165 75 41MB
German Pages 586 [594] Year 2011
Marlen Eckl
"Das Paradies ist überall verloren." Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus
Editionen der Iberoamericana Reihe A: Literaturgeschichte und -kritik Reihe B: Sprachwissenschaft Reihe C: Geschichte und Gesellschaft Reihe D: Bibliografien
Herausgegeben von Mechthild Albert, Walther L. Bernecker, Enrique García Santo-Tomás, Frauke Gewecke, Aníbal González, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann, Katharina Niemeyer
A: Literaturgeschichte und -kritik, 47
Marlen Eckl
Das Paradies ist überall verloren" Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2010
Veröffentlicht mit Unterstützung der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung Hamburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Vervuert Verlag 2010 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main Tel. + 49 69 597 46 17 Fax: + 49 69 597 87 43 Iberoamericana Amor de Dios, 1 - E-28014 Madrid Iberoamericana Vervuert Publishing Corp. 9040 Bay Hill Blvd. - Orlando, FL 32819 [email protected] www. ibero-americana, net ISBN 978-3-86527-579-0 D.L.: SE-7647-2010 Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Umschlagabbildung: Erich Brill, Paquetd, Ol auf Leinwand, 50 x 60 cm, 1934 (Sammlung Alice Brill Czapski, Säo Paulo) Einige Rechteinhaber konnten trotz aller Bemühungen nicht ausfindig gemacht werden. Die betroffenen Personen mögen sich bitte an den Verlag wenden. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Gedruckt in Spanien (Publidisa)
Meinen Eltern Meiner Schwester
Mit zwanzig und ein paar Jahren verlor ich die Heimat, verlor die Staatsbürgerschaft, verlor mein Heim. Ich verlor die bürgerlichen Rechte und die Menschenrechte. Ich verlor die Ausbildung und die Perspektiven. [•••] Ich verlor die Maße, verlor die Besitztümer, verlor die Verwandten, verlor Dokumente, verlor die Freunde, verlor die Erinnerungen, verlor meine Koffer auf der überstürzten Flucht. [•••] Mit dreißig und ein paar Jahren, auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat und eine neue Staatsbürgerschaft. Ich gründete ein neues Heim. [•••] Ich fand neue Freunde, kaufte neue Koffer und behandelte meine Krankheit. Ich brachte am Firmament wieder den Norden, den Süden und den Osten an und folgte einer neuen Richtung. (Landau 1981, 12/13)
Com vinte e poucos anos perdi a pàtria, perdi a cidadania, perdi o meu lar. Perdi os direitos, civis e humanos. Perdi os estudos e as perspectivas. [...] Perdi as medidas, Perdi os pertences, perdi os parentes, perdi documentos, perdi os amigos, perdi as lembrantpas, perdi minhas malas na fuga precipitada. [...] C o m trinta e poucos anos, em terra brasileira achei urna pàtria nova e nova cidadania. Fundei um novo lar. [•••] Fiz novos amigos, comprei novas malas e tratei de minha saúde. Recoloquei no firmamento o Norte, o Sul e o Leste e novo rumo segui. (Landau 1981, 12/13)
Inhaltsverzeichnis
DANKSAGUNG
I.
EINFÜHRUNG
1. Das deutschsprachige Exil in Brasilien 2. Zum Forschungsstand 3. Gliederung II.
15
19 61 67
„ W I R LEBTEN IN ZWEI VERSCHIEDENEN W E L T E N . " - F Ü N F LEBENSWEGE IM BRASILIANISCHEN E X I L
1. Alfredo Gartenberg - literarisch ambionierter Anwalt und Verfechter der jüdischen Belange 2. Martha Brill - engagierte Publizistin und literarische Chronistin des Exils . . . 3. Hugo Simon — Kunst liebender Bankier und Seidenraupen züchtender Autor 4. Richard Katz - Weltreisender und Brasilianer des Herzens 5. Ernst Feder - „ein standhafter Liberaler" und Kulturvermittler zwischen den Kontinenten
73 78 93 122 148
ERSTER EXKURS: „ V O N DER UNZERSTÖRBARKEIT DES I C H S " - D A S AUTOBIOGRAPHISCHE E L E M E N T IN DER EXILLITERATUR UND DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN FAKTEN U N D FIKTION
1. Die Plots der ausgewählten Werke 1.1 Alfredo Gartenbergs OJ vermelbo 1.2 Martha Brills Der Schmelztiegel 1.3 Hugo Simons Seidenraupen 1.4 Richard Katz'Brasilienbücher 1.5 Ernst Feders „Brasilianisches Tagebuch" 2. Das autobiographische Element in der Exilliteratur 3. Das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion III.
179 179 181 183 185 188 190 194
„ D A S PARADIES IST ÜBERALL V E R L O R E N . " - D I E D A R S T E L L U N G DER N A T U R BRASILIENS
1. Die Vision des Paradieses als traditionelles Bild der brasilianischen Natur . . . 2. Die Darstellung der Natur Brasiliens 2.1 Brasilien als „Wunderland" in Hugo Simons Seidenraupen
199 220 220
10 2.2 Brasilien als Hölle in Alfredo Gartenbergs O J vermelho 2.3 Brasilien als trostspendender und großherziger Garten Eden in Martha Brills Der Schmelztiegel 2.4 Brasilien als Paradies mit Licht- und Schattenseiten in Richard Katz' Brasilienbüchern 2.5 Brasilien als schöne Umgebung, aber nicht adäquater Ersatz für die europäische Heimat in Ernst Feders „Brasilianischem Tagebuch" 2.6 Zwischen paradiesischem Reichtum und der harten Realität der Armut - Die brasilianische Natur in Werken von Wolfgang Hofifmann-Harnisch, Paul Frischauer, Frank Arnau und Karl Lustig-Prean IV.
„ E I N E Z U K U N F T IST E U C H GEGEBEN WIE KAUM EINER N A T I O N DIESER W E L T . "
228 233 239 248
248
-
D I E THEMATISIERUNG DES ZUKUNFTSPOTENTIALS VON BRASILIEN
1. Die Verheißung einer großen Zukunft als Element des brasilianischen Gründungsmythos 2. Die Thematisierung des Zukunftspotentials von Brasilien 2.1 Brasilien als ausweg- und zukunftslose Sackgasse in Alfredo Gartenbergs O ] vermelho 2.2 Brasilien und Südamerika als aufsteigender und aus den Fehlern Europas lernender Weltteil in Martha Brills Der Schmelztiegel 2.3 Brasilien als Alternative zu Europa und zukunftsträchtiges landwirtschaftliches Siedlungsgebiet in Hugo Simons Seidenraupen . . . 2.4 Brasilien als aufstrebendes Land der Zukunft in Richard Katz' Brasilienbüchern 2.5 Zwischen Wirtschaftsgröße und Schlüsselnation im internationalen Kreis - Die Zukunftsträchtigkeit Brasiliens in den Werken von Wolfgang Hoffmann-Harnisch, Frank Arnau, Karl Lustig-Prean und Paul Frischauer V.
257 261 261 263 264 266
270
„ D A S G E F Ü H L ALS M A G DER D I N G E BEWAHRT ZU HABEN, IST ETWAS WESENTLICH BRASILIANISCHES." - D I E CHARAKTERISIERUNG DER BRASILIANER
1. Die Mitwirkung der brasilianischen Intellektuellen an der Nationalisierungskampagne des Estado Novo 2. Sergio Buarque de Holandas Definition des Brasilianers als herzlichen Menschen in seinem Klassiker Ratzes do Brasil 3. Die Charakterisierung der Brasilianer 3.1 Die cordialidade als eigennützige Hilfsbereitschaft in Alfredo Gartenbergs O J vermelho
275 281 294 294
11
3.2 Die cordialidade als Hoffnung vermittelnde Kameradschaft in Martha Brills Der Schmelztiegel 3.3 Die cordialidade als selbstlose Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft in Hugo Simons Seidenraupen 3.4 Die cordialidade als gefühlsbetonte, sowohl Geduld als auch Wut umfassende Eigenschaft in Richard Katz' Brasilienbüchern 3.5 Empfindlichkeit, Unzuverlässigkeit und Nepotismus - Ernst Feders Erfahrungen mit den Kehrseiten der cordialidade 3.6 Zwischen nachzueiferndem Vorbild und inhaltsleerer Formelhaftigkeit Die Darstellung der cordialidatle in den Werken von Wolfgang Hoffmann-Harnisch, Frank Arnau und Karl Lustig-Prean
300 302 306 312
318
V I . „ D I E S E R RASSENFRIEDE IST DOCH ETWAS SELTSAMES." - D I E FRAGE DER BRASILIANISCHEN „RASSENDEMOKRATIE" IN DEN W E R K E N DER EXILANTEN
1. Die Rolle des Mythos der „Rassendemokratie" und der Ideologie des branqueamento in der Politik des Estado Novo 2. Gilberto Freyres Definition der „Rassendemokratie" in seinem Klassiker
Casa-grande &senzala 3. Die Frage der brasilianischen „Rassendemokratie" in den Werken der Exilanten 3.1 Die brasilianische „Rassendemokratie" als Folge der Einwanderernation in Alfredo Gartenbergs O ] vermelho 3.2 Die „Rassendemokratie" als „neues Lebensgefuhl" und „Lehre Brasiliens" in Martha Brills Der Schmelztiegel 3.3 Der Mythos einer „humanen" Sklaverei und die vermeindiche Unmündigkeit der Farbigen - die Sicht der europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts in Hugo Simons Seidenraupen 3.4 Anschreiben gegen das hartnäckige Vorurteil einer „rassischen Minderwertigkeit" - die brasilianische „Rassendemokratie" im Licht von Richard Katz' Erfahrung als Opfer der nationalsozialistischen „Rassenpolitik" 3.5 Diskriminierung auf unterschiedlichem Niveau - die brasilianische „Rassendemokratie" im Vergleich zu den USA in Ernst Feders „Brasilianischem Tagebuch" 3.6 Eine sich selber lösende „Negerfrage" und andere Widersprüchlichkeiten — die auf die nationalsozialistische „Rassenpolitik" ausgerichtete Erläuterung der brasilianischen „Rassendemokratie" in Wolfgang Hoffmann-Harnischs Brasilien
327
344 356 356 359
366
369
380
388
12 3.7 Die „Rassendemokratie" als eine die brasilianische Nation einigende Kraft - die Ideologie des Estado Novo in Paul Frischauers Auftragsbiographie 391 3.8 Gefangen in der eurozentrischen Sicht — Frank Arnaus Auseinandersetzung mit der Frage der „Rassendemokratie" und dem afrikanischen Erbe in Brasilien 392 3.9 Die im Entstehen begriffene brasilianische „soziale Demokratie" als Vorbild in den Arbeiten von Karl Lustig-Prean 394 VII.
„BRASILIEN IST EIN DIKTATURSTAAT. DIKTATOR IST GETÚLIO VARGAS."
-
D I E AUSEINANDERSETZUNG DER EXILANTEN MIT GETÚLIO VARGAS UND DESSEN REGIME
1. Die wichtigsten Grundzüge der Politik im Estado Novo 2. Die Auseinandersetzung der Exilanten mit Getúlio Vargas und dessen Regime 2.1 Das Vargas-Regime als erneuernde Kraft für Brasilien in Wolfgang Hoffmann-Harnischs Brasilien 2.2 Brasilianische Politik als Nebensache in Martha Brills Der Schmelztiegel 2.3 Zwischen Dankbarkeit und Kritik an den Vorschriften bezüglich der súditos do eixo und der Nationalisierungskampagne Das Vargas-Regime in Richard Katz' Brasilienbüchern 2.4 Brasilien als Land der verschlossenen Türen — Alfredo Gartenbergs einziger Verweis auf die Politik des Vargas-Regimes 2.5 Das Leben als Exilant und vermeintlicher súdito do eixo einerseits und die Konfrontation mit dem Mythos Vargas andererseits - das Vargas-Regime in Ernst Feders „Brasilianischem Tagebuch" 2.6 Getúlio Vargas als „Miniaturdiktator eines Riesenreiches" Frank Arnaus und Karl Lustig-Preans kritische Bewertungen aus der Rückschau 2.7 Zur Festigung des Mythos Vargas in Brasilien und Verbreitung des „richtigen" Bildes des Präsidenten in der Welt - Paul Frischauers Auftragsbiographie Presidente Vargas
399 427 429 434
438 444
447
459
467
ZWEITER EXKURS: „ N A UNDÉCIMA HORA" - D I E GESCHICHTE DER FLÜCHTLINGE DES NATIONALSOZIALISMUS UND DER Z W E I T E WELTKRIEG IN MOACYR SCLIARS NOVELLEN MAX E os FELINOS UND A GUERRA NO BOM
1. Nationalsozialisten in den Tropen 2. Krieg im brasilianischen Shtetl
FIM
477 494
13 VIII.
„ E T W A S NIEDERDRÜCKENDES GING [ . . . ] VON DIESEM JÄHEN A B S C H I E D A U S . "
-
D E R EINFLUSS VON STEFAN ZWEIGS W I R K E N UND T O D IN BRASILIEN AUF DIE ÜBRIGEN EXILANTEN UND DEREN W E R K E
1. „Tod im Paradies" - Stefan Zweigs tragischer Selbstmord im brasilianischen Exil 2. Der Einfluss von Stefan Zweigs Wirken und Tod in Brasilien auf die übrigen Exilanten und deren Werke 2.1 Ernst Feder — der Chronist des Lebens und Todes von Stefan Zweig in Brasilien 2.2 Richard Katz - der harsche Kritiker der oberflächlichen Brasiliendarstellung 2.3 Hugo Simon — der Zeuge des mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg begonnenen Leidensweges einer ganzen Generation 2.4 Alfredo Gartenberg - der Erzähler des Exils als eines nicht zu bewältigenden Schicksalsschlags
505 511 512 518 521 524
SCHLUSSBETRACHTUNG
527
LITERATURVERZEICHNIS
539
BILDNACHWEIS
579
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN W E R K E
581
PERSONENREGISTER
583
S A C H - UND ORTSREGISTER
591
Danksagung
Mein herzlicher Dank gebührt PD Dr. Ursula Prutsch, die bereit war, diese interdisziplinäre Forschungsarbeit zu betreuen. Sie half mir durch ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten und unterstützte mich in vielfältiger Weise, so dass ich die Arbeit nach meinen Vorstellungen verwirklichen konnte. Prof. Gerhard Drekonja danke ich sehr für seine stets entgegenkommende Hilfestellung. Ferner gilt mein Dank Prof. Izabela Maria Furtado Kestler (t), die mir ihre Unterstützung mit wertvollen Hinweisen, der Bereitstellung von Texten und nicht zuletzt ihren fundamentalen Arbeiten zum deutschsprachigen Exil in Brasilien, auf denen ich meine Forschungen aufbauen konnte, zuteil werden ließ. Die Nachricht, dass sie, wenige Monate nach Abschluss dieser Arbeit, tragischerweise als Passagierin des auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris verunglückten Air France-Airbus ums Leben gekommen ist, war umso erschütternder. Prof. Reinhard Andress, Prof. Maria Luiza Tucci Carneiro, und Prof. Fabio Koifman sei für die Hilfsbereitschaft gedankt, mit der sie stets umgehend all meine Fragen beantworteten. Prof. Jeffrey B. Berlin, Prof. Zila Bernd, Prof. Mark H. Gelber, Prof. René Gertz, Prof. Ana Maria Dietrich, Prof. Nachman Falbel, Prof. Luiz Nazario, Prof. Celeste H. M. Ribeiro de Souza, Prof. John M. Spalek und Prof. Regina Zilberman danke ich für die hilfreichen Informationen und die Texte, die sie mir zukommen ließen. Die gute Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von mir aufgesuchten Institutionen, Archive und Bibliotheken war für die Forschungen unerlässlich. Stellvertretend für viele andere sei hier gedankt: Satiro Ferreira Nunes (Arquivo National)-, Henrique Cohen {Congregando Israelita Paulista); Dr. Brita Eckert, Dr. Sylvia Asmus und Katrin Kokot (Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933-1945); Hildegard Dieke, Heidrun Fink und Tatjana Fengler-Veit (Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar); Dr. Elisabeth Klamper (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes); Daniela Rothfuss (Instituto Martius-Staden)-, Jürgen Bogdahn (Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Berlin); Michael Simonson (Leo Baeck Institute)-, Dr. Ursula Seeber (Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien); Monika Topscher (Osterreichische Nationalbibliothek), Gelvia Caviezel
16
(Robert Walser Archiv) und Rabbiner Guershon Kwasniewski (Sociedade Israelita Brasileira de Cultura e Benefiencia). Weiterhin danke ich Martin Becher, Alice Brill Czapski, Juljan Czapski (t), Rafael Cardoso Denis, Enzio Edschmid, Hans Jörgen Gerlach und Anna Krommer für die Genehmigung der Verwendung bzw. Zurverfügungstellung unveröffentlichter Materialien, die eine Bereicherung für meine Arbeit darstellen. Mit den Detailkenntnissen zur Biographie von Richard Katz hat Rainer Vettin mir sehr geholfen, wofür ich ihm danke. Obwohl dies keine Arbeit aus dem Bereich Oral History ist, waren die Gespräche, die ich mit den Zeitzeugen führen durfte, eine wichtige Ergänzung zu den Forschungen. Für ihre Aufgeschlossenheit, mir von den Emigrationserfahrungen bzw. der Freundschaft mit deutschsprachigen Exilanten zu erzählen, bin ich Alice Brill Czapski, Juljan Czapski (t), Rafael Cardoso Denis, Elisabeth Eckardt, Hans Günter Flieg, Stefan Hamburger, Georgina Meyer-Düllmann, Klaus (z"l) und Seldi Oliven, Rachel de Queiroz (t), Maria Luiza de Queiroz Salek, Ursula Rike, Eva Maria Rimpau, Dora Schindel, Eva Soltesz, Eva Sopher, Maria Eugenia Tollendal und Frieda Wolff (z"l) sehr dankbar. Sie haben mir die Geschichte des brasilianischen Exils in einer Eindrücklichkeit vermittelt, wie es Bücher und Dokumente nicht vermögen. Alberto Dines und Moacyr Scliar haben mir in Gesprächen die brasilianischjüdische Sicht auf das Vargas-Regime und die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg näher gebracht, die sie als Kinder erlebten. Moacyr Scliar gab mir ferner wichtige Hintergrundinformationen zu seinem Werk. Auch ihnen sei gedankt. Die Arbeit an Rosine De Dijns Buchprojekt Das Schicksalsschiff. Rio de Janeiro — Lissabon — New York 1942 ermöglichte es mir, von Zeit zu Zeit ein bisschen Abstand zu meiner eigenen Arbeit zu gewinnen. Dafür, dass sie mich an ihrem Projekt teilhaben ließ, danke ich Rosine De Dijn. Clovis Schröder danke ich für seine unbürokratische Hilfe bei der Besorgung brasilianischer Bücher. Joachim Gräfe gilt mein Dank für seine Bearbeitung der Fotografien. Marita Buderus-Joisten unterstützte mich durch ihre sorgfältige Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anregungen, die sie gab, wofür ich ihr dankbar bin. Dr. h. c. Klaus D. Vervuert und Kerstin Houba vom Vervuert Verlag danke ich für ihr Interesse an diesem Projekt und die Hilfsbereitschaft und die nützlichen Hinweisen, mit denen sie mich während des Publikationsprozesses begleitet haben.
17 Danken möchte ich ferner der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung, Hamburg. Der von ihr gewährte Druckkostenzuschuss machte das Erscheinen dieses Buches möglich. Mein besonderer und inniger Dank gilt meiner Familie. Ohne ihre umfassende und unermüdliche Unterstützung und Ermutigung wäre die Verwirklichung dieser Forschungsarbeit nicht möglich gewesen. Sie hat mir nicht nur dabei, sondern auch noch bei den beiden anderen Buchprojekten, die als Nebenprodukte entstanden sind, zur Seite gestanden.
Marlen
Eckt, August
2010
I. Einfuhrung
1. DAS DEUTSCHSPRACHIGE EXIL IN BRASILIEN
Das deutschsprachige Exil in Brasilien ist untrennbar mit dem Namen Stefan Zweig verbunden, war er doch der prominenteste Flüchtling des Nationalsozialismus in diesem Land, ja in ganz Südamerika. Im Vergleich zu anderen Exilländern war die Anzahl der namhaften Flüchtlinge des Nationalsozialismus, die nach Brasilien kamen, verhältnismäßig gering. Wie alle südamerikanischen Länder galt auch Brasilien eher als zweite Wahl, wenn man angesichts der Notlage der zum Verlassen der eigenen Heimat Gezwungenen überhaupt von Wahl sprechen kann. Es rückte daher ebenso wie viele außereuropäische Länder mit Ausnahme der USA und Palästina erst relativ spät in das Blickfeld der Aufmerksamkeit, als die europäischen Nachbarländer keinen Schutz mehr vor den NaziSchergen boten. Das Wissen über Lateinamerika war unter den verzweifelten mitteleuropäischen Flüchdingen oftmals so gering, dass Brasilien in vielen Fällen nur aufgrund äußerer Umstände statt einer bewussten Wahl zum Zufluchtsland wurde. 1 Manchmal besaß man Freunde oder Verwandte dort, einige hatten unbebautes Land in Südbrasilien gekauft, häufig aber war es einfach nur das einzige Land,
1
Als Informationsquellen standen den Exilanten ab 1936 hauptsächlich die Brasilien-Artikel
in den beiden Südamerika gewidmeten Ausgaben der vom Hilfsverein der Juden in Deutschland herausgegebenen Zeitschrift Jüdische Auswanderung
und der 1938 vom Centraiverein deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens zusammengestellte PHILO-Atlas.
Handbuch für die jüdische Aus-
wanderung zur Verfügung. Ferner diente die Broschüre Brasilien als Aufrahmeland
der jüdischen
Auswanderung in Deutschland, die der in Säo Paulo tätige Wirtschaftsberater Herbert Frankenstein 1936 verfasst hatte, als erster Leitfaden. Doch über die Verbreitung und Intensität der Rezeption dieser Veröffentlichungen, die ohnehin nur möglich war, wenn es sich bei den Exilanten um solche handelte, die sich vorbereiten konnten und nicht in letzter Minute fliehen mussten, kann keine abschließende Aussage gemacht werden. Vgl. Autor unbekannt 1936. Ders. 1939. Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1998. Frankenstein 1936.
20
,Das Paradies ist überall verloren"
für das es gelungen war, ein V i s u m zu erhalten. So schifften sich viele Exilanten ohne wesentliche, über die üblichen vagen Informationen und Klischeevorstellungen hinausgehende Kenntnisse über das Bestimmungsland ein. Im Rückblick schreibt die bei der Uberfahrt 13 Jahre alte Eva Sopher über dieses Unwissen: Wir überquerten den Ozean, ohne zu wissen, was uns erwartete, ohne die Sprache des gewählten Landes zu sprechen. Wir wussten wirklich nichts von unserer neuen Heimat. So ist es nicht verwunderlich, dass ich annahm, dort Affen auf der Straße zu sehen. Das Schiff machte eine Zwischenstation in Salvador da Bahia, und dort bekam ich meinen buchstäblich ersten Eindruck von Brasilien, denn ich entdeckte einen niedlichen dicken kleinen schwarzen Jungen, der mit dem nackten Popo auf der Straße saß. Die ärmeren Kinder trugen damals keine Windeln, denn das würde Arbeit gemacht haben und hätte Geld gekostet. Der Junge machte einfach ,Pipi' auf die Straße, ich fand dies urkomisch. Der beim Verlassen Europas im Jahre 1935 31-jährige Carlos Langenbach schildert in seiner Autobiographie seine ersten Überlegungen zu Brasilien: Nós sabíamos que um país com origens totalmente diferentes nos aguardava, com urna língua ainda praticamente inacessível, muito mais primitivo que a Europa Central e com urna populado de qual nao tínhamos conseguido ter urna idéia mais concreta. [...] Eu sabia que lá existam muitos estrangeiros [...] mas o que os caracterizava como brasileiros eu só tinha urna vaga idéia. Eram eles os descendentes dos habitantes nativos, os indios? Ou os descendentes dos colonizadores portugueses? Também destes eu nao tinha nofáo. 2 Wir wussten, dass uns ein Land mit völlig unterschiedlichen Ursprüngen erwartete, mit einer praktisch noch immer unzugänglichen Sprache, sehr viel primitiver als Mitteleuropa und mit einer Bevölkerung, von der wir uns noch nicht einmal eine konkretere Vorstellung zu machen vermochten. [...] Ich wusste, dass dort viele Fremde lebten [...] aber von dem, was sie als Brasilianer charakterisierte, hatte ich nur eine vage Ahnung. Waren sie die Nachkommen der eingeborenen Bevölkerung, der Indios? Oder die Nachkommen der portugiesischen Kolonisatoren? Auch davon wusste ich nichts.
2
Sopher 2005, 171/172. Vgl. dazu auch Sopher; Hohlfeldt 1991, 18/19. Langenbach 2007,
302. Eine ähnliche Unwissenheit bezüglich anderer lateinamerikanischer Zufluchtsländer hielten Alfredo José Schwarcz, Leo Spitzer, Egon Schwarz und Benno Weiser Varon im Hinblick auf Argentinien, Bolivien bzw. Ecuador in ihren Werken fest. Vgl. Schwarcz 1995, 2 4 6 / 2 4 7 . Spitzer 2003, 132-135. Schwarz 1992, 98, 111/112. Varon 2008, 156.
I. Einführung
21
Obschon man wenig über das Land und damit auch über das damals herrschende diktatorische Regime von Getülio Vargas wusste, wurde man mit einer seiner politischen Maßnahmen unweigerlich noch in Europa konfrontiert. Während der Bemühungen, ein Visum für Brasilien zu erlangen, bekamen die Flüchtlinge, insbesondere die jüdischen, die Folgen der äußerst restriktiven Immigrationsbestimmungen zu spüren. Wenngleich das Land mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Flüchtlingen des Nationalsozialismus mitnichten eine Ausnahme bildete, regelten in Brasilien jedoch die Vorschriften nicht nur die Einwanderung. Die Immigrationsgesetze dienten dem Regime zugleich als innen- und außenpolitisches Instrument, das es den jeweiligen Umständen entsprechend anpasste. Nationalismus, Xenophobie und der zunehmende Einfluss europäischer Rassentheorien prägten die Einwanderungsbestimmungen ebenso wie der Wunsch nach Wirtschaftswachstum und Industrialisierung, für dessen Verwirklichung man aber ausländisches Kapital benötigte. 3 In der ersten unter dem Regime von Getülio Vargas ausgearbeiteten Verfassung von 1934 wurde in Anbetracht der Ereignisse in Europa und der langsam anschwellenden Flüchtlingsströme die gesetzliche Unterscheidung zwischen Immigranten und Nicht-Immigranten festgeschrieben. Demgemäß stufte Brasilien, das kein Asylrecht kannte, ebenso wie fast alle lateinamerikanischen Staaten die Flüchtlinge des Nationalsozialismus als Einwanderer ein. Ferner wurde nach argentinischem Vorbild die Möglichkeit der cartas de chamada, der „Rufbriefe", geschaffen, nach der bereits eingewanderte Personen ihre Angehörigen nachkommen lassen konnten. Die Immigrationsbestimmungen erfuhren in der im Zuge der Ausrufung des Estado Novo (Neuen Staats) eingeführten Verfassung von 1937 eine weitere Restriktion. Unter dem Einfluss der in jenen Jahren immer stärker vom Regime vertretenen Nationalisierungspolitik 4 wurde darin ein in Anlehnung an die amerikanischen Einwanderungsvorschriften konzipiertes Quotensystem erlassen. Auf diese Weise sollte eine Konzentration von Im-
3
Vgl. Lesser 1994, 25. Ders. 1995, 161, 185-187, 201/202, 225-230.
4
Hinsichtlich der Gemeinschaften der unterschiedlichen europäischen Einwanderergruppen
und deren inzwischen eingebürgerten Nachkommen fiihrte das Vargas-Regime zur Förderung eines allumfassenden nationalen Identitätsgefiihls eine konsequente Nationalisierungskampagne durch, in deren Rahmen zahlreiche Maßnahmen erlassen wurden. Mit diesen wollte man im Wesentlichen die Integration der nationalen Minderheiten in die brasilianische Nation, die Verankerung der portugiesischen Sprache in ihren Gemeinden und die „Nationalisierung" der Wirtschaft sicherstellen. Nähere Erläuterungen zum Regime von Getülio Vargas und dessen Politik finden sich im Kap. VII, 1.
22
,Das Paradies ist überall verloren"
migranten aus einem Land verhindert werden. Mit derart strikten Regelungen sollte überdies die Einreise von politisch „subversiven Elementen" wie Kommunisten und für die Entstehung einer homogenen weißen brasilianischen „Rasse" „schädlichen" Bevölkerungsgruppen unterbunden werden. Juden wurden von vielen der Mitte der 30er Jahre an den Schaltstellen des Regimes sitzenden Politiker gemäß der europäischen Rassentheorien als minderwertige, schädliche und nicht in die Nation integrierbare Personen angesehen. Bereits fünf Monate vor dem im November 1937 vollzogenen Staatsstreich, in dessen Rahmen Getülio Vargas den Estado Novo ausrief und seine Macht festigte, hatte das Außenministerium das vom Präsidenten autorisierte geheime Rundschreiben Nr. 1127 in Umlauf gebracht, das das Verbot der Visumsvergabe an Personen vorschrieb, die „von semitischer Abstammung" waren 5 . Der Grund für die Geheimhaltung dieses und der weiteren vorwiegend zur Regelung und Drosselung der Einwanderung von Juden verbreiteten Umlaufschreiben war die Furcht vor negativen Auswirkungen für Brasilien, vor allem in den USA. Zu diesem Zeitpunkt wollte man sich noch sowohl die Option zur Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich als auch den U S A vorbehalten. 6 Nach innen versuchte man sich, mit der auf einen bestimmten Personenkreis beschränkten Bekanntgabe der Dekrete einen größeren Handlungsspielraum offenzuhalten und zugleich mit der Suggestion einer Gefahr durch einen unberechenbaren Feind die Dringlichkeit des Problems zu verdeutlichen. Aufgrund der Radikalität der Bestimmungen, die sogar amerikanisch- und britisch-jüdischen Geschäftsleuten und Touristen die Einreise versagten, ließ sich aber die Geheimhaltung nicht lange aufrechterhalten. Zwar nahm Brasilien im Jahr 1938 zur Pflege des Images eines an humanitären Belangen interessierten Landes im internationalen Staatengefuge an der Flüchtlingskonferenz von Evian teil, auf der man sich vor allem seitens der U S A bemühte, den nach dem „Anschluss" Österreichs stetig anschwellenden Flüchtlingsstrom nach Lateinamerika umzulenken. Doch weder auf dieser noch auf den Nachfolgekonferenzen zeigten sich die Staaten Amerikas, Nord
5
Vgl. Circular Secreta Nr. 1127, 07.06.1937 in: Carneiro 2001, 115. An dieser Stelle wird nur
auf die sich unmittelbar auf die Exilanten auswirkenden Maßnahmen eingegangen. 6
Die antisemitisch geprägte Immigrationsregelung fungierte, wenn auch nur in einem gerin-
gen Maße, als Element, um das Land für die Nationalsozialisten attraktiver erscheinen zu lassen. Vgl. Lina Gorenstein in: Nazärio 1995-97, o. S. Zu den Gründen der Geheimhaltung der Zirkulare vgl. auch Lesser 1995, 173/174.
I. Einführung
23
wie Süd, bereit, die Immigrationsvorschriften zu lockern. Brasilien war demnach keine Ausnahme. „Em primeira instancia estava o projeto étnico, político e social do país; depois vinha o sentimento humanitário. (Zuallererst ging es um die ethnische, politische und soziale Ausrichtung des Landes; danach kam das humanitäre Gefühl.)" 7 Bewahrte das Vargas-Regime 1938 durch seine Partizipation auf den Konferenzen nach außen hin das Bild einer an einer konstruktiven, menschenwürdigen Lösung für die Flüchtlinge interessierten Regierung, so stellte es innen zur selben Zeit die Weichen, um die legale Einwanderung von Juden möglichst zu unterbinden. Juden wurden in den politischen und diplomatischen Kreisen als subversive oder unassimilierbare „Elemente" betrachtet, die dazu neigten, im Staat eine rassische Gruppe und einen Fremdkörper zu bilden.8 Bevor im September 1938 der Conselho de Imigragäo e Colonizando (CIC) (Immigrations- und Kolonisationsrat), der mit der Ausarbeitung der den Interessen des Vargas-Regimes förderlichen Einwanderungsbestimmungen betraut war und dessen Resolutionen Gesetzeskraft besaßen, offiziell seine Arbeit aufnahm, wurde das Gesetzesdekret Nr. 406 vom 04. Mai 1938 erlassen. Darin wurde u.a. die Möglichkeit der cartas de chamada wieder aufgehoben und innerhalb des schon vorhandenen Quotensystems eine Vorzugsklausel fiir Agrarier eingeführt. 8 0 % der fiir jedes Herkunftsland festgesetzten Quote, die 2 % der zwischen 1883 und 1924 aus diesem Land Eingewanderten entsprach, waren ausschließlich für Landwirte vorgesehen. Die restlichen 2 0 % verteilten sich auf Handwerker, Techniker und andere Berufe. Diese Vorzugsklausel wurde allerdings durch Falschangaben häufig umgangen. Das Gesetzesdekret Nr. 3010, das am 20. August 1938 beschlossen wurde, stellte die nähere Reglementierung des Gesetzesdekrets Nr. 406 dar. A lei 3010 é extensa, extremamente detalhada, e se assemelha a urna espécie de manual. Fornecia náo somente as regras e diretrizes a serem seguidas, mas também reajustava e padronizava todos os detalhes relacionados a burocracia da entrada de estrangeiros. Entre outros detalhes, estabelecia os formularios a serem preenchidos no exterior, os carimbos [...] A lei teve por objetivo ordenar e controlar minuciosamente todo o processo de entrada e registro dos estrangeiros no Brasil, desde a autorizado para a concessáo do visto até a partida ou a naturalizado daquelas pessoas.9
7
Carneiro 2 0 0 1 a , 102. Zu Brasiliens Vorgehensweise auf den Konferenzen vgl. 8 3 - 1 4 6 .
8
Vgl. Carneiro 2 0 0 9 .
9
Koifman 2 0 0 2 , 112.
24
,Das Paradies ist überall verloren" Das Gesetz 3.010 ist umfangreich, äußerst detailliert und ähnelt einer Art Handbuch. Es lieferte nicht nur die einzuhaltenden Regeln und Vorschriften, sondern legte auch alle die mit der Einreise von Ausländern verbundenen Details fest und brachte sie auf einen Standard. Unter anderem schrieb es die Formulare vor, die im Ausland auszufüllen waren, die Stempel [...] Das Gesetz hatte die minutiöse Regelung und Kontrolle des gesamten Einreiseprozesses und der Registrierung der Ausländer in Brasilien zum Ziel, von der Genehmigung zur Erteilung des Visums bis zur Wiederausreise oder Einbürgerung jener Personen.
Nachdem sich die Radikalität des Umlaufschreibens Nr. 1 1 2 7 als unhaltbar erwiesen hatte und den Protesten und dem Druck der USA und Großbritannien auf Dauer nicht standzuhalten war, wurden mit dem Geheimzirkular Nr. 1 2 4 9 vom 29. September 1 9 3 8 einige Bestimmungen eingeführt, die die Visumsvergabe, obgleich nur in wenigen Ausnahmefallen, an Personen jüdischer Herkunft gestattete. Die Erteilung von temporären Visa an Bewerber jüdischer Abstammung war erlaubt, wenn es sich um Touristen oder Geschäftsleute handelte, was mit einem gültigen Rückreiseticket zu beweisen war. Außerdem wurde ebenfalls die bereits verbotene Nachholung von Ehegatten oder Blutsverwandten ersten oder zweiten Grades mithilfe von cartas de chamada bis einschließlich 3 1 . Dezember 1 9 3 8 wieder zugelassen. Als Rabbiner der von den jü-
dischen Flüchtlingen gegründeten Congregagäo
Israelita
Paulista
(CIP)
(Israelitischen Kongregation von Säo Paulo) wurde Fritz Pinkuss Zeuge, wie unzählige Exilanten versuchten, mittels der chamada das Leben ihrer Verwandten zu retten. Als 1938 in der sogenannten .Kristallnacht' die Ausstellung einiger Visa für Brasilien erreicht wurde, taten wir alles, um die Ankunft möglichst vieler Einwanderer vorzubereiten. Ich erinnere mich, daß wir während des Sukkot im Jahr 1938 die Nachricht erhielten, daß die Ausweispapiere für die Einwanderer innerhalb von ein oder zwei Tagen im Außenministerium in Rio de Janeiro vorliegen müßten. Ich traf damals die Entscheidung den Gottesdienst abzubrechen. Wir [...] machten uns dann daran, auf geliehenen Schreibmaschinen in der Synagoge [...] die Ausweise vorzubereiten, die den Behörden zugeschickt werden sollten. 10 Indes war der Estado Novo bei der Handhabung dieser Ausnahmeregelung äußerst streng und zeigte sich hinsichtlich der Einhaltung der Fristen so uner-
10
Pinkuss 1 9 9 0 , 6 1 / 6 2 .
I. Einführung
25
bittlich, d a s s viele G e s u c h e scheiterten. O p f e r der i n h u m a n e n A n w e n d u n g e n d i e s e r B e s t i m m u n g w u r d e a u c h F r i e d a W o l f f , d i e ihre E l t e r n n a c h B r a s i l i e n k o m m e n lassen wollte: Q u a n d o , em 1938, a Circular 1.249 permitiu .chamadas para parentes até o segundo grau a serem fei tas por judeus estrangeiros que morassem legalmente em territorio brasileiro', apressamo-nos a fazer o nosso requerimento em favor dos meus pais, mas fomos avisados de que nossa legalizaçâo era válida somente para o estado de Sáo Paulo [...] corremos para o Comité de Ajuda para, por intermèdio dele, requerer a nossa .chamada', assunto urgente [...] Até levamos nossa máquina de escrever, sabendo que faltavam máos para redigir tantos últimos requerimentos que iam ser levados para o Rio de Janeiro por urna pessoa do Comité, no último dia do prazo [...] Mas o Itamaraty somente carimbou todos estes documentos um dia mais tarde, motivo de todos serem indeferidos. Meus pais foram mortos pelos nazistas e eu me culpo até hoje. 11 Als das Rundschreiben 1.249 1938 ,legal in Brasilien wohnhaften ausländischen Juden das Nachholen von Verwandten bis zum zweiten Grad' erlaubte, beeilten wir uns, unser Gesuch für meine Eltern zu stellen, aber es wurde uns mitgeteilt, dass die Legalisierung unseres Status nur für den Staat Sáo Paulo gültig wäre [...] wir rannten zum Hilfskomitee, um mit dessen Vermittlung unser Gesuch zur Nachholung einzureichen, es war eine Frage der Zeit [...] Wir nahmen sogar unsere Schreibmaschine mit, da wir wussten, dass es an Leuten mangelte, um so viele Anträge in letzter Minute auszufertigen. D i e Anträge sollten von einem Mitarbeiter des Komitees am Stichtag der Frist nach Rio de Janeiro gebracht werden [...] Aber der Itamaraty [d.i. das nach seinem Amtssitz im Palacio Itamaraty benannte brasilianische Außenministerium, M.E.] stempelte alle Dokumente erst einen Tag später ab, weshalb sie alle abgelehnt wurden. Meine Eltern wurden von den Nazis ermordet, und ich fühle mich bis heute dafür schuldig. D a s Privileg eines P e r m a n e n t v i s u m s w u r d e n u n m e h r lediglich „ K a p i t a l i s t e n " z u g e s t a n d e n , d i e einen beträchtlichen G e l d b e t r a g , dessen g e n a u e H ö h e in den folgenden Jahren mehrfach geändert wurde, nach Brasilien überweisen m u s s t e n . U n g e a c h t e t ihrer j ü d i s c h e n H e r k u n f t sollten j e d o c h ebenfalls v o n der R e g i e r u n g b e n ö t i g t e T e c h n i k e r u n d Künstler, Intellektuelle u n d W i s s e n s c h a f t ler v o n i n t e r n a t i o n a l e m R u f e i n e D a u e r a u f e n t h a l t s g e n e h m i g u n g e r h a l t e n . 1 2
11
Wolff 1999, 26/27.
12
Vgl. Carneiro 2001, 130-134. Lesser 1995, 199/200. Ders. 1995a, 223-239.
26
,Das Paradies ist überall verloren"
Obwohl Stefan Zweig als Künstler, der von jeglicher Dokumentation befreit im November 1940 ein solches Dauervisum ausgestellt bekam 13 , als österreichischer Flüchtling in Brasilien sehr bekannt war, soll dieser Eindruck nicht trügen, dass es eine große Anzahl von Künstlern gewesen wäre, die infolge dieser Bestimmung ein lebensrettendes Visum erhalten hätten. Es waren weniger jüdische Künstler als vielmehr jüdische Wissenschaftler, die auf diesem Weg in Brasilien Zuflucht fanden. Das Vargas-Regime nutzte das internationale Renommee der infolge der nationalsozialistischen „Rassenpolitik" arbeitslos gewordenen Wissenschaftler zum Aufbau und zur Steigerung des Ansehens der einheimischen Universitäten und Forschungsinstitute. „It is important to note that the Jewish scientists who came to Latin America did more than transfer technology and knowledge, they did it at a very low price that universities and research institutes found attractive." 14 Es waren sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaftler, die in Brasilien eine akademische Aufgabe fanden, wenngleich erstere in der Uberzahl waren. Nachdem die Einfuhrung des Rundschreibens Nr. 1127 einen drastischen Rückgang der jüdischen Immigration um 75% im Jahr 1938 bewirkt hatte, stieg die Zahl der jüdischen Einwanderer 1939 um mehr als 200% im Vergleich zu 1937, so dass mit 4.601 sogar mehr [Juden, M.E.] einreisten als in irgendeinem anderen der vorausgegangenen zehn Jahre. Brasilien nahm sechs Prozent aller Juden auf, die 1939 Europa verließen, mehr als Argentinien oder Kanada, und war nach den Vereinigten Staaten das bedeutendste Aufnahmeland fiir Flüchdinge in Amerika. [...] vielmehr machten Juden auch einen beträchtlichen Teil der deutschen Quote aus. Mehr als sechzig Prozent der Deutschen, die 1939 in Brasilien legal mit Dauervisen einreisten, waren Juden, und fünfundvierzig Prozent derer mit befristeten Visen. 15
13 Vgl. Dines 2006, 380, Abb. 46. Alberto Dines vertritt die These, dass Stefan Zweig die Aufenthaltsgenehmigung als Tausch gegen die überschwängliche Lobeshymne in Brasilien, Ein Land der Zukunft erhalten hatte. Dagegen spricht nicht nur die Bestimmung des Zirkulars, sondern auch die Tatsache, dass das Vermögen des Schriftstellers, das sich nach seinem Tod auf Konten brasilianischer Banken befand, die statdiche Summe von 82 Contos betrug (vgl. Dines 2006,603) und er damit auch die Kapitalklausel mühelos erfüllte. Zu der Tatsache, dass Stefan Zweig nicht das Brasilienbuch benötigte, um die Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten vgl. auch Drekonja-Kornat 1998, 133-139. Ders. 2007. H 15
Lesser 1995a, 227. Vgl. dazu auch Aust 1963/1964, 197-211. Lesser 1994, 98. Ders. 1995, 170, 225, 320.
I. Einführung
27
Die eigentlich „unerwünschten" Juden waren erwünscht, wenn sie reich waren, internationalen R u h m besaßen oder als Techniker und Wissenschaftler dem Fortschritt und Ansehen Brasiliens dienlich sein konnten. Für diese Art von Umdenken war vor allem die zunehmend erfolgreiche politische Einflussnahme der U S A verantwortlich. 16 Bereits Anfang 1939 wurden jedoch die Vorschriften des Zirkulars Nr. 1249 in einer Reihe von Umlaufschreiben wieder eingeschränkt. Die Änderungen, denen die Bestimmungen dabei unterworfen waren, waren zum einen Reaktionen auf die Kriegsereignisse in Europa und richteten sich zum anderen nach innenpolitischen Bedürfnissen. (A) maioria d o s nossos diplomatas anti-semitas faz questáo de enfatizar q u e näo säo racistas. Suas atitudes se justificam s e m p r e e m n o m e d o imperativo dever patriótico pelo qual náo deviam ficar calados. Recusar vistos aos judeus, significava prestar u m grande servido ao Brasil. Deveria ser u m a , h o n r a ' para todos aqueles que estivesse äs Ordens do Servifo Publico brasileiro: palavras de C y r o de Freitas Valle, E m b a i x a d o r d o Brasil e m Berlim, e m 1 9 3 9 . 1 7 D i e M e h r h e i t unserer antisemitischen D i p l o m a t e n legt Wert darauf, zu b e t o n e n , dass sie keine Rassisten seien. Ihre H a l t u n g e n rechtfertigen sich i m m e r im N a m e n des imperativen patriotischen Gehorsams, dessentwegen sie nicht schweigen dürften. J u d e n Visa zu verweigern, bedeutete, einen großen Dienst für Brasilien zu leisten. Es müsste eine „ E h r e " f ü r alle Angehörigen des brasilianischen öffentlichen Dienstes sein, so die Worte von C y r o de Freitas Valle, brasilianischer Botschafter in Berlin 1939.
Viele Flüchtlinge konnten deshalb nur hoffen, dass sich in ihrem persönlichen Fall die ambivalente Haltung des Vargas-Regimes hinsichtlich der Immigrationsgesetzgebung zum Guten wenden würde. Diese bedeutete, „daß die Einwanderung das eine Mal genehmigt und das andere Mal dann wieder abgelehnt wurde. [...] Viele erhielten nur ein ,Touristenvisum'. [...] Und sie hatten
16
Um brasilianische Politiker zur Lockerung der Immigrationsregelungen bezüglich der Juden
zu bewegen, zeigte man seitens der USA die Vorteile von bis dahin als rein negativ angesehenen stereotypischen Eigenschaften der Juden auf. In diesem Sinne wurden begüterte Juden und deren Kapital weniger als Teil der internationalen Verschwörung, sondern vielmehr als großer Gewinn für die brasilianische Wirtschaft verstanden. Unter Einwirkung der USA fand demzufolge eine Umwertung von negativen Stereotypen statt, die nunmehr eine positive Konnotation erhielten. Eine Schlüsselrolle auf brasilianischer Seite spielte dabei der amerikafreundliche damalige Außenminister Oswaldo Aranha. Vgl. Lesser 1995, 218-226. 17
Carneiro 2001a, 273.
28
,Das Paradies ist überall verloren"
doch keine andere Wahl." 18 Die Allgegenwärtigkeit der Sorge der Behörden vor der unerlaubten Einreise der Juden belegt, dass sich die Bestimmungen trotz aller Restriktionen als uneffizient erwiesen. Tatsächlich versuchten unzählige Flüchtlinge ohne gültige Papiere in Brasilien von Bord zu gehen, immer auf das Verständnis des Dienst habenden Beamten hoffend, was indes nur selten glückte. 19 Auch die Einreise über Argentinien, Uruguay oder Paraguay wurde als Weg gewählt, immer wieder berichteten brasilianische Zeitungen über Menschenschmuggel über die Grenzen dieser Länder nach Südbrasilien. 20 Um die strikten Gesetze zu umgehen, legten die Exilanten bisweilen echte, mehrheitlich aber gefälschte Taufscheine vor, was ebenfalls nicht immer erfolgreich war. Wie stark das Denken der herrschenden Klasse Brasiliens von der antisemitisch geprägten „Rassenpolitik" der Nationalsozialisten beeinflusst war, veranschaulicht die gescheiterte Durchführung der Vergabe der 3.000 Visa für sogenannte „nicht-arische Katholiken". Auf Intervention von Papst Pius XII., der sich nach dem „Anschluss" Österreichs und des Sudetenlands sowie der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren um die große Anzahl der aufgrund ihrer jüdischen Abstammung zur Flucht gezwungenen Katholiken sorgte, hatte das Vargas-Regime nach zähen Verhandlungen 3.000 Visa für sogenannte „nichtarische Katholiken" bewilligt. Weil sie der Ansicht waren, dass die Ausübung des katholischen Glaubens nichts an der Tatsache ändere, dass die Juden immer als Juden zu betrachten seien, verzögerten und verweigerten die brasilianischen Diplomaten, vor allem der Botschafter Cyro de Freitas Valle in Berlin und seine Konsulatskollegen in Hamburg, die Erteilung dieser Visa. Letztlich wurden nur 956 Visa ausgestellt, von denen lediglich 803 Personen Gebrauch machten und nach Brasilien einreisten.21 In diesem Sinne steht das Scheitern dieser Initiative exemplarisch für die Widersprüchlichkeit der Immigrationsgesetzgebung und Haltung des VargasRegimes gegenüber den Flüchtlingen des Nationalsozialismus. So wie die Bewilligung der 3.000 Visa die Möglichkeit der Einwirkung von außen belegt, zeigt sich in der Vereitlung der Umsetzung der starke Einfluss der antisemiti-
18
Pinkuss 1 9 9 0 , 6 1 .
19
Vgl. Koifman 2002, 113. Die Zahl der Fälle der politischen brasilianischen Soziabilität, die
fiir pragmatische Haltungen, den Kompromiss und die Behandlung eines jeden individuellen Falles als Einzelfall anstelle von standardisierten, bürokratischen Verhaltenweisen sehr offen ist, ist deshalb unter gar keinen Umständen überzubewerten. Vgl. Sorj 1997, 27. 20
Vgl. Carneiro 2001, 157-167.
21
Vgl. Milgram 1994, 151.
I. Einführung
29
sehen Rassentheorien bezüglich innenpolitischer Belange. Ungeachtet des Scheiterns trug die Aktion dazu bei, „daß katholische und bürgerlich-konservative Kreise im brasilianischen Exil, besonders unter Österreichern, eine größere Rolle spielten als in anderen Ländern Südamerikas." 22 Neben „nicht-arischen" katholischen Laien fanden desgleichen „nicht-arische" Mönche der unterschiedlichsten Orden in brasilianischen Klöstern Zuflucht. 23 Katholische Exilanten setzten sich für die Aufklärung ihrer brasilianischen Glaubensbrüder ein, indem sie dafür sorgten, dass ihnen die von Papst Pius XI. 1937 verfasste, den Nationalsozialismus verurteilende Enzyklika Mit brennender Sorge in portugiesischer Sprache zugänglich gemacht wurde. 24 Doch während Brasilien einerseits in Geheimzirkularen die Einwanderungsmöglichkeit für jüdische Flüchtlinge sukzessiv beschränkte und sich antisemitisch gesinnte Diplomaten beim Außenminister Oswaldo Aranha darüber beschwerten, dass trotz der strengen Normen „weiterhin Juden von schlechter Güte in steigender Zahl" ins Land einreisten25, blieben andererseits einige der brasilianischen Diplomaten von der Tragödie, deren Zeuge sie in den ausländi-
22
Pfersmann 1995, 89. In diesem Zusammenhang gilt es auch, auf die Arbeit des seit 1871 in
Südamerika tätigen St. Raphaelvereins hinzuweisen, dessen Bemühungen sich jedoch in diesem Fall als vergeblich erwiesen. 23
Der Bekannteste unter diesen deutschsprachigen Flüchtlingen des Nationalsozialismus
dürfte der Benediktinerpater Paulus Gordan gewesen sein. Er war 1938 von seinem deutschen Orden nach Brasilien geschickt worden, da sein Leben nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze gefährdet war. Dort schloß er eine enge Freundschaft mit zwei der berühmtesten katholischen Exilanten, über die und deren brasilianisches Exil er einen Essay geschrieben hat, Johannes SchaufFund Georges Bernanos. Vgl. Gordan 1983, 11-37; 1959. 24
Johann Grimeisen, der Vater des mithilfe seines Ordens nach Südbrasilien geflohenen Wie-
ner Jesuiten Franz Grimeisen, war der Initiator dieser Übersetzung. Darüber hinaus versuchte er, die Brasilianer mithilfe seiner publizistischen Tätigkeit für religiöse Themen und soziale Nöte zu sensibilisieren. Sein Engagement in dieser Angelegenheit war so stark, dass eine brasilianische Zeitung ihn als den „österreichischen katholischen Führer" bezeichnete. Vgl. Grimeisen, Johann: Von mir über mich. Autobiographische
Skizzen. Unveröffentlichtes Manuskript in: Nachlass Johann
Grimeisen. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien, Akte Nr. 21314. Weinzierl 1991, 75-100. Autor unbekannt 1942. 25
Oswaldo Aranhas Wiedergabe einer Ansicht von Cyro de Freitas Valle zit. nach: Dines
2006, 364. Oswaldo Aranha bezog sich hier in einem Brief vom 05.01.1940 auf die Beschwerde, die der damalige Botschafter in Berlin an ihn gerichtet hatte, weil dieser die Einreise von Juden als für noch immer nicht ausreichend eingeschränkt empfand. Obwohl der Außenminister in der Hierarchie über dem Botschafter stand, rechtfertigte er sich ausfuhrlich vor ihm und erklärte: „In Anbetracht dieser Situation verschickte das Itamaraty das geheime Rundschreiben Nr. 1127 vom
30
,Das Paradies ist überall verloren"
sehen Vertretungen in Europa wurden, nicht unberührt. Ihrer Menschlichkeit verdanken hunderte Flüchtlinge die lebensrettende Zuflucht in Brasilien. Der wohl berühmteste dieser G r u p p e brasilianischer D i p l o m a t e n ist Luiz Martins de Souza Dantas, der damalige Botschafter in Paris. Als eine Art „ D o n Q u i x o t e in der Finsternis" setzte er sich über die inhumane Einwanderungsgesetzgebung seines Landes hinweg und verhalf fast 5 0 0 Personen jüdischer Herkunft zu einem Visum, wobei er sogar nicht davor zurückscheute, Diplomatenvisa zu erteilen, die den Flüchtlingen die Einreisebedingungen besonders erleichterten. Souza Dantas náo seguiu urna conduta sistemática uniforme em rela^äo às suas concessóes. [...] Diante dessa situarlo, Souza Dantas tratou ele mesmo de ajudar os que fugiam do nazismo, independente de qualquer critèrio ou atributo financeiro, técnico ou racial, concedendo vistos diplomáticos em passaportes comuns a todo tipo de pessoa ou familia que o alcan^ou, e que se encontrarse em s i t u a l o de perigo, seja em razáo de perseguifóes pretensamente raciais ou políticas, náo tendo jamais consultado ou solicitado autorizado para a grande maioria dos vistos que concedeu. 26 Souza Dantas folgte bei seinen Bewilligungen keinem einheidichen, systematischen Muster [...] Angesichts dieser Situation war es Souza Dantas daran gelegen, denjenigen zu helfen, die vor dem Nazismus flohen, unabhängig von jeglichem finanziellen, technischen oder rassischen Kriterium. Er bewilligte Diplomatenvisa in normalen Pässen allen Personen oder Familien, die ihn aufsuchten oder sich auf Grund der vermeintlich rassischen oder politischen Verfolgungen in einer Gefahrensituation befanden. Er holte fiir die große Mehrheit der von ihm bewilligten Visa nie Rat ein oder bat um Genehmigung. N a c h eigener Aussage ging Luiz Martins de Souza Dantas bei der Visumsvergabe folgendermaßen vor: „ D i e Konsuln fragten: ,Sind Sie Jude?' U n d wenn ja, gaben sie kein V i s u m . Ich, bevor ein diplomatisches V i s u m zu geben [sie],
7.6.1937, das den Konsulaten untersagte, Passvisa an Personen semitischer Herkunft zu erteilen. [...] Das Itamaraty begann, von einer großen Anzahl von Juden, die die Einreise der Verwandten und Freunde forderte, belagert zu werden. Oft war der Appell so flehendich oder die Gesuche, die sie vorwiesen, so vorschriftsmäßig, dass sich das Itamaraty gezwungen sah, Ausnahmen zu machen [...] Trotz dieser Nachsicht waren es 1939 nicht mehr als 2.289 Personen semitischer Herkunft, die in Brasilien einreisten, was eine beachtliche Verringerung im Vergleich zu den Vorjahren darstellt 1938 waren es 4.900 gewesen und 1937 betrug die Zahl 9.263." Vgl. dazu auch Carneiro 2001, 213-224. Lesser 1995, 236/237. 26
Koifman 2002, 205/206.
I. Einführung
31
fragte: ,Sind Sie Jude?' Und wenn nein, gab ich keins." (Feder TB 27 , Bd. 16, 23.08.1945) In Anerkennung für seinen Einsatz für die Flüchtlinge wurde der Diplomat posthum 2003 vom Staat Israel mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet. Außer ihm erhielt lediglich ein weiterer brasilianischer Staatsbürger diese Ehrung, nämlich die als „Engel von Hamburg" bekannt gewordene Aracy de Carvalho Guimaräes Rosa. Die deutschstämmige, damalige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau des namhaften Schriftstellers Joäo Guimaräes Rosa, der in jenen Jahren als Vizekonsul in Hamburg tätig war, begann sich angesichts der täglich zu beobachtenden entwürdigenden Verfolgung und der sich zuspitzenden Notlage der Juden im Rahmen ihrer Arbeit als Konsulatsangestellte den Immigrationsvorschriften Brasiliens, die sie als ungerecht empfand, zu widersetzen. „(C)om a maior discri^io, continuou a preparar os processos de vistos para judeus, ä revelia de seus superiores [...] ela enfiava os vistos no meio da papelada que despachava com o consul-geral, que os assinava sem ver. (Mit größter Diskretion fuhr sie fort, die Visa-Anträge der Juden unter Umgehung ihrer Vorgesetzten vorzubereiten [...] sie mischte die Visa unter den Papierberg, den sie mit dem Generalkonsul abarbeitete. Dieser unterschrieb sie, ohne sie durchzusehen.)" 28 Joäo Guimaräes Rosa, der als Vizekonsul nicht direkt in die Visumsvergabe involviert war, jedoch wusste, was seine Lebensgefährtin tat, deckte sie.29 Da alle Visa die Unterschrift des Generalkonsuls Joaquim Antonio de Souza Ribeiro tragen, die vorhandenen Schilderungen von mithilfe von Aracy de Carvalho
27
Vgl. Feder Tagebücher. Ernst Feder Collection. AR 7040. Leo Baeck Institute. New York.
28
Eduardo de Carvalho Tess, der Sohn von Aracy de Carvalho Guimaräes Rosa aus 1. Ehe, zit.
nach: Camargo; Studart 2008. Vgl. auch Decol 2007, 55-58. Brum 2008. 29
Doch der Schriftsteller soll seine Lebensgefährtin nicht nur geschützt haben, sondern auch
selbst bei der Gestapo wegen antinationalsozialistischer Äußerungen denunziert worden sein. Zudem hatte sich der Itamaraty 1939 über dessen Einflussnahme bei der Visumsvergabe beschwert. Vgl. Lesser 1995, 269. Decol 2007, 57. Literarisch verarbeitete Joäo Guimaräes Rosa die Hamburger Zeit in der Kurzgeschichte ,>A velha". Darin erzählt er die Geschichte einer alten Dame in Hamburg, die den brasilianischen Konsul an ihr Sterbebett ruft. In Anwesenheit ihrer Tochter und anderer weiblicher Verwandten gesteht sie ihm in einem distinguierten, altertümlichen Portugiesisch, dass ihre Tochter nicht die Tochter ihres Mannes, eines Juden, und damit auch kein Mischling ersten Grades, sondern vielmehr die Tochter eines Brasilianers, die Frucht eines Liebesverhältnisses aus der Zeit sei, in der die Familie in Petröpolis gelebt hätte. Der Konsul erkennt, dass es sich um eine aus der Not heraus erfundene Geschichte handelt, und macht der Dame klar, dass er ihr
32
,Das Paradies ist überall verloren"
G u i m a r ä e s Rosa geretteten F l ü c h t l i n g e n nach E i n s c h ä t z u n g e n brasilianischer Historiker teilweise w i d e r s p r ü c h l i c h sind u n d das einzige existierende aussagekräftigere D o k u m e n t ein Dankesschreiben d e r Reichsvereinigung der J u d e n in D e u t s c h l a n d ist, b l e i b t die E i n o r d n u n g v o n A r a c y G u i m a r ä e s Rosas W i r k e n schwierig. 3 0 W e n i g e r zweideutig in der B e w e r t u n g ist das V o r g e h e n eines a n d e ren Mitstreiters des brasilianischen d i p l o m a t i s c h e n Korps, dessen E h r u n g d a f ü r a l l e r d i n g s n o c h a u s s t e h t . O h n e R ü c k s i c h t a u f eigene N a c h t e i l e u n d o h n e G e g e n l e i s t u n g e n zu verlangen, stellte der damalige K o n s u l in Marseille M u r i l l o M a r t i n s de Souza d e n verzweifelten Flüchtlingen V i s a aus. N o c h m e h r als sechs J a h r z e h n t e später zeigte sich K l a u s O l i v e n , dessen gesamte Familie diesem K o n sul ihr Leben verdankte, v o n diesem A k t uneigennütziger H i l f e tief b e e i n d r u c k t . This Brazilian consul in Marseilles [sic] saved our lives by granting us these temporary visas for Brazil. By doing so, probably for humanitarian reasons, he clearly acted against the prevalent Brazilian immigration policy at the time. [...] W h e n we arrived in Rio Grande, Brazil, in late March 1 9 3 9 , together with other German Jews, who had also obtained their visas in Marseilles [sic], I remember clearly how the immigration officer shook his head and said in a loud voice, ,Todos de Marselha
[...] He
probably denounced this strange fact to the Foreign Ministry in Rio de Janeiro, which then must have strongly reprehended the Brazilian consul in Marseilles [sic], asking him to stop issuing visas and infringing the Brazilian immigration policy. [...] a short time after, the consul was no longer able to grant a visa. 31
bzw. ihrer Tochter nicht helfen kann. Es ist interessant, dass der Schriftsteller seine Figur, den Konsul, nicht den Mut aufbringen ließ, der alten Dame den letzten Wunsch zu erfüllen, und diese sich also streng an die brasilianischen Immigrationsbestimmungen hält, während er selbst in der Realität doch seine sich dagegen widersetzende Lebensgefährtin Aracy schützte. Vgl. Guimaräes Rosa 2000, 115-119. 30 Anders als bei Botschafter Luiz Martins de Souza Dantas fehlen in ihrem Fall unwiderlegbare Schriftstücke. Anlässlich ihres 100. Geburtstages am 20. April 2008 erschienen in verschiedenen großen brasilianischen Zeitschriften ausführliche Berichte über Aracy de Carvalho Guimaräes Rosa, in denen noch von viel weitreichender Hilfe die Rede war. So soll sie u.a. im Kofferraum des im Dienste des brasilianischen Konsulats fahrenden Wagens Juden über die Grenze nach Dänemark geschmuggelt oder ihnen auf Schiffen diplomatischen Schutz gewährt haben, damit Schmuck, Geld und Ähnliches nicht von den Nationalsozialisten konfisziert wurden. Vgl. dazu die o.g. Artikel. Die Beweislage für diese Hilfeleistungen ist aber kompliziert, so dass über ihre Rolle unter brasilianischen Historikern Uneinigkeit besteht. 31 Oliven 2001, 309. Vgl. dazu auch Oliven 2005, 69-95; 281-291.
I. Einführung
33
Dem Humanismus des brasilianischen Generalskonsuls in Genf und Repräsentanten beim Völkerbund Milton Cesar Weguelin de Vieira ist es zuzuschreiben, dass noch 1941 die Flucht einer Gruppe von 45 Personen, von denen 38 nach den Nürnberger Gesetzen „Nicht-Arier" waren, unter der Leitung von Hermann Görgen ermöglicht wurde. Wider besseres Wissen erteilte er Hermann Görgen und seiner Gruppe die nötigen Visa, nachdem dieser auf seinen Rat hin für alle Pässe ohne das bei Juden eingestempelte rote „J" und Nachweise beschafft hatte, dass alle Flüchdinge katholisch und arisch seien. Diese selbstlose Hilfe nie vergessend, äußerte sich Hermann Görgen in Zusammenhang mit der antisemitisch geprägten Haltung der brasilianischen Diplomaten in den 90er Jahren zu seinen Erfahrungen: „Conheci o outro lado da diplomacia brasileira de um humanismo profundo e cheio de tolerància e compreensäo na figura do Cónsul Geral do Brasil em Genebra, Milton Cesar Weguelin de Vieira. (Ich lernte in der Gestalt des brasilianischen Generalkonsuls in Genf, Milton Cesar Weguelin de Vieira, die andere Seite der brasilianischen Diplomatie, einen tiefen Humanismus voller Toleranz und Verständnis, kennen.)"32 Diese Beispiele von Menschlichkeit dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ebenso brasilianische Gesandte gab, die die Not der zum Verlassen der Heimat Gezwungenen ausnutzten und nur gegen Gefälligkeiten bereit waren, ihnen entgegenzukommen. Es war vor allem das Schlupfloch „Touristen- oder temporäres Visum" in der Einwanderungsgesetzgebung, mit dessen Hilfe die Flüchtlinge schließlich in Brasilien eine rettende Zuflucht fänden. War man erst einmal als Tourist in das Land gelangt, bestand die Möglichkeit, obschon nur unter Schwierigkeiten, seinen Status legalisieren zu lassen und so die wichtige und stets an die Daueraufenthaltsgenehmigung gekoppelte Arbeitserlaubnis zu erhalten. Doch ebenfalls in diesem Punkt wird die widersprüchliche Haltung der verantwortlichen brasilianischen Politiker deutlich. Nachdem eine solche Legalisierung bis September 1939 verhältnismäßig problemlos zu bekommen gewesen war, wurde sie stark eingeschränkt. Viele Exilanten mussten ihren Status ungeklärt lassen und mit der Angst leben, dass es im schlimmsten Fall vielleicht zu einer Deportation nach Europa kommen könnte. Erst am 24.07.1941 verabschiedete das Vargas-Regime den Erlass Nr. 4941, der den mit einem temporären Visum eingereisten Flüchdingen die vorläufige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, die permanència a tituloprecàrio, für die Dauer des Krieges zugestand. Zugleich hatte man drei Monate zuvor im Gesetzesdekret Nr. 3175 die Vergabe von temporären Visa vollständig ausgesetzt mit
32
Hermann Görgen zit. nach: Cameiro 2001a, 154. Vgl. auch Görgen 1997.
34
,Das Paradies ist überall verloren"
Ausnahme der Fälle, in denen dem Visumsinhaber eine Rückkehr in das Herkunftsland oder in das Land möglich war, in dem er das brasilianische Visum erhalten hatte. 33 „(R)eduzir a imigra$äo para o Brasil a praticamente nenhuma (Die Immigration nach Brasilien praktisch auf null zu reduzieren)", lautete das Ziel. 34 Infolge der Kriegereignisse hatten sich nach Ansicht der brasilianischen Politiker allzu viele „Touristen" in Einwanderer verwandelt. Trotz dieser äußerst restriktiven Immigrationsbestimmungen wurde Brasilien nach Argentinien das zweitwichtigste Aufnahmeland in Lateinamerika. Mit insgesamt 1 6 . 0 0 0 bis 1 9 . 0 0 0 deutschsprachigen, größtenteils jüdischen, Flüchtlingen gewährte es gleichwohl nur einer verhältnismäßig geringen Anzahl Zuflucht und blieb, gemessen an seiner Größe und Bevölkerungszahl, weit unter seiner Kapazität zurück. 35 Im Gegensatz zu den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten, wo das deutschsprachige Exil im Allgemeinen in den jeweiligen Hauptstädten konzentriert war, verteilten sich die große Mehrheit der Flüchtlinge in Brasilien auf die drei Metropolen Rio de Janeiro, Säo Paulo und Porto Alegre sowie landwirtschaftliche Siedlungen in den südlichen Bundesstaaten, so dass es kein wirkliches Zentrum des deutschsprachigen Exils in Brasilien gab.
33
Als zusätzliche wichtige Änderung wurden in diesem Gesetzesdekret die Entscheidungsbe-
fugnisse bezüglich der Visavergabe vom Außenministerium auf das Innen- und Justizministerium übertragen. Der Justizminister Francisco Campos hatte sich maßgeblich an dessen Ausarbeitung beteiligt. Bezüglich der „Juden und ihrer Nachkommen", wie sich die brasilianischen Behörden ausdrückten, hatte bereits im Januar 1941 das Zirkular Nr. 1498 festgelegt, dass die Erteilung von temporären und permanenten Visa ausgesetzt werde. Vgl. Koifman 2002, 127-130, 136-168. 34
Robert McClintock zit. nach: Lesser 1995, 241. Zwar versuchte man von jüdischer Seite
schon seit 1944 mittels zahlreicher Artikel in der Wochenzeitschrift der Associafäo Religiosa hraelita (ART) (Religiöse Israelitische Vereinigung), Aonde vamos?, auf die brasilianische Regierung einzuwirken, um eine Lockerung der Immigrationsbestimmungen zu erreichen, damit die jüdischen Flüchtlinge, die nach dem Krieg aus den KZs kommen würden, eine Heimat finden könnten. Vgl. u.a. Redaktion der Aonde vamos? 1944; 1944a; 1945. Doch auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die antisemitische Ausrichtung in den Immigrationsbestimmungen nicht sofort aufgegeben. So mussten die Flüchtlinge Frida und Egon Wolfif nach Kriegsende beim Versuch, ein Einwanderungsvisum für Großcousins zu erwirken, vom Itamaraty erfahren, dass die Diplomaten nun völlig frei in ihrer Entscheidung wären, gesetzt den Fall, dass es sich nicht um Juden handele. Ernst Feder hatte beim Versuch, seine Schwiegermutter, die den Krieg in der unbesetzten Zone Frankreichs überlebt hatte, nach dem Krieg nach Brasilien kommen zu lassen, ähnliche Erfahrungen machen müssen. Vgl. Wolff 1999, 27. Feder T B , Bd. 17, Eintragungen vom Februar und März 1946. Zu diesem Thema vgl. auch Carneiro 2001a, 439-495. 35
Vgl. Mühlen 1988,48/49. Ders. 1994, 11.
I. Einführung
35
Die jüdischen Exilanten konnten allerdings die Erfahrung machen, dass sich das Vargas-Regime ungeachtet der antisemitisch geprägten Einwanderungsgesetzgebung ihnen gegenüber liberal verhielt, sobald sie sich in Brasilien niedergelassen hatten. „A recusa em institucionalizar o anti-semitismo na política interna fazia parte do continuo desejo do Brasil de retratar a si pròprio de urna maneira positiva para o mundo. Recusar a entrada de judeus com base na lei de ¡migra