172 26 32MB
German Pages 130 [133] Year 1965
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN VORTRÄGE UND S C H R I F T E N H E F T 92
WOLFGANGMÖNKE
DAS LITERARISCHE ECHO IN DEUTSCHLAND AUF FRIEDRICH ENGELS' WERK „DIE LAGE DER ARBEITENDEN KLASSE IN ENGLAND"
AKADEMIE-VERLAG 1965
•
BERLIN
Vorgelegt in der Klassensitzung vom 23. April 1964 Zum Druck genehmigt am 28. Mai 1964
Erschienen im Akademie «Verlag G m b H , 108 Berlin 8, Leipziger Slraße 3/4 Copyright 1964 b y Akademie -Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/21/64 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Werkdruck Gräfenhainichen 2327 Bestellnummer: 2003/92 • ES 14 E • Preis: MDN 9,80
INHALT
Abkürzungsverzeichnis
4
A. Zur sozialen Frage vor und nach dem schlesischen Weberauf stand 1844 I. Vor dem Weberaufstand
5
II. Nach dem Weberaufstand
6
III. Die Einstellung zur sozialen Frage 1. Monarchisches Lager
11
2. Großbourgeoisie 3. Kleinbourgeoisie 4. Sozialisten
14 16 21
B. Das literarische Echo in Deutschland auf Friedrich Engels' Werk I. F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England . .
23
II. Die Aufnahme des Werkes von Engels 1. 2. 3. 4.
Monarchisches Lager Großbourgeoisie Kleinbourgeoisie Sozialisten
25 30 33 43
C. Zusammenfassung
59
Anmerkungen
61
Addenda
115
Personenverzeichnis
119
Verzeichnis der Periodica
125
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
DZA Merseburg Ehem. Preuß. Geh. Staatsarchiv, heule: Deutsches Zentralarchiv, Abt. Merseburg HS
IMLM
Moses Heß, Philosophische und sozialistische Schriften 1837—1850. Eine Auswahl. Hrsg. und eingel. von A. Cornu und W. Mönke, Berlin (Akademie-Verlag), 1961 Institut
für
Marxismus-Leninismus
beim
ZK
der
KPdSU, Moskau Lage
Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Leipzig (O.Wigand), 1845, 8°, 358 S. (Hier immer zitiert nach MEW, Bd. 2.)
MEGA
K.
Marx/F.
Engels,
Historisch-kritische
Gesamt-
ausgabe MEW
K. Marx/F. Engels, Werke. Berlin (Dietz), 1956 ff.
A. Zur sozialen Frage in Deutschland vor und nach dem schlesischen Weberauf stand 1844
I. Vor dem
Weberaufstand
In des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Kabinettsordre vom 25. Oktober 1844 hieß es: „Ich habe mit lebhafter Theilnahme erfahren, daß die berliner Gewerbe-Ausstellung noch dazu geführt hat, daß ein Verein bei dieser Gelegenheit zusammengetreten ist, welcher sein Streben dahin richten will, der geistigen und leiblichen Noth der Hand- und Fabrik-Arbeiter Abhülfe zu verschaffen, sowohl durch Errichtung von Spar-Prämien-Kassen, als durch Anlegung von Schulen und Verbreitung gemeinnütziger Schriften. Ich' trage Ihnen auf, dem hierzu zusammengetretenen Verein Mein großes und lebhaftes Interesse an diesem Vorhaben auszudrücken, und denselben Meiner thätigen Unterstützung dabei zu versichern. [ . . . ] so will Ich demselben [dem Verein] eine Summe von 15.000 Rthlr. für seine Zwecke zur Disposition stellen, in der Voraussetzung jedoch, daß nicht die Errichtung von Spar-Prämien-Kassen ausschließlich von demselben für jetzt ins Auge gefaßt, sondern seine Thätigkeit auch zugleich den andern von ihm beabsichtigten wohlthätigen Einrichtungen mit werde zugewendet werden. Auf dem Wege des gemeinsamen hülfreichen Wirkens für das Wohl der arbeitenden Klasse wird die vaterländische Industrie, die so glänzend durch ihre Fortschritte sich auszeichnet, zugleich eine höhere Weihe erhalten und sich am Gewissesten einen dauernden Segen sichern." 1 Bis zum Sommer des Jahres, aus dem die Ordre stammt, war das W o h l d e r a r b e i t e n d e n K l a s s e noch niemals eine das ganze Land - politisch und ökonomisch Herrschende wie Beherrschte und Ausgebeutete - aufschreckende und bewegende Frage gewesen. Freilich hatte es gebietsweise schon vorher krasse Fälle ländlichen und städtischen Pauperismus gegeben 2 , die zu sozialreformerischen Überlegungen Anlaß gaben 3 und die um Georg Büchner gruppierte antiabsolutistische Opposition sogar zu Sozialrevolutionären Aktionen trieben. 4 In einzelnen Publikationen war auf die Gefahren und Abhilfemöglichkeiten des Pauperismus hingewiesen worden. 5 Das anfangs der 1840er Jahre infolge der Industrialisierung in verschiedenen Gebieten Deutschlands auftretende Massenelend hatte in bescheidenem Maße zum Hereinsickern sozialistischer Ideen aus Frankreich geführt, ein Vorgang, den die deutschen Regierungen ebenso vergeblich zu unterbinden versuchten wie die Bildung kommunistischer Organi-
6
A. Soziale Frage vor und nach 1844
sationen deutscher Handwerker in Frankreich und in der Schweiz. Eines der ersten Blätter, die in der beginnenden industriellen Epoche in Deutschland die soziale Frage und auch sozialistische Doktrinen erörterten, war die „Rheinische Zeitung" und nach ihr die „Mannheimer Abendzeitung". 6 Gewissermaßen im Auftrag der preußischen Regierung hatte Lorenz Stein in seinem Werk „Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs" 7 gegen den Sozialismus Stellung bezogen und seine Anwendbarkeit auf Deutschland und dessen Anfälligkeit für ihn verneint. Die Schrift machte das gebildete Leserpublikum mit dem französischen Sozialismus bekannt und erhob, wider den Willen des Verfassers, den Sozialismus zu einem öffentlich diskutierwürdigen Gegenstand. 8 Zu Beginn der 1840er Jahre schien es jedoch einen unmittelbaren, bedrohlichen Bezug zwischen dem von ein paar Intellektuellen vertretenen Sozialismus und sozialen Massenkräften nicht zu geben. Er ergab sich auch nicht aus Bluntschlis „Kommissionalbericht" 9 , worin das Gespenst des Kommunismus heraufbeschworen w u r d e 1 0 ; Bluntschlis Enthüllungen bezogen sich auf kommunistische Verbindungen außerhalb Deutschlands, in Frankreich und in der Schweiz lebender deutscher Handwerker. Von weit geringerem Einfluß als die Sozialkritik der „Rheinischen Zeitung" und der „Mannheimer Abendzeitung" war die liberale Schrift von Bettina von Arnim „Dies Buch gehört dem Könige" (2 Teile, Berlin, E. H. Schröder, 1843). Romantizismus und junghegelsche Philosophie des Selbstbewußtseins verbindend, prangerte sie darin in poetischer Einkleidung die politischen Verhältnisse Preußens und in einem Anhang die Lage der Arbeiter in Berlin an, erwartend, den König zu reformierendem Eingreifen veranlassen zu können. 11 Hauptresultate des Buches waren eine kleine Sensation in aristokratischen Salons und eine Verlegenheit der preußischen Behörden, die nicht wußten, ob sie es verbieten oder zulassen sollten. 12 Die genannten Veröffentlichungen galten den herrschenden Klassen nicht einmal als Symptome einer heraufziehenden neuen Geschichtsepoche. Weder die soziale Frage noch der Sozialismus schienen die bestehende gesellschaftliche Ordnung effektiv herausfordernde und bedrohende Faktoren zu sein.
