Das Kerygma als Narration: Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricoeurs Hermeneutik 9783161620638, 9783161620645, 3161620631

Das Selbst ist nicht selbstverständlich. Wie sich das Selbst aus christlicher Überzeugung verstehen kann, ergründet Bast

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German Pages [308] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel I Selbstverstehen und Zeitverstehen – das Problem der Zeit im elften Buch der augustinischen Confessiones
1.Einführung
2.Die erste Aporie: Was ist Zeit?
3.Die zweite Aporie: Wie lässt sich Zeit messen?
4.Die dritte Aporie: Die menschliche Zeit und die göttliche Ewigkeit
5.Fazit
Kapitel II Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen – eine Relektüre der aristotelischen Poetik
1. Einführung
2. Annäherung – Aufbau und Gliederung
3. Der Inhalt
4. Die Tragödie – μίμησις par excellence
5. Die formalen Kriterien der Tragödie
6. Die Trias von μῦθος, μίμησις und κάθαρσις
6.1 μῦθος
6.2 μίμησις
Exkurs: Die platonische μίμησις
6.3 κάθαρσις
7. Fazit
Kapitel III Selbstverstehen und Narrationsverstehen – die „Hermeneutik des Selbst“ bei Paul Ricoeur
1.Einführung
2.Die dreifache Mimesis
2.1 Mimesis I – das „Vorher“ des Textes
2.1.1 Die strukturellen Merkmale einer Handlung
2.1.2 Die symbolischen Merkmale einer Handlung
2.1.3 Die zeitlichen Merkmale einer Handlung
2.2 Mimesis II – das „Reich des Als ob“
2.3 Mimesis III – das „Nachher“ des Textes
2.3.1 Gesunde versus ungesunde Zirkularität
2.3.2 Der „Akt des Lesens“ – Funktion der Mimesis III
2.3.3 Die aufgeschobene Frage nach der Referenz
2.3.4 Menschliche und erzählte Zeit
2.4 Zusammenfassung
3. Erzählungen als „bewohnbare Welten“ – die Wertschätzung der Narration
4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“
5. Fazit
Kapitel IV Selbstverstehen und Kerygmaverstehen – Rudolf Bultmanns hermeneutische Kerygmatheologie
1. Einführung
2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie
2.1 Die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie
2.1.1 Der Theologiebegriff
2.1.2 Die produktive Aufnahme der heideggerschen Philosophie und ihre Probleme
2.2 Der Begriff der Geschichte – auf dem Weg zur Geschichtlichkeit
2.2.1 Geschichte und Geschichtlichkeit
2.2.2 Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament
2.2.3 History and Eschatology – die Gifford Lectures von 1955
2.2.4 Die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins
2.3 Verstehen als Existential
2.3.1 Die existentiale Interpretation
2.3.2 Entmythologisierung – die existentiale Interpretation des neutestamentlichen Mythos
2.4 Glauben als „freie Tat des Gehorsams“
3. Auf dem Weg zum Kerygma
3.1 Glauben und Verstehen als Titel bultmannscher Theologie
3.2 Bultmann – ein Theologe des Paradoxons
3.2.1 Die eschatologische Existenz
3.2.2 Der Umgang mit der Geschichte
3.2.3 Die Freiheit
3.2.4 Der Christus
3.2.5 Die Predigt
3.2.6 Das Kerygma
4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie
4.1 Die Punktualität des Kerygmas im Augenblick der Entscheidung
4.2 Die Überbetonung der Formalität des Kerygmas
5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger
5.1 Formale und inhaltliche Grundlinien bultmannscher Predigttätigkeit
5.2 Predigt zu Lk 5,1–11 – die dem Kerygma verpflichtete Verkündigung
6. Fazit
Kapitel V Paul Ricoeurs Hermeneutik als Maieutik bultmannscher Kerygmatheologie
1. Einführung
2. Ricoeurs Vorwort zur französischen Ausgabe von Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie – Zustimmung und Widerspruch
2.1 Die hermeneutischen Herausforderungen
2.2 Die Entmythologisierung
2.3 Die Interpretation
3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt
3.1 Der Anspruch des Kerygmas
3.2 Die Unverfügbarkeit – die Gabe als Ermöglichungsgrund für Resonanz
3.3 Das Kerygma als Erschließungsraum
Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Das Kerygma als Narration: Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricoeurs Hermeneutik
 9783161620638, 9783161620645, 3161620631

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Dogmatik in der Moderne herausgegeben von

Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel

44

Bastian König

Das Kerygma als Narration Rudolf Bultmanns Theologie im Gespräch mit Paul Ricœurs Hermeneutik

Mohr Siebeck

Bastian König, geboren 1991; 2011– 2017 Studium der Ev. Theologie in Göttingen und Dublin; 2018 – 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Reformierte Theologie der WWU Münster; 2021– 2024 Vikariat in Hannover. orcid.org / 0009-0000-0584-6062

ISBN 978-3-16-162063-8 / eISBN 978-3-16-162064-5 DOI 10.1628 / 978-3-16-162064-5 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https: //dnb.de abrufbar. © 2023  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über­ setzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Meinen Großeltern

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Vorwort Diese Untersuchung wurde von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Wintersemester 2021/22 als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet und um die Register erweitert. Dieses Vorhaben wäre ohne die vielfältige Unterstützung einiger Menschen nicht möglich gewesen, denen ich von Herzen danke. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Anne Käfer. Neben ihrer umsichtigen Betreuung der Arbeit hat sie meinen theologischen Horizont geweitet und mich stets gefördert. Für ihre Unterstützung über die Dissertation hinaus gebührt ihr mein herzlicher Dank. Ihre stete Bereitschaft zur theologischen Diskussion und ihre unermüdliche Mahnung zum präzisen Ausdruck war mir jederzeit von großer Hilfe. Des Weiteren bin ich ihr dankbar für meine Zeit am Seminar für Reformierte Theologie, in der mir die Arbeit mit Studierenden, das gemeinsame Nachdenken im Oberseminar und der theologische Diskurs auf Augenhöhe allzeit in guter Erinnerung bleiben werden. Bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Hans-Peter Großhans bedanke ich mich für die stete Unterstützung während meiner Zeit an der Fakultät und für die Möglichkeit, in einem europäischen Wissenschaftsprojekt mitzuarbeiten. Prof. Dr. Arnulf von Scheliha danke ich für die Möglichkeit der Partizipation am systematisch-theologischen Oberseminar, aus der unter anderem ein Sammelband zur protestantischen Familienethik hervorgegangen ist. Bei Prof. Dr. Martin Laube ist das Thema der Arbeit gereift. In zahlreichen Oberseminaren und durch die Arbeit am Lehrstuhl hat er mein Interesse für systematisch-theologische Themen geweckt. Ich danke ihm für die bleibende Unterstützung über meine Zeit an seinem Lehrstuhl hinaus. Prof. Dr. Christian Polke, der bei der thematischen Ausrichtung der Untersuchung mitgedacht hat, sei gedankt für seine unermüdliche Hilfsbereitschaft und seinen Rat, der mir sehr fehlen wird. Bei den Reihenherausgeber*innen bedanke ich mich für die Aufnahme der Arbeit in der Reihe Dogmatik in der Moderne. Mein Dank gebührt außerdem Dr. Katharina Gutekunst, Tobias Stäbler, Corinna Käb, Betina Burkhart sowie Ilse König für die unkomplizierte und zugewandte Kommunikation während des Publikationsprozesses. Der Hannoverschen Landeskirche und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands danke ich für die großzügigen Druckkostenzuschüsse.

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VIII

Vorwort

Bei allen Mitarbeiter*innen des Seminars für Reformierte Theologie, Victoria Lakebrink, Johanna Baumann, Franziska Traeger und Frederik Ohlenbusch, denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle, bedanke ich mich für die Unterstützung bei der Literaturbeschaffung sowie die bedachte inhaltliche wie formale Korrektur der Arbeit. Ebenso gilt mein Dank meinen treuen Freunden Andreas Wiederhold, Dr. Johannes Fioole und Imke-Charlotte Fröhlich, die inhaltliche und formale Korrekturen übernommen haben. Ines Nierstenhöfer danke ich für das Lektorat. Meinen Kollegen und Freunden Dr. Marcel Kreft, Dr. Marco Stallmann, Dr. Micha Kuhn und Dr. Stefan Zorn danke ich für die Anregungen in Bezug auf die Arbeit und die gemeinsame Zeit in Münster. Linda Jürgens und Janek Schramm sei gedankt für die Abwechslung und freundschaftliche Unterstützung. Horst Michels danke ich für die Unterstützung auf dem Weg der Drucklegung. Den größten Dank schulde ich meiner Frau Bianca König, die mit mir das Leben in Liebe teilt. Ich bin dankbar für ihre Geduld, ihren Zuspruch und ihr ehrliches Verständnis für mein Interesse an theologischen Fragestellungen und ihrer Bearbeitung. Für ihre treue Begleitung und ihre Loyalität danke ich meinen Großeltern Wilma und Hans-Jürgen König, denen dieses Buch in Liebe gewidmet ist. Hannover im Sommer 2023

Bastian König

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Kapitel I

Selbstverstehen und Zeitverstehen – das Problem der Zeit im elften Buch der augustinischen Confessiones 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die erste Aporie: Was ist Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zweite Aporie: Wie lässt sich Zeit messen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die dritte Aporie: Die menschliche Zeit und die göttliche Ewigkeit . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 8 13 22 24

Kapitel II

Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen – eine Relektüre der aristotelischen Poetik 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annäherung – Aufbau und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Tragödie – μίμησις par excellence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die formalen Kriterien der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Trias von μῦθος, μίμησις und κάθαρσις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 μῦθος. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 μίμησις. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die platonische μίμησις. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 κάθαρσις. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 29 30 34 38 41 41 43 44 49 51

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel III

Selbstverstehen und Narrationsverstehen – die „Hermeneutik des Selbst“ bei Paul Ricœur 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Die dreifache Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.1 Mimesis I – das „Vorher“ des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.1 Die strukturellen Merkmale einer Handlung . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.2 Die symbolischen Merkmale einer Handlung . . . . . . . . . . . . . 62 2.1.3 Die zeitlichen Merkmale einer Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.2 Mimesis II – das „Reich des Als ob“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.3 Mimesis III – das „Nachher“ des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.1 Gesunde versus ungesunde Zirkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.3.2 Der „Akt des Lesens“ – Funktion der Mimesis III . . . . . . . . . 82 2.3.3 Die aufgeschobene Frage nach der Referenz . . . . . . . . . . . . . . 84 2.3.4 Menschliche und erzählte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Erzählungen als „bewohnbare Welten“ – die Wertschätzung der Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“ . . . . . . . . . . . . 99 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kapitel IV

Selbstverstehen und Kerygmaverstehen – Rudolf Bultmanns hermeneutische Kerygmatheologie 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie . 2.1.1 Der Theologiebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die produktive Aufnahme der heideggerschen Philosophie und ihre Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Begriff der Geschichte – auf dem Weg zur Geschichtlichkeit . . 2.2.1 Geschichte und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament . . . . . . . . . . 2.2.3 History and Eschatology – die Gifford Lectures von 1955 . . . . 2.2.4 Die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verstehen als Existential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die existentiale Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Entmythologisierung – die existentiale Interpretation des neutestamentlichen Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Glauben als „freie Tat des Gehorsams“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 114 114 115 122 141 143 145 149 169 173 174 178 190

Inhaltsverzeichnis

3. Auf dem Weg zum Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Glauben und Verstehen als Titel bultmannscher Theologie . . . . . . . . 3.2 Bultmann – ein Theologe des Paradoxons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die eschatologische Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der Umgang mit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Der Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Die Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Das Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Punktualität des Kerygmas im Augenblick der Entscheidung . . 4.2 Die Überbetonung der Formalität des Kerygmas . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Formale und inhaltliche Grundlinien bultmannscher Predigttätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Predigt zu Lk 5,1–11 – die dem Kerygma verpflichtete Verkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI 195 195 201 202 203 204 205 209 211 216 223 231 236 238 242 248

Kapitel V

Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik bultmannscher Kerygmatheologie 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ricœurs Vorwort zur französischen Ausgabe von Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie – Zustimmung und Widerspruch . . . 2.1 Die hermeneutischen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Entmythologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt 3.1 Der Anspruch des Kerygmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Unverfügbarkeit – die Gabe als Ermöglichungsgrund für Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Kerygma als Erschließungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Gottes Ruf, höchst störend und unbequem, rüttelt uns auf, ruft uns zu unserem eigentlichen Leben zurück und gibt uns wieder das rechte Maß für die Dinge und das Treiben, in dem wir uns bewegen. Bereit sein für den Augenblick, der jeweils der entscheidende Augenblick ist! Der christliche Glaube ist ja kein ruhender Besitz; er ist nicht einfach die Überzeugung von bestimmten Lehren, die man sich ein für allemal zu eigen machen kann. Sondern der christliche Glaube ist eine Haltung des Willens. Er ist in uns nur lebendig, wenn er sich immer aufs neue bewährt. Es genügt nicht, daß wir uns einmal zum Glauben an Gott entschieden haben, sondern diese unsere Entscheidung für ihn haben wir immer wieder neu zu vollziehen, wenn er uns begegnet, wenn sein Ruf uns trifft. Immer wieder gilt es: Jetzt! Gott stellt uns durch seine Begegnungen auf die Probe: Bereit sein für seinen Ruf, das verlangt er von uns, daß wir von allem, was uns in Anspruch nimmt, von Arbeit und Sorge, von Freude und Leid, einen inneren Abstand nehmen; daß nichts uns ganz in Anspruch nimmt, so daß wir blind für seine Begegnung, taub für seinen Ruf würden.1

Das Selbst ist nicht selbstverständlich. Wer sich auf den Weg zum Selbst begibt, der wird erstaunt sein, auf welche Pfade ihn die Reise führen wird. Verschiedene Umwege sind einzuschlagen, um zu einem Verständnis des Selbst zu gelangen. Das menschliche Dasein zeichnet sich dadurch aus, dass es sich auf ständiger Selbstsuche befindet.2 Wie sich das Selbst aus christlicher Überzeugung verstehen kann, wird in der vorliegenden Untersuchung anhand der zeittheoretischen Arbeit Augustins, der Poetik des Aristoteles, der „Hermeneutik des Selbst“ Ricœurs sowie der kerygmatheologischen Arbeit Bultmanns erörtert. Dabei ist der Ansatz der Untersuchung auf die Frage nach dem verstehenden Selbst ausgerichtet. Es soll sich nicht um eine theologiegeschichtliche, sondern um eine systematischtheologische Untersuchung sensu stricto handeln, in der die Frage nach dem Selbst entlang des bultmannschen Kerygmabegriffs unter Zuhilfenahme der ricœurschen Hermeneutik beleuchtet wird. Es geht um die Frage nach dem eigenen Sein und somit um die anthropologische Kernfrage nach der eigenen Existenz. Diese stellt sich in doppelter Weise: zum einen als Frage nach der je individuellen Existenz, zum anderen nach der gattungsspezifischen Existenz. Seine Fraglichkeit fordert das Selbst zwangsläufig zum Verstehen auf. Unter „Verstehen“ sammeln sich nicht nur Fragen der klassischen Hermeneutik. Im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung

1 B, R, Marburger Predigten, Tübingen 1956, 133 f. Alle Hervorhebungen in Zitaten entsprechen, wenn nicht anders gekennzeichnet, dem Original. 2 Vgl. G, M, Warum es die eine Welt nicht gibt, Berlin 42018, 203–205.

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2

Einleitung

bezeichnet Verstehen die Existenzweise des menschlichen Daseins. Hinter diesem Verstehensbegriff steht die Überzeugung, dass letztlich alles Verstehen Auswirkungen auf das jeweilige Selbst hat und kein akzidentieller Akt ist. Die Ausführungen zu Augustin und Aristoteles dienen als Auftakt für ein produktives Gespräch der vier Denker. Die achronologische Reihenfolge bietet sich insofern an, als durch die Analyse von Augustins Conf. XI zunächst die Korrelation von Zeit- und Selbstverstehen hervortritt. Über die aristotelische Poetik lässt sich im Anschluss die Frage nach dem „Wie“ des Selbstverstehens beantworten. Zunächst wird durch eine eingehende Relektüre von Conf. XI deutlich, dass das Zeitverstehen eine unabdingbare Bedingung für das Selbstverstehen darstellt. Diese Erkenntnis findet eine implizite Reminiszenz in der bultmannschen Rede vom „Augenblick der Entscheidung“. Mit dieser Metapher beschreibt Bultmann den Moment der Vergegenwärtigung des Christusgeschehens im Kerygma. Mithilfe der Poetik des Aristoteles lässt sich sodann konstatieren, dass sich das menschliche Dasein mimetisch-kreativ die Wirklichkeit erschließt und auf schöpferische Narrationen angewiesen ist, in denen ihm unter Vorzug des Möglichen vor dem Wirklichen Resonanzräume eröffnet werden. Daran anschließend wird nach der Reichweite des aristotelischen Dreigespanns von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις3 und somit nach der Bedeutung der Termini für die Vorstellung eines verstehenden Selbst gefragt. Eine produktive Aufnahme beider Ansätze unternimmt seinerseits Ricœur in Zeit und Erzählung, wenngleich seine Relektüre auf die Frage nach der Zeit zugespitzt ist. Er bringt die zeittheoretischen Überlegungen Augustins in ein Gespräch mit der aristotelischen Poetik, um der zeitlichen Struktur von Verstehensprozessen gerecht zu werden. Schon in seinen früheren Arbeiten zum Symbol und der Metapher ist die enge Verquickung von Phänomenologie und Hermeneutik bestimmend. Ricœur verdeutlicht, dass ein Selbstverstehen nur auf dem Umweg über Vermittlung – in diesem Fall über die Erzählung – möglich ist. Die vorausgegangene Relektüre von Augustin und Aristoteles ist von der ricœurschen Aufnahme beider Denker angetrieben. Allerdings wird in ihr die Frage nach dem Selbstverstehen in Zusammenhang mit Zeit und Wirklichkeit ins Zentrum gestellt. Die hermeneutische Qualität der Erzählung für das Selbst wird durch das Konzept der „narrativen Identität“ verstärkt. Über die dreifache Aufspaltung der aristotelischen µι µησις, beschreibt Ricœur den Weg von der Präfiguration der Erzählkomposition bis hin zur Refiguration in der Rezeption. Mit der Vermittlungsthese wird der Erzählung eine große Wertschätzung zuteil. Im Gegensatz zu Augustin und Aristoteles ist Ricœurs Arbeit explizit von der Frage nach dem Selbst geleitet. Mit Ricœur lässt sich festhalten, dass ein Selbstverstehen nur über die Interpretation symbolischer Zeichen zu erreichen ist. Das Selbstverstehen korreliert mit einem Narrationsverstehen. Im Gegensatz zu rezeptionsäs-

3

(Poet. 1450a3–7); (Poet. 1449b28).

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Einleitung

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thetischen Ansätzen betont Ricœur stärker die Eigenständigkeit des Textes. Er macht deutlich, dass Erzählungen dem rezipierenden Selbst eine „bewohnbare Welt“ anbieten. Den Grund für die Ermöglichung eines tieferen, neuen Selbstverständnisses sieht er in der Textwelt angelegt. Ricœur schafft über die dreifache Mimesis ein Ineinander von Passivität und Aktivität auf Seiten des mimetischtätigen und rezipierenden Selbst, das sich nach ihm vor dem Text verstehen lernt. Innerhalb seiner Hermeneutik des Selbst lassen sich wichtige Erkenntnisse für ein tieferes Verständnis der theologischen Lesart des Selbst finden. Lässt sich anhand von Augustin aufweisen, dass inhaltlich ein Selbstverstehen nur über ein Zeitverstehen möglich ist und lässt sich mit der aristotelischen Poetik konstatieren, dass sich das menschliche Dasein mimetisch-kreativ die Wirklichkeit erschließt und damit dem Selbst auf die Spur kommt, so macht die Hermeneutik des Selbst nach Ricœur auf den grundsätzlichen Umweg aufmerksam, den das Selbst genötigt ist zu gehen, um zu einem Verstehen zu gelangen. Die drei Implikationen zum verstehenden Selbst finden sich in der Theologie Rudolf Bultmanns wieder. Bultmann eignet sich insofern als Zielperson der vorliegenden Untersuchung, als er die philosophische Vorbereitung produktiv aufnimmt und theologisch grundiert. Bultmann stellt die Frage nach dem Selbst ins Zentrum seiner theologischen Arbeit. Der Titel seiner mehrbändigen Aufsatzsammlung ist für sein gesamtes theologisches Œuvre treffend. Unter Glauben und Verstehen geht er der Frage nach dem Selbst im Horizont der Gottesbeziehung nach. Bultmann nähert sich dem Selbst über eine Ausweitung der klassischen Hermeneutik. So fragt er mithilfe seiner „existentialen Interpretation“ biblische Texte nach ihren enthaltenen Existenzmöglichkeiten für das rezipierende Selbst. Ein wirkliches Verstehen lässt sich mit Bultmann nur aufgrund eines Verstandenseins durch Gott erreichen. Das umfängliche Erkanntsein bedingt das Erkennen auf Seiten des Selbst (1 Kor 13,12). Dem Kerygma kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition zu. Bultmann sieht in ihm den exklusiven Ermöglichungsgrund für ein wirkliches Neuverstehen. Alles spitzt sich bei ihm auf den Augenblick der Entscheidung zu, in dem durch das hinzugesagte Wort Gottes das menschliche Dasein sich selbst gewinnen oder verlieren könne. So ist ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung den Kerygmabegriff einer genauen Analyse zu unterziehen. Dabei wird deutlich werden, dass bei Bultmann eine Engführung des Begriffs vorliegt, die problematisch ist. Es wird die These aufgestellt, dass dieser Engführung mithilfe der ricœurschen Hermeneutik begegnet werden kann, sofern das Kerygma als Narration im ricœurschen Sinne verstanden wird. Grundlegend wird in den folgenden Ausführungen der Frage nach dem verstehenden Selbst nachgegangen. Theologisch ist dabei der Zusammenhang von Verstandensein durch Gott und Selbstverstehen zentral. Diesen Konnex arbeitet Bultmann in seiner Theologie anhand des Kerygmas aus. Die enge Korsage des Kerygmabegriffs mithilfe der Hermeneutik Ricœurs zu weiten ist das maßgebliche Ziel der Untersuchung. Dafür ist es zunächst ertragreich, sich dem Zusam-

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Einleitung

menhang von Zeit-, Wirklichkeits- und Selbstverstehen zuzuwenden, um inhaltliche und formale Dimensionen des Selbstverstehens zu erarbeiten. Über die Frage nach dem verstehenden Selbst ergeben sich zudem neue Zugänge für ein Verständnis der Theologie Bultmanns. Versteht man Bultmann als Theologen des Paradoxons, so erscheint über den Zusammenhang von Glauben und Verstehen das Kerygma als Schlüsselkategorie seiner Theologie. Mit diesem Begriff gelingt es Bultmann, die unabdingbare Angewiesenheit des menschlichen Daseins auf Gottes Gnade zu betonen, aus der sich wiederum ein wirkliches Neuverstehen menschlicher Existenz ergibt. Dadurch lässt sich Glaube in seinem Konstitutionsmoment wie auch als Verstehensvollzug menschlichen Daseins plausibilisieren. Gleichzeitig kommt das Anliegen Bultmanns angemessen zur Sprache: Durch die Begegnung mit dem christologischen Kerygma werde der Mensch existentiell getroffen und im Augenblick vor die Entscheidung über seine gesamte Existenz gestellt. Somit ist für Bultmann die Frage nach dem Verstehen des Kerygmas das entscheidende Moment auf dem Weg zum Selbstverstehen. Das Verstehen des Kerygmas fasst Bultmann als „eschatological event“4 auf, ein Geschehen also, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Augenblick zusammengezogen sind – ähnlich der dreifachen Gegenwart bei Augustin. Erst im Kerygma begegne Gott dem Menschen und aufgrund des Kerygmas habe er Anteil am Heilsgeschehen. Durch ein vorläufiges Verstandensein Gottes wird dem Selbst die Möglichkeit gegeben, sich neu zu verstehen. Diese existentielle Begegnung erfährt durch das Gespräch mit der ricœurschen Hermeneutik des Selbst ihre theoretische Unterfütterung. Mit ihr lässt sich das Kerygma als Angebot einer bewohnbaren Welt verstehen, durch die sich das Selbst neu verstehen kann. Ricœur liefert die sprachtheoretische Ausarbeitung des bultmannschen Anliegens. Mit der Verbindung von Hermeneutik und Phänomenologie kann die Spannung von Aktivität und Passivität, von Rezeptivität und Performativität im Ereignis des Kerygmas grundiert werden. Dadurch gelangt das Anliegen Bultmanns zu wahrer Strahlkraft. Abschließend werden die Einsichten aus dem Vierergespräch pointiert gesichert. Dadurch wird zudem die Bedeutung des Kerygmas als Narration für die gegenwärtige systematisch-theologische Disziplin deutlich.

4 B, R, History and Eschatology. The Gifford Lectures (1955), Edinburgh 1957, 151.

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Kapitel I

Selbstverstehen und Zeitverstehen – das Problem der Zeit im elften Buch der augustinischen Confessiones Nunc vero ,anni mei in gemitibus‘, et tu solacium meum, domine, pater meus aeternus es; at ego in tempora dissilui […] et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae, intima viscera animae meae, donec in te confluam purgatus et liquidus igne amoris tui. […] Da illis, domine, bene cogitare, quid dicant, et invenire, quia non dicitur ,numquam‘, ubi non est tempus […]. Videant itaque nullum tempus esse posse sine creatura et desinant itsam vanitatem loqui.1

1. Einführung Der Frage nach der Zeit ist nicht auszuweichen, will man dem Selbst näherkommen. Denn das Selbst unterliegt zeitlichen Bedingungen. Nur so lassen sich Veränderungen des Selbst denken. Dass die Frage nach dem Selbst eng verwoben ist mit der Frage nach der Zeit, hat bereits Augustin erkannt. Im elften Buch der Confessiones geht er der Frage nach der Zeit vor dem Hintergrund der Frage nach Gottes Ewigkeit nach. An der dialektischen Figur der distentio und intentio animi2 zeigt sich, dass Selbst und Zeit korrelieren. Implizit wird deutlich, dass Augustin Zeit- und Selbstverstehen eng aneinander koppelt. Ein Zeitverstehen ist ohne Selbstverstehen nicht möglich und umgekehrt muss ein Selbstverstehen, das versucht ohne Zeitverstehen auszukommen, an einem zeitlosen Identitätsbegriff verhaftet bleiben. Darüber hinaus wird durch die Architektur der Confessiones deutlich, dass eine Beantwortung der Frage nach der Zeit und somit nach dem Selbst

1 „Noch aber ,schwinden meine Jahre in Seufzen dahin‘, und Du nur bist mein Trost, Herr, mein Vater, und Du bist ewig; ich aber splittere in Zeit und Zeit […] und im aufgeregten Unbestand der Dinge werden meine Gedanken, wird das tiefste Leben meiner Seele hierhin, dorthin gezerrt, bis ich, in der Glut Deiner Liebe zu lauterem Fluß geschmolzen, in Dir ein ungeteiltes Eines werde. […] Laß sie doch wohl überlegen, Herr, was sie sagen, laß sie einsehen, daß man, wo es keine Zeit gibt, von ,niemals‘ nicht reden kann. […] Möchten sie also einsehen, daß es ohne Schöpfung auch Zeit nicht geben kann und aufhören mit ihrem nichtigen Gerede.“ (Conf. XI 29.39–30.40). (Die deutsche Übersetzung folgt B, J, Augustinus, Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe, aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt am Main/Leipzig 1987). 2 Vgl. Conf. XI 26.33.

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

nur vor dem Hintergrund der Gottesbeziehung möglich ist. Diese theologische Grundüberzeugung spiegelt sich im bultmannschen Kerygma wieder und trägt zu dessen Verständnis bei. Mit der Frage nach der Zeit wird zunächst eine grundlegende Komponente in das Selbstverstehen eingetragen. Daher bietet sich Augustin als Gesprächspartner zu Beginn der folgenden Untersuchung an, ehe mit der aristotelischen Poetik der Frage nach dem „Wie“ der Selbsterschließung nachgegangen wird. Quid est enim ,tempus‘?3 Auf diese Frage laufen die einleitenden Ausführungen des elften Buches der Confessiones zu, die Augustin bis zu dessen Ende nicht mehr loslassen wird. Ausgehend von Gen 1,1 und der Frage nach der Schaffung der Erde Gottes im Anfang (in principio), bricht die Frage nach der Zeit auf. Dabei dient eine einleitende Abgrenzung von Gottes Ewigkeit zu „all und jeder Zeit“4 als Überleitung von der Genesisauslegung zur ontologischen Frage nach der Zeit.5 Die augustinische Untersuchung der Zeit lässt sich in drei Hauptabschnitte gliedern, die jeweils in eine Aporie zu münden scheinen und sich den drei Fragen „Was“, „Wo“, und „Wie“ der Zeit widmen. In einem ersten Angang fragt Augustin nach dem grundsätzlichen Sein der Zeit. Ausgehend von alltäglichen Zeiterlebnissen6, dem alltagssprachlichen Umgang mit Zeitattributionen sowie einer

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„Denn was ist ,Zeit‘?“ (Conf. XI 14.17). Conf. XI 13.16. 5 Vgl. K, K, Gott in der Zeit berühren. Eine Auslegung der Confessiones des Augustinus, Würzburg 1998, 281. 6 Im weiteren Verlauf wird von „Erlebnis“ gesprochen, wenn es um das Widerfahrnis, den alltäglichen Zugang des Menschen zur Zeit beziehungsweise Zeitlichkeit im Allgemeinen geht. In der Abgrenzung zum generellen, breiten Erfahrungsbegriff trägt der Begriff des Erlebnisses dem Umstand der unmittelbaren Selbsterfahrung im Hinblick auf die Zeit Rechnung, auf die Augustin zielt, wenn er die Frage nach der Zeit einzuhegen versucht. Dabei kann Diltheys Begriff des Erlebnisses in der Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen als hermeneutische Maieutik dienen (vgl. im Folgenden: D, W, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft. Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen, in: Gesammelte Schriften [Bd. VII], Göttingen 81992, 191–251). Dilthey bietet sich als Gesprächspartner nicht zuletzt aus dem basalen Grund an, dass er das Erlebnis eng an das bestimmte Erlebnis der Zeit knüpft: „Hier [im Erlebnis] wird die Zeit erfahren als das rastlose Vorrücken der Gegenwart, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart. Gegenwart ist die Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität, sie ist Realität im Gegensatz zur Erinnerung oder zu den Vorstellungen von Zukünftigem, die im Wünschen, Erwarten, Hoffen, Fürchten, Wollen auftreten. Diese Erfüllung mit Realität oder Gegenwart besteht beständig, während das, was den Inhalt des Erlebens ausmacht, sich immerfort ändert. Die Vorstellungen, in denen wir Vergangenheit und Zukunft besitzen, sind nur da für den in der Gegenwart Lebenden. Die Gegenwart ist immer da, und nichts ist da, als was in ihr aufgeht.“ (a.a.O., 193). Dabei ist das Erlebnis als ganzheitlicher Begriff zu verstehen, den Dilthey mit der inneren Erfahrung des Menschen gleichsetzt (vgl. D, W, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften [Bd. V], Göttingen 92008, 172). Dilthey trägt mit seinem Verständnis von Erlebnis also dem eigentümlichen Umstand des 4

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1. Einführung

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intersubjektiven, kommunikativen Verständlichkeit in Bezug auf Aussagen über zeitliche Dimensionen geht es ihm um das Sein der Zeit an sich. An diesen Gedankengang schließt sich sodann die Frage nach der Erlebbarkeit der Zeit an, die mit deren Verortung im menschlichen Geist einhergeht und in die Entfaltung einer dreigestaltigen Gegenwart mündet. Nach einer vorläufigen – wie jedoch zu zeigen sein wird – fragilen Sicherung eines Seins der Zeit, folgen die genaue Untersuchung der Messung der Zeit sowie die daran anschließende Entfaltung einer distentio animi. Es wird sich zeigen, dass alle Teile aufeinander bezogen bleiben und sich gegenseitig als Stütze dienen. Am Schluss bricht erneut die Frage nach der menschlichen Zeit im Kontrast zur göttlichen Ewigkeit auf. Diese Grundkonstellation rahmt somit das gesamte elfte Buch der Confessiones und lässt sich in einzelnen Gebetseinschüben immer wieder entdecken. Für Augustin – das sei an dieser Stelle vorweggenommen – scheint eine Einsicht klar zu sein: Nur aufgrund der geschöpflichen Abhängigkeit des Menschen vom ewigen, allmächtigen Gott, ist er befähigt, über die Zeit nachzudenken. Augustin stellt sich die Frage in einem ganz existentiellen Sinne, sieht sich ihr in seiner Existenz ausgeliefert.7 Der Duktus des elften Buches, aber auch der gesamten Confessiones, lässt sich als Gegenstück zu dem einer rein theoretischen Erörterung charakterisieren. Vielmehr „ist die Subjektivität nun Schauplatz einer skrupulösen Selbsterforschung.“8 Diese Ausrichtung wird verdeutlichen, dass für Augustin Zeit- und Selbstverstehen korrelieren, wobei dieser Konnex wiederum an den Glauben an Gott den Schöpfer rückgebunden ist. In drei konzentrischen Kreisen erfolgt im Folgenden die Annäherung an die Frage nach der Zeit. Es bietet sich an, zunächst mit der allgemeinen Eingangsfrage nach dem Sein der Zeit einzusetzen, die sich sogleich um ein Verständnis der Gegenwart bemüht. Darauf folgt die Analyse des menschlichen Geistes, der zugleich als Ort sowie Akteur des Zeiterlebens ausgemacht werden kann. Zuletzt wird es um die Frage nach dem Verhältnis von menschlichem Augenblick und göttlicher Ewigkeit gehen. Unter diese Verhältnisbestimmung lassen sich die beiden anderen Fragen subsumieren, da die Frage nach der Ewigkeit sowohl Kontrastfolie als auch Ermöglichungsgrund der menschlichen Suche nach der Zeit ist.

Erlebens von Zeit und in Zeit und seinem ambivalenten Charakter, der auch Augustin beschäftigt, Rechnung (Vgl. D, W, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 195). Erleben hat im Sinne Diltheys immer etwas mit Unmittelbarkeit zu tun, ehe es zum Ausdruck und sodann zum Verstehen komme (vgl. etwa D, W, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, 195). Mit eben dieser Unmittelbarkeit setzt sich Augustin im elften Buch der Confessiones auseinander; diesem direkten Erlebnis denkt er nach. 7 „An die Stelle der Perspektive eines Beobachters, der die Vermögen des Geistes und der Seele als Gegenstände untersucht, tritt bei Augustin der rekonstruierende Nachvollzug des Erlebens einer Person, die sich als Sünder in ein dramatisches Geschehen verwickelt vorfindet.“ (H, J, Auch eine Geschichte der Philosophie [Bd. 2], Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, 194). 8 Ebd.

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

2. Die erste Aporie: Was ist Zeit? Augustin setzt bei der eigentümlich-paradoxen Erfahrung im Umgang mit der Zeit an, dass man in irgendeiner Weise verstehe, was mit Zeit gemeint, aber nicht wirklich auskunftsfähig auf die Frage nach dem Sein der Zeit sei: Quid et ergo ,tempus‘? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.9 Für Augustin ist das Moment des Übergehens beziehungsweise Vorübergehens (transire) das, was Menschen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen lasse. Wenn die Gegenwart erstarre und ein Übergang ausbleibe, könne man nicht von Zeit sprechen, sondern wäre wiederum bei der Ewigkeit angelangt.10 Der Zugriff zur Zeit liegt für Augustin in ihrem flüchtigen Dasein, in ihrem Vorübergehen. Er stellt sich die Frage, wie man von etwas sprechen könne, das nur in seinem Vorübergehen zu fassen sei? Und wie sei es darüber hinaus zu rechtfertigen, dass Menschen ständig von Zeitabschnitten sprächen, von Dauer, „von langer Zeit und kurzer Zeit“11? Wie kann man – so könnte man den Kreis der Fragen mit Augustin benennen – von etwas sprechen, das durch sein Nichtsein (non est) gekennzeichnet ist?12 Es geht Augustin bei der Bearbeitung des Paradoxons von Sein und Nichtsein der Zeit immer wieder um die Elaboration einer Modalität der Sprache von der Zeit.13 Ihn interessiert, auf welche Art angemessen von der Zeit gesprochen und somit ihrem Wesen auf die Spur gekommen werden könne. Dabei rückt die Frage nach der Gegenwart ins Zentrum. Denn unabhängig davon, ob lang oder kurz, in Quantitäten könne von der Zeit nur in der Gegenwart gesprochen werden, „denn nur als anwesend seiende war sie lang“14. Doch führe die Abhebung der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft in eine Aporie,15 denn wie kann die Gegenwart eine Länge besitzen, wenn sie immer wieder

9 „Was ist also ,Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Conf. XI 14.17). 10 Vgl. ebd. 11 Conf. XI 15.18. 12 „Doch wie kann denn lang oder kurz sein, was nicht ,ist‘? Die abgelaufene Zeit ,ist‘ ja nicht mehr, und die kommende ,ist‘ noch nicht.“ (ebd.). 13 Diese Beobachtung teilt auch Heidegger, der den ominös-vertrauten Umgang mit der Zeit an der Sprache festmacht (vgl. H, M, Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus, Dritter Teil, Augustinus, Confessiones XI [De Tempore]. Übung im Wintersemester 1930/31, in: GA IV [Bd. 83], Frankfurt am Main 2012, 41–82, 44). 14 Conf. XI 15.18. 15 Augustin verweilt einen Augenblick bei der Überlegung, welche Ausdehnung ein Moment haben dürfe, der noch als gegenwärtig gilt, denn der Mensch nehme nun einmal Zeitspannen wahr und könne diese auch mit Attributen versehen. Das man mit solcher Art Überlegungen das Problem nicht einhegen kann, liegt auf der Hand. Denn bisher wurde noch keine genauere Definition der Ausdehnung an sich geliefert. Die Rede von der Ausdehnung dient an dieser Stelle schlicht der sprachlichen Reflexion über ein ominöses Erlebnis.

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2. Die erste Aporie: Was ist Zeit?

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und immer weiter in Einzelteile zerlegt werden könne?16 Deutlich wird an dieser Stelle die Ausweglosigkeit des Gedankenganges. Man komme nicht hinterher: [Q]uod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transvolat, ut nulla morula extendatur. Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium.17

Gleichzeitig ist damit etwas über den Menschen ausgesagt, der eben derjenige ist, dem sich diese bedrückenden Fragen stellen und der immer wieder versucht, die Zeit haftbar zu machen.18 Es kann – so lässt sich aus den Worten Augustins schließen – nicht darum gehen, nach bestimmten Jetzt-Momenten zu suchen, da man bei diesem Versuch immer ins Leere greift, da eine solche Gegenwart ohne Ausdehnung ist. Doch bleibt Augustin seinem Verlangen, das Sein der Zeit aufzuweisen, treu: Et tamen, domine, sentimus intervalla temporum et comparamus sibimet et dicimus alia longiora et alia breviora. Metimur etiam, quanto sit longius aut brevius illud tempus quam illud et respondemus duplum esse hoc vel triplum, illud autem simplum aut tantum hoc esse quantum illud. […] Cum ergo praeterit tempus, sentiri et metiri potest, cum autem praeterierit, quoniam non ,est‘, non potest.19

Zum einen begegnet hier wieder der alltägliche Mensch, der Zeit erlebt, Zeitspannen vergleicht und von ihnen spricht, also das Moment der „Grunderfahrung“20 menschlichen Daseins. Zum anderen unterstreicht dieses Moment, dass es Augustin um die Klärung der Modi geht, wie Zeit zugänglich werde.21 So

16 „Könnte man irgendwas von Zeit sich vorstellen, so winzig, daß es gar nicht mehr sich teilen läßt, auch nicht in Splitter von Augenblicken: solche Zeit allein wäre es, die man ,gegenwärtig‘ nennen dürfte.“ (Conf. XI 15.20). 17 „[S]ie [sc. die Zeit] aber fliegt so reißend schnell von Künftig zu Vergangen, daß auch nicht ein Weilchen Dauer sich dehnt. Denn sowie sie sich ausdehnt, zerfällt sie schon wieder in Vergangenheit und Zukunft; aber als Gegenwart ist sie ohne Ausdehnung.“ (ebd.). 18 Vgl. H, M, Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus, Dritter Teil, Augustinus, Confessiones XI (De Tempore), 46. 19 „Und gleichwohl, Herr, nehmen wir Zeiträume wahr und vergleichen sie miteinander und sprechen von längeren und kürzeren. Wir messen auch, um wieviel diese Zeitspanne länger oder kürzer ist als jene, und sagen, sie sei doppelt so lang oder dreimal so lang im Vergleich zu dieser einfachen, oder sie sei ebenso lang wie diese. […] Dann also, wenn die Zeit vorüberzieht, ist es möglich, sie wahrzunehmen und zu messen; ist sie schon vorüber, so kann man das nicht, weil sie nicht ,ist‘.“ (Conf. XI 16.21). 20 H, M, Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus, Dritter Teil, Augustinus, Confessiones XI (De Tempore), 46. 21 „Weil es Augustinus nicht so sehr um das Messen der Zeit zu tun ist, sondern um die Möglichkeit ihres Seins, hält er fest, daß mit der Beschreibung, wie solches Messen möglich ist, der Anschein des Nichtseins der Zeit nicht überwunden ist.“ (F, N, ,Distentio animi‘. Ein Symbol der Entflüchtigung des Zeitlichen, in: Ders./Cornelius Mayer [Hg.], Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den dreizehn Büchern, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte [Bd. 1], Freiburg u.a. 1998, 489–552, 519).

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operierten Menschen mit Zeiterleben, indem sie von ihm zu berichteten. Dies trifft nach Augustin auch auf die zuvor fragil gewordene Vergangenheit sowie Zukunft zu. Vergangenes werde erzählt, Zukünftiges vorhergesagt.22 Was nicht ist, könne auch nicht erzählt oder vorhergesagt werden, sodass Augustin schließt, dass Vergangenheit und Zukunft doch sein müssten.23 Da für ihn nun die Sicherheit zurückgewonnen scheint, dass Vergangenheit und Zukunft wahrhaft seien, da auf phänomenologischer Ebene von vergangenen sowie zukünftigen Ereignissen erzählt werden könne, stellt er im Anschluss die Frage nach dem „Wo“ und beantwortet sie im darauffolgenden Satz zugleich: Si enim ,sunt‘ futura et praeterita, volo scire, ubi sint. Quod si nondum valeo, scio tamen, ubicumque ,sunt‘, non ibi ea futura esse aut praeterita, sed praesentia.24 Mit dieser Inkorporierung von Vergangenem und Zukünftigem in die Gegenwart erhält die bisherige Darstellung eine neue Wendung, weil sich nun die Fragerichtung auf das gegebene Phänomen der Zeiterfahrung verlagert. Wurde zuvor festgehalten, dass die Zeiten sind, wird jetzt nach dem „Wo“ gefragt und somit ein weiterer Modus in der Annäherung an die Zeit vorgestellt. Dieser läuft stringent auf eine dreifache Gegenwart (Conf. XI 20.26) zu. Wenn beispielsweise von Vergangenem erzählt werde, dann geschehe das im Modus des Erinnerns. Bilder, die bereits vergangen seien, würden im Geiste präsent: Quamquam praeterita cum vera narrantur, ex memoria proferuntur non res ipsae, quae praeterierunt, sed verba concepta ex imaginibus earum, quae in animo velut vestigia per sensus praetereundo fixerunt. Pueritia quippe mea, quae iam non ,est‘, in tempore praeterito est, quod iam non ,est‘; imaginem vero eius, cum eam recolo et narro, in praesenti tempore intuero, quia est adhuc in memoria mea.25

Der menschliche Geist sei der Ort, an dem Vergangenes gegenwärtig werde, wenn Augustin sich auch festzuhalten beeilt, dass Vergangenes nicht selbst, sondern ein Abbild vergegenwärtigt werde. Umgekehrt werde auch Zukünftiges, das vorausgesagt sowie „vorbedacht“ (praemeditari) wird, im Geist präsent, trete allerdings wahrlich erst mit der Handlung ins Sein: „[A]nschließend wird jene Handlung sein“26 (tunc erit illa actio). Es scheint, als sei nur mit einer Extrapolierung der

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Vgl. Conf. XI 17.22. Vgl. ebd. 24 „Wenn sie denn ,sind‘, Zukunft und Vergangenheit, so will ich wissen, wo sie sind. Wenn ich das vorerst auch nicht vermag, so weiß ich doch so viel, daß sie dort, wo sie ,sind‘, sei das wo immer, nicht Zukunft und Vergangenheit sind, sondern Gegenwart.“ (Conf. XI 18.23). 25 „Freilich werden, wenn man Vergangenes der Wahrheit getreu erzählt, nicht die Wirklichkeiten selbst hervorgeholt, die nun einmal vergangen ist, sondern nur Worte, geschöpft aus Bildern, die im Geiste, als sie durch unsere Sinne hindurchzogen, gleichsam Spuren eingedrückt haben. So gehört meine Knabenzeit, die nicht mehr ,ist‘, der Vergangenheit an, die nicht mehr ,ist‘; aber ein Bild von ihr schaue ich, wenn ich sie ins Gedächtnis rufe und schildere, in der Gegenwart, weil dieses Bild annoch in meinem Erinnern ist.“ (Conf. XI 18.23). 26 Ebd. 23

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2. Die erste Aporie: Was ist Zeit?

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Gegenwart dem Problem der vorbeiziehenden Zeiten gerecht zu werden. Nach einem Gebetseinschub, in dem Augustin zugesteht, dass die Ergründung des Seins der Zeit seine Erkenntnisfähigkeit übersteige27, zieht er ein doppeltes Fazit, in dem die bereits herausgearbeitete Erkenntnis des Nichtseins von Zukunft und Vergangenheit aufgehoben bleibt: Quod autem nunc liquet et claret, nec futura ,sunt‘ nec praeterita, nec proprie dicitur: tempora ,sunt‘ tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora ,sunt‘ tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. Sic haec permittimur dicere, tria tempora video fateorque, tria ,sunt‘.28

Deutlich wird hier die enge Verwebung geistiger Akte und bildlicher Objekte. Der Geist ist nach Augustin der Ort, an dem die dreifache Gegenwart exklusiv ist (et alibi ea non video). Die spekulative Frage nach der Zeit verlagert sich hin zu einer Frage nach der menschlichen Erlebbarkeit sowie Zugänglichkeit und somit zur Frage nach dem Seinsmodus der Zeit. Augustin nimmt dabei in Kauf, dass Vergangenheit und Zukunft selbst auf diesem Wege nicht zu fassen sind, sondern lediglich als Abbild im Geist thematisiert werden können.29 Die bildliche Vorstellung der Dinge gleicht einem Akt des Geistes. Es handle sich dabei jeweils um verschiedene Seinsweisen, in denen Zeitlichkeit im Geiste vorgestellt werde, in dem Vergangenes und Zukünftiges präsentische Gestalt annehme und somit erfahrbar werde.30 Mit diesen Ausführungen zur dreigestaltigen Gegenwart ge27

Vgl. Conf. XI 19.25. „Soviel aber ist nun klar und deutlich: Weder die Zukunft noch die Vergangenheit ,ist‘, und nicht eigentlich läßt sich sagen: Zeiten ,sind‘ drei: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; vielmehr sollte man, genau genommen, etwa sagen: Zeiten ,sind‘ drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem. Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung; Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung. Erlaubt man uns, so zu sprechen, dann seh ich auch drei Zeiten und gebe zu: ja, es ,sind‘ drei.“ (Conf. XI 20.26). 29 Norbert Fischers Beobachtungen zu diesem Aspekt sind zuzustimmen: „Augustinus fragt offenkundig nach Bedingungen der Möglichkeit, durch die das Sein der Zeit und des Zeitlichen erfaßt werden kann, und geht dabei von einer Wirklichkeit aus, die unsere sinnliche Erfahrung prägt und unseren alltäglichen Umgang mit der Zeit trägt. Im Ausgang von diesem Gegebenen ist er zwar imstande, das bedingte Sein des Erscheinenden in dessen Gegenwart im Geiste zu erfassen, erkennt aber in der Prüfung der Erfassungsweise sogleich ein Scheitern, indem er bemerkt, daß er die Sachen selbst […] in dieses Begreifen nicht einzubeziehen vermocht hat.“ (F, N, ,Distentio animi‘, 522). 30 Marko J. Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von „Modi der Zeit“: „[D]ie Vergangenheit als Modus der Zeit ist thematisierbar, weil das Sein des Vergangenen als Erinnerung thematisierbar ist; die Zukunft als Seinsmodus ist in analoger Weise thematisierbar, weil das Zukünftige als Erwartung thematisiert werden kann.“ (F, M J., Sum und cogito – Grundfiguren endlichen Selbstseins bei Augustinus und Descartes, Augustinus. Werk und Wirkung [Band 1], Paderborn 2010, 40). 28

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

winnt Augustin die zuvor verabschiedete Möglichkeit der Ausdehnung der Zeit wieder.31 So plausibel diese Annäherung auch scheinen mag, lässt sich eine Leerstelle hinsichtlich einer genauen Beschreibung der Gegenwart des Gegenwärtigen ausmachen. Wie jene im Geist zugänglich ist, wird von Augustin nicht dargelegt. Die Eigenart der Gegenwart liegt für ihn in ihrer Unausgedehntheit und ihrem plötzlichen Vergehen. Während Zukünftiges im Modus des Vorhersagens und Vergangenes im Modus des Erinnerns präsentische Gestalt im Geist annehme, fehlt in dem bisherigen Gedankengang Augustins ein eben solcher Modus für die Beschreibung der präsentischen Gestaltwerdung der Gegenwart.32 An dieser Stelle wird somit der paradoxe Charakter der „Gegenwart von Gegenwärtigem“33 deutlich und zugleich zum entscheidenden Punkt in der Bearbeitung des Zeitparadoxons, der nicht zwangsläufig in der Modusbeschreibung aufgeht. Des Weiteren bleibt zu fragen, inwieweit die dreifache Gegenwart nicht nur in ihrem Sein aufzuweisen ist, sondern inwiefern der menschliche Geist die erfahrene Zeit messen kann. Es besteht somit die folgende Frage: Wie lässt sich nach der Verortung des Seins im korrespondierenden Geistesakt nun eine zuvor abgestrittene Ausdehnung des Präsentischen wahrnehmbar machen? Das Problem der Zeit aus Conf. XI 15.20 ist geblieben: [Q]uod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transvolat, ut nulla morula extendatur. Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium.34

Allerdings lässt sich eben diese Frage nach einer Messung der Zeit nun bearbeiten, da das Problem des Nichtseins der Zeit durch den korrespondierenden Geistesakt abgewiesen worden ist. Der Gegenstand der Zeitmessung ist gewissermaßen ausgewiesen. Nun gilt es, in einem nächsten Schritt gegenüber einer Wahrnehmung der Gegenwart im „Augenschein“35 (contuitus), das heißt ohne Aus-

31 Corti hält hierzu pointiert fest: „[E]s bleibt dennoch offen, wie das Fliehen des Zeitlichen doch eine solche Ausdehnung erlaubt, die wir tatsächlich messen können.“ (C, C. A, Ewigkeit und Zeit. Die Funktion der Ewigkeit für die Zeitanalyse des elften Buches der Confessiones Augustins und ihrer Rezeption durch Martin Heidegger, in: Norbert Fischer/ Dieter Hattrup [Hg.], Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: Confessiones 11–13, Paderborn 2006, 29–50, 38). 32 Dazu konstatiert Fuchs: „Vielmehr ergibt sich aus dem bisher Gesagten, dass in dieser Präsenz das aktuelle Vergehen des Gegenwärtigen dergestalt in gewisser Weise aufgehoben sein muss, dass das Gegenwärtige gerade in seinem gegenwärtigen Vergehen zugleich gegenwärtig bleibt.“ (F, M J., Sum und cogito, 41). 33 Conf. XI 20.26. 34 „[S]ie [sc. die Zeit] aber fliegt so reißend schnell von Künftig zu Vergangen, daß auch nicht ein Weilchen Dauer sich dehnt. Denn sowie sie sich ausdehnt, zerfällt sie schon wieder in Vergangenheit und Zukunft; aber als Gegenwart ist sie ohne Ausdehnung.“ (Conf. XI 15.20). 35 Ebd.

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dehnung (spatium), die Erfahrbarkeit herauszuarbeiten, was Augustin im Hinblick auf die Messbarkeit tun wird.36 Festzuhalten bleibt: Der Zielpunkt des ersten Untersuchungsganges liegt darin, dass ein Sein der Zeit behauptet wird. Dieses ist allerdings kein Sein an sich, sondern zeichnet sich in der augustinischen Erarbeitung dadurch aus, dass es mit einem Geistesakt korrespondiert, also im Geist verortet wird. Somit wird die Möglichkeit eines Modus herausgearbeitet, in dem von Zeit gesprochen wird, in dem sie erfahrbar wird und somit ihre Flüchtigkeit, die Gefahr ihres Nichtseins abwendet. Doch durch die Erfahrung der Messbarkeit wird das Konstrukt der dreifachen Gegenwart als präsentischer Akt infrage gestellt. Es lässt sich anfragen, welche Fundierung die dreifache Gegenwart selbst benötigt, um nicht der vorerst abgewendeten Aporie wiederum anheimzufallen beziehungsweise nicht selbst wiederum auf eine Verortung angewiesen zu sein.37 Ohne weiter vorgreifen zu wollen, ließe sich mit Augustin christlich antworten, dass die Fundierung der dreifachen Gegenwart im Schöpfer zu suchen sei. Diese vermutete Argumentation findet sich explizit am Ende der Betrachtung wieder, wenn Augustin über die menschliche Wahrnehmung im Kontrast zur göttlichen Ewigkeit nachdenkt.

3. Die zweite Aporie: Wie lässt sich Zeit messen? Der Frage nach der Zeitmessung nähert sich Augustin mit verschiedenen Fragen, die sich aus der alltäglichen Erfahrung der Zeitmessung, genauer gesagt Zeitenmessung, ergeben: Quocirca, ut dicebam, praetereuntia metimur tempora […]. Scio, quia metimur, nec metiri quae non ,sunt‘ possumus, et non ,sunt‘ praeterita vel futura. […] Quid autem metimur nisi tempus in aliquo spatio? Neque enim dicimus simpla et dupla et tripla et aequalia et si quid hoc modo in tempore dicimus nisi spatia temporum. In quo ergo spatio metimur tempus praeteriens? Utrum in futuro, unde praeterit? Sed quod nondum ,est‘, non metimur. An in praesenti, qua praeterit? Sed nullum spatium non metimur. An in praeterito, quo praeterit? Sed quod iam non ,est‘, non metimur.38

36 Den Zusammenhang der beiden Teile stellt Ernst A. Schmidt in seinen Ausführungen folgendermaßen dar: „So wie Augustin bei der Frage nach dem Wesen der Zeit das Sein der Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, so geht er nun von der Erfahrungsgewißheit aus, daß wir Zeit messen. Und so, wie er den ersten Gedankengang durch die Aporie zwischen sicher gewußtem Sein der Zeit und dem Nicht-ist von Vergangenem und Zukunft zu seiner Lösung geführt hatte, so hier durch die Aporie zwischen erfahrener Messung und – trotz des erfolgten Nachweises des Seins der Zeiten in der Seele – nichtseiender Zeit; die Erkenntnis, daß Zukunft und Vergangenheit als Zeit des Menschen in seiner Seele sind, sollte befestigt werden.“ (S, E A., Zeit und Geschichte bei Augustin. Vorgetragen am 14. Juli 1984, Heidelberg 1985, 27). 37 Vgl. F, M J., Sum und cogito, 41. 38 „Zu diesem Zwecke messen wir die Zeiten, wie gesagt, während sie vorübergehen. […] Ich weiß, daß wir messen, und messen können wir nicht, was nicht ,ist‘, und Vergangenheit

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

Es scheint ausweglos zu sein: Vermochten die vorherigen Überlegungen zwar die Frage nach dem „Wo“ der Zeit zu beantworten, so scheint doch in der Verortung des Seins im korrespondierenden geistigen Akt keinerlei Stütze zur Extrapolierung der alltäglichen Erfahrung respektive der Aussagbarkeit von Zeitabschnitten gegeben zu sein. Setzt Augustin zuvor bei der Alltagserfahrung und -gewissheit an, dass das Sein der Zeit als gegeben angenommen werde, tut er es in diesem Abschnitt bei der Erfahrung von Zeitmessung. Augustin schiebt dazu einen Exkurs ein: Von einem Gelehrten habe er gehört, dass die Bewegungen der Gestirne selbst die Zeit seien.39 Diesem Votum kann er allerdings nicht zustimmen und verdeutlicht seine Ablehnung anhand eines Beispiels. Wären Zeit und Bewegungen der Himmelskörper identisch, so könnte man, sollten die Gestirne stillstehen, keine andere Bewegung auf Erden – zum Beispiel die einer sich drehenden Töpferscheibe – messen.40 Bewegungen seien selbst auf etwas außerhalb ihrer selbst angewiesen, um gemessen werden zu können, und dieses etwas sei die Zeit:41 Ego scire cupio vim naturamque temporis, quo metimur corporum motus et dicimus illum motum verbi gratia tempore duplo esse diuturniorem quam istum.42 An dieses Votum anschließend stellt Augustin die Frage des Verhältnisses von Zeit und Bewegung anhand eines Tages. Die genauen Ausführungen sollen an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Wichtiger scheint die Fragerichtung zu sein. So geht es Augustin – parallel zum ersten Analyseabschnitt – um einen Modus der Zeit, der beleuchtet werden soll, und um die Frage, „was die genuine Zeitlichkeit eines Zeitlichen ausmacht“43. Diese sucht er exemplarisch am Tagesablauf44 zu verfolgen und fragt dabei in dreifacher Form: [Q]uaero, utrum motus ipse sit dies an mora ipsa, quanta peragitur, an utrumque.45 Die Annahme jeder dieser vorgestellten Varianten führe auf unterschiedlichem Wege, aber aus demselben Grund in die Aporie.46 Die Zeit werde in die Bewegung und Zukunft ,sind‘ nicht. […] Was aber messen wir, wenn nicht die Zeit in etwelcher Ausdehnung? Denn sprechen wir bei Dauer von einfach und doppelt und dreifach und gleich oder sonstwie in dieser Art, so gilt es je von Zeit als Ausdehnung. In welchem Gebiet von Zeit also, der fließenden, bestimmen wir Maße von Zeit? Etwa in der Zukunft, aus der heran sie vorüberzieht? Aber was noch nicht ,ist‘, das können wir nicht messen. Oder in der Gegenwart, durch die hindurch sie vorübereilt? Aber Ausdehnungsloses können wir nicht messen. Oder in der Vergangenheit, wohin sie vorüberflieht? Aber was nicht mehr ,ist‘, können wir nicht messen.“ (Conf. XI 21.27). 39 Vgl. Conf. XI 23.29. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. C, C. A, Ewigkeit und Zeit, 38. 42 „Was ich erkennen möchte, ist Sein und Seinsmacht der Zeit, die es möglich macht, die Bewegungen von Körpern zu messen und dann zu sagen, diese Bewegung währe beispielsweise doppelt so lang wie jene.“ (Conf. XI 23.30). 43 F, M J., Sum und cogito, 43. 44 Vgl. Conf. XI 23.30. 45 „[S]o frage ich, was nun eigentlich der Tag ist: ob diese Bewegung selber, oder aber die Dauer, die sie beansprucht, oder beides zumal.“ (ebd.). 46 „Wäre Tag die Sonnenbewegung, so hätten wir folgerecht einen Tag auch dann, wenn die

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korporiert. Das zu Messende lasse sich also nicht mehr betrachten, da das Maß selbst zum zu messenden Objekt zählt. Man kommt der Zeit als wie auch immer zu beschreibende Entität nicht auf dem Weg einer Inkorporierung näher. Vielmehr müsse ein bestimmtes, losgelöstes Sein angenommen werden, wie das auch für den Geist, also den Akteur des Zeiterlebens gelte. Die Zeit selbst könne also nicht als in dem messbaren Gegenstand selbst aufgehend gedacht werden, sondern müsse zunächst als isoliert aufgefasst werden. So steht mit Augustin fest, dass die Zeit nicht mit der Bewegung eines Körpers in eins fallen könne ([n]on est ergo tempus corporis motus) und in einer bestimmten Form eine Ausdehnung sei ([v]ideo igitur tempus quandam esse distentionem).47 Eine weitere Beobachtung sei an dieser Stelle noch angebracht: Auch bei der Zeitmessung geht es um die enge Verquickung von Geistesakt und Bezugsgegenstand. Dieses Moment lässt sich als Grundkonstante in der Argumentation Augustins ausmachen. Dies gilt nicht nur für den Gang der Argumentation auf dem Weg zur distentio animi. Vielmehr dient die Korrespondenz der Grundlage für die Zeitmessung. Die Bewegung eines Körpers könne nur mithilfe der Wahrnehmung überhaupt bestimmt werden.48 Augustin betont somit, dass die Messung einer Zeitspanne vom jeweiligen Subjekt abhänge, genauer gesagt von dessen subjektiver Wahrnehmung, die auf ein bestimmtes Objekt ausgerichtet sein müsse.49 Damit erhebt er die subjektive Geistaktivität und das korrelierende Betrachtungsobjekt zu „Bedingungen der Möglichkeit der Zeit“50. Doch auch unter Einbeziehung dieser Konkretisierung ist noch immer keine Aussage darüber getroffen, wie sich die alltägliche Erfahrung des Vergleichs sowie der Messung von Zeiten plausibilisieren lassen. Folgerichtig konstatiert Augustin nach der Ablehnung der Annahme einer Gleichsetzung von Bewegung und Zeit erneut: Et confiteor tibi, domine, ignorare me adhuc, quid sit tempus.51 Sonne im Zeitraum einer einzigen Stunde ihren Lauf vollendete. Wäre Tag die Bewegungsdauer des ordnungsgemäßen Sonnenumlaufs, so hätten wir folgerecht dann keinen Tag, wenn die Zeitspanne von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten nur eine Stunde betrüge, sondern vierundzwanzigmal müßte die Sonne umlaufen, um einen Tag zu bilden. Wäre Tag beides zumal, so könnte man von einem Tag weder dann sprechen, wenn im Zeitraum einer Stunde die Sonne ihren ganzen Umlauf vollendete, noch auch dann, wenn ohne Sonnenbewegung so viel Zeit abliefe, als die Sonne ordnungsgemäß braucht zur Vollendung ihres ganzen Kreislaufes von einem Morgen zum anderen.“ (ebd.). 47 Conf. XI 23.30–24.31. 48 Vgl. Conf. XI 24.31. 49 „Die Annahmen, daß alle Bewegung in der Zeit statthaben müsse, deren Sein mit dem Geist zusammenhängt, und daß zur Zeit ein den Akten des Geistes vorausgehendes Anfangen und Enden gehört, sind subjektive und objektive Voraussetzungen, die als Bedingungen der Möglichkeit der Zeit fungieren. Wer eine Zeitspanne messen will, muß sehen, also das, was geschieht, als Wahrnehmender mit Bewußtsein begleiten; er muß aber auch etwas sehen, seine Aufmerksamkeit auf sich ereignende Veränderungen richten.“ (F, N, ,Distentio animi‘, 528). 50 Ebd. 51 „Und doch bekenne ich Dir, Herr, ich weiß immer noch nicht, was Zeit ist.“ (Conf. XI 25.32).

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

So sicher er auch eine Ahnung von dem Sein der Zeit entwickeln konnte und bereits weiter ausdifferenziert hat, so vage bleibt die genaue Bestimmung. Fest steht nach diesem Gedankengang allerdings, dass Zeit – losgelöst von Bewegung und zu messendem Gegenstand selbst – ein Maß bietet, mit dem die Bewegung eines zu messenden Objekts gemessen werden kann.52 Damit ist zunächst ausgesagt, dass es dem menschlichen Geist möglich ist, einen Gegenstand in seiner Bewegung wahrzunehmen, das heißt auch wahrzunehmen, dass Zeit vergangen ist. Die formale Faktizität von Zeit ist damit gegeben, eine inhaltliche Füllung steht allerdings noch aus. Auf die Suche nach der genauen Bestimmung eben dieses Maßes, der inhaltlichen Definition der Zeit, begibt sich Augustin in den anschließenden Ausführungen: Item ipsum tempus nonne metior? An vero corporis motum metirer, quamdiu sit et quamdiu hinc illuc perveniat, nisi tempus, in quo movetur, metirer? Ipsum ergo tempus unde metior?53

Als Veranschaulichung wird das Messen von Silben und Versen in der Dichtung präsentiert, das mithilfe des Vergleichs geschehe. Eine kürzere Silbe diene als Maß für eine längere, Verse eines Gedichtes dienen als Maß für die Längenbestimmung – allerdings nicht in geschriebener, sondern in vorgetragener Form, also nicht in räumlicher, sondern eben in zeitlicher Ausdehnung.54 Doch die Probleme bei der vergleichenden Erhebung zeitlicher Ausdehnungseinheiten liegen auf der Hand – und Augustin nennt sie auch sogleich. Interessierten ihn lediglich die Ausdehnung zu Papier, so könnte man tatsächlich von einem gewissen Punkt aus eine vergleichende Messung anstellen. Ein fixes Maß wäre gegeben. Beim gesprochenen Wort gerät die Komponente der Ausdehnung ins Blickfeld. So könne man einen kurzen Vers gedehnter sprechen und damit für eine längere Zeitausdehnung sorgen vice versa einen langen Vers rasch aussprechen und damit das vermeintliche Längenmaß kompromittieren.55 Ein genormtes, unabhängiges Maß scheint es also für Zeitmessungen nicht zu geben. Das liegt an der simplen Einsicht, dass das zu bestimmende Maß ein subjektives sei. Die zu vergleichenden Einheiten werden vom Untersuchenden bestimmt sowie eingeordnet, womit Augustin die Zeitmessung auf ein subjektiv-fundiertes Tableau stellt. Folgerichtig hält er fest: Inde mihi visum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio56. Auf diese ernüchternd scheinende Aussage folgt der Funke einer

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„Ich messe die Bewegung eines Körpers mittels der Zeit.“ (Conf. XI 26.33). „Könnte ich denn überhaupt die Bewegung eines Körpers messen, wie lang sie währt und wie lang der Körper unterwegs ist von hier bis dort, ohne die Zeit zu messen, in der er sich bewegt? Die Zeit selbst also, womit messe ich sie?“ (ebd.). 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. ebd. 56 „Darum wollte es mich dünken, Zeit sei Ausdehnung und nichts anderes: aber wessen Ausdehnung, weiß ich nicht.“ (ebd.). 53

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3. Die zweite Aporie: Wie lässt sich Zeit messen?

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Annahme, die im weiteren Verlauf der Analyse ihre Bestätigung finden wird: [E]t mirum, si non ipsius animi.57 Die vorsichtig formulierte Vermutung einer Ausdehnung im Geiste beziehungsweise des Geistes selbst bindet den Gedankenabschnitt zum einen an die vorherigen Überlegungen zur dreifachen Gegenwart zurück, die durch den Geistesakt gekennzeichnet ist. Zum anderen markiert sie einen herausragenden Punkt in der augustinischen Analyse, da jedwede Möglichkeit einer objektiven, vom Subjekt losgelösten Annäherung an die Zeit verabschiedet wird. Die ontologische Qualität der Zeit kann über einen vermeintlich objektiven Weg nicht ausgewiesen werden, da selbst der vermeintlich neutralste dieser Pfade noch auf subjektiven Voraussetzungen beruht, die nicht abgestreift werden können. Dies bedeutet auf das Problem der Zeitmessung angewendet: Die angenommene Eventualität der Haftbarmachung der Zeit in ihrer Ausdehnung – nichts anderes ist eine Messung der Zeit – mithilfe der Festlegung eines Maßes, kommt nicht um die Faktizität der Annahme einer dreifachen Gegenwart und damit eines geistigen Aktes herum.58 Das Moment des Erlebens der Zeit, das an den je-meinen Geist geknüpft ist, wird also apodiktisch gesetzt. Dies schließt sich an die Alltagserfahrung des Menschen an und betont somit die Bedeutung eines individuellen Geistes als Ort des Zeiterlebens sowie des produktiven Umgangs mit eben diesem Erleben im Geistesakt. Darüber hinaus – und das liegt auf derselben Linie – vermag ein solcher Zugriff es nicht, dem Umstand gerecht zu werden, dass auch die Zeitmessung selbst eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt, die ihr uneinholbar vorausliegt. Bereits an zwei Stellen ist das Moment des Vorübergehens thematisiert. Die Zeit wird in ihrem Vorübergehen gemessen, so zeigt es nach Augustin die Alltagserfahrung. Diese Ansicht wird mit einem weiteren Beispiel – dem Erklingen einer Stimme – illustriert: Ecce puta vox corporis incipit sonare et sonat et adhuc sonat et ecce desinit, iamque silentium est, et vox illa praeterita est et non ,est‘ iam vox. Futura erat, antequam sonaret, et non poterat metiri, quia nondum ,erat‘, et nunc non potest, quia iam non ,est‘. Tunc ergo poterat, cum sonabat, quia tunc ,erat‘, quae metiri posset. Sed et tunc non stabat; ibat enim et praeteribat.59

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„Es sollte mich wundernehmen, wäre es nicht der Geist selbst.“ (ebd.). Somit ist den Ausführungen Norbert Fischers zu diesem Abschnitt zuzustimmen: „Da Messungen mit Hilfe scheinbar objektiv gegebener Meßeinheit doch von einer Tätigkeit des Subjekts abhängen, aus der die Festlegung der Einheiten resultiert, mit denen gemessen wird, erscheint die Möglichkeit, Zeitdauern zu messen, erneut als Folge einer Erstreckung in die Zeiten, in der Einheiten zur Messung gebildet werden, so daß Augustinus die der Zeitmessung zugrunde liegende Zeit als Erstreckung bezeichnet.“ (F, N, ,Distentio animi‘, 529). 59 „Denke dir: eine körperliche Stimme hebt an zu ertönen und tönt, und mit einemal hört sie auf, und nun ist es still, und die Stimme ist vergangen und es ,ist‘ keine Stimme mehr. Sie war künftig, bevor sie ertönte, und man konnte sie gar nicht messen, weil sie noch nicht ,war‘; jetzt kann man sie nicht messen, weil sie nicht mehr ,ist‘. Also nur während sie erklang konnte 58

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

Die Einführung des Beispiels liegt hier noch auf der Ebene der dreifachen Gegenwart: dem Vergangenen, das nicht mehr ist, dem Zukünftigen, das noch nicht ist, und dem Gegenwärtigen, das ist. Da aber die Gegenwart selbst keine Ausdehnung haben könne, legt Augustin hier das Augenmerk verstärkt auf das Vorübergehen, in dem sich die Zeit dehne.60 Auch hier unternimmt er den Versuch, eine Messung der Ausdehnung mit einem vergleichenden Maß anzustellen. Doch stellt sich das Problem noch komplizierter dar als das der zu vergleichenden Längen: Ipsum quippe intervallum metimur ab aliquo initio usque ad aliquem finem. Quapropter vox, quae nondum finita est, metiri non potest, ut dicatur, quam longa vel brevis sit, nec dici aut aequalis alicui aut ad aliquam simpla vel dupla vel quid aliud. Cum autem finita fuerit, iam non ,erit‘. Quo pacto igitur metiri poterit?61

Da das Ertönen einer Stimme flüchtig ist und sich erst vom Erfassen der gesamten Dauer von Anfang bis Ende überhaupt greifen lässt, eignet sie sich wiederum nicht als regulatives, festgesetztes Maß. Die Zeit der Stimme sei nach ihrem Verklingen nicht mehr. Mit ihrem Ausklang gehe sie verloren und kann daher nicht mehr als Maß für eine weitere Stimme dienen.62 Das augustinische Beispiel, das der Erhellung des spezifischen Messbarkeitproblems der Zeit dienen soll, scheint in eine weitere Aporie zu führen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn Augustin das Erklingen der Stimme mit der Aussprache des Verses ,Deus, creator omnium‘63 verbindet, den er sogleich in Silben aufteilt, also in Einheiten, die der Messung dienlich sein sollen. Denn das eingangs erwähnte Problem der Aussprache, des in der tatsächlichen Artikulation erfahrenen zeitlichen Erklingens der Silben, bleibt – im Gegensatz zur bestimmbaren, reinen geschriebenen Länge – bestehen: Quantum sentus manifestus est, brevi syllaba longam metior eamque sentio habere bis tantum. Sed cum altera post alteram sonat, si prior brevis, longa posterior, quomodo tenebo brevem et quomodo eam longae metiens applicabo, ut inveniam quod bis tantum habeat, quandoquidem longa sonare non incipit, nisi brevis sonare destiterit? Ipsamque longam num praesentem metior, quando nisi finitam non metior? Eius autem finitio praeteritio est. Quid ergo est, quod metior?64 man sie messen, denn da ,war‘, was gemessen werden konnte. Aber auch da stand sie nicht unbewegt; sie ging und verging.“ (Conf. XI 27.34). 60 Vgl. ebd. 61 „Denn was Zeitspanne ist, messen wir nur von einem Anfang bis zu einem Ende. Deshalb kann man eine Stimme, die noch nicht zu Ende gekommen ist, nicht messen, so daß man sagen könnte, wie lang oder kurz sie dauere, noch läßt sich sagen, sie ist gleich lang mit einer andern, sie ist im Verhältnis zu einer andern das Einfache, das Doppelte oder sonst dergleichen. Soweit sie aber aufgehört hat, ,ist‘ sie nicht mehr. Wie soll man sie da noch messen können?“ (ebd.). 62 Vgl. F, M J., Sum und cogito, 46. 63 Conf. XI 27.35. 64 „Soweit nun sinnlicher Eindruck verlässiges Zeugnis sein kann, messe ich mit einer kurzen Silbe eine lange und nehme wahr, daß diese die doppelte Dauer hat. Aber wenn die

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Es scheint erneut ausweglos zu sein. Die eine ausgesprochene Silbe müsse zunächst verklungen sein, um sie in ihrer Gesamtheit fassen und als Maßstab an eine andere anlegen zu können. Doch mit ihrem Verklingen verschwinde sie sogleich, sei sie bereits vergangen. Korrelierend zu der vorausgegangenen Frage nach dem „Wo“ der Zeit, rückt hier die Frage nach dem „Was“, dem Gegenstand der Messung, ins Zentrum: Ubi est qua metior brevis? Ubi est longa, quam metior? Ambae sonuerunt, avolaverunt, praeterierunt, iam non ,sunt‘65. Wenn die Silbe erst mit ihrem Vorbeisein zu fassen ist, dann drängt sich die Frage nach dem Gegenstand der Messung auf. Denn wie soll etwas gemessen werden, das nicht mehr ist? Und wie ließe sich dieses ominöse Etwas, das als Ausdehnung beschrieben und in seinem Vorübergehen charakterisiert werden kann, genauer bestimmen? Zunächst lässt sich an diesem Punkt festhalten, dass Augustin alle Versuche der Zeitmessung, ob von zukünftigen, gegenwärtigen oder vergangenen Momenten, in die Schranken weist.66 Erst in den folgenden Ausführungen, erst indem er die dreifache Gegenwart und die Vorstellung der – vorausahnend formulierten – distentio animi aufeinander bezieht, wird ein Weg aus den Aporien möglich: Non ergo ipsas, quae iam non ,sunt‘, sed aliquid in memoria mea metior quod infixum manet. In te, anime meus, tempora metior.67 Dies bildet eine neue Pointe über das bereits Elaborierte hinaus, da ein wirkliches Gegenüber, ein „Eindruck“, angenommen wird, der sich vom Geist selbst unterscheidet.68 Tatsächlich liegen hier das „Wo“ und das „Was“ in ihrer rudimentären Form vor.69 Der Eindruck, der bei den vorüberziehenden Gegenständen – im vorgestellten Beispiel die angehobene und wieder verklingende Stimme – entsteht, bleibe auch nach dem Vorbeiziehen bestehen.70 Damit lässt sich eine enge Verknüpfungskette ausmachen, die Antwort auf die Frage nach dem „Was“ gibt. Was gemessen wird, sind die Zeiten, die in ihrem Vorüberziehen Eindrücke erzeugen und hinterlassen. Zeitmessung, so könnte man konstatieren, ist somit eine doch erst nach Ablauf der andern erklingt, zuerst etwa die kurze, dann die lange, wie halte ich die kurze fest, und wie bringe ich sie als Maß an die lange heran, um herauszufinden, daß diese die doppelte Dauer hat, da doch die lange zu erklingen erst anfängt, wenn die kurze zu erklingen aufgehört hat? Und messe ich denn die lange selbst, während sie gegenwärtig ist, – da ich sie doch erst messen kann, wenn sie beendet ist? Aber ihr Ende ist auch schon Vorbeisein. Was also ist es, was ich da messe?“ (ebd.). 65 „Wo ist die kurze Silbe, die ich messen will? Wo ist die lange Silbe, die ich messen will? Beide sind verklungen, verflogen, vorbei, sie ,sind‘ nicht mehr.“ (ebd.). 66 Vgl. S, E A., Zeit und Geschichte bei Augustin, 27. 67 „Nicht die gehörten Silben selbst, die nicht mehr ,sind‘, messe ich, ich messe etwas in meinem Gedächtnis, was dort als Eindruck haftet. In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten.“ (Conf. XI 27.35–36). 68 Vgl. F, N, ,Distentio animi‘, 530. 69 Dies wird deutlich, wenn Augustin kurze Zeit später die Alternative vorstellt: „Also sind entweder die Eindrücke die Zeiten, oder ich messe die Zeiten überhaupt nicht.“ (Conf. XI 27.36). Wenn es nicht der durch den tätigen Geist erfasste Eindruck ist, der gemessen wird, dann falle man wohl wieder in die zuvor konstatierte Aporie zurück. 70 Vgl. ebd.

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

als dynamisches Ineinander von Eindruck (affectio) und Geisttätigkeit im Sinne einer Aufspannung (distentio animi) vorstellbar. Es bleibt dennoch festzuhalten, dass eine Ontologie der Zeit noch nicht vorliegt. Lediglich einer Ontologie der Zeiten ist Augustin mit dieser Verquickung nähergekommen.71 Auf die sich aufdrängende Frage nach der Art, wie sich diese Eindrücke im Geiste ereignen, gibt Augustin folgende Antwort: [A]tque ita peragitur, dum praesens intentio futurum in praeteritum traicit deminutione futuri crescente praeterito, donec consumptione futuri sit totum praeteritum.72 Diese ganzheitliche Vorstellung sei durch den tätigen Geist verbürgt. Dieser halte die Momente der dreifachen Gegenwart in dynamischer Spannung und werde somit der Aporie Herr.73 Es sei der Geist selbst, der durch seine Tätigkeit den Ausweg aus der Aporie weise und die alltägliche Erfahrung bestätige. Auf dieser Linie ist Augustins Schlussplädoyer zur Zeitmessung zuzustimmen, in dem die beiden grundsätzlichen Ströme der Untersuchungen in eins laufen: Quis igitur negat futura nondum ,esse‘? Sed tamen iam est in animo expectatio futurum. Et quis negat praeteritia iam non ,esse‘? Sed tamen est adhuc in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit. Non igitur longum tempus futurum, quod non ,est‘, sed longum futurum longa expectatio futuri est, neque longum praeteritum tempus, quod non ,est‘, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est.74

Lang oder kurz seien nicht die verschiedenen Zeiten, sondern die Erfahrung im Geiste, im Modus von Erwartung, Aufmerksamkeit und Erinnerung. Es geht Augustin um das Aufzeigen „des Zeitlichen im Geist“75. Besondere Färbung bekommen die soeben dargelegten Ausführungen durch ein weiteres Beispiel, das gleichzeitig den Schlusspunkt der inhaltlichen augustinischen Analyse darstellt, ehe er sich – und damit schließt sich der Kreis – erneut an Gott richten wird:

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Vgl. F, N, ,Distentio animi‘, 531. „So vollzieht sich das Ganze, indem der gegenwärtige Bewußtseinsakt das noch Künftige in die Vergangenheit hinüberschafft, so daß um die Minderung der Zukunft die Vergangenheit wächst, bis schließlich durch Aufbrauch des Künftigen das Ganze vollends vergangen ist.“ (Conf. XI 27.36). 73 „Nämlich: er erwartet, er nimmt wahr, er erinnert sich, so daß also das, was er erwartet, durch das hindurch, was er wahrnimmt, übergeht in das, woran er sich erinnert.“ (Conf. XI 28.37). 74 „Gewiß, Künftiges ,ist‘ noch nicht, aber dennoch ist im Geiste Erwartung von Künftigem. Gewiß, Vergangenes ,ist‘ nicht mehr, aber dennoch ist im Geiste noch Erinnerung an Vergangenes. Gewiß, Gegenwart ist ohne Ausdehnung, weil sie im Augenblick ist und nicht mehr ist, aber dennoch dauert die Wahrnehmung, über die hin es in einem fort geschieht, daß, was erst dasein wird, auch schon dagewesen ist. – Also lang ist nicht künftige Zeit, die nicht ,ist‘, sondern eine lange künftige Zeit ist nur eine lang sich dehnende Erwartung von Künftigem; und lang ist nicht eine vergangene Zeit, die nicht ,ist‘, sondern lange Vergangenheit ist lediglich eine langhin sich erstreckende Erinnerung an Vergangenes.“ (ebd.). 75 F, N, ,Distentio animi‘, 532. 72

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3. Die zweite Aporie: Wie lässt sich Zeit messen?

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Dicturus sum canticum, quod novi: antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tenditur et memoria mea, atque distenditur vita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et in expectationem propter quod dicturus sum: praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum.76

Betrachtet man Conf. XI 28.37–38 im Zusammenhang, so wird der dynamischdialektische Charakter der distentio animi besonders eindrücklich greifbar. Bewusst spricht Augustin hier von einer Tätigkeit, die zwischen den einzelnen Momenten vermittelt und vom einen ins andere überleitet.77 Zum einen macht die Geisttätigkeit die Zeit in ihrem schwindenden Dasein sichtbar und weist somit eine Verobjektivierung des Zeitlichen, die an der menschlichen Erfahrung vorbeigeht, in die Schranken. Zum anderen setzt das Konzept eines sich ausdehnenden Geistes dem porösen, fragilen Charakter des Zeitlichen, dass nur in seinem Übergang, seinem Vorbeiziehen zu fassen ist, eine Stabilisierung entgegen.78 Gleichsam können Conf. XI 28.37–38 als Zusammenfassung der Analyseergebnisse des gesamten elften Buches gesehen werden – wenngleich unter dem Vorbehalt des Abschlusses des Buches, der die vermeintlich erreichte Antwort auf die Eingangsfrage nach der Zeit einordnen wird. In nuce lässt sich festhalten, dass Augustin nicht die Zeit an sich betrachtet, sondern die Erfassung des Zeitlichen durch den menschlichen Geist. Eben diese wird durch die distentio animi gewährleistet. Der sich aufspannende Geist halte die dreifache Gegenwart in dynamischer Spannung und könne im Modus des Erinnerns, Erwartens sowie Aufmerkens Zeitlichkeit wahrnehmen und somit auch messen. Eine Sicherung beziehungsweise Haftbarmachung des Zeitlichen scheint geglückt. Wie bereits der Begriff der dreifachen Gegenwart nahelegt, scharen sich Vergangenheit und Zukunft um die Gegenwart, die allein den Zusammenhalt der Zeitformen garantiert. Doch lebt die Setzung der Gegenwart von Voraussetzungen, die von Augustin en passant angenommen werden und – durch ihre enge Verzahnung – direkte Auswirkungen auf den Geist haben. Es bleibt zu fragen, inwieweit der gegenwärtige, aufmerkende Geist selbst zeitlich rückgebunden respektive enthoben ist. Einerseits muss der präsentische Geist zeitlich verankert sein, da die 76 „Ich will ein Lied singen, eines, das ich kenne. Eh ich beginne, erstreckt sich meine Erwartung über das Ganze; habe ich begonnen, so erstreckt sich so viel, als ich von meiner Erwartung schon zum Vergangenen hinübergepflückt habe, nun in die Erinnerung, und zerstreckt ist das Leben meines Tuns: es ist Erinnerung, soweit ich schon gesungen habe, es ist Erwartung, soweit ich erst noch singen will: was dennoch in Gegenwärtigkeit dableibt, ist eben mein Bedacht im Vollzug, durch den, was erst noch künftig war, hinüberfährt, so daß es nun zu Vergangenem wird.“ (Conf. XI 28.38). 77 Heidegger betont diesbezüglich das Grundmoment des Lebens: „Distentio als Grundcharakter der vita: actionis distenditur vita!“ (H, M, Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus, Dritter Teil, Augustinus, Confessiones XI [De Tempore], 72). 78 Vgl dazu F, N, Die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche in Augustins Confessiones, in: Ders./Hattrup, Dieter (Hg.), Schöpfung, Zeit und Ewigkeit. Augustinus: Confessiones 11–13, Paderborn 2006, 51–64, 59.

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

Attribution des Ewigen Gott vorbehalten ist. Andererseits muss eine gewisse Unzeitlichkeit angenommen werden, wenn die Vermittlungsfunktion des Geistes aufrechterhalten werden soll:79 Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit.80 In der von Augustin präsentierten Annäherung an die Zeit bleibt ein dialektischer fomes inkorporiert. Die distentio animi schwankt zwischen Ge- und Entbundenheit. So plausibel die Analyse auch erscheinen mag, die Verquickung von dreifacher Gegenwart und Geisttätigkeit ist nicht zu hinterfragen, ohne dass sich eine weitere Aporie ergibt, zum Beispiel die der zeitlichen Struktur des im gegenwärtigen Akt tätigen Geistes selbst. Positiv gewendet lässt sich die Sicherung des Geistes in der Alltagserfahrung erblicken. Indem Augustin vom „je-meinen Geist“ spricht, bindet er diesen an die unmittelbare Gewissheit der alltäglichen Selbstwahrnehmung zurück und blendet das Problem des ambivalenten Charakters dieses Geistes aus. Somit trägt er der Erfahrung Rechnung, dass es jeweils ein Selbst gibt, das Zeiten misst und erfährt, selbst aber über die Zeiten hinweg ausgemacht werden kann und nicht in Teilstücke zerfällt.81 Beide Lesarten, die defizitäre (Loslösung des Geistes) wie die wohlwollende (Rückbindung des Geistes an die Alltagserfahrung), ergeben sich stringent aus der augustinischen Darlegung. Festzuhalten ist – unabhängig von der Bewertung – der dialektische Charakter der distentio animi.

4. Die dritte Aporie: Die menschliche Zeit und die göttliche Ewigkeit Grundsätzlich steht für Augustin fest, dass die Zeit von Gott geschaffen und zugleich von ihm verschieden, also nicht ewig sei: Nullo ergo tempore non feceras aliquid, quia ipsum tempus tu feceras. Et nulla tempora tibi coaeterna sunt, quia tu permanes; at illa si permanerent, non essent tempora.82 Das Ewigsein, hier die Unmöglichkeit des Mit-Ewigseins (coaeternus), scheint der Differenzmarker im Hinblick auf Zeitlichkeit zu sein. Dabei ist im Gang der augustinischen Darstellung die damit gegebene Unmöglichkeit der Erforschung der Ewigkeit Gottes von herausragender Bedeutung.83 Der Mensch könne zwar – was Augustin ja 79

Auf diesen Umstand weist Marko J. Fuchs hin (vgl. F, M J., Sum und cogito,

57). 80 „Gewiß, Gegenwart ist ohne Ausdehnung, weil sie im Augenblick ist und nicht mehr ist, aber dennoch dauert die Wahrnehmung, über die hin es in einem fort geschieht, daß, was erst dasein wird, auch schon dagewesen ist.“ (Conf. XI 28.37). 81 Vgl. F, M J., Sum und cogito, 57. 82 „Also gab es nie die Zeit, da Du müßig noch nichts geschaffen hattest, denn die Zeit selber hast ja Du geschaffen. Und es gibt keine Zeit, die mit Dir mit-ewig wäre, denn Du verharrst als der Du bist; aber verharrten so die Zeiten, es wären gar nicht Zeiten.“ (Conf. XI 14.17). 83 Damit spiegeln die Reflexionen über die Zeit eine Grundstruktur der Confessiones wi-

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4. Die dritte Aporie: Die menschliche Zeit und die göttliche Ewigkeit

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auch im Begriff zu tun ist – die zeitliche Seinsstruktur des Menschen untersuchen, nicht jedoch zur Ewigkeit Gottes durchdringen.84 Das genannte Zitat macht folglich deutlich, dass die menschliche Zeiterfahrung erst vor der Kontrastfolie der Ewigkeit problematisch wird, aber dennoch nicht ohne eine weitere Beschäftigung mit der Ewigkeit auskommt.85 Dient in den einleitenden Ausführungen Augustins die Ewigkeit als Kontrastfolie zur Zeit, im Speziellen die Ewigkeit Gottes als Gegenstück zur menschlichen Zeiterfahrung, so taucht dieses Moment am Ende des elften Buches erneut auf, wodurch die Ergebnisse in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Dies geschieht nun aber in einem existentiellen Setting. Augustin spricht Gott im Gebet direkt an und reflektiert über seine Zeiterfahrung im Kontrast zur Ewigkeit Gottes: Nunc vero ,anni mei in gemitibus‘, et tu solacium meum, domine, pater meus aeternus es; at ego in tempora dissilui […] et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae, intima viscera animae meae, donec in te confluam purgatus et liquidus igne amoris tui. […] Da illis, domine, bene cogitare, quid dicant, et invenire, quia non dicitur ,numquam‘, ubi non est tempus […] Videant itaque nullum tempus esse posse sine creatura et desinant itsam vanitatem loqui.86

Lediglich aus der Gewissheit heraus, dass Gott der Schöpfer, der Ewige, die Zeit geschaffen habe, lasse sich über die Zeit reden und nachdenken. Damit ist nicht nur eine harmonische Einrahmung der Zeitanalyse des elften Buches gegeben, sondern auch eine Einbettung des Gedankengangs in die Gesamtkonzeption der Confessiones.87 Der mittlere Teil der angeführten Passage erinnert an die Einder, die sich aus der Auseinandersetzung mit Gottes Wissen und Wesen ergibt. Der Beobachtung Ernst A. Schmidts ist daher zuzustimmen: „Gottes Wissen ist nicht nur Augustins Rede immer voraus, sondern es ist, auch gerade was Augustins Lehre und Gedanken betrifft, ohne Erinnerung und Erwartung unvergleichlich tiefer und weiter als alles, was Augustin von sich weiß und erinnert und sagt und erfährt und zu sagen vorhat.“ (S, E A., Zeit und Geschichte bei Augustin, 61). In diesem Sinne lässt sich der Gedankengang von der Auslegung von Gen 1,1 über Gottes Ewigkeit und dem Verhältnis von Gott und Zeit hin zur Überlegung der kosmischen hin zur menschlichen Zeit plausibilisieren. 84 Vgl. C, C. A, Ewigkeit und Zeit, 36. 85 Corti hält dazu fest: „Gäbe es keinen Kontrast zwischen der in der Gegenwart beharrlichen Ewigkeit und den vergehenden Zeiten, würde die Frage nach der Zeit im elften Buch keinen Platz finden. Da mit ihr eine neue Ebene erreicht wird, kann der Gang der Zeituntersuchung aber ohne die explizite Thematisierung der Ewigkeit erfolgen.“ (ebd.). 86 „Noch aber ,schwinden meine Jahre in Seufzen dahin‘, und Du nur bist mein Trost, Herr, mein Vater, und Du bist ewig; ich aber splittere in Zeit und Zeit […] und im aufgeregten Unbestand der Dinge werden meine Gedanken, wird das tiefste Leben meiner Seele hierhin, dorthin gezerrt, bis ich, in der Glut Deiner Liebe zu lauterem Fluß geschmolzen, in Dir ein ungeteiltes Eines werde. […] Laß sie doch wohl überlegen, Herr, was sie sagen, laß sie einsehen, daß man, wo es keine Zeit gibt, von ,niemals‘ nicht reden kann. […] Möchten sie also einsehen, daß es ohne Schöpfung auch Zeit nicht geben kann und aufhören mit ihrem nichtigen Gerede.“ (Conf. XI 29.39–30.40). 87 Vgl. beispielsweise F, N, ,Distentio animi‘, 541.

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gangsworte Augustins: Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.88 Gelten die Ausführungen zunächst einer allgemeinen Einordnung der Zeitproblematik in die Sphäre menschlichen Daseins, so kann die abschließende Einspielung der Ewigkeit durch das an Gott gerichtete Wort als eine Art Vorbehaltserklärung angesehen werden. Auf der einen Seite wird deutlich, dass der scheinbar gegenwärtige Geist, der im Stande sei, die Zeit zu messen, und zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu vermitteln, selbst fragil und von Verflüchtigung bedroht ist: „[I]ch bin in Zeiten auseinandergesprungen“89 (at ego in tempora dissilui). Auf der anderen Seite wird Gott allein, dem „in Ewigkeit Unveränderbaren“ (inconmutabiliter aeterno)90, letzter Weisheit Schluss eingeräumt. Somit relativiert Augustin seine Ergebnisse, die er aus menschlicher Erfahrung heraus erörtert hat, nimmt diese allerdings nur als präludierend und zu erweisend an: Et stabo atque solidabor in te, in forma mea, veritate tua.91 Unter diesem Vorbehalt der defizitären und unsicheren menschlichen Erfahrung und des damit gegebenen menschlichen Geistes, stellt sich die Frage nach der Ewigkeit erneut.92 Ein menschliches, phänomenales Nachdenken über eine Ontologie des Zeitlichen führt – so lässt sich aus den Ausführungen schließen – unweigerlich an die Grenze des menschlich Denkbaren.93

5. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Augustins Frage nach der Zeit an die Frage nach der Erfahrung der Zeit gebunden ist. Das ist der bleibende Fluchtpunkt der augustinischen Untersuchung, der sich an der pointierten Feststellung [i]n te, anime meus, tempora metior94 ablesen lässt. Die Zeit gilt Augustin als ein

88 „Du selbst reizest an, daß Dich zu preisen Freude ist; denn geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir.“ (Conf. I 1.1). 89 Conf. XI 29.39. 90 Conf. XI 31.41. 91 „Dann wird mir Stand und Festigkeit sein in Dir, meiner Form der Wahrheit, die Du bist.“ (Conf. XI 30.40). 92 In diesem Zusammenhang denkt Augustin abschließend über einen möglichen Geist nach, der – im Gegensatz zum je eigenen – das Vermögen haben könnte, um Vergangenes und Zukünftiges so zu wissen, wie um ein ihm bekanntes Lied, räumt aber sogleich wieder ein, dass er auf einen so allgemeinen Geist aus menschlicher Perspektive nur hoffen könne. Mit diesen Gedanken trägt er dem Umstand Rechnung, dass der je eigene Geist nur in seiner Singularität betrachtet wurde (Conf. XI 31.41). 93 „Das transzendentale Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen phänomenal gegebener Wirklichkeiten führt den Geist an die Pforten der Transzendenz und des religiösen Glaubens.“ (F, N, Die Zeit, die Zeiten und das Zeitliche in Augustins Confessiones, 60). 94 „In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten.“ (Conf. XI 27.35–36).

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5. Fazit

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gegenständliches Faktum der menschlichen Erfahrung, genauer des menschlichen Erlebens.95 Augustin öffnet dem Phänomen der Zeit einen Eingang ins menschliche Bewusstsein, da es für ihn der menschliche Geist ist, der die Zeit misst. Durch den Geistesakt, die Dialektik von distentio animi und intentio animi, wird das Zeiterlebnis zur menschlichen Erfahrung. Aus dieser grundlegenden Ausrichtung ergeben sich die dargestellten Ergebnisse im Hinblick auf die Frage nach der Zeit im Allgemeinen, die Frage der Zeit- beziehungsweise Zeitenmessung sowie die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Zeit und göttlicher Ewigkeit. Erstens sei der Geist der Ort, an dem die dreifache Gegenwart exklusiv sei. Das Sein der Zeit wird von Augustin mit dem korrespondierenden Geistesakt plausibilisiert. Er halte die dreifache Gegenwart zusammen und ermögliche gleichzeitig das Reden über Vergangenes und Zukünftiges. Daran schließt sich zweitens die Einsicht an, dass es eben dieser Geist sei, der eine Zeitenmessung ermögliche. Eine Zeitenmessung außerhalb des je eigenen Geistes wird abgelehnt und somit eine objektive Zeitenmessung als lediglich durch den jeweils subjektiven Geistesakt gewährleistet gedacht. Drittens lasse sich lediglich aus der Gewissheit heraus, dass Gott der Schöpfer auch die Zeit geschaffen habe, über die Zeit nachdenken. Diese Grundüberzeugung ist gleichzeitig als Rückversicherung des je individuellen Geistes und der damit verbundenen Zeiterfahrung zu verstehen. Mit ihr bindet Augustin die Zeiterfahrung an die Glaubenserfahrung zurück. Insgesamt ist für den Argumentationsgang festzuhalten, dass die Frage nach der Zeit in ein Gebet eingebettet ist,96 in dem die persönliche Gottesbeziehung und die Hoffnung auf das Zur-Ruhe-Kommen des rastlosen Herzens durchscheinen.97 Zeiterkenntnis ist für Augustin immer Selbsterkenntnis unter Bezugnahme auf Gott den Schöpfer. Der treibende Motor der sich aufdrängenden Frage nach der Zeit ist das Selbstverstehen. Im Hintergrund der Frage nach der Zeit steht die Frage nach dem Selbst, das eben danach fragt, respektive von der Frage nach der Zeit bedrängt wird. Die augustinische Zeitbetrachtung ist dabei eine von Grund auf phänomenologische. Denn zum einen wendet sie sich dem Phänomen der Zeit selbst zu und folgt damit der Maxime „zu den Sachen selbst!“98 In der Betrachtung scheint das Anliegen durch, das Phänomen der Zeit

95 Vgl. J, R, Der Zeitbegriff und die Kohärenz des Zeitlichen bei Augustinus, in: REAug 34 (1988), 209–229, 211 f. 96 „Indem sich der Blick auf das Geschehen einer Interaktion zwischen dem Ich und einem Anderen richtet, verliert, methodisch betrachtet, die Reflexion den vergegenständlichenden Charakter einer Beobachtung. Diese muss vielmehr performativ verfahren, indem sie die intuitive Erfahrung der Begegnung – und des kommunikativen Austausches – mit dem absolut Anderen durch reflexiven Nachvollzug in ihrem propositionalen Gehalt zu Bewusstsein bringt.“ (H, J, Auch eine Geschichte der Philosophie [Bd. 2], 194). 97 Vgl. Conf. I 1.1. 98 H, M, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 27.

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Kapitel I: Selbstverstehen und Zeitverstehen

so wahrzunehmen, wie es sich von sich selbst aus zeigt.99 Augustin stellt die Frage nach der Zeit ausgehend von seiner alltäglichen Zeiterfahrung. Zum anderen geht es ihm ausgehend vom Lebensvollzug um das wahre Erschließen des Zeitphänomens, „im Sinne der phänomenologischen Enthüllung von zuvor verhüllten Sachverhalten“100. Die Frage nach der Zeit ist also die Frage nach der Wahrheit der Zeit.101 Diese lasse sich nur vor dem Hintergrund der Ewigkeit Gottes stellen. Dem Versuch eines Zeitverstehens haftet durchgehend eine „Spur von Ewigkeit“102 an. Denn auch wenn Augustin verdeutlicht, dass Zeit immer eine Bedeutung für das Selbstverstehen habe und es der Geist sei, mit dem die Zeit erfahren werde, so lässt er keinen Zweifel daran, dass das menschliche Dasein sich nicht über seine Limitiertheit hinwegsetzen könne, sondern vielmehr auf Gottes Ewigkeit angewiesen sei. Aus dieser Angewiesenheit lässt sich ableiten, dass das Gottverstehen die Grundierung für das Zeit- und Selbstverstehen bei Augustin ist. Erst durch die Gottesbeziehung kann der Gedankengang Augustins nicht als ein „fruchtloses Hin und Her von Versuch und Versagen, sondern unversehens [als] ein Näherkommen dem Wesen“103 verstanden werden. Augustin stellt das menschliche Dasein in den Mittelpunkt, das wiederum „in all seinen Dimensionen vor Gott steht“104. So ist aus der Relektüre von Conf. XI vor allem der Zusammenhang von Zeitund Selbstverstehen aufzunehmen, der wiederum durch die Gottesbeziehung grundiert erscheint. Aus der eingangs gestellten Frage Quid et ergo ,tempus‘?105 lässt sich der Konnex von Selbst- und Gottverstehen, oder grundsätzlicher von Verstehen und Glauben ableiten, der der bultmannschen Theologie seine Überschrift geben wird. Darüber hinaus leisten die augustinischen Gedanken der distentio animi sowie der dreifachen Gegenwart einen weitreichenden Beitrag zum Verständnis des Daseins als geschichtliches, in dem die grundsätzliche Temporalität der Existenz – als ein auf Gott ausgerichteter Lebensvollzug verstanden106 – zur Geltung kommt.

99 Vgl. H, F-W , Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, in: PhJ 100 (1993), 96–113, 98. 100 Ebd. 101 Vgl. B, A J., Der Ursprung der Zeit aus dem Nichts. Zum Zeitbegriff Augustins, in: Rech. Aug. 11 (1976), 35–51, 42. 102 B, R, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt am Main, 1962, 56. 103 H, M, Seminare. Platon – Aristoteles – Augustinus, Dritter Teil, Augustinus, Confessiones XI (De Tempore), 49. 104 S, J H. J., Zeit und Zeitlichkeit. Zur Modernität des Augustinischen Zeitverständnisses, in: PhJ 109 (2002), 17–43, 42. 105 „Was ist also ,Zeit‘?“ (Conf. XI 14.17). 106 Vgl. S, J H. J., Zeit und Zeitlichkeit, 43.

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Kapitel II

Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen – eine Relektüre der aristotelischen Poetik ÆΕοι κασι δεÁ γεννηÄ σαι µεÁν οÏλως τηÁ ν ποιητικηÁ ν αιÆ τι αι δυ ο τινεÁς καιÁ αυÎ ται ϕυσικαι . Tο τε γαÁ ρ µιµειÄσθαι συ µϕυτον τοιÄς αÆ νθρω ποις εÆ κ παι δων εÆ στιÁ καιÁ του τωì διαϕε ρουσι τω Äν αÍ λλων ζωÂì ων, οÏτι µιµητικω τατο ν εÆ στι καιÁ ταÁ ς µαθη σεις ποιειÄται διαÁ µιµη σεως ταÁ ς πρω τας, καιÁ τοÁ χαι ρειν τοιÄς µιµη µασι πα ντας.1

1. Einführung Wurde durch die Relektüre von Conf. XI deutlich, dass Selbst- und Zeitverstehen korrelieren, so gibt die Relektüre der aristotelischen Poetik darüber Aufschluss, auf welche Weise das Selbst sich verstehen kann. Für Aristoteles steht fest, dass sich das Selbst über die „Nachahmung“ (µι µησις) verstehe. Wirklichkeits- und Selbstverstehen hängen für ihn eng zusammen. Dass sich ein Selbstverstehen somit immer nur auf Umwegen einstellen kann, lässt sich über den Begriff der µι µησις plausibilisieren. So lassen sich wichtige Einsichten aus der Poetik aufnehmen, die für die theologische Spurensuche nach dem Selbst hilfreich sind. Ein deutlicher Unterschied zu Augustin besteht darin, dass Aristoteles das mimetische Verstehen als rein selbsttätigen Prozess begreift. Den Zusammenhang von Selbstverstehen und Gottverstehen blendet er aus. Auf formaler Ebene lassen sich die Einsichten des nachahmenden Verstehens theologisch aufnehmen, sind aber auf inhaltlicher Ebene, ob des ausbleibenden Gottesbezugs, zu kritisieren. Über die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Tragödienkomposition tritt der enge Zusammenhang von „Selbst“ und „Verstehen“ explizit hervor, wodurch sich das Selbst als verstehendes charakterisieren lässt. Bei einer Relektüre der Poetik stechen vor allem zwei Dinge hervor: die Hochachtung der Tragödie sowie daran anschließend die Bedeutung der Trias von 1 „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.“ (Poet. 1448b4–9). (Die deutsche Übersetzung folgt F, M, Aristoteles, Die Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις. Letzterer Begriff zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er nur einmal in dem gesamten Werk zu finden ist.2 Über die ausführliche Beleuchtung der Trias wird deutlich, dass Aristoteles zufolge das menschliche Dasein auf die allgemeine Dichtkunst als Verständnishilfe angewiesen ist. Mit Aristoteles lässt sich behaupten: Selbst- und Wirklichkeitsverstehen gehören zusammen. Im Sinne einer kreativen Verarbeitung sowie Neubeschreibung der Wirklichkeit vollzieht sich das Selbstverstehen des Daseins. Dabei erweitert Aristoteles das vorherrschende platonische Verständnis der µι µησις, indem er sie zum einen als anthropologisches Attribut begreift – der Mensch ist ein mimetisches Wesen – und zum anderen die mimetische Tätigkeit nicht als der Wirklichkeit gegenüber defizitär versteht. Dieser Ausrichtung getreu sieht er im µυÄ θος auch kein steriles Kunstwerk, das ein der Wirklichkeit weit entferntes Abbild darstelle, sondern eine Umsetzung von möglichen und wahrscheinlichen Motiven menschlichen Lebens. Μι µησις- und µυÄ θος-Verständnis geben sodann Aufschluss über die aristotelische κα θαρσις, die nicht nur aufgrund ihres einmaligen Auftauchens in der Poetik vor besondere Herausforderungen stellt. Über das Dreigespann von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις eröffnet sich eine anthropologisch-hermeneutische Lesart der Poetik. Der durch die µι µησις erzeugte µυÄ θος birgt in sich die Möglichkeit, auf Seiten des rezipierenden Daseins für eine κα θαρσις zu sorgen, die sich in einem neuen Wirklichkeits- und Selbstverstehen äußert. Von Aristoteles lässt sich die Wertschätzung eines Allgemeinbegriffs des µυÄ θος aufnehmen, der wiederum in seinen weitreichenden Implikationen für das menschliche Dasein verstanden wird und darüber hinaus zur Elaboration des Zusammenhangs von Wirklichkeits- und Selbstverstehen führt. Denn indem das mimetisch-tätige Dasein immer Anleihen an der Wirklichkeit macht, werden durch die mimetische Tätigkeit neue Möglichkeiten des Wirklichen aufgedeckt, die dem rezipierenden Dasein als Verständnishilfe gereichen können. Auf dieser Linie sind die expliziten Bezüge Ricœurs sowie die impliziten Ausführungen Bultmanns bezüglich der Wertschätzung des Narrativen zu verstehen. Eine erste, allgemeine Annäherung an die Poetik ist vonnöten, um die vielseitigen Implikationen zu erfassen und das Terrain abzustecken, in dem sich die weiteren Überlegungen bewegen. Erst dann kann eine Zuwendung zu der poetischen Gattung der Tragödie erfolgen, die im Zentrum der aristotelischen Ausleuchtung der Poetik steht und unter deren Schirm sich das Dreigespann von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις sammelt.

2 Innerhalb dieses Dreigespanns ist wohl der Begriff der µι µησις der einzige, der sich in seinem Facettenreichtum eingehend beleuchtet findet. Demgegenüber ist der Begriff der κα θαρσις mit enormen interpretatorischen Herausforderungen verbunden, die später noch aufgeführt werden.

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2. Annäherung – Aufbau und Gliederung

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2. Annäherung – Aufbau und Gliederung Über das Programm der Poetik gibt Aristoteles gleich zu Anfang Auskunft. Doch steckt in diesem Werk viel mehr als das, was in der schlichten Einleitung formuliert ist und was Aristoteles seinen Leserinnen und Lesern verspricht: ΠεριÁ ποιητικηÄ ς αυÆ τηÄ ς τε καιÁ τω Ä ν ειÆ δω Ä ν αυÆ τηÄ ς, ηÏ ν τινα δυ ναµιν εÏ καστον εÍ χει, καιÁ πω Ä ς δειÄ συνι στασθαι τουÁ ς µυ θους, ειÆ µε λλει καλω Ä ς εÏ ξειν ηë ποι ησις, εÍ τι δεÁ εÆ κ πο σων καιÁ ποι ων εÆ στιÁ µορι ων, οë µοι ως δεÁ καιÁ περιÁ τω Ä ν αÍ λλων, οÏσα τηÄ ς αυÆ τηÄ ς εÆ στι µεθο δου, λε γωµεν αÆ ρξα µενοι καταÁ ϕυ σιν πρω Ä τον αÆ ποÁ τω Ä ν πρω των.3

Allen Gattungen der Poetik gemeinsam sei das Moment der µι µησις, die auf unterschiedliche Weise, das heißt gattungsspezifisch, angegangen wird. Die unterschiedliche Art der Nachahmung4 ist der treibende Motor der Untersuchung, die sich in immer feinere Teile aufgliedert, die überbegriffliche Gleichsetzung von µι µησις und ποιητικη allerdings nicht aus den Augen verliert, sondern sich an diese zurückgebunden weiß. Die folgend dargelegte grobe Gliederung gibt Aufschluss über die Schwerpunktsetzung innerhalb der Poetik: In den Kapiteln eins bis fünf geht es um die Deduzierung der µι µησις aus der ποιητικη , die damit verbundenen Bestimmung der Nachahmung als anthropologischer Bedingung sine qua non menschlichen Daseins sowie die Vorstellung der drei verschiedenen Gattungen der Poetik, des Epos, der Tragödie sowie der Komödie. Die Kapitel sechs bis 22 beinhalten die Beleuchtung der Tragödie und des darin enthaltenen Begriffs des µυÄ θος. Es geht unter anderem um die Frage nach den Grundpfeilern einer gelungenen Tragödienkomposition sowie den basalen Kompilationsrege in einer solchen Erzählung. In den Kapiteln 23 bis 26 widmet sich Aristoteles dem Epos. Kapitel 26 endet mit einem kurzen erzählerischen Resümee des bisher – in Bezug auf die Nachahmungsmodi Tragödie und Epos – Erörterten. In der Forschung herrscht Einigkeit, dass die Ausführungen zur Gattung der Komödie verlorengegangen sein müssen. Anders sei der Umstand, dass Aristoteles drei Gattungen vorstellt, aber nur zwei von ihnen in den Blick nimmt, kaum zu erklären.5 3 „Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist.“ (Poet. 1447a8–13). 4 Zur Diskussion um die Übersetzung von µι µησις mit „Nachahmung“ s. S, A, Aristoteles, Poetik (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung [Bd. 5]), Berlin 2 2011, 209–213. Im weiteren Verlauf wird an der Übersetzung mit „Nachahmung“ festgehalten, da sie der aristotelischen Vorstellung am nächsten zu kommen vermag. Eine Untersuchung der Poetik kommt an der Frage, inwiefern die µι µησις als Nachahmung verstanden werden kann, nicht vorbei. Es ist durchaus legitim, von Nachahmung zu sprechen, wenn damit nicht die teils intuitive Vorstellung einer reinen Wiedergabe des bereits Vorfindlichen repristiniert wird. 5 So beispielsweise H, O, Einführung in Aristoteles’ Poetik, in: Ders. (Hg.),

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

3. Der Inhalt Grundsätzlich gehe es beim poetischen Handeln, bei der Dichtung, um µι µησις, um Nachahmung. Andere nachahmende Künste werden nur am Rande erwähnt. Die verschiedenen Arten der künstlerischen Nachahmung lassen sich nach Aristoteles durch die Mittel der Nachahmung, der Gegenstände, die sie nachahmen, sowie unterschiedliche Modi der Nachahmung klassifizieren (Poet. 1447a). Als Mittel der Nachahmung versteht Aristoteles Rhythmus, Melodie sowie das Versmaß. Er hat also die Rahmenbedingungen der Dichtung vor Augen.6 Diese werden an einer Stelle explizit benannt, interessieren ihn im weiteren Verlauf der Darstellung allerdings kaum. Von größerer Anziehungskraft scheinen für ihn Sujet und Modi zu sein, was sich an den ausführlichen Ausführungen zu dem Gegenstand der Nachahmung sowie der Art, wie dieser Gegenstand nachgeahmt wird, zeigt. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass der Begriff der µι µησις von zentraler Bedeutung ist und sich in seiner Tragweite vehement von dem pejorativplatonischen Verständnis abhebt, auf das später noch einzugehen sein wird. Es sei die µι µησις, die die Dichtung zur Dichtung werden lasse. Die Kompositionsregeln (Versmaß und Rhythmus) bilden lediglich der äußere Rahmen, der allerdings nicht das Alleinstellungsmerkmal in der Poetik darstellt. Allen nachahmend tätig werdenden dichtenden Personen sei gemeinsam, dass sie handelnde Menschen nachahmten, die sich in tüchtige (σπουδαιÄος) und untüchtige (ϕαυÄ λος) aufteilen ließen.7 Hier bleibt Aristoteles noch auf der Ebene des nachzuahmenden Gegenstandes und beschreibt diesen. Der Modus der Nachahmung ist mit der grundsätzlichen Aufteilung in gut und schlecht noch nicht tangiert.8 Daran anschließend findet sich ein erster Scheideweg: [ÆΕ]ν αυÆ τηÄì δεÁ τηÄì διαϕοραÄì καιÁ ηë τραγωδι ì  α προÁ ς τηÁ ν κωµωδι ì  αν διε στηκεν· ηë µεÁν γαÁ ρ χει ρους ηë δεÁ βελτι ους µιµειÄσθαι βου λεται τω Ä ν νυÄ ν.9 Die Komödie habe die schlechteren Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen (Bd. 38), Berlin 2009, 1–28, 11. Darüber hinaus verweist Aristoteles selbst – in seiner Rhetorik – auf die Untersuchung der Komödie, die in der Poetik zu finden sei. 6 Das Hauptziel der Poetik lässt sich wie folgt beschreiben: „Although his main aim in the Poetics was to reach a definition of Tragedy as mimetic poetry par excellence, and to discuss and analyze the function of its parts and their contribution to the aesthetic outcome, Aristotle always spoke of the Homeric Epics in a positive tone, as competing with Tragedy for the first prize of poetic and artistic excellence.“ (E, C C., Man as the Most Mimetic Animal According to Aristotle, in: Heather L. Reid/Jeremy C. DeLong [Hg.], The Many Faces of Mimesis. Selected Essays from the 2017 Symposium on the Hellenic Heritage of Western Greece, Sioux City, Iowa 2018, 175–186, 175). 7 Wie später explizit in Poet. 1450b4 erwähnt. 8 Das wird an den darauffolgenden Zeilen deutlich, wenn Aristoteles von drei Malern spricht: [ÏΩ]σπερ οιë γραϕειÄς· Πολυ γνωτος µεÁν γαÁ ρ κρει ττους, Παυ σων δεÁ χει ρους, ∆ιονυ σιος δεÁ οë µοι ους ειÍκαζεν. (Poet. 1448a5). 9 „Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.“ (Poet. 1448a15–19).

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3. Der Inhalt

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Menschen, die Tragödie die besseren zum Gegenstand. Mit dieser Anmerkung schließt Aristoteles die Erörterungen des Gegenstandes ab. Die Beschreibung der Art, wie nachgeahmt wird, bleibt vage und wird lediglich mit Beispielen illustriert. Interessanter ist hingegen das vierte Kapitel, in dem Aristoteles auf die Genealogie der µι µησις zu sprechen kommt: ÆΕοι κασι δεÁ γεννηÄ σαι µεÁν οÏλως τηÁ ν ποιητικηÁ ν αιÆ τι αι δυ ο τινεÁς καιÁ αυÎ ται ϕυσικαι . Тο τε γαÁ ρ µιµειÄσθαι συ µϕυτον τοιÄς αÆ νθρω ποις εÆ κ παι δων εÆ στιÁ καιÁ του τωì διαϕε ρουσι τω Äν αÍ λλων ζωÂì ων, οÏτι µιµητικω τατο ν εÆ στι καιÁ ταÁ ς µαθη σεις ποιειÄται διαÁ µιµη σεως ταÁ ς πρω τας, καιÁ τοÁ χαι ρειν τοιÄς µιµη µασι πα ντας.10

Der Mensch sei zur Nachahmung befähigt, mehr noch, die Gabe nachzuahmen sei ein distinktes Merkmal. Der Mensch sammle seine ersten Kenntnisse auf dem Weg der Nachahmung von Kindesbeinen an. Diese Eigenschaft sei ihm angeboren und das nachahmende Lernen errege darüber hinaus sogar schöne Gefühle. Die nachahmende Person freue sich (χαι ρειν) beim mimetischen Zugriff auf die Lebenswelt. Zwei herausragende Grundannahmen, die das menschliche Dasein betreffen, sind hier festzuhalten: Zum einen ist nach aristotelischem Verständnis der Zugriff auf die Welt ein seit jeher nachahmender – so erschließe sich der Mensch die Welt. Zum anderen erfreue sich das menschliche Wesen an diesem lernenden Erfassen der vorfindlichen Wirklichkeit. Diese anthropologische Grundfeststellung gewinnt zusätzliches Gewicht: Ging es zuvor um die allgemeine Feststellung der Gleichsetzung von µι µησις und ποιητικη sowie die Ausleuchtung der Pluralität von Nachahmungsmöglichkeiten, so folgt auf die genealogische Verankerung der µι µησις als anthropologischer Konstante die Auffächerung der unterschiedlichen, geschichtlich gewachsenen Formen der poetischen Tätigkeit.11 Da die Nachahmung von Natur aus gegeben sei12 und von Beginn an mit Freude praktiziert werde, sei nach und nach aus ihr die Dichtung hervorgegangen. Aristoteles bindet also über die naturgemäße µι µησις die Entstehung der ποιητικη als zwangsläufiges – und ebenfalls natürliches – Geschehen zurück.13 10 „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.“ (Poet. 1448b4–9). 11 Vgl. P, O, Zur Genealogie der Poesie (Kap. 4), in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen (Bd. 38), Berlin 2009, 47–68, 47 f. 12 Vgl. Poet. 1448b20. 13 Die Wiedergabe der Entwicklung der Dichtkunst lässt Aristoteles nach der Aufweisung des Natürlichen folgendermaßen beginnen: ∆ιεσπα σθη δεÁ καταÁ ταÁ οιÆ κειÄα ηÍ θη ηë ποι ησις· οιë µεÁν γαÁ ρ σεµνο τεροι ταÁ ς καλαÁ ς εÆ µιµουÄ ντο πρα ξεις καιÁ ταÁ ς τω Ä ν τοιου των, οιë δεÁ ευÆ τελε στεροι ταÁ ς τω Ä ν ϕαυ λων, πρω Ä τον ψο γους ποιουÄ ντες, ωÏ σπερ εÏ τεροι υÏ µνους καιÁ εÆ γκω µια. (Poet. 1448b25–27). So sei der Gegenstand (edler oder unedler) zunächst abhängig von der Art des Autors gewesen, ehe sich bestimmte Kunstformen herausbildeten, die durch prominente Vertreter weiter ausgebildet und aktualisiert wurden.

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

Nachdem somit die Nachahmung ihren Platz als distinktes Merkmal menschlichen Daseins eingenommen hat, lässt Aristoteles den Blick von der Geschichte der Dichtung in die Gegenwart schweifen und betrachtet nun in kurzer Darstellung Komödie, Tragödie sowie Epik. Dabei wird der fragmentarische Charakter der Poetik besonders deutlich, der vor ernsthafte Probleme stellt. Die Komödie zeichne sich dadurch aus, dass sie – wie bereits eingangs erwähnt – schlechtere Menschen nachahme (µι µησις ϕαυλοτε ρων). Hier wird der Begriff des Lächerlichen (γελοιÄος) zur Präzisierung eingeführt, der eng an den Begriff des Hässlichen (αιÆ σχρο ς) gekoppelt wird: ΤοÁ γαÁ ρ γελοιÄο ν εÆ στιν αë µα ρτηµα τι καιÁ αιËσχος αÆ νω δυνον καιÁ ουÆ ϕθαρτικο ν, οιÎον ευÆ θυÁ ς τοÁ γελοιÄον προ σωπον αιÆ σχρο ν τι καιÁ διεστραµµε νον αÍ νευ οÆ δυ νης.14 Aufgrund der knapp gehaltenen Ausführungen, gestaltet sich eine genaue Bestimmung des eigentümlichen Charakters der Komödie als schwierig.15 Betrachtet man jedoch den angeführten Vers im Kontrast zu den Ausführungen zur Tragödie, die sich daran anschließen, so lässt sich vorerst vermuten, dass einer der Hauptunterschiede in der Art der αë µα ρτηµα liegen könnte, die – im Gegensatz zur Tragödie – eben keinen Schmerz verursache. Dieser Ausdruck findet sich in der Tragödienbeschreibung in Kapitel 13 wieder und kann möglicherweise zur Erhellung beider Gattungen beitragen. Man muss genau genommen darauf vertrauen, dass er etwas beitragen kann, will man sich nicht zu etwaigen Spekulationen hinsichtlich des verschollenen zweiten Teils der Poetik, in dem sich wohl breitere Ausführungen zur Komödie finden ließen, hinreißen lassen: ÍΕστι δεÁ τοιουÄ τος οë µη τε αÆ ρετηÄì διαϕε ρων καιÁ δικαιοσυ νηì µη τε διαÁ κακι αν καιÁ µοχθηρι αν µεταβα λλων ειÆ ς τηÁ ν δυστυχι αν αÆ λλαÁ διÆ αë µαρτι αν τινα , τω Ä ν εÆ ν µεγα ληì δο ξηì οÍ ντων καιÁ ευÆ τυχι α, ì οιÎον ΟιÆ δι πους καιÁ Θυε στης καιÁ οιë εÆ κ τω Ä ν τοιου των γενω Ä ν εÆ πιϕανειÄς αÍ νδρες.16

Zu konstatieren ist, dass der Unterschied zur Tragödie auf poetologischer Ebene zu finden sein muss. So sind weder die Menschen, die die schlechten Menschen nachahmen, noch die Zuschauenden, die sich an der Komödie erfreuen, per se selbst von geringerer moralischer Qualität. Vielmehr bleibt die Art des hässlichen Fehlers, der nach Aristoteles die Lächerlichkeit der Komödie ausmacht, an dieser Stelle das Unterscheidungsmerkmal von Komödie zu Tragödie.17 Mehr lässt sich

14 „Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.“ (Poet. 1449a34–36). 15 Vgl. hierzu die Ausführungen von D, P, Die Komödie (Kap. 5), in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen (Bd. 38), Berlin 2009, 69–86. 16 „Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern.“ (Poet. 1453a8–12). 17 D, P, Die Komödie (Kap. 5), 78.

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3. Der Inhalt

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nicht sagen. Auch in der Komödie werde Wirklichkeit nachgeahmt und auch an ihr empfinden rezipierende Personen Freude, der beschriebene Fehler sei jedoch von anderer Gestalt als der in der Tragik. Alles weitere muss Vermutung bleiben. So lassen sich die kurzen Ausführungen zur Komödie als Negativbestimmung der Tragödie lesen und helfen somit, diese später en de´tail dargestellte Gattung zu verstehen. Deutlich geworden ist die allgemeine Wertschätzung der µι µησις, die allen drei dargestellten Gattungen zuteil wird.18 Mehr als das Unterscheidungsmerkmal der schlechteren Menschen und des eigentümlichen Lächerlichen, das sich durch einen hässlichen Fehler auszeichnet, lässt sich nicht aussagen.19 Die Differenzierung gegenüber dem Epos ist hingegen deutlicher abzulesen. Aristoteles sieht es in nächster Nähe zur Tragödie, nicht zuletzt deshalb, da auch die Epik gute Menschen (σπουδαιÄος) zum Gegenstand habe. Neben dem Versmaß sei es vor allem der zeitliche Aspekt, der beide Gattungen voneinander scheide: Das Epos verfüge über schier unendlich viel Zeit, wohingegen die Tragödie einen Zeitrahmen habe. Teilmomente der Tragödie ließen sich aber in der Epik finden.20 Nicht zuletzt die Beobachtung, dass die Komödie grundsätzlich auch nachahme und sich ebenso wie die anderen Gattungen aus diesem menschlichen Grundzug ausgebildet habe, sprechen für eine Wertschätzung. Die µι µησις ist der Aspekt, der die unterschiedlichen Gattungen unter seinem Schirm vereint. Zur Schärfung der Nachahmung trägt der zweite Teil der Poetik bei, in dem er in seiner Bedeutung für die tragische Dichtung ausgeleuchtet wird.

18 „Es fehlt die (49b) versprochene Untersuchung über die Komödie. Soviel ist aber schon aus dem Vorhandenen ersichtlich, daß bei der Komödie, deren historische Entwickelung von dem Spott über Einzelpersonen zum Lächerlichen (γελοιÄον) der harmlosen allgemein menschlichen Verfehlungen (αë µα ρτηµα) und des erträglichen Mißgeschicks führt, das Hauptgewicht auf die unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit selbst fällt ohne jede wertende Stellungnahme des Dichters oder des Betrachters zu dem Dargestellten. Daher die in der Komödie durchwegs herrschende ungetrübte Lust (ηë δονη ). […] Wie es sich aber auch mit der eigentümlichen künstlerischen Wirkung (οÆ ικειÄα ηë δονη ) der Komödie in ihrem Unterschied von der Tragödie verhalten mag, sicher ist, daß für Aristoteles der philosophische Wahrheitswert aller Dichtung, und somit der Tragödie so gut wie der Komödie, in der Nachahmung der Wirklichkeit besteht und um so höher anzuschlagen ist, je mehr die Wirklichkeit in ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit erfaßt wird.“ (T, A, Die Kunsttheorie von Aristoteles im Rahmen seiner Philosophie, MH Bd. 2, Nr. 2 [1945], 198–122, 121). 19 In den folgenden Kapiteln spürt Aristoteles ziemlich ausdauernd der Tragödie nach. Es ist zu vermuten, dass er diese Ausführlichkeit auch in dem verschollenen zweiten Teil der Poetik hat walten lassen, sich also eine solche detaillierte Ausführung auch für die Komödie finden lässt. 20 [ÊΑ] µεÁν γαÁ ρ εÆ ποποιι α εÍ χει, υë πα ρχει τηÄì τραγωδι ì  α, ì αÊ δεÁ αυÆ τηÄì , ουÆ πα ντα εÆ ν τηÄì εÆ ποποιι αì . (Poet. 1449b19–20).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

4. Die Tragödie – µι µησις par excellence ÍΕστιν ουË ν τραγωδι ì Â α µι µησις πρα ξεως σπουδαι ας καιÁ τελει ας µε γεθος εÆ χου σης, ηë δυσµε νωì λο γωì χωριÁ ς εë κα στωì τω Ä ν ειÆ δω Ä ν εÆ ν τοιÄς µορι οις, δρω ντων καιÁ ουÆ δι’ αÆ παγγελι ας, διÆ εÆ λε ου καιÁ ϕο βου περαι νουσα τηÁ ν τω Ä ν τοιου των παθηµα των κα θαρσιν.21

Diese einleitenden Worte des sechsten Kapitels können als vorausblickendes Fazit gesehen werden, das Aristoteles im weiteren Verlauf der Darstellung verdeutlicht und ausführend zu plausibilisieren sucht:

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„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (Poet. 1449b24–27). Die Frage nach der Übersetzung von ϕο βος und εÍ λεος ist in der Geschichte der Exegese der Poetik breit diskutiert worden und nach wie vor nicht obsolet. In Lessings Hamburgischen Dramaturgie heißt es zu der prominenten Stelle in lakonischer Formulierung: „Mitleid und Furcht nimmt er an, soll die Tragödie erregen.“ (L, G E, Hamburgische Dramaturgie [Bd. 2], Hamburg u.a. 1769, Stück 74, 169–176, 169). Bei der Diskussion um die – der aristotelischen Bedeutung am nähesten kommenden – Übersetzung wird seitdem immer wieder auf Lessing rekurriert; so auch von Goethe, der sich in einem Brief an F. W. Riemer vage besinnt: „Ich erinnere mich daß darüber viel gesprochen worden. Wo finde ichs? Hat nicht auch Lessing sich darüber geäußert?“ (G, J W , Brief An F. W. Riemer, März 1827?, WA IV [Bd. 42], Weimar 1907, 114). Die Übersetzung des Begriffspaares mit „Jammer und Schaudern“ geht auf den Tübinger Philologen Wolfgang Schadewaldt und seinen wegweisenden Aufsatz aus dem Jahr 1955 zurück (s. S, W, Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes, Hermes 83 [1955], 129–171). Schadewaldt sieht in der Übersetzung Lessings eine Abmilderung von ϕο βος, die eben dieser hinter εÍ λεος zu stellen versuche (vgl. a.a.O., 130). Zieht man Stück 77 der Hamburgischen Dramaturgie zurate, so wird die einseitige Betonung von εÍ λεος deutlich (vgl. L, G E, Hamburgische Dramaturgie [Bd. 2], Hamburg u.a., 1769, Stück 77, 193–200, 193). Gegen diese Übersetzung mit „Mitleid“ erhebt Schadewaldt Einspruch. Es sei gerade die durch die christliche Tradition bestimmte semantische Bedeutung von „Mitleid“, die den Blick auf das eigentümliche Charakteristikum der Tragödie verstelle (vgl. a.a.O., 141). „Jammern“ sei daher als Übersetzung vorzuziehen (vgl. ebd.) Dieser Begriff expliziert also die zuvor unterbestimmte Modalität des Mitleids. Darüber hinaus wird deutlich, dass Aristoteles mit der engen Verquickung von ϕο βος und εÍ λεος grundsätzlich nichts erfindet, sondern sich in eine breite Tradition stellt, die von Platon bis zu den Sophisten zurückreicht (vgl. a.a.O., 143). Festzuhalten bleibt, dass man sich dem Begriffspaar von ϕο βος und εÍ λεος mit seinen vielseitigen Implikationen und Abschattierungen nur annähern kann. Nimmt man die anthropologische Verankerung der µι µησις ernst, so sollte man sich vor einer zu einseitigen und damit eindeutigen Übersetzung hüten. Φο βος und εÍ λεος sind weder als rein kognitiver Akt zu verstehen, noch als inhaltslose Beschreibungskategorie. So wie die µι µησις auch keine rein kognitive Operation ist, kein rein ästhetischer Begriff, so löst die Tragödie im aristotelischen Sinne wirklich ϕο βος und εÍ λεος aus, die – und das wird später noch zu zeigen sein – wiederum eng mit der κα θαρσις in Verbindung stehen.

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4. Die Tragödie – µι µησις par excellence

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[ÃΕ]στιν δηÁ τηÄ ς µεÁν πρα ξεως οë µυÄ θος ηë µι µησις, λε γω γαÁ ρ µυÄ θον τουÄ τον τηÁ ν συ νθεσιν τωÄ ν πραγµα των, ταÁ δεÁ ηÍ θη, καθÆ οÊ ποιου ς τινας ειËναι ϕαµεν τουÁ ς πρα ττοντας, δια νοιαν δε , εÆ ν οÏσοις λε γοντες αÆ ποδεικνυ ασι ν τι ηà καιÁ αÆ ποϕαι νονται γνω µην.22

Nimmt man diese ergänzenden Verse hinzu, so ist gleichsam das Tableau der Tragödienkomposition vervollständigt: Die Tragödie sei die Nachahmung (µι µησις) von Handlungen, die Aristoteles auch als µυÄ θος bezeichnet, die bei den Betrachtenden eine Reinigung (κα θαρσις) bewirke. Nach einer Vorstellung der sechs Bestandteile einer klassischen Tragödie23 wird deutlich, was Aristoteles als den wichtigsten Teil der Tragödie betrachtet: Mε γιστον δεÁ του των εÆ στιÁ ν ηë τωÄ ν πραγµα των συ στασις. ηë γαÁ ρ τραγωδι ì Â α µι µησι ς εÆ στιν ουÆ κ αÆ νθρω πων αÆ λλαÁ πρα ξεων καιÁ βι ου.24 Es geht um die Nachahmung von Handlungen – gebunden an Handelnde –, die für Aristoteles von derartiger Bedeutung sind, dass er eine Tragödie ohne Handlungen für unmöglich, ohne Charaktere allerdings für möglich hält.25 An diese Behauptung schließt sich an, dass der µυÄ θος – die Komposition der Handlungen zu einem Ganzen – von entscheidender Bedeutung ist, da nur diese Zusammenstellung den tragischen Charakter der Erzählung garantiere – im Gegensatz zur Darstellung verschiedener Charaktere.26 Ein erstes Zwischenfazit lässt sich sodann in der Mitte des sechsten Kapitels finden: ÃΕστιν τε µι µησις πρα ξεως καιÁ διαÁ ταυ την µα λιστα τω Ä ν πραττο ντων.27 Das schöpferische Potential der µι µησις klingt bereits an: Die Tragödie ist keine Nacherzählung prominenter Geschichten, Geschehnissen oder Persönlichkeiten, sondern produktives Arrangement und kreative Nachahmung von Handlungen.28 Dabei bleiben beide Elemente – Handlung und Handelnde – aufeinander bezogen, wobei ersterem mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn eine zu enge Kopplung der µι µησις an das ausführende Subjekt der Handlung birgt die Gefahr, die schöpferische Kraft eben jener Nachahmung zu untergraben, da das Nachzuahmende im Binnenkreis einer Person bleibt. Gleichwohl ist einzugestehen, dass Handlungen immer an ausführende Organe gekoppelt sein oder sich zumindest um ein handelndes Subjekt arrangieren müssen. Somit gelingt es auch 22 „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.“ (Poet. 1450a3–7). 23 ÆΑνα γκη ουË ν πα σης τηÄ ς τραγωδι ì  ας µε ρη ειËναι εÏ ξ, καθÆ οÊ ποια τις εÆ στιÁ ν ηë τραγωδι ì Â α· ταυÄ τα δÆ εÆ στιÁ µυÄ θος καιÁ ηÍ θη καιÁ λε ξις καιÁ δια νοια καιÁ οÍ ψις καιÁ µελοποιι α. (Poet. 1450a8–10). 24 „Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit.“ (Poet. 1450a16–18). 25 Poet. 1450a24. 26 Poet. 1450a30–35. 27 „Die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch Nachahmung von Handelnden.“ (Poet. 1450b4). 28 Vgl. K, G, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik, in: RMP 146 (2003), 160–183, 164.

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

– und das unternimmt Aristoteles bei seiner Klassifizierung der verschiedenen Nachahmungsmodi – eine Wertung vorzunehmen beziehungsweise dem Nachzuahmenden eine ethische Kategorie beizumessen; die einen ahmten tüchtige (σπουδαιÄος), die anderen untüchtige (ϕαυÄ λος) Menschen und somit auch Handlungen nach. Um zwischen der Engführung der nachahmenden Tätigkeit auf Charaktere auf der einen und der allgemeinen Handlung auf der anderen Seite durchzuführen, kann ein Begriff als hermeneutische Stütze dienen: Der Begriff βι ος zeichnet zwischen den beiden Polen der allgemeinen Handlung und den durch sie ausgezeichneten Menschen eine erhellende Sinnebene ein, ist damit doch eine Lebenswirklichkeit oder ein Lebensverhältnis (unter Menschen) bezeichnet. Es wird deutlich, dass der aristotelische Begriff der µι µησις so breit wie möglich auszudehnen ist. Denn unter der µι µησις ist kein limitierter technischer Begriff zu verstehen. Mit dieser Beobachtung lässt sich sodann auch erklären, warum in der Poetik wenig zum Stoff der Tragödie gesagt wird. Zu viele Exemplifikationen würden die Bedeutung der µι µησις in ihrer breiten Auffächerung limitieren. Es geht Aristoteles weniger um den Stoff als vielmehr um die Struktur sowie die Komposition der Tragödie.29 Pointiert kann Folgendes festgehalten werden: So sehr die Aussage über die Nachahmung handelnder Personen – [εÆ ]πειÁ δεÁ µιµουÄ νται οιë µιµου µενοι πρα ττοντας.30 – ernstzunehmen ist, so sehr muss der Begriff des βι ος als hermeneutischer Schlüssel hinzugezogen werden, um das Verhältnis von Handlung und Handelnden auszuloten und richtig zu verstehen. So stützen sich Handlungen und Handelnde gegenseitig, sieht man sie im umfassenden Kontext der Lebenswelt eingebettet. Gerade dieses weit aufgespannte Feld ist es, mit dem die µι µησις des Aristoteles zur anthropologischen Grundkonstante menschlichen Daseins erhoben wird. Dieses verschlungene Verhältnis von Handlung und handelndem Subjekt bestimmt die Poetik und findet eine Ausleuchtung auch in der Nikomachischen Ethik. Dort gewinnt die handelnde Person eine stärkere Gewichtung als die Handlung an sich – im Hinblick auf die tugendhafte Bewertung derselben: Tα δε κατα τα ς αÆ ρετα ς γινο µενα ου κ εÆ α ν αυ τα πω ς εÆ χη, δικαι ως η σωϕρο νως πρα ττεται, αÆ λλα καιÁ εÆ α ν ο πρα ττων πω ς εÍ χων πρα ττη, ì πρω τον µε ν εÆ α ν ει δω ς, εÍ πειτÆ εÆ α ν προαιρου µενος, καιÁ προαιρου µενος διÆ αυ τα , το δε τρι τον εÆ α ν και βεβαι ως καιÁ αÆ µετακινη τως εÍ χων πρα ττηì .31 29 „Während es keinem Zweifel unterliegt, daß dem Stoff der Heldensage eine zentrale Funktion für das Verständnis der attischen Tragödie wie der homerischen Epen zukommt […], sehen wir Aristoteles in der Poetik zur Hauptsache damit beschäftigt, die Struktur der Tragödie und des Epos zu analysieren, wobei er den Stoff, wo er ihn notgedrungen erwähnt, bisweilen geradezu mürrisch beiseite zu schieben scheint.“ (N, K, Einiges oder Eines. Zu Stoff und Struktur der Dichtung in Aristoteles’ Poetik c. 8, 1451a25, in: RMP 146 [2003], 138–159, 138). 30 „Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach.“ (Poet. 1448a1). 31 „Bei den Tugenden allerdings hat das Wissen einen geringen oder gar keinen Einfluß, das andere dagegen keinen geringen, sondern es entscheidet vielmehr alles und bewirkt, was aus dem häufigen Tun des Gerechten und Besonnenen entsteht. Die Handlungen heißen nun

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4. Die Tragödie – µι µησις par excellence

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Ist es in der Nikomachischen Ethik die handelnde Person, die den Vorrang gegenüber der Handlung genießt, so schlägt das Pendel in der Poetik eher in Richtung der Handlung aus, was die Gewichtung der beiden Elemente angeht. Diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung kann als weiteres Indiz für die Argumentation für einen umfassenden µι µησις-Begriff angesehen werden. In ihrer Weite arrangieren sich kaleidoskopartig verschiedene Aspekte zu einem facettenreichen Bild, das je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Implikationen stärker oder schwächer zum Vorschein bringt. Hat Aristoteles zuvor also eine klare Definition der Tragödie gegeben und die Grundbegriffe kurz ausgeleuchtet, so finden sich in den darauffolgenden Ausführungen eher Kompositionsregeln – eine Art Anleitung für die mimetisch tätig werdende Person – als normative Aussagen über die Tragödie. Konsequent durchhalten lässt sich diese Zweiteilung bei der Lektüre der Poetik allerdings nicht. Immer wieder verschwimmen die Ebenen, nicht auf darstellender Ebene – die Ausführungen sind deutlich aufeinander bezogen und Aristoteles führt die Lesenden gut durch sein Werk –, sondern auf inhaltlicher Ebene. Die Auflistung der Kompositionsregeln steckt den Rahmen der künstlerischen Freiheit ab, während Fragen nach der Wirkung, der inhaltlichen Richtung sowie des tragischen Umschlags (µεταβοληÁ ) ebenfalls diskutiert beziehungsweise beantwortet werden und somit auf der Binnenebene der Tragödie selbst liegen. Deutlich wird beim Lesen der folgenden Passagen, dass sich der Kriterienkatalog für gelingende Dichtung unter die schöpferische Kraft und Wirkungsweise der Erzählung fügt. Ausgehend von der Kraft der µι µησις und ihren weitreichenden Wirkungskräften stellt Aristoteles die Frage nach den Kompositionsregeln der Tragödie. Es bietet sich an, dem aristotelischen Duktus der Darstellung zu folgen und zunächst die Kompositionsregeln zu thematisieren, um sodann den Fokus auf die normativen Aussagen über die Tragödie zu legen. Die Erarbeitung des umfassenden Tragödienbegriffs wird es am Ende erlauben, Fragen nach aktuellen Bezügen und etwaigen Ausweitungen der Tragödie auf andere Erzählformen zu stellen.32 Zudem bereitet sie den Weg zur zentralen Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις.

also gerecht und besonnen, wenn sie so sind, wie sie ein Gerechter und Besonnener ausführt. Gerecht und besonnen ist aber nicht derjenige, der solche Handlungen ausführt, sondern der so handelt, wie es der Gerechte und der Besonnene tun. Mit Recht wird also gesagt, daß der Gerechte durch das gerechte Handeln entsteht und der Besonnene durch das besonnene. Ohne so zu handeln könnte niemals einer tugendhaft werden.“ (eth. Nic. 1105A24–30). (Die deutsche Übersetzung folgt G, O, Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Griechischdeutsch, übers. v. Olof Gigon, hg. v. Rainer Nickel, Sammlung Tusculum, München 22007). 32 Zur grundsätzlichen Bestimmung des Verhältnisses von Kategorisierung und normativer Urteilsfindung, ist der Einschätzung Lubomı´r Dolezˇels zuzustimmen: „Das Modell der Tragödie, das Definitionen und Beschreibungen ihrer grundlegenden Kategorien und Merkmale bereitstellt, liefert zugleich die Metasprache für die Kritik der Tragödie.“ (D, L, Geschichte der strukturalen Poetik. Von Aristoteles bis zur Prager Schule, aus dem Englischen von Norbert Greiner, Dresden/München 1999, 33).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

5. Die formalen Kriterien der Tragödie Ein erstes Kriterium der Tragödie sieht Aristoteles in der Größe der Erzählung. Damit ist nicht die Länge – weder die der erzählten Zeit noch die der Erzählzeit –, sondern die Vollständigkeit der Erzählung gemeint. ÏΟλον δε εÆ στιν τοÁ εÍ χον αÆ ρχηÁ ν καιÁ µε σον καιÁ τελευτη ν.33 Abgeschlossenheit stelle eine, wenn nicht die Grundbedingung der Tragödie und der Wirkung dieser dar. Gerade in dieser Zusammenstellung wird die Verschränkung von Anleitung und normativem Zugriff anschaulich: [ëΟ] δεÁ κατÆ αυÆ τηÁ ν τηÁ ν ϕυ σιν τουÄ πρα γµατος οÏρος, αÆ ειÁ µεÁν οë µει ζων µε χρι τουÄ συ νδηλος ειËναι καλλι ων εÆ στιÁ καταÁ τοÁ µε γεθος· ωë ς δεÁ αë πλω Ä ς διορι σαντας ειÆ πειÄν, εÆ ν οÏσωì µεγε θει καταÁ τοÁ ειÆ κοÁ ς ηà τοÁ αÆ ναγκαιÄον εÆ ϕεξηÄ ς γιγνοµε νων συµβαι νει ειÆ ς ευÆ τυχι αν εÆ κ δυστυχι ας ηà εÆ ξ ευÆ τυχι ας ειÆ ς δυστυχι αν µεταβα λλειν, ιë κανοÁ ς οÏρος εÆ στιÁ ν τουÄ µεγε θους.34

Eine Erzählung sei so zu gestalten, dass der Umschlag vom Glück zum Unglück vice versa erfolgen könne. Die µεταβοληÁ , der Umschlag, der aus notwendig oder wahrscheinlich aufeinander folgenden Ereignissen resultiere, ist für Aristoteles das Maß der Tragödie. Anhand dieses erzählerischen Umschlags sei die Länge der Erzählung zu messen. Der Umschlag könne kurz vorbereitet oder lang präludiert werden, rasch oder langsam vonstattengehen. Bemerkenswert ist, dass sich Aristoteles nicht für die zeitliche Dimension der Tragödienkomposition sowie die der Tragödie selbst interessiert, was die Rede von Anfang und Ende nahelegen könnte. Nicht die zeitliche Aufeinanderfolge, das Episodenhafte, sondern die Momente der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit halten die Erzählung nach Aristoteles zusammen und sorgen für den Eindruck eines Ganzen, das zu überblicken ist. Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit werden von Aristoteles mit dem Möglichen verknüpft. Mit der Rede vom Möglichen wird grundsätzlich die Tür zur Fiktion aufgestoßen: ΦανεροÁ ν δεÁ εÆ κ τωÄ ν ειÆ ρηµε νων καιÁ οÏτι ουÆ τοÁ ταÁ γενο µενα λε γειν, τουÄ το ποιητουÄ εÍ ργον εÆ στι ν, αÆ λλÆ οιÎα αà ν γε νοιτο καιÁ ταÁ δυναταÁ καταÁ τοÁ ειÆ κοÁ ς ηà τοÁ αÆ ναγκαιÄον.35 Dies gilt gleichzeitig auch als Merkmal zur Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtung: [ÆΑ]λλαÁ του τωì διαϕε ρει, τωÄì τοÁ ν µεÁν ταÁ γενο µενα λε γειν, τοÁ ν δεÁ, οιÎα αà ν γε νοιτο. ∆ιοÁ καιÁ ϕιλοσοϕω τερον καιÁ

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„Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ (Poet. 1450b26–27). „Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt. Um eine allgemeine Regel aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe hat die richtige Begrenzung.“ (Poet. 1451a9–15). 35 „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“ (Poet. 1451a37–39). 34

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5. Die formalen Kriterien der Tragödie

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σπουδαιο τερον ποι ησις ιë στορι ας εÆ στι ν·36 Erstere erzähle das wirklich Geschehene, Letztere das möglicherweise Geschehene. Eben aus diesem Grund bewertet Aristoteles die Dichtung als die philosophisch wertvollere sowie ernsthaftere Gattung. Es kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt für diese Wertung hinzu: [ëΗ] µεÁν γαÁ ρ ποι ησις µαÄ λλον ταÁ καθο λου, ηë δÆ ιë στορι α ταÁ καθÆ εÏ καστον λε γει.37 Die Einschätzung gewinnt in der Erinnerung der vorangegangenen Passagen an Plausibilität. Denn wie bereits gesehen, versteht Aristoteles die Fähigkeit zur Nachahmung als eine natürliche Anlage des Menschen, der durch diesen Zugriff auf die Welt lernt.38 Wenn die Dichtung nicht an die Wirklichkeit und deren Darstellung gebunden, sondern zur Welt des Möglichen befreit sei, dann ergibt sich aus der Lösung vom vorgegebenen Stoff auch die Befreiung zur allgemeineren Nachahmung. Aristoteles selbst gibt das Beispiel, dass die Tragödie nach allgemeinen – man könnte sagen beispielhaften – Menschen frage, die unter Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit gewisse Dinge täten, wobei die Frage der Geschichtsschreibung, die nach bestimmten Personen zu einer bestimmten Zeit sei.39 Der Umstand, dass Tragödiendichter auf Personen zurückgreifen, die wirklich gelebt haben, widerspreche diesem allgemeinen Charakter der Dichtung nicht. Zu diesem Urteil kommt Aristoteles durch seine Wertschätzung der µι µησις und deren kreativer Kraft.40 Mι µησις sei nicht Kopie, sondern schöpferische Nachahmung.41 Mit dieser Aussage ist die Verschränkung von Realität und Fiktion innerhalb der Tragödiendichtung bereits tangiert. So wie sich die Tragödie durch Ganzheit auszeichne, so sei ein weiteres Kriterium die Erregung von ϕο βος und εÍ λεος. Aristoteles zeigt mit der Konzentration auf dieses Begriffspaar (ϕο βος/εÍ λεος) zum einen eine starke Reduktionsfähigkeit und zum anderen eine Aufweitung starrer gattungsspezifischer Zugriffe,

36 „[S]ie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung.“ (Poet. 1451b4–6). 37 „[D]enn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ (1451b7). 38 „Analysis showed that Aristotle defined all of the varieties of poetry as forms of mimesis and that he indicates that the importance of mimesis for man is that it involves a learning experience and that the chief pleasure which man derives from mimesis is the pleasure of learning. We remember that learning for Aristotle involves a movement from the particular to the universal and that it reaches its climax in an insight or inference. That poetry is a learning experience in this sense is confirmed for us in chapter 9 of the Poetics, where we are told that poetry is ‘more significant’ than history because it aims at the universal while history is concerned with the particular.“ (G, L, Mimesis and Katharsis, Classical Philology, 64/3 [1969], 145–153, 146). 39 Vgl. Poet. 1451b9–11. 40 Vgl. Poet. 1451b27–30. 41 „Nirgendwo sonst ist in der Antike der Charakter von Dichtung als einer Aussageform, die auf die Realität Bezug nimmt und zugleich ganz eigenen Gesetzen folgt, so scharf gesehen worden wie in der Poetik des Aristoteles.“ (K, G, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik, 182).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

denn ausgiebig diskutiert wird dieses Begriffspaar nicht. Es findet sich lediglich eine knappe Beschreibung, wie die Wirkung zustande komme: ÆΕπειÁ δεÁ ουÆ µο νον τελει ας εÆ στιÁ πρα ξεως ηë µι µησις, αÆ λλαÁ καιÁ ϕοβερω Ä ν καιÁ εÆ λεεινω Ä ν, ταυÄ τα δεÁ γι νεται καιÁ µα λιστα [καιÁ µαÄ λλον], οÏταν γε νηται παραÁ τηÁ ν δο ξαν διÆ αÍ λληλα·42 Wider Erwarten eintretende Geschehnisse können demnach nicht gegen die Plausibilität, gegen das wahrscheinlich oder notwendig Mögliche ausgespielt werden. Auf gleicher Ebene lässt sich die Wertung unterschiedlicher Güte lesen, die Aristoteles in diesem Abschnitt vornimmt: So seien Erzählungen episodischer Art von schlechterer Qualität sowie einfache – das heißt schlichte oder unkreative – Kompositionen dadurch ausgezeichnet, dass sich die Wendungen und Umschläge nicht überraschend ereigneten und es sie im Grunde genommen gar nicht gäbe, sondern die Geschehnisse vor sich hin geschehen würden. Wendungen (µετα βασι ς) und Peripetien (περιπε τεια) sowie die Wiedererkennung (αÆ ναγνω ρισις), zu denen sich das Pathos (πα θος) als vierte Kategorie gesellt, stellen für Aristoteles wichtige Teile der Tragödie dar.43 Im weiteren Verlauf werden diese Kriterien diskutiert – immer auch mit Wertungen verbunden. Es geht um die Frage nach einer möglichst guten Tragödie und deren Umsetzung. Vor allem die nachgeahmten Handlungen, die Stoffe selbst seien es, die das Gelingen verbürgten. Die Tragödie kann insofern als µι µησις par excellence gelten, als dass sie die engen Schranken der Wirklichkeit aufbricht und gleichzeitig auf sie verwiesen bleibt. Durch ihren allgemeinen Charakter dient sie der anthropologischen Anlage des Lernens durch Nachahmung am meisten. Die Tragödienkomposition ist für Aristoteles eine, wenn nicht die Variante der µι µησις, die für das menschliche Dasein von herausragender Bedeutung ist.44 Alle Grundvoraussetzungen sind damit in ihrer Allgemeinheit auf den Plan getreten und werden in den anknüpfenden Ausführungen ausführlich betrachtet und bewertet. Die Anleitung für die dichtende Person ist somit vollständig. Sie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die mimetisch tätige Person soll das Moment der Plausibilität beachten und somit von wahrscheinlichen Geschehnissen sprechen. Sollte die Person in einer vorgegebenen Gattung mimetisch tätig

42 „Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“ (Poet. 1452a2–4). 43 Vgl. Poet. 1452a. 44 Dieses Votum geht teilweise konträr zu dem von Joachim Küpper. Dieser sieht zwar ebenfalls die enge Verbindung von Mensch und µι µησις, ist bei der Bewertung allerdings vorsichtiger, verbleibt gleichsam bei der beobachtenden Perspektive: „Er [Aristoteles] läßt sich nicht ausdrücklich zu der Frage ein, ob das Vergnügen, das die dichterischen mimeˆsis auslösen, das gleiche ist, ein anderes, oder ein teilidentisches. Festzuhalten bleibt einstweilen nur das Faktum dieser Leerstelle. Zu bedenken ist eben, daß nicht jede Nachahmung Dichtung ist; Dichtung ist eine Variante von Nachahmung.“ (K, J, Dichtung als Mimesis [Kap. 1–3], in: Otfried Höffe [Hg.], Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen [Bd. 38], Berlin 2009, 29–46, 38 f.).

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6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις

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werden, dann sollten die Konventionen dieser Gattung geachtet werden.45 Die inhaltlichen Bestimmungen der Tragödie sind implizit bereits angeklungen. Sie werden im Folgenden anhand der Begriffe µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις weiter präzisiert sowie auf ihre gegenwärtigen Implikationen hin befragt werden.

6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις 6.1 µυÄ θος Im Allgemeinen wird die Zusammensetzung einer Tragödie von Aristoteles als µυÄ θος bezeichnet. Aufgrund der begrifflichen Klarheit, mit der Aristoteles seine Tragödienkomposition auf inhaltlicher Ebene beschreibt, lassen sich im Anschluss an die Poetik zwei zentrale Fragen stellen: Lassen sich unter der Kategorie des µυÄ θος auch andere Arten der Erzählung zusammenfassen? Wie ist das lediglich angeschnittene Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit zu bestimmen? Beide Fragen lassen sich aus der Binnenperspektive der Poetik ableiten, gewinnen aber ihre besondere Sprengkraft im Hinblick auf das bleibende Wirkpotential der aristotelischen Gedanken. Zur Beantwortung der Frage nach der Reichweite des Ansatzes, der Aufweitung des Tragödienkonzepts auf andere narrative Strukturen, ist es notwendig, das Verhältnis zwischen der Kategorisierung, der Anleitung und den normativen Grundsätzen noch einmal zu betrachten. Es ist auffällig, dass Aristoteles eher an Letzteren als an Ersteren interessiert zu sein scheint. Die Wertung der Grundbestimmungen überwiegt die Aufstellung eines Katalogs an Kompositionsregeln. Am deutlichsten wird dies, wenn man die genealogischen Ausführungen zu den verschiedenen Gattungen verfolgt. Nachdem Aristoteles selbst die mimetische Tätigkeit in ihren unterschiedlichen Niederschlagsarten wahrgenommen und hergeleitet hat, so bietet sich aus heutiger Perspektive eine Weiterschreibung an, die in den unterschiedlichsten Narrationsvariationen die mimetische Tätigkeit zu erkennen vermag. Im aristotelischen Ansatz selbst ist dessen Ausweitung auf andere Narrationen angelegt – so lässt sich ein eine erste Vermutung für eine Ausweitung der Tragödienkomposition formulieren. Ein Indiz für die Pluralität und Fortschreibung des Tragödienansatzes liegt in dem Abwägen von besserer, wertvollerer gegenüber schlechterer, einfacherer Dichtung. Auch eine schlechte Tragödiendichtung bleibt im aristotelischen Sinne Tragödie, solange sie die Grundbestimmungen wahrt: Handlungen nachahmt, Allgemeines wiedergibt, den Umschlag vom Glück ins Unglück vollzieht, als Ganzes wahrnehmbar ist:

45 Vgl. K, G, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik, 178 f.

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

[Es ist zu beobachten], daß die aristotelische Typologie der Tragödie nicht mit seiner Definition der Tragödie übereinstimmt. Diese mangelnde Übereinstimmung läßt sich nunmehr erklären. Während die Definition eine bevorzugte, ideale und statische Struktur vorstellt, erkennt die Typologie die Möglichkeit struktureller Verlagerungen und – implizit – der historischen Veränderung der Struktur an. […] Indem Aristoteles in seiner Poetik die Erfahrung einer sich ständig verändernden Praxis zu Worte kommen läßt, weist er den Weg aus der Sackgasse der normativen Poetik, die er selbst entworfen hat.46

Sicherlich hängt eine abschließende Beurteilung davon ab, welche „strukturellen Verlagerungen“ vollzogen werden. Es scheinen dafür die postulierte Trias, die mimetische Tätigkeit, der Mythos als zu überblickende Erzählung sowie das Moment der κα θαρσις als konstitutives Gerüst unverrückbar. Jedoch ließen sich verschiedenste Szenarien durchspielen, in denen das ein oder andere Element an seine Existenzgrenze geführt werden kann. Aufkündbar scheinen sie in ihrer Generalität allerdings nicht. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit ist ein umschlungenes. Es ist bereits deutlich geworden, dass die dichtende Person die Tragödie so zu gestalten habe, dass das Mögliche nach der Notwendig- oder Wahrscheinlichkeit zur Sprache komme. Trotzdem bleibt das Mögliche am Wirklichen haften, da bekannte Personen, prominenter Mythenstoff und, generalisierend gesprochen, Motive menschlichen Lebens aufgegriffen werden. Diese Dialektik – auf der Ebene des µυÄ θος nur angedeutet – verschärft sich, wenn die Begriffe µι µησις und κα θαρσις ergänzt werden. Die µι µησις steht zwischen beiden Momenten. Unter dem Begriff der κα θαρσις lassen sich die Auswirkungen des Möglichen auf das Wirkliche unter Berücksichtigung der rezipierenden Personen hinterfragen. Insofern inkorporiert der µυÄ θος als kompositorische Einheit die Fragen nach Wirklichkeit und Möglichkeit, setzt diese gewissermaßen produktiv ins Werk: Aus Sicht der Poetik ist die Tragödie wesentlich ein Ort, an dem wir etwas hören können, das wir in der realen Welt nicht können: Lust empfinden im Erleben von Emotionen, die uns ansonsten nur im Kontext des Schmerzhaft-Unlustvollen begegnen und die wir aufgrund ihrer Heftigkeit und von deren vielfältigen und auffälligen Konsequenzen ansonsten als zivilisierte Menschen mehr oder weniger nachhaltig zu kontrollieren, wenn nicht komplett zu unterdrücken pflegen. Es gibt im Regnum des Ästhetischen, im Sinne des gestalteten Illusionären oder Fiktionalen, ästhetische Erfahrungen (im wörtlichen Verständnis), die spezifisch sind, die wir außerhalb dieses Regnum nicht machen können, und die wir möglicherweise deshalb so hoch schätzen, weil sie uns erlauben, Spektren unseres Fühlens und Denkens zusammenzubringen, die in der pragmatischen Welt unverbrüchlich geschieden sind.47

Der µυÄ θος ist gewissermaßen das Versuchslabor menschlichen Daseins und somit Möglichkeitsraum allgemein-menschlicher Erfahrungen.48 Die Schaffung dieses

46

D, L, Geschichte der strukturalen Poetik, 39. K, J, Verschwiegene Illusion. Zum Tragödienansatz der Aristotelischen „Poetik“, in: Poetica 38 (2006), 1–30, 29. 48 Vgl. G, L, Mimesis and Katharsis, 146. 47

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6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις

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Raumes wird garantiert durch die Totalität der Erzählung, die Struktur, die den µυÄ θος zum µυÄ θος macht. Es ist die Erzählung, der Ort der µι µησις, an dem allgemeine Handlungen und Verstrickungen in einen zu greifenden Rahmen gesetzt werden und an dem der Mensch seiner eigentümlichen Art zu existieren anschaulich wird.49 In Bezug auf die Kraft der Erzählung, kann man diese als „Verdichtung des Realen“50 charakterisieren: Das Mögliche bleibt auf das Wirkliche verwiesen und lässt dieses in neuem Licht erscheinen.51 Der Grund, aus dem manch tragische Stoffe die Zeiten überdauern, kann darin gesehen werden, dass diesen Erzählungen selbst die Struktur des Möglichen zu eigen beziehungsweise die „Verdichtung des Realen“ gelungen ist.52

6.2 µι µησις Alle Einsichten der aristotelischen Poetik sind an den Begriff der µι µησις rückgebunden. Eine genaue Definition liefert Aristoteles auch für diesen Begriff nicht.53 Aristoteles nimmt ihn zunächst in allgemeinem Sinne auf und präzisiert ihn innerhalb seines Argumentationsgangs der Poetik.54 Deutlich wird, dass nach Aristoteles die mimetisch tätig werdende Person die Wirklichkeit nicht einfach abbildet. Vielmehr ist ihre Tätigkeit auf das Mögliche ausgerichtet, auch wenn sie an das Wirkliche verwiesen bleibt.55 Mit der µι µησις stößt Aristoteles die Tür zu unzähligen Fiktionsräumen auf und vollzieht damit gleichzeitig eine „Positivierung der Fiktionen“56. Denn die künstlerische µι µησις ist nach Aristoteles in der Lage, allgemeine, existentiale Motive und Handlungen menschlichen Daseins im µυÄ θος umzusetzen.57 Anhand der mimetischen Tätigkeit lerne der Mensch. Die 49 „All art forms, however, in that they belong to the general category of mimesis are essentially learning experiences whose climax or goal is an insight or inference from individual artistic representation to a universal truth. This is the important role which Aristotle sees for art in human life, the role of deepening our understanding about and insight into the aspect of human existence that are portrayed in the artistic mimesis.“ (G, L, Mimesis and Katharsis, 148). 50 K, J, Verschwiegene Illusion, 12. 51 „Aristoteles bindet also die künstlerische Mimesis argumentativ strikt an den Maßstab der Wirklichkeit. Aber der Grad und das Profil der Konformität […] sind für ihn kein Maßstab der Beurteilung künstlerischer Werke. [...] Die Qualität der jeweiligen Hervorbringung bemißt sich nicht daran, in welchem Maße es dieses oder jenes Werk vermag, einen ,adäquaten‘ Eindruck von der Wirklichkeit zu geben.“ (K, J, Dichtung als Mimesis, 36). 52 S, E-R, Aristoteles über Struktur und Sujet der Tragödie. Zum 9. Kapitel der Poetik, in: RMP 139 (1996), 111–126, 125. 53 Vgl. S, B, Aristoteles und die griechische Tragödie, in: Gertrud Koch/ Martin Vöhler/Christiane Voss (Hg.), Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, 15–41, 17. 54 Vgl. S, A, Aristoteles, Poetik, 206. 55 Vgl. E, C C., Man as the Most Mimetic Animal According to Aristotle, 175–186. 56 K, J, Verschwiegene Illusion, 2. 57 Vgl. Poet. 1451b7.

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

µι µησις produziere in ihrer freien Gestaltung in gewisser Hinsicht Wissen,58 sie sei auf ihre Weise an der Wirklichkeit interessiert.59 Es handle sich bei ihr um einen performativen Akt, anhand dessen das menschliche Dasein zum Verstehen angeleitet werde. Nimmt man die Betonung des Möglichen ernst, so lässt sich das aristotelische Konzept der µι µησις in voller Strahlkraft wahrnehmen. Denn in ihr ist das Angebot mannigfaltiger Verstehensangebote für das menschliche Dasein angelegt. So ist die µι µησις erst in ihrem Verhältnis zum rezipierenden Subjekt an ihr Ende gelangt – das unterstreicht Aristoteles noch mit dem Begriff der κα θαρσις. Indem die µι µησις auf die menschlichen Möglichkeiten bezogen ist und diese zu einem µυÄ θος umsetzt,60 bringt sie etwas zu „konkreter Wirklichkeit“61, das dem Dasein als Verständnishilfe gereicht. Als eine solche kann die µι µησις im aristotelischen Sinn gelten, da er auf Seiten des rezipierenden Subjekts die Dialektik von Nähe und Distanz einzeichnet.62 So kommt es im Anschluss an Aristoteles nicht zu einer Kurzschaltung von µυÄ θος und Subjekt – die dargestellte Wirklichkeit wird nicht per se zur eigenen. Allerdings zielt Aristoteles auch nicht auf ein rein externes Erlebnis, das keine bleibende Bedeutung für das Dasein hat. Die Wertschätzung der µι µησις zeigt sich bei Aristoteles also in der kreativen Schaffung von Fiktionsräumen auf der einen und in der Rezeption dieser auf der anderen Seite. Mit seiner Charakterisierung des Begriffs löst er sich von der zuvor bestimmenden platonischen Lesart der µι µησις. Ein Exkurs scheint an dieser Stelle angebracht, um die Stoßkraft der aristotelischen Gedanken und damit die Befreiung der µι µησις aus den Fesseln des Sophismus und Platonismus nachzuvollziehen.

Exkurs: Die platonische µι µησις Platon äußert sich an verschiedenen Stellen zur µι µησις. Vor allem in Poilteia X, wo er die nachahmende Tätigkeit explizit auf die Dichtkunst und die Tragödie bezieht63 – Homer dient ihm als Bezugsgröße –, sieht er sie negativ.64 Seine ab-

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Vgl. S, B, Aristoteles und die griechische Tragödie, 16. Vgl. T, W, Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, aus dem Polnischen von Friedrich Griese, Frankfurt am Main 2003, 436. 60 Vgl. S, A, Aristoteles, Poetik, 118. 61 Ebd. 62 Vgl. S, B, Distanz und Nähe. Zur Darstellung der Gewalt in der griechischen Tragödie, in: Ders./Martin Vöhler (Hg.), Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin 2006, 91–122, 97. 63 Pol. X 598d. 64 Es gibt auch positivere Stimmen zur µι µησις in seinen frühen Schriften (vgl. dazu unter anderem die Ausführungen bei K, J, Verschwiegene Illusion, 7 f.). So greift Platon im Ion die Begriffe ϕο βος und εÍ λεος auf und beschreibt die Wirkung der Tragödie auf die Rezipierenden; dabei hält er sowohl einen abgeklärten, distanzierten als auch einen miteifernden und begeisterten Blick auf das Vorgetragene für möglich. Die Rezipierenden könn59

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6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις

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wertende Haltung gegenüber der µι µησις ergibt sich aus seinem Interesse an der Wahrheit. Die im Folgenden präsentierten Argumentationsstränge resultieren aus eben jenem Interesse. So sieht Platon zum einen in der µι µησις die Gefahr der schlechten Auswirkungen auf das rezipierende Subjekt gegeben. Zum anderen kritisiert er die Qualität der Nachahmung an sich und ihre mangelnde Wahrhaftigkeit. 1. Die Auswirkung auf das rezipierende Subjekt ëΩς µεÁν προÁ ς υë µαÄ ς ειÆ ρηÄ σθαι (ουÆ γα ρ µου κατερειÄτε προÁ ς τουÁ ς τηÄ ς τραγωδι ì  ας ποιητα ς καιÁ τουÁ ς αÍ λλους αÏ παντας τουÁ ς µιµητικου ς), λω βη εÍ οικεν ειËναι πα ντα ταÁ τοιαυÄ τα τηÄ ς τω Äν αÆ κουο ντων διανοι ας, οÏσοι µηÁ εÍ χουσι ϕα ρµακον τοÁ ειÆ δε ναι αυÆ τα οιÎα τυγχα νει οÍ ντα.65

Für die Seele des Menschen sei es eine Schande, ein Verderb (λω βη), Dichtkunst in jeglicher Form zu konsumieren. Nur eine Einschränkung nennt Platon: Wenn die Rezipierenden über das Wissen darum, wie es in der Wirklichkeit bestellt sei, verfügten, so seien sie immun gegen die verderbliche Wirkung. Doch scheint diese Limitierung des zerstörerischen Einflusses nicht um der Rettung der Dichtkunst willen eingefügt. Vielmehr ist, im Hinblick auf den Gesamtduktus in pol. X, anzunehmen, dass Platon an konkrete Dichtkunst und konkrete Personen denkt und somit der Tatsache eingedenk ist, dass es Personen geben müsse, die über eine Art Abwehrmechanismus, ein Heilmittel (ϕα ρµακον) verfügten, das eine Verderbnis der Seele verhindere. Deutlich wird, dass es um eine Art Täuschung geht, die die Dichtkunst vollziehe. Das Heilmittel ist inhaltlich gefüllt. Es zeige, wie es sich in Wahrheit (οÍ ντως) verhalte. Die Dichtkunst – so könnte man die oben zitierte Passage auslegen – täusche den Menschen und könne seine Seele verderben, wenn er sich dieser Täuschung nicht bewusst sei und das, was ihm präsentiert

ten in ihrem Seelenzustand ganz auf das Geschilderte bezogen, in die Geschichte versunken sein, was sie dem Dichtenden und damit dem Nachgeahmten näherbrächte (vgl. Ion 353b–536d). Im Phaidon liegt der Fokus auf der κα θαρσις. Diese wird in Bezug auf die Wahrheit beleuchtet. Dabei wird κα θαρσις mit αÆ λη θεια gleichgesetzt. Erstere gewährleiste, wenn richtig angesetzt (Kategorie der Vernünftigkeit), die Tugendhaftigkeit, das heißt eben die Bereinigung von den Affekten (vgl. Phaid. 69a–c). Eine Passage aus dem Sophistes zeigt eine ähnliche Ebene. Auch hier geht es um die κα θαρσις, die hier als solches Moment qualifiziert wird, das das Bessere vom Schlechteren scheide und auf den Weg der Wahrheit führe (vgl. soph. 226c–228d) und im Timaios wird schließlich die in pol. X pejorativ dargelegte Ausleuchtung kontrastiert. Platon erblickt gleichsam in der Nachahmung das einzig mögliche Mittel, sich dem Wahren anzunähern (vgl. Tim. 28a–c). 65 „Um es nur zu euch gesagt zu haben, denn ihr werdet mich doch nicht anzeigen bei den Tragödiendichtern und den übrigen Darstellenden insgesamt, mir scheint dergleichen alles ein Verderb zu sein für die Seelen der Zuhörer, soweit sie nicht das Heilmittel besitzen, daß sie wissen, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten“ (pol. X 595b). (Die deutsche Übersetzung folgt S, F. D. E., Platon, Politeia, Platon Werke [Bd. 4], bearbeitet v. Dietrich Kurz. Griechischer Text von E´mile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, in: Platon – Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 62011).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

werde, für wahr halte. Doch nicht nur das Individuum hat Platon im Blick, wenn es um die schlechten Auswirkungen der Dichtkunst geht. Den Schadensradius weitet er auf das soziale Zusammenleben aus. Dabei wird sowohl die tragödiendichtende als auch die komödienschaffende Person in den Blick genommen. Schädliche Auswirkungen bei der schaffenden und der rezipierenden Person korrelieren bei Platon, was wiederum aufzeigt, wie eng die zuvor ausgemachten vier Kategorien miteinander verwoben sind. Bei der Tragödiendichtung scheint das Problem für Platon auf einer anderen Ebene zu liegen als bei der Komödiendichtung: Bei der Tragödie sei es unpassend, sich an einer leidigen Situation eines handelnden Menschen zu erfreuen, während man, wenn man selbst in der Situation steckt, sich wohl kaum erfreuen würde.66 Bei der Komödie stellt sich der Fall grundlegend anders dar: ËΑρ’ ουÆ χ οë αυÆ τοÁ ς λο γος καιÁ περι τουÄ γελοι ου; οÏτι, αÍ ν αυÆ το ς αιÆ σχυ νοιο γελωτοποιω Ä ν, εÆ ν µιµη σει δεÁ κωµωδικ ì ηÄì ηÍ καιÁ ιÆ δι αì αÆ κου ων σϕο δρα χαρηÄì ς καιÁ µηÁ µισηÄì ς ωë ς πονηρα , τυÆ ατο ν ποιειÄς οÏπερ εÆ ν τοιÄς εÆ λε οις; οÏ γαÁ ρ τω Äì λο γωì αυË κατειÄχες εÆ ν σαυτω Äì βουλο µενον γελωτοποιειÄν, ϕοβου µενος δο ξαν βωµολοχι ας, το τ’ αυË αÆ νι ης, καιÁ εÆ κειÄ νεανικοÁ ν ποιη σας εÍ λαθες πολλα κις εÆ ν τοιÄς οιÆ κει οις εÆ ξενεχθειÁ ς ωÏ στε κωµωδοποιο ì Á ς γενε σθαι.67

Hier fällt das Urteil drastischer aus. Während die Person beim Rezipieren einer tragischen Handlung lediglich gegen ihre eigene Natur reagiere – Freude am Leid –, seien die Auswirkungen der Komödie fataler, da sie zurück in das Leben der Person führten. Denn das Erlebte bleibe nicht im geschützten Rahmen der Inszenierung, sondern halte darüber hinaus Einzug in die Alltagspraxis des rezipierenden Subjekts. Das Wahrgenommene finde eine Entsprechung im Leben und verderbe somit das soziale Miteinander. Selbst über den Geschlechtstrieb (αÆ ϕροδι σιος) als wohl überzeugendstes Beispiel lässt sich Platon aus und sieht diesen sowie andere Urtriebe als durch die Dichtkunst bestärkt und somit gegen die Sittlichkeit verstoßend an.68 Platon belässt es nicht bei dieser schlichten Feststellung der gefährlichen Auswirkungen auf die Einzelnen und das Kollektiv. Das folgende Unterkapitel gibt weiter Aufschluss über dieses vernichtende Urteil gegenüber der µι µησις und damit gegenüber der ποιητικη im Allgemeinen.

66

Vgl. pol. X 605e. „Und dieselbe Überlegung gilt doch auch für das Lächerliche. Wenn du in einer Komödie oder auch in kleinem Kreise einen Spaß hörst, den selbst zu machen du dich schämtest, und wenn du nun die größte Freude daran hast und ihn nicht als etwas Schlechtes verabscheust, dann machst du genau dasselbe wie dort beim Mitleiden. Denn wiederum: was du durch Vernunft niedergehalten hast, wenn es bei dir diesen Spaß machen wollte, weil du den Ruf eines Possenreißers scheutest, dem lässest du hier Freiheit. Und hast du es da stark werden lassen, dann wirst du unvermerkt in deinem eigenen Freundeskreise so weit kommen, daß du zu einem Komödianten wirst.“ (pol. X 606c). 68 Vgl. pol. X 606d. 67

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6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις

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2. Die Qualität der Nachahmung an sich – die mangelnde Wahrhaftigkeit Wahrheit kann als das entscheidende Kriterium angesehen werden, an dem Platon die µι µησις misst. So hält er lakonisch fest: Πο ρρω αÍ ρα που τουÄ αÆ ληθουÄ ς ηë µιµητικη εÆ στιν69 und subsumiert alle weiteren Äußerungen zur Nachahmung unter dieses Votum. Den Ausführungen in pol. X ist abzuspüren, dass sich der Wert der µι µησις an der Abbildung der Wirklichkeit bemisst und somit nach der Wahrheit (αÆ λη θεια) fragt. Alle Nachahmung, die diesem Ziel, dem Erkennen der wahrhaftigen Wirklichkeit, nicht genüge, findet kategorische Ablehnung.70 An diesem Punkt wird die aristotelische Stoßrichtung gegen Platon am deutlichsten. Auch wenn Aristoteles das eigentümliche Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit nicht ausblendet, tariert er sie doch anders aus, hält die beiden Pole – wie gesehen – in lebendiger Bezogenheit aufeinander. Auch für ihn bleibt die Wahrhaftigkeit beziehungsweise breiter aufgespannt die Wirklichkeit eine wichtige, wenn nicht die Bezugsgröße für die schöpferische µι µησις. Doch leitet er daraus keine Wertung ab – vermutlich um die zuvor getätigte Aussage zur kreativen Kraft der mimetischen Tätigkeit nicht einzuschränken.71 Bei Aristoteles sind Fiktion und Wirklichkeit miteinander verschränkt. Für ihn ist die µι µησις ein Prozess, durch den Zusammenhänge anders und neu abgebildet, ja kreativ geschaffen werden.72 Dass die Entfernung zur Wahrheit für Platon das Hauptkriterium für die Anklage der µι µησις ist, wird deutlich, wenn er sie unter anderem als (Kinder-) Spiel (παιδια ) ohne jeglichen Ernst (σπουδη )73, an anderer Stelle gar als fernab der Vernunft (πο ρρω δ’ αυË ϕρονη σεως)74 beschreibt. Resümierend hält er schließlich fest: ΠροÁ ς ∆ιο ς, ηË ν δ’ εÆ γω , τοÁ δεÁ δηÁ µιµειÄσθαι τουÄ το ουÆ περιÁ τρι τον µε ν τι εÆ στιν αÆ ποÁ τηÄ ς αÆ ληθει ας75. Eben dieses Votum schließt sich an ein vorangegangenes an, das sich explizit auf die tragische ποιητικη bezieht.76 Die Tragödiendichtung als bestimmte Form der µι µησις weiche als drittes Erzeugnis von der Wahrheit ab. Platon versteht sie gewissermaßen als µι µησις der µι µησις. Insofern ist sie für ihn Abkehr von der Wirklichkeit im gesteigerten Sinne.77

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„Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei.“ (pol. X 598b). „The important purpose has, therefore, been attributed to mimesis of providing the necessary preliminary steps in the intellectual process that leads to the apprehension of reality itself.“ (G L, Mimesis and Katharsis, 150). 71 Vgl. K, J, Dichtung als Mimesis (Kap. 1–3), 36. 72 Vgl. T, W, Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, 389 f. 73 pol. X 602b. 74 pol. X 603b. 75 „Beim Zeus, sprach ich, dieses Nachbilden gehöre doch zu dem dritten von der Wahrheit ab.“ (pol. X 602c). 76 Vgl. pol. X 597e im Gesamtzusammenhang von 579b. 77 Vgl. H, O, Einführung, in: Ders. (Hg.), Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen (Bd. 38), Berlin 2009, 4–28, 21. 70

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

Die Rede vom Dritten illustriert Platon mit einem Bettgestell-Beispiel.78 An erster Stelle sieht Platon die Idee des Bettgestells, an der sich der Tischler orientiere. Das von ihm hergestellte Bettgestell steht für Platon folglich an zweiter Stelle. An dritter Stelle sieht er dann den Maler, der das Bettgestell in seinem Kunstwerk nachahme. Platon überträgt das Beispiel ohne weitere Einleitung auf die Dichtkunst, die für ihn ebenfalls an dritter Stelle steht. Während er dem Handwerk noch etwas abgewinnen kann, erkennt er in der künstlerischen Nachahmung lediglich verschiedene Erscheinungsformen, die sich nicht unmittelbar aus der Idee ergeben würden.79 Für ihn reicht der Aufweis der Wahrheitsentfernung zur Einordnung der Dichtkunst aus. An kompositorischen oder inhaltlichen Themen ist er nicht interessiert. Für ihn hat die µι µησις keine tiefer gehende Bedeutung, da er sie nur als Abschattierung der Ideenwelt wahrnimmt. Das unterstreicht er mit dem Bild eines Mannes, der mit einem Spiegel in der Hand umhergeht und behauptet, er würde das, was sich in dem Spiegel zeigt, erschaffen.80 Die Nachahmung ist für Platon an dieser Stelle die Kopie der Wirklichkeit. In diesem Sinne kann für ihn die Dichtkunst nichts zum Verständnis der Wirklichkeit beitragen, da sie selbst nichts Neues schaffen könne, was nicht schon in der allumfassenden Ideenwelt existiere.81 Aus dem platonischen Gedanken der allumfassenden und vollständigen Ideenwelt lässt sich kein kreatives Schaffen ableiten. 3. Zusammenfassung Die platonische Lesart der µι µησις steht der aristotelischen also gegenüber. Es überwiegen die Äußerungen, die gegen die Dichtkunst als solche und im Speziellen gegen die der Tragödie gerichtet sind. Platon verwirft in diesen Passagen der Politeia die Dichtkunst als solche, da er sie als Nachahmung zweiter Klasse ansieht. Darüber hinaus bewertet er die bei der rezipierenden Person als negativ ausgelösten Affekte, wünscht sich gewissermaßen eine Affektlosigkeit. „Wenn man ihn vor diesem Hintergrund liest, wird deutlich, wie sehr der Tragödiensatz der Poetik von der Pragmatik der Äußerungsform her eine direkte Replik auf Platon ist.“82 Für Aristoteles liegt die Wirkung der µι µησις gerade in der Auslösung dieser Affekte, die eng mit der κα θαρσις verbunden sind. Durch die Aufsprengung des engen Zusammenhangs von µι µησις und ποιητικη bei bleibender Verweisung, greift er über die Tragödienkomposition hinaus und nimmt implizit das Vorher und Nachher des kreativen Akts in den Blick. Dementsprechend ist die µι µησις nicht als rein intellektueller Akt zu verstehen83, sondern als allum78

Vgl. pol. X 597a–599b. Vgl. S, A, Mimesis bei Platon, in: Gertrud Koch/Martin Vöhler/Christiane Voss (Hg.), Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, 231–254, 241. 80 Vgl. pol. X 596d–e. 81 Vgl. Tim. 30b–31a. 82 K, J, Verschwiegene Illusion, 9 f. 83 Vgl. G, L, Mimesis and Katharsis, 145. 79

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6. Die Trias von µυÄ θος, µι µησις und κα θαρσις

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fassende Erhellung menschlicher Existenz. Diese Deutung hängt eng an dem Verständnis der κα θαρσις, die im Folgenden eingehender beleuchtet wird.84

6.3 κα θαρσις Mit dem Begriff der κα θαρσις kommt die Frage nach dem Verhältnis des hermeneutischen Dreigespanns (mimetisch-tätiger Mensch – Erzählung – rezipierende Person) in voller Größe ans Licht. Mit der κα θαρσις spitzt sich in gewisser Weise die Frage nach der Reichweite der aristotelischen ποιητικη zu. Rückzufragen ist von dieser Zuspitzung dann wiederum zur allgemeinen Reichweite von µι µησις und µυÄ θος. Grundsätzlich bestimmt die κα θαρσις die µι µησις in ihrer Funktion.85 Das Verwunderliche ist, dass sich der Begriff κα θαρσις in der Poetik nur ein einziges Mal findet.86 Dies hat in der Exegese des Werkes für verschiedenste Deutungsansätze und deren Korrekturen gesorgt. So hält schon Goethe, im Hinblick auf einen Kulminationspunkt in der aristotelischen Poetik, den er in Poet. 1449b24–27 erblickt hat, fest: Ein jeder, der sich einigermaßen um die Theorie der Dichtkunst überhaupt, besonders aber der Tragödie bekümmert hat, wird sich einer Stelle des Aristoteles erinnern, welche den Auslegern viel Noth machte, ohne daß sie sich über ihre Bedeutung völlig hätten verständigen können. In der nähern Bezeichnung der Tragödie nämlich scheint der große Mann von ihr zu verlangen, daß sie durch Darstellung Mitleid und Furcht erregender Handlungen und Ereignisse von den genannten Leidenschaften das Gemüth des Zuschauers reinigen solle.87

Es bleibt zu fragen, wie man sich die „Reinigung“ des Gemüts vorzustellen hat. Von Reinigung lässt sich eigentlich nur sinnvoll sprechen, wenn man von einer Verunreinigung ausgeht.88 Sodann stellt sich die Frage, ob die Reinigung nicht zu

84 Der explizite Grund dafür, dass Aristoteles nicht verdeutlicht, inwieweit die Nachahmung diese Erhellung vollzieht, bleibt verborgen. „Why not, therefore, a more elaborate interpretation? The answer to this question is, I believe, a simple one. Aristotle’s main concern here is to establish a biological-anthropological explanation of the phenomenon of mimesis.“ (T, S, Mimesis and Understanding: An Interpretation of Aristotle’s Poetics 4. 1448b4–19, The Classical Quarterly, New Series 55/2 [2005], 435–446, 445). Dieser Plausibilisierungsversuch liegt auf der herausgearbeiteten Stellung der µι µησις in der Poetik. Entgegen der abwertenden Verwendung beispielsweise bei Platon beschreibt Aristoteles – wie gesehen – die µι µησις als Grundkonstante menschlichen Daseins und rückt sie ins Zentrum anthropologischer Überlegungen. 85 Vgl. D, R, Zum Problem und Begriff der Katharsis bei Aristoteles, in: Martin Vöhler/Bernd Seidensticker (Hg.), Katharsisrezeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund des Tragödienansatzes, Berlin/New York 2007, 245–259, 259. 86 Vgl. Poet. 1449b28. 87 G, J W , Nachlese zu Aristoteles’ Poetik (WA I. 41.2), Weimar 1903, 247–251, 247. 88 Vgl. R, C, Aristoteles über das Wesen und die Wirkung der Tragödie

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

einem Nullsummenspiel wird, wenn die evozierten Emotionen wieder abgeführt werden.89 Es ist sonderbar, dass Aristoteles, der an einer genauen Darstellung des Handwerks der Dichtkunst und ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein interessiert ist, das Moment der κα θαρσις nicht weiter ausführt und es somit opak bleibt. Auch wenn sich die Fragen durch exegetische Einsichten nicht zufriedenstellend beantworten lassen,90 lässt sich eine Minimalbestimmung vornehmen, die sich aus dem Gesamtzusammenhang der Poetik ergibt.91 Wie immer man die κα θαρσις einordnen mag, kommt damit strukturell die rezipierende Person in den Blick. Durch die κα θαρσις wird die µι µησις in ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein wahrgenommen. Mit der κα θαρσις tritt die Frage nach der Wirkung der µι µησις, die Frage nach der Bedeutung der Tragödie für das menschliche Dasein auf den Plan. Es bietet sich an, die κα θαρσις nicht nur im Sinne einer „ästhetischen Erfahrung“92 zu verstehen, sondern in ihr ein der µι µησις inhärentes Moment der Wirkung auf die rezipierende Person zu sehen: Special mention should be made of the fact, that in the Poetics passage under discussion, Aristotle approaches the phenomenon of mimesis less from the creator’s perspective, and more from that of the spectator. He indirectly formulates a very important observation, namely that the spectator’s intellect also participates in the process of mimesis.93

So ist die Uneindeutigkeit des Begriffs zu wahren, die allerdings keinesfalls nur als Schwäche zu werten ist. Vielmehr unterstreicht die κα θαρσις die grundsätzliche Wertschätzung der Dichtkunst.94 Sie lässt den Menschen im Ganzen als „mimetisches Wesen“95 erscheinen. Denn das menschliche Dasein ist nicht nur auf Nachahmung als eigene Tätigkeit angewiesen, sondern auch auf das Rezipieren – darauf zielt die Rede von der κα θαρσις. Somit ergänzt die aristotelische κα θαρσις die Rede von µι µησις und µυÄ θος um ein essenzielles Strukturmoment, das gleichzeitig Raum für Anschlussüberlegungen bietet, die über das aristotelische Verständnis hinausgehen.

(Kap. 6), in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles: Poetik, Klassiker Auslegen (Bd. 38), Berlin 2009, 87–104, 89. 89 Vgl. K, J, Verschwiegene Illusion, 11. 90 Vgl. D, R, Zum Problem und Begriff der Katharsis bei Aristoteles, 245. 91 Vgl. a.a.O., 246. 92 D, R, Zum Problem und Begriff der Katharsis bei Aristoteles, 254. 93 T, S, Mimesis and Understanding, 444. 94 Vgl. K, J, Verschwiegene Illusion, 1. 95 T, S, Mimesis and Understanding, 435.

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7. Fazit

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7. Fazit Durch eingehende Relektüre der aristotelischen Poetik, ist die herausragende Bedeutung der µι µησις für das menschliche Verstehen deutlich geworden. Denn über das platonische Verständnis hinausgehend, sieht Aristoteles in der µι µησις eine freie, kreative Tätigkeit des Menschen.96 Des Weiteren geben seine Ausführungen Aufschluss über die enge Verwobenheit von mimetischer Tätigkeit und menschlichem Dasein. So spricht er vom Genuss, den das menschliche Dasein empfinde, wenn es in „die Welten des Narrativen“97 eintauche. Aus seinen Ausführungen zur Tragödienkomposition ist die µι µησις als anthropologische Grundkonstante abzuleiten.98 Der Begriff kann als Gesamtüberschrift für die Poetik angesehen werden. Er dient gleichsam als Programmbegriff zum einen für die Dichtung,99 zum anderen – und das viel pionierhafter – für die Beschreibung des Motors menschlicher Existenz. Nachahmend erschließe sich das menschliche Dasein die Wirklichkeit.100 Über Aristoteles hinausgehend lässt sich mithilfe des Dreigespanns von µι µησις, µυÄ θος und κα θαρσις die Verwiesenheit des menschlichen Daseins auf Narrationen im Allgemeinen ausweiten.101 In ihnen zeigt sich die Wirklichkeit für verschiedene Menschen auf unterschiedliche Weise. Wenn auch nicht absichtlich, so wird doch unabsichtlich die Wirklichkeit mithilfe der µι µησις verändert.102 So lässt sich erstens aus dem Begriff der µι µησις die grund-

96 Vgl. T, W, Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, 390. 97 F, I V, Literarische Fiktion und fiktionale Gefühle, in: Gertrud Koch/Martin Vöhler/Christiane Voss (Hg.), Die Mimesis und ihre Künste, München 2010, 91–108, 108. 98 Vgl. T, S, Mimesis and Understanding, 445. 99 „For the starts the Poetics with this, that Poetry is mimesis, and all the way trough the little book that word is constantly recurring to signify the nature of poetry or other art or the funktion and work of the poet or other artist.“ (T, W F., Mimesis in Aristotle’s Poetics, in: Her. 23/48 [1933], 1–24, 1). 100 „Analysis showed that Aristotle defined all of the varieties of poetry as forms of mimesis and that he indicates that the importance of mimesis for man is that it involves a learning experience and that the chief pleasure which man derives from mimesis is the pleasure of learning. We remember that learning for Aristotle involves a movement from the particular to the universal and that it reaches its climax in an insight or inference. That poetry is a learning experience in this sense is confirmed for us in chapter 9 of the Poetics, where we are told that poetry is ‘more significant’ than history because it aims at the universal while history is concerned with the particular.“ (G, L, Mimesis and Katharsis, 146). 101 Vgl. K, J, Verschwiegene Illusion, 3. 102 „Die Alten waren sich dessen bewußt, daß wir die Wirklichkeit selbst dann, wenn wir sie nicht absichtlich verändern, unabsichtlich verändern; unsere Augen verändern, deformieren das, was wir sehen. Wir sehen einen Menschen anders aus der Nähe und anders aus der Ferne, anders im Sonnenschein und anders im Schatten, und doch kann er nicht gleichzeitig so und anders sein.“ (T, W, Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, 436).

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Kapitel II: Selbstverstehen und Wirklichkeitsverstehen

sätzlich hermeneutische Struktur menschlichen Daseins ableiten. Das Dasein ist sowohl als mimetisch-schaffendes als auch als mimetisch-rezipierendes zu verstehen. Die µι µησις ist in ihrem Vollzug verwiesen auf Möglichkeiten menschlichen Daseins, die sie kreativ veranschaulicht. Dabei ist die µι µησις nicht als limitierte Nachahmung der Wirklichkeit anzusehen, sondern als lebendig-anschauliche Vergegenwärtigung des in unmittelbar sinnlicher Gegenwart Wahrgenommenen und Empfundenen beziehungsweise als Vergegenwärtigung von etwas nie Wahrgenommenem, allein der dichterischen Erfindung Entsprungenem, als stehe es unmittelbar vor Augen.103

Zweitens bietet der µυÄ θος dem menschlichen Dasein einen möglichen Raum an, in dem und vor dem es sich verstehen kann. Die in ihm verarbeiteten Möglichkeiten menschlichen Daseins sind „Form[en] der Wirklichkeit“104. Drittens zielt die Rede von der κα θαρσις darauf ab, dass das Rezipieren von Narrationen Auswirkungen auf das Subjekt im Hinblick auf das Selbst- und Weltverstehen hat und nicht in reinem Genuss aufgeht. Die weitreichenden Einsichten aus der Relektüre werden von Ricœur produktiv für seine Hermeneutik aufgenommen und verarbeitet. Dies geschieht allerdings unter anderen Vorzeichen. Ricœur geht es um den Zusammenhang von Zeit und Erzählung, wohingegen die soeben vorgenommene Relektüre den Zusammenhang von Wirklichkeits- und Selbstverstehen in den Vordergrund rückt. Aus dieser Lektüre ist für die weitere Untersuchung vor allem die Wertschätzung des Dreigespanns von µι µησις, µυÄ θος und κα θαρσις von Bedeutung. Aus der Poetik lässt sich die Wertschätzung der Narration ablesen, die als Verstehensraum menschlichen Daseins begriffen werden kann. In dieser funktionalen Bestimmung ist das Potential für eine produktive Aufnahme des Narrationsbegriffs für das bultmannsche Kerygma zu sehen, in dem der Zusammenhang von Wirklichkeits- und Selbstverstehen aufgenommen ist.

103 104

S, A, Aristoteles, Poetik, 55. A.a.O., 202.

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Kapitel III

Selbstverstehen und Narrationsverstehen – die „Hermeneutik des Selbst“ bei Paul Ricœur In dieser Hinsicht beherrscht die Subjektivität des Lesers den Sinn des Textes nicht mehr als die des Autors. Die semantische Autonomie des Textes ist hier wie dort gleich. Sich verstehen bedeutet für den Leser, sich vor dem Text zu verstehen und von ihm die Bedingungen des Auftauchens eines Selbst zu empfangen, das vom Ich verschieden ist und das von der Lektüre hervorgebracht wird.1

1. Einführung Ricœurs Werk zeichnet sich als ein Großprojekt mit unterschiedlichen Baustellen aus. So lassen sich verschiedene Themengebiete identifizieren, die sich um die Elaboration einer „Hermeneutik des Selbst“2 gruppieren lassen. Den Weg dazu bahnt sich Ricœur mit seinen frühen Arbeiten zu Husserl und Freud. Diese Zusammenhänge aufzuzeigen ist zwar eine lohnende, aber für die Untersuchung nicht zielführende Aufgabe. Dennoch wird es unabdingbar sein, immer wieder auch auf Einsichten seiner frühen Schaffensphase zurückzugreifen, um zu einem tieferen Verständnis seiner Konzeption zu gelangen. Von besonderem Interesse ist dabei der Weg von seiner Metapherntheorie zur Narrationstheorie. In beiden Konzeptionen geht es Ricœur zunächst um „das Phänomen der semantischen Innovation“3. Beide Ansätze folgen stringent den Erkenntnissen aus seiner Symbolik des Bösen. Das Symbol verstelle weder den Zugang zur Erkenntnis noch verschleiere es den Sinn. Vielmehr gebe es zu denken.4 Ricœur geht es nicht um die Auflösung des Symbols im Denken.5 Vielmehr nimmt er die Sprachform als solche ernst und sucht nach den Sinnpotentialen in eben diesen sprachlichen Ausdrücken. Eine hermeneutische Reflexion auf die Symbole hält Ricœur für unab-

1 R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 3–78, 54. 2 R, P, Das Selbst als ein Anderer, übers. v. Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München 22005, 26 f., passim. 3 R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 38. 4 Vgl. R, P, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, aus dem Französischen v. Maria Otto, Freiburg/München 42018, 396 f. 5 Vgl. a.a.O., 396.

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

dingar, da das Symbol einen Verstehensprozess aufseiten des verstehenden Daseins selbst initiiere: „Symbol gibt zu denken.“6 An diesem programmatischen Satz zeigt sich Ricœurs hermeneutisches Interesse, das sich als konfliktreich beschreiben lässt. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei hermeneutischen Anliegen: Auf der einen Seite steht die hermeneutische Linie, die den Sinn von Texten aus Kausalzusammenhängen erklärt, auf der anderen Seite erkennt Ricœur das legitime Interesse einer Binnenperspektive, die das Anliegen des Textes als eigenständige Größe starkmacht.7 Schon an der frühen Untersuchung zum Symbol arbeitet sich Ricœur an den Konfliktlinien ab. Diese lassen sich auch unter einer „Hermeneutik des Vertrauens“, die den Texten Bedeutung verleiht und einen Sinn annimmt, und einer „Hermeneutik des Verdachts“8, die einen solchen Sinn infrage stellt, fassen. Der Hermeneutik des Vertrauens gehe es um „Wiederherstellung des vollen Sinns“9, der Hermeneutik des Verdachts – im Hintergrund stehen Freud, Marx, Nietzsche – um „Illusionsabbau“10. Zur intensiven Beschäftigung mit der Hermeneutik kommt Ricœur, weil er im Zusammenhang mit seiner Symboltheorie erkennt, dass es keine direkte Sprache für eine Phänomenologie der Schuld gibt, sondern es einer Analyse der „Sprache der Symbole“ bedürfe.11 Im Zusammenhang mit dem linguistic turn sieht sich Ricœur in der Pflicht, die Trias von Symbol, Metapher und Narration als Gegenstände der Hermeneutik zu plausibilisieren.12 Ricœur fragt nach der Reichweite sprachimmanenter Erklärungen.13 In der Unterscheidung von „Sinn“ und „Referenz“ als das „Was“ und „Worüber“ lässt sich die Stoßrichtung Ricœurs schon erahnen. Es geht ihm vor allem darum, die Eigenständigkeit der sprachlichen Formen – vom Symbol über die Metapher bis zur Narration – in ihren Auswirkungen auf die Rezipierenden herauszuarbeiten. Die Referenz liege nicht im Text selbst und sei somit auch nicht ostensiv:

6

Ebd. Vgl. T, G, Das Verschwinden des hermeneutischen Konflikts. Zur Rezeption von Paul Ricœur in der deutschsprachigen theologischen Hermeneutik, in: EvTh 73/4 (2013), 258–272, 260. 8 R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 31. 9 R, P, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1974, 68. 10 Ebd. 11 Vgl. R, P, Symbolik des Bösen, 185. 12 Vgl. O, S, Von der Anthropologie der Fehlbarkeit zur Hermeneutik des Selbst. Stationen auf dem Denkweg von Paul Ricœur, in: Ders./Peter Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, 15–36, 25. 13 „Schließlich schien mir das Plädoyer für das Sein-wie als Korrelat des Sehens-als – gerade als Grenzfall – der strukturalistischen These par excellence Einhalt zu gebieten, nach welcher die Sprache, indem sie nur immanente Relation zuläßt, kein Außen haben soll.“ (R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 41). 7

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1. Einführung

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Das Gedicht, der Aufsatz, das fiktionale Werk sprechen von Dingen, Ereignissen, Zuständen von Dingen, Charakteren, die genannt werden, aber nicht da sind. Und dennoch handeln literarische Texte von etwas. Wovon? Ich zögere nicht zu sagen: von einer Welt, welche die Welt dieses Werkes ist. Weit davon entfernt zu behaupten, daß der Text dann ohne Welt ist, sage ich, daß der Mensch jetzt erst eine Welt hat und nicht nur eine Situation, eine Welt [dt. im Original] und nicht nur eine Umwelt [dt. im Original].14

In seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung versucht Ricœur, seine Einsichten aus Die lebendige Metapher auf die Erzählung auszuweiten,15 jedoch unter besonderer Berücksichtigung der Zeitlichkeit. Seine eingehende These lautet sodann: „[D]ie Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“16 Um eben diesen Konnex von Zeit und Erzählung geht es Ricœur. Wenn die Zeit erst durch die narrative Vermittlung zur menschlichen – und somit erfahrbar – wird, dann muss zunächst gezeigt werden, dass der Versuch einer „direkten“ Zeitphilosophie in eine Aporie führt. Drei Problemkreise weist Ricœur explizit aus: Zunächst verdecke die kosmologische Zeitmessung immer die phänomenologischen Zeitaspekte. Sodann sieht er sich vor das Problem gestellt, die Zeit in ihrer Ganzheit zu denken, und schließlich werde die Zeit immer schon erlitten, sodass eine objektive Zeitbetrachtung ausgeschlossen sei. Diese drei Anfragen werden allerdings erst dann zu eben diesen, wenn man die Zeit nicht lediglich als Abfolge von „Jetzten“ beschreibt. Um diesen Problemzusammenhang zu bearbeiten, bringt Ricœur die Theorie der Zeit Augustins aus dem elften Buch der Confessiones mit der Theorie der Fabel des Aristoteles ins Gespräch. Diese kreative Verknüpfung ist dem eigenen Ansatz Ricœurs geschuldet: „Eine der durchgehenden Thesen dieses Buches ist es, daß die Spekulation über

14 R, P, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 109–134, 127. 15 Dazu ist die eigene Bestimmung des Verhältnisses der beiden Werke im Vorwort zum ersten Band von Zeit und Erzählung interessant: „Die lebendige Metapher und Zeit und Erzählung gehören zusammen. […] Bei der Metapher besteht die Innovation in der Erzeugung einer neuen semantischen Pertinenz durch eine ,impertinente‘ Attribution […]. Lebendig bleibt die Metapher so lange, wie wir durch die neue semantische Pertinenz hindurch – sozusagen in ihrer Tiefendimension – den Widerstand der Worte nach ihrem gewöhnlichen Gebrauch, also auch ihre Unvereinbarkeit auf der Ebene einer wörtlichen Interpretation des Satzes verspüren. […] Bei der Erzählung besteht die semantische Innovation in der Erfindung einer Fabel, die ebenfalls ein Werk der Synthesis ist: durch die Fabel werden Ziele, Ursachen und Zufälle zur zeitlichen Einheit einer vollständigen und umfassenden Handlung versammelt. Diese Synthesis des Heterogenen ist es, die die Erzählung in die Nähe der Metapher bringt. In beiden Fällen kommt Neues – noch Ungesagtes, Unerhörtes – zur Sprache“. (R, P, Zeit und Erzählung I. Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen v. Rainer Rochlitz, München 22007, 7). 16 R, P, Zeit und Erzählung I, 13.

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

die Zeit eine nichtabschließende Grübelei ist, auf die nur das Erzählen eine Antwort gibt.“17 Ricœurs hermeneutische Arbeiten liegen in zeitlicher Nähe zur „Narrativen Theologie“. Dieser Begriff erscheint in den 1970er Jahren in der deutschsprachigen Theologie und geht zurück auf zwei Aufsätze, die in der Zeitschrift Concilium veröffentlicht wurden. Harald Weinreich und Johann Baptist Metz sind die Autoren, auf die sich bis heute bezogen wird. Unter diesem weiten Begriff vereinen sich verschiedene linguistische und narrative Theorien und Ansätze.18 Nicht zuletzt die Kürze der Aufsätze wie die allgemeine Diagnose einer Frontstellung von Theologie als Geschichtswissenschaft und Erzählung sorgen für die Unschärfe des Konzepts. Es geht Weinreich und Metz zunächst darum, das Erzählen als legitimen Modus der Theologie zu etablieren und deutlich zu machen, dass der Glaube angemessen zu fassen sei, wenn man Erzählzusammenhänge aktualisiere und sie im Horizont heutiger Verhältnisse interpretiere.19 In zweifacher Hinsicht rücken sie die Erzählung als Thema der Theologie in den Fokus: Zum einen geht es um die Aufgabe der Theologie, selbst zu erzählen.20 Zum anderen wird die Aufgabe der Theologie in der kritischen Auseinandersetzung mit Erzählungen gesehen, die wiederum zum kompetenten Erzählen anleiten soll.21 Ricœur geht auf beide Autoren ein und äußert seine Vorbehalte: Zum einen befürchtet er eine Dominanz der Erzählung gegenüber anderer literarischer Gattungen. Zum anderen sieht er den Zusammenhang von Metapher und Erzählung unterbelichtet.22 Ricœurs Ansatz lässt sich im Zusammenhang der Narrativen Theologie als eine Weiterführung der Hauptgedanken lesen. Ricœur bietet sich als Gesprächs-

17

A.a.O., 17. Vgl. T, B, Die narrative Theologie als Meta-Narratologie. Narrative Theologie: Zum Potential eines interdisziplinären Dialogs, in: Neohelicon: acta comparationis litterarum universarum. Tomus XLI (2014), 97–109, 97. 19 Vgl. M, J B, Kleine Apologie des Erzählens, in: Concilium 9 (1973), 334–341. 20 Vgl. W, H, Narrative Theologie, in: Concilium 9 (1973), 329–334, 329. 21 Vgl. M, J B, Kleine Apologie des Erzählens, 334. 22 Vgl. R, P, D’un testament a` l’autre, in: Lectures 3. Aux frontie`res de la philosophie, Paris 1994, 355–366, 363. Der Ansatz von Weinreich und Metz ist durch das „StoryKonzept“ Dietrich Ritschls kritisiert worden (s. R, D, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984). Statt von „Erzählung“ oder „Geschichte“ spricht er von „Story“: „Ein Mensch ist das, was man zu und über ihn sagt und was er selbst über sich erzählen kann und was er daraus mit seinem Leben macht.“ (a.a.O., 45). Ritschl geht von der narrativen Verfasstheit des Menschen aus. Die Story bei Ritschl weist eine Multiperspektivität von Erfahrungsschätzen auf, an dem der Einzelne oder die Gemeinschaft partizipiere. (vgl. a.a.O., 59). Ritschl kritisiert Weinreich und Metz, da er Theologie als „regulativ, nicht narrativ“ versteht. (vgl. a.a.O., 51). Denn alleinige Fokussierung auf das Geschichtenerzählen „würde einen Verzicht auf differenzierte Begriffe bedeuten. Aber ohne Begriffe gibt es keine Theoriebildung, und ohne sie keine Weltbewältigung und ethische Bewährung.“ (ebd.). 18

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1. Einführung

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partner für die Aufweitung des Kerygmas an, da er die enge Verquickung von Zeit- und Wirklichkeitsverstehen über den Umweg verdeutlicht und sich dadurch die Begegnung mit dem Kerygma strukturell beschreiben lässt. Den Anfragen, die an die Narrative Theologie gestellt wurden, entgegnet er implizit mit seiner Narrationstheorie. Durch sie gewinnt der Begriff der Erzählung in seiner Bedeutung für ein sich verstehendes Selbst an Kontur. Dieser Ansatz lässt sich sodann auf die Frage nach dem Zusammenhang von Selbstverstehen und Verstandensein im anhand des christologischen Kerygmas ausweiten. Aus seinen Einsichten aus Zeit und Erzählung ergeben sich weitreichende Implikationen für die Frage nach dem Konnex von Narration und Selbst. Über die Erzählung könne nicht nur das Phänomen der Zeit menschlich erfahrbar gemacht werden,23 sie biete dem Dasein auch eine Welt an, die es bewohnen könne.24 Für Ricœur bleibt das Selbst immer auf den Umweg der Interpretation angewiesen.25 Denn das Selbst ist für ihn nicht einfach gegeben, sondern vom Sein umschlossen und sprachlich verfasst.26 Diese frühe Grundüberzeugung gab den Anstoß für Ricœurs Arbeiten zu Symbol, Metapher und letztlich Erzählung: Indem ich von einem Umweg über die Symbolik sprach, stellte ich eine Husserl und Descartes gemeinsame Voraussetzung infrage, nämlich die der Unmittelbarkeit, der Transparenz und der Apodiktizität des Cogito. Das Subjekt, so behaupte ich, erkennt sich nicht unmittelbar selbst, sondern nur durch die Zeichen hindurch, die von den großen Kulturen in seinem Gedächtnis und seinem Imaginären hinterlegt wurden. Diese Opazität des Cogito betraf im Prinzip nicht nur die Erfahrung des bösen Willens, sondern das ganze intentionale Leben des Subjekts.27

Hier verbindet sich das beschriebene hermeneutische Ansatz mit seinem subjektphilosophischen Interesse. Eine Unmittelbarkeit des Bewusstseins bestreitet Ricœur. Durch unmittelbare Reflexion könne nicht von einem konkreten Selbst gesprochen werden, eine Selbsttransparenz lehnt er ab und geht damit über das freudsche Diktum, „das Ich [sei] nicht Herr [...] in seinem eigenen Haus“28, hinaus.29 Der direkte Weg zur Selbsterkenntnis sei versperrt. „Das gebrochene Cogito“30 (le Cogito brise´) sei immer schon durch sein In-der-Welt-Sein ausgezeichnet und bedürfe daher eines Umweges zur Selbstauslegung. Das Bewusst23

Vgl. R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 57 f. Vgl. R, P, Gott nennen, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 153–182, 177. 25 Vgl. beispielsweise R, P, Narrative Identität, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 209–225, 222. 26 Vgl. M, J, Ricœur zur Einführung, Hamburg 1996, 184. 27 R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 23. 28 F, S, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Ders., Gesammelte Werke (Bd. XII), Werke aus den Jahren 1917–1920, hg. v. Anna Freud (u.a.), London 41972, 3–12, 11. 29 Vgl. A, E, Geschichte und Identität, Berlin/New York 1985, 211 f. 30 R, P, Das Selbst als ein Anderer, 21. 24

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

sein sei nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben.31 Dabei ist Ricœurs Umweg als einzig gangbarer Weg anzusehen, da es ihm zufolge keine andere Möglichkeit gibt, sich selbst zu verstehen.32 Die angenommene Gewissheit des Bewusstseins stelle keine inhaltliche Erkenntnis dar, es gibt „keine Erleuchtung des ego, kein Licht der Apperzeption“33. Das Selbst muss dadurch erst auf dem Umweg der Hermeneutik gewonnen werden. Nun sieht Ricœur in der Erzählung einen herausragenden Umweg und die Möglichkeit einer Selbstvergegenwärtigung und -vergewisserung gegeben.34 Vor der Narration habe das Selbst ein Selbstverständnis zu entwickeln.35 Das gelinge, da durch die Erzählung die Wirklichkeit neu beschrieben und durch die Textwelt eine „bewohnbare Welt“36 entworfen werde. Diesen Entwurf einer solchen Welt, mithilfe sich das Selbst gewinne, führt Ricœur im Wesentlichen auf seine Ausführungen zur Mimesis zurück. Daher liegt der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung auf der MimesisKonzeption Ricœurs. An diese ausführliche Darstellung schließt sich eine pointierte Betrachtung seiner Hermeneutik an, die sich auf die Einsichten der dreifachen Mimesis zurückführen lässt. Abschließend wird die „Hermeneutik des Selbst“ anhand der „narrativen Identität“37 verdeutlicht. Hier zeigt sich in besonderer Weise die enge Verquickung von Narrations- und Selbstverstehen.

2. Die dreifache Mimesis Mit der Hinwendung zur Mimesis trifft Ricœur grundlegend den Kern seiner Studie, indem er seine These, daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird38 31

Vgl. R, P, Die Interpretation, 57. Vgl. G, J, Von Gadamer zu Ricœur. Kann man von einer gemeinsamen Auffassung von Hermeneutik sprechen?, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur (DZPh 24), Berlin 2010, 61–76, 70. 33 R, P, Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion (II), in: Ders., Hermeneutik und Psychoanalyse, München 1974, 196–216, 209. 34 Vgl. A E, Geschichte und Identität, Berlin/New York 1985, 36–40. 35 Vgl. R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, mit einer Einführung von Pierre Gisel, München 1974, 24–45, 33. 36 Vgl. R, P, Die lebendige Metapher, übers. v. Rainer Rochlitz, München 3 2004, 156; D., Gott nennen, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 153–182, 177 sowie D., Philosophische und theologische Hermeneutik, 32. 37 R, P, Narrative Identität, 209. 38 R, P, Zeit und Erzählung I, 87. 32

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2. Die dreifache Mimesis

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auf die Probe stellt. Ricœur resümiert, dass die Ausführungen zur Aporie der Zeiterfahrung Augustins und die Analyse der aristotelischen Fabelkomposition noch unverbunden nebeneinander stünden, dass bei Augustin die Erzählung keine Rolle spiele und sich bei Aristoteles keine Reflexion der Zeitlichkeit ausfindig machen lasse.39 Dies solle sich – und das ist schon an der Kapitelüberschrift „Zeit und Erzählung“40 abzulesen – nun ändern. Die Vermittlung von Zeit und Erzählung sieht Ricœur in der Mimesis gegeben, die er in drei Momente aufteilt. Er ist der Überzeugung, durch das Ausleuchten der Beziehung dreier mimetischer Momente auf die Spur der Vermittlung zwischen Zeit und Erzählung zu kommen: Indem ich das Verhältnis zwischen den drei mimetischen Modi konstruiere, konstituiere ich die Vermittlung zwischen Zeit und Erzählung. Diese Vermittlung selbst durchläuft drei Phasen der mime˜sis. Oder, um es anders zu sagen, ich muß zur Auflösung des Problems, das durch das Verhältnis von Zeit und Erzählung aufgegeben wird, die Vermittlerrolle der Fabelkomposition zwischen einer ihr vorhergehenden Stufe der praktischen Erfahrung und einer ihr nachfolgenden Stufe bestimmen. In diesem Sinne besteht die Absicht des Buches darin, die Vermittlung zwischen Zeit und Erzählung zu konstruieren, indem die Vermittlerrolle der Fabelkomposition im mimetischen Prozeß nachgewiesen wird.41

Nach Ricœur macht die Fabelkomposition mit ihren dynamischen Stufen der Mimesis die Zeit durch ihre narrative Gestaltung zur menschlichen. Somit verdeutlicht er, dass es ihm nicht um die Zeitlichkeit der mimetischen Tätigkeit selbst geht, sondern um die prä-, re- und konfigurierte Zeit innerhalb dieser Gestaltungsdynamik:42 Meine Absicht ist es, sie [sc. die zeitlichen Aspekte] aus dem Akt der Textkonfigurierung auszuschließen und die Vermittlerrolle dieser Zeit der Fabelkomposition zwischen den im praktischen Bereich präfigurierten zeitlichen Aspekten und der Refigurierung oder Neugestaltung unserer zeitlichen Existenz durch diese konstruierte Zeit zu zeigen. Wir gehen somit dem Schicksal einer präfigurierten Zeit bis hin zur refigurierten Zeit durch die Vermittlung einer konfigurierten Zeit nach.43

Ricœur räumt sogleich ein, dass diesem Konzept eine Zirkelhaftigkeit anmutet, will jedoch den Erweis erbringen, „daß der Zirkel etwas anderes sein kann als eine tote Tautologie.“44 Es wird zu zeigen sein, inwiefern es ihm gelingt, diese „gesunde“ Zirkelhaftigkeit zu plausibilisieren.

39

Vgl. ebd. „Die Konstruktion der Vermittlung, die ich vorschlagen werde, trägt absichtlich den gleichen Titel wie das gesamte Buch: Zeit und Erzählung“ (ebd.). 41 A.a.O., 89. 42 Vgl. ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 40

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

2.1 Mimesis I – das „Vorher“ des Textes Ricœur sieht die Erzählung45 im Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt. Sinnstrukturen, symbolische Ressourcen und zeitliche Strukturen werden als eben diese Verwurzelung vorausgesetzt. Die mimetische Tätigkeit der Narration fuße auf pränarrativen Strukturen, die in der Welt der Handlungen zu finden seien. Die Ausführungen, die Ricœur hier in Bezug auf diese pränarrativen Strukturen präsentiert, führen – in vereinzelt verdeckter Weise – eine weitere, vorgelagerte Kompetenz mit, die sich als Handlungsidentifikation beschreiben lässt: Wer Handlungen und Handlungszusammenhänge erzählerisch nachahmen möchte, der müsse zunächst in der Lage sein, Handlungen als solche zu erkennen. Hier schwingt also implizit schon immer die Perspektive der mimetisch tätig werdenden Person mit, die sich für die Komposition der Erzählung verantwortlich zeige. Die Kompetenz der mimetischen Tätigkeit ist nach Ricœur auf drei Ebenen zu finden, anders gesagt, die Fähigkeit zur Handlungsnachahmung besteht aus drei Wurzeln, die er im Einzelnen vorstellt: die strukturelle, semantische Verwurzelung, die symbolische Verwurzelung und die zeitliche Verwurzelung einer Handlung. Fluchtpunkt der folgenden Darstellung ist es, auf übergeordneter Ebene zu zeigen, inwieweit eine Handlungsnachahmung im narrativen Kontext auf Voraussetzungen aufbaut, die sie selbst nicht geschaffen hat, auf die sie angewiesen ist und immer angewiesen bleiben wird. Diese drei Voraussetzungen bedingen und durchdringen sich gegenseitig. Es geht Ricœur also um das detektorische Aufzeigen der „Verankerung der narrativen Komposition im praktischen Verstehen“46. Der Ausleuchtung der Einsicht dieser Rückbindung sind die folgenden Ausführungen gewidmet. 2.1.1 Die strukturellen Merkmale einer Handlung Die strukturellen Merkmale einer Handlung bezeichnet Ricœur auch als die „Semantik der Handlung“47. Damit ist nichts anderes gemeint als die sinnvolle Verwendung von Begriffen, derer es bedarf, um Handlungen beschreiben zu können. Es geht Ricœur um die Basisvoraussetzung, die Beherrschung der Handlungsmerkmale, die für den Akt der Fabelproduktion unabdingbar seien. Er spricht vom „Begriffsnetz“48, um zu verdeutlichen, dass diese Fähigkeit nicht nur das

45 Ricœur spricht von „Fabelkomposition“ und versteht unter dem Begriff wiederum die aristotelische Rede vom µυÄ θος. Im Folgenden werden die Begriffe „Narration“, „Erzählung“, „Fabel“ sowie „Fabelkomposition“ weitestgehend synonym gebraucht, da sie alle auf den aristotelischen µυÄ θος – verstanden als Komposition, die sich aus mimetischer Tätigkeit ergibt – rückbezogen sind. Ricœur selbst versteht den Begriff des µυÄ θος als auf das gesamte Feld des Narrativen ausgedehnt (vgl. R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 63). 46 R, P, Zeit und Erzählung I, 94. 47 A.a.O., 90. 48 Ebd.

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2. Die dreifache Mimesis

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lexikalische Wissen bezüglich eines Begriffsrepertoires umfasse, sondern darüber hinaus die Kompetenz, die Beziehungen der einzelnen Begriffe zueinander und deren Verwendung zu verstehen. Dabei legt er besonderen Wert auf die Unterscheidung des Begriffsnetzes der physikalischen Bewegungen auf der einen und des Begriffsnetzes der Handlungen auf der anderen Seite: Letzteres sei wesentlich komplexer, umfassen Handlungen doch Ziele und Motive, aus denen sich bestimmte Taten ableiten lassen, wohingegen die Beschreibung physikalischer Prozesse monokausaler und linearer sei.49 Darüber hinaus lasse sich bei Handlungen immer ein agierendes Subjekt ausfindig machen, das für die bestimmten Handlungen zur Verantwortung gezogen werden könne.50 Handeln heißt sodann auch immer, zum einen unter gewissen kontingenten Umständen und zum anderen dies mit anderen respektive gegen andere zu agieren.51 Diese Anreicherungen, die das Begriffsnetz der Handlung im Gegensatz zu dem der physikalischen Bewegungen mehr als komplex erscheinen lassen, stehen für Ricœur in einem dynamischen Zusammenhang.52 Die Kompetenz, das Begriffsnetz zu verwenden, nennt er das „praktische Verstehen“, das er nun in Beziehung zum „narrativen Verstehen“ setzen möchte.53 Diese Beziehung der beiden Verstehensmodi lasse sich auf zwei Ebenen beschreiben. So sei zum einen das narrative Verstehen auf das praktische Verstehen angewiesen, da es letztendlich in Erzählungen immer um Handlungen gehe und das in aktiver und passiver Form: „Thema aller Erzählungen ist letztlich das Handeln und das Leiden.“54 So steht für Ricœur fest, dass man eine Erzählung nicht verstehen könne, wenn man nicht in irgendeiner Form ein praktisches Verstehen ausgebildet habe. Diese Erkenntnis ist implizit schon in der vorangegangenen Analyse enthalten. Auf der anderen Seite – und das geht über die bisherige Erörterung hinaus – überlagere das narrative Verstehen das praktische auf syntagmatischer Ebene.55 Ricœur verweist an dieser Stelle auf den diachronen Charakter einer erzählten Geschichte und die damit verbundene „Vertrautheit mit den Kompositionsregeln“56, die über voneinander getrennte Handlungslinien und -zusammenhänge hinausgreifen und für den Zusammenhang der Fabel sorgen. Diese beiden Beziehungsebenen zusammenfassend hält er fest:

49

Vgl. a.a.O., 90 f. Vgl. a.a.O., 91. 51 Vgl. ebd. 52 Ricœur veranschaulicht dieses komplexe Beziehungsgewebe wie folgt: „Kurz, diese Begriffe oder andere, damit verwandte tauchen in Antworten auf Fragen auf, die nach Fragen über das ,Was‘, das ,Warum‘, das ,Wer‘, das ,Wie‘, das ,Mit wem‘ oder ,Gegen wen‘ der Handlung eingeteilt werden können.“ (ebd.). 53 A.a.O., 92. 54 Ebd. 55 Vgl. ebd. 56 A.a.O., 93. 50

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

In diesem Sinne bildet die zweifache Beziehung zwischen Regeln der Fabelkomposition und Handlungsbegriffen eine Beziehung der Voraussetzung und zugleich der Verwandlung. Eine Geschichte verstehen heißt, zugleich die Sprache des ,Tuns‘ und die kulturelle Überlieferung zu verstehen, auf der die Typologie der Fabel beruht.57

Dies ist die erste Wurzel der Fabelkomposition auf dem Feld der Handlungen. Nun könnte man meinen, dass diese Voraussetzung genüge, um mimetisch tätig zu werden, Handlungen nachzuahmen und eine Fabel zu komponieren. Die Kompetenz, das Begriffsnetz rund um das Handeln zu beherrschen, reiche jedoch nicht aus, um eine Geschichte zu erzählen, da Handlungen in Reinform nicht zugänglich, sondern „immer schon symbolisch vermittelt“58. 2.1.2 Die symbolischen Merkmale einer Handlung Von diesen ersten semantischen Merkmalen der Handlungen, hebt Ricœur deren symbolische Einbettung ab. Den Symbolbegriff lehnt Ricœur eng an das Symbolverständnis Ernst Cassirers und auch Clifford Geertzs an.59 Folgerichtig versteht Ricœur als Symbole öffentliche, kulturelle Formen, die Handlungen als bedeutungsaufgeladen und interpretationswürdig erscheinen lassen.60 Über die semantische Einebnung von Handlungen hinaus, die sich – im Gegensatz zu der einfacher physikalischer Bewegungen – durch Motive, Ziele und intersubjektive Reize auszeichnet, verdeutlicht Ricœur an dieser Stelle, dass Handlungen symbolisch eingebettet seien. Ihnen gehe eine gewisse symbolische Struktur voraus, die dafür sorge, dass Handlungen in einem rudimentären Stadium lesbar seien – für die Gruppe, die das Symbolsystem teile.61 Ricœur betont an dieser Stelle, dass es sich um ein Symbolsystem handle, das er auch als „Symbolnetz der Kultur“62 bezeichnet. Als Symbolik versteht er ein System, in dem eine Vielzahl von unterschiedlichen Handlungen implizit mitschwinge. Symbole lieferten dementsprechend einen „Beschreibungskontext für besondere Handlungen“63, die dann wiederum in unterschiedlichen Kontexten von unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich gedeutet werden könnten: Mit anderen Worten, wir können eine bestimmte Geste als dies oder das bedeutend erst ,im Verhältnis zu ...‘ interpretieren: die gleiche Geste des Armhebens läßt sich je nach dem Kontext als eine Form des Grüßens, als Ruf nach einem Taxi oder als Stimmabgabe verstehen. Bevor die Symbole der Interpretation unterzogen werden, sind die Symbole handlungsinterne Interpretanten.64

57

Ebd. A.a.O., 94. 59 Vgl. a.a.O., 94 f. 60 Vgl. a.a.O., 95. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. 58

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2. Die dreifache Mimesis

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Symbole liefern somit eine erste Form der Lesbarkeit, Ricœur spricht von „eine[r] Vorform der Lesbarkeit“65. Sie führen zur Bedeutung der Handlung. Ricœur lässt den Symbolen die Funktion von Interpretanten angedeihen. Dementsprechend kann er die Handlung auch als einen „Quasi-Text“66 bezeichnen: Symbole lieferten als Interpretanten bestimmte „Bedeutungsregeln“67, die die Interpretation einer bestimmten Geste beziehungsweise Handlung ermöglichten. Eben in diesem Sinne garantierten Symbole eine erste Lesbarkeit. Über diese Vorform der Lesbarkeit komme allerdings nur hinaus, wer mit dem Symbolsystem vertraut sei beziehungsweise anhand dieser Vorformen die Einzelhandlungen identifizieren könne. Ein Subjekt, das mit dem Symbolsystem nicht vertraut ist, werde nicht in der Lage sein, die Bedeutung der Handlung zu erfassen, genauer gesagt – dem vorgestellten Beispiel treu bleibend – die „Geste [des Armhebens] als dies oder das“68 zu deuten. Eben diese Deutungskompetenz und die damit verbundene Vertrautheit mit dem Symbolsystem zeigt Ricœur als zweite Verwurzelung des Narrativen im Praktischen auf. Darüber hinaus merkt er an, dass Symbole nicht nur als Interpretanten bestimmte Regeln lieferten, nach denen Handlungen interpretiert würden, sondern dass durch das Symbolsystem auch gewisse Normen eingeführt würden. Im Grunde genommen ist das die zweite Seite derselben Medaille: Wenn sich bestimmte Intrepretanten kulturell etabliert haben, dann gelten diese wiederum rückwirkend als Norm für bestimmte Handlungen. Um das dargestellte Beispiel noch einmal zu Rate zu ziehen: Man hebt den Arm, wenn man ein Taxi ruft oder grüßt, nicht aber das Bein. Das Beinheben müsste sich erst gesellschaftlich etablieren und öffentlich anerkannt beziehungsweise als eben ein Interpretant für die dahinterstehende Bedeutung verstanden werden. Ricœur zeigt somit die dynamische und gleichsam zirkulierende Bewegung der symbolischen Vermittlung auf: „von der Idee der immanenten Bedeutung zu derjenigen der Regel im Sinne der Beschreibungsregel, dann zu derjenigen der Norm, die der Regel im präskriptiven Sinne des Wortes entspricht.“69 Abschließend reißt Ricœur eine Dimension der symbolischen Vermittlung an, die später noch von Bedeutung sein wird. In Bezug auf die etablierten Normen der symbolischen Vermittlung könnten zunächst Handlungen, infolgedessen aber auch Handlungsträger bewertet werden.70 Ricœur sieht die ethischen Implikationen in einer Handlung angelegt, die sich dann auf das handelnde Subjekt ausweiteten. Ethische Qualitäten würden nicht erst durch die mimetische Tätigkeit, durch die Komposition einer Fabel geschaffen, sondern seien immer schon implizit in den Handlungen enthalten und würden außerdem immer schon bewertet: 65

Ebd. A.a.O., 96. 67 Ebd. 68 A.a.O., 95. 69 A.a.O., 96. 70 Vgl. ebd. 66

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

Es gibt keine Handlungen, die nicht, in wie geringem Maße auch immer, Billigung oder Mißbilligung im Verhältnis zu einer Werthierarchie hervorriefen, deren Pole Güte und Bosheit sind.71

Ricœur präsentiert die Frage nach der Möglichkeit einer ethisch-neutralen Lektüre sowie einer ethisch-neutralen Fabelkomposition, die er zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen wird. Wichtig scheint ihm an dieser Stelle lediglich zu sein, in aller Bestimmtheit festzuhalten, dass die Poetik stets in einem engen Verhältnis zur Ethik stehe, gerade weil Handlungen ethisch nie neutral seien, worauf unter anderem die hervorgehobene symbolische Vermittlung der Handlung hinweise.72 2.1.3 Die zeitlichen Merkmale einer Handlung Die Verwurzelung des Narrativen im Praktischen ist mit der Kenntnis des Begriffsnetzes sowie der symbolischen Vermittlung noch nicht erschöpfend beschrieben. Für Ricœur kommt eine weitere Dimension ins Spiel, die gleichsam im Zentrum der Gesamtuntersuchung liegt: Das Verständnis der Handlung in Bezug auf diese beiden Momente wird um das der Zeitlichkeit ergänzt.73 Dabei handelt es sich nicht um eine formale Ergänzung, die zur triadischen Form beiträgt (semantische, symbolische, zeitliche Verwurzelung). Mit der Elaboration der behaupteten zeitlichen Verwurzelung hebt Ricœur auf eine andere Qualität jener ab. Die zeitliche Verwurzelung bildet bei Ricœur die tiefreichende Pfahlwurzel zu den etwas oberflächlicheren Thauwurzeln. Ging es Ricœur zuvor um die reine Beschreibung der Anleihen des Narrativen und die damit verbundene Kompetenz des mimetisch-tätigen Subjekts, so rückt er an dieser Stelle die Welt der Handlung und die des Erzählens noch enger aneinander, wenn er die Zeitlichkeit betont: „[Ein umfängliches] Verständnis einer Handlung […] erkennt sogar in der Handlung Zeitstrukturen, die zum Erzählen herausfordern.“74 Die Zeitlichkeit provoziere das Erzählen. Ricœur stützt seine Feststellung auf die Beobachtung der alltäglichen Sprache, in der Zeiterfahrungen artikuliert würden.75 Die enge Verzahnung von Handlung und Zeitlichkeit erkennt er zudem am agierenden Subjekt. Handlungen trügen auf einer ersten Ebene immer Aspekte von Zeitlichkeit in sich, da sie um ein Vorher und Nachher der Aktion wüssten. Dies werde auf narrativer Ebene durch Aussagen wie „das ,Ich kann‘, das ,Ich tue‘ und das ,Ich 71

A.a.O., 97. Vgl. a.a.O., 97 f. 73 Vgl. a.a.O., 98. 74 Ebd. 75 Dies wird anhand der Zielbestimmung des Kapitels deutlich, wenn Ricœur festhält: „Ich werde jedoch die Analyse dieser zeitlichen Kennzeichen der Handlung bis zu dem Punkt treiben, an dem man von einer narrativen Struktur oder zumindest von einer pränarrativen Struktur der Zeiterfahrung sprechen dürfte, wie es uns von unserer umgangssprachlichen Rede von Geschichten, die uns passieren, Geschichten, in die wir verwickelt sind, oder einfach von der Geschichte eines Lebens nahegelegt wird.“ (a.a.O., 96). 72

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leide‘ offensichtlich“76. Doch ist für Ricœur diese offensichtliche Korrelation nicht die entscheidende. Ihn interessiert vielmehr das dynamische Changieren der Handlung innerhalb der Zeitdimensionen.77 Damit bringt er das Verhältnis von Narration und zeitlicher Verwurzelung einer Handlung noch einmal anders in Anschlag: War in den bisherigen Ausführungen vor allem die Rückkopplung der Welt der Erzählung an die Welt der Handlung von Belang, so wird beim Thema der Zeitlichkeit die Erörterungsstruktur umgekehrt, wenn Ricœur behauptet: „Die dissonant-konsonante Struktur der Zeit im Sinne von Augustin entfaltet auf der Ebene des reflexiven Denkens einige paradoxe Züge, von denen eine Phänomenologie der Handlung tatsächlich eine erste Skizze entwerfen kann.“78 Genau diese Erkenntnis macht den qualitativen Unterschied zu den zuvor dargestellten Verwurzelungen aus: Die Handlung trage nicht nur implizite Züge der Zeitlichkeit, sondern eine Phänomenologie der Handlung könne darüber hinaus in rudimentärer Form das augustinische Paradox beschreiben, genauer gesagt, es noch einmal in anderem Licht erscheinen lassen. Mit der Formulierung der dreifachen Gegenwart lasse sich sodann die ursprüngliche zeitliche Struktur der Handlung ergründen.79 Dies verdeutlicht Ricœur, indem er stringenterweise die dreifache Gegenwart mit den Zeitstrukturen der Handlung in Verbindung bringt: Was heißt Gegenwart der Zukunft? Daß ich mich von nun an, also schon jetzt dazu verpflichte, dies morgen zu tun. Was heißt Gegenwart der Vergangenheit? Daß ich jetzt die Absicht habe, dies zu tun, weil ich gerade eben gedacht habe, daß … Was heißt Gegenwart der Gegenwart? Daß ich jetzt dies tue, weil ich es jetzt tun kann: die tatsächliche Gegenwart des Tuns bezeugt die virtuelle Gegenwart des Tunkönnens und konstituiert sich zur Gegenwart der Gegenwart.80

Ricœur hält jedoch sogleich fest, dass er bei dieser einfachen Korrelation nicht stehen bleibe und beabsichtige, im Rekurs auf Heidegger, genauer zu beleuchten, wie sich die einzelnen Gegenwarten zueinander verhielten. Vor diesem Hintergrund ist das soeben angeführte Zitat lediglich als Übersetzung beziehungsweise Implementierung der Zeitstrukturen in die dreifache Gegenwart zu sehen, wobei es fortan um das Binnenverhältnis dieser Gegenwarten gehen soll. Ricœur verspricht sich von der Ausleuchtung dieses Beziehungsgeflechts die Aushebung einer, wie er sagt, „elementarste[n] Vorform der Erzählung.“81 Dazu wendet er sich der „Innerzeitigkeit“ zu, die er in Heideggers Sein und Zeit im zweiten Abschnitt findet.82 Jene ist in der Tat geeignet, um die vorangegangene Analyse qualitativ zu bereichern.

76

A.a.O., 98. Vgl. ebd. 78 A.a.O., 98 f. 79 Vgl. a.a.O., 99. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Vgl. a.a.O., 101. 77

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

Nach einer kurzen Einordnung des Begriffs in die Semantik von Sein und Zeit legt Ricœur noch einmal dezidiert Rechenschaft darüber ab, warum er sich gerade der Zeitstruktur der Innerzeitigkeit zuwenden möchte. Er sieht die Stärke darin, dass der Begriff eng an der alltäglichen Zeiterfahrung des Menschen bleibe, was zwei weitreichende Folgen habe: Zum einen lasse sich mit dem Begriff der Innerzeitigkeit die alltägliche gegen eine lineare Zeiterfahrung konturieren und zum anderen knüpfe das mimetisch tätige Subjekt genau an diesen Punkt an und halte das Ineinander der verschiedenen Zeitdimensionen in Spannung, die Narration setze diese ins Werk.83 Ricœur bleibt somit dem Gang seiner Analyse treu. Es geht ihm folglich auch hier um die Verwurzelung des Narrativen in der Welt der Handlung, den Voraussetzungen und um die Bedeutung der Narration für die Erfahrung des Menschen. Von einer tatsächlich erlebten Zeiterfahrung lasse sich nur sprechen, wenn diese der Gefahr der Isolation von Jetzt-Momenten ausweiche: Ich interessiere mich hier gerade wegen der Merkmale dafür, durch die sich diese Struktur von der linearen Zeitvorstellung unterscheidet und der Einebnung widersteht, die sie auf die Vorstellung reduzieren würde, die Heidegger die ,vulgäre‘ Zeitvorstellung nennt.84

Die Innerzeitigkeit sieht Ricœur durch ein Hauptmerkmal der „Sorge“ bei Heidegger charakterisiert, die wiederum einem Phänomen sehr nahe stehe, welches im gesamten Gang der Analyse von Bedeutung war – der Alltagssprache.85 Diese garantiere die Bedeutung der Beschreibung der Sorge, indem sie indirekt dafür bürge, dass die Beschreibung der Sorge sich eben nicht in „der Beschreibung der Dinge unserer Sorge“86 erübrige. Dies wird besonders an dem „existenzialen Jetzt“87 deutlich, das nicht in einem abstrakten Jetzt münde, sondern ein bedeutendes Gegenwärtiges meine.88 Ricœur bleibt in seinen weiteren, schemenhaften Ausführungen eng an den Inhalten von Sein und Zeit und räumt auf diesem Wege ein, dass es ein heikles Unterfangen sei, dieses Werk von den abschließenden Kapiteln her erschließen zu wollen.89 Um dem Aufbau von Zeit und Erzählung treu zu bleiben, soll die Analyse der Innerzeitigkeit als das angesehen werden, was sie für Ricœur ist – die Einführung der Einsicht, dass das Moment der Innerzeitigkeit, das für Heidegger

83 „Der Vorzug der Analyse Heideggers besteht Ricœur zufolge darin, daß sie an der alltäglichen Zeiterfahrung demonstriert, wie die lebendige Gegenwart handelnder Personen, in der sich ein ,Behalten‘ der Vergangenheit mit einem ,Gegenwärtigen‘ der Zukunft verbindet, einen Bruch mit der linearen Zeit im Sinne eines bloßen Nacheinander vollzieht.“ (B, A, Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte, München 2007, 114). 84 R, P, Zeit und Erzählung I, 101. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd. 87 A.a.O., 102. 88 Vgl. a.a.O., 102 f. 89 A.a.O., 100.

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auf das Dasein hinweist, das Dasein in gewisser Weise aufschließe, dass dieses Moment in der Narration produktiv aufgenommen und umgesetzt werde, die Narration das Moment der Innerzeitigkeit sogar scharfstelle: Die Beziehung zwischen dieser Analyse der Innerzeitigkeit und der Erzählung erscheint auf den ersten Blick als eine sehr entfernte; wie wir im Vierten Teil feststellen werden, scheint Heideggers Text dieser Beziehung sogar keinerlei Raum zu geben, da der Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Zeit in Sein und Zeit auf der Ebene der Geschichtlichkeit und nicht auf der der Innerzeitigkeit hergestellt wird. Der Vorteil der Analyse der Innerzeitigkeit liegt anderswo: in dem Bruch, den diese Analyse mit der linearen Zeitvorstellung im Sinne einer bloßen Abfolge von Jetzten vollzieht. Damit wird aufgrund des Primats der Sorge eine erste Schwelle der Zeitlichkeit überschritten. Indem man diese Schwelle anerkennt, schlägt man eine erste Brücke zwischen der Ordnung der Erzählung und der Sorge. Auf dem Sockel der Innerzeitigkeit erheben sich dann zusammen die narrativen Gebilde und die entwickelteren Formen der Zeitlichkeit, die ihnen entsprechen.90

So bricht die Analyse der Innerzeitigkeit mit der Vorstellung der vulgären Zeit, der Aufsplittung in Jetzt-Momente. Darüber hinaus versucht Ricœur, mit der produktiven Verquickung von Innerzeitigkeit und Narration die Bedeutung Letzterer zu betonen. Hier geht er deutlich über das bisherige Vorhaben, die Aufweisung der Verwurzelung der Narration in der Welt der Handlungen, hinaus. Die Narration liefere einerseits eine gewisse Ordnung, die die Dialektik der Zeitlichkeit in Spannung halte, und andererseits eine Art Struktur, die auf das Dasein hinweise und – in ricœurscher Semantik – auf das Selbst ziele.91 So findet sich hier schon – auf subtile Art eingeführt – eine produktive Umsetzung der einleitenden Hauptthese von Zeit und Erzählung, nach der die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.92

Mit dieser Notiz soll die inhaltliche Betrachtung der Mimesis I beendet werden. Bevor die Konfiguration der Erzählung, die Mimesis II, beleuchtet wird, sollen die Ergebnisse der Analyse der Mimesis I erneut festgehalten werden. Ricœur setzt am äußersten denkbaren Punkt an, indem er nach den Voraussetzungen für die mimetische Tätigkeit, der Fabelkomposition und somit den Verwurzelungen des Narrativen im Praktischen fragt. Thema letztlich jeder Narration sind nach Ricœur das Handeln und sein passives Gegenstück, das Leiden. Um eine Handlung nachzuahmen, müsse man zunächst in der Lage sein, sie „an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen“93 (strukturelles Merkmal einer Handlung). Daran anschließend verweist Ricœur auf die symbolische Vermittlung von Handlungen (symbolisches Merkmal einer Handlung): „Daß nämlich eine 90

A.a.O., 103. Die Bedeutung der Narration für das Selbst wird im weiteren Verlauf der Untersuchung an verschiedenen Stellen erneut aufgegriffen. 92 A.a.O., 87. 93 A.a.O., 90. 91

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Handlung erzählbar ist, beruht darauf, daß sie schon in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert: immer schon symbolisch vermittelt ist.“94 Sodann geht er auf die zeitlichen Dimensionen (zeitliches Merkmal einer Handlung) ein. Mit der Mimesis I tritt Ricœur in die Präfiguration der Fabelkomposition ein und beleuchtet die Voraussetzungen der Fabelproduktion: Wer erzählen will, greift immer schon zwangsläufig auf ein breites Repertoire an Kompetenzen zurück, ohne die man gar nicht in der Lage wäre, irgendetwas mimetisch umzusetzen. Ricœur beschreibt dies wie folgt: Damit wird der Sinn der mime˜sis I in seiner Vielschichtigkeit deutlich: eine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit. Von diesem Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist, löst sich die Fabelkomposition und damit die textuelle und literarische Mimesis ab.95

2.2 Mimesis II – das „Reich des Als ob“ Ricœur wendet sich nun dem Akt der Komposition oder Konfiguration der Fabel zu.96 Er spricht vom „Reich des Als ob“97, um die Frage nach dem Verhältnis von Realem und Imaginärem zu umgehen, für die er sich – im Zusammenhang von Geschichts- und Fiktionserzählung – im vierten Teil seiner Ausführungen Zeit nehmen wird. Durch dieses vorweggenommene Hier wird bereits deutlich, dass er das Verhältnis eingehend beleuchten möchte und es neu austarieren wird. An dieser Stelle klammert er also einen Problemzusammenhang aus, den er zu einem späteren Zeitpunkt wieder einholt. Sein Vorhaben – unter Ausschluss der entscheidenden Frage nach der Referenz – formuliert er sodann wie folgt: Diese Konfigurationstätigkeit will ich jetzt aus den einschränkenden Bedingungen herauslösen, denen der Begriff der Fabelkomposition bei Aristoteles aufgrund des Tragödienparadigmas unterliegt. Außerdem möchte ich dieses Modell durch eine Analyse der Zeitstrukturen vervollständigen.98

Ricœur möchte also zuerst die Konfigurationstätigkeit auf jegliche Art von Erzählungen ausweiten und sogleich um die präzise Analyse der Zeitstrukturen ergänzen. Durch die Ausweitung werde das aristotelische Modell keineswegs verabschiedet, sondern zu seiner eigentlichen Stärke erhoben.99 Den theoretischen Unterbau sollen „Theorien der Geschichte und der Fiktionserzählung“100 94

A.a.O., 94. Weiterhin bezeichnet Ricœur Handlungen als „Quasi-Text“ (a.a.O., 96). A.a.O., 103. 96 Ricœur weist darauf hin, dass er den Begriff „Akt des Konfigurierens“ von Louis O. Mink übernimmt, ihn aber über diesen hinausgehend auf das gesamte Spektrum der Narrativität ausgeweitet versteht (vgl. a.a.O., 107, Fn 17). 97 A.a.O., 104. 98 A.a.O., 105. 99 Vgl. ebd. 100 Ebd. 95

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liefern, die im weiteren Verlauf der Darstellung ausführlich erläutert werden. Die Mimesis II möchte Ricœur keineswegs lediglich als notwendiges Übel, im Sinne eines nötigen Elements zwischen dem Vorher und dem Nachher des Textes, verstanden wissen. Vielmehr misst er ihr eine Schlüsselstelle zu. Dies sei allerdings – und das gelte es immer wieder hervorzuheben – nicht eindimensional gefasst, sondern als dynamisches Element im Kompositionsvorgang zu sehen. Vehement kontrastiert Ricœur den Begriff „Fabelkomposition“ mit dem Begriff „Fabel“ und „Zusammensetzung“ gegen „System“.101 Die Aufwertung des Konfigurationsakts werde auch und gerade an solchen Einschüben deutlich. Bei mimetischer Tätigkeit gehe es nicht um ein reines Puzzeln verschiedener Bausteine in einem statischen Koordinatensystem, sondern um einen wahrhaft schöpferischen Akt, ein dynamisches Spielen mit Möglichkeiten. Der Begriff „Tätigkeit“ ist es, mit dem Ricœur die Mimesis bestimmt102 und somit den Prozess der Fabelkomposition lebendig und dynamisch macht. Dadurch erfahre das handelnde Subjekt neben dem dynamischen Prozess selbst eine enorme Wertschätzung.103 Die Mimesis II als Scharnier vermittelt nach Ricœur zwischen dem Vorher und dem Nachher des Textes auf drei unterschiedlichen Ebenen: Sie koordiniere zwischen individuellen Geschehnissen und einer Geschichte im Ganzen, bringe sodann heterogene Faktoren in einen Zusammenhang und vereine schließlich unterschiedliche Zeitmerkmale unter ihrem Schirm.104 In einem ersten Schritt sind diese Vermittlerrolle und ihre einzelnen Funktionen genauer zu betrachten. Ricœur wendet sich zunächst einer rein inhaltlichen Vermittlungsfunktion zu, fragt dementsprechend nach dem Stoff, aus dem eine Geschichte gestrickt ist. Dafür kontrastiert er den Einzelfall und das Ereignis. Eine Geschichte umfasse verschiedene Ereignisse – Ricœur spricht auch von Vorfällen –, die an sich schon mehrdimensionaler seien als ein Einzelfall, da sie einen gewissen Nutzen für den Fortgang einer Erzählung hätten.105 Nun sei eine Geschichte wiederum mehr als eine bloße Aufeinanderfolge von Ereignissen; vielmehr werde sie durch die Vermittlung zu einer „intelligiblen Totalität gestalte[t]“106. Schon hieran werden Ricœurs Interesse an der Mimesis II und seine Wertschätzung dieser deutlich. Sie schaffe tatsächlich erst eine Geschichte und sie komponiere die Fabel. Sie sei also nicht nur Nutznießerin der Mimesis I und setze die Erkenntnisse sowie erworbenen Fähigkeiten en passant um, sondern mit ihr sei eine wirkliche schöpferische 101

Ebd. Vgl. ebd. 103 „In der Tat bezeichnen alle auf diese Ebene bezogenen Begriffe Tätigkeiten. Diese Dynamik besteht darin, daß die Fabel schon in ihrem eigenen Textbereich eine Integrationsund in diesem Sinne eine Vermittlungsfunktion erfüllt, die es ihr erlaubt, auch außerhalb dieses Bereiches eine weitergehende Vermittlung zwischen dem Vor- und, wenn man so sagen darf, dem Nachverständnis der Handlungsordnung und ihrer Zeitcharakteristika zu bewirken.“ (ebd.). 104 A.a.O., 105 f. 105 Vgl. a.a.O., 105 f. 106 A.a.O., 106. 102

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Tätigkeit verbunden. „[Sie] ist der Vorgang, der aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration macht [Hervorhebung v. B.K.].“107 Zu dieser grundlegenden Tätigkeit gesellt sich eine weitere: Im Kompositionsakt würden in sich selbst „so heterogene Faktoren wie Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete Resultate usw.“108 vermittelt und zu einem schlüssigen Gesamtbild gefügt. Ricœur verweist auf Aristoteles, der in seiner Theorie diesen austarierenden Charakter schon vorwegnehme, indem er die Tragödie in verschiedene Bereiche unterteile.109 Den für ihn an dieser Stelle relevanten Teil überschreibe Aristoteles mit dem Titel des „Was“110, also den nachzuahmenden Inhalten (s. Zitat oben). Ricœur beruft sich auf Aristoteles, um die Ausweitung des aristotelischen Tragödienkonzepts und somit zugleich die seiner eigenen Mimesis II zu legitimieren. In der Aufnahme in sich heterogener Faktoren und Elemente bei Aristoteles, die in der Fabel in und unter Spannung gehalten würden, erkennt Ricœur eine Gleichsetzung von Fabel und Konfiguration, die er als „dissonante Konsonanz“111 bezeichnet. In der Poetik des Aristoteles sieht er die Vermittlungsfunktion der Fabel – und somit seine Mimesis II – angelegt. An dieser Stelle wird also noch einmal auf eindrückliche Weise greifbar, was Ricœur von Aristoteles übernimmt und sich von ihm verspricht. Die eingehende Relektüre der Poetik führt ihn unter anderem zu diesem Hauptpunkt seiner Argumentation, der „dissonanten Konsonanz“: Darin besteht letztlich die Vermittlungsfunktion der Fabel. Wir haben das im vorigen Abschnitt vorweggenommen, indem wir sagten, daß die Erzählung alle Elemente, die in dem paradigmatischen Bild der Handlungssemantik vorkommen können, in einer syntagmatischen Ordnung zur Erscheinung bringt. Dieser Übergang vom Paradigmatischen zum Syntagmatischen ist gerade der Schritt zwischen mime˜sis I und mime˜sis II. Er ist das Werk der Konfigurationstätigkeit.112

Wieder an prominent letzter Stelle führt Ricœur eine dritte Vermittlungsfunktion der Fabel an, die der Zeitlichkeit. So wie die dissonante Konsonanz für das „Was“ der schöpferischen Nachahmung in der Fabel stehe, erkennt Ricœur in der Vermittlungsfunktion der Fabel „eine Vermittlung [… der] eigenen Zeitmerkmale“113, sodass er folgerichtig „die Fabel eine Synthesis des Heterogenen nennen“114 kann.115 Zwar habe Aristoteles diese Merkmale nicht betrachtet, doch seien sie

107

Ebd. Ebd. 109 Vgl. ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Mit Begriffen wie „dissonante Konsonanz“ und „Synthesis des Heterogenen“ bildet Ricœur das schöpferische In-Spannung-Halten der Mimesis II sprachlich geschickt ab und versucht so, auf eindrückliche Weise, zu verhindern, die Mimesis II lediglich als Durchgang 108

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implizit in dem dynamischen Konfigurationsakt enthalten.116 Erst durch diese Ausgrabung der zeitlichen Dimension des Konfigurationsaktes komme die dissonante Konsonanz zur vollen Geltung.117 Als Zwischenfazit, im Hinblick auf die drei ausgeführten Vermittlungsfunktionen, hält Ricœur für die Mimesis II grundsätzlich fest: „In dieser Hinsicht darf man von dem Vorgang der Fabelkomposition sagen, daß er das augustinische Paradox der Zeit widerspiegelt und daß er ihn nicht spekulativ[,] aber poetisch auflöst.“118 Unter diesem Gesichtspunkt „antwortet“ Aristoteles gewissermaßen auf die Zeitaporie des Augustin, allerdings ohne es selbst zu wissen. Liegt das augustinische Zeitproblem nach Ricœur auch für diesen offen, so habe Aristoteles die Tragweite seiner Poetik selbst nicht erkannt. Es ist genau diese kreative Verknüpfung der beiden Ansätze, die Zeit und Erzählung für das Vorgehen dieser Arbeit so interessant werden lässt. Die Widerspieglung des Zeitparadoxes sieht Ricœur zweidimensional (chronologisch und nichtchronologisch).119 Diese poetische Darstellung der Zeitaporie überlagere die ersten drei Vermittlungsakte, da sie über allen dreien zum Tragen komme. Die chronologische Widerspieglung erkennt Ricœur in der „episodischen Dimension der Erzählung“120. Eine Geschichte wird charakterisiert „als aus Ereignissen bestehend“121. Man könnte hier auch von einer einfachen konfigurierenden Funktion sprechen, wohingegen die nichtchronologische Dimension zum Tragen komme, indem die Fabel bestimmte Ereignisse tatsächlich zu einer Geschichte mache, das heißt „die Einheit einer zeitlichen Totalität“122 schaffe. Ricœur sieht diesen ganzheitlichen Akt auf einer Linie mit dem „Urteilsakt im Sinne Kants“123, den er als Unterstellung von Pluralität und Verschiedenheit unter einen Begriff fassen kann, als „Synthesis des Heterogenen“. Allerdings – das wird Ricœur nicht müde zu betonen – gehe die Poiesis darüber hinaus: Die poie˜sis reflektiert jedoch nicht einfach das Paradox der Zeitlichkeit. Indem sie die beiden Pole des Ereignisses und der Geschichte miteinander vermittelt, gibt die Fabelkomposition dem Paradox eine Lösung, die in dem dichterischen Akt selbst besteht. Dieser Akt, von dem wir eben sagten, daß er einer zeitlichen Abfolge einer Figur abgewinnt, zeigt sich dem Hörer oder Leser in der Nachvollziehbarkeit der Geschichte.124

zur Mimesis III zu sehen und somit ihre Funktion massiv unterzubestimmen, quasi gewaltsam zu untergraben. 116 Vgl. a.a.O., 106 f. 117 Vgl. a.a.O., 107. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd. Ricœur weist darauf hin, dass er den Begriff „followability“ von W. B. Gallie, Philosophy and the Historical Understanding, New York 1964, übernimmt (vgl. ebd., Fn 19).

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Nach Ricœur ist die Poiesis nicht nur die Reflexion des Zeitparadoxes, sondern auch eine Lösung dessen. Dabei kommt der Nachvollziehbarkeit eine besondere Rolle zu, da sie unter anderem auch für die Totalität der Erzählung verantwortlich gemacht werden kann. Vollziehe man eine Geschichte nach und mit, dann sehe man in kontingenten Ereignissen eine auf einen Schluss zulaufende und somit zu ihrer Vollendung kommende Geschichte.125 Dieser Schluss sei aber nicht ein – alltäglich gesprochen – einfach notwendiger, der sich wiederum aus der banalen, chronologischen Abfolge von Episoden ergebe – weil sie von der nichtchronologischen Dimension überlagert ist –, sondern ein solcher, von dem aus die Geschichte in ihrer Gesamtheit wahrnehmbar und somit als Geschichte verstehbar sei:126 Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß. Diese Nachvollziehbarkeit der Geschichte bildet die dichterische Lösung des Paradoxes von distentio und intentio. Die Nachvollziehbarkeit der Geschichte verwandelt das Paradox in lebendige Dialektik.127

Diese Behauptung Ricœurs findet ihre Bestätigung in den Andeutungen und Skizzierungen des vorher Ausgeführten. Doch strengt sich Ricœur zum Ende der Ausführungen zur Mimesis II an, diese groben Schneisen breiter zu schlagen. Die Erläuterungen sind eng an das Vorherige gekoppelt, spitzen einige Einsichten allerdings pointiert zu. Inwieweit also steht die Nachvollziehbarkeit für „die Lösung des Paradoxes von distentio und intentio“128 und inwiefern ist diese Lösung als Verwandlung „in [eine] lebendige Dialektik“129 zu verstehen? Das Episodenhafte der Geschichte verbürge die Nähe der narrativen Zeit zur linearen.130 Dies lasse sich an verschiedenen Charakteristika ausmachen: Die einzelnen Akte der Handlung seien in der Frage nach „und dann?“ aufeinander bezogen, die sich wiederum zu einer endlosen Verkettung von Ereignissen ausweiten lasse.131 Damit befänden sich die Episoden in Kongruenz „mit der unumkehrbaren Ordnung der Zeit, die den physikalischen und den menschlichen Ereignissen gemeinsam ist.“132 Nun kommt der dialektische Charakter zum Vorschein, wenn Ricœur die diametralen Dimensionen aufzeigt, die das lineare Verständnis im wahrsten Sinne durch-brächen. Er fasst diese als „konfigurierende Dimension“ (im Gegensatz zur „linearen Dimension“) zusammen.133 Wie schon

125

Vgl. a.a.O., 108. Vgl. ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. ebd. 132 Ebd. 133 Man kann sich der Vermutung nicht verwehren, dass ihn diese erste Dimension mehr 126

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bemerkt schaffe der konfigurierende Akt die Totalität einer Geschichte und garantiere somit die Nachvollziehbarkeit.134 Ricœur geht nun einen Schritt weiter, da er davon spricht, dass dieser Akt dafür sorge, dass man die Geschichte in einen Gedanken überführen könne,135 der allerdings nicht als zeitentrückt anzusehen sei.136 Vielleicht zur Verdeutlichung spricht er nun auch von der Nachvollziehbarkeit als „Mitvollziehbarkeit“, die die Totalität garantiere.137 Dies kann als Reaktion auf die narrative Zeit verstanden werden, die zwischen den beiden Dimensionen vermittle.138 Die Konfiguration durchbreche die lineare Dimension des Weiteren, indem sie der unendlichen Abfolge einen Schlusspunkt setze. Doch schiebt Ricœur diesen Schlusspunkt nun über die Abgeschlossenheit der Fabel hinaus und geht bei genauerem Hinsehen somit auch über die Mimesis II hinaus, beziehungsweise verwischt ihre Grenzen. Zunächst soll die Argumentation nachvollzogen werden. Ricœur setzt das Ende, das die Totalität verbürge, weiter nach hinten und hält fest: Wir können jetzt hinzufügen, daß diese Strukturfunktion der Abgeschlossenheit eher im Akt des Weitererzählens als in dem des Erzählens erkennbar ist. Sobald eine Geschichte bekannt ist […], heißt eine Geschichte nachvollziehen, nicht die Überraschungen oder Entdeckungen in die Erkenntnis des Sinnes einzuschließen, der der Geschichte als einem Ganzen zukommt, als vielmehr die Episoden selbst, die wohlbekannt sind, als zu diesem Ende führend zu erfassen.139

Zunächst wird er hier dem Umstand gerecht, dass Erzählungen zu einem bestimmten Grad immer Fortschreibungen oder Nacherzählungen sind, was sie aber in keiner Weise als ungeschaffen oder uninnovativ degradiert. Denn auch in ihnen kommt der mimetische Prozess zum Tragen. Doch folgt man der dichten Argumentation weiter, so rückt ein anderer Punkt in den Blick, den Ricœur zurückhaltend anbindet. An das oben genannte Zitat schließt er direkt an: Diese Art des Verstehens bringt eine neue Zeitqualität hervor. Schließlich bildet die Wiederaufnahme der erzählten Geschichte, die als Totalität durch die Art ihres Abschlusses bestimmt wird, eine Alternative zu der Vorstellung der Zeit als eines Flusses von der Vergangenheit in die Zukunft […]. Es ist, als drehte die erinnernde Sammlung die sogenannte ,natürliche‘ Zeit um. Indem wir das Ende im Anfang und den Anfang im Ende lesen, lernen wir es auch, die Zeit selbst gegen den Strich zu lesen, nämlich als Rekapitulation der Ausgangsbedingungen eines Handlungsverlaufs in seinen letzten Konsequenzen. Kurz,

interessiert, da sie durch den kreativen, dynamisch-schöpferischen Akt zum Tragen kommt. Auch hier wird die Betonung der Mimesis II greifbar, indem Ricœur die heterogene Dynamik nicht in die Mimesis I verlagert, sondern explizit an dieser Stelle thematisiert. Damit betont er erneut, dass der konfigurierende Akt eine schöpferische Tätigkeit sei, die wirklich kreiere. 134 Vgl. ebd. 135 Vgl. ebd. 136 Vgl. ebd. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. ebd. 139 A.a.O., 109.

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der Akt des Erzählens, der sich in dem Akt des Mitvollziehens einer Geschichte spiegelt, macht jene Paradoxe produktiv, die Augustinus so stark beunruhigten, daß sie ihn zum Schweigen zurückführten.140

Zweierlei ist an dieser Stelle bemerkenswert: zum einen die Auslotung der Grenzen der Mimesis II, respektive der Reichweite ihrer Implikationen, die sich aus der Schlüsselstelle zwischen Mimesis I und III ergeben; zum anderen die eigentümliche Überlagerung zweier Zeitebenen141, der der Geschichte selbst und der des dadurch gegebenen Nach- beziehungsweise gleichbedeutend Mitvollzugs. Beide Beobachtungen scheinen eng zusammenzuhängen. Da Ricœur den „Akt des Erzählens“142 als „in dem Akt des Mitvollziehens“143 gespiegelt sieht, gewinnt man den Eindruck, dass sich Mimesis II und III ineinander spiegeln und in Bezug auf die funktionelle Ebene überlagern. Was der Mimesis II – der Konfiguration – das Erzählen ist, ist somit der Mimesis III – der Refiguration – das Mitvollziehen. Gleichzeitig – und das ist das Schillernde an dieser Textpassage – halten sowohl Konfiguration als auch Refiguration das Paradox in Spannung, „mach[en] jene Paradoxe produktiv“144. Durch die Betonung des Weitererzählens bleiben diese Überlegungen gerade noch am Rand der Mimesis II, wobei der Übergang zur Mimesis III nicht deutlich markiert wird. Es ist also festzuhalten, dass es sich bei der dreifachen Mimesis um einen Kunstgriff handelt, um die vielschichtige Dynamik der Fabelkomposition etwas greifbarer zu machen. Dies wird an eben dieser Stelle deutlich. Dieser eindrücklichen sowie genauen Ausleuchtung des Teilscharniers von Mimesis II zu Mimesis III fügt Ricœur zwei weitere Punkte hinzu, die die Anschlussstelle charakterisieren sollen, sich aber in bestimmter Weise von den vorher angeführten Charakteristika der Mimesis II abheben: Augenfälliger als die beiden vorgenannten erfordern diese beiden Merkmale zu ihrer Neubelebung die Hilfe des Lesens. Es handelt sich um die Schematisierung und den Traditionscharakter, die für den konfigurierenden Akt kennzeichnend sind und beide ein spezifisches Verhältnis zur Zeit haben.145

Erneut beruft sich Ricœur auf Kant und zeigt eine Verbindung vom bereits erwähnten konfigurierenden Akt, das heißt der Schaffung einer Totalität, „mit der Arbeit der produktiven Einbildungskraft“146. Diese bilde eine „regelgenerierende Matrix“147. Ricœur spricht auch von einer ihr eigenen „synthetische[n] Funk-

140

Ebd. Es ist hier von Zeitebenen die Rede, um einer Verwechslung mit den von Ricœur vorgestellten zwei Typen von Zeitdimensionen vorzubeugen. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 A.a.O., 110. 141

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tion“148, um wiederum hervorzuheben, dass es sich um eine komplexe Tätigkeit handle. Sie kann im Hinblick auf das Lesen, also schon im Rahmen der Mimesis III, als Pendant zur Fabelkomposition verstanden werden. In beiden Fällen geht es erneut um die Synthesis des Heterogenen, die Ricœur am Herzen liegt. Hier kommt nun aber ein neuer Begriff ins Spiel, der diese von Erzählung zu Erzählung individuelle Synthesis auf ein weitläufiges Plateau stellen soll, der „Schematismus“149. Die Genese dieses eher allgemeinen Begriffs sieht Ricœur „in einer Geschichte, die alle Kennzeichen einer Tradition aufweist“150. Seiner Linie treubleibend definiert er eben diese als „lebendige Weitervermittlung einer Neuschöpfung“151 und zeichnet auf diese Weise in die Dichotomie von Erzählung und Zeit eine neue Ebene ein. Sedimentierung und Tradition stellen ein Wechselspiel dar, dem kaum Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Dies trifft auch auf die Genese der Tradition zu. Produktive mimetische Tätigkeit trifft hier auf Sedimentierung. Diese definiert Ricœur folgendermaßen: Mit der Sedimentierung […] muß man die Paradigmen in Zusammenhang bringen, die die Typologie der Fabelkomposition konstituieren. Diese Paradigmen gehen aus einer sedimentierten Geschichte hervor, deren Genese unkenntlich geworden ist.152

Eben diese vielschichtige Sedimentierung findet Ricœur schon in der Rede von den „Paradigmen“ bei Aristoteles. Auf verschiedenen Ebenen ließen sich bei diesem feingliedrige Unterkategorien ausmachen, mit denen er die Fabel in ihrer vielfältigen Gestalt definiere, die sich so von anderen erzählerischen Gattungen unterscheide.153 So ließen sich mit der Sedimentierung anhand einer rein strukturellen, äußeren Form bestimmte Gattungsbegriffe, wie Mythos und Tragödie, fassen, die dann wiederum als Grundlage für die Weiterentwicklung der Literatur gelten könnten.154 Doch geht Ricœur noch einen Schritt weiter, wenn er festhält, dass auch einzelne Werke im Sinne Aristoteles’ als paradigmatisch qualifiziert werden könnten.155 Diese dargestellten Paradigmen, die selbst in einem schöpferisch-tätigen Prozess über eine gewisse Zeit entstanden sind und somit selbst einer Genese, die nun erst unkenntlich geworden ist, unterliegen, stecken das Feld für weitere mimetische Tätigkeiten ab. Doch wird das Feld über die Zeit nicht

148

Ebd. Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Vgl. a.a.O., 111. 154 Vgl. ebd. 155 Zu diesem Punkt hält er abschließend fest: „So wurde die narrative Tradition nicht nur durch die Sedimentierung der Form der dissonanten Konkordanz und durch die der tragischen Gattung […] geprägt, sondern auch durch die der Typen, die in nächster Nähe der Einzelwerke entstanden. Faßt man Form, Gattung und Typus unter dem Titel des Paradigmas zusammen, so wird man sagen, daß die Paradigmen aus der Arbeit der produktiven Einbildungskraft auf diesen verschiedenen Stufen entstehen.“ (ebd.). 149

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zwangsläufig immer kleiner. Ricœur hat ein sehr lebendiges Traditionsverständnis. Tradition sei keine Einbahnstraße und der Sedimentierungsvorgang verlaufe nicht wie Vorgänge in einer Sickergrube. Vielmehr sei dieses Geschehen offen für neue Entwicklungen, die auch den teilweise zähen Traditionsbestand aufweichen könnten.156 Ricœur bleibt folglich auch seinem Urkonzept, der lebendigen Mimesis, treu, wenn er Folgendes festhält: Was den Gegenpol der Tradition, die Innovation angeht, so ist ihr Stellenwert korrelativ zu dem der Sedimentierung. Raum für Innovation ist immer gegeben, soweit das, was letztlich in der poie˜sis des Gedichtes hervorgebracht wird, immer ein Einzelwerk, dieses bestimmte Werk ist. Darum bilden die Paradigmen nur die Grammatik, die der Gestaltung neuer Werke als Regel dient, und neu sind sie, solange sie noch nicht typisch sind. Wie die Grammatik einer Sprache die Generierung wohlgeformter Sätze regelt, deren Zahl und Inhalt unvorhersehbar sind, so ist ein Kunstwerk – ein Gedicht, ein Drama, ein Roman – eine originelle Schöpfung, eine neue Existenz im Reich der Sprache. Das Umgekehrte gilt jedoch ebenso: [D]ie Innovation bleibt ein regelbestimmtes Verhalten: [D]ie Arbeit der Einbildungskraft kommt nicht aus dem Nichts.157

Am Ende ist es wieder eine dynamische Verzahnung, eine lebendige Dialektik, eine intensive Spannung, die Ricœur beschreibt. Verschiedene Erzähltypen könnten in diesem magnetischen Feld teils eher vom Pol der Tradition, teils mehr vom Pol der Innovation angezogen sein.158 Dabei könne die Innovation ebenfalls auf allen Ebenen auftreten, wobei Ricœur das Nachdenken über eine Abweichung „des Formprinzips der dissonanten Konkordanz“159 noch aufschiebt. Dieses markiert möglicherweise die Grenzlinie, an der sich entscheide, ob man „nicht den Tod der narrativen Form“160 proklamieren müsse. Wie weit kann das Spiel der Innovation und Variation, das heißt der schöpferischen Freiheit, getrieben werden, um immer noch eine grundlegende narrative Matrix anlegen zu können, sprich selbstbewusst von einer Narration sprechen zu können? Dieser Frage will Ricœur zu einem späteren Zeitpunkt nachgehen. Die Balance zwischen Abweichung und Einhaltung nennt er auch „geregelte Deformation“161. Eine solche hat er im Koordinatensystem von Innovation und Tradition als „mittlere Achse“162 vor Augen, um die sich die verschiedenen Varianten einordnen ließen. Mit ihr im Rücken kann Ricœur sodann selbstbewusst von einer „narrativen Tradition“163 sprechen, einer lebendigen, sich immer wieder neuschaffenden Fort- und Umschreibung.

156

Vgl. a.a.O., 112. Ebd. 158 Vgl. ebd. 159 A.a.O., 113. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd. 157

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Auch dieser Abschnitt soll mit einer pointierten Rekapitulation der Kerngedanken Ricœurs schließen: Ricœur geht an dieser Stelle den angekündigten Versuch an, die „Konfigurationstätigkeit […] aus den einschränkenden Bedingungen heraus[zu]lösen, denen der Begriff der Fabelkomposition bei Aristoteles aufgrund des Tragödienparadigmas unterliegt.“164 Somit möchte er die vermittelnde Position zwischen dem Vorher und dem Nachher der Konfiguration genauer ausleuchten. Dabei übernimmt die Fabelkomposition eine dreifache Vermittlerrolle: Sie vermittelt zwischen einzelnen Ereignissen und einer gesamten Story, vereinigt heterogene Faktoren (Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen et cetera) und vermittelt schließlich eigene Zeitmerkmale beispielsweise durch die Verbindung von chronologischen und diachronischen Zeitdimensionen in der Erzählung. Somit spiegelt sie das Paradox Augustins wider und setzt dieses poetisch ins Werk. Dabei zeigt sich der Akt der Zeitlichkeit bei den Rezipierenden in der Nachvollziehbarkeit der Geschichte. Die Nachvollziehbarkeit (followability) „verwandelt das Paradox in lebendige Dialektik“165. Anders formuliert bedeutet das: Eine Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muss.166

Zum einen lassen sich hier Elemente eines linearen Zeitverständnisses, eines „und dann und dann und dann“ erkennen, zum anderen werden diese aber überlagert von Vor- und Rückgriffen in der Erzählung. Sobald eine Geschichte bekannt ist, heißt nachvollziehen, die bekannten Episoden als auf das bekannte Ende hinführend zu erfassen, wodurch ebenfalls eine neue Zeitqualität zum Vorschein kommt. Man kann eine Geschichte nun gegen den Strich lesen. Zum Abschluss betrachtet Ricœur außerdem den Zusammenhang von Innovation und Tradition. Doch tippt er an dieser Stelle die Frage nach einem Auseinanderbrechen der beiden Pole lediglich an: Gibt es ein Ende der narrativen Form, wenn sich keine eingehaltenen Regeln mehr ausfindig machen lassen, wenn man eine Erzählung keiner Gattung mehr zuordnen kann? Bis zu welchem Punkt kann man überhaupt noch von einer Narration sprechen, wenn sie sich so deutlich von den traditionell gewachsenen Formen abhebt? Diese und ähnliche Fragen schiebt er noch weiter hinaus, wird sie aber zu einem späteren Zeitpunkt wieder einfangen.

164

A.a.O., 105. A.a.O., 108. 166 Ebd. 165

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2.3 Mimesis III – das „Nachher“ des Textes Ich möchte jetzt zeigen, wie die mime˜sis II, wenn man sie auf ihre ursprüngliche Sinnstruktur zurückführt, als Ergänzung eine dritte Darstellungsstufe erfordert, die auch noch den Namen einer mime˜sis verdient.167

Der schöpferische Prozess bleibt nicht am Ende der Mimesis II und bei ihren Implikationen stehen, sondern greift darüber hinaus. Ricœur erinnert noch einmal daran, dass sich die gesamte Untersuchung der Figur der Mimesis unter das Leitthema, den Zusammenhang von Zeit und Erzählung, füge, um dann das Ziel dieser Ausführungen zur Mimesis III vorwegzunehmen: „[D]ie Erzählung erlangt ihren vollen Sinn, wenn sie in der mime˜sis III wieder in die Zeit des Handelns und des Leidens eintritt.“168 Diese Einsicht findet Ricœur schon bei Aristoteles angelegt und hat sie bereits in seinen Ausführungen zur Poetik vorgestellt.169 Die Mimesis III stelle „den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers [dar], also zwischen der Welt, die das Gedicht konfiguriert, und derjenigen, in der sich die tatsächliche Handlung entfaltet und damit zugleich ihre spezifische Zeitlichkeit entwickelt“170. Ricœur weitet den Begriff der mime˜sis praxe˜os, den er bei Aristoteles findet, aus und verleiht dem rezipierenden Moment somit ein größeres Gewicht. Er gliedert diesen letzten Abschnitt zur Mimesis in vier Teile, denen gefolgt wird, um dem eigentümlichen Charakter der Mimesis III, dieser nötigen Erweiterung der Mimesis II nachzuspüren. Zunächst möchte er dem aufkommenden Einwand der Zirkularität der Mimesis-Figur entgegentreten, sodann sich der Schnittstelle von Mimesis II und III zuwenden und untersuchen, inwieweit jene in dieser ihren Abschluss findet. Anhand des kommunikativen Austauschs über eine Erzählung sieht Ricœur die Frage nach der Referenz erneut aufgeworfen, die er an dieser Stelle aufgreifen und mit den Erkenntnissen aus der Lebendigen Metapher in Verbindung bringen möchte. Zuletzt möchte er auf eine grundlegende Frage von Zeit und Erzählung kommen: „Sofern schließlich die von der Erzählung neugestaltete Welt eine zeitliche ist, stellt sich die Frage, welche Hilfe eine Hermeneutik der erzählten Zeit von der Phänomenologie der Zeit erwarten darf.“171

Damit kommt Ricœur zum Kern der Frage, die bereits in der Darstellung des augustinischen Zeitproblems und der aristotelischen Poetik immer wieder an die Oberfläche kam: 167

A.a.O., 113. Ebd. 169 „Den Weg, den ich einschlagen werde, ist der folgende: [D]ie Poetik spricht nicht von der Struktur, sondern von der Strukturierung; die Strukturierung ist nun aber eine gerichtete Tätigkeit, die erst beim Zuschauer oder Leser ihren Abschluß findet.“ (a.a.O., 82). 170 A.a.O., 114. 171 Ebd. 168

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Es betrifft das Verhältnis zwischen einer Phänomenologie, die unaufhörlich Aporien erzeugt, und dem, was wir oben die dichterische ,Auflösung‘ dieser Aporien nannten. In dieser Dialektik zwischen einer Aporetik und einer Poetik der Zeitlichkeit kulminiert die Frage des Verhältnisses zwischen Zeit und Erzählung.172

Welche Hilfe die Hermeneutik von der Phänomenologie der Zeit bekommt, lautet die Frage des letzten Abschnittes. 2.3.1 Gesunde versus ungesunde Zirkularität Das Versprechen, den Zusammenhang von Mimesis I über Mimesis II zur Mimesis III als gesunden Zirkel zu benennen, versucht Ricœur nun einzulösen. Es ist kaum verwunderlich, dass er dies erst am Schluss seiner Mimesis-Betrachtung tut. Nach dem Gang der Untersuchung drängt sich der Verdacht eines circulus vitiosus wesentlich vehementer auf als noch zu Anfang. Denn nicht nur die narrativen Formen bauen auf gewissen Voraussetzungen auf, sondern auch alle dargelegten Eigenschaften, genauer gesagt Verankerungen der Mimesis I lassen sich sinnvoll nur von der Ebene der Rezeption her plausibilisieren. Ricœur möchte zeigen, dass es sich um eine Zirkularität in der Gestalt einer Spirale handelt, „bei der die Vermittlung mehrmals durch den gleichen Punkt führt, jedoch jeweils in anderer Höhenlage“173. Die Anzeige eines circulus vitiosus fuße auf zwei Fehlschlüssen von Zirkularität, die es im Folgenden aufzudecken gelte: dem des „Gewaltsamen der Interpretation“ und dem der Redundanz.174 Jener erste Fehlschluss könne auf zweierlei Weise entstehen, einer zu starken Betonung der Dissonanz oder einer Überbetonung der Konsonanz. Beide Wege, die zu der Unterstellung eines ungesunden Zirkels führen, stimmen in einem Punkt überein: Sie gehen nicht davon aus, dass die Erzählung das Paradox der Zeit wahrhaft in Spannung hält, womit die Dialektik von intentio und distentio animi, das heißt der dissonanten Konsonanz, aufgebrochen wird. Keine der beiden Seiten darf, genauer gesagt kann überhaupt überbetont werden, da sie von der Erzählung in lebendiger Spannung gehalten wird. Im Grunde genommen werden in diesem Zusammenhang die vorher ausgeführten Thesen lediglich zugespitzt, um den Verdacht des circulus vitiosus abzuwiegeln. So müsse zum einen das Paradox der Zeit vor einer Glättung geschützt werden, die sich ergebe, wenn man die Zeiterfahrung lediglich auf die Dissonanz zurückführe, die Ricœur auch die „radikal formlose Zeiterfahrung“175 nennt. Zum anderen müsse aber auch das andere Extrem, die Auflösung des Paradoxes, zugunsten der reinen Konsonanz, vermieden werden. Man sei aufgrund eben des dialektischen Charakters immer wieder versucht, dem Paradox auszuweichen und eine reine Konsonanz zu betonen, doch sei die Fabelkomposition keine reine, reale Ordnung, sondern halte selbst

172

Ebd. A.a.O., 115. 174 Vgl. ebd. 175 A.a.O., 116. 173

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immer schon Kontingenzen, Wendungen und Schicksalsschläge in Spannung.176 Dies gelte nicht nur für die zunächst exemplifizierte Form der Tragödie, sondern lasse sich darüber hinaus auch auf neuere Formen – im Entstehen durch den Prozess der Tradition – anwenden.177 So sei auch in Zukunft eine Auflösung der Spannung zwischen intentio und distentio in eine Konsonanz oder auch Dissonanz nicht vorstellbar.178 Ricœur zieht zur Verdeutlichung den Antiroman heran, der sich durch „die Verwerfung jedes Paradigmas“179 auszeichne, um an einem realen Beispiel hervorzuheben, wie sich das Gewaltsame im konkreten Fall zeigt: Auch in diesem Extremfall ist der Verdacht der interpretativen Gewaltsamkeit berechtigt. Aufgezwungen wird hier nicht mehr die ,Konsonanz‘, sondern die ,Dissonanz‘ unserer Zeiterfahrung. Der Wunsch nach ,Konsonanz‘, der unserer Zeiterfahrung zugrundeliegt, wird hier von innen her durch die ,Dissonanz‘ untergraben, die in der Rede durch die ironische Distanz gegenüber jedem Paradigma entsteht und die die intentio zerrüttet, ohne die es keine distentio animi gäbe. Man darf daher mit Recht argwöhnen, daß die angebliche Dissonanz unserer Zeiterfahrung nur ein literarischer Kunstgriff ist. Die Reflexion über die Grenzen der Konsonanz büßt somit niemals ihr Recht ein. Sie gilt für alle möglichen Fälle der dissonanten Konsonanz und der konsonanten Dissonanz im Bereich der Erzählung wie im Bereich der Zeit. In allen Fällen ist der Kreis unvermeidlich, ohne ein circulus vitiosus zu sein.180

Ricœur spricht von der „Gewaltsamkeit der Interpretation“. Die Erzählung hält das Paradox von intentio und distentio animi in Form der dissonanten Konsonanz zwangsläufig in Spannung. Nicht nur die Gewaltsamkeit der Interpretation, sondern auch ihr Gegenstück, die „Redundanz der Interpretation“, führe zur Annahme einer ungesunden Zirkelhaftigkeit. Von einer solchen Redundanz lasse sich sprechen, sofern die Mimesis I selbst schon auf die Mimesis III zurückgehe und die Mimesis II als rein, funktionales Scharnier fungiere, also nicht als dynamischer, wirklich mimetischer Prozess verstanden werde.181 Ricœur macht deutlich, dass der Eindruck einer Redundanz schon in seiner Analyse der Mimesis I angelegt ist. Dort ist von Verwurzelungen des narrativen Verstehens im praktischen Verstehen die Rede, von Anleihen, die das narrative Verstehen beim praktischen Verstehen zwangsläufig tätigt. Die Mimesis I fußt auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen hat, sie setzt nicht bei Null an. Ricœur reagiert auf den Vorwurf der Redundanz, indem er Situationen darstellt, die 176

Vgl. ebd. Vgl. ebd. 178 Vgl. ebd. 179 A.a.O., 117. 180 Ebd. 181 Ricœur beschreibt dies wie folgt: „Dieser Fall läge vor, wenn die mime˜sis I selbst immer schon ein Sinneffekt der mime˜sis III wäre. Die mime˜sis II würde dann nur der mime˜sis III zurückerstatten, was sie der mime˜sis I entlehnt hat; denn die mime˜sis I wäre dann schon das Werk der mime˜sis III.“ (ebd.). 177

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schon der Erfahrung als solcher einen Ansatz zum Narrativen zugestehen, der nicht auf der Projektion […] der Literatur auf das Leben beruht, sondern ein authentisches Erzählbedürfnis konstituiert. Zur Bezeichnung dieser Situation gehe ich so weit, von einer pränarrativen Struktur der Erfahrung zu sprechen.182

Ricœur versucht, auf diese Weise zu verdeutlichen, dass die Erfahrung nicht allein durch narrative Gestaltung zugänglich wird, sondern, selbst immer schon pränarrativ vorgeformt ist. Auf die Frage nach der Zirkelhaftigkeit zugespitzt bedeutet dies: Wenn eine pränarrative Form der Erfahrung behauptet werden kann, dann setzt die Mimesis I an einer immer wieder anders und neu vermittelten Erfahrung an. Somit wird der enge Kreis von Mimesis I bis III immer wieder durch neue Impulse bereichert und liegt somit nicht auf der gleichen Ebene, sondern wie Ricœur behauptet, „in anderer Höhenlage“183. Um diesen Punkt der pränarrativen Form der Erfahrung und somit der wahrhaften Mimesis I in ihrer Bedeutung für den gesamten Kreis der Mimesis zu verdeutlichen, führt er den Begriff der „(noch) nicht erzählte[n] Geschichte“184 ein, wohl wissend, dass es sich dabei wieder einmal um einen paradoxen Begriff handelt. Daher präzisiert er weiter, indem er die Möglichkeit „einer virtuellen Geschichte“185 behauptet. Erneut zieht er zur Unterstreichung seiner Behauptung Beispiele aus dem Alltag heran – wie bei der Untersuchung der Alltagssprache im Hinblick auf die Mimesis I –, auch wenn Ricœur sofort eingesteht, dass sie weniger alltagstypisch sind. Ein Beispiel ist der Patient, der sich im Gespräch mit einem Psychoanalytiker befindet, in dem eben dieser versucht, zusammen mit dem Patienten, „aus […] Bruchstücken einer Geschichte eine Erzählung zu machen, die zugleich unerträglicher und begreiflicher wäre.“186 Es ist nicht verwunderlich, dass genau diese Situation als Beispiel für die „virtuellen Geschichten“ herangezogen wird, beruht doch unter anderem Freuds Traumdeutung auf der Annahme, das Unterbewusste könne ins Bewusstsein gehoben werden. Ein weiteres Beispiel unterscheidet sich lediglich durch die Anlage der vorgestellten Situation, zielt aber auf Gleiches ab. Dazu zieht Ricœur den Geschichtenphilosophen und Husserl-Schüler Wilhelm Schapp heran, bezieht sich explizit auf dessen Schrift In Geschichten verstrickt und stellt pointiert fest, dass der Mensch ein in Geschichten und aus Geschichten existierendes Wesen sei, das durch den sekundären Prozess des Erzählens in gewisser Weise bekannt werde, beziehungsweise die es ausmachenden Geschichten bekannt würden.187 Ricœur folgert: „Das Erzählen, Mitvollziehen und Verstehen von Geschichten ist nur die ,Fortsetzung‘ dieser unausdrücklichen Geschichten.“188 Nun steht dieser Ansatz dem innova182

A.a.O., 118. A.a.O., 115. 184 A.a.O., 118. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Vgl. a.a.O., 119. 188 Ebd. 183

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tiven, dynamischen Prozess der Fabelkomposition entgegen. Ricœur kann dieser andere Pol als Korrektiv für ein Verständnis der Erzählung als rein künstliches Konstrukt gelten.189 Mit Schapps Schützenhilfe kann er Erzählungen als Existential behaupten: „Wir erzählen Geschichten, weil die Menschenleben Erzählungen brauchen und verdienen.“190 Die Kehrseite dieser Fortsetzungs- und Aufklärungsbestimmung der Erzählung oder des Erzählens stellt Ricœur mit Frank Kermode vor. Dieser gehe davon aus, dass Erzählungen auch Geschichten und Gedanken undurchsichtig machen und verbergen könnten.191 Einem solchen Ansatz könne die klassische Literaturkritik, die nach Ricœur in einer Erzählung einen Kunstgriff sehe, wohl eher zustimmen. Ricœur schließt an dieser Stelle seine Abwägungen mit einer zirkelhaften rhetorischen Schlussfrage ab: „Mit anderen Worten, besteht nicht eine verborgene Affinität zwischen dem Geheimnis, aus dem die Geschichte hervorgeht, und demjenigen, zu dem die Geschichte zurückkehrt?“192 Durch die enge Verknüpfung der pränarrativen Erfahrung und der Erzählung kann schon an dieser Stelle eine gesunde Zirkelhaftigkeit behauptet werden, in der sich Erfahrung und Erzählung gegenseitig bedingen und durchdringen.193 2.3.2 Der „Akt des Lesens“ – Funktion der Mimesis III Ricœur greift die Hauptbegriffe seiner Schlussreflexion zur Mimesis II wieder auf. So sieht er die Schematisierung und den Traditionscharakter der Erzählung in „der Wechselwirkung zwischen dem Tätigkeitscharakter des Schreibens und dem des Lesens“194. Durch die Mimesis III komme also – das wird anhand der Überschrift schon deutlich – eine Tätigkeit ins Spiel. Im „Akt des Lesens“ ist der Übergang von Mimesis II zu Mimesis III zu sehen.195 Die enge Korrelation dieser Begriffspaare legt Ricœur folgendermaßen dar: 189

Vgl. ebd. „Diese Bemerkung erhält ihr volles Gewicht, wenn wir an die Notwendigkeit denken, die Geschichte der Besiegten und der Verlierer zu retten. Die gesamte Geschichte des Leidens schreit nach Vergeltung und ruft die Erzählung herbei.“ (ebd.). 191 Vgl. a.a.O., 120. 192 Ebd. 193 „Wie zwingend diese letzte Andeutung auch sein mag, so bestärkt sie doch unser Hauptargument, demzufolge das unleugbar Zirkuläre jeder Analyse der Erzählung, die unaufhörlich die der Erfahrung immanente Zeitform und die narrative Struktur durcheinander interpretiert, keine tote Tautologie ist. Man hat darin eher einen ,gesunden Zirkel‘ zu erblicken, in dem die auf den beiden Seiten des Problems vorgebrachten Argumente einander zu Hilfe kommen.“ (ebd.). 194 A.a.O., 121. 195 Ricœur räumt dieser Tätigkeit einen enorm großen Stellenwert ein: „Daß dieser Akt, wie wir oben sagten, als Träger der Befähigung der Fabel, der Erfahrung Modellcharakter zu verleihen, gelten kann, beruht darauf, daß er den Konfigurationsakt wieder aufnimmt und vollendet“ (ebd.). Diese Tätigkeit ist nicht ein notwendiges Übel, sondern in ihr kommt die Erzählung zu ihrem eigentlichen Abschluss und somit der Konfigurationsakt auch an ein Ziel. 190

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Einerseits bestimmen die rezipierten Paradigmen die Struktur der Erwartungen des Lesers und helfen ihm dabei, die formale Regel, die Gattung oder den Typus zu erkennen, die von der erzählten Geschichte exemplifiziert werden. Sie geben der Begegnung zwischen dem Text und seinem Leser bestimmte Richtlinien. Kurz, sie sind es, die die Nachvollziehbarkeit der Geschichte bestimmen. Andererseits begleitet der Akt des Lesens die Konfiguration der Erzählung und aktualisiert ihre Nachvollziehbarkeit. Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren.196

Das lesende Rezipieren bleibt somit auch auf den Zusammenhang von Schematisierung und Traditionscharakter, wie er in der Mimesis II thematisiert wird, angewiesen, genauer gesagt, auf ihn verwiesen. Deutlich wird dadurch auch hier die permeable Liminalität von Mimesis II zu Mimesis III. Elemente finden sich wieder, werden aufgenommen und produktiv. Sie erschöpften sich nicht in den einzelnen Formen der Mimesis, sondern ihre Implikationen reichten vielmehr über den gezeichneten Beschreibungsrahmen hinaus. Auf einer weiteren Ebene lasse sich dieser enge Zusammenhang der beiden Formen der Mimesis ausmachen: anhand der Beziehung zwischen „der Innovation und der Sedementierung der Paradigmen“197. Im Akt des Lesens sei die rezipierende Person – in einem neutralen Verständnis – den Paradigmen ausgeliefert und arbeite sich an ihnen und mit ihnen ab.198 Schließlich – auch zur Verdeutlichung des soeben Ausgeführten – nimmt Ricœur noch Bezug auf die Konstanzer Schule und die mit ihr verbundenen rezeptionsästhetischen Ansätze Jauß’ und Isers.199 Man stelle sich Erzählungen vor, die – Ricœur verweist auf Ulysses – nur schemenhaft zusammengehalten würden, Lücken aufwiesen und von denen die rezipierende Person zur Sinnkonstruktion aufgerufen sei beziehungsweise gezwungen werde. Das, was in der Mimesis II nicht erfüllt worden sei, ist nun der rezipierenden Person aufgegeben: In diesem Extremfall trägt allein der Leser, der vom Werk sozusagen im Stich gelassen wird, die Last der Fabelkomposition auf seinen Schultern. Der Akt des Lesens ist somit der Operator, der mime˜sis III mit mime˜sis II verknüpft. Er ist der letzte Träger der Refiguration, der Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel.200

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Ebd. Ebd. 198 „Im Akt des Lesens spielt der Empfänger mit den narrativen Beschränkungen, vollzieht die Abweichungen, nimmt an dem Kampf zwischen Roman und Antiroman teil und verspürt dabei, was Roland Barthes die Lust am Text nannte.“ (ebd.). 199 Dabei sind Ricœur die unterschiedlichen Schwerpunkte beider Denker bewusst, die er zu einem späteren Zeitpunkt auszutarieren versucht. Vorerst hält er fest: „Für beide ist der Text ein Komplex von Anweisungen, die vom einzelnen Leser oder dem Publikum passiv oder schöpferisch ausgeführt werden. Der Text wird erst in der Wechselwirkung zwischen Text und Rezipienten zum Werk. Von diesem gemeinsamen Hintergrund gehen die beiden verschiedenen Ansätze aus, die im Akt des Lesens und in der Rezeptionsästhetik entwickelt werden.“ (a.a.O., 122). 200 Ebd. 197

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Ein weiteres Mal sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei dem Kreis der Mimesis nicht um ein statisches Konstrukt handelt. Das Scharnier zwischen Mimesis II und III ist flexibel. Die Tragkraft der Mimesis III im Akt des Lesens hängt wiederum von der Anlage der Konfiguration (Mimesis II) ab. Eine Tätigkeit – und zwar eine notwendige – bleibt der Akt des Lesens aber in jedem Falle. 2.3.3 Die aufgeschobene Frage nach der Referenz An dieser Stelle wird Ricœur von der Frage nach der Referenz unweigerlich eingeholt. Durch die Überschreitung der Mimesis II im Akt des Lesens wird das Nachher des Textes fokussiert, eine Neubeschreibung der Wirklichkeit kommt in den Blick. Doch setzt Ricœur vorerst am Anfang an und koppelt die Überlegungen an die Gedanken des Auslotens des Verhältnisses von Mimesis II und III: Eine Rezeptionsästhetik kann das Problem der Kommunikation nicht in Angriff nehmen, ohne zugleich das der Referenz zur Sprache zu bringen. Kommuniziert wird über den Sinn eines Werkes hinaus letztlich die Welt, die es entwirft und die seinen Horizont bildet. In diesem Sinne nehmen der Hörer oder der Leser sie ihrer eigenen Aufnahmefähigkeit entsprechend auf, die wiederum durch eine zugleich begrenzte und zu einem Welthorizont offenstehende Situation bestimmt ist.201

Wie die Mimesis II als Scharnier das Vorher und das Nachher des Textes zusammenhalte, so tue dies die rezipierende Person in Bezug auf die Welt des Textes und die Welt der rezipierenden Personen.202 Mit dem Begriff des Horizonts ist die Nähe zu Gadamers „Horizontverschmelzung“ gegeben, die Ricœur selbst zugesteht. Die enge Verflechtung der Welt des Textes und der der Rezipienten beruhe auf drei Voraussetzungen, „die jeweils den Sprechakten überhaupt, den Werken unter den Sprechakten und schließlich den narrativen unter den literarischen Kunstwerken zugrundeliegen.“203 Dieser eigentümlichen Spezifizierung der Voraussetzungen denkt Ricœur sodann nach. In Bezug auf die Voraussetzungen der Sprechakte im Allgemeinen beruft Ricœur sich auf seine eigenen Ausführungen zum Verhältnis von Sinn und Referenz, die er in der Lebendigen Metapher dargelegt hat. Die Sprache weise „über sich selbst hinaus“204, da das Auszusagende nicht in der Aussage selbst aufgehe. Somit rückt für Ricœur konsequenterweise der Diskurs in den Mittelpunkt. Wenn das Intendierte nicht in vollem Umfang im Sprechakt aufgehe, dann rücken die Akteure und das Ereignis der Rede in den Fokus.205 Diesen Sprechakten 201

Ebd. „Der Begriff des Horizonts und der korrelativen Welt erscheinen somit zweimal in der oben angedeuteten Definition der mime˜sis III: als Überschneidung zwischen der Welt des Textes und der Welt des Hörers oder Lesers.“ (ebd.). 203 A.a.O., 122 f. 204 A.a.O., 123. 205 „Dieses Abzielen auf einen Referenten der Rede tritt zugleich mit ihrem Ereignischarakter und ihrer Dialogfunktion ein. Es ist der komplementäre Aspekt der Redeinstanz. Das vollständige Ereignis besteht nicht nur darin, daß jemand das Wort ergreift und sich an einen 202

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legt Ricœur eine Erfahrung zugrunde, die auf die Artikulation und somit auf Kommunikation dränge, wobei der Horizont dieser Erfahrungen die Welt sei.206 Somit verhielten sich Referenz und Horizont wie auch Gestalt und Grund korrelativ zueinander.207 Nach dem Austarieren des Verhältnisses von Horizont und Erfahrung – Horizont zum einen in einem engeren Verständnis als Mikromatrix für Erfahrungen, zum anderen in einem weiteren Sinne als Makromatrix im Hinblick auf die Beziehung zur gesamten Erfahrungswelt – postuliert Ricœur eine „ontologische Voraussetzung der Referenz“208: In diesem doppelten Sinn des Wortes Horizont bleiben Situation und Horizont korrelative Begriffe. Diese sehr allgemeine Voraussetzung impliziert, daß die Sprache keine Welt für sich ist. Sie ist sogar überhaupt keine Welt. Weil wir in der Welt sind und von Situationen betroffen werden, versuchen wir, uns darin im Modus des Verstehens zu orientieren, und haben etwas zu sagen, eine Erfahrung zur Sprache zu bringen und miteinander zu teilen. Dies ist die ontologische Voraussetzung der Referenz, eine Voraussetzung, die innerhalb der Sprache selbst als ein Postulat ohne immanente Begründung reflektiert wird. Für sich selbst ist die Sprache ein Selbes; die Welt ist ihr Anderes. Das Zeugnis für diese Andersheit gibt uns die Selbstreflexivität der Sprache, die somit weiß, daß sie im Sein ist, um auf das Sein einzugehen.209

Für die Untersuchung soll an dieser Stelle die grundlegende Einsicht festgehalten werden, dass der Text nach Ricœur über sich selbst hinausweist und die Sprache „auf das Sein“210 zielt, auch wenn es ihr ein Äußerliches bleibe – Ricœur spricht von einem „ontologischen Zeugnis“211. Diese Einsicht bedürfe der Kopplung an die zuvor angestellten Überlegungen zur Rezeption: Man hat […] keine Wahl zwischen einer Rezeptionsästhetik und einer Ontologie des Kunstwerks zu treffen. Was ein Leser rezipiert, ist nicht nur der Sinn des Werkes, sondern durch seinen Sinn hindurch eine Referenz, also die Erfahrung, die es zur Sprache bringt und letztlich die Welt und ihre Zeitlichkeit, die es vor sich entfaltet.212

Nachdem Ricœur somit die Referenz eng an den Erfahrungsbegriff gekoppelt hat, wendet er sich nun der zweiten Voraussetzung, den Werken unter den Sprechakten zu. Er geht davon aus, dass auch in fiktiven Erzählungen Erfahrungen zur Artikulation kämen, also auch diese Erzählungen in der Rezeption über ihre eigene Binnenwelt hinausragten. Der zeitgenössischen Poetik stehe diese Ansicht diametral entgegen, da sie jedwede Referenz als außersprachlich ablehne.213 Eben jener attestiert Ricœur ein Aufschubproblem. Indem sie die Frage Gesprächspartner wendet, sondern auch darin, daß er eine neue Erfahrung zur Sprache bringen und mit einem anderen Menschen teilen will.“ (ebd.). 206 Vgl. ebd. 207 Vgl. ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Ebd. 211 A.a.O., 124. 212 Ebd. 213 Vgl. ebd.

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nach der Referenz unter Verweis auf die Textimmanenz verabschieden zu können meine, schiebe sie in Wahrheit das Problem unweigerlich vor sich her, gebe sich einer „Referenzillusion“ hin.214 Denn wenn nach Ricœur jeder Text Wahrheitsaussagen enthält und, allgemein gesprochen, das Pränarrative in der Welt der Handlungen verankert ist, bedürfe es zwangsläufig der Verifikation eben dieser Aussagen in der Lektüre.215 Auf struktureller Ebene wird folglich die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Welt des Textes und Welt des Rezipierenden vertagt beziehungsweise ausgeblendet. Ricœur gesteht zunächst die Möglichkeit dieses Vorgehens ein, hält anschließend jedoch an einer notwendigen Verhältnisbestimmung fest: Gewiß kann man den Horizontbegriff selbst in die Immanenz des Textes aufnehmen und den Begriff einer Welt des Textes für einen Auswuchs der Referenzillusion halten. Das Lesen stellt jedoch neuerlich das Problem der Verschmelzung von zwei Horizonten, demjenigen des Textes und demjenigen des Lesers, und damit das der Überschneidung zwischen der Welt des Textes und der des Lesers.216

Die Zirkelhaftigkeit der Mimesis wird insofern erneut greifbar. Ricœur zeichnet den Weg von Präfiguration, Konfiguration und Refiguration der Fabelkomposition und konstatiert somit einen Wiedereintritt in die Welt des Handelns, aus der der Text erwachse – und das gerade auch für die Fiktion.217 Dass es einer Reflexion des Aufeinandertreffens der beiden Horizonte bedürfe, wird von Ricœur eng gekoppelt an die Grundstruktur der Mimesis und somit an das zirkuläre Hermeneutikverständnis. Jenes Aufeinandertreffen sei in sich vielseitig, könne sowohl stabilisierende als auch destabilisierende Auswirkungen haben. Ricœur bringt hier – wie an vielen Stellen – eine Korrelation ins Spiel, die wiederum Mimesis II und III noch enger verzahnt, und hebt gleichzeitig die Bedeutung der Lektüre für die Rezipierenden hervor, wenn er konstatiert: Diese konfliktreiche Horizontverschmelzung steht in einem gewissen Zusammenhang zur Dynamik des Textes, insbesondere zu der Dialektik der Sedimentierung und der Innovation. Der Schock des Möglichen, der nicht geringer ist als der Schock des Wirklichen, wird

214

Vgl. a.a.O., 124 f. Vgl. ebd. Den Begriff der Veridiction findet Ricœur bei Algirdas Julien Greimas (a.a.O., 124, Fn 26). 216 A.a.O., 125. 217 Mit einer gewissen Verve verteidigt er seine Einsichten, wenn er schreibt: „Man kann versuchen, das Problem selbst abzuweisen, und die Frage nach der Einwirkung der Literatur auf die Alltagserfahrung für untriftig halten. Dann bestätigt man aber paradoxerweise den Positivismus, den man im allgemeinen bekämpfen will, nämlich das Vorurteil, demzufolge nur das Gegebene wirklich ist, so wie es sich empirisch beobachten lässt und wissenschaftlich beschrieben werden kann. Andererseits schließt man dann die Literatur in eine Welt für sich ein und bricht die subversive Spitze, die sie der moralischen und gesellschaftlichen Ordnung zuwendet. Man vergißt, daß die Fiktion gerade das ist, was die Sprache zu jener höchsten Gefahr macht, von der Walter Benjamin im Gefolge Hölderlins mit Schrecken und Bewunderung spricht.“ (a.a.O., 125). 215

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durch das den Werken immanente Wechselspiel zwischen den überkommenen Paradigmen und der Hervorbringung von Abweichungen infolge der Regelwidrigkeit der Einzelwerke erweitert. So gestaltet die narrative Literatur innerhalb der Gesamtheit der dichterischen Werke die Praxiswirklichkeit ebenso durch ihre Abweichungen wie durch ihre Paradigmen.218

Der „Schock des Möglichen“ bleibe nicht im Möglichen verhaftet, sondern greife über seine immanente Bedeutung in die Wirklichkeit. Was diese Möglichkeiten, die in der Fabel selbst zu finden sein, für die rezipierende Person ausmachten, also für die Rückkehr in die Welt des Handelns, das wird in Kürze beleuchtet. Durch diese Aussage sollte zunächst deutlich sein, wie wichtig Ricœur eine Ausleuchtung des Zusammenhangs von Mimesis II und III ist. Insofern weist er zum einen „die Methode der Immanenz der referenzfeindlichen Poetik“219 in die Schranken und sucht sodann zum anderen – wiederum als Spitze gegen eben diese Poetik – die Lösung der Beziehungsbestimmung „in der Funktionsweise der dichterischen Sprache“220. Diese Einsicht bezieht sich wiederum auf das Zwillingswerk Die lebendige Metapher, in dessen fünfter Studie Ricœur die Funktion der Dichtung in der Aufdeckung der Welt sieht.221 Wie er hier erneut in Erinnerung ruft, impliziere diese Annahme, „daß auch die dichterischen Texte von der Welt sprechen, obwohl sie es nicht im Modus der Deskription tun.“222 Folgt man den dichten Ausführungen weiter, so wird die Bedeutung dieser Äußerungen noch greifbarer, nämlich die ontologische Bedeutung, die sich in dem ricœurschen Begriff der „ontologischen Voraussetzung“ beziehungsweise des „ontologischen Zeugnisses“ bereits anbahnte: Dieser Zusammenhang zwischen einer metaphorischen Referenz und dem metaphorischen Sinn erhält erst dann eine volle ontologische Bedeutung, wenn man auch das Verb ,sein‘ metaphorisch auffaßt und in dem ,Sein wie ... ‘ das Korrelat zum ,Sehen wie ... ‘ erblickt, in dem sich die Arbeit der Metapher zusammenfaßt. Dieses ,Sein wie ... ‘ erhebt die zweite Voraussetzung auf die ontologische Ebene der ersten. Zugleich bereichert sie die erste. Der Begriff des Horizontes und der Welt betrifft nicht nur die deskriptiven, sondern auch die nichtdeskriptiven Referenzen, die nämlich des dichterischen Sagens. [… So] möchte ich sagen, daß die Welt […] die Gesamtheit der Referenzen ist, die durch alle Arten von deskriptiven oder dichterischen Texten zugänglich gemacht werden, die ich gelesen, gedeutet und geliebt habe. Diese Texte verstehen heißt, unter den Prädikaten unserer Situation alle die Bedeutungen zu interpolieren, die aus einer bloßen Umwelt eine Welt machen. Tatsächlich verdanken wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unseres Existenzhorizontes. Sie erzeugen keineswegs nur abgeschwächte Bilder der Wirklichkeit, […] sondern schildern die Wirklichkeit nur, indem sie sie um alle Bedeutungen

218

Ebd. A.a.O., 126. 220 Ebd. 221 Vgl. R, P, Die lebendige Metapher, 225. 222 R, P, Zeit und Erzählung I, 126. 219

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bereichern, die sie selbst ihren Eigenschaften der Abkürzung, der Sättigung und der Aufgipfelung verdanken, wie sie die Fabelkomposition auf erstaunliche Art und Weise veranschaulicht.223

Die Erzählung habe also – in ähnlicher Weise wie die Metapher – Auswirkungen auf die Wirklichkeit, beschreibe diese neu und immer wieder anders, sodass die Lesenden mithilfe der Erzählung, sprich durch die Welt des Textes, ihr eigenes In-der-Welt-Sein und damit gleichzeitig sich selbst besser, anders und neu verstehen könnten. Die Erzählung sei somit – und das wird im Gesamtwerk Ricœurs immer wieder deutlich – der notwendige Umweg (detour), den das Selbst zum Verstehen generell auf sich nehmen müsse und immer schon nehme.224 Um diesen Umstand zu verdeutlichen, nutzt Ricœur den Begriff der „ikonischen Bereicherung“ von Franc¸ois Dagognet, weitet ihn auf die Fiktion aus225 und gibt sogleich eine grundlegende Definition seines Hermeneutikbegriffs, die implizit schon immer mitschwang: „[eine] Hermeneutik, die weniger die Absicht des Autors hinter dem Text wiedergeben, als den Vorgang explizieren will, durch den ein Text eine Welt gleichsam vor sich ausbreitet.“226 Wie eng Ricœur Lesende und Text miteinander verknüpft und dabei den Umweg beschreibt, wird insbesondere deutlich, wenn er den Vorgang der Textinterpretation als Angebot einer Welt sieht, die von den rezipierenden Personen bewohnt werden könne.227 So biete der Text Möglichkeiten an, die nicht dessen eigene blieben, sondern im Akt des Lesens ergriffen werden könnten, zu den eigenen Möglichkeiten würden und somit Einfluss auf die je eigene Wirklichkeit hätten. Stand am Anfang der Ausführungen zur zweiten Voraussetzung der Referenz zunächst die Poetik an sich im Fokus, so wird hier die Schlagkraft des ricœurschen Ansatzes – in seiner Parallelität zur Lebendigen Metapher – deutlich. Die Narration beschreibe die Wirklichkeit immer wieder anders und somit neu, sie entwerfe im kreativen Akt Möglichkeiten und biete sie den Rezipierenden an und fordere allein dadurch auch zu einer Stellungnahme zur entworfenen Welt auf: In der Lebendigen Metapher habe ich die These vertreten, daß die Dichtung mit ihrem mythos die Welt neubeschreibt. Analog möchte ich in dem vorliegenden Buch sagen, daß das narrative Tun die Welt in ihrer zeitlichen Dimension in dem Maße neubedeutet (re´signifie), wie erzählen, rezitieren ein Nachvollzug der Handlung ist, zu dem die Dichtung auffordert.228

Ricœur wendet sich nun der dritten Voraussetzung, „den narrativen unter den literarischen Kunstwerken“229, zu. Eben diesen attestiert er eine schwierigere und

223

A.a.O., 126 f. S. dazu die Ausführungen zur narrativen Identität unter III.4. 225 Vgl. R, P, Zeit und Erzählung I., 127. 226 Ebd. 227 Vgl. ebd. 228 A.a.O., 127 f. 229 A.a.O., 123. 224

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doch sogleich einfachere Problemlage als denen der lyrischen Kunstwerke. Einfach sei die Problemlage, da die narrativen Werke eine größere Nähe zu der Welt des Handelns, aus denen sie ihren Stoff gewännen, aufweisen.230 Hier schließt er also an seine Einsichten zur Mimesis I an, plausibilisiert die Charakterisierung folglich von der Zirkelhaftigkeit, dem Weg vom Handeln zurück ins Handeln her.231 Verkompliziert werde die Sache aufgrund der zwei großen Kategorien der narrativen Erzählung, „d[er] Fiktionserzählung und d[er] Geschichtsschreibung“232, die Ricœur im dritten Teil von Zeit und Erzählung genauer auszuleuchten verspricht. Hierzu formuliert er an dieser Stelle schon den Begriff der „überkreuzten Referenz“233, die er zu einem zu behandelnden Hauptproblem des Gesamtwerkes erhebt. Beide vorgestellten Formen machten Anleihen bei der jeweils anderen, was unter anderem an der „gemeinsame[n] Verwendung der verbalen Vergangenheitsform“234 zu sehen sei. Mitzuführen ist vor allem die Einsicht, dass es keine objektive Geschichtsschreibung geben kann, so wie es keine reine Fiktion geben kann. Die Schlussfrage des Abschnittes leitet – unter Aufnahme der überkreuzten Referenz – das Problem ein, dem Ricœur sich im letzten Teil seiner Mimesis-III-Betrachtung zuwenden will und mit dem er gleichsam seine Eingangsüberzeugung von der Beziehung von narrativer und menschlicher Zeit wieder aufnimmt: Worin jedoch überkreuzen sich die Spuren- und Metaphernreferenz, wenn nicht in der Zeitlichkeit der menschlichen Handlung? Ist das, was die Geschichtsschreibung und die literarische Funktion gemeinsam neugestalten oder refigurieren, indem sie darin ihre Referenzmodi zur Überkreuzung bringen, nicht die menschliche Zeit?235

2.3.4 Menschliche und erzählte Zeit Ausgehend von dem bereits vorgestellten Begriff der ikonischen Bereicherung, stellt Ricœur die Momente der Mimesis I noch einmal vor und bescheinigt diesen, eine Bereicherung zu sein. Dieser Einführungsabschnitt liest sich wie eine Rekapitulation, bis deutlich wird, dass die vorausgegangenen Analysestränge hier zusammengeführt werden. Es geht um die Zeit der Handlung, die jeweils refiguriert wird. Zur genaueren Untersuchung dieses Umstands bedürfe es neben den Polen von Geschichtsschreibung und Literaturkritik einer weiteren Gesprächspartnerin, der „Phänomenologie der Zeit“236. Unter Zuhilfenahme dieser

230

Vgl. a.a.O., 128. So schließt Ricœur seine knappen Ausführungen mit der Anmerkung: „[A]m leichtesten zu entziffern ist in der Tat die Metaphorisierung des Tuns und Leidens.“ (ebd.). 232 Ebd. 233 A.a.O., 129. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 A.a.O., 130. 231

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drei Pole verspricht sich Ricœur, sich dem zu nähern, was bei der „Dialektik von Zeit und Erzählung […] in letzter Instanz auf dem Spiel steht“237. Dazu bedürfe es der Rekonstruktion der Phänomenologie der Zeit – von Augustin bis Heidegger – und des Aufweises der „Unmöglichkeit einer reinen Phänomenologie der Zeit“238. Wie bereits zu erahnen ist, ist für Ricœur damit die Frage nach der Zeit nicht verabschiedet, sondern mit der Erzählung in Beziehung gesetzt, um damit genauer bestimmt zu werden. Er wendet sich also schon in den Überlegungen zur Referenz dem Erweis einer möglichen Antwort der Erzählung auf die Aporie der Zeitlichkeit zu. Ricœur räumt zu Beginn seiner abschließenden Ausführungen die exzeptionelle Bedeutung Heideggers für eine Phänomenologie der Zeit ein, um daraufhin sogleich ein Analyseergebnis vorwegzunehmen: „[D]ie eigentlich phänomenologische Originalität der Heideggerschen Zeitanalyse […] besteht in einer Hierarchisierung der Ebenen der Zeitlichkeit oder vielmehr der Verzeitlichung.“239 Es geht Ricœur um die Betonung eines qualitativen Zeitaspekts, den er schon bei Augustin implizit zu finden vermag. Die Dialektik von intentio und distentio habe nicht nur den quantitativen Aspekt der dreifachen Gegenwart, sondern auch einen qualitativen, „den einer abgestuften Gespanntheit.“240 Dieser doppelten Eigenart der Zeitlichkeit begegneten die beiden großen Typen von Erzählungen – Geschichtsschreibung und Fiktion – auf unterschiedliche Weise. Es lässt sich wiederum das Paradox der dissonanten Konsonanz beziehungsweise das der konsonanten Dissonanz erkennen. Die Geschichtsschreibung versuche, die Ereignishaftigkeit der Geschichte zu einem Ganzen zu führen, die Fabelkomposition versuche hingegen, die Erzählung nicht in einer bloßen Chronologie der Ereignisse aufgehen zu lassen. Einen allgemeinen Gegensatz zur Chronologie entdeckt Ricœur nun aber darüber hinaus in der „Zeitlichkeit selbst in ihrer höchsten Gespanntheit.“241 Mit Heidegger lasse sich das Problem der Dialektik von intentio und distentio besser ausleuchten, da es in seiner Komplexität besser wahrgenommen werde: Ich betrachte es als eine unschätzbare Errungenschaft der Heideggerschen Analyse, mit den Mitteln einer hermeneutischen Phänomenologie dargelegt zu haben, daß die Erfahrung der Zeitlichkeit sich auf mehreren Radikalitätsstufen entfalten kann und daß es Sache

237

Ebd. A.a.O., 131. Zur begrifflichen Schärfung sei auf folgende Passage verwiesen: „Unter reiner Phänomenologie verstehe ich ein anschauliches Erfassen der Zeitstruktur, das sich nicht nur von den Argumentationsverfahren ablösen läßt, durch die sich die Phänomenologie bemüht, die von einer älteren Tradition überkommenen Aporien abzulösen, sondern eine Entdeckungen nicht durch neue, noch kostspieligere Aporien erkauft. Meine These geht dahin, daß die authentischen Funde der Phänomenologie der aporetischen Struktur, die die Augustinische Zeittheorie so stark belastet, nicht endgültig entrissen werden können.“ (ebd.). 239 A.a.O., 132. 240 Ebd. 241 A.a.O., 133. 238

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der Daseinsanalytik ist, sie, wie es in Sein und Zeit geschieht, von oben nach unten – von der eigentlichen, endlichen zur alltäglichen, öffentlichen Zeit, bei der alles ,in‘ der Zeit geschieht – oder von unten nach oben durchzugehen, wie in Grundprobleme der Phänomenologie. Die Richtung, in der die Skala der Verzeitlichung durchlaufen wird, ist weniger wichtig als die Tatsache, daß die Zeiterfahrung abgestuft wird.242

Auf der Hierarchisierungsskala hebt Ricœur die Stufe der Geschichtlichkeit hervor, die er „zwischen Innerzeitigkeit und radikaler Zeitlichkeit“243 verortet und zum Eintauchpunkt des vierten Teils von Zeit und Erzählung erhebt. Von der Analyse der Geschichtlichkeit erhofft er sich eine genauere Bestimmung der überkreuzten Referenz.244 Vorweggenommen ist hier bereits die Einsicht, dass Ricœur auch in Heideggers Phänomenologie die Zeitaporetik Augustins nicht gelöst sieht. Im Gegensatz zu Heidegger will er versuchen, die Beziehung von Zeit und Erzählung zu erhalten.245 Zuletzt stellt Ricœur en passant noch eine weitreichende Frage, die sich jedoch konsequent aus der Einführung des Hierarchisierungsgedankens ergibt: „Die bedeutungsschwerste Frage dieses Buches ist die, inwieweit eine philosophische Reflexion über Zeit und Narrativität dazu beitragen kann, Ewigkeit und Tod zusammenzudenken.“246

2.4 Zusammenfassung247 Ricœur bezieht sich auf die Poetik des Aristoteles, auf seine Tragödienkomposition, da er dort die passenden Begriffe findet, die er für seinen Ansatz produktiv in Anschlag bringt. In der Poetik erblickt er die ausführliche Behandlung der Korrelation von Erzählfigur und erzählter Handlung. Für seine Überlegungen, die sich in aller Ausführlichkeit in Zeit und Erzählung finden lassen, sind vor allem die Begriffe des µυÄ θος und der µι µησις von Bedeutung. Unter dem zentralen Begriff der Mimesis versteht Ricœur in Anlehnung an Aristoteles die menschliche Nachahmung der Wirklichkeit. Allerdings geht Ricœur deutlich

242

Ebd. Ebd. 244 Vgl. a.a.O., 134. 245 „Einer der Hauptpunkte unseres Vierten Teils wird darin bestehen, zu zeigen, wie trotz des Abgrunds, der sich zwischen den beiden Polen aufzutun scheint, Zeit und Erzählung einander gleichzeitig wechselseitig hierarchisch einstufen. Bald wird uns die hermeneutische Phänomenologie der Zeit den Schlüssel zur hierarchischen Abstufung der Erzählung liefern; bald werden die Wissenschaften von Geschichts- und Fiktionserzählung es uns ermöglichen, die spekulativ hartnäckigsten Aporien der Phänomenologie der Zeit, mit einem schon oben verwendeten Begriff zu sprechen, poetisch aufzulösen.“ (a.a.O., 134 f.). 246 A.a.O., 135. 247 Folgende Ausführungen sind folgendem Aufsatz entnommen: K, B, Erfahrungen sexualisierter Gewalt verstehen? Eine hermeneutische Spur im Ausgang von Paul Ricœurs Konzeption einer narrativen Identität, in: Mathias Wirth/Isabelle Noth/Silvia Schroer (Hg.), Sexualisierte Gewalt in kirchlichen Kontexten. Neue interdisziplinäre Perspektiven, Berlin/Boston 2021, 215–234. 243

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über Aristoteles hinaus, indem er die Mimesis in drei Teile aufsprengt: So versteht er als Mimesis I die pränarrativen Strukturen, das Vorverständnis, das zur Komposition der Narration, der Mimesis II, führt und an die sich die Rezeption – Mimesis III – anschließt. Somit spürt er der Erzählung von der Präfiguration über die Konfiguration bis zur Refiguration nach. Deutlich wird auch hier, dass die Bedeutung der Erzählung in ihrer ganzen Fundamentalität erst im Hinblick auf die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins wirklich greifbar wird. Das Programm von Zeit und Erzählung wird von Ricœur wie folgt beschrieben: „[D]ie Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“248 Das Problem der Zeiterfahrung – unter Aufnahme der augustinischen Frage nach der Zeit im elften Buch der Confessiones – kann als hermeneutischer Schlüssel für den Angangsweg zur narrativen Identität verstanden werden.249 Im Folgenden sollen die Eckpfeiler der ricœurschen Narrationstheorie rekapituliert werden. Mimesis I oder das „Vorher“ des Textes: Ricœur sieht die Fabelkomposition im Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt. Sinnstrukturen, symbolische Ressourcen und zeitliche Strukturen werden als eben diese Verwurzelung vorausgesetzt. Ricœur setzt am äußersten denkbaren Anfang an: „Daß nämlich eine Handlung erzählbar ist, beruht darauf, daß sie schon in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert: immer schon symbolisch vermittelt ist.“250 Thema letztlich jeder Narration sind laut Ricœur das Handeln und dessen passives Gegenstück, das Leiden. Wer erzähle, greife immer schon zwangsläufig auf ein breites Repertoire an Kompetenzen zurück, ohne die eine mimetische Umsetzung gar nicht möglich wäre: Damit wird der Sinn der mime˜sis I in seiner Vielschichtigkeit deutlich: eine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit. Von diesem Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist, löst sich die Fabelkomposition und damit die textuelle und literarische Mimesis ab.251

Mimesis II oder der „Schmelztiegel“: An dieser Stelle geht Ricœur nun den angekündigten Versuch an, die „Konfigurationstätigkeit […] aus den einschränkenden Bedingungen heraus[zu]lösen, denen der Begriff der Fabelkomposition bei Aristoteles aufgrund des Tragödienparadigmas unterliegt“252. Damit möchte er die vermittelnde Position zwischen dem Vorher und dem Nachher der Konfiguration genauer ausleuchten. Die Fabelkomposition übernimmt bei Ricœur

248

R, P, Zeit und Erzählung I, 13. Vgl. E, M, Heteronome Subjektivität. Dekonstruktive und hermeneutische Anschlüsse an die Subjektkritik Heideggers, Bielefeld 2018, 356–364. 250 R, P, Zeit und Erzählung I, 94. 251 A.a.O., 103. 252 A.a.O., 105. 249

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2. Die dreifache Mimesis

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eine dreifache Vermittlerrolle: Sie vermittle zwischen einzelnen Ereignissen und einer gesamten Story, vereinige heterogene Faktoren und vermittle schließlich eigene Zeitmerkmale beispielsweise durch die Verbindung von chronologischen und diachronischen Zeitdimensionen in der Erzählung.253 Dabei zeige sich der Akt der Zeitlichkeit im Rezipierenden in der Nachvollziehbarkeit der Geschichte. Die Nachvollziehbarkeit „verwandelt das Paradox in lebendige Dialektik“254. Anders formuliert bedeutet dies: Eine Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muss.255

Zum einen lassen sich hier Elemente eines linearen Zeitverständnisses erkennen, zum anderen werden diese aber überlagert von Vor- und Rückgriffen in der Erzählung. Sobald eine Geschichte bekannt ist, heißt nachvollziehen sodann, die bekannten Episoden als auf das bekannte Ende hinführend zu erfassen, wodurch ebenfalls eine neue Zeitqualität zum Vorschein kommt. Mimesis III oder das „Nachher“ des Textes: Die Mimesis II brauche eine Ergänzung, da die Erzählung erst zu ihrem vollen Sinn gelange, wenn sie in der Mimesis III wieder in die Zeit des Handelns und Leidens eintrete. Diese Behauptung behandle Aristoteles selbst kaum in seiner Poetik, allerdings zum Teil in seiner Rhetorik.256 Unter der Mimesis III beschreibt Ricœur den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der der Lesenden. Vier Anfragen geht er hier nach: der Zirkularität, dem Lesen als Motor der Erzählung, der Frage nach der Referenzfunktion und abschließend auch hier dem Verhältnis von Zeit und Erzählung. Die Erzählung halte die Dialektik in Spannung. Es handle sich zwar um eine Zirkularität, aber Ricœur bemüht sich darum, einen circulus vitiosus abzulehnen, und betont, dass die Zirkularität den Charakter einer Spirale habe, die zwar immer durch den selben Punkt, aber auf anderen Höhenlagen gehe.257 „Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren.“258 So begleite der Akt des Lesens auch das Wechselspiel von Innovation und Sedimentierung. Erst durch die Wechselwirkung von Text und Rezipienten werde der Text zum Werk.259 Hier lässt sich eine gewisse Sympathie zu Gadamers Horizontverschmelzung erkennen, die Ricœur allerdings als konfliktreich respektive komplexer ansieht: „Was ein Leser rezipiert, ist nicht nur der Sinn des Werkes, sondern durch seinen Sinn hindurch seine Referenz, also die Erfahrung, die es zur Sprache bringt, und

253

A.a.O., 107. A.a.O., 108. 255 Ebd. 256 A.a.O., 113. 257 A.a.O., 116. 258 A.a.O., 121. 259 Vgl. a.a.O., 122. 254

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letztlich die Welt und ihre Zeitlichkeit, die es vor sich entfaltet.“260 Ricœur spricht von einer „überkreuzenden Referenz“ zwischen Geschichtsschreibung und Fiktionserzählung – ihm zufolge den „zwei große[n] Kategorien […] narrativer Rede.“261 Ziel ist es unter anderem, der Fiktionserzählung einen größeren Stellenwert beizumessen und ihr eine außerordentliche Relevanz für das Selbstverständnis einzuräumen. Die Fiktionserzählung bediene sich bei den Techniken der Geschichtsschreibung und umgekehrt. So fragt Ricœur rhetorisch: „Wird nicht jede Erzählung so erzählt, als hätte sie wirklich stattgefunden?“262 Für die Selbsterkenntnis über den Umweg der Narration sei die Gattung der Narration somit irrelevant. Mit der dreifachen Mimesis gelingt es Ricœur grundsätzlich, die Erzählung als Einheit des Pluralen und als in die Lebenswelt eingebettet wahrzunehmen. Dabei wird der schöpferisch tätigen Person sowohl im Entstehungsprozess als auch im Prozess des Rezipierens eine außerordentliche Wertschätzung zuteil. Dem engen Zusammenhang von Selbst- und Narrationsverstehen soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Ausgehend von der dreifachen Mimesis über die Rede von der Narration als Angebot einer zu bewohnenden Welt263 gelangt Ricœur schließlich zu seiner Explikation einer narrativen Identität, in der die unabdingbare Bedeutung der Narration für ein Selbstverstehen besonders virulent wird.

3. Erzählungen als „bewohnbare Welten“ – die Wertschätzung der Narration Die Wertschätzung der Narration bringt Ricœur mit der Metapher der „bewohnbaren Welt“264 auf den Punkt. Mit ihr unterstreicht er die Bedeutung der Narration für das Selbst auf eindrückliche Weise. In ihr ist gleichzeitig der Angangsweg zum Konzept der „narrativen Identität“ zu sehen. Hermeneutische Einsichten, die Ricœur über seine Symbol- und Metapherntheorie entwickelt, finden sich hier ebenso wieder, wie die Ergebnisse der dreifachen Mimesis. Deutlich wird, dass für Ricœur die Frage nach der Narration, immer eine Frage der Hermeneutik des Selbst ist. Erst mit dem Text ergebe sich die Aufgabe der Hermeneutik: „Hermeneutics begins where dialogue ends.“265,266

260

A.a.O., 124. A.a.O., 128. 262 A.a.O., 129. 263 Vgl. R, P, Gott nennen, 177. 264 Vgl. R, P, Die lebendige Metapher, 156. 265 R, P, Speaking and Writing, in: Ders., Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 1976, 25–44, 33. 266 Mit „Text“ bezeichnet Ricœur folglich „einen schriftlich fixierten Diskurs“ (M, J, Ricœur zur Einführung, 96) und betont damit gleichzeitig die Eigenständigkeit des Textes, der als losgelöst von jedweder Situationsgebundenheit anzusehen sei. Das „Werk“ 261

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3. Erzählungen als „bewohnbare Welten“ – die Wertschätzung der Narration

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Mit seiner Hermeneutik zielt Ricœur auf die je eigene Selbsterschließung des Daseins: Not the intention of the author, which is supposed to be hidden behind the text; not the historical situation common to the author and his original readers; not the expectations or feelings of these original readers; not even their understanding of themselves as historical and cultural phenomena. What has to be appropriated is the meaning of the text itself, conceived in a dynamic way as the direction of thought opened up by the text. In other words, what has to be appropriated is nothing other than the power of disclosing a world that constitutes the reference of the text. In this way we are as far as possible from the Romanticist ideal of coinciding with a foreign psyche. lf we may be said to coincide with anything, it is not the inner life of another ego, but the disclosure of a possible way of looking at things, which is the genuine referential power of the text.267

Ricœur betont die Welt des Textes stärker als das Subjekt, denn nicht das rezipierende Subjekt konstituiere den Sinn, sondern es werde selbst „durch die ,Sache‘ des Textes konstituiert.“268 Dahinter steht die Überzeugung, die Ricœur bereits im „Konflikt der Interpretationen“269 zur Geltung gebracht hat. Der Text – wahrgenommen in seiner Autonomie gegenüber dem situationsgebundenen Dialog – stelle das rezipierende Subjekt vor die Frage nach dem Vertrauen oder Verdacht. Während die Hermeneutik des Vertrauens von der Grundannahme der aufdeckenden Funktion der Sprache ausgehe, gehe die „Hermeneutik des Verdachts“ von der verdeckenden Funktion der Sprache aus. Ricœur legt das Augenmerk auf die Hermeneutik des Verdachts und sieht sie als wesentlichen Bestandteil für die Hermeneutik:270 „Mit ihr geht der ,Abbau‘ der Vorurteile fort, die es verhindern, die Welt des Textes sein zu lassen.“271 Insofern vertritt die Hermeneutik des Verdachts als Anwältin die Textwelt gegen die Aneignungsversuche des rezipierenden Subjekts.272 Für Ricœur „ist die Kritik des Selbst integrierender Teil des Sich-Verstehens vor dem Text.“273 Damit gelingt es ihm, den Text und wiederum ist nach Ricœur die nächstgrößere Einheit, „ist das Ergebnis einer Arbeit, die Sprache organisiert“ (a.a.O., 98) und die Summe ihrer eigenen Teile dabei überschreite. Vor diesem Hintergrund sind seine Äußerungen zur Narration zu verstehen. 267 R, P, Conclusion, in: Ders., Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 1976, 89–95, 92. 268 Vgl. R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 32. 269 R, P, Le conflit des interpre´tations. Essais d’hermeneutique, Paris 1969. 270 Vgl. R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 44. 271 Ebd. 272 „Die Konsequenz für die Hermeneutik ist beträchtlich. Man kann Hermeneutik und Ideologiekritik nicht mehr einander entgegensetzen; die Ideologiekritik ist der notwendige Umweg, den das Sich-Verstehen machen muß, wenn es sich durch die Sache des Textes, nicht durch die Vorurteile des Lesers bestimmen lassen will. Die Dialektik von Objektivierung und Verstehen, die wir zunächst auf der Ebene des Textes, der Textstrukturen, des Sinnes und des Verweisungsbezugs wahrgenommen haben, muß daher auch in das Zentrum des Sich-Verstehens gestellt werden. Die Verfremdung ist auf allen Ebenen der Analyse die Bedingung des Verstehens.“ (a.a.O., 34). 273 A.a.O., 44.

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

somit letztlich auch die Erzählung in ihrer Autonomie ernst zu nehmen und vor rein subjektivem Zugriff zu schützen. Vor diesem Hintergrund also sind Ricœurs Ausführungen zur „bewohnbaren Welt“274 zu lesen. Erst durch die Interpretation werde eine Narration zum Angebot einer bewohnbaren Welt: Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Genau dies nenne ich Textwelt, die diesem einzigen Text eigene Welt. Diese Textwelt ist also nicht die Welt der Umgangssprache. Sie konstituiert vielmehr eine neue Art der Verfremdung, die man Selbstverfremdung des Wirklichen nennen könnte. Die Fiktion verfremdet unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wir sagten, daß ein Bericht, eine Erzählung, ein Gedicht immer einen Verweisungsbezug hat. Aber dieser Verweisungsbezug bricht mit dem der Umgangssprache; durch die Fiktion und durch die Dichtung werden in der alltäglichen Wirklichkeit neue Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins eröffnet. Fiktion und Poesie zielen auf das Sein, jedoch nicht im Modus des gegebenen Seins, sondern im Modus des Seinkönnens. Eben dadurch wird die alltägliche Wirklichkeit mit Hilfe dessen, was man die durch die Literatur bewirkten imaginativen Veränderungen des Wirklichen nennen könnte, verwandelt.275

Es ist für Ricœur die Welt des Textes, die durch die Narration und deren Interpretation eröffnet werde. Dabei hebt er immer wieder hervor, dass sich das Selbst diese Welt nicht einfach aneigne respektive sein Vorverständnis der Textwelt oktroyiere. Vielmehr hebt Ricœur auf die Textwelt als eigenständige Größe ab: Diese Welt des Textes regt den Leser, den Hörer an, sich selbst angesichts des Textes zu verstehen und, in Imagination und Sympathie, das Selbst zu entwickeln, das fähig ist, diese Welt zu bewohnen, indem es darin seine eigensten Möglichkeiten entfaltet.276

Auch wenn sich im ricœurschen Denken Einflüsse der Konstanzer Schule finden lassen, gehen seine Ausführungen über diese hinaus. Zwar stimmt er Jauß und Iser zu, die das Augenmerk auf den Konnex von Text und Rezeption legen und die Rezeption von Texten als sinnkonstituierende Tätigkeit verstehen. Doch rückt Ricœur mit seiner Rede von der Textwelt stärker den Text als eigenständige Größe ins Zentrum seiner hermeneutischen Arbeit. In der Auseinandersetzung mit der Welt des Textes, die aufgrund mimetischer Tätigkeit entstehe, entwickle das menschliche Dasein sein Selbstverständnis. Somit habe sich Hermeneutik auf die Welt des Textes zu beziehen: Zunächst legt die Hermeneutik in ihrem textuellen Aspekt den Akzent weder auf die dialogische Beziehung zwischen Autor und Leser, noch selbst auf die Entscheidung des Hörers des Wortes, sondern wesentlich auf die Welt des Textes. Auf der Grundlage dieser Welt des Textes bildet sie das Selbstverständnis aus. Wenn die Sprache nicht für sich selbst

274 Jan Assmann hat diesen Begriff produktiv aufgegriffen: A, J, Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, in: Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 200, 101–123, 107. 275 R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 32. 276 R, P, Gott nennen, 177.

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3. Erzählungen als „bewohnbare Welten“ – die Wertschätzung der Narration

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besteht, sondern angesichts der Welt, die sie öffnet und entdeckt, dann ist die Interpretation der Sprache nicht unterschieden von der Interpretation der Welt.277

Deutlich klingt hier an, was Ricœur aus der poetischen Mimesis des Aristoteles zieht: die kreative, ent- und aufdeckende Kraft der mimetischen Tätigkeit. Vor diesem Hintergrund kann er davon sprechen, dass „die dichterische Sprache eine neue Welt [öffnet], die die Sache des Textes ist, die Welt der Dichtung.“278 Darin ist die bedeutende hermeneutische Weichenstellung zu sehen, die Ricœur vornimmt. Denn die „Sache des Textes“ sei weder hinter der Textwelt noch in der Struktur des Textes zu suchen.279 Vielmehr solle man sich vom Text leiten lassen, sich gewissermaßen vor ihm verstehen: Daher heißt Verstehen Sich-Verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen, sondern – so wäre wohl richtiger zu sagen – das Selbst wird durch die ,Sache‘ des Textes konstituiert.280

Es handle sich bei der Interpretation von Texten nicht um einen rein intellektuellen Akt oder um ein tieferes Verständnis der Autorin oder des Autors, sondern vielmehr um die Konstitution des Selbst, darum, „sich angesichts des Textes [zu] verstehen.“281 Über den Umweg der Interpretation konstituiere sich das Selbst, das keinesfalls mit einer rein subjektiven Aneignung zu verwechseln sei.282 Ricœur geht damit über eine reine „Ontologie des Verstehens“283 hinaus, indem er seine Hermeneutik in der Auseinandersetzung mit Sprachtheorie entwickelt und die Begriffe der Interpretation und des Verstehens gleichzeitig ausweitet. Seine Hermeneutik ist als Hermeneutik des Selbst zu verstehen, die sich vor der Textwelt konstituiere: 277

A.a.O., 181. A.a.O., 177. 279 Vgl. a.a.O., 159. 280 R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 33. 281 R, P, Gott nennen, 180. 282 „That appropriation does not imply the secret return of the sovereign subject can be attested to in the following way: if it remains true that hermeneutics terminates in self-understanding, then the subjectivism of this proposition must be rectified by saying that to understand oneself is to understand oneself in front of the text. Consequently, what is appropriation from one point of view is disappropriation from another. To appropriate is to make what was alien become one’s own. What is appropriated is indeed the matter of the text. But the matter of the text becomes my own only if I disappropriate myself, in order to let the matter of the text be. So I exchange the me, master of itself, for the self, disciple of the text.“ (R, P, Phenomenology and hermeneutics, in: Ders., Hermeneutics and the Human Sciences. Essays on Language, Action and Interpretation, bearb., übers. u. eingeleitet v. John B. Thompson, Cambridge 2016, 61–89, 73). 283 R, P, Existenz und Hermeneutik, in: Ders., Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), ausgewählt, hg. u. eingeleitet v. Daniel Creutz/ Hans-Helmuth Gander, Freiburg im Breisgau/München 2010, 23–47, 26. 278

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Genau dies nenne ich Textwelt, die diesem einzigen Text eigene Welt.284

Nach Ricœur geht es bei jeder Interpretation um einen Zugang zur Existenz „über den Umweg“285. Durch die Interpretationsarbeit stoße das menschliche Dasein auf seine Existenz, die sich allerdings immer nur im hermeneutischen Neuvollzug gegeben wisse.286 Die Erzählung sei – neben dem Symbol und der Metapher – deswegen von so herausragender Bedeutung für das Selbst, da sie die Wirklichkeit nicht einfach abbilde, sondern neu und immer wieder anders beschreibe.287 Dabei sieht er die Fiktion als „ausgezeichnete[n] Weg der Neubeschreibung der Wirklichkeit“288, denn in fiktionalen Erzählungen können neue Möglichkeiten vorgestellt werden – das hat Ricœur mit der Mimesis II ausführlich erläutert. Die Textwelt als solche ist für ihn durch ihre Fiktionalität ausgezeichnet, was. wie gesehen, mit seiner Aufnahme und Aufweitung der aristotelischen Mimesis zu tun hat: Wie die Textwelt nur in dem Maße wirklich ist, als sie fiktiv ist, gelangt die Subjektivität des Lesers zu sich selbst nur in dem Maße, als sie in Schwebe versetzt, aus ihrer Wirklichkeit gelöst und in eine neue Möglichkeit gebracht wird, wie die Welt selbst, die der Text entfaltet. Anders gesagt: die Fiktion ist eine ebenso grundlegende Dimension des Verweisungsbezugs des Textes wie der Subjektivität des Lesers. Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginativen Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich.289

Festzuhalten ist, dass Erzählungen für Ricœur ein unerschöpfliches „Laboratorium“290 darstellen, in dem sich unzählige Identifikationsangebote, Lebensentwürfe, Handlungsstränge und ethische Überzeugungen finden ließen.291 Durch die Interpretation werde der Text als Textwelt bewohnbar. Ricœur verdeutlicht die dem Text innewohnende Kraft der Verwandlung des Selbst, des Neuverstehens. Das Selbst verstehe sich vor der Textwelt neu. Die Subjektivität des Lesenden müsse sich somit der Textwelt ausliefern, um über den Umweg wieder zu sich selbst zu kommen292 – im Anschluss an die aristotelische κα θαρσις. Somit führt Ricœur seine „Daseinshermeneutik als literarische Hermeneutik durch“293. Durch diese enge Verknüpfung kommt er zu einer „Hermeneutik des Selbst“. Mit

284

R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 32. R, P, Existenz und Hermeneutik, 32. 286 Vgl. a.a.O., 44. 287 Vgl. a.a.O., 32. 288 Ebd. 289 A.a.O., 33. 290 R, P, Das Selbst als ein Anderer, 143. 291 Vgl. a.a.O., 143 f. 292 Vgl. G, W, Sich in Gott verstehen, in: Dietrich Korsch (Hg.), Paul Ricœur und die evangelische Theologie (RPT 76), Tübingen 2016, 46–59, 57. 293 A.a.O., 55. 285

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4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“

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ihr wird die unüberwindbare Bezogenheit des Selbst auf die Narration deutlich, die sich auf die Erkenntnis stützt, dass das „Selbstsein nicht in unmittelbarer Selbstpräsenz aufgeht“294, sondern vielmehr auf den Umweg des Verstehens angewiesen sei und bleibe.295 Neben dem Symbol, das „die Mehrdeutigkeit des Seins mittels der Vieldeutigkeit unserer Zeichen“296 zur Sprache bringe, und der Metapher, der, indem „sie die Wirklichkeit ,neu beschreibt‘“297, eine „heuristische Funktion“298 für das menschliche Dasein zuteil werde, ist es in besonderer Weise die Erzählung, die für Ricœur zur Selbstkonstitution beiträgt und somit einen gewichtigen Umweg des Verstehens bedeutet: „Was in einem Text zu interpretieren ist, ist der Vorschlag einer Welt, der Entwurf einer Welt, die ich bewohnen könnte und in der ich meine eigensten Möglichkeiten entfalten könnte.“299 Diese Angewiesenheit des Daseins auf den Umweg über die Narration wird verstärkt durch Ricœurs Konzeption der narrativen Identität, die im Folgenden dargestellt wird.

4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“300 „Mit ,narrativer Identität‘ bezeichne ich jene Art von Identität, zu der das menschliche Wesen durch die Vermittlung der narrativen Funktion Zugang haben kann.“301 In diesem definitorischen Satz liegt sogleich eine harsche Abgrenzung. Der Mensch könne nur über die Vermittlung der narrativen Funktion, nur über einen Umweg Zugang zu sich selbst, zu seiner Identität haben. Ein direkter Weg scheint ihm verwehrt. Diese Grundeinsicht Ricœurs zieht sich, wie bereits angedeutet, durch sein gesamtes Werk. So geht es in seinen Ausführungen zu der Interpretation, dem Symbol, der Metapher und schließlich der Erzählung immer auch – meist implizit, teils explizit – um die Bedeutung dieser sprachlichen Ausdrücke für die Selbstreflexion. All seine hermeneutischen Schriften tangieren in letzter Instanz die Frage nach der Bedeutung für das Selbst in der lebendigen Begegnung mit narrativen Figuren.302 Die Frage nach dem Selbstverstehen auf 294 A, E, Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst – im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs, Freiburg im Breisgau 1999, 46–69, 50. 295 Vgl. R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 23. 296 R, P, Das hermeneutische und das semantische Problem des Doppelsinns, in: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 81–100, 94. 297 R, P, Die lebendige Metapher, 28. 298 Ebd. 299 R, P, Eine intellektuelle Autobiographie, 51. 300 Die nachfolgenden Ausführungen sind folgendem Aufsatz entnommen: K, B, Erfahrungen sexualisierter Gewalt verstehen?, 215–234. 301 R, P, Narrative Identität, 209. 302 Vgl. M, J, Ricœur zur Einführung, 184.

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

dem Umweg der Vermittlung ist es, die die philosophische Arbeit Ricœurs wie ein roter Faden durchzieht. Identität – in aller Grundsätzlichkeit zunächst noch ohne Zuspitzung auf personale Identität – sieht Ricœur aus zwei Momenten zusammengesetzt, die in gegenseitiger Spannung zueinander gehalten werden, aus idem und ipse.303 Er nähert sich seiner identitätstheoretischen Fragestellung unter dem Problemhorizont des Zusammenhangs von Selbst und Zeit. Mit dem ersten Moment, dem idem, bezeichnet er eine Form von Gleichheit, von „Selbigkeit“304, eine „Form von Unveränderlichkeit in der Zeit.“305 Es handelt sich hierbei um das konstitutive Kriterium der Identifizierbarkeit, die als unabdingbarer Teil der Identität angesehen wird – quantitativ wie qualitativ – und der gleichzeitig eine zeitliche Komponente innewohne. Wenn es um die Frage nach eindeutiger Identifizierbarkeit geht, so stellt sich das Problem aufgrund der Zeit. Der Pol der idemIdentität garantiert die Bezeugung sowie Identifizierbarkeit über eine Zeitspanne hinaus, also die Unveränderlichkeit trotz der Zeit, beziehungsweise über die Zeit hinweg. Man könnte die Seite der idem-Identität auch mit Begriffen wie „Beständigkeit“ oder „Beharrlichkeit“ umschreiben. Das Selbst kann als Selbst identifiziert werden, obwohl es einer zeitlichen Entwicklung unterworfen ist. Zu dieser Beständigkeit der Identität über die Zeit hinaus gesellt sich eine weitere Komponente, die in ihrem Bezug zum idem der Komplexität des Selbst gerecht wird. Mit dem Moment des ipse, der „Selbstheit“, trägt Ricœur dem Umstand der Veränderung innerhalb der Zeit sowie der Individualität Rechnung. Im Hinblick auf eine personale Identität ist mit der Selbstheit auch das Moment der Reflexivität des Individuums – im Sinne von Selbstbezüglichkeit – bedacht. Erfahrungen, Lebenswendungen und reflexive Vorstellungen spielen hier eine Rolle.306 Das Selbst kann sich als Selbst identifizieren, weil es weiß, was es ist: Ipse beantwortet also die Frage danach, „wer“ wir sind, idem danach, „was“ wir sind. Selbigkeit und Selbstheit sind nun aber nicht als voneinander getrennt zu betrachten,307 sondern überlagern und bedingen sich gegenseitig; es seien zwei

303 Anschaulich verdeutlicht Gerrit Glas die Beziehung von idem und ipse anhand des Beispiels der Identifizierbarkeit eines Baumes (s. G, G, Idem, Ipse, and Loss of the Self., in: Philosophy, Psychiatry & Psychology 10/4 [2003], 347–352, 347). 304 R, P, Das Selbst als ein Anderer, 144. 305 R, P, Narrative Identität, 209. 306 „Mit dem ersten Begriff (Idem-Identität) zielt Ricœur auf die Tradition der Identität im Sinne der Identifizierbarkeit von etwas oder jemandem über einen Zeitraum hinweg. Der zweite Begriff (Ipse-Identität) bezieht sich auf Selbstkonzepte, also Selbstverständnisse in der Zeit. Die Identität einer Person bedarf beider Dimensionen, die miteinander verschränkt sind. Ohne eine Identifikation in der zeitlichen Erstreckung könnten wir ebenso wenig von einer Identität der Person sprechen wie ohne das Selbstbild oder die Identitätsvorstellung, also ohne das, was uns in unserer Existenz ausmacht.“ (H, H, Narrative und moralische Identität bei Paul Ricœur, in: Concilium 36/2 [2000], 179–187, 179). 307 Dass Ricœur lediglich eine Unterscheidung auf theoretischer Eben vornimmt, um die Vermittlungsfunktion der Narration zu plausibilisieren wird unter anderem an folgender

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4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“

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Seiten derselben Medaille, Unmittelbarkeit und Reflexivität.308 Nun geht es Ricœur – im Gegensatz zu Kant, bei dem sich beide Momente zwar finden lassen, der sie aber in ihrer dialektischen Bezogenheit nicht genauer analysiert – darum, den Zusammenhang der beiden genauer auszuleuchten. Dabei versucht er, zwei Irrwegen zu entgehen: der Annahme eines zeitlosen Kerns der Identität, der nur angereichert werde, sowie der Zerstreuung des Selbst in Einzelmomente.309 Bei der Annahme eines zeitlosen Kerns werde die Veränderbarkeit ausgeblendet und somit auch die Erfahrung, die ein Mensch in seinem Lebensvollzug mache. Bei der Zerstreuung würden jegliche Kontinuität, jegliche Sedimentierung von Handlungen, charakterlichen Eigenschaften sowie Gewohnheiten in Abrede gestellt.310 Selbigkeit und Selbstheit müssen für Ricœur in einem Verhältnis zueinander gedacht werden, in dialektischer Spannung und Angewiesenheit.311 In dieser Spannung würden somit zwei Momente personaler Identität zusammengehalten: die stabilen, sedimentierten Teile der Identität (idem) auf der einen und die sich entwickelnden, verändernden, dynamischen Momente der Identität (ipse) auf der anderen Seite. Doch stelle vor allem das ipse vor Herausforderungen: Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber? Auf diese Frage wird zunächst geantwortet, daß jemand benannt wird, das heißt durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Doch worauf stützt sich die Dauerhaftigkeit des Eigennamens? Was berechtigt dazu, daß man das so durch seinen Namen bezeichnete Subjekt der Handlung ein ganzes Leben lang, das sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, für ein und dasselbe hält?312 Passage deutlich: „Ich will mich nicht darauf beschränken, ganz einfach Selbstheit und Selbigkeit gegenüberzustellen, als ob die Selbigkeit der Was-Frage und die Selbstheit der WerFrage entspräche. In gewissem Sinne ist die Was-Frage in der Wer-Frage enthalten. Kann ich die Frage ,Wer bin ich?‘ stellen, ohne mich zu fragen, was ich bin? Die Dialektik der Selbigkeit und der Selbstheit wohnt so der ontologischen Konstitution der Person inne.“ (R, P, Annäherung an die Person, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze [1970–1999], übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 227–250, 245). Es handelt sich also um eine theoretische Unterscheidung der beiden Facetten, keinesfalls um eine Trennung. 308 Vgl. H, H, Narrative und moralische Identität bei Paul Ricœur, 179. 309 „So könnte die Philosophie der Person von den falschen Problemen befreit werden, die aus dem griechischen Substantialismus entstanden sind. Die narrative Identität entgeht der Alternative des Substantialismus: Unveränderlichkeit eines atemporalen Kerns oder Zerstreuung in Eindrücken, wie das bei Hume und Nietzsche zu sehen ist.“ (R, P, Annäherung an die Person, 247). 310 „In der Tat mündet das Problem der personalen Identität ohne Hilfe der Narration unausweichlich in eine unlösbare Antinomie: denn entweder postuliert man ein bei aller Vielfältigkeit seiner Zustände selbstidentisches Subjekt oder man vertritt wie Hume und Nietzsche die Ansicht, dieses identische Subjekt sei bloß eine substantialistische Illusion, deren Beseitigung bloß eine reine Vielfalt von Kognitionen, Emotionen und Volitionen übrig läßt.“ (R, P, Zeit und Erzählung III, 395 f.). 311 W, A, Hermeneutic Notion of a Human Being as an Acting and Suffering Person. Thinking with Paul Ricœur, in: Ethics in Progress 4/2 (2013), 18–33, 22–24. 312 R, P, Zeit und Erzählung III, 395.

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

Die Variabilität des Verhältnisses von idem und ipse im Horizont der Zeitlichkeit verdeutlicht Ricœur anhand des „Charakters“ und des „Versprechens“. Unter ersterem versteht er „die Gesamtheit der Unterscheidungsmerkmale, die es ermöglichen, ein menschliches Individuum als dasselbe zu reidentifizieren.“313 Identifizierbarkeit sei das Hauptkriterium für den idem-Pol der Identität, der auch hier wieder anklingt. Jedoch zeichnet Ricœur an dieser Stelle ein Moment der Ipseität ein, wenn er den Charakter als Genese von erworbenen und habitualisierten Handlungen versteht, die eine gewisse Veränderung, wenn auch in schwacher Form, implizierten. Somit rückten ipse und idem eng zusammen, das idem scheine das ipse zu verschlingen. Ricœur leuchtet somit die Grenze einer scheinhaften Auflösung des einen Pols in den anderen aus. Das umgekehrte Extrem, nahezu ein Auseinanderfallen von idem und ipse, zeichnet er anhand des Versprechens nach.314 Das Halten eines Versprechens liefere eine eigene Beständigkeit in der Zeit, die allerdings auf Seiten des ipse ihre Korrelation findet und daher losgelöst vom idem gedacht werden könne. Es gehe um eine Zusage, die trotz eines zeitlichen Hiatus von Versprechen und Halten, in dem eine Veränderung des Selbst möglich sei, Geltung behalte. Beiden Extremen, dem Auseinander- sowie Zusammenfallen von idem und ipse, ist somit nachgedacht. Das, was diese beiden Pole in dialektischer Spannung hält, was ihre bleibende Bezogenheit aufeinander auszudrücken vermag und produktiv ins Werk setzt, erblickt Ricœur in der narrativen Identität, die an die Frage nach dem Verhältnis von idem und ipse anknüpft, wobei er sie an Letzteres koppelt. Der formalen Frage nach dem „Was“ (idem) wird die narrative Identität gegenübergestellt (ipse). Diese könne „die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen“315. Dabei sei und bleibe das Selbst immer auf ein Verstehen angewiesen. Das Selbst sei nicht unmittelbar greifbar, sondern könne nur über den Umweg erahnt werden, „über den Umweg verschiedener kultureller Zeichen.“316 Diese kulturellen Zeichen erkennt Ricœur nicht nur in schriftlichen, sondern auch in nichtschriftlichen Zeugnissen.317 Es ist „der Begriff des Lebenszusammenhangs“318 313

R, P, Das Selbst als ein Anderer, 148. Am Versprechen wird gleichzeitig die ethische Ausrichtung der narrativen Identität bei Ricœur ganz deutlich. Mit diesem Sprechakt kommt immer eine andere Person beziehungsweise Institution in den Blick, an die das gegebene Versprechen gerichtet ist. Immer wieder implizit und dann explizit in Das Selbst als ein Anderer in den Abhandlungen Fünf bis Sieben, in der sog. „Kleinen Ethik“, versteht Ricœur das Selbst als ein ethisches Selbst, an das Modelle narrativer Ethik anknüpfen. Vgl. dazu zum Beispiel die Beiträge in J, K (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (DZPh 17), Berlin 2007 sowie B, A/O, S/S, B (Hg.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricœurs Ethik, Würzburg 1999. 315 R, P, Zeit und Erzählung III, 396. 316 R, P, Narrative Identität, 222. 317 Vgl. M, U I. Paul Ricœur. Die Grundzüge seiner Philosophie. Einführung in Französische Denker I. Aachen 1991, 137. 318 R, P, Narrative Identität, 211. 314

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4. Die Erzählung und das Selbst – die „narrative Identität“

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Diltheys, der ihm für die Verbindung beider Momente als Hilfe gereicht. Im Lebenszusammenhang könne das eigentümliche Verhältnis von Selbigkeit und Selbstheit konstruktiv gedacht werden. Dieses sieht Ricœur in einer Vermittlung über die Erzählung verbürgt, da diese idem und ipse produktiv ins Werk setze und in Bezogenheit aufeinander erhalte.319 Angefangen bei „der Identität der Erzählung“ über die „Identität der Figuren der erzählten Geschichte“ nähert er sich der „Identität des Selbst“.320 Ricœur geht grundsätzlich von einer Korrelation der erzählten Geschichte und der Handlungsfigur aus. Die Erzählung verhalte sich korrelativ zur Identität der Erzählfigur.321 Erzählung und Erzählfigur bedingten sich gegenseitig. Der Konfigurationsakt habe Auswirkungen auf die Identität der Figuren, der Handlungstragenden: Wenn nämlich jede Geschichte als eine Kette von Transformationen angesehen werden kann – ausgehend von einer anfänglichen Situation bis hin zu einer abschließenden Situation –, so kann die narrative Identität des Helden nichts anderes sein als der einheitliche Stil von subjektiver Transformation.322

Untermauern lässt sich diese Abhängigkeit, dieses Wechselspiel beider Größen durch verschiedene literarische Beispiele. Interessant sind dabei vor allem die Grenzen des Möglichen: Welche Veränderungen und Wendungen der Erzählfigur hält die Erzählung vice versa aus?323 Inwiefern kann die diskordante Konkordanz von der Erzählung oder aber von der Erzählfigur garantiert werden? Das Erstaunliche an der Identität der Erzählfigur in ihrer Wandelbarkeit ist, dass sie, sogar in der scheinbaren Auflösung ihrer selbst doch nicht ganz verschwindet. Die Ipseität bleibt in der Frage nach der Identität, dem „Wer“, gewahrt. Literarische und theatralische Stoffe eröffnen einen Möglichkeitsraum, in dem über Identität nachgedacht wird und der gleichzeitig dem Individuum im Sinne des Homo narrans zur Hilfe gereicht.324 Wie verhält es sich nun, im Anschluss an die Identitätsbestimmung von Erzählung in Korrelation mit den in ihr geschilderten und sie gleichsam stützenden Erzählfiguren, mit der narrativen Identität? Was kann eine solche zur Bestimmung des Verhältnisses von idem und ipse im Vollzug

319

Vgl. ebd. Ebd. 321 Vgl. a.a.O., 212. 322 A.a.O., 215. 323 Ricœur selbst führt immer wieder Musils Mann ohne Eigenschaften und Joyces Ulysses an, um die Grenzen auszuloten. Als ein anderes Beispiel für den Zusammenhalt einer Erzählung in Absehung der Identität der Erzählfiguren kann das Genre des Großstadtromans angesehen werden. In Wolfgang Koeppens Tauben im Gras wird die Erzählung durch die unterschiedlichen, teils verschwimmenden Wahrnehmungen verschiedenster, wenig konturierter Erzählfiguren einer Großstadt zusammengehalten, die als einendes Objekt dient. 324 Vgl. auf dieser Linie auch: T, C, Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2017, 600–605. 320

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

menschlichen Daseins beitragen und wie kann sie zu einem neuen Selbstverständnis führen? Damit ist die Frage nach der Rezeption, der „Aneignung durch ein reales Subjekt“325 gestellt. Vor allem aus der Fiktivität der Erzählung und der Erzählfigur leitet Ricœur die Stärke eben jener für die Aneignung des Subjekts ab. Durch die Konfiguration als mimetische Tätigkeit, als Nachahmung von handelnden Menschen mit allen Implikationen der Mimesis I, werde die Wirklichkeit neu interpretiert, ja refiguriert.326 In der zuvor angesprochenen Vermittlung, dem Umweg der Selbsterkenntnis, sieht Ricœur das Potential seiner vorgestellten narrativen Identität und schließt die Identität der Erzählfigur mit der Identität der rezipierenden Person kurz: Die narrative Vermittlung unterstreicht so den bemerkenswerten Charakter der Selbsterkenntnis als einer Selbstauslegung. Die Aneignung der Identität der fiktiven Figur durch den Leser ist das bevorzugte Vehikel dieser Auslegung. Ihr spezifischer Beitrag besteht im Gestaltcharakter der Erzählfigur, der bewirkt, daß das Selbst, erzählerisch interpretiert, sich als ein ebenfalls figuriertes Ich erweist, ein Ich, das sich so oder so figuriert.327

An die Erkenntnis der eigenen Figuralität schließt sich sodann der Gedanke einer Refiguralität an. Durch die Aneignung einer Erzählfigur innerhalb einer Erzählung, einer erzählten Welt,328 würden gewissermaßen die engen Ketten des eigenen Selbst aufgesprengt und ein weiter Raum verschiedenster Möglichkeiten des Selbst werde eröffnet. Die Kehrseite dieses Ermöglichungsraums bestehe in der Gefahr, sich in den verschiedenen Möglichkeitsvariationen zu verlieren, sei es, sich hinter den vorgestellten Figuren zu verstecken oder aber von Möglichkeit zu Möglichkeit zu gleiten, ohne zu einer wirklichen Refiguralität des eigenen Selbst zu gelangen.329 Die Erzählung wird also in ihrer ganzen Potentialität ernst genommen: Sie eröffne einen Möglichkeitsraum, liefere den „Entwurf […] einer bewohnbaren möglichen Welt“330 und gebe durch ihre Figuren und Motive verschiedene Aneignungspunkte für ein rezipierendes Selbst, das diese für die eigene Selbsterkenntnis annehmen könne. Es bleibt ein Angebot zur Identifikation. Durch die dreifache Mimesis und das dialektische Ineinander von idem und ipse werden sowohl die Erzählung als auch die rezipierende Person in ihrer Individualität, in ihrer Genese ernst genommen und in einen lebendigen Dialog ge-

325

R, P, Narrative Identität, 221. Vgl. ebd. 327 A.a.O., 222. 328 Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine historische oder eine fiktionale Erzählung handelt. Mit der Vorstellung der „überkreuzten Referenz“ spielt Ricœur Fiktion und Geschichtsschreibung nicht gegeneinander aus, sondern stellt fest, dass beide voneinander Anleihen machen. Dies hängt eng mit den Einsichten bezüglich der Mimesis I zusammen: Auch fiktionale Texte nehmen Grundmotive und -handlungen menschlichen Daseins auf und verarbeiten diese, haben also genauso Anteil an der Wirklichkeit wie die vermeintlich objektive Geschichtsschreibung. 329 R, P, Narrative Identität, 223–225. 330 R, P, Die lebendige Metapher, 156. 326

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5. Fazit

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bracht. Keineswegs oktroyiert die Erzählung, in welcher Form auch immer, dem rezipierenden Subjekt die zu bewohnende Welt und keineswegs oktroyiert das rezipierende Subjekt der Erzählung ein Selbstverständnis.

5. Fazit Ricœur bringt die augustinische Frage nach der Zeit produktiv ins Gespräch mit der Poetik des Aristoteles und nähert sich somit der Frage nach dem Selbstverstehen des menschlichen Daseins. Narrationen ermöglichten es durch ihren mimetisch gestalteten Kompositionsakt, eine Zeiterfahrung des menschlichen Daseins zu plausibilisieren, indem sie das Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – mit Augustin gesprochen der dreifachen Gegenwart – versprachlichten und somit erfahrbar machten. Neben den Implikationen für ein Zeitverstehen, bietet die Lektüre Ricœurs vor allem für die umfassende, grundanthropologische Frage nach dem Selbstverstehen wichtige Hinweise. Für Ricœur steht fest, dass das Selbst unabdingbar auf einen Umweg über die Erzählung angewiesen sei. Die aristotelische Mimesis spaltet er in eine dreifache auf und plausibilisiert damit das Vorher und Nachher einer Narration. So hält Ricœur an der hermeneutischen Grundüberzeugung fest, dass Verstehen immer eine existentielle Dimension habe, ein Grundvollzug menschlichen Daseins sei. Über die dreifache Mimesis gelingt es Ricœur, das Erschließungspotential der narrativen Verarbeitung zu plausibilisieren. So sieht er die Aufgabe der Hermeneutik nicht in dem Verstehen der Autorenintention, sondern postuliert die Autonomie des Textes und dessen Textwelt. Während mit der Mimesis I die Voraussetzungen für das Erzählen reflektiert werden und gleichzeitig in klassischer Fasson das Vorverständnis benannt wird, wird durch die Mimesis III deutlich, dass für Ricœur der Sinn der Erzählung seinen Ausgang erst in der Auseinandersetzung mit dem Text, in der Lektüre findet. In seinen Ausführungen zu der Erzählung als bewohnbarer Welt und seiner narrativen Identität wird die Beziehung von Text und Selbst deutlich. In ihnen zeigt sich gleichzeitig die Wertschätzung der Narration gegenüber dem gesprochenen Wort.331 Denn nicht etwa ist das gesprochen Wort der Erzählung überlegen. Vielmehr biete der Verlust des situationsgebundenen, individuellen Bezugs die Möglichkeit für eine unerschöpfliche Variation an Identifikations- beziehungsweise genauer gesagt, Wohnungsangeboten.332 Diese An-

331 „It is in this sense that writing tears itself free of the limits of face-to-face dialogue and becomes the condition for itself becoming-text.“ (R, P, On Interpretation, in: Ders., From Text to Action. Essays in Hermeneutics II, übers. v. Kathleen Blamey and John B. Thompson, London 1991, 1–22, 17). 332 „The right of the reader and the right of the text converge in an important struggle that generates the whole dynamic of interpretation. Hermeneutics begins where dialogue ends.“ (R, P, Speaking and Writing, in: Ders., Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 1976, 25–44, 32).

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

gebote können Ricœur zufolge durch die Lektüre aufgesucht werden – im Sinne einer stets individuellen Rezeption – und sich finden lassen – im Sinne der Autonomie der Textwelt, die durch die Interpretation von der Erzählung ausgehend zugänglich sei. Mit der Rede von der Textwelt kommt das Moment der überkreuzten Referenz zum Ausdruck, die Einsicht, dass auch fiktionale Texte immer Anleihen an der Wirklichkeit machten. Aus ihr lässt sich im aristotelischen Sinne die Einsicht ableiten, dass Erzählungen sich somit nie unmittelbar auf die gegebene Welt beziehen, sondern eine neue, andere bewohnbare Welt erst entwerfen. Indem Erzählungen nicht einfach nur Wirkliches abbilden, können sie Mögliches erst eröffnen und somit den Rezipierenden neue Möglichkeiten eines Selbst- und Weltverständnisses ermöglichen.333 Auf das Selbst- und Weltverständnis zielt das hermeneutische Paradigma vom Verstehen vor dem Text. Es geht nach Ricœur bei der Interpretation eines Textes um ein Wechselspiel von Text- und Selbsterschließung: „To understand oneself is to understand oneself as one confronts the text and to receive from it the conditions for a self other than that which first undertakes the reading.“334 Die dreifache Mimesis garantiert bei Ricœur den Konnex von Selbst- und Narrationsverstehen, da sie beide Pole in produktiver Spannung hält. In diesem Sinne ermögliche die Lektüre „die imaginativen Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich.“335 Die auf Stufe der Mimesis II geschaffene Narration korreliert mit der mimetischen Rezeption der Mimesis III. So gelingt es Ricœur, die zuvor erarbeitete Funktion der κα θαρσις in ihrer ganzen Stoßkraft für die Hermeneutik in Anschlag zu bringen. Denn die von der Narration produzierte Neubeschreibung des Vorhandenen – die Vorstellung des Möglichen – finde ihr Ziel im rezipierenden Subjekt und stoße die Neubeschreibung des je eigenen Selbstverständnisses an. Über das Rezipieren der kreativ-mimetischen Verarbeitung der Wirklichkeit ergibt sich nach Ricœur auf Seiten der Rezipierenden die Möglichkeit, Neues zu entdecken und zu verstehen.336

333 Vgl. auf dieser Linie auch: B, F, Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen, Berlin 2022, 295 f. 334 R, P, On Interpretation, 17. 335 R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 33. 336 „Not the intention of the author, which is supposed to be hidden behind the text; not the historical situation common to the author and his original readers; not the expectations or feelings of these original readers; not even their understanding of themselves as historical and cultural phenomena. What has to be appropriated is the meaning of the text itself, conceived in a dynamic way as the direction of thought opened up by the text. In other words, what has tobe appropriated is nothing other than the power of disclosing a world that constitutes the reference of the text. In this way we are as far as possible from the Romanticist ideal of coinciding with a foreign psyche. lf we may be said to coincide with anything, it is not the inner life of another ego, but the disclosure of a possible way of looking at things, which is the genuine referential power of the text.“ (R, P, Conclusion, in: Ders., Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 1976, 89–95, 92).

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5. Fazit

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An diese narrationstheoretischen sowie grundhermeneutischen Einsichten schließen sich Ricœurs Vorstellungen zur Hermeneutik des Selbst an. Das Selbst sei nicht einfach gegeben, sondern aufgegeben. „Das gebrochene Cogito“337 bildet für Ricœur den bleibenden Ausgangspunkt der Aufgabe des Selbst, das sich erst über den Umweg vermittelter Erschließungs- und Deutungsprozesse338, in diesem Fall über die Narration, selbst gewönne. „Die Transparenz des Subjekts für sich selbst“339 ist für Ricœur eine Illusion. Vielmehr müsse sich das vermeintliche Selbst zunächst verlieren, um sich durch die Lektüre zu gewinnen, sich also vor dem Text zu verstehen.340 Es geht also ausdrücklich um den Zusammenhang von Identität und Erzählung, die sprachlich-kreative Explikation von Erfahrungen und daran anschließend die Fragilität sowie Fluidität von Identität an sich. Mit dem Konzept der narrativen Identität gelingt es Ricœur, die Pole von Konstanz und Veränderung – idem und ipse – der menschlichen Identität wahrzunehmen und in ein produktives Spannungsverhältnis zu setzen. Gleichzeitig unterstreichen seine Ausführungen noch einmal sein Konzept einer Hermeneutik des Selbst. Denn das Selbst gewinne sich nicht nur über den Umweg der Narration, sondern werde in seiner Eigenart nur durch die narrative Funktion zusammengehalten. Ohne die Vermittlungsleistung könne man gar nicht von einem Selbst sprechen, das sich gewinnen könnte. Es ist deutlich geworden, wie sehr das menschliche Dasein auf die Narration angewiesen ist. Selbst- und Narrationsverstehen sind zwei Seiten einer Medaille. Der Text eröffne eine Welt, die das menschliche Dasein bewohnen könne. Er zeigt das Mögliche vor dem Wirklichen und trägt somit zu einem neuen Selbstverstehen bei. Ricœur bemüht sich, das Verhältnis von Text und Rezipierenden in produktiver Spannung zu halten, ohne es in eine oktroyierende Dynamik zur ein oder anderen Seite aufzulösen: Are we not putting the meaning of the text under the power of the subject who interprets it? This objection may be removed if we keep in mind that what is ,made one’s own‘ is not something mental, not the intention of another subject, presumably hidden behind the text, but the project of a world, the pro-position of a mode of being in the world that the text opens up in front of itself by means of its non-ostentive references. Far from saying that a subject already mastering his own way of being in the world projects the a priori of his selfunderstanding on the text and reads it into the text, I say that interpretation is the process by which disclosure of new modes of being […] gives the subject a new capacity for knowing himself. If the reference to the text is the project of a world, then it is not the reader who primarily projects himself. The reader rather is enlarged in his capacity of self-projection by receiving a new mode of being from the text itself. Appropriation, in this way, 337

R, P, Das Selbst als ein Anderer, 21. „What is more, this intermediary definition helps to dissipate the illusion of an intuitive self-knowledge by forcing self-understanding to take the roundabout path of the whole treasury of symbols transmitted by the cultures within which we have come, at one and the same time, into both existence and speech.“ (R, P, On Interpretation, 17). 339 Ebd. 340 R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 33. 338

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Kapitel III: Selbstverstehen und Narrationsverstehen

ceases to appear as a kind of possession, as a way of taking hold of things; instead it implies a moment of dispossession of the egoistic and narcissistic ego. This process of dispossessing is the work of the kind of universality and atemporality emphasized in explanatory procedures. And this universality in this turn is linked to the disclosing power of the text as distinct from any kind of ostensive reference. Only the interpretation that complies with the injunction of the text, that follows the ,arrow‘ of the sense and that tries to think accordingly, initiates a new self-understanding, I would oppose the self, which proceeds from the understandig of the text, to the ego, which claims to precede it. It is the text with its universal power of world disclosure, which gives a self to the ego.341

Inwieweit diese spannungsreiche Beziehung von Erzählung und Selbst für die Theologie fruchtbar zu machen ist, soll nach der Beschäftigung mit der Theologie Rudolf Bultmanns gezeigt werden. Was für Ricœur die Erzählung ist, ist für Bultmann – das wird nach eingehender Untersuchung deutlich – das Kerygma. Mit der ricœurschen Hermeneutik des Selbst im Hintergrund sind die folgenden Ausführungen zu lesen, die in Kapitel V zusammengebracht werden.

341

R, P, Conclusion, 94 f.

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Kapitel IV

Selbstverstehen und Kerygmaverstehen – Rudolf Bultmanns hermeneutische Kerygmatheologie Damit ist aber zugleich gesagt, daß das Wort Gottes, so wenig es menschlichen Kriterien unterliegt, und so sehr es autoritatives Wort ist, ja gerade deshalb, verständliches Wort ist, daß es also weder durch seine Magie wirkt, noch als Dogma die blinde Unterwerfung, die Annahme von Absurditäten fordert. Ohne seine Verständlichkeit wäre es nicht im echten Sinne Anrede. Echte Anrede ist nur ein Wort, das dem Menschen ihn selber zeigt, ihn sich selbst verstehen lehrt, und zwar nicht als theoretische Belehrung über ihn, sondern so, daß das Ereignis der Anrede ihm eine Situation des existentiellen Sich-Verstehens eröffnet, ihm eine Möglichkeit des Sich-Verstehens eröffnet, die in der Tat ergriffen werden muß. Anrede stellt nicht dies oder das für mich zur beliebigen Wahl, sondern sie stellt in die Entscheidung, sie stellt gleichsam mir mich selbst zur Wahl, als ein welcher ich durch die Anrede und meine Antwort auf sie sein will.1

1. Einführung Rudolf Bultmanns Theologie bietet viele Anknüpfungspunkte – nicht nur für die Systematische Theologie. Bei genauerem Hinsehen lässt sich seine Theologie als Ausleuchtung des Konnexes von Selbst- und Kerygmaverstehen lesen. Bultmann wird von der Frage geleitet, inwieweit man dem aufgeklärten und modernen Menschen „die Wahrheit des Evangeliums unverkürzt und zugleich verständlich“2 zukommen lassen kann. So geht es im Kern von Bultmanns Theologie um die grundsätzliche Frage nach dem Verstehen. Seine hermeneutischen Überlegungen schließen an die von Dilthey und Schleiermacher an und führen darüber hinaus, spannt er doch den Verstehensprozess zwischen Autor, Text und Rezipientin auf und sieht ihn als Existential an. Essenziell ist für ihn das Vorverständnis, das ein grundsätzliches Verstehen erst ermöglicht: Die Tatsache, daß die christliche Verkündigung, wenn sie einen Menschen trifft, von ihm verstanden werden kann, zeigt, daß er ein Vorverständnis von ihr hat. Denn etwas verstehen, heißt, es in seinem Bezuge auf sich, den Verstehenden, verstehen, sich mit oder in ihm

1 B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 268–293, 282 f. 2 F, H, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 99.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

verstehen. Verstehen setzt den Lebenszusammenhang voraus, in dem der Verstehende und das Verstandene von vornherein zusammengehören.3

Mit der Erhebung der Hermeneutik zum Medium der Selbstidentifikation und -auslegung geht die Wertschätzung des Textes einher. Es gelte, diesen nicht lediglich als Vergewisserungsquelle von Traditionsbeständen zu verstehen, sondern als Ort der Selbstauslegung; „die Interpretation [soll] die in der Dichtung wie in der Kunst aufgedeckten Möglichkeiten des menschlichen Seins zum Verständnis bringen“4. Bultmann verquickt somit eigenständig die Hermeneutik des Textes mit der Hermeneutik des Selbst und erhebt die Frage des Verstehens zur grundsätzlichsten aller Fragen, zu der des Seins. Es gelte, sich „in der Befragung des Textes […] selbst durch den Text befragen zu lassen“5. Dieses grundsätzliche Hermeneutikverständnis durchzieht sein gesamtes theologisches Werk.6 Das spezifisch christliche Vorverständnis versucht Bultmann zu plausibilisieren, indem er der menschlichen Existenz eine grundsätzliche Verworfenheit auf Gott attestiert, wie sie für das lutherische Verständnis des Menschen als Sünder einschlägig ist. Explizit werde das Wissen um diese Offenheit zwar erst retrospektiv im Glauben, aber grundsätzlich könne „der Mensch sehr wohl wissen […], wer Gott ist, nämlich in der Frage nach ihm“7. In dieser Aussage lässt sich das prominente Programm der „Entmythologisierung“ erkennen, das sich als Umsetzung seiner „existentialen Interpretation“ ergibt. In seinem Aufsatz Zum Problem der Entmythologisierung spitzt Bultmann das Verhältnis von Glaubens- und Selbstkonstitution zu, indem er dem christlichen Kerygma eine wirklichkeitskonstitutive Dimension zuschreibt, die zum einen die Fraglichkeit der menschlichen Existenz aufzeige und zum anderen den Menschen zu einer Entscheidung führe.8 Bultmann versteht das Kerygma als ein die 3 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 294–312, 295 f. 4 B, R, Das Problem der Hermeneutik, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 211–235, 222. 5 A.a.O., 228. Wie durch ein Brennglas lassen sich in solchen Formulierungen die Einflüsse Heideggers auf Bultmann sehen. Die Annahme Heideggers, der die menschliche Existenz als Dasein in der Welt interpretiert, die entweder in der „Uneigentlichkeit“ verfehlt oder in der „Eigentlichkeit“ des Existierens gewonnen werden kann, übernimmt Bultmann (in lutherischer Färbung des simul iustus et peccator) und macht sie für seine Überlegungen zu der Glaubenskonstitution fruchtbar: „Die den Menschen, der er selbst sein will und sein Selbst verloren hat, bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit ist der Anknüpfungspunkt für Gottes Wort. […] [D]er Mensch in seiner Existenz, als ganzer, ist der Anknüpfungspunkt.“ (a.a.O., 120 f.). 6 Vgl. a.a.O., 231. 7 A.a.O., 232. 8 „Der Mythos will von einer Wirklichkeit reden, die jenseits der objektivierbaren, der beobacht- und beherrschbaren Wirklichkeit liegt, und zwar von einer Wirklichkeit, die für den Menschen von entscheidender Bedeutung ist; die für ihn Heil oder Unheil, Gnade oder Zorn bedeutet, die Respekt und Gehorsam fordert.“ (B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, in: Ders., Glaube und Verstehen IV, Tübingen 21967, 128–137, 133).

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1. Einführung

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menschliche Existenz betreffendes Ereignis, von dem der Mensch existentiell, das heißt in seiner Selbstausrichtung und seinem Selbstverstehen betroffen ist.9 Aus diesem kurzen Einblick lässt sich bereits ein Desiderat destillieren, an das die Vertreter der hermeneutischen Theologie, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung, anknüpfen Die Weiterführung dieser Gedanken unter der Prämisse der Konzentration auf die Sprache lässt sich eindrücklich an einem Schüler Bultmanns, Ernst Fuchs, zeigen. Orientierte sich Bultmann philosophisch an dem frühen Heidegger, so lässt sich Fuchs’ Denken analog zu den Reflexionen des späten Heideggers über die Rolle der Sprache bei der Wirklichkeitskonstitution einordnen. Fuchs kritisiert Bultmann vornehmlich dahingehend, dass er ihm einen Aktualismus vorwirft, der vor allem einer Vernachlässigung des Sprachproblems gezollt ist: So schwanke der glaubende Mensch immer zwischen Haben und Nichthaben des Glaubens und somit zwischen Sein und Nichtsein, ohne aber über das Medium der Differenzsetzung wirklich Auskunft zu erhalten. Fuchs transformiert die Frage nach der Existenz zur Frage des Seins im Horizont der Sprachlichkeit, da es um die Begegnung mit dem Wort Gottes gehe.10 Mit dem Begriff „Sprachereignis“ bringt Fuchs die Hinwendung zur Sprache auf den Punkt: Die Sprache rechtfertige das Sein, mache das Sein „anwesend“ und lasse dies darüber hinaus selbst zum Ereignis werden.11 Dient bei Bultmann die Sprache als Transportmedium des Inhalts beziehungsweise lediglich als Ausdrucksmittel, rückt Fuchs Glaube und Wort enger zusammen: „Die Sprache zeigt sich im Wort des Glaubens nicht bloß als Übermittlung eines unabhängig von ihr gültigen Sachverhalts, sondern sie bewirkt zuvor diesen Sachverhalt mit.“12 Im Gegensatz zu Bultmann betont Fuchs stärker das performative und darin auch – für den Menschen – passive Moment des Sprachgeschehens. Einer Person werde etwas geschenkt, etwas gesagt, etwas gegeben, wozu sie selbst nicht im Stande sei.13 Dies vollziehe sich durch die Begrenzung der Gegenwart, die nicht als reiner Durchgang zur Zukunft verstanden wird, sondern aus der die Freiheit zur Selbstverwirklichung erwachse.14 Mit dem Begriff des Sprachereignisses gelingt es Fuchs, das Ereignis des Kerygmas nicht als mystischen Vorgang zu verstehen, sondern den Zusammenhang von Offenbarung und Glaube zu erhellen. Mit dem Sprachereignis beschreibt er ein – inhaltlich spezifisches – Geschehen, in dem 9 „Der christliche Glaube redet von einer Offenbarung und meint damit Gottes Handeln als ein Geschehen, das dem objektivierenden Denken der Vernunft nicht sichtbar ist, ein Geschehen, das als Offenbarung nicht Lehren mitteilt, sondern die Existenz des Menschen trifft und ihn lehrt, oder besser: ermächtigt, sich zu verstehen als getragen von der transzendenten Macht Gottes.“ (B, R, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, in: Ders., Glauben und Verstehen IV, Tübingen 21967, 113–127, 120). 10 Vgl. F, E, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960, 425. 11 Vgl. ebd. 12 F, E, Alte und neue Hermeneutik, in: Eberhard Jüngel/Gerd Schunack (Hg.), Ernst Fuchs Lesebuch. Ausgewählte Texte, Tübingen 2003, 90–127, 109. 13 Vgl. F, E, Zur Frage nach dem historischen Jesus, 332. 14 Vgl. a.a.O., 350–352.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

„Gott selbst sich als Liebe ereignet und so Liebe gewährt.“15 Aus der Fokussierung auf die Sprache ergibt sich gleichzeitig die Hinwendung zur Zeit, was durch das zweite Lexem des Begriffs „Sprachereignis“ bereits präludiert ist. Jedes Ereignis sei dadurch ausgezeichnet, dass es über einen Zeitraum hinweg und in der Zeit geschehe. Zeit und Sprache stehen in einem fundamentalen Zusammenhang. Die Gegenwart wird nicht wie noch bei Bultmann als bloßes „Jetzt“ qualifiziert, die die betroffene Person zur Entscheidung bringt und ihr die Zukunft erschließt, sondern die Gegenwart selbst bekommt eine zeitliche Dimension, einen Sinn durch das Geschenk des Sprachereignisses, das die Zeit der Liebe gewähre.16 Auch bei Gerhard Ebeling tritt das Problem der Sprache in den Vordergrund seiner theologischen Arbeit. Dies geschieht jedoch von einem anderen Startpunkt aus. Ebelings Interesse gilt der Rückwendung zum reformatorischen Grundzusammenhang von Wort und Glaube. Das Wort Gottes wird dialektisch als menschliches Wort und Gottes Wort zugleich verstanden.17 Der fundamentale Unterschied zu jedem anderen Wort liegt für Ebeling darin begründet, dass das Wort Gottes Veränderung bewirke und Zukunft eröffne, die der Mensch von sich allein aus nicht wahrzunehmen vermöge.18 Dabei weist schon das Wort eine zeitliche Struktur auf, ist im strengen Sinne „Zeitwort“19. Damit einher gehe ein Wahrheitsanspruch des Wortes, der die eigentliche Zukunft des Menschen und seine Freiheit aufdecke und somit ein wahrhaftiges Selbstverständnis der menschlichen Existenz ermögliche.20 So verschieden die unterschiedlichen Ansätze im Einzelnen sind, lässt sich in der Konzentration auf das Sprachereignis (Fuchs) beziehungsweise Wortgeschehen (Ebeling) ein Grundaxiom hermeneutischer Theologie ausmachen. So ist der Diagnose Dalferths, Bühlers und Hunzikers zuzustimmen, die hinsichtlich des Interessenrahmens der hermeneutischen Theologie festhalten: So umfasste die hermeneutische Theologie zur Zeit ihres Höhepunkts ein recht breites Spektrum theologischer Ausrichtungen, die aber letztlich doch vereint waren durch die fundamentale Orientierung am Geschehen des Wortes Gottes und durch die Anerkennung der zentralen Bedeutung des hermeneutischen Problems für die theologische Aufgabe, das Wort Gottes in seiner gegenwärtigen Bedeutsamkeit verständlich zu machen.21

Im Vergleich zu Bultmann betonen Fuchs und Ebeling stärker das performative und passive Moment des Wortes Gottes, das dem Menschen als Widerfahrnis begegnet und ihn zu einem neuen Selbst- und Weltverständnis ermächtigt. Dabei 15

A.a.O., 428. Vgl. a.a.O., 347. 17 Vgl. E, G, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959/60, 253. 18 Vgl. a.a.O., 250. 19 E, G, Wort und Glaube II. Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 136. 20 Vgl. a.a.O., 413. 21 D, I U./B, P/H, A, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Hermeneutische Theologie – heute?, Tübingen 2013, IX–XXII, XIII. 16

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1. Einführung

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ist die Sprache mehr als ein informatives Transportmedium. Fuchs und Ebeling sind sich einig: Bultmann habe den Zusammenhang von Sprache und menschlicher Existenz verkürzt verstanden. „Erst in der Sprache ist das Sein wesensnotwendig Ereignis“22 und auch die menschliche Existenz sei grundsätzlich sprachlich verfasst. Schließlich richten beide Theologen ihr Augenmerk auf die Zeit des Wortgeschehens in Verschränkung mit der Zeit des menschlichen Verstehens dieses Ereignisses, das sich als dynamischer Prozess darstellt. Bei allem Insistieren auf die Bedeutung der Zeit als Horizont von Sprache und Sein, bleiben doch auch bei Ebeling und Fuchs die spezifischen zeitlichen Konstitutions- und Figurationsbedingungen von Zeit, also die Aspekte der Zeitlichkeit des beziehungsweise jedes Verstehensprozesses – insbesondere in der Auseinandersetzung mit Texten – unterbelichtet. Insofern ist eine Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Theologie nach Bultmann in einem ausführlichen Rahmen nicht nötig, um die Narrationstheorie Ricœurs für die Frage nach dem Selbst fruchtbar zu machen. Vielmehr zeigen sich die weitreichenden Implikationen schon an der Auseinandersetzung mit der Theologie Bultmanns. Mithilfe der ricœurschen Hermeneutik lassen sich zudem die kritischen Anfragen, die Ebeling und Fuchs zur Weiterarbeit ermutigten, in direkter Weise an die hermeneutische Theologie Bultmanns stellen. Theologie lässt sich mit Bultmann als hermeneutische behaupten, da es im Kern um das Verstehen Gottes im Glauben geht. Präziser gesprochen: um das menschliche Verstehen Gottes in der Konstellation von Glaube und Offenbarung – eingedenk der Tatsache, dass Glaubens- und Selbstverstehen changieren.23 Allerdings wird dieser Verstehensprozess existenzphänomenologisch zugespitzt: Die Ausleuchtung des menschlichen Selbstverständnisses liefert den hermeneutischen Schlüssel für den Sinn des Gottesglaubens und damit ebenso des Gottesverständnisses.24 Durch das Ereignis, das Handeln Gottes, genauer gesagt den Anspruch des Kerygmas, werde der Mensch existentiell getroffen und im Augenblick vor die Entscheidung über seine gesamte Existenz gestellt.25 Somit ist für Bultmann die Frage nach dem Verstehen des Kerygmas das entscheidende Moment auf dem Weg zum Selbstverstehen. Im Folgenden werden zunächst Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie geklärt, die als Exposition für den Weg zum Kerygma unumgänglich sind. Dazu scheint es notwendig, zunächst die Bestimmung des Verhältnisses von

22

F, E, Zur Frage nach dem historischen Jesus, 425. Dies lässt sich besonders prägnant an folgenden Formulierungen aus dem frühen Aufsatz Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? von 1925 zeigen: „[W]ill man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden. Aber wie? Denn wenn ich von mir selber rede, rede ich dann nicht vom Menschen?“ (B, R, Welchen Sinn hat es von Gott zu reden, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 26–37, 28). 24 Vgl. D, I U., Radikale Theologie (ThLZ.F. 23), Leipzig 2010, 65. 25 Vgl. B, R, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 134–152, 144. 23

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Theologie und Philosophie zu beleuchten. Dies ist nicht nur grundlegend für Bultmanns Vorstellung des Menschen als geschichtliches Dasein, sondern ihm auch immer wieder kritisch entgegenhalten worden. So tragen die Ausführungen zum einen zu einer fundierten Einordnung und zum anderen zum Abbau verschiedener Ressentiments bei. Im Anschluss daran folgt eine Einordnung des Geschichtsbegriffs, über den Bultmann zur Vorstellung der Geschichtlichkeit des Daseins gelangt und mit dessen Hilfe er die formalen Strukturen menschlichen Daseins sprachlich erfassen kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich seine hermeneutischen Überlegungen verstehen, die sich unter dem allgemeinen Begriff des Verstehens sammeln und sich in den Ausführungen zur „existentialen Interpretation“ sowie dem „Entmythologisierungsprogramm“ vollzogen finden. Gepaart mit den Ausführungen zum Glaubensbegriff schließen sie die Ausführungen zu den Grundvoraussetzungen ab und legen somit den Grundstein für das weitere Vorgehen, wenngleich in diesen einführenden Erläuterungen das bultmannsche Programm und die Ausrichtung auf den Konnex von Verstehen und Kerygma bereits implizit mitschwingen. Vor diesem Hintergrund erfolgt in raschen Schritten eine Annäherung an das Kerygma. Dies geschieht über eine grundsätzliche Einordnung bultmannscher Theologie im Hinblick auf einen Titelvorschlag sowie daran anschließend im Hinblick auf die strukturelle Eigenart seines Theologietreibens. So lässt sich Bultmanns Theologie als durch den Konnex von Glauben und Verstehen bestimmt plausibilisieren. Zudem kann sein theologisches Anliegen besser eingeordnet und wahrgenommen werden, wenn man ihn als Theologen des Paradoxons versteht. Beide Punkte der Einordnung laufen auf den bultmannschen Kerygmabegriff zu, der ausführlich analysiert sowie kritisch eingeordnet und gegen pauschale Vorwürfe verteidigt wird. Daran anschließend wird die ausgiebige Predigttätigkeit Bultmanns thematisiert, um seine wissenschaftlich-theologischen Ausführungen zu Funktion, Inhalt und Bedeutung des Kerygmas auf die eigene praktische Umsetzung hin abzuklopfen. Nach einigen einführenden, allgemeinen Anmerkungen zu formalen wie inhaltlichen Schwerpunkten seiner Predigttätigkeit wird auf eine Predigt eingegangen, anhand derer die verkündigende Versprachlichung des Kerygmas Bultmanns exemplarisch gezeigt werden kann.

2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie 2.1 Die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie In zweierlei Hinsicht bietet sich eine eingehende Betrachtung der Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie an: Zum einen greift Bultmann auf die Sprache der ontologischen Daseinsanalyse Heideggers zurück. Hierin findet die theoretische Austarierung der beiden Disziplinen ihre praktische Umsetzung. Inwieweit eine solch bewusste Aufnahme von Bultmann als unabdingbar angesehen wird, soll hier deutlich werden. Zum anderen scheint eine Analyse

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2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie

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dieses Zusammenhangs insofern gewinnbringend zu sein, als sie vorschnelle Kritik verstummen lassen kann, die Bultmann immer wieder entgegengebracht worden ist. Die Kritik kapriziert sich vor allem auf den Offenbarungsbegriff. Anstoß dazu hat die Hinwendung zum menschlichen Dasein unter dem Zusammenhang von Glauben und Verstehen gegeben, gepaart mit Bultmanns Rückverweisung der Theologie auf die Philosophie und seiner – später noch eingehend zu analysierenden – existentialen Interpretation. Die Kritik lässt sich an dem Vorwurf einer Unterbestimmung respektive Tilgung der Offenbarung exemplarisch aufzeigen. Zunächst wird eine Beschreibung des Theologiebegriffs vorgenommen, von der ausgehend dann die Philosophie und das Verhältnis beider Disziplinen betrachtet werden. Im Anschluss daran wird die Verhältnisbestimmung im Rahmen zweier Anfragen kritisch abgetastet. Abschließend werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst. 2.1.1 Der Theologiebegriff Bultmann bestimmt die Aufgabe der Theologie vor dem Horizont der Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit.26 Die Theologie ist nichts anderes als die wissenschaftliche Selbstbesinnung über die eigene Existenz als durch Gott bestimmte; sie ist also die wissenschaftliche Entfaltung dessen, was im einfachen Glauben schon da ist.27

Ähnlich formuliert Bultmann: Das Thema der Theologie kann also auch bezeichnet werden als die von Gott bestimmte Existenz des Menschen. Denn die Offenbarung ist nicht ein Weltphänomen, sondern ein Geschehen in der Existenz, eben gläubiges, durch die Offenbarung bestimmtes Existieren.28

Theologie ist nach Bultmann also „wissenschaftliche Selbstbesinnung“, die „die von Gott bestimmte Existenz des Menschen“ zum Thema habe. Den engen Zu-

26 Es ist zu vermuten, dass die Frage nach der Wissenschaftlichkeit für Bultmann insbesondere in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und seinem Wissenschaftsbegriff sowie der Diskussion um die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie virulent geworden ist. Vgl. J, E, Glauben und Verstehen. Zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns, in: Ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III (BEvTh 107), München 1990, 16–77; J, M, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott. Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Martin Heidegger (Epistemata 83), Würzburg 1990. Zur Frage von Theologie als Wissenschaft bei Heidegger im Horizont seines Vortrages Phänomenologie und Theologie s. G, A, Zwischen Phänomenologie und Theologie: Heideggers ,Marburger Religionsgespräch‘ mit Rudolf Bultmann, in: ZThK 95 (1998), 37–62. 27 B, R, Zur Frage der Christologie, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 85–113, 89. 28 B, R, Theologische Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel und Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 159.

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sammenhang von Glauben und Existenz gilt es zu betonen. Schon in seinem Theologiebegriff ist die enge Bezogenheit von „Glauben“ und „Verstehen“ deutlich wahrzunehmen. Die Theologie suche „die Wahrheit über die Wahrheit“29, sie reflektiere wissenschaftlich über die „reine Lehre“30, sei aber nicht mit ihr gleichzusetzen. Indem Bultmann die grundsätzliche Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie stellt, nimmt er zugleich das Verhältnis von Theologie und gelebtem Glauben in den Blick.31 Theologie unterscheide sich im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit von anderen Wissenschaften einzig, aber grundlegend dadurch, dass ihr der Gegenstand nicht selbst zur Verfügung stehe, sondern vorausgesetzt sei.32 Nun sei zu fragen, inwieweit dann noch eine Wissenschaftlichkeit postuliert werden könne, wenn ein Kernkriterium auf die Theologie nicht zutreffe. Denn mit einem nicht zur menschlichen Verfügung stehenden Gegenstand ist das Kriterium der Allgemeingültigkeit gebrochen, das Bultmann für wissenschaftskonstitutiv hält. Eine jede Wissenschaft setze voraus, dass das menschliche Dasein immer schon in einer bestimmten Beziehung – das ist die „vorwissenschaftliche Erschlossenheit“33 – zu dem zu untersuchenden Gegenstand stehe. An dieses Verhältnis seien aufgestellte Sätze sowie Behauptungen rückgebunden, die dem Menschen als Hilfe für ein besseres Verständnis der Sache dienten.34 Es geht ihm um ein allgemeines, jedem Dasein zugängliches Verständnis, auf das Wissenschaften zurückgreifen könnten. Damit liegt das Problem im Zusammenhang mit der Rede von Theologie als Wissenschaft auf der Hand: Die Offenbarung sprengt diesen postulierten Zusammenhang. Lediglich in einem bestimmten exklusiven Modus des Daseins, dem Glauben, ist der Theologie ihr Gegenstand erschlossen. Eine allgemeine, grundlegende Vorentschlossenheit kann für sie also nicht gelten. Nur im Glauben, „im gläubigen Hören der Verkündigung“35 sei der Zugang zum Gegenstand gegeben. Sie ist also eine positive Wissenschaft, wenn auch in einer besonderen Weise, die sie von allen anderen Wissenschaften unterscheidet. Ihr Positum ist ihr gegeben und gleichzeitig entzogen:

29

A.a.O., 14. A.a.O., 15. 31 Dieses Verhältnis ist indirekt in dem von Glauben und Verstehen angelegt. Denn wenn dieses Verstehen auch immer ein Selbstverstehen ist, dann braucht ein solches als Grundierung eine abstrahierende Größe, in diesem Falle die Theologie: „Um aber sich selbst zu verstehen, ist es notwendig, die konkreten Gegebenheiten der eigenen Existenz abstrahierend zu überschreiten, weil ohne ein Verständnis der Möglichkeiten des Menschseins überhaupt auch nicht die spezifischen Möglichkeiten des individuellen Menschseins begriffen werden können.“ (B, F-P, Art. Paradoxie, in: NHPhG II [2011] 1714–1727, 1720). 32 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 161. 33 J, M, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott, 156. 34 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 162. 35 A.a.O., 161. 30

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So stellt die Theologie, wie die anderen Wissenschaften, das Verhältnis zum Gegenstand nicht erst her, sondern sie setzt es voraus, sie erinnert daran, sie bildet es aus. […] Ist der Gegenstand der Theologie Gottes Offenbarung, so ist ihr Gegenstand dem Dasein nicht von ihm selbst her zugänglich und der Theologie nicht verfügbar.36

Bultmann hält trotz dieses gravierenden Unterschiedes an der Wissenschaftlichkeit der Theologie in der Dialektik von unverfügbarer Verfügung fest. Theologische Sätze seien zwar nicht derart wahr, „daß sie am zur Verfügung stehenden Gegenstand als wahr ausgewiesen werden können und jeder die Möglichkeit hat, ihre Wahrheit zu kontrollieren oder zu kritisieren.“37 Sie seien vielmehr auf die Wahrmachung Gottes angewiesen.38 Aber theologische Aussagen liegen nach Bultmann parallel zu anderen wissenschaftlichen Sätzen, da sie etwas enthüllen, was im Glauben, also vorwissenschaftlich, schon angelegt ist. Somit wohne der Theologie auch ein kritisches Moment inne, da sie sich rückgebunden an den Glauben wisse.39 Fast schon systemtheoretisch sieht er theologische Arbeit als gesichert an, „solange es Menschen gibt, die aus Glauben vom Glauben miteinander reden.“40 Die Aufgabe der Theologie leitet Bultmann also konsequent aus dem konkret-ontischen Glaubensvollzug ab, der dem Dasein zwar nicht zur Verfügung stehe, aber dennoch Realität habe und somit, wenn auch in anderer Form, vorwissenschaftlich sei. Seine Überlegungen zielen auf eine „language of existence“41, eine „Sprache der Existenz […], die die Strukturen der menschlichen Existenz und die möglichen zu einer solchen Existenz gehörenden Seinsweisen beschreibt“42. Als eine bestimmte Seinsweise ist der Glauben zu verstehen. Es ist diese Betonung des Glaubensvollzugs, die Bultmann dazu befähigt, die Theologie in ihrem Kern als historische Wissenschaft zu charakterisieren. Denn die Theologie spreche „von einem bestimmten Geschehen im Dasein“43. Als gedankliche Brücke gereicht ihm dazu der Begriff der Geschichtlichkeit, deren Erarbeitung sowie ausgiebige Betrachtung noch folgen. Theologie ist nach Bultmann folglich positive Wissenschaft, da sie sich auf einen gegebenen Gegenstand bezieht – gegeben, nicht eigens hergestellt. Sie ist sogleich historische Wissenschaft, da sie von einem bestimmten Geschehen, der Offenbarung, spricht, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie versucht, Erkenntnisse über den historischen 36

Ebd. A.a.O., 166. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. a.a.O., 167. 40 Ebd. 41 M, J, God-Talk. An Examination of the Language and Logic of Theology, New York 1967, 238. 42 M, J, Gott-Rede. Eine Untersuchung der Sprache und Logik der Theologie. Eine Untersuchung der Sprache und Logik der Theologie, aus dem Englischen übers. v. Annemarie Pieper, mit einer Einführung von Bernhard Casper, Würzburg 1974, 214. 43 B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, in: Ders., Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, ausgewählt, eingeleitet u. hg. v. Andreas Lindemann, Tübingen 2002, 59–83, 63. 37

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Jesus herauszuarbeiten oder die Geschichte der Offenbarungsvermittlung nachzuzeichnen. Bultmann qualifiziert sie vielmehr insofern als historisch, als sie über ein Ereignis im Dasein, im jeweils individuellen, konkreten Leben spricht. So ist die Aufgabe der Theologie, das Geschehen des Glaubens, das Verstehen der Offenbarung und damit die neuqualifizierte Existenz begrifflich zu fassen.44 Diese Aufgabenstellung in aller Klarheit dargelegt, bleibt nun noch zu fragen, wie der Zusammenhang von göttlicher Offenbarung und konkret-menschlichem Verstehen von Bultmann plausibilisiert wird respektive wie überhaupt der menschliche Zugang zur Offenbarung gedacht werden kann. Bultmann bezieht sich zur Beantwortung dieser Frage auf die Schrift. Woran die Theologie sich ausrichtet, um die vorwissenschaftliche Realität begrifflich zu schärfen, ist für Bultmann klar: Sie orientiere sich an der Schrift und habe somit auch die Aufgabe, zunächst über ihren hermeneutischen Zugriff auf die Schrift Rechenschaft abzulegen.45 Dies sei die „erste und eigentliche Aufgabe der Theologie“46. Aus dieser Aufgabenbestimmung und der Verwiesenheit auf die Schrift lassen sich bereits Rückschlüsse auf die bultmannsche Exegese ziehen. Denn wenn Theologie rückgebunden an die Schrift zum einen den Menschen als in seiner Existenz von Gott bestimmten, also von der Offenbarung angesprochenen zum Thema hat und zum anderen die vorwissenschaftliche Erschlossenheit begrifflich fassen soll, um sie somit zu enthüllen, dann kann dies für die Exegese nur zweierlei bedeuten: Es ergibt sich eine klare Absage an jede Art von spekulativer Theologie und somit auch von neutraler Exegese. Bultmann bestimmt die Schrift als „geschichtliches Faktum“47 und betont den Anspruch der Schrift an den Menschen. Hier findet sich zugleich der historische Kern der Theologie als positiver Wissenschaft. Anhand der Schrift als geschichtlichem Faktum plausibilisiert Bultmann diese Bestimmung: Als theologische Interpretation hat nur die des Glaubens zu gelten, d. h. eine solche, die im Glauben als der Beziehung zum Gegenstand, zur Offenbarung, klarstellt, was die Schrift sagt. Theologie ist also in gewisser Weise Geschichtswissenschaft, beziehungsweise Theologie ist eigentlich und immer historische Theologie. Die Rückwendung der Theologie zur Geschichte ist dabei keine grundsätzlich andere als in jeder Geisteswissenschaft, d. h. sie ist die unter dem in der Gegenwart vernommenen Anspruch der Zukunft erfolgende kritische Rückwendung zur eigenen Geschichte. Zum Glauben wird diese Rückwendung, wenn sie den Anspruch dieses geschichtlichen Faktums (Faktum meiner Geschichte), der Schrift, anerkennt, was nicht als Voraussetzung vor der Interpretation erledigt sein kann, sondern sich nur mit ihr vollzieht. Theologische Exegese der Schrift gibt es also nicht als metho-

44 Vgl. dazu G, A, Theologie aus dem Geiste der Heideggerschen Philosophie? Zu Bultmanns Verständnis existentialer Theologie, in: Ulrich H. J. Körtner u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 155–170, 158 f. 45 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 169. 46 Ebd. 47 Ebd.

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2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie

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disches Unternehmen, sondern es kann nur in der Kirche glaubend gewagt werden wie die Theologie überhaupt.48

Wieder ist Bultmann darum bemüht, zunächst die Theologie auf gleicher Ebene mit anderen positiven Wissenschaften zu verorten; dieses Mal, indem er den Stellenwert der Geschichte für alle anderen Geisteswissenschaften betont. Doch findet sich das zuvor postulierte Alleinstellungsmerkmal der Theologie, der unverfügbare Gegenstand, das gegebene Positum, wieder. Denn es wird deutlich, dass der theologische Bezug zur Schrift durch den Glauben legitimiert wird, den Bultmann als einzig richtigen Zugriff auf das schriftliche Zeugnis ansieht. Bultmann zeichnet eine weitere Bestimmung in den Theologiebegriff ein. Allerdings sieht er sie lediglich als Analogie zu seiner bereits erfolgten Gegenstandsbestimmung: Theologie war also einerseits bestimmt als die begriffliche Darstellung der Existenz des Menschen als durch Gott bestimmter, andererseits als Erklärung der Schrift. Beides ist das gleiche; denn da sie von der Existenz (nicht von der Existenzialität) als einer geschichtlichen redet, die durch ein bestimmtes geschichtliches Faktum qualifiziert ist, redet sie eben von der Schrift, die dieses Faktum ist, und es eben als geschichtliches, d. h. eben die Existenz qualifizierendes ist.49

Es ist die Geschichtlichkeit, die die beiden Themen der Theologie – von Gott bestimmte Existenz und Schrift – miteinander verbindet, respektive aus der sich die Gleichzeitigkeit beider Themen ergibt. Bultmann versteht Theologie als hermeneutische Wissenschaft, da sie ihren Untersuchungsgegenstand nicht erst herstelle, sondern ihn als unverfügbar gegeben erfahre und damit zugleich vor der Herausforderung stehe, den Gegenstand zu verstehen. Als Wissenschaft habe die Theologie also, im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, mit diesem Umstand umzugehen. Sie habe als Grundvoraussetzung zu reflektieren, wie sie über einen unverfügbaren Gegenstand diskursiv sprechen könne. Es stellt sich diese Frage nach dem Umgang mit der Schrift, in der sich der Gegenstand vermittelt finde. Die Theologie hat nach Bultmann den Menschen in seiner Angesprochenheit durch Gott zum Thema. Damit wird keineswegs „Anthropologie statt Theologie“50 betrieben. Diesem vorschnellen Votum ist aus zweierlei Gründen entschieden entgegenzutreten: Zum einen ist diese Gegenüberstellung von Theologie und Anthropologie an sich absurd, wenn man Bultmanns Bestimmung nachvollzieht.51 So ist mit Anthropologie sicher immer theologische Anthropologie und 48

Ebd. A.a.O., 169 f. 50 S, J, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung, in: Hans-Werner Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos I. Ein theologisches Gespräch (ThF 1), Hamburg 51967, 77–121, 88. 51 Eberhard Jüngel hat dies unter Rückbezug auf das Verhältnis von Glauben und Verstehen wie folgt formuliert: „Die unselige Alternative von Theologie und Anthropologie wird durch die am Ereignis des Wortes Gottes orientierte Kategorie des neuen Selbstverständnisses in dem Sinne überwindbar, daß sie den ganzen Menschen als einen Gott entsprechenden Menschen zu begreifen erlaubt.“ (J, E, Glauben und Verstehen, 67 f.). 49

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somit nichts „bloß Menschliche[s]“52 gemeint. Eine Art „natürliche Anthropologie“ gibt es für Bultmann nicht. Zum anderen ist die Aussage inhaltlich abzulehnen, wenn die Verhältnisbestimmung der Theologie in ihrer Komplexität ernst genommen wird.53 Theologie hat nach Bultmann zwar die menschliche Existenz im Blick, sieht diese aber als eine von Gott bestimmte, das heißt der Offenbarung verdankte an.54 Bultmann fragt nach den Grundvoraussetzungen für theologisches Arbeiten. Theologische Arbeit verknüpft er unabdingbar mit einer hermeneutischen Aufgabe.55 Im Rahmen der Anthropologie sind nach Bultmann zunächst die Möglichkeiten theologischer Rede in aller Grundsätzlichkeit zu reflektieren: „Gegenstand der Theologie ist ja Gott, und von Gott redet die Theologie, indem sie redet vom Menschen, wie er vor Gott gestellt ist, also vom Glauben aus.“56 Die Theologie habe also den Menschen als den vor Gott gestellten zum Thema.57 Die Formulierung des „vom Glauben aus“ kann nicht stark genug betont werden. Eine allgemeine wissenschaftliche Anthropologie – unter Ausblendung des Gottesbezugs – ist damit nicht gemeint. Denn eine solche trenne den Menschen von sich selbst und verfehle ihr eigentliches Anliegen, da sie ihn in seiner eigenen Existenz nicht wahrnehme, ihm sogar die Aufgabe des Verstehens der Existenz abnehme und somit die Frage nach der Existenz vom eigenen Exis-

52 E, G, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann (HUTh 1), Tübingen 1962, 16, Anm. 1. 53 Im Gegensatz dazu s. M, B, Faith and Self-Understanding: Towards a Post-Barthian Appreciation of Rudolf Bultmann, in: IJST 10/1 (2008), 21–35. 54 Somit ist der Kritik Gerhard Wolfgang Ittels ebenso entgegenzutreten. Ittel missversteht Bultmann, wenn er davon ausgeht, dieser habe lediglich die menschliche Existenz zum Thema der Theologie gemacht (vgl. I, G W, Der Einfluß der Philosophie M. Heideggers auf die Theologie R. Bultmanns [KuD 2], Göttingen 1956, 90–108, 105). Jede Kritik, die Bultmann eine Einseitigkeit in seinem theologischen Treiben vorwirft, blendet das In-Spannung-Halten, den paradoxen Charakter seiner Theologie, sowie die aufeinander bezogenen Pole von Glauben und Verstehen aus. 55 Vgl. P, F, Identität als Nichtidentität. Zum Verständnis des Christen nach Paulus, Luther und Bultmann, in: Ulrich H. J. Körtner u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 209–231, 211. 56 B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 1–25, 25. 57 Diese Aufgabenstellung der Theologie hat dann auch Folgen für die Sprache derselben. Einer rein theoretisierenden oder gar spekulativen Rede über Gott wird damit eine Absage erteilt. Bultmann hält einen solchen Zugriff für illegitim. Es ist das vor Gott gestellte geschichtliche Dasein als Bezugsgröße theologischer Rede, das Bultmann ins Zentrum stellt: „[O]nly such statements about God are legitimate as express the existential relation between God and man. Statements which speak of God’s actions as cosmic events are illegitimate. The affirmation that God is creator cannot be a theoretical statement about God as creator mundi in a general sense. The affirmation can only be a personal confession that I understand myself to be a creature which owes its existence to God. It cannot be made as a neutral statement, but only thanksgiving and surrender.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, New York 1958, 69).

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tieren löse.58 Insofern gelte für die Anthropologie das gleiche wie für die Theologie: Beide sind Bultmann zufolge verwiesen auf beziehungsweise verwurzelt in der Frage nach der „von Gott bestimmten Existenz des Menschen“59 und somit nicht voneinander zu unterscheiden. Nichts läge Bultmann also ferner als die Anthropologie von der Theologie zu entkoppeln oder darüber hinaus theologische Arbeit durch eine philosophische zu ersetzen.60 Die Bezogenheit von menschlicher Existenz und Gott wird an folgender Passage besonders deutlich: Wir können nicht über unsere Existenz reden, da wir nicht über Gott reden können; und wir können nicht über Gott reden, da wir nicht über unsere Existenz reden können. Wir könnten nur eins mit dem andern. Könnten wir aus Gott von Gott reden, so könnten wir auch von unserer Existenz reden, und umgekehrt. Jedenfalls müßte ein Reden von Gott, wenn es möglich wäre, zugleich ein Reden von uns sein. So bleibt das richtig: wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muß geantwortet werden: nur als ein Reden von uns.61

Unter Betonung des Irrealis62 verdeutlicht Bultmann hier zum einen den Vorbehalt seiner eigenen theologischen Arbeit als einen Versuch, diesem Umstand gerecht zu werden, und zum anderen, dass Gottes Wort der alleinige Ermöglichungsgrund theologischer Arbeit überhaupt sei und bleibe.63 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bultmann der Anthropologie in ihrer hermeneutischen Ausrichtung eine besondere Aufgabe zuerkennt und in Aussagen über Gott gleichzeitig Aussagen über den Menschen erkennt.64 Die Wertschätzung der Anthropologie ergibt sich allerdings stringent aus seiner Bestimmung der Theologie, die er als positive Wissenschaft versteht. Im Kern geht es ihm um die Ausarbeitung seines Spitzensatzes aus Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?. Wer von Gott rede, müsse zwangsläufig auch vom Menschen reden, da das Positum, auf das sich die Theologie bezieht, die Offenbarung – wie bereits erläutert – nicht vorentschlossen zu haben sei. Wie sollte also anders von Gott gesprochen werden, „[w]ie anders auch sollte Gott zur Sprache kommen als in dem den Menschen in seiner Existenz ansprechenden, im Glauben empfangenen Wort?“65 Für Bultmann ist somit die Zuwendung zur Anthropologie kein 58 Vgl. B, R, Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 274–293, 290 f. 59 B, R, Theologische Enzyklopädie, 159. 60 Dies gilt, obwohl Philosophie und Theologie das Anliegen teilen, die grundsätzlichen Daseinsstrukturen menschlicher Existenz zu erfassen und auszulegen (vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308 f.). 61 B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 33. 62 Vgl. S, H , Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie (HUTh 62), Tübingen 2013, 104. 63 Vgl. B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 28. 64 „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie.“ (B, R, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 51965, 192). 65 G, A, Theologie aus dem Geiste der Heideggerschen Philosophie?, 158.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Ausverkauf der Theologie, sondern konsequente theologische Arbeit: „Was Gott ist, kann nicht verstanden werden, wenn nicht verstanden wird, was Glaube ist, und umgekehrt. Theologie ist Wissenschaft von Gott, indem sie Wissenschaft vom Glauben ist, und umgekehrt.“66 An dieser pointierten Aussage ist noch einmal in aller Deutlichkeit die Verwiesenheit der Theologie an den Glauben abzulesen. So hat Theologie nach Bultmann die Aufgabe, das, was im Glauben erfahren wird, begrifflich zu explizieren, zu enthüllen und das wiederum um der Enthülltheit selbst willen. Denn da ihr der Gegenstand nicht per se gegeben ist, verdankt sich die Theologie als Wissenschaft dem unverfügbaren Ereignis der Offenbarung, das es zu verstehen gelte. Ihr Bezug zu diesem Ereignis wird deutlich, indem die Theologie „von einem bestimmten Geschehen im Dasein redet“67. Dennoch sei – wie im folgenden Abschnitt erläutert wird – die Theologie an die philosophische Arbeit verwiesen. Die Philosophie beschreibe die formalontologischen Strukturen menschlichen Daseins, die die Theologie daraufhin aus dem konkret-ontischen Glaubensgeschehen beleuchte und deute.68 So wie die Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft mit historischem Kern unter anderem Auswirkungen auf Bultmanns Exegeseverständnis hat, so ist die Bezogenheit der Theologie auf die Philosophie von elementarer Bedeutung für das Verständnis von Bultmanns Theologie insgesamt und hat bedeutende Implikationen für seine existentiale Interpretation sowie sein Offenbarungsverständnis. Es wird sich zeigen, dass diese Bezogenheit kein Ausverkauf des theologischen Propriums ist und nur richtig verstanden werden kann, wenn sie vor dem Hintergrund des Theologiebegriffs beleuchtet wird. 2.1.2 Die produktive Aufnahme der heideggerschen Philosophie und ihre Probleme Die Aufgabenstellung der philosophischen Arbeit liest Bultmann an seiner Grundbestimmung des Menschen, verstanden als geschichtliches Dasein ab.69 Es

66

B, R, Theologische Enzyklopädie, 34. B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 63. 68 Vgl. zur Gegenüberstellung von Philosophie als formal-ontologischer Daseinsanalyse und Theologie als konkret-ontischer Wissenschaft etwa B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 61–63; D., Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308 f. sowie D., Theologische Enzyklopädie, 8. 69 Bultmann begründet die positive Inanspruchnahme der Philosophie Heideggers folgendermaßen: „In gewissem Sinne ,wiederholt‘ also die Theologie allerdings die philosophische Analyse, sofern sie nämlich ihre Grundbegriffe als Existenzbegriffe nur explizieren kann auf Grund eines Verständnisses des ,Seins‘ des Daseins, und insofern sie für die Analyse des SeinsSinnes auf die Philosophie angewiesen ist. Sie könnte das nicht, wenn es sich um eine systematische Philosophie handeln würde, die von einer vorausgesetzten Idee von Sein aus deduzierend verfährt. Sie kann es aber, wenn es sich um eine philosophische Forschung handelt, die als Phänomenologie aufweist, die die Phänomene selbst zum Sich-Zeigen bringen will. Die Theologie lernt in diesem Falle ja im Grunde nicht von ,der‘ Philosophie, sie übernimmt nicht deren System oder Dogmen, sondern sie läßt sich von ihr an das Phänomen weisen; sie läßt sich von dem Phänomen belehren, vom Dasein, dessen Struktur die Philosophie aufdeckt.“ 67

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ist die „Grundbewegtheit des faktischen Lebens selbst“70, die Selbstbezüglichkeit menschlichen Daseins, aus der sich die Aufgabe ergebe, eben diese auszuleuchten. Da die Frage nach dem Menschen und die nach Gott bei Bultmann eng miteinander verzahnt sind, stellt die genaue ontologische Analyse menschlichen Daseins eine grundhermeneutische Aufgabe dar. Die Philosophie Heideggers biete sich dafür insbesondere an, da sie von den Phänomenen ausgehe und die Grundstrukturen menschlichen Daseins neutral zur Darstellung bringen könne.71 Wenn Bultmann also in der Philosophie eine grundlegende Methode erkennt, sie als „einfragen nach dem Sein im Ganzen“72 bestimmt, als „Ruf zu den Dingen selbst“73, dann ergibt sich somit für die Theologie als positive Wissenschaft zwangsläufig eine spezifische Aufgabenstellung. Warum sollte die Theologie, die die menschliche Existenz unter einer besonderen Voraussetzung zum Thema habe, nicht auf die neutralen Ergebnisse der philosophischen Arbeit zurückgreifen können, wenn es um die grundsätzliche Beschreibung des menschlichen Daseins geht? Für Bultmann ist die Verhältnisbestimmung klar: Die Philosophie arbeitet durch Fragen nach dem Sein im Ganzen die ontologischen Grundbedingungen heraus, auf die die Theologie zurückgreift.74 Die Theologie treffe sich mit der Philosophie im Anliegen, die Daseinsstrukturen menschlichen Seins begrifflich präzise zu fassen und darzulegen, wenn auch in anderer Weise:75 [Beide haben] den gleichen Gegenstand […], das Dasein, d[en] sie aber in verschiedener Weise zum Thema machen: die Philosophie, indem sie das Sein des Daseins zum Thema macht, […] die Theologie, indem sie vom konkreten Dasein redet, sofern es glaubt.76

(B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 64). Die Wertschätzung geht also vom gemeinsamen Untersuchungsgegenstand aus. Somit würde jedes wissenschaftliche Treiben, das den Sinn vom Sein zum Gegenstand hat, das philosophische Unterfangen „wiederholen“. Alle Kritik, die Bultmann eine Vermischung von Theologie und Philosophie oder gar ein Überflüssigmachen Ersterer vorwirft, bestreitet demnach im Kern entweder die enge Verzahnung von Anthropologie und Theologie im Allgemeinen oder aber die Möglichkeit einer nüchternen Arbeit der Philosophie, die das zur vernünftigen Aussage bringt, was in den Phänomenen selbst ausgesagt ist. 70 Ebd. 71 Vgl. ebd. 72 B, R, Theologische Enzyklopädie, 8. 73 Ebd. 74 Die Annahme, dass den theologischen Begrifflichkeiten ein allgemeines Seinsverständnis zugrunde liegt, lässt sich auch bei Heidegger finden: „Alle theologischen Grundbegriffe haben jeweils […] in sich einen zwar existenziell ohnmächtigen, d. h. ontisch aufgehobenen, aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational faßbaren Gehalt. Alle theologischen Begriffe bergen notwendig das Seinsverständnis in sich, das das menschliche Dasein als solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert.“ (H, M, Phänomenologie und Theologie, in: Ders., Wegmarken, GA [Bd. 9] Frankfurt am Main 1976, 45–78, 63). 75 Vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308 f. 76 B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 62.

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Die Daseinsstruktur, die die Philosophie herausarbeitet, ist nach Bultmann auch für das gläubige Dasein relevant und interessant,77 wobei die theologische Rede ihre Berechtigung deshalb behalte, da sie andere Schlüsse aus der begrifflichen Erfassung ziehe und somit eigenständig sowie anders über das menschliche Dasein spreche.78 Die Theologie bleibe auf die Philosophie und die erarbeiteten Begriffe verwiesen und angewiesen.79 Das glaubende Dasein sei den ontologischen Existenzbedingungen nicht enthoben.80 Mit dieser Grundüberzeugung rechtfertigt Bultmann die Behauptung eines engen Verhältnisses von Philosophie und Theologie. Allerdings markiert er gleichzeitig den gravierenden Unterschied. Die Theologie spreche grundsätzlich anders über das menschliche Dasein, da sie „es von einer bestimmten Verkündigung getroffen“81 verstehe. Es sei die Verkündigung, die den Eigenwert der theologischen Analyse des menschlichen Daseins bedinge. Sie mache die Art des menschlichen Daseins in aller Grundsätzlichkeit neu bewertbar.82 Bultmann stellt der formalen Daseinsanalyse der Philosophie eine theologisch-konkrete gegenüber. So unverändert der Gegenstand in seinen ontologischen Daseinsstrukturen bleibe, so verschieden sei die Rede über die konkret-ontische, im Falle der Theologie gläubige Existenz. Die Theologie spreche – wie gesehen – „von einem bestimmten Geschehen im Dasein“83, sodass sie gleichzeitig als positive und historische Wissenschaft gelten könne.84 Dennoch bleibt die Theologie nach Bultmann auf die Philosophie verwiesen, wenn es um die formale Analyse menschlichen Daseins geht, da diese zunächst helfe, den Menschen in seinem Wesen wahrzunehmen.85 An diese formale Analyse schließt

77 „Das Gesagte hat aber zugleich vorläufig etwas weiteres angedeutet, nämlich daß die Theologie als Wissenschaft die philosophische Daseinsanalyse fruchtbar machen kann. Denn das gläubige Dasein ist doch jedenfalls Dasein; auch der Glaubende existiert als Mensch, wie ihm die Verkündigung, aus der der Glaube kommt, als menschliches Wort begegnete.“ (a.a.O., 63). 78 Vgl. a.a.O., 62. 79 Heidegger und Bultmann sind sich an dieser Stelle einig. Beide gehen von dem Verhältnis eines „Nacheinanders“ sowie der grundsätzlichen Arbeitsteilung aus. S. zur genaueren Analyse G, A, Zwischen Phänomenologie und Theologie, 37–62; D, H, Bultmann und Heidegger: Freundschaft und Marburger Gemeinsamkeit in der Sache – trotz allem, in: PhR 56 (2009), 258–266. 80 Bultmann verwendet den Begriff des Glaubenden und den des gläubigen Daseins synonym. 81 B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 62. 82 Vgl. ebd. 83 A.a.O., 63. 84 Vgl. a.a.O., 62 f. 85 Die Philosophie ist dabei als maieutische Stütze zu verstehen, nicht nur im Hinblick auf die Grundstrukturen menschlicher Existenz, sondern auch im Hinblick auf das Verstehen biblischer Texte und somit auf indirekte Weise des Kerygmas: „Existentialist philosophy, while it gives no answer to the question of my personal existence, makes personal existence my own personal responsibility, and by doing so it helps to make me open to the word of the Bible.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 56).

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die theologische Rede insofern an, als sie vom konkreten Ereignis ausgeht, das erst durch Gottes Offenbarung, verstanden als Kerygma, ermöglicht werde. Die den jeweils konkreten Menschen treffende Verkündigung kann somit als das Proprium theologischer Arbeit gesehen werden. Ohne das Ereignis der Offenbarung Gottes in Christus, das sich im Kerygma weiter vollzieht, sei Theologie unmöglich und bleibe auf rein formal-ontologischer Ebene, die sie mit der Philosophie teilt. Die Verwiesenheit der Theologie auf die philosophische Daseinsbeschreibung könne als konkret-ontische Bestimmung deshalb gelten, da sie von denselben Phänomenen spreche, dies jedoch in grundsätzlich anderer, neuer, dem Gnadengeschenk verdankter Weise.86 Durch Gottes Handeln am Menschen werden Phänomene neu gesehen, aber keine neuen Phänomene wahrgenommen. Der Mensch „beschreibt keine neuen Phänomene (Erfahrung), sondern beschreibt alle Phänomene neu (Erfahrung mit der Erfahrung), entfaltet also einen neuen Blickpunkt (Standpunkt und Horizont), von dem her alle Phänomene neu zu sehen und zu verstehen sind.“87 In der bultmannschen Verortung des christlichen Daseins „zwischen den Zeiten“88 findet dieser Umstand der neuen Sicht seine Explikation. Dieses Changieren kann als Alleinstellungsmerkmal der Theologie gelten, die nicht nur eine Sicht unter vielen, sondern eine eigene ist.89 Somit lässt sie sich zum einen von anderen Wissenschaften, zum anderen von der Philosophie abgrenzen, da sie nicht im Wirklichen verhaftet bleibt, sondern mit dem Möglichen rechnet.90 Es bleibt festzuhalten, dass Bultmann die Aufgabe der Philosophie darin sieht, die grundsätzlichen ontologischen Strukturen menschlichen Daseins ans Tageslicht zu befördern. Die Theologie reflektiere über die – im Glauben – zu ergreifenden Möglichkeiten.91 Sie gehe im Gegensatz zur Philosophie nicht davon aus, dass diese Möglichkeiten menschlichen Daseins rein in menschlicher Hand lägen.92 Die Theologie überschreitet gewissermaßen den Horizont der philosophischen Vorarbeit. Bultmann gelingt es mit dieser Verhältnisbestimmung, Philosophie und Theologie in ihrer Berechtigung zu bestärken und beiden Disziplinen ihren Platz zuzuweisen, ohne die Begriffe der philosophischen Arbeit blind zu übernehmen.93 „In gewissem Sinne ,wiederholt‘ also die Theologie allerdings die 86 Vgl. B, R, Gnade und Freiheit, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 149–161, 160 f. 87 D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft. Heideggers gescheiterter Versuch, die Theologie zu verstehen, in: ThLZ 136 (2011), 993–1008, 1001. 88 B, R, Der Mensch zwischen den Zeiten nach dem Neuen Testament, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen, 31965, 35–54, 35. 89 Vgl. D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft, 1002. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. unter anderem S, H , Gott als Ereignis des Seins, 145. 92 Vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 310 f. 93 So hält Heidegger fest, dass es der Philosophie fernliegen müsse, die theologischen Begriffe „philosophisch zu errechnen.“ (H, M, Phänomenologie und Theologie, 65). Die Theologie versteht auch er als eine – nicht im schleiermacherschen Sinne –

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philosophische Analyse“94, gehe aber über sie hinaus, indem sie vom konkretontischen spreche, vom Glaubensgeschehen. Die philosophische Arbeit bleibt also der theologischen vorgeschaltet. Nun scheint die skizzierte Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie zunächst einleuchtend zu sein. Beiden Disziplinen wird ihr je eigener Platz im Wissenschaftskanon zugewiesen. Beide werden sie von Bultmann hochgeschätzt, vor allem ob der Tatsache, dass es ihnen beiden um das menschliche Dasein gehe. Die Philosophie wird als Grundlagenwissenschaft angesehen. Auf ihre Erkenntnisse habe sich die Theologie zu berufen, an sie sei die Theologie verwiesen. Jedoch ist die Verhältnisbestimmung samt ihrer funktionellen Zuschreibung kritisch zu hinterfragen und bereits früh immer wieder kritisiert worden.95 Zum einen stellt sich die klare Arbeitsteilung als problematisch dar. Denn es lässt sich grundlegend infrage stellen, ob die Philosophie wirklich in der Lage ist, eine neutrale Daseinsanalyse zu liefern, und sich die philosophische Arbeit nicht vor einem konkret-ontischen Hintergrund vollzieht.96 Die Verhältnisbestimmung lässt sich darüber hinaus auch auf Ebene der theologischen Arbeit Bultmanns kritisieren. Denn dieser lässt die formal-ontologische Analyse als solche keinesfalls stehen, sondern geht darüber hinaus, indem er beispielsweise die vorgläubige Existenz aus der Erfahrung des Glaubens als „Unglauben“ bezeichnet.97 Wenn aber die ontologische Analyse neutral sein und Bestand haben soll, inwieweit ist positive Wissenschaft. Diese sei in ihrem Kern historisch, da sie als einzige dazu in der Lage sei, eine systematische Aufarbeitung „des christlichen Geschehens“ zu geben und somit „den Gläubigen als begrifflich Verstehenden in die Offenbarungsgeschichte zu bringen“. (a.a.O., 57 f.). Dies geschehe auf Grundlage der philosophischen Arbeit insofern, als theologische Begriffe immer auf ein grundsätzliches Seinsverständnis zurückgehen (vgl. a.a.O., 63). Bultmann und Heidegger sind sich in der Verortung ihrer jeweiligen Disziplinen also einig. 94 B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 64. 95 Dieser Vorwurf ist Bultmann immer wieder gemacht worden. Er lässt sich auf die Übernahme heideggerscher Ausführungen zum Wissenschaftsbegriff zurückzuführen, die prominent in Phänomenologie und Theologie zu finden sind. Heidegger selbst hat seine vorgenommene Verhältnisbestimmung sowie die Proklamation der Theologie als positive Wissenschaft Jahre später als überaus problematisch eingeschätzt. S. dazu P, G, Philosophie als Korrektion der Theologie. Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie in: Norbert Fischer/Friedrich Wilhelm von Herrmann (Hg.), Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, Hamburg 2011, 69–88, 81 f.; I, G, Das Leben verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen (Epistemata 207), Würzburg 1997, 163–165; J, M, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott, 154–169. 96 In diese Richtung gehen die Anfragen bei P, O, Glauben und Verstehen. Pointen, Grenzen und Perspektiven der Hermeneutik Bultmanns, in: Ulrich H. J. Körtner u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 97–122, 104 f. sowie bei G, A, Zwischen Phänomenologie und Theologie: Heideggers ,Marburger Religionsgespräch‘ mit Rudolf Bultmann, in: ZThK 95 (1998), 37–62, 52–54. 97 Vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308.

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eine solche Qualifizierung der Theologie überhaupt erlaubt respektive unterläuft eine solche nicht gerade die zuvor vollzogene Verhältnisbestimmung? Welchen Wert hat die philosophische Arbeit in Bezug auf das glaubende Dasein, wenn retrospektiv doch eine Neuqualifikation stattfindet? Redet die Theologie nicht grundsätzlich anders vom Menschen als die Philosophie? Und wenn dem so ist, warum bedarf es dann der philosophischen Vorarbeit (formal-ontologisch), die dann aber aus theologischer Perspektive (konkret-ontisch) wiederum neu und damit anders qualifiziert wird? Was verspricht sich Bultmann von dieser Verhältnisbestimmung? Zum anderen lässt sich aus der ersten Anfrage eine weitere ableiten, die Bultmann immer wieder entgegengebracht worden ist, die bezüglich der Stellung und Wertung der Offenbarung. Die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie bricht sich insofern an dem Offenbarungsbegriff, als sich an ihm das Verhältnis von ontologischer Daseinsanalyse und ontischem Existenzvollzug zu bewähren hat. Die Frage nach der Qualität ist hierbei virulent. Durchbricht die Offenbarung die ontologische Daseinsanalyse vollends oder kann sie, in welcher Form auch immer, als grundsätzliche Möglichkeit inkorporiert werden? Diesen beiden Anfragen wird im Folgenden nachgegangen. Dabei wird deutlich, welche Anliegen Bultmann mit seiner Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie verfolgt. Im Grunde genommen wird im Rahmen der beiden Anfragen die Verhältnisbestimmung noch einmal kritisch abgetastet und ausführlicher eingeordnet. Von Bedeutung sind die Ergebnisse für die weitere Untersuchung nicht zuletzt deshalb, da sie ins Zentrum der bultmannschen Theologie treffen. Sie sind von exzeptioneller Bedeutung für sein Kerygmaverständnis. Die Anfragen, die sich explizit auf das Kerygma beziehen, lassen sich indirekt auch als Kritik an seiner produktiven Aufnahme heideggerscher Philosophie lesen. So trägt ein besseres Verständnis seines Theologiebegriffs zu einer differenzierten Interpretation seines Kerygmabegriffs bei. a) Formal-ontologisch versus konkret-ontisch Bultmann sieht den Grund für die Inanspruchnahme der Philosophie in der Phänomenologie angelegt. Heideggers Philosophie eigne sich in besonderer Weise für eine genaue Darstellung menschlichen Daseins, da sie nicht ableitend verfahre, sondern „die Phänomene selbst zum Sich-Zeigen bringen will“98. Die vorgenommene Kontrastierung von Grundlegungswissenschaft, der es um das Sein im Ganzen gehe (Philosophie), auf der einen und positiver Wissenschaft (Theologie) auf der anderen Seite leuchtet zunächst ein. Allerdings bedarf sie für ein differenziertes Verständnis einer ausführlicheren Erklärung.99 Die Austarierung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie beschäftigte den Philosophen Heidegger und den Theologen Bultmann über einen langen 98 99

B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 64. Vgl. J, M, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott, 160.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Zeitraum hinweg.100 Das Verhältnis von Bultmann und Heidegger und die gegenseitige Einflussnahme können und sollen an dieser Stelle gar nicht in aller Ausführlichkeit dargelegt werden.101 Ein schemenhafter Aufweis der Utilitarisierung soll ausreichen, um das sprachliche Operationsbesteck Bultmanns ab den zwanziger Jahren kurz bestimmen zu können. Generell ist festzuhalten, dass die gemeinsame Marburger Zeit (1923–1928) für das sprachliche Instrumentarium Bultmanns von immenser Bedeutung ist. Dies zeigt sich wohl am prominentesten in der Rede vom „Dasein“ und der „Existenz“ als der Kategorie, unter der er den Menschen fasst. Im Dasein ist eine hermeneutische Lesart des Menschen sui generis gegeben, da es sich beim Dasein nach Heidegger um ein Seiendes handelt, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.“102 Heidegger entdeckt den

100 Das Hadern mit der richtigen Verhältnisbestimmung wird schon in der Diskussion um die Mitarbeit Heideggers an der Theologischen Rundschau deutlich. Bultmann wollte im Rahmen der Zeitschrift das Verhältnis gemeinsam mit Heidegger ausloten, doch im letzten Moment zog dieser seine Zusage zur Mitarbeit zurück. In einem Brief an Bultmann vom 23. Oktober 1928 schreibt er: „Ich glaube, die Sache wird reinlicher und ehrlicher, wenn die Philosophie zunächst einmal schweigt.“ (B, R/H, M, Briefwechsel 1925–1975, hg. v. Andreas Großmann und Christof Landmesser, mit einem Geleitwort v. Eberhard Jüngel, Frankfurt am Main/Tübingen 2009, 64). Bei diesem Schweigen sollte es bleiben; eine Beteiligung Heideggers an der Zeitschrift hat es nie gegeben. 101 Ausführlich zum Verhältnis beider Denker s. exemplarisch: G, A, Was sich nicht von selbst versteht. Heidegger, Bultmann und die Frage einer hermeneutischen Theologie, in: Ingolf U. Dalferth/Pierre Bühler/Andreas Hunziker (Hg.), Hermeneutische Theologie – heute? (HUTh 60), Tübingen 2013, 55–81; D., Theologie aus dem Geiste der Heideggerschen Philosophie? Zu Bultmanns Verständnis existentialer Theologie, in: Ulrich H. J. Körtner, u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 155–170; J, E, Glauben und Verstehen, 16–77, insbes. 31–36; P, O, Philosophie und Hermeneutische Theologie. Heidegger, Bultmann und die Folgen, München 2009, 31–136; H, K, Theologie und Philosophie – Martin Heidegger, in: Ders., Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 32012, 192–206; D., Die Entstehung von Bultmanns Jesus-Buch, in: Ders., Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, Tübingen 2016, 189–210; H, H, Bultmanns „existentiale Interpretation“, 280–324; S, W, 75 Jahre: Bultmanns Jesus-Buch, in: ZThK 98 (2001), 25–58. Zur wechselseitigen Beeinflussung bis 1928: J, M, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott. Erhellend ist zudem der Briefwechsel zwischen Bultmann und Heidegger: B, R/H, M, Briefwechsel 1925–1975, 2009; L, U, Heideggers Ausarbeitung der Frage nach dem Sein und die existential-analytische Begrifflichkeit in der evangelischen Theologie. Das Problem der ontologischen Konsequenzen der existentialen Interpretation, in: ZThK 53 (1956), 230–251; C, D, A Gospel without Myth? Bultmann’s Challenge to the Preacher, London 1960; R, C H, Gott existiert. Eine dogmatische Studie, Berlin 1966, 1–26; F, E, Theologische Exegese und philosophisches Selbstverständnis. Zum Gespräch zwischen Bultmann und Heidegger, in: ZThK 40 (1932), 307–323; V, H, Hermeneutische Phänomenologie und dialektische Theologie. Heidegger und Bultmann, in: Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Glauben und Verstehen. Perspektiven hermeneutischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2000, 19–38. 102 H, M, Sein und Zeit, 12

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2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie

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Menschen in seinem eigenen Verstehensvollzug. Seine philosophischen Beobachtungen leiten ihn zu einer Elaboration formaler Grundstrukturen menschlichen Daseins, die ein geschichtliches Seinsverständnis zum Ausdruck bringen. Durch seine phänomenologische Betrachtung gelingt es ihm, den Menschen als Verstehenden zu untersuchen. Heidegger verabschiedet sich somit von einer Philosophie, die vom transzendentalen Denken ausgeht. Der Philosophie ist damit eine Grundhermeneutik ins Stammbuch geschrieben, die sich in der Selbstreflexion des menschlichen Daseins widerspiegelt. Bultmann bedient sich der Sprache der heideggerschen Philosophie, der Beantwortung „der Frage nach dem Sinn von Sein“103. Der Einfluss von Heidegger auf Bultmann ist als produktiv, nicht aber als radikaler Anfang seines Denkens zu sehen.104 Mit Blick auf die Forschungsliteratur bestätigt sich die eingangs vorgenommene Wertung des Einflusses vor allem auf sprachlicher Ebene. Heideggers Philosophie und die Begegnung mit ihr liefern Bultmann die Möglichkeit, seine Gedanken in einen Sprachkosmos zu integrieren.105 Bultmann selbst hat den Einfluss Heideggers in Bezug auf sein Jesus-Buch entschieden abgelehnt.106 In der weiteren Entwicklung und Zuspitzung der bultmannschen Theologie auf die „existentiale Interpretation“ – im Gegensatz zur heideggerschen Schreibweise „existenziale Interpretation“ – sieht man den Einfluss des heideggerschen Philosophieansatzes samt der Sprachwelt immer deutlicher. Diese gereicht Bultmann zur formalen Ausleuchtung menschlicher Existenz und durchzieht somit seine gesamte Theologie. Dieser Umstand wird auch in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie deutlich. Die produktive Aufnahme heideggerscher Terminologie zeigt sich insbesondere auch an dem Begriff „Geschichtlichkeit“. Die produktive Aufnahme der Terminologie ist dabei allerdings keinesfalls mit einer Wiederholung der Philosophie oder einem blinden Folgen heideggerscher Ontologie zu verwechseln.107 Beiden ist eine „unklare Vermengung“108 von Theologie und Philosophie zuwider. Ihnen geht es um eine klare Unterscheidung beider Disziplinen. Geleitet wird die Unterscheidung vor allem durch die bultmannsche Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft. Diese Bestimmung unterscheidet sich deutlich von der Schleiermachers, der die Positivität der Theologie in Bezug „auf eine bestimmte Religion“109 und die Erlangung des erforderlichen Wissens zur Gestaltung des 103

A.a.O., 3. „Bultmann ist nicht Heidegger!“ (H, H, Rückblick auf das Bultmann-Gedenkjahr 1984, in: ThLZ 110 [1985[, 641–652, 644). 105 Vgl. beispielsweise P, O, Philosophie und Hermeneutische Theologie, 32 f. oder auch P, O, Glauben und Verstehen, 104. 106 H, H, Rückblick auf das Bultmann-Gedenkjahr 1984, 649. 107 Vgl. H, C, Freiheit aus Glauben, Studien zum Verständnis eines soteriologischen Leitmotivs bei Wilhelm Herrmann, Rudolf Bultmann und Eberhard Jüngel (TBTö 157), Berlin/Boston 2012, 238–246. 108 B, R/H, M, Briefwechsel 1925–1975, 71. 109 S, F. D. E., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002, § 1, 142. 104

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christlichen Lebens sieht.110 Positiv sei die Theologie als Wissenschaft insofern, als sie die „wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln [erarbeitet], ohne deren Anwendung ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.“111 Bultmann hingegen untermauert den Anspruch der positiven Wissenschaft, indem er diesen aus einem konkreten Geschehen im Dasein ableitet – dem Zum-GlaubenKommen durch den Anspruch des Kerygmas, das sich in der Verkündigung, der kirchlichen Verkündigung vollzieht.112 Bultmanns Lesart der Theologie als positive Wissenschaft liegt auf der Linie Heideggers, der das Positum allerdings vor allem in der Christlichkeit als Existenzweise sieht, wohingegen Bultmann – wie gesehen – explizit das Christusgeschehen betont.113 Aus der Annahme eines Mo110 Vgl. L, M, Vor welchen Anfragen sieht sich die Systematische Theologie heute? Vortrag auf der Jahrestagung 2013 der GwR Göttingen, 13. September 2013, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013), 22–33, 29. 111 S, F. D. E., Kurze Darstellung des theologischen Studiums, § 5, 142. 112 Vgl. B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 63. 113 Oliver Pilnei missversteht Heideggers Ausführungen aus Phänomenologie und Theologie, wenn er das Positum in der „Christlichkeit des Theologen“ (P, O, Glauben und Verstehen, 104) angelegt sieht. Vielmehr sieht Heidegger die christliche Existenz im Allgemeinen als Positum der Theologie, das sich wiederum der Offenbarung Gottes verdanke. Folgende Passage verdeutlicht die frühen Bemühungen Heideggers, das Verhältnis von Theologie und Philosophie aus phänomenologischer Sicht genau zu bestimmen. An diese Formulierungen schließt Bultmann an und nimmt sie produktiv auf. Das lässt sich unter anderem anhand der sprachlichen Gestaltung ablesen: „Wir behaupten nun: das Vorliegende (Positum) für die Theologie ist die Christlichkeit. Und diese entscheidet über die mögliche Form der Theologie als positiver Wissenschaft von ihr. Die Frage erhebt sich: was bedeutet aber Christlichkeit? Christlich nennen wir den Glauben. Dessen Wesen lässt sich formal so umgrenzen: der Glaube ist eine Existenzweise des menschlichen Daseins, die, nach dem eigenen – dieser Existenzweise wesenhaft zugehörigen – Zeugnis, nicht aus dem Dasein und nicht durch es aus freien Stücken gezeitigt wird, sondern aus dem, was in und mit dieser Existenzweise offenbar wird, aus dem Geglaubten. Das primär für den Glauben und nur für ihn Offenbare und als Offenbarung den Glauben allererst zeitigende Seiende, ist für den ,christlichen‘ Glauben Christus, der gekreuzigte Gott. Das so durch Christus bestimmte Verhältnis des Glaubens zum Kreuz ist ein christliches. Die Kreuzigung aber und alles ihr Zugehörige ist ein geschichtliches Geschehnis, und zwar bezeugt sich dieses Geschehnis als solches in seiner spezifischen Geschichtlichkeit nur für den Glauben in der Schrift. Um dieses Faktum kann nur im Glauben ,gewusst‘ werden. Das dargestellt Offenbare hat nun gemäss seinem spezifischen ,Opfer‘Charakter die bestimmte Mitteilungsrichtung auf den je faktisch geschichtlich existierenden, ob gleichzeitigen oder nicht gleichzeitigen einzelnen Menschen, beziehungsweise die Gemeinschaft dieser Einzelnen als Gemeinde. Diese Offenbarung ist als Mitteilung keine Übermittlung von Kenntnissen über wirkliche, beziehungsweise gewesene oder erst eintretende Vorkommnisse, sondern diese Mitteilung macht zum ,Teil-nehmer‘ an dem Geschehen, welches die Offenbarung = das in ihr Offenbare selbst ist. Dieses nur im Existieren vollzogene Teilnehmen ist aber als solches immer nur als Glauben durch den Glauben gegeben. In diesem ,Teil-nehmen‘ und ,Teil-haben‘ aber an dem Geschehen der Kreuzigung wird das ganze Dasein als christliches, d. h. kreuzbezogenes vor Gott gestellt, und die von dieser Offenbarung betroffene Existenz wird sich selbst offenbar in ihrer Gottvergessenheit. Und so ist seinem Sinn nach – ich spreche immer nur von einer idealen Konstruktion der Idee – das Gestelltwerden vor Gott ein Umgestelltwerden der Existenz in und durch die gläubig ergriffene Barmherzig-

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dus des Existierens zieht Bultmann den Schluss des Konkret-Ontischen für die Theologie und stimmt Heidegger in seiner Bestimmung der Philosophie zu. Beide wollen auf ihre Weise radikal denken, Heidegger „ontologisch-kritisch“114, Bultmann „positiv-ontisch“115. Bultmann hat sich in seiner Antwort auf Gerhardt Kuhlmann im Rahmen seines Aufsatzes Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube von 1930 erklärt. In diesem erläutert er erstmals explizit seine Bezugnahme auf Heidegger in ausführlicher Form.116 Zudem wird pointiert das Verhältnis zur Philosophie samt Aufgabenverteilung dargelegt und gleichzeitig die Nähe zu Heideggers Vortrag Phänomenologie und Theologie von 1927 deutlich: In dem angegebenen Sinn ,wiederholt‘ also die Theologie, und sie muß es tun, wenn in dem christlichen Geschehen, das sich im Glauben vollzieht, in der ,Wiedergeburt‘, nicht eine magische Verwandlung des Menschen vor sich geht, die den Glaubenden aus dem Dasein herausnähme. Sie muß das tun, wenn in der gläubigen Existenz die vorgläubige aufgehoben ist. Ist im Glauben die vorgläubige Existenz existentiell-ontisch überwunden, so heißt das nicht, daß die existential-ontologischen Bedingungen von Existieren vernichtet sind. Theologisch ausgedrückt: der Glaube ist nicht eine inhärierende neue Qualität, sondern eine stets neu ergriffene Möglichkeit des Daseins, wenn Dasein im steten Ergreifen seiner Möglichkeiten existiert. Der Glaubende ist kein Engel geworden, sondern simul peccator, simul iustus. Deshalb haben alle christlichen Grundbegriffe einen ontologisch bestimmenden

keit Gottes. Der Glaube also versteht sich selbst immer nur gläubig. Der Gläubige weiss nicht und nie, etwa auf Grund einer theoretischen Konstatierung von inneren Erlebnissen, um seine spezifische Existenz; er kann vielmehr diese Existenzmöglichkeit nur ,glauben‘ als eine solche, deren das getroffene Dasein von sich aus nicht mächtig, in der das Dasein zum Knecht geworden, vor Gott gebracht und so wieder-geboren ist. Der eigentliche existenzielle Sinn des Glaubens ist demnach : Glaube = Wiedergeburt. Und zwar Wiedergeburt nicht im Sinne einer momentanen Ausstattung mit irgend einer Qualität, sondern Wiedergeburt als Modus des geschichtlichen Existierens des faktischen gläubigen Daseins in der Geschichte, die mit dem Geschehen der Offenbarung anhebt [...] Glaube ist gläubig verstehendes Existieren in der mit dem Gekreuzigten offenbarten, d. h. geschehenden Geschichte.“ (H, M, Phänomenologie und Theologie, 52–54). Es ist die Verschränkung von Christusgeschehen und Existenzweise, das Bultmann produktiv aufnimmt und für seine theologische Arbeit in Anschlag bringt. 114 B, R/H, M, Briefwechsel 1925–1975, 25. 115 Ebd. Bultmann hat sich, im Zusammenhang der Mitarbeit am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, selbst als „radikale Stimme innerhalb der historisch-kritischen Forschung“ bezeichnet (vgl. dazu B, L, Rudolf Bultmann und das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament. Eine Neubewertung, in: ZThK 118 [2021], 23–56, 34 f.). 116 Aus der Zeit vor 1927 lassen sich keine ausgewiesenen Verweise auf Heidegger feststellen, obgleich die sprachliche Nähe bereits deutlich wird. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Heidegger seine philosophischen Einsichten vor der Veröffentlichung von Sein und Zeit 1927 zwar in Vorträgen, Vorlesungen und Korrespondenzen dargelegt, aber kaum veröffentlicht hat. Erst mit dem Erscheinen von „Sein und Zeit“ war ein expliziter Bezug zu seiner Philosophie möglich (vgl. B, C, Kierkegaard receptus II. Die theologiegeschichtliche Bedeutung der Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns, Göttingen 2011, 31–33).

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vorgläubigen und rein rational faßbaren Gehalt. Alle theologischen Begriffe enthalten das Seinsverständnis, das das menschliche Dasein als solches von sich hat, sofern es überhaupt existiert.117

Bultmann begründet seine Aufnahme der heideggerschen Philosophie strikt theologisch. Es geht ihm um die Betonung der gläubigen Existenz als simul iustus et peccator, die sich für ihn aus dem Kerygma ergibt: „Der Glaube sieht, daß ich allein durch die Vergebung als ein Gerechtfertigter und Liebender neu werde.“118 Beide Beschreibungen der gläubigen Existenz gilt es für ihn in Spannung zu halten. Das steht hinter seinen theologischen Überzeugungen, die er sodann mit dem Instrumentarium der heideggerschen Sprache auszudrücken vermag. Aufgrund der Einsicht, dass das gläubige Dasein immer auch peccator bleibe, kommt Bultmann zu dem Schluss, dass eine phänomenologische Beschreibung des vorgläubigen Daseins hilfreich für das Verständnis des gläubigen Daseins sei. Denn die Glaubenden seien nicht des Daseins enthoben: Glaube ist immer nur im Überwinden des Unglaubens; denn als Mensch kommt der Glaubende immer aus dem Unglauben und steht immer in der Paradoxie des ,ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!‘119

Die paradoxe Struktur bleibt prägend für das gläubige Dasein. Der Weg zum Glauben gehe immer über den Weg des Unglaubens. Bultmann erkennt in der Philosophie Heideggers die Möglichkeiten, diesen Zusammenhang zu beschreiben, den Weg des Zum-Glauben-Kommens sprachlich zu fassen und gleichzeitig den Zusammenhang von vorgläubiger und gläubiger Identität aufrechtzuerhalten. Es gelingt ihm, eine „Kontinuität des Gläubigen“120 sprachlich auszudrücken, die über eine schroffe Gegenüberstellung von vorgläubigem und gläubigem Dasein hinausgeht. An einer solchen Kontinuität ist Bultmann schon früh interessiert. In der Auseinandersetzung mit Barths Römerbrief von 1922 insistiert Bultmann auf das für ihn entscheidende Moment der Aneignung des gläubigen Daseins. Barth unterscheidet deutlich zwischen anschaulicher (vorgläubiger) und unanschaulicher (gläubiger) Existenz121 und hebt damit die Ungesichertheit des Glaubens als Gnadengeschenk hervor: Nur am Ende des alten Menschen kann uns der Anfang des neuen anschaulich werden, nur am Kreuze des Christus der Sinn und die Wirklichkeit seiner Auferstehung. Wir können nur immer und überall, und immer und überall aufs Neue – glauben, auch glauben, dass wir glauben. Eine anschauliche, historisch-psychologische Bestimmung und Abgrenzung der

117

B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 165 f. B, R,Theologische Enzyklopädie, 202. 119 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 311. 120 A.a.O., 296. 121 Mit diesen Begriffen bringt Bultmann Barths Anliegen zum Ausdruck (vgl. B, R, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage, in: Jürgen Moltmann [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie [Bd. 1], K. Barth, H. Barth, E. Brunner, München 1977, 119–142, 130). 118

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Glaubenden gegenüber den Nicht-Glaubenden ist unmöglich. Unser aller Hände sind und bleiben – anschaulich – leer.122

In der allgemeinen Betonung des Glaubens als Geschenk Gottes, als „Wunder“123, stimmt Bultmann mit Barth überein. Doch überspannt Barth nach Bultmann den Bogen, wenn er die Ungesichertheit des Glaubens über die Differenz von vorgläubiger und gläubiger Existenz spielt. In seiner Entgegnung wird dasjenige Anliegen seiner Theologie deutlich und schlägt sich in der produktiven Aufnahme der heideggerschen Philosophie nieder: Es ist klar: dieser Radikalismus, der die Paradoxie, ja den Schein des Blasphemischen nicht scheut, will immer nur wieder zum Ausdruck bringen, daß Glaube, daß Rechtfertigung ein schlechthinniges Wunder ist. Aber ist nicht die Paradoxie überspannt? Ist der Glaube, wenn er von jedem seelischen Vorgang geschieden, wenn er jenseits des Bewußtseins ist, überhaupt noch etwas Wirkliches? Ist nicht das ganze Reden von diesem Glauben eine Spekulation, und zwar eine absurde? Was soll das Reden von meinem ,Ich‘, das nie mein Ich ist? Was soll dieser Glaube, dessen ich nicht bewußt bin, von dem ich höchstens glauben kann, daß ich ihn habe?124

Bultmann sieht in den Äußerungen Barths keinen Raum für das real glaubende Dasein, wenn er auch grundsätzlich die Betonung des Jenseitigen am Rechtfertigungsgeschehen für richtig hält und selbst aufnimmt.125 Außerdem bleibe die Bedeutung für das glaubende Subjekt opak: „Was soll das Reden von meinem ,Ich‘, das nie mein Ich ist? Was soll dieser Glaube, dessen ich nicht bewußt bin, von dem ich höchstens glauben kann, daß ich ihn habe?“126 Es ist die Frage nach der Aneignung des Glaubens und somit der Bedeutung des Glaubens für die Glaubenden, die Bultmann bei Barth unbeantwortet sieht. Genau diese Frage sucht er immer wieder mit dem Zusammenhang des simul iustus et peccator zu beantworten127 und diese schlägt sich in seinem Theologieverständnis nieder. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aufnahme der heideggerschen Philosophie besser verstehen. Für ihn ist die von Gott angesprochene Existenz Thema der Theologie. Er ist somit an der sprachlichen Reflexion auf den Glauben als Existenzweise interessiert und gleichzeitig an der Frage des Zum-Glauben-Kommens. Dafür bietet sich seiner Meinung nach die Philosophie an, der es um die

122 B, K, Der Römerbrief. Zweite Fassung 1922, hg. v. Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja, Zürich 2010, 206. 123 A.a.O., 162.168.479. 124 Vgl. B, R, Karl Barths „Römerbrief“, 130. 125 „Die Rechtfertigung ist nicht eine Qualitätsveränderung des diesseitigen Menschen, sondern ist immer nur als jenseitige in Gottes Urteil vorhanden. Der neue Mensch ist immer der jenseitige, dessen Identität mit dem diesseitigen Menschen nur geglaubt werden kann. So kann Barth sogar Luthers paradoxen Satz erneuern, daß wir nur glauben, daß wir glauben.“ (B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 24). 126 Vgl. B, R, Karl Barths „Römerbrief“, 130. 127 Vgl. B, C, Kierkegaard receptus I. Die theologiegeschichtliche Bedeutung der Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns, Göttingen 2008, 176 f.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Existenz gehe und die die formal-ontologischen Grundkonstanten menschlichen Daseins erarbeite.128 Nun könnte man Bultmann entgegnen, dass die Philosophie gar keine ontologischen Erkenntnisse liefern könne und auch Heidegger im Konkreten verhaftet bleibe.129 Denn auch dieser kommt zu seinen vermeintlich neutralen Schlüssen anhand seiner konkreten Existenz. Sicherlich ist dies ein berechtigter Einwand, doch scheint dieser die grundsätzliche Methode der heideggerschen Philosophie, jeder phänomenologischer Philosophie infrage zu stellen. Auch die philosophietreibende Person steht nicht außerhalb der Geschichte.130 Doch die Phänomenologie vermag es, die impliziten Phänomene explizit sichtbar zu machen beziehungsweise zur Sprache zu bringen und somit zur Diskussion zu stellen. Das gelingt, da es sich um weltliche Phänomene handelt. Der Glaube, der den immanenten Bezugsrahmen sprengt, ist auf eine andere Art der Auslegung angewiesen. Für Bultmann ist klar: Wirkliches Theologietreiben kann es nur geben, wo vom Offenbarungsgeschehen ausgegangen wird, das den Menschen in die Entscheidung stellt und in der Anrede eine Antwort fordert. Eindrücklich verdeutlicht Bultmann diese Radikalisierung der Theologie in seinem Vortrag Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament von 1929. Die Positivität der Theologie bedeutet für Bultmann Theologie als eine solche Wissenschaft zu verstehen, die 128 „He [Bultmann] is not primarily concerned to expound Christian thought in the language and concepts of what may prove to be a passing philosophical mood, but makes the more far-reaching [sic!] claim that the philosophy of existence stands in a special relation to theology. If existentialism has influenced the theology of Bultmann, it is not as an external influence, like much of Greek and western philosophy upon theology in the past. Theology is understood by Bultmann as the clarification of the content of faith, and the bringing of it to conscious knowledge. That is to say, theology is a kind of phenomenology of faith, through which is implicit in Christian belief is exhibite in a connected system of thought. Further, he says that this analysis of faith must be undertaken from the standpoint of faith itself. Bultmann, just as much as Barth, is oriented in his thought of faith which has its origin in the Christian relevation.“ (M, J, An Existentialist Theology. A Comparison of Heidegger and Bultmann. London 1965, 5 f.). 129 Vgl. P, O, Glauben und Verstehen, 110. 130 Bultmann selbst entgegnet diesem Einwand: „Damit ist endlich auch die letzte Frage geklärt, wie es nämlich mit der Brauchbarkeit der ontologischen Arbeit steht, wenn doch die Ontologie ontisch verwurzelt ist. Dies ist sie nämlich nicht in dem Sinne, daß von einer beliebigen Weltanschauung aus eine ihr entsprechende Ontologie entworfen werden könnte. Vielmehr zeigt sich im Entwerfen von Weltanschauungen überhaupt das Daseinsverständnis, in dem die Ontologie wurzelt. Das Dasein, das sich in der Philosophie ontologisch versteht, tut das auf Grund des ursprünglichen Seinsverständnisses, in dem es sich schon konstituiert. Da es kein anderes Dasein gibt, als dieses in seiner Freiheit sich konstituierende, sind die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologischen Analyse aufgewiesen werden, ,neutral‘, d. h. sie gelten für alles Dasein. Sie gelten also auch für das Dasein, an das sich die Verkündigung wendet, für das ungläubige Dasein wie für das gläubige, das nur in ständiger Überwindung des Unglaubens glaubt.“ (B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 312).

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von einer Gabe ausgehe, dem Glauben durch die Offenbarung, die die Seinsweise des menschlichen Daseins als vom Glauben bestimmte erkenne und bedenke. Als historische Wissenschaft könne sie deshalb bezeichnet werden, da sie somit das Handeln Gottes am Menschen zu einer bestimmten Zeit thematisiere, den Umschwung von ungläubiger zu gläubiger Existenz. Dieses göttliche Handeln am Menschen lasse sich nur schwerlich phänomenal fassen:131 Der Glaube ist in seinem eigenen Sinne als das Dasein umgestaltend nicht wahrnehmbar, er ist als das Ergreifen Gottes und als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins.132

Theologie beziehe sich somit auf etwas, „das nur im Vollzug und für den Mitvollziehenden gegeben ist“133. Somit sei es plausibel, die ontisch-ontologische Differenzierung im Hinblick auf Philosophie und Theologie zu behaupten. Damit weist Bultmann der Theologie ihren rechtmäßigen Platz zu. Die Betonung der Unverfügbarkeit des Glaubens als Geschenk Gottes wird von ihm aufrechterhalten und bekräftigt. Von diesem Standpunkt aus, ist es umso tragischer, dass ihm immer wieder die Nivellierung der Offenbarung ausgehend von der Annahme des Vorverständnisses entgegengebracht wurde. Bultmann lässt allerdings die transzendentalphilosophische Frage nach den Grundbedingungen eines möglichen Verständnisses der sich zu erschließenden Phänomene außen vor.134 Stattdessen nimmt er en passant die Möglichkeit einer reinen Phänomenenschau unter Ausschluss jeglicher Subjektverhaftung an.135 Das irritiert insofern, als Bultmann ob seines grundhermeneutischen Ansatzes nicht müde wird, das Vorverständnis im Zusammenhang mit seiner existentialen Interpretation sowie der Offenbarung zu betonen. Ein derart konstatiertes Vorverständnis müsste sensu stricto auch für die philosophietreibende Person behauptet werden. Denn, dass die Phänomene sich nicht selbst auf den Begriff bringen und der Mensch somit auf die philosophische Arbeit angewiesen ist, steht für Bultmann außer Frage.136 Erklären lässt sich das Ausblenden dieses Zusammenhangs mit seinem theologischen Anliegen. Es geht ihm in der Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie immer um ein für die Theologie bedeutsames Ergebnis. Er blickt als Theologe auf die Philosophie, die die Welt ohne die göttliche Offenbarung in Jesus Christus sehe. So grenzt er Theologie und Philosophie voneinander ab, sieht aber gleichzeitig die Philosophie als unabdingbare Wissenschaft für den Zusammenhang des simul iustus et peccator an. Es geht ihm – wie auch Heidegger – darum, „die

131

Vgl. D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft, 999. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 311. 133 D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft, 999. 134 Stattdessen folgt er stringent Heidegger, der in Sein und Zeit festhält, dass die Phänomenologie als Grundlegungswissenschaft „vom Sein des Seienden“ (H, M, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 37) handle und eben nicht wie zum Beispiel die Theologie als eine unter anderen positiven Wissenschaften vom jeweils konkreten Seienden. 135 Vgl. dazu die Ausführungen zum Theologiebegriff. 136 Vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308–311. 132

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Grenzen des Denk- und Sagbaren bis an die Extremstellen auszuloten, wo Bestimmungsbegriffe und Klassifikationsschemata des Besonderen und Allgemeinen nicht weiterführen, sondern Grenzbegriffe und kreative Metaphern die Orientierungspunkte markieren, von denen aus ein anderes Licht auf alles fällt.“137 Keinesfalls übernimmt Bultmann damit einfach Heidegger; in der „Wiederholung“138 seiner Philosophie ist kein Ausverkauf der theologischen Überzeugungen zu sehen.139 Durch die Kontrastierung gelingt es ihm, das Besondere am Glauben herauszustreichen, ohne allerdings das vorgläubige Dasein zu negieren. Es ist das In-Spannung-Halten, das Bultmanns Theologie auszeichnet und das auch gegen die nun folgende Kritik in Anschlag zu bringen ist.140 b) Unterbestimmung der Offenbarung – der Verdacht einer natürlichen Theologie Aufgrund der Aufnahme und Hochschätzung der ontologischen Daseinsanalyse wurde Bultmann immer wieder kritisiert. Eine prominente Kritik lässt sich unter dem Stichwort der Unterbestimmung der Offenbarung fassen. Auch wenn im weiteren Verlauf der Untersuchung das Kerygma als Schlüsselkategorie der bultmannschen Theologie, ergo die Hochschätzung der Offenbarung, aufgezeigt wird, soll an dieser Stelle kurz auf die Anfrage und ihre Argumentationsstruktur geblickt werden. So können schon hier Missverständnisse ausgeräumt werden. Die Frage nach der Offenbarung ist als ein Beispiel zu verstehen, das sich aus der inhaltlichen Aufnahme Heideggers ergibt. Da Bultmann selbst die Frage nach der natürlichen Offenbarung – nicht nur in einem gleichnamigen Aufsatz von 1941 – immer wieder gestellt hat, bietet sich eine Erläuterung an. Daher wird in diesem Abschnitt noch einmal aus anderer Perspektive die bultmannsche Bestim-

137

D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft, 1002. Vgl. B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 65 f. 139 Vgl. K, U H. J., Hermeneutische Theologie. Zugänge zur Interpretation des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis, Neukirchen-Vluyn 2008, 103. 140 Im Hinblick auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie bleibt Bultmanns Ansatz als Versuch eines Mittelwegs zu verstehen: „We now see how complex and even paradoxical is Bultmann’s conception of the relation between theology and philosophy. On the one hand, he finds a zone of common interest where he is willing to learn from the philosopher – the field of human existence, where Heidegger’s existential analytic provides a conceptual framework for the elucidation of New Testament teaching. On the other hand, he stresses the distinctiveness of the gospel as the proclamation of God’s saving act in Christ, which lies beyond the scope of any possible philosophy. He sees that without philosophy Christianity cannot be made intelligible; yet it cannot be assimilated to philosophy without ceasing to be what it distinctively is – the affirmation of God’s act of redeeming love. However difficult it may be to hold together the two sides, we have suggested that Bultmann may here be reaching toward a synthesis of those rival attitudes toward philosophy which have characterized Christian theology in the past. Neither the indiscriminate embracing of philosophy nor the wholesale repudiation of it has proved satisfactory, and Bultmann shows genuine insight in striving to find a middle way.“ (K, C W. [Hg.], The Theology of Rudolf Bultmann, New York 1966, 140). 138

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2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie

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mung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie betrachtet und am Ende zusammengefasst. Auch im Zusammenhang mit der natürlichen Theologie zeigt sich, worauf es Bultmann theologisch ankommt: auf die Betonung des simul iustus et peccator als Ausdeutung des von Gott angesprochenen Menschen. Dass der Vorwurf einer natürlichen Theologie daher auf die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie zurückzuführen ist, zeigt sich beispielhaft in einer Äußerung Walter Künneths: Der Ansatz des Denkens bei Bultmann ist wesensmäßig nicht theologisch, sondern philosophisch bestimmt. Die existential-philosophischen Prämissen geben die Richtung an für seine theologische Konzeption. So muß es notwendigerweise zu einer Pervertierung theologischer Aussagen in die Sphäre philosophischen Denkens kommen. […] Die von Bultmann entworfene Theologie bietet nicht legitime Offenbarungs- und Glaubenserkenntnis, sondern philosophische Weisheit in christlichem Gewande. Damit aber wird trotz aller christlichen Terminologie die wesenhafte christliche Substanz verdünnt und aufgelöst.141

Als Mittel der Entgegnung soll der frühe Aufsatz Das Problem der natürlichen Theologie dienen. In aller Grundsätzlichkeit spricht sich Bultmann gegen eine solche natürliche Theologie aus, die sich als „praeambula fidei“142 versteht. Eine solche sei für die protestantische Theologie unmöglich, da sie missverstehe, dass Gott exklusiv im Glauben zugänglich und nicht wie ein mundanes Phänomen zu begreifen sei.143 Bereits hier wird Bultmanns Sicht auf die Phänomenologie Heideggers deutlich. Gott sei nicht im Rahmen einer ontologischen Daseinsanalyse zu verstehen, Gottes Dasein lasse sich nicht anhand der Welt erklären.144 Schon an dieser Stelle lässt sich Künneths Aussage entgegnen: Der Glaube aber redet von Gott als dem Jenseits der Welt und weiß, daß Gott nur durch seine Offenbarung sichtbar wird, und daß angesichts dieser Offenbarung Alles, was vorher Gott hieß, nicht Gott ist.145

Nichts läge Bultmann ferner, als Philosophie statt Theologie zu treiben. Das wird deutlich, wenn er kurz darauf eine solche Art natürlicher Theologie ablehnt, die sich als religionsphilosophischer Unterbau einer Theologie versteht. Denn der Glaube sei keine menschliche Haltung, nichts „allgemein-menschliches“146. Damit weist Bultmann der Philosophie ihren Platz außerhalb der Theologie zu. Die Kontrastierung, die bereits eingehend beleuchtet worden ist, wird auch hier deutlich. Von bleibender Bedeutung sei die Frage nach der natürlichen Theologie aber insofern, als „Aussagen des Glaubens auch vom Unglauben als sinnvoll verstan141 K, W, Bultmanns Philosophie oder Heilswirklichkeit?, in: Ernst Kinder (Hg.), Zur Entmythologisierung. Ein Wort lutherischer Theologie, München 1952, 61–90, 82.84. 142 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 294. 143 Vgl. ebd. 144 Vgl. ebd. 145 Ebd. 146 A.a.O., 295.

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den werden können“147, außerhalb des Glaubens von Gott gesprochen werde und vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Philosophie für sich beanspruche, das Dasein des Menschen verstehen und somit auch den glaubenden Menschen qua seines Menschseins analysieren zu können.148 Der letzte Punkt stellt in diesem Zusammenhang den interessantesten dar, da Bultmann explizit auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie eingeht. Mit der Frage nach dem Verstehen wird erneut die Frage nach der Aneignung des Glaubens deutlich. Bultmann geht davon aus, dass der Mensch ein Vorverständnis von der Bedeutung der christlichen Verkündigung haben müsse, da er sie sonst gar nicht verstehen könne. Über dieses Vorverständnis gelingt es ihm, die bereits angesprochene Kontinuität von vorgläubigem und gläubigem Dasein zu grundieren149 und einer schroffen Gegenüberstellung entgegenzuwirken. Der natürlichen Theologie rechnet er die Aufgabe des Kontinuitätserweises zu: „Die von einer ,natürlichen Theologie‘ zu leistende Arbeit wäre eben die, aufzudecken, inwiefern die ungläubige Existenz und ihr Selbstverständnis von ihrer Fragwürdigkeit beherrscht und bewegt wird, die als solche erst dem gläubigen Daseinsverständnis sichtbar geworden ist.“150 Bultmann spricht sich klar gegen einen „Anknüpfungspunkt im Menschen“151 aus – und ist sich darin mit Karl Barth einig.152 Bultmann versteht Gottes Handeln am Menschen als Widerspruch, der der menschlichen Existenz als Ganzer gelte.153 Einen Anknüpfungspunkt im Menschen schließt er kategorisch aus. Vielmehr sieht er den gesamten Menschen als Anknüpfungspunkt: Aber gerade im Widerspruch wird in paradoxere Weise der Anknüpfungspunkt geschaffen, oder besser: aufgedeckt. Einen Widerspruch gibt es nur, wo ein Verhältnis besteht; und ein verkehrtes Verhältnis ist auch ein Verhältnis. […] Die Sünde des Menschen ist der Anknüpfungspunkt für das widersprechende Wort von der Gnade.154

Vom Glauben ausgehend könne das vorgläubige Dasein als Verfehlung wahrgenommen werden. Das Selbstverständnis werde erneuert. Gott stifte somit in seinem Widerspruch gegen den Menschen den eigentlichen Anknüpfungspunkt und somit ein wirklich neues Selbstverstehen. Der Anknüpfungspunkt sei somit – mit Barth gesprochen – „nur im Glauben wirklich“155. 147

Ebd. Vgl. ebd. 149 „[D]ie Vergebung setzt gerade die Kontinuität des Gläubigen als des neuen mit dem alten Menschen voraus. Er, der Mensch ist es, der glaubt: simul peccator, simul iustus; der Sünder ist der Gerechtfertigte.“ (A.a.O., 296). 150 A.a.O., 298. 151 B, R, Anknüpfung und Widerspruch, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 117–132, 119. 152 Zum Anknüpfungspunkt bei Karl Barth s. K, A, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (TBTö151), Berlin/New York 2010, 216–218. 153 Vgl. B, R, Anknüpfung und Widerspruch, 119. 154 A.a.O., 120. 155 B, K, Das Wort als Kriterium der Dogmatik, in: Ders., Kirchliche Dogmatik 148

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Bultmann benutzt die Rede von einer „natürlichen Theologie“ als Chiffre für eine Hermeneutik, die zur Aufgabe habe, „das Daseinsverständnis des Glaubens von dem außerhalb des Glaubens stehenden Daseinsverständnis begrifflich zu unterscheiden.“156 Die Theologie sollte sich von einer so verstandenen natürlichen Theologie gewissermaßen anleiten lassen, den Glauben besser zu verstehen und in einen Zusammenhang mit dem eigenen Dasein zu bringen. In diesem Zusammenhang argumentiert Bultmann erneut mit der Behauptung des gleichen Gegenstands von Theologie und Philosophie und somit der Kontinuität zweier Existenzweisen: Die faktische Situation zeigt, daß das gläubige und ungläubige Dasein nicht einfach wie zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, nebeneinander stehen. Denn indem die Theologie z. B. von der Geschichtlichkeit des Daseins, vom Verstehen und dem Entscheidungscharakter des Daseins redet, sind offenbar die gleichen Phänomene gemeint, wie wenn die Philosophie davon redet. Sie gesteht doch damit ein, daß man vom Dasein schlechthin reden kann, und daß also die Daseinsstrukturen, die die Philosophie aufweist, auch für das gläubige Dasein gelten. Aber das zeigt doch nicht nur die faktische Situation, die ja durch eine Verirrung der Theologie verursacht sein könnte, sondern auch die Behauptung des Glaubens selbst, daß es das ungläubige Dasein ist, welches zum Glauben kommt, daß der Glaube nicht die menschliche Natur verändert, daß der Gerechtfertigte nicht neue aufweisbare Qualitäten hat, sondern daß der Sünder der Gerechtfertigte ist.157

Theologie und Philosophie beziehen sich für Bultmann nicht auf zwei konträre Gegenstände, sondern haben beide das Dasein zum Gegenstand. Da die Theologie „nicht mit einem doppelten Wirklichkeitsbegriff operier[t]“158, muss sie nach Bultmann die Erkenntnisse der formalen Daseinsanalyse aufnehmen. Allerdings, und das ist das Entscheidende, tue sie das in der Gewissheit, dass sie bestimmte Strukturen aus der Perspektive des Glaubens anders sehe und qualifiziere. So werde dem gläubigen Dasein einsichtig, dass die vorgläubige Freiheit nur eine Scheinfreiheit war, in der sich das Dasein zu sichern versuche, sich aber eigentlich verlöre.159 Er blicke auf diese Existenzweise und somit auf das Dasein vor dem Glauben als vorgläubiges zurück. Das gläubige Dasein verstehe aus einer konkret-ontischen Position sein vorgläubiges Dasein eben als vorgläubig: Sofern also die Theologie, indem sie die philosophische Daseinsanalyse benutzt, selbst die Bewegung des Philosophierens vollzieht, muß sie eine Bewegung des Unglaubens bewußt vollziehen. Und nur, wenn sie weiß, was sie tut und sich nicht einbildet, sie könnte je auf irgend eine Weise etwas anderes sein als eine Bewegung des Unglaubens, die nur gerechtfertigt sein kann, wenn sei als solche glaubt, hat sie ihr Recht.160

(Bd. I,1). Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Studienausgabe, Zürich 1986, 251. 156 B, C, Kierkegaard receptus II, 55. 157 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308 f. 158 H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 225. 159 Vgl. B, R, Gnade und Freiheit, 150–153. 160 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 312.

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Die philosophische Daseinsanalyse eignet sich nach Bultmann in besonderem Maße, diese „Bewegung des Unglaubens“161 zu versprachlichen und durch diese wiederum den Glauben besser zu verstehen, was mit dem simul iustus et peccator eigentlich gemeint ist. Walter Künneth wäre somit stellvertretend zu entgegnen, dass durch die Aufnahme der Daseinsanalyse die Theologie zu ihrer eigentlichen Aussagekraft gelange. Vor dem Hintergrund der Daseinsanalyse werde der Glaube „immer nur im Überwinden des Unglaubens“162 verstanden und somit der Kontinuität von vorgläubiger und gläubiger Existenz Rechnung getragen. Gleichzeitig „läßt sich das Geheimnis des rechtfertigenden Glaubens wahren, daß dieser ,kein Phänomen des Daseins‘, sondern das innerweltlich nicht ausweisbare eschatologische Ereignis ist.“163 Bultmann sieht also keinesfalls im vorgläubigen Dasein einen natürlichen Anknüpfungspunkt für die Offenbarung angelegt, zieht sie somit nicht in den Verfügungsraum des Menschen.164 Von einer Unterbestimmung kann keine Rede sein. Vielmehr macht er deutlich, dass der Umstand der Offenbarung das weitere Verstehen herausfordere. Zu einem besseren Verständnis trage die Daseinsanalyse bei, da sie über das vorgläubige Dasein auch das gläubige Dasein erhelle. Der Glaube steht dem Dasein für Bultmann somit nicht als frei wählbare Option zur Verfügung, sondern verdankt sich allein Gott und seiner Offenbarung. Weil er „immer nur gegen die bestehende Normalität des Nichtglaubens zu gewinnen [ist]“165, greift Bultmann auf die Daseinsanalyse Heideggers zurück. Es ist also festzuhalten: Bultmann nimmt die Ergebnisse der ontologischen Daseinsanalyse produktiv auf, geht aber über den ontischen Vorbehalt der Philosophie theologisch hinaus. So bleibt er zum einen nicht bei der ontologischen Analyse stehen, sondern zieht konkret-ontische Schlüsse für das gläubige Dasein, und schaut zum anderen retrospektiv auf das ontologische Dasein aus dem Glauben zurück. Die Daseinsanalyse verhilft ihm somit zu einem besseren Verständnis der gläubigen und vorgläubigen Existenz. Gleichzeitig kritisiert er die Annahme Heideggers, dass das Dasein von selbst zur Eigentlichkeit seiner Existenz kommen könne. Da die gegebenen Möglichkeiten immer nur die eigenen Möglichkeiten seien, bedürfe es einer transzendent-gegebenen Möglichkeit, um wirklich zur Eigentlichkeit zu kommen.166 Ohne den Anspruch Gottes im Kerygma bleibe der Mensch auf seine eigene Vergangenheit geworfen und komme nicht von ihr los.167 Bultmann hält also an der herausragenden Bedeutung der Offenbarung fest, sieht er doch in ihr die einzig wahre Möglichkeit der wahren Existenz des

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Ebd. A.a.O., 311. 163 H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 226. 164 Vgl. a.a.O., 225. 165 D, I U., Weder Philosophie noch Wissenschaft, 1002. 166 Vgl. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 279. 167 Vgl. B, R, Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 79–104, 83 f. 162

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Menschen. „Er plädierte für eine Theologie, die unter dem Primat und im Rahmen von Offenbarung und Glauben die Wirklichkeitserfahrung des modernen Menschen angemessen berücksichtige.“168

2.2 Der Begriff der Geschichte – auf dem Weg zur Geschichtlichkeit Nachdem der Theologiebegriff Bultmanns in seiner Komplexität wahrgenommen worden ist, soll nun der Begriff der Geschichte analysiert werden, um von diesem ausgehend zur Geschichtlichkeit zu gelangen. Bultmanns Vorstellung von Geschichte bildet ein wichtiges Element in seinem Denken, das immer wieder in anderer Gestalt, an unterschiedlichen Stellen und fundamental im Zusammenhang mit dem menschlichen Dasein aufleuchtet.169 Dabei ist die Rede von der Begegnung des Daseins mit der Geschichte der entscheidende Fluchtpunkt bei Bultmann. Aus dieser leitet er die Geschichtlichkeit des Daseins ab, die Bewegung der menschlichen Existenz als einer von der Vergangenheit kommende und auf die Zukunft hin ausgerichtete. Es geht Bultmann bei der Beschäftigung mit der Geschichte um eine hermeneutische Aufgabe. Er sieht ein Hauptkriterium menschlicher Existenz in ihrer Geschichtlichkeit. Geschichte versteht er demnach als „Herkunft aus der Geschichte, die für den Menschen die Geschichte zur Frage und zum Anspruch auf seine eigene Existenz werden lässt“170. Vor dem hermeneutischen Hintergrund ist der Geschichtsbegriff von herausragender Bedeutung für Bultmanns Theologie, da sich an ihn die Überlegungen zur existentialen Interpretation und zur Entmythologisierung nahtlos anschließen. Gleichzeitig lassen sich weitere hermeneutische Überlegungen, wie die zum Vorverständnis, in diesen Zusammenhang einordnen. Von exzeptioneller Bedeutung für ein Verstehen der Vermittlungsfunktion des Kerygmas ist die Rede von der Geschichtlichkeit des Daseins. Mit ihrer Hilfe gelingt es Bultmann, die Grundsituation menschlichen Daseins zu beschreiben, auf die das Kerygma dann trifft. Daher scheint es geboten zu sein, sie eingehend zu untersuchen. Der Begriff der Geschichtlichkeit vereint sodann auch die Rede von der existentialen Interpretation, der Entmythologisierung sowie allgemein gesprochen der Hermeneutik. Zeit- und Wirklichkeitsverstehen spielen eine zen168

H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 226. Zur Reifung des Geschichtsbegriffs bei Rudolf Bultmann s. unter anderem die Ausführungen zum Vortrag Theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis von Martin Evang (E, M, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit [BHT 74], Tübingen 1988, 130–131). Des Weiteren L, C, Der Mensch in der Entscheidung. Anthropologie als Aufgabe der Theologie in der Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, in: Ders./Andreas Klein (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1975) – Theologe der Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Philosophie, Göttingen 2010, 87–110, 94; D., Geschichte und Eschatologie. Rudolf Bultmanns Gifford Lectures aus dem Jahr 1955, in: EThL 91/3 (2015), 461–479. 170 B, M, Geschichte, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 314–323, 318. 169

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

trale Rolle für das Selbstverstehen bei Bultmann. Ersteres findet sich vor allem in der Kategorie der Geschichtlichkeit, Letzteres im Kerygma. So lässt sich im bultmannschen Denken eine genauere Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Grundprinzipien finden. Zeit- und Wirklichkeitsverstehen werden von Bultmann in Spannung gehalten und legen sich gegenseitig aus. Beiden Begriffen wird im Folgenden intensiv nachgegangen. Es empfiehlt sich, die Geschichtlichkeit als Angangsweg zu nehmen, um sich dem Kerygma weiter anzunähern, das in besonderer Weise den Kristallisationspunkt der bultmannschen Theologie ausmacht. Somit wird ein isolierter Zugriff auf den Kerygmabegriff verhindert und dem Zusammenhang von Selbst-, Gott- und Wirklichkeitsverstehen Rechnung getragen. Denn das Kerygma trifft das geschichtliche Dasein und führt zur Entscheidung. Es ist An-spruch und richtet sich als solcher an das geschichtliche Dasein. So kann eine genaue Untersuchung eben jenes zur Erhellung und Einordnung des Kerygmabegriffs beitragen. Die Beschäftigung mit Geschichte ist eines der Themen, das das gesamte Œuvre Bultmanns durchzieht, das in sein Exegese- und Theologieverständnis einfließt und das er in seinen anthropologischen Grundannahmen verarbeitet.171 Die Zuwendung zur Geschichte lässt sich bei Bultmann schon früh erkennen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Theologie als Wissenschaft und ihrer Bedeutung für die kirchliche Praxis traktiert er sie in besonderer Weise schon 1913.172 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wissenschaftsfrage, konstatiert er zugleich, dass die Geschichtswissenschaft nie gesicherte Erkenntnisse hervorbringen könne und somit ein nie abgeschlossenes sowie relatives Unterfangen sei.173 In diesen frühen Äußerungen wird zudem – gegen einen Geschichtsbegriff des Idealismus, gegen die Religionsgeschichtliche Schule und gegen den Historismus – die später wichtige Erkenntnis angedeutet, dass die Geschichtswissenschaft mit dem geschichtswissenschaftlich tätigen Menschen zu rechnen habe.174 Im weiteren Verlauf wendet Bultmann sich immer mehr dem Menschen und seiner Begegnung mit der Geschichte zu.175 Die Aufgabe, sich mit Geschichte

171 Vgl. in Bezug auf diese Bewertung: L, C, Der Mensch in der Entscheidung, 94. Des Weiteren D., Geschichte und Eschatologie, 461–479 sowie B, E-M, Hermeneutik und Geschichte bei Rudolf Bultmann, in: Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Geschichte und Vergangenheit. Rekonstruktion – Deutung – Fiktion, NeukirchenVluyn 2007, 53–65, 53. Als „zentrale[n] anthropologische[n] Begriff“ macht Schmithals die Geschichtlichkeit aus (S, W, Die Theologie Rudolf Bultmanns. Eine Einführung, Tübingen 1966, 312). 172 Vgl. den bereits erwähnten Aufsatz Theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis (B, R, Theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis, 133–135). 173 Vgl. a.a.O., 135. 174 Vgl. a.a.O., 125 f. 175 Als exemplarisch für eine frühe Fokussierung dieses Zusammenhangs können Ausführungen zur theologischen Situation von 1924 gelten. In diesen findet sich eine Bestätigung der Ansicht, die Geschichtswissenschaft könne nur relative Ergebnisse liefern, allerdings mit mehr Verve: „Die Geschichtswissenschaft kann überhaupt nicht zu irgendeinem Ergebnis

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auseinanderzusetzen und einen bestimmten Geschichtsbegriff zu etablieren, geht für Bultmann aus deren Bedeutung für die menschliche Existenz hervor. So hält er fest: Ist das Sein des Menschen ein geschichtliches, so gehört dazu, daß der Mensch im Denken sich seine Welt und seine Existenz erschließt und im Reden mit anderen teilt. Dann hat ein Irrationales für ihn keinen Sinn, und ein Unsagbares ist für ihn überhaupt ein Nichts, mag es für das Tier auch das Herrlichste sein. Vielmehr wird des Menschen dringendste Aufgabe die sein, sich im Denken und Reden über seine Situation klar zu werden.176

Es ist die Geschichtlichkeit des Daseins, an der sich der Umgang Bultmanns mit der Geschichte als eigenständiger Größe ablesen lässt. Mit dem Begriff der Geschichtlichkeit, gelingt es Bultmann – wiederum im Rückgriff auf Heidegger177 –, sein Anliegen sprachlich genauer zu fassen.178 2.2.1 Geschichte und Geschichtlichkeit Geschichte ist für Bultmann in ihrer Bedeutung zum einen nichts Vergangenes und zum anderen auch nichts Verobjektivierbares. Ihn interessiert vor allem die Bedeutung der Geschichte für den Menschen, dessen Geschichtlichkeit179 mehr als das rein historische Arbeiten und doch hält er dieses methodische Arbeiten für „unentbehrlich“180. Somit ist die Verwendung des Geschichtsbegriffs in zweifacher Weise181 vor allem in der Fragerichtung und daran anschließend in der Geführen, das für den Glauben als Fundament dienen könnte, denn alle ihre Ergebnisse haben nur relative Geltung.“ (B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 3). Darüber hinaus attestiert Bultmann der liberalen Theologie einen „Geschichtspantheismus“ (a.a.O., 5). Durch die Gleichsetzung von Geschichte und Natur werde der Mensch von außen betrachtet, verobjektiviert und somit schließlich nicht adäquat als Geschichtswesen wahrgenommen (vgl. ebd.). Darüber hinaus kann der Aufsatz Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments herangezogen werden, in dem die Exegese als selbstaufklärerisches Projekt benannt wird, Theologie und Geschichtswissenschaft aufeinander bezogen werden, der Anspruch an den Menschen, der aus der Geschichte erwachse, erwähnt wird und grundsätzlich die Frage gestellt wird, wie Geschichte überhaupt als rekonstruktives Projekt verstanden werden kann (vgl. B, R, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, in: Ders., Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, ausgewählt, eingeleitet u. hg. v. Andreas Lindemann, Tübingen 2002, 13–38). 176 B, R, Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 65–84, 84. 177 Zum Gedankengang zu der Geschichtlichkeit und ihren weitreichenden Implikationen bei Heidegger s. H, M, Sein und Zeit, §§ 72–77, 372–404. 178 Vgl. dazu auch: B, M, Geschichte, 317 f. 179 Gerade hier zeigt sich der Einfluss Heideggers, der die Geschichtlichkeit als Existential sieht und somit die Existenz des Menschen in aller Grundsätzlichkeit als geschichtliche qualifiziert (vgl. H, M, Sein und Zeit, 19–21). 180 B, R, Jesus, Tübingen 31951, 9. 181 Zum „doppelten Geschichtsbegriff“ bei Bultmann s. O, H, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns (BHTh 19), Tübingen 1955, 8–12.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

wichtung zu sehen, die sich aus seinem grundhermeneutischen Ansatz ergibt: So fragt Bultmann sowohl nach dem Verstehen von „überlieferten historischen Dokumenten“182 als auch nach den Implikationen der geschichtlichen Betrachtung respektive Begegnung für das menschliche Dasein.183 Objektivität sei in geschichtlicher Betrachtung, in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen nicht möglich. In einem Subjektivitätsdilemma ende jeder Versuch der Geschichtswissenschaft, entweder ausgehend von der geschichtswissenschaftlich tätigen Person oder aber ausgehend von der wissenschaftlichen Methode. Zur objektiven Erkenntnis könne der hermeneutische Prozess der Geschichtswissenschaft nicht führen.184 Doch ist für Bultmann die Zielsetzung des Erlangens von Objektivität von vornherein der falsche Ansatz eines Zugriffes auf Geschichte. Resümierend hält er zu dem dargestellten Problemkreis fest: Zur Erfassung dessen in der Geschichte, was methodisch objektiv erfaßt werden kann, nämlich zur Orientierung über die chronologisch fixierbaren Vorgänge des Gewesenen, bringt solche Geschichtsbetrachtung es wohl; und insofern ist sie immer unentbehrlich. Aber wenn sie sich darauf beschränkt, verfehlt sie das eigentliche Wesen der Geschichte, da sie immer nur auf Grund bestimmter Voraussetzungen – eben der Methode – die Geschichte befragt und also wohl quantitativ viel Neues aus der Geschichte lernt, dagegen eigentlich nichts Neues über den Menschen und seine Geschichte. Sie sieht in der Geschichte immer nur so wenig oder so viel vom Menschen und von der Menschheit, als sie schon – ausgesprochen oder unausgesprochen – weiß; sie sieht damit so richtig oder so falsch, wie es eben damit gegeben ist.185

Der Geschichtswissenschaft wird als inhärentes Ziel attestiert, neue Erkenntnisse hervorzubringen. Dies gelinge ihr auch, allerdings in der falschen Weise. Denn das, worauf es eigentlich ankomme, verfehle sie: die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, das wechselseitige Verhältnis von Geschichte und Mensch und vice versa.186 Die Betonung liegt demnach klar auf der Geschichtlichkeit, in der zunächst ausgedrückt ist, dass „mit jedem Wort über die Geschichte in gewisser Weise zugleich etwas über sich [sc. den Menschen] selbst“187 ausgesagt ist.188 Diese Kategorie der Geschichtlichkeit durchzieht das gesamte Denken Bultmanns und kann als ein „hermeneutischer Schlüssel seiner Daseinsanalyse“189

182

B, R, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 31979, 123. Exemplarisch für das Anliegen mit dieser Denkbewegung s. B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 59–83. 184 Vgl. a.a.O., 7–9. 185 A.a.O., 9. 186 Somit ist der Analyse von Heinrich Ott zuzustimmen, der einen zweifachen Geschichtsbegriff attestiert und die historische Geschichtserkenntnis als Basis für das wirklich geschichtliche Moment ausmacht (vgl. O, H, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, 10). 187 B, R, Jesus, 7. 188 Somit ist für Bultmann in seiner Jesus-Darstellung klar, dass diese ausschließlich ein „Dialog mit der Geschichte“ (a.a.O., 8) sein kann. 189 B, E-M, Hermeneutik und Geschichte bei Rudolf Bultmann, 59. 183

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gesehen werden. Denn die Geschichtlichkeit reift zu einem vereinenden Moment: Mit ihr gelingt es Bultmann, die menschliche Existenzweise, das Christusgeschehen sowie die christliche Verkündigung miteinander zu verbinden. In seinen Gifford Lectures, die er im Februar und März 1955 in Edinburgh hält, ist Bultmanns gereiftes Geschichtsverständnis wahrnehmbar. Unter dem Titel History and Eschatology widmet er sich in aller Ausführlichkeit dem Problem der Geschichte.190 Im Rahmen seiner Vorlesung werden Geschichte und Eschatologie im Verhältnis zueinander analysiert und dies – wie in den meisten Aufsätzen aus Glauben und Verstehen – ausgehend von einer Analyse des „Understanding of History in the Era before Christ“191. Als vorausgehende Skizze des ausführlichen Portraits der Vorlesung dient in gewisser Weise der Aufsatz Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament von 1954, der sowohl inhaltlich als auch strukturell den Weg zu History and Eschatology ebnet.192 Um die Geschichtlichkeit des Daseins in ihrer Komplexität wahrzunehmen, scheint es sinnvoll, ihre Erarbeitung nachzuvollziehen. Dazu soll zunächst der Aufsatz von 1954 dienen, dessen Argumentationslinien als Skizze für die Gifford Lectures zu lesen sind, denen im Anschluss in einem Exkurs nachgegangen wird. 2.2.2 Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament Bultmann nähert sich dem Geschichtsbegriff ausgehend von den Vorstellungen, die sich im Neuen Testament finden lassen. Er betont, dass das neutestamentliche Verständnis von Geschichte seine Wurzeln im Alten Testament habe und sowohl das alttestamentliche als auch das neutestamentliche sich vom griechischen Geschichtsverständnis unterschieden.193 In Griechenland sei ein Modus der Geschichtsschreibung vorherrschend, der die Geschichte analog zur Natur zu verstehen suche. Als Gewährsmann dient Bultmann hier – wie auch an vielen anderen Stellen – Thukydides, der im Lauf der Geschichte immer wieder das Gleiche in lediglich anderer Erscheinung entdeckt habe.194 In diesem frühen Stadium sei das Forschungsinteresse allein auf die Vergangenheit gerichtet, es werde nicht nach einem Sinn der Geschichte gefragt und so habe sich auch keine Geschichtsphilosophie entwickelt.195 Damit ist in Kürze die Negativfolie sichtbar, auf der Bultmann im weiteren Verlauf zunächst das jüdische und dann das christliche

190 Vgl. die kommentierenden Ausführungen von Landmesser: L, C, Geschichte und Eschatologie, 461–479. Des Weiteren im Allgemeinen zu der Reise nach Edinburgh s. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 417–419. 191 B, R, History and Eschatology. The Gifford Lectures (1955), Edinburgh 1957, Contents, ix. 192 Diese Lesart findet Bestätigung bei: L, C, Geschichte und Eschatologie, 462. 193 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 91–106, 91. 194 Vgl. ebd. 195 Vgl. a.a.O., 92.

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Geschichtsverständnis zur vollen Entfaltung bringt.196 Das Geschichtsverständnis Israels sei geprägt durch ein Interesse an Erkenntnis, genauer an Selbsterkenntnis.197 Geschichte werde als Einheit verstanden, die sich durch einen göttlichen Plan auszeichne. Dieser werde immer wieder den Menschen verheißen und dadurch werde der Mensch zur Mitwirkung aufgerufen.198 Bultmann erblickt also schon an dieser Stelle die Zuwendung zum Menschen, indem er die Bedeutung der Geschichte, enthalten in der Verheißung Gottes, für den Menschen und seine Existenz betont. Vor allem die Zielsetzung der Selbsterkenntnis, unter der die Geschichte betrachtet werde, ist der bleibende Fluchtpunkt, den Bultmann für sein eigenes Verständnis produktiv aufnimmt. Eine Fortsetzung der israelitischen Geschichtsschreibung erkennt er in der apokalyptischen Literatur, die für ihn als Brücke vom Alten zum Neuen Testament fungiert. So werde zum einen der Blick von der isolierten israelitischen Geschichte auf die gesamte Welt ausgeweitet, und zum anderen erhalte die Geschichte eine Zielbestimmung, auf die sie sich hinbewege.199 Dieses Ziel sei aber nicht der Geschichte als solcher inhärent, sondern stehe dieser als externe Größe gegenüber.200 Im Neuen Testament sieht Bultmann die beiden Stränge von Selbsterkenntnis und außergeschichtlicher Teleologie aufgenommen. Unter diesen Voraussetzungen konzentriert er sich im weiteren Verlauf seiner Schilderungen auf die Predigt Jesu. Es ist vor allem die Verkündigung des Reiches Gottes, die Bultmann als Skopus bestimmt. Sie habe ebenfalls verheißenden Charakter und lasse sich auf die alttestamentliche Vorstellung rückbeziehen. Deutlich spürbar ist hier der Argumentationsschwerpunkt der bultmannschen Beschäftigung mit der Geschichte. So liest er die Predigt Jesu exklusiv auf die „eschatologische Erwartung“201 hin, die ihm als Scharnier zur Geschichtsvorstellung der urchristlichen Gemeinde dient. Grundsätzlich kann diese lineare Lesart von der Verkündigung Jesu zur Urgemeinde und ihrer Verkündigung auf den generellen „Wechsel von Jesus zur Urgemeinde als Bezugspunkt der Überlieferung“202 gesehen werden. Diese Lesart spiegelt sich schon im Vorwort seiner Theologie des Neuen Testaments wider, in der er festhält, dass die Verkündigung Jesu nur als Voraussetzung, nicht aber als Inhalt der Theologie des Neuen Testaments zu verstehen sei.203 Dieses allgemeine Desinteresse an der Verkündigung 196 So leitet Bultmann die Betrachtung des israelitischen Geschichtsverständnisses folgendermaßen ein: „Das Geschichtsverständnis Israels und des Judentums ist ein ganz anderes.“ (ebd.). 197 Vgl. ebd. 198 „Mit der göttlichen Verheißung ist deshalb immer eine Mahnung verbunden, ein Ruf an die Gegenwart, Verantwortung zu übernehmen angesichts der Zukunft. Denn Gott wird seine Verheißung nur einem gehorsamen Volk erfüllen.“ (a.a.O., 93). 199 Vgl. a.a.O., 93 f. 200 Vgl. a.a.O., 94. 201 A.a.O., 95 f. 202 K, P-G, Die synoptische Überlieferung, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 253–263, 255. 203 Vgl. B, R, Theologie des Neuen Testaments, 1.

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des historischen Jesus im Gegensatz zum verkündigten Christus im Hinblick auf die Theologie des Neuen Testaments kann dann auch erklären, warum Bultmann die Predigt Jesu so einseitig in der Verheißung des zukünftigen Reiches Gottes sieht. Die urchristliche Verkündigung werde gewissermaßen in die Verkündigung Jesu projiziert und in einen linearen wie logischen Zusammenhang gestellt. Da sein Interesse an dem Aufweis der über die Geschichte hinausgreifenden Realisierung des endzeitlichen Heils liegt, übergeht Bultmann die deutlich wahrnehmbaren Aussagen der Evangelien, in denen Jesus das präsentische Heil verkündigt.204 So leitet er den Übergang zur christlichen Urgemeinde im Zusammenhang mit der Verkündigung Jesu wie folgt ein: Ich lasse dahingestellt, wieviele der angeführten Worte echte Jesusworte sind oder von der christlichen Gemeinde modifiziert oder gebildet wurden. Auf jeden Fall besteht zwischen Jesus und der urchristlichen Gemeinde kein Unterschied in bezug auf die eschatologische Erwartung; nur glaubten die ersten Christen, der Menschensohn, den Jesus verkündet hatte, würde Jesus selbst sein, und die Gemeinde war überzeugt, die eschatologische Gemeinde zu sein, und fühlte sich mit dem heiligen Geist, der eschatologischen Gabe, beschenkt.205

In der urchristlichen Gemeinde sei das Ende der Geschichte noch als bevorstehend angenommen worden, wohingegen sich mit der Zeit immer mehr Mahnreden durchgesetzt hätten, angesichts des Ausbleibens der Parusie doch wachsam zu bleiben.206 So sehe sich die Gemeinde, ausgehend vom Christusereignis, eingebettet in ein „eschatologisches Drama“207. Dieses stehe im Gegensatz zur zuvor herrschenden Auffassung von einer durch Gott geleiteten Geschichte, mithilfe derer die Vergangenheit im Horizont der Gotteserfahrung gedeutet wurde. Durch das Christusereignis sei bereits Inhalt des göttlichen Geheimnisses im Jetzt enthüllt worden.208 Aus diesem Umstand zieht Bultmann den Schluss, dass sich ein entscheidender Wandel ereignet habe, „daß die Geschichte von der Eschatologie verschlungen ist“209. An diese Feststellung schließt Bultmann nun Überlegungen zur Geschichtlichkeit an, die er im anthropologischen Zusammenhang beleuchtet. Er entdeckt bei Paulus die entscheidende Wende und das wirklich Neue in diesem Zusammenhang: Während die Geschichte des Volkes und der Welt an Interesse verliert, wird jetzt ein anderes Phänomen entdeckt: die echte Geschichtlichkeit des menschlichen Seins. Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, sondern die Geschichte, die jeder Einzelne selbst erfährt. Für diese Geschichte ist die Begegnung mit Christus das entscheidende Ereignis, ja, in Wahrheit das Ereignis, durch

204

Zur Kritik auf dieser Linie s. L, C, Geschichte und Eschatologie,

465. 205

B, R, Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, 96 f. Vgl. a.a.O., 97. 207 A.a.O., 99. 208 Vgl. ebd. 209 Ebd. 206

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

das der Einzelne beginnt, wirklich geschichtlich zu existieren, weil er beginnt, eschatologisch zu existieren.210

Das ist das absolut Neue, das Bultmann als die paulinische Erkenntnis schlechthin ausmacht: die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins und damit die enge Verwobenheit von Geschichte und Anthropologie. Geschichte werde in ihrer Bedeutung für die menschliche Existenz von Belang und somit zum zentralen anthropologischen Moment erhoben. Damit gehe einher, dass „die Geschichte in der Eschatologie untergegangen [ist].“211 Aus dieser Feststellung sind zwei Punkte abzuleiten, die Bultmann ans Ende seiner Überlegungen stellt und die in History and Eschatology wieder auftauchen: 1. Das „geschichtliche Leben“212 – wie er den Vollzug des geschichtlichen Daseins bezeichnet – könne verwirklicht oder verwirkt werden. Das Ziel liege in der Verwirklichung der Freiheit menschlicher Existenz. Diese wird auch als Freiheit von der Vergangenheit bezeichnet, die Vergangenheit, „die ihn [sc. den Menschen] bis dahin gefangen hielt.“213 Eine solche könne der Mensch allerdings nur als Gabe empfangen, die von außen dem geschichtlichen Vollzug gegeben werde und somit als eschatologische Größe zu sehen sei.214 Erst durch dieses eschatologische Ereignis wird nach Bultmann die Freiheit zu „eine[r] wirkliche[n] Möglichkeit“215 für den Menschen. 2. Die Klärung des ersten Punktes, das Verhältnis von eschatologischem Ereignis und geschichtlichem Vollzug, ist von besonderer Bedeutung. Wie wird dieses Ereignis mit der Geschichtlichkeit vermittelt? Bultmann führt den Geist als diejenige Instanz an, die die Gabe der Freiheit übermittle.216 An der Geschichte Jesu macht er die Verhältnisbestimmung deutlich. So hätten Paulus und Johannes eben jene richtig verstanden, indem sie den Gedanken verträten, „daß Christus das stets jeweils gegenwärtige oder stets jeweils gegenwärtig werdende eschatologische Ereignis ist“217. In der Begegnung mit Christus oder der Verkündigung, die sich auf ihn rückbezieht, werde die eschatologische Qualität greifbar, „weil in der Begegnung mit ihm die Welt und ihre Geschichte zu ihrem Ende kommen und der Glaubende als neues Geschöpf ,entweltlicht‘ ist“218. So bleibt die Bedeutung der Geschichte lediglich für die menschliche Existenz von Interesse und das Verhältnis von Eschatologie und Geschichte kann Bultmann nur als Paradox ausdrücken, wobei diese Zuschreibung eben auch für die menschliche Existenz in Anschlag zu bringen ist:

210

A.a.O., 102. Ebd. 212 A.a.O., 103. 213 Ebd. 214 Vgl. ebd. 215 Ebd. 216 Vgl. ebd. 217 A.a.O., 105. 218 Ebd. 211

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Das Paradox von Geschichte und Eschatologie besteht darin, daß sich das eschatologische Geschehen in der Geschichte ereignet hat und sich überall in der Predigt wieder ereignet. Das heißt: Eschatologie in ihrem echten christlichen Verständnis ist nicht das zukünftige Ende der Geschichte, sondern die Geschichte ist von der Eschatologie verschlungen. Von nun an kann die Geschichte nicht länger als Heilsgeschichte, sondern nur noch als Profangeschichte verstanden werden. Aber die Dialektik des menschlichen Seins als geschichtlicher Existenz ist ans Licht gebracht, und infolgedessen kann die Geschichte des Menschen als Person nicht länger als Funktion der Weltgeschichte verstanden werden, sondern liegt jenseits der Weltgeschichte.219

Der Geschichte an sich ist ihr Platz zugewiesen, sie kann nur noch Profangeschichte sein. Aus dieser Degradierung geht allerdings die Errungenschaft der Bestimmung von Existenz als geschichtliches Dasein hervor. Bultmann unternimmt somit eine Fokusverschiebung. Es geht ihm um die „Begegnung mit der Geschichte“220 und somit letztlich um die Geschichtlichkeit und ihre Bedeutung für die Anthropologie. Vor diesem Hintergrund sollen nun die Gifford Lectures herangezogen werden, die in aller Ausführlichkeit die gereiften Vorstellungen Bultmanns enthalten und sich somit als Abschluss der Überlegungen zum Geschichtsverständnis anbieten. 2.2.3 History and Eschatology – die Gifford Lectures von 1955 Bultmann knüpft an die Vorarbeit aus Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament insofern an, als er nun mit der Feststellung einsetzt, dass sich die Frage nach der Geschichte vor dem Hintergrund der Begegnung des Menschen mit der Geschichte stelle. Die Frage nach dem Wesen der Geschichte dränge sich dem Menschen ob seiner Geschichtlichkeit auf, der er sich in aller „Hilflosigkeit“ ausgeliefert wisse.221 Er finde sich nicht nur in einem geschichtlichen Zusammenhang vor, