straffen Sprache der Occamschen Logik vergleichen konnte, wird leicht verstehen, was wenige Jahre später die Zulassung oder Einführung dieses noch kurz zuvor verbotenen Buches bedeutet haben muß, das anläßlich von sprachlogischen Überlegungen mit unvergleichlicher Stringenz die metaphysische Situation einer Epoche zu Wort bringt. Buridan hat diesen Stil Occams nie erreicht und hat ihn wohl auch nicht erreichen wollen. In jedem Sinne verkörpert er schon das zweite Stadium der Revolution des „Neuen Wegs" der „via moderna", ein Stadium, in dem er sich schon wieder mit der Tradition arrangierte und ihre Sprache zu sprechen verstand, noch bevor die Revolution offiziell gesiegt hatte. Statt den Kampf, den Occam in seinen Schriften schon gewonnen hatte, nochmals von neuen anzufachen, scheint Buridan eher das gewonnene Neuland gegen Wiedereroberungsversuche abgegrenzt zu haben, um es in aller Ruhe im einzelnen erforschen zu können. Er gilt nicht nur als der „fruchtbarste Aristoteleserklärer des 14. Jh., wenn nicht der ganzen Scholastik"19, sondern scheint sich auch in einer Weise mit den „natürlichen Gegebenheiten" beschäftigt zu haben, die als wesentlicher Schritt auf dem Weg zur modernen Naturwissenschaft gelten kann 20 . Wenn er in der Weise an unserem Statut beteiligt ist, wie wir es vermuten, dann hat er es durch seine Diplomatie verstanden, ohne sich selbst zu verraten, sowohl den tagespolitischen als auch den langfristigen Forderungen gerecht zu werden. Dann hat er, ohne das Verbot Occams zu verhindern oder sich offen für diesen einzusetzen, dennoch sachlich wie „universitätspolitisch" den Weg für diese neue Metaphysik mitgebahnt, auf der auch Descartes und die Naturwissenschaft der europäischen Neuzeit aufbauen sollten. 19
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Martin Grabmann: „Die mittelalterlichen Kommentare zur Politik des Aristoteles", Sitzungsberichte der Bayr. Akademie d. Wiss., Phil.-hist. Abt., Jg. 1941, Bd. II, Heft 10, S. 36. Vgl. z. B. die Untersuchungen zum freien Fall in Buridans Physik sowie vor allem die Schriften von Anneliese Maier: „Das Problem der intensiven Größe in der Scholastik" in: Veröffentlichungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kulturwissenschaften in Rom, Leipzig 1939 (Heinr. Keller) und: „Die Impetus-Theorie der Scholastik", a.a.O., Wien 1940 (Anton Schroll), sowie spätere Schriften (s. Bibliographie).
III. KAPITEL
Der dritte Absatz Der dritte Absatz wendet sich gegen die Behauptung, man brauche die verschiedenen Bedeutungen ein und desselben Satzes nicht zu unterscheiden: „Item quod nullus dicat quod nulla propositio sit distinguenda, quoniam hoc ducit ad predictos errores, quia si discipulus unum propositionis sensum recipit, et doctor alium intellexerit, discipulus falso informatibur, donec propositio distinguetur. Similiter si opponens unum sensum recipiat, et respondens alterum sensum intelligat, disputatio erit ad nomen tantum, si non fiat distinctio." „Desgleichen soll niemand sagen, kein Satz sei zu unterscheiden, da dies zu den vorgenannten Irrtümern führt, denn wenn der Schüler die eine Bedeutung eines Satzes auffaßt und der Lehrer etwas anderes meint, prägt sich der Schüler etwas Falsches ein, bis nicht zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Satzes unterschieden wird. Ähnlich wird, wenn der Opponent (in der Disputation) den einen Sinn auffaßt und der Verteidiger des Satzes diesen in einem anderen Sinne meint, nur um bloße Worte gestritten, solange keine Unterscheidung (der verschiedenen Bedeutungen) erfolgt."
Hier haben wir also die Konsequenz, die sich aus einer strengen Wörtlichkeit mit eindeutigen Regeln für den Bezug von Wort und Sache ergeben würde. Bei einem eindeutigen Bezugssystem von Zeichen und Bezeichneten muß nicht jedesmal von neuem erläutert werden, was mit den einzelnen Zeichen gemeint ist. Daß diese Forderung damals aufgestellt wurde, und zwar sogar von „vielen", bestätigt uns Buridan: „Sed tunc dubitatur quid de hoc sit dicendum de virtute sermonis: multi enim dicunt nttllam propositionem esse distinguendam. Immo quod de virtute sermonis quelibet propositio vel est simpliciter concedenda vel simpliciter neganda . . „Dann stellt sich jedoch die Frage, was hierzu dem Wortlaut nach zu sagen ist: Viele behaupten nämlich, daß man keinen Satz (seinen versAiedenen Bedeutungen nach) zu unterscheiden brauche. Vielmehr soll dem Wortlaut nach jeder Satz entweder einfach zugestanden oder einfach verneint werden . . (Met. I X q. 5 f. 58 c.)
Der dritte Absatz
Diese unmittelbare Verständlichkeit ohne Unterscheidung, die von „vielen" gefordert wird, entspricht sowohl dem unreflektierten stand der weniger differenzierten Sprache als audi wiederum dem stand, der durch ein strenges, eindeutiges Regel- und Zeichensystem gestellt wird.
93 hier ZuZuher-
1. Distinguere bei Petrus Hispanus Noch bei Petrus Hispanus scheint das „Unterscheiden" im obigen Sinn keine nennenswerte Rolle zu spielen. So ist in der neuen, übersichtlichen Ausgabe von I. M. Bochenski O. P. im Index nur eine einzige Stelle für „distinguere" aufgeführt: „(Tertia species aequivocationis) . . . est solvendum distinguendo paralogismos secundum aequivocationem et in hoc peccant. Est enim recta solutio manifestatio falsi syillogismi, propter quod est falsus, et hoc distinguendo vel dividendo, vel interimendo aliquam praemissarum." „(Die dritte Art der Doppelsinnigkeit)... ist zu lösen durch Unterscheidung der Fehlschlüsse nach dem Doppelsinn und hierin liegt der Fehler. Die richtige Lösung ist nämlidi die Klarstellung des falschen Syllogismus', dessen, weswegen er falsch ist, und zwar durch Unters