II. Nach dem,
Weberaufstand
Wie ein Gewitter brach der Aufstand der schlesischen Weber über die deutschen Regierungen und das deutsche Bürgertum herein. Die Erhebung der Weber in den schlesischen Ortschaften Peterswaldau und Langenbielau im Juni 1844 war ein einschneidendes Ereignis für die deutsche Sozial- und SozialismusGeschichte. Sie war die erste bedeutende Aktion des (erst in der Entstehung begriffenen und noch nicht als große gesellschaftliche Klasse existierenden)
II. Nach dem Weberaufstand
7
deutschen Proletariats. 1 3 Die Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland war in dieser Zeit der frühkapitalistischen Entwicklung von vier Faktoren gekennzeichnet. 1. Die Zerstörung der feudalen und halbfeudalen Produktionsweise infolge der Verdrängung der Hand- durch Maschinenarbeit und der Werkstatt durch die Fabrik unterwarf ehemalige Handwerker, Tagelöhner und Landarbeiter der kapitalistischen Ausbeutung, die besonders hart war, da es noch keine gewerkschaftlichen Organisationen und daher auch noch keine von diesen erzwungene Sozialschutzgesetzgebung gab. Die Anwendung von Maschinen führte zur Einführung von Frauen- und Kinderarbeit und zu erheblicher Arbeitstagverlängerung, die eine maximale Nutzung der Maschinen gestattete. 2. In Klein- und Hausgewerbe tätige Handwerker wurden durch die Konkurrenz der Maschinen einer grenzenlosen Verarmung preisgegeben oder ruiniert. Aus ihren Reihen rekrutierte sich das ständig wachsende Heer der Arbeitslosen. 14 3. Industrie und Handwerk waren der bereits auf mechanisierter Großproduktion beruhenden englischen Konkurrenz ausgesetzt. Dies erschwerte den Prozeß der Industrialisierung in Deutschland, bedingte eine schärfere Ausbeutung der Industriearbeiter und trug noch bei zum Ruin der auf der Handarbeit beruhenden Textilindustrie. 4. Arbeiter und Handwerker waren einer doppelten Unterdrückung ausgesetzt: die Unterjochung durch das Kapital wurde verschärft durch die der absolutistischen und halbabsolutistischen Regimes, die ihnen alle Möglichkeiten abschnitten, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Die Lage der Arbeiter wurde durch den Weberaufstand zu einer öffentlichen Angelegenheit allerersten Ranges; er rückte augenblicklich auch die Lage der Arbeiter in den rheinischen, westfälischen und sächsischen Industriegebieten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Mit der gleichen Dringlichkeit und Bedeutung erhob sich neben der vom Bürgertum agitierten Frage der Liberalisierung des Staatsapparats die soziale Frage. 1 5 Die mit einem Mal auftauchende allgemeine Besorgnis der politisch und ökonomisch Herrschenden um das Wohl der arbeitenden Klasse war nichts anderes als die Besorgnis um das Wohl der bestehenden Verhältnisse. Regierung und Großbourgeoisie erkannten mehr oder weniger die Gefahr, die ihnen von einer durch Not aufgereizten Arbeiterschaft drohen konnte. Die gesamte bürgerliche Oppositionsbewegung war von nun an entscheidend mitbestimmt von der sozialen Frage. Vom Weberaufstand her datiert in Deutschland die offenkundige Abhängigkeit der politischen Geschichte von dem Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie. *
In einem ersten Erschrecken sannen Regierung und industrielles und kommerzielles Großbürgertum auf philanthropische und charitative Maßnahmen (Grün-
8
A. Soziale Frage vor und nach 1844
dung von Hilfs- und Bildungsvereinen), dank denen sie übermäßige Not lindern und Unruhen vorbeugen zu können hofften. Dies Projekt entstand während der Gewerbeausstellung in Berlin im Herbst 1844; es fand, wie aus eingangs zitierter Ordre ersichtlich, die Zustimmung der preußischen Regierung. In Berlin konstituierte sich ein Zentralverein, und in vielen Städten Preußens und auch anderer deutscher Staaten entstanden örtliche Vereine.1® Keineswegs handelte es sich hierbei um eine Art Interessenorganisation der Arbeiter selbst, nicht einmal um eine Vorstufe davon, sondern um Vereinigungen der Bourgeoisie, die zum Schutz ihrer ökonomischen Interessen die Vergabe von materiellen und intellektuellen Almosen organisieren wollte. Die Arbeiter waren in den meisten Fällen nicht in den Vereinen zugelassen. Weder der als anleitendes Organ gedachte preußische Zentralverein in Berlin noch die zahlreichen Lokalvereine haben die erwartete Wirksamkeit erlangt. Trotz der sehr begrenzten Zielsetzung der Vereine trugen die in der Tagespresse wiedergegebenen und besprochenen Gründungsdebatten dazu bei, Teile des Proletariats ideologisch aufgeschlossen und sozialistischen Ideen zugänglich zu machen. Bald nach Beginn der Kampagne zog sich daher das Großbürgertum zurück (Hauptträger der Vereinsbewegung wurde das demokratische Kleinbürgertum), und die ebenfalls sehr rasch desillusionierten Regierungen erhoben immer wieder Einspruch gegen die Statutenentwürfe und verhängten Versammlungsverbote. 17 Im Herbst 1847 hörte der Berliner Zentralverein praktisch zu bestehen auf; ein Institut entschlief, so kommentierten die demokratischen „Grenzboten", „das von der patrizischen Aristokratie Berlins angeregt, von der Regierung und von dem König selbst mit Freuden begrüßt und gutgeheißen wurde, das dann plötzlich in Mißkredit gerieth, weil man anfing, in jeder Vereinigung von Bürgern einen Jacobinerclub zu wittern". 1 8 Nachdem das revidierte „Statut des Centrai-Vereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen" endlich am 12. April 1848, kurz nach den Märzereignissen, die Zustimmung des Innenministers erhalten hatte, war das Hauptziel des Vereins die „Mitwirkung zur B e r u h i g u n g d e r e n t f e s s e l t e n L e i d e n s c h a f ten",1' *
Unvergleichlich bedeutender als die philanthropische Bewegung des Bürgertums war die von dem Weberaufstand ausgelöste sozialistische und kommunistische Agitation, deren Ausmaß und literarische Produktivität erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, bei Entstehen der großen Arbeiterparteien, wieder erreicht werden sollte. Vorübergehend wurde ihr Vorschub geleistet durch das Interesse von Groß- und Kleinbürgern für sozialistische Theorien. Jene wünschten zu wissen, was es mit dem Gespenst des Kommunismus auf sich habe, um sich
II. Nach dem Weberaufstand
9
dagegen wappnen zu können; diese ahnten, daß sie ihre demokratischen Vorstellungen zu erweitern hätten, um die erstrebte demokratische Ordnung gegen soziale Anfechtungen zu sichern, und waren bestrebt, den Umkreis der Fragen und der bereits vorliegenden Antworten zur Kenntnis zu nehmen. 2 9 In Berlin, verschiedenen rheinischen und sächsischen Städten fanden seit 1844 öffentliche Vorträge über Sozialismus statt, die von den Regierungsbehörden überwacht und meist nach kurzer Zeit verboten wurden. Im Zusammenhang mit den allerorts diskutierten Vereinsgründungen organisierten Friedrich Engels, Moses Heß und einige Gesinnungsfreunde im Februar 1845 Versammlungen in Elberfeld. In (fast ausschließlich von Bürgern und Verwaltungsbeamten besuchten) Vorlesungen erörterte Engels genau im Geiste seines Buches über England, das zwei Monate später erschien, freilich in Rücksicht auf die polizeiliche Überwachung in zurückhaltenderer Form, den ökonomischen Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft und die historische Unvermeidbarkeit ihrer Aufhebung durch die sozialistische Gesellschaft. Nach der dritten Zusammenkunft schritt die Polizei mit einem Verbot ein. 2 1 Weniger bedeutend f ü r die Sozialismusgeschichte, aber von der Polizei nicht minder beobachtet, war die noch vor dem Weberaufstand von Karl Grün im Geiste des utopischen „wahren" Sozialismus gehaltene Vorlesung: Über wahre Bildung. Eine Vorlesung, gehalten den 28. April 1844 in Bielefeld zum Besten der armen Spinner im Ravensbergischen. 2 2 In den Jahren 1846/47 hielt der liberale Leipziger Professor K a r l Biedermann in Leipzig und Dresden Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen, die sich von den vorher genannten darin unterschieden, daß es dem Vortragenden nicht auf Propaganda und Werbung f ü r die sozialistische Idee, sondern allein um objektive Informierung ankam. 2 3 In Berlin hielt im J a h r e 1846 Lechevalier, einer „der enragirtesten Vermittelungsmämier der zu Dogmatikern herabgesunkenen Schüler Fourier's" „Vorlesungen über sein soziales System", denen die „höchst gestellten Personen beiwohnten". 2 4 *
Die ökonomisch-gesellschaftliche Umstrukturierung, von der anläßlich des Weberaufstandes die soziale F r a g e auf die Tagesordnung gesetzt wurde, veränderte in fast sensationeller Weise den Charakter der Presse. Bis zu Beginn der 1840er J a h r e hatte es in den meisten deutschen Staaten so gut wie keine öffentliche Meinung gegeben. In bescheidenem Maße gedieh sie allenfalls im Umkreis der Universitäten und in Gestalt schöngeistiger Literatur. Die öffentliche Meinung als eine intellektuelle und moralische Macht entsteht
10
A. Soziale Frage vor und nach 1844
der Natur der Sache nach als Opposition zu den herrschenden politischen Kräften. Ihre Abwesenheit noch bis Anfang der 40er Jahre kennzeichnet die Schwäche der bürgerlichen Opposition. Die wenigen oppositionellen meinungsbildendwollenden Vorstöße - einer z. B. verkörpert in der „Rheinischen Zeitung" konnten von den Regierungen ohne weiteres unterdrückt werden. Gegen Mitte der 40er Jahre führte die Erstarkung des Bürgertums zu breiten liberalen und demokratischen Bewegungen 2 5 , zu einer außerordentlichen Belebung der Presse und damit zum Aufkommen der öffentlichen Meinung als einer solchen Macht, die von den Regierungen trotz Zensur, Verbote, Ausweisungen und Inhaftierung nicht mehr niedergeschlagen werden konnte. 26 Aber in dieser Anfangsphase blieb noch charakteristisch für die Organe der öffentlichen Meinungsbildung, daß sie weder aktiv noch passiv die Belange des „vierten Standes" berücksichtigten. Wie früher waren die wenigen für das arme und ungebildete Volk gedruckten Blätter außer der Verehrung für Gott, König und Vaterland unpolitischen und dazu noch antiaufklärerischen Charakters, hatten den Stil von Almanachs und enthielten sentimentale Geschichtchen und gelegentlich sensationsartige Berichte von Verbrechen und Unglücksfällen. Jedoch kaum hatte die Presse begonnen, eine öffentliche Meinung zu repräsentieren, als sehr rasch der Fall eintrat, daß sie entscheidend bestimmt wurde von der Lage, den Bestrebungen und d e r b i s d a h i n g ä n z l i c h i g n o r i e r b a r e n M e i n u n g d e r P r o l e t a r i e r u n d P a u p e r s. 27 Die bestehende Presse wurde volkstümlich, und es entstand eine ausgedehnte volkstümliche Presse; volkstümlich in sozialer, politischer und wissenschaftlicher Hinsicht 2 8 , und dies in der zwielichtigen Bedeutung, die dem Wort seit jener Zeit anhaftet. Die monarchistische und großbourgeoise Presse startete unter Wachrufung aller überkommenen sozialen, politischen und religiösen Vorurteile einen ungeheuren Feldzug der Verdummung, um die Arbeiterklasse politisch in Lethargie zu halten und gegen die Aufnahme sozialistischer und kommunistischer Gedanken immun zu machen. Seit dem Weberaufstand gehörte in der Presse dieser beiden Lager das „Gespenst des Kommunismus" (oder des Sozialismus) zum Stammvokabular - ein Ausdruck, dessen in dem berühmten Eingangssatz des „Kommunistischen Manifests" gedacht wird. 29 In progressivem Sinne volkstümlich war die seit Mitte der 1840er Jahre anschwellende demokratische und sozialistische Presse. Was in der Geistesgeschichte A u f k l ä r u n g genannt und datiert wird nach Entstehung und Ausbreitung innerhalb des zahlenmäßig kleinen Kreises von Gebildeten, wurde von dieser Presse reproduziert a u f d e r E b e n e d e s e i n f a c h e n V o l k e s. 30 Dank ihr trat genau das ein, wogegen der Preußenkönig sich in seiner Kabinettsordre vom 4. Februar 1843 ausdrücklich verwahrt hatte: „Was ich nicht will, ist: die Auflösung der Wissenschaft und Litteratur in Zeitungsschreiberei, die Gleichstellung
III. Einstellung zur sozialen Frage
11
beider in Würde und Ansprüchen, das Übel schrankenloser Verbreitung verführerischer Irrthümer und verderbter Theorien über die heiligsten und ehrwürdigsten Angelegenheiten der Gesellschaft auf dem leichtesten Wege und in der flüchtigsten Form unter eine Klasse der Bevölkerung, welcher diese Form lockender, und Zeitungsblätter zugänglicher sind, als die Produkte ernster P r ü f u n g und gründlicher Wissenschaft." 3 1 Sammelwerke, Wochen- und Monatsschriften und Jahrbücher entstanden, die meist schon im Titel ihren volkstümlichen Charakter zum Ausdruck brachten; Geschichtswerke wurden in Angriff genommen und veröffentlicht, die zur Unterrichtung des Volkes bestimmt waren 3 2 ; bedeutende Erzeugnisse der Weltliteratur wurden dem Volk zugänglich gemacht, und enzyklopädieartige Zeitschriften wurden herausgegeben, die in einer dem Volk verständlichen Sprache über den neuesten Stand der Wissenschaft und Technik informierten. 33 Gegenüber der anschwellenden demokratischen und sozialistischen Presse, die zu Beginn der 40er Jahre noch eine Unmöglichkeit gewesen war, zeigte sich der bürokratische Apparat der monarchischen Regierungen zusehends hilfloser. 34 Die massenhaft erscheinende oppositionelle Presse verschob ungewollt die Kriterien der Zensur, die Zensoren wurden von Arbeit erdrückt, zum Teil von der zu kontrollierenden Presse infiziert und ihres Amtes enthoben, einige gaben es von selbst auf; mehr und mehr waren sie der öffentlichen Mißachtung ausgesetzt, und nicht mehr verhehlen ließ es sich, daß die meisten den steigenden Ansprüchen bildungsmäßig nicht gewachsen waren. So führte die mit dem Weberaufstand akut gewordene soziale Frage zu einer unerhörten Aktivierung des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse begann, wenn auch erst auf mittelbare und noch nicht unmittelbare Weise, das politische Geschehen und die öffentliche Meinung zu bestimmen, die Klasseninteressen der Herrschenden wurden herausgefordert und die der Beherrschten und Ausgebeuteten nach und nach geweckt.
III. Die Einstellung
zur sozialen Frage
1. Monarchisches Lager Von allen Kreisen, denen das Klasseninteresse die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage gebot, hatten die gekrönten Häupter und ihre Anhänger den kurzsichtigsten und oberflächlichsten Standpunkt. Nach der herkömmlichen aristokratischen Auffassung entsprach die Existenz von Arm und Reich, von Beherrschten und Herrschenden einer geheiligten Ordnung 3 5 , bestehend in einer
12
A. Soziale Frage vor und nach 1844
hierarchischen Gliederung von Ständen. Tradition, Kirchen und Schulen, soweit es deren gab, und Militär und Polizei hatten dafür gesorgt, daß diese Auffassung auch im Bewußtsein des Volkes tief verankert war. 36 Die folgenschwerste Erschütterung, die der Weberaufstand und die durch ihn ausgelöste sozialistische Publizistik einleiteten, traf diesen im Volk wurzelnden Glauben. Dies und viel weniger die soziale Frage selbst war es, was die monarchischen Staatsspitzen beunruhigte. In Herrschafts- und Besitzvorurteilen befangen, übersahen sie weitgehend die Abhängigkeit der sozialen Empörung von der materiellen Lage der Arbeiter und glaubten die Rebellion hervorgerufen durch Verbreitung irriger Lehren, die darauf zielten, „Zwiespalt zwischen den im Lande vorhandenen Ständen zu säen und dieselben unter sich aufzureizen" und „die niederen Volksklassen gegen die Höheren und begüterten aufzuregen". 37 „Ich bin", schrieb Friedrich Wilhelm IV. am 14. Juni 1844 an sein Staatsministerium, „mit der in dem Bericht des Staats-Ministerii vom l l . d . Mts. entwickelten Ansicht dahin einverstanden, daß ein Zusammenhang der traurigen Verirrungen und groben Excesse der Fabrikarbeiter einiger Schlesischen Ortschaften, mit der Tendenz mehrerer Schlesischen Zeitungen und Lokalblätter: die untern Stände gegen die höheren, und die Armen gegen die Wohlhabenden aufzuregen, nicht zu verkennen ist, und bestimme deshalb zur Verhütung weitern Unglücks, daß die Behörden auf dieses verderbliche Beginnen die größte Aufmerksamkeit zu richten und ihm mit Entschiedenheit überall entgegenzuwirken haben". 38 Entsprechend der hier geäußerten Auffassung reagierte das monarchische Lager in vierfacher Weise auf die soziale Frage. 1. Kampf gegen Theorien, „welche nicht nur die den bestehenden ständischen Institutionen unseres Staats vorgezeichneten Grundlagen angreifen, sondern auch im Allgemeinen geeignet sind, Mißvergnügen zu erregen und gegen bestehende Zustände aufzureizen" - eine immer wiederkehrende Formulierung in den Preßakten der preußischen Behörden. Das Hauptsprachrohr der preußischen Regierung, die „Allgemeine Preußische Zeitung" (vorher; Allgemeine Preußische Staatszeitung) 3 9 und auch das unter ihrem Einfluß stehende mehr theoretische Organ „Janus. Jahrbücher deutscher Gesinnung, Bildung und That" 4 0 erwiesen sich für den Zweck als unzureichend; wie die Regierung selbst erkennen mußte, genügte allgemein die Kenntnis, daß ein Blatt die Seite der Regierung vertrat, um es in Mißkredit zu bringen. 41 Sie erwog die Gründung neuer Zeitungen, die den Schein der Unabhängigkeit tragen sollten, und die Einschleusung von Artikeln in Oppositionsblätter. 42 Zugleich forderte sie angesichts der anschwellenden sozialistischen Literatur, deren sie nicht mehr Herr werden konnte, zu wirksamen Gegenschriften auf und ließ den Autoren antisozialistischer Schriften ihren Dank zukommen. 43
III. Einstellung zur sozialen Frage
13
2. Huldreiches Anhören „berechtigter" Klagen und Almosen reichende königliche Gesten. 44 Instrument der Almosenvergabe sollten nach dem Willen der preußischen Regierung die Vereine zum Wohl der arbeitenden Klasse sein, die sich jedoch, kaum entstanden, als höchst gefährliche, die aufreizenden Bestrebungen noch fördernde Unternehmungen erwiesen hatten. 4 5 3. Ermahnungen an die Notleidenden, arbeitsam, tugendhaft, sparsam, fromm und voller Vertrauen zur Regierung zu sein. 46 „Bete und arbeite!" war die Aufforderung an die hungernden und arbeitslosen Proletarier. 4 7 4. Aufbietung militärischer und polizeilicher Macht, wenn die Ermahnungen nicht fruchteten. Schließlich ist noch eine fünfte Art der Reaktion auf die soziale Frage festzustellen ; sie ergab sich aus dem Gegensatz zwischen den monarchischen Kräften und der liberalen Bourgeoisie. Jene waren aus Macht- und Finanzgründen an dem Aufschwung der Industrie interessiert, jedoch sollte er unter der politischen Herrschaft der Monarchie vor sich gehen; diese dagegen wünschte in Gestalt der konstitutionellen Monarchie ein politisches Mitspracherecht und war der bürokratischen Bevormundung überdrüssig. Vor ihrem gemeinsamen proletarischen Gegner einigten beide Lager sich immer in stillem Bündnis auf Unterdrückungsmaßnahmen aller gewerkschaftsartigen und sozialistischen Regungen. In weniger kritischen Fällen indes waren beide bestrebt, die Schuld an der elenden Lage der arbeitenden Klasse auf den anderen zu schieben, um jeweils die monarchische bzw. die liberale Staatsordnung als die beste darzutun. 48 Nach Meinung der Monarchisten führten der Egoismus und das Gewinnstreben der Bourgeoisie zu unbedachten, den Handwerker brotlos und den Arbeiter exzessiver Not aussetzenden industriellen Unternehmungen. 4 9 Diese Verhältnisse würden gewaltig verschärft werden, läge die politische Macht in den Händen der kapitalistischen Besitzer. Die Monarchie biete also dem arbeitenden Volk den besten Schutz, sie verfüge über Mittel, Auswüchse der industriellen Entwicklung zu hindern. Ein weiteres Argument betraf die liberale und demokratische Bourgeoisie in gleicher Weise: würde man einmal liberale oder demokratische Reformen zulassen, so brächte das die ungebildeten Volksmassen in eine nicht mehr kontrollierbare Bewegung, die alles niederreißen und die Gesellschaft in das tiefste Chaos stürzen würde. 5 0 Dem monarchischen Lager ideologisch zuzurechnen ist eine riesige Masse von Kleinbürgern, die gegen ihre bürgerlichen Interessen noch gänzlich den monarchisch-kirchlichen Einflüssen erlegen waren. Sie ähnelten in dieser Hinsicht dem Proletariat, das erst begann, sich seiner Klasseninteressen bewußt zu werden und noch weitgehend in monarchie- oder bourgeoisiegünstigen Vorstellungen befangen war. Für beide Fälle gilt, daß die Vereinfachung der Klassengegensätze, von der im „Kommunistischen Manifest" die Rede ist, die Aufspaltung der ganzen
14
A. Soziale Frage vor und nach 1844
Gesellschaft „in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat" 51 , sich noch in unausgereiftem Stadium befanden. Die Sprecher jener Kleinbürger, die sich ideologisch wie Tag und Nacht von ihren demokratischen Standesgenossen unterschieden, deren herausragender Typus Robert Blum war, ergingen sich in den abgeschmacktesten und, gegen die Monarchen gewandt, speichelleckerischsten Redensarten über die soziale Frage, über Ursache des Pauperismus und die Möglichkeit seiner Eindämmung. Gemeinsam war ihnen die unbedingte Anerkennung und Verteidigung der Standesunterschiede 5 2 ; dies unterschied ihre philanthropischen Vorschläge, ungeachtet sonstiger Gleichheit oder Ähnlichkeit, grundsätzlich von denen der kleinbürgerlichen Demokraten. Die übermäßige Armut führten sie auf Entsittlichung der Arbeiter, Überbevölkerung und auf die Industrie der Privatleute zurück. Hieraus ergaben sich ihre „Reform"-Vorschläge: religiöse Erziehung der Arbeiter 5 3 , Bildung religiös-philanthropischer Vereinigungen s i , Organisierung der Auswanderung 5 5 und Einwirkung der monarchischen Regierungen auf die Industrie 56 , dies alles, nicht um die Armut abzuschaffen, die sie als unabänderlich ansahen, sondern nur ihr Übermaß zu beseitigen.
2. Großbourgeoisie Lange bevor das Proletariat seine Lage und seinen durch unverrückbare ökonomische Tatsachen bedingten Gegensatz zur Bourgeoisie erkannte, hatte die Großbourgeoisie eine klare Vorstellung ihrer Klasseninteressen und den eisernen Willen, sie gegen jede Schmälerung in bezug auf Macht und Wohlstand zu behaupten. Sie war sich sowohl ihres relativen Gegensatzes zu den monarchischen Kräften als ihres absoluten Gegensatzes zum Proletariat bewußt. Die Lage des Proletariats führte sie auf vorübergehend und konstant wirkende Faktoren zurück. Als vorübergehende wurden in der Hauptsache genannt: l . d i e Zerstörung der Haus- durch die Fabrikindustrie, ein unvermeidlicher, aber zeitlich begrenzter Vorgang, der gegenwärtig viele Handwerker brotlos mache 5 7 , 2. Arbeitslosigkeit durch Absatzstockungen auf dem Weltmarkt und 3. durch Flucht des Landvolks in die Stadt, 4. ungenügende industrielle Entwicklung infolge der bestehenden politischen Verhältnisse. 58 Als konstante Faktoren galten ihr die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst: kapitalistisches Privateigentum an den Produktionsmitteln, selbstverschuldeter Ausschluß des Proletariats hiervon, Konkurrenz und Arbeitsteilung; außerdem wurde noch auf das unvermeidliche Mißverhältnis von Bevölkerungszahl und Subsistenzmitteln hingewiesen. 59
III. Einstellung zur sozialen Frage
15
Soweit die elende Lage der Arbeiter auf letzteren Faktoren beruhe, sei sie prinzipiell unabänderlich. Naturkraft, Arbeitskraft und Kapital seien notwendige und bleibende Grundlagen der Gesellschaft 6 0 , die Lohn- und Arbeitsverhältnisse lägen gar nicht im Ermessen der Fabrikanten, sondern seien vom Gesetz der Konkurrenz bestimmt 6 1 ; man müsse sich klarmachen, daß „unter den heutigen gesellschaftlichen und gewerblichen Zuständen das Proletariat und der Pauperismus der unvermeidliche Begleiter eines überwiegenden Industrialismus" sei. 62 Soweit sie dagegen von vorübergehend wirksamen Faktoren abhänge, werde eine gewisse Abhilfe erreicht werden durch die weitere Entwicklung der Industrie. Und die könne beschleunigt und zugleich könnten Löhne und Preise stabiler gehalten werden, wenn die Regierungen sich zu Zollgesetzen entschließen würden, die einen Schutz gegen die ausländische Konkurrenz böten, sowie durch Wegräumung der politischen Hindernisse, die einer freien Entfaltung der Industrie und des Handels und ungehemmter Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt im Wege stehen. Die Tatsache, daß die Großbourgeois ihre ökonomischen Interessen nicht der geringsten Beeinträchtigung auszusetzen gewillt waren, bedingte die offene und rücksichtslose Rechtfertigung des Proletarierelends und ebenso ihre Stellungnahme gegen die Vereine zum Wohl der arbeitenden Klasse, nachdem diese sich als Brutstätten umstürzlerischer Ideen entpuppt hatten. 63 Auch nicht die von Demokraten und Sozialisten gepriesene „Organisation der Arbeit" ließen sie gelten. 64 Indes waren sie sich darüber im klaren, daß eine übermäßig Not leidende Arbeiterklasse revolutionäre Elemente freisetzen konnte. Hierin bestand für sie der wesentliche Inhalt der sozialen Frage. Dieser elementaren Bedrohung ihrer Klasseninteressen gedachten sie auf dreierlei Weise begegnen zu können. 1. Sie empfahlen charitative und soziale Maßnahmen wie: Wohltätigkeit privater und öffentlicher A r t 6 5 , Einrichtung von Unterstützungs- und Krankenkassen und auch von Anstalten zur Arbeitsnachweisung. 66 2. Sie entfalteten eine mächtige Propaganda, um der arbeitenden Klasse einzuprägen, daß Privateigentum, Klassenunterschiede und Not unantastbare, geheiligte, unveränderliche, heilbringende Größen einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft seien 6 7 ; der Verdummungsfeldzug war begleitet von religiösen Phrasen und dem Versuch, Atheismus und Materialismus in Mißkredit zu bringen, denn diese paralysierten die gefügigmachende Wirkung der Religion. 68 Zugleich führten sie in allen ihnen zugänglichen Bereichen des öffentlichen Lebens einen energischen Kampf gegen sozialistische und kommunistische Theorien. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das Auftreten des gemäßigt-liberalen Abgeordneten Bassermann vor der badischen Kammer; auf deren 22. Sitzung am 23. Juni 1846 sagte er: „Von unten bilden sich die sogenannten communistischen
16
A. Soziale Frage vor und nach 1844
Theorien", in ihnen „fordert die Armuth eine gleiche Vertheilung des Eigenthums, ja die Aufhebung des Eigenthums selbst"; dies bedeute eine Vernichtung der zivilisierten Gesellschaft 6 9 , und es sei seine „feste Überzeugung, daß der Communismus der ärgste Feind der Freiheit" sei. 70 Weniger schlimm stehe es mit dem Sozialismus; dessen Projekt einer Organisation der Arbeit „erzeugt die Übelstände des Communismus nicht und ist unter jeder Regierungsform möglich"; „allein, mag die Idee auch manches einzelne Gute fördern, zur Grundlage neuer gesellschaftlichen Einrichtungen wird der Sozialismus, wie ich glaube, nie dienen können". 7 1 Sinnvoll und zweckmäßig dagegen seien Maßnahmen „von oben"; „Hier soll die Wohlthätigkeit mildern", und zwar vermittels der „wohltätigen Vereine" und der Abnahme von Steuern auf „die unentbehrlichsten Lebensmittel" (eine Steuer jedoch, auf die Verzicht geleistet werden konnte, vermochte Bassermann nicht zu nennen) . 7 2 3. Gegen die arbeitende Klasse waren sie zu einem Bündnis mit den monarchischen Mächten bereit, deren Polizei- und Militärapparat einen Schutz gegen Volksbewegungen bot. Ihre Opposition beschränkten sie auf die Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie, bei der die Masse des Volks von Repräsentation und Regierung ausgeschlossen bliebe. 73 Diese gemäßigt liberale Haltung sollte wesentlich den Ausgang der Revolution von 1848 bestimmen.
3. Kleinbourgeoisie Das Lager der Großbourgeoisie läßt sich soziologisch und ideologisch relativ leicht kennzeichnen. Es handelt sich um große Industrielle und Handels- und Finanzleute und mit ihnen sich solidarisierende Intellektuelle; ihre politische Haltung und ihre Einstellung zur sozialen Frage folgten aus ihrer ökonomischen Macht und aus dem ihnen bewußten strikten Gegensatz zum Proletariat. Weit weniger einfach liegen die Dinge bei der Kleinbourgeoisie, die eine Reihe heterogener und inkonstanter Elemente in sich schloß. Am kürzesten und für das Thema vorliegender Arbeit zweckmäßigsten ist eine negative Definition: K l e i n b ü r g e r sind jene Bürger, die w e d e r zur G r o ß b o u r g e o i s i e noch zum P r o l e t a r i a t gehören. Ein Merkmal, herrührend aus ihrer sozial- ökonomischen Mittelstellung zwischen Großbourgeoisie und Proletariat, war ihnen gemeinsam: die Abwesenheit e i n e s k l a r u m r i s s e n e n K l a s s e n s t a n d p u n k t e s . Ihre politische und soziale Einstellung beruhte weniger auf einer in ihnen selbst liegenden positiven Kraft als auf der Gegnerschaft zum Proletariat, oder zur Monarchie, oder zur Großbourgeoisie, oder zu einer Kombination dieser Lager.
17
III. Einstellung zur sozialen Frage
Ihrer sozialen Stellung und ihrer Ideologie nach weisen sie verschiedene Gruppierungen auf; deren Abgrenzungen sind fließend, z . B . auch derart, daß einer im radikalsten Flügel zu finden ist, den man nach soziologischen Merkmalen im reaktionären vermuten würde. Unter Vorbehalt dieser
fließenden
Ubergänge und Durchkreuzungen lassen sich drei Hauptgruppen feststellen. 1. Kleinproduzenten und -händler, deren Existenz nicht oder noch nicht von den Großkapitalisten gefährdet war, die ideologisch im Fahrwasser der monarchischen Kräfte schwammen, das Proletariat als sittlich und geistig verkommene Masse verachteten und auf seine elende Lage hauptsächlich mit moralischen und religiösen Ermahnungen reagierten. Diese Gruppe, d i e Fraktion
der
Kleinbourgeoisie,
reaktionärste
ist bereits als ideologisch dem
monarchischen Lager zugehörig gekennzeichnet worden. 74 2. Kleingewerbetreibende, die gegen die mächtige Konkurrenz der Großkapitalisten zu kämpfen und die Möglichkeit einer Niederlage ins Auge zu fassen hatten. 7 5 Sie und mit ihnen sich verbunden fühlende Intellektuelle wandten sich gegen die Gewinn- und Spekuliersucht der Großbourgeoisie 76 und erhofften vom Staat, in Gestalt der absoluten oder konstitutionell umschränkten Monarchie, gesetzgeberische Maßnahmen, die den Kleinbesitz schützen und der aufkommenden Industrie Schranken setzen sollten. 77 Ihren Hauptgegner in der Großbourgeoisie sehend und die potentielle Nähe des Proletariats empfindend, schlössen sie in ihre Reformvorschläge auch Maßnahmen zur Linderung des Arbeiterelends ein, beharrten aber auf dem Standpunkt einer unvermeidlichen Standes- und Besitzunterscheidung. 78 Diese Gruppe bildete den k o n s e r v a t i v philanthropischen Dieser
Flügel
sah im
Flügel
des Kleinbürgertums.
Proletariat
keine Klasse,
deren Lage
prinzipiell
dadurch bedingt war, daß sie als Nichtbesitzerin der Produktionsmittel der Ausbeutung und Unterdrückung der Klasse der Bourgeois, der Besitzer der Produktionsmittel, und daher auch allen sozialen Folgen dieses Verhältnisses, bis zum Herabgeschleudertwerden auf die Stufe des Pauperismus ausgeliefert war. Vorherrschend war die Tendenz, Proletariat und Pauperismus als gleichbedeutend aufzufassen und deren Existenz auf Entsittlichung, wenn nicht i gar Faulheit 7 9 , und mangelnde Erziehung der Arbeiter und auf Überbevölkerung zurückzuführen. Die Kleinbürger dieser Kategorie legten das Schwergewicht ihrer den Pauperismus betreffenden Reformvorschläge auf Erziehung und Bildung der Arbeiter und setzten ihre Hoffnung namentlich auf die Vereine zum Wohl der arbeitenden Klassen. 8 0 Sozialistische Theorien lehnten sie ab, und sie erhoben energisch Einspruch dagegen, wenn „die Reichen, die Besitzer, die Bourgeoisie oder wie immer der Name seyn mag, a l s s o l c h e dem öffentlichen Tadel und dem unter 2
Mönkc, Literarisches Echo
18
A. Soziale Frage vor und nach 1844
Umständen sehr praktischen Hasse der untern Classen preisgegeben werden, wenn das unleugbare Übel in der denn doch ganz unvermeidlichen Ungleichheit des Vermögens, und in letztem Grunde also im Eigenthumsrechte selbst, nicht aber in der unrichtigen Art der Bezahlung der Arbeit und in andern zufälligen Mißständen, und wenn also das bewußte oder unbewußte Hülfsmittel in einem brutalen und sinnlosen Kriege gegen das Eigenthum, nicht in der Vertilgung des Elendes mittelst der Beseitigung falscher Einrichtungen und offenbaren Unfuges gesucht wird". 81 3. Die dritte Gruppe bilden die r a d i k a l e n D e m o k r a t e n . Sie rekrutierten sich zumeist aus den gleichen Kreisen wie die vorige Gruppe, doch unverhältnismäßig größer in ihr war der Anteil der Intelligenz; ferner waren in ihren Reihen viele Männer zu finden, die, aus dem Handwerker- oder Arbeiterstande stammend, sich in Intelligenzberufe emporgearbeitet hatten. Von allen drei Gruppen war diese die politisch aktivste und diejenige, um die sich eine echte Volksbewegung scharte; sie repräsentierte den fortschrittlichsten und revolutionärsten Teil der deutschen Bourgeoisie. Der Standpunkt des Kleineigentümers bedingte die politische und soziale Einstellung der radikalen Demokraten. Sie wandten sich nicht nur gegen die Monarchie, die sie zu völliger politischer Rechtlosigkeit verurteilte, sondern auch gegen die gemäßigt liberale Großbourgeoisie, in deren Programm ihnen keine bestimmende oder mitbestimmende Rolle zugedacht war, so daß ihnen auch unter konstitutionell-monarchischen Bedingungen die Möglichkeit vorenthalten bliebe, den Kleinbesitz auf politischer Ebene zu schützen. Im Gegensatz zur Großbourgeoisie und zu den beiden zuvor genannten kleinbürgerlichen Gruppen erhoben sie daher die Forderung nach völliger politischer Gleichberechtigung aller Glieder der Gesellschaft. Sie glaubten, daß auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft eine alle Seiten befriedigende Lösung der sozialen Frage möglich sei, wenn Staat und Regierung auf dem Gesamtwillen der Bevölkerung beruhen. 82 Der Standpunkt des Kleineigentümers verwehrte den Demokraten die Erkenntnis der Tatsache, daß die industrielle Revolution und das Aufkommen der maschinellen Großproduktion unvermeidlich eine soziale Umstrukturierung, die Herabsetzung des Handwerks auf eine sozial und politisch unbedeutende Stufe und die Erzeugung des Proletariats als einer großen gesellschaftlichen K l a s s e zu Folge haben. 83 Auch die weitsichtigsten unter ihnen, die die Industrialisierung als unabwendbaren historischen Vorgang ansahen 84 , erwarteten, daß bei allgemeiner Repräsentation alle Stände zu ihrem Recht kommen und divergierende Interessen in Harmonie gesetzt werden können. Die Lage des Proletariats glaubten sie hervorgerufen durch die Entstehung der Industrie, durch den Mangel sittlicher und intellektueller Bildung und durch Überbevölkerung. An ihrer Verbesserung waren sie, abgesehen von meist echtem Mitgefühl, vornehmlich aus zwei Gründen
III. Einstellung zur sozialen Frage
19
interessiert. Einmal sahen sie in den arbeitenden Massen ihren nächsten Bundesgenossen im Kampf gegen Monarchie und Großbourgeoisie, zum andern waren sie d a r a n interessiert, das bürgerliche Eigentum vor sozialistischen und kommunistischen Umwälzungen zu schützen, zu denen die notleidende Arbeiterklasse neigen könnte. 8 5 Aus diesen sozialen und politischen Voraussetzungen erklären sich ihre Reformvorschläge. Gegen die Großbourgeoisie gerichtet waren solche, die den Schutz der Arbeiter vor übermäßiger Ausbeutung und gerechtere Besteuerung und Abschaffung indirekter Steuern betrafen. 8 6 Dies sowie die Abstimmung der Interessen von Industrie und Handwerk sollten durch die O r g a n i s a t i o n d e r A r b e i t 8 7 und durch Gründung von A s s o z i a t i o n e n erreicht werden. In den beiden Forderungen trafen sie sich mit kleinbürgerlichen Reformsozialisten. Die Organisation der Arbeit, eine Art staatlicher Planungsinstanz, sollte lenkend auf die Produktion und Arbeitskräfteverteilung einwirken und Unternehmungen verhindern, die nur von Gewinnstreben getragen waren, das Handwerk unnötigerweise entwurzelten und Arbeiter arbeitslos machten. Gleichzeitig war an eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter gedacht. Die Assoziation 8 8 schloß eine Vielzahl von Vorstellungen ein, die alle darauf hinausliefen, gewerbliche oder politische Verbindungen zu schaffen als Gegengewicht zur Macht der ökonomisch und politisch Herrschenden. In dem Streben nach Assoziation äußerten sich die ersten tastenden Versuche zur Errichtung von ökonomischen und politischen Interessenverbänden. In den Vereinen zum Wohl der arbeitenden Klassen sahen sie eine der möglichen Arten von Assoziation. Aus den Reihen der Demokraten kamen die meisten und emsigsten Mitarbeiter der Vereine. Aus diesen wünschten sie den organisierten Träger von Unterstützungs-, Kranken-, Spar- und Prämienkassen und von Bildlingsanstalten f ü r Arbeiter zu machen. 8 9 Dank ihnen sollten der Pauperismus eingedämmt und den Arbeitern soziale Aufstiegsmöglichkeiten gegeben werden. Diese Mittel würden freilich versagen, wo Überbevölkerung die Ursache von Arbeitslosigkeit und Hungerlöhnen sei. Hiergegen helfe nur eine systematisch betriebene Auswanderung. 9 0 Aus ihrem politischen Gleichheitsideal und dem Bemühen, die Arbeiter ideologisch an die bürgerliche Gesellschaft zu binden, ergab sich ihr Bestreben, „Arbeiter" und „Gebildete" einander anzunähern. 9 1 Dem Ziel diente die Gründung von Bürger- und Handwerkervereinigungen. Die Bürgergesellschaften waren Vorformen politischer Parteienbildung; sie waren ebensosehr Organe politischer Willensbildung und -bekundung 9 2 als Plattform geselliger Zusammenkünfte von Bürgern und Arbeitern. 9 3 In den Handwerkervereinigungen fungierten Bürger als Organisatoren, Lehrer und Vortragende. In der Handwerkerbewegung muß man also die kommunistische, unter dem Einfluß von Weitling und seinen 9»
20
A. Soziale Frage vor und nach 1844
Freunden stehende Strömung (Vorfahr des Bundes der Kommunisten) streng von dieser in ideologischer und organisatorischer Abhängigkeit von der kleinbürgerlichen Demokratie stehenden Strömung unterscheiden. Die letztere sollte sich als Instrument des Kampfes gegen die Herausbildung einer proletarischen Klassenkampf Organisation erweisen. 94 Indem jedoch die kleinbürgerlichen Demokraten die soziale Frage zu einem Vehikel ihres Kampfes gegen Monarchie und die Oligarchie der Großkapitalisten machten und in dem Zusammenhang in einer breiten Publizistik soziale Fragen und sozialistische und kommunistische Lehren erörteten, haben sie gewollt und ungewollt auch zur politischen Bewußtseinsbildung des Proletariats beigetragen. 9 5 Manchen von ihnen hat die Beschäftigung mit sozialen Fragen in das Lager des Sozialismus geführt. 9 6 Hinsichtlich der Nähe zum Proletariat und zum Sozialismus und damit der Radikalität und des revolutionären Geistes sind ein linker und ein rechter Flügel innerhalb des kleinbürgerlich-demokratischen Lagers festzustellen. Der linke, revolutionäre, legte das Schwergewicht auf d i e p o l i t i s c h e U m w ä l z u n g u n d d i e s o z i a l e R e f o r m ; ohne letztere hätte die Demokratie keine feste soziale Basis, und Arbeitererziehung und -bildung würden fruchtlos bleiben. 9 7 Der rechte, schwärmerisch-humanistische, erstrebte die p o l i t i s c h e R e f o r m und setzte die soziale in Abhängigkeit von Erziehung und Bildung der arbeitenden Klasse. 9 8 Die zwei Flügel sind vergleichbar denen in der sozialistischen Bewegung im vormärzlichen Deutschland; hier standen den idealistisch-humanistischen, auf Erziehung bauenden, reformistischen wahren Sozialisten die um Marx und Engels sich versammelnden revolutionären Kommunisten gegenüber. Beide Flügel der kleinbürgerlichen Demokraten waren sich einig in dem Stieben nach Beibehaltung des bürgerlichen Privateigentums. Wenn sie darunter auch vornehmlich das Kleineigentum verstanden, so lag doch hierin eine prinzipielle Übereinstimmung mit der Großbourgeoisie. Während jedoch diese die sozialen Folgen der kapitalistischen Gesellschaft weitgehend als unvermeidbar ansah und zur Abwehr kleinbürgerlicher und proletarischer Ansprüche die politische Herrschaft in ihren und den Händen monarchischer Kräfte konzentriert wünschte, hatten die Demokraten die zu jener Zeit eine progressive und revolutionäre Rolle spielende Illusion, unter Beibehaltung der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft deren Begleiterscheinungen wie Krisen, Arbeitslosigkeit und Proletarierelend in einem demokratischen, auf der Volkssouveränität beruhenden Staat ausschalten zu können.
III. Einstellung zur sozialen Frage
21
4. Sozialisten Sehr verschieden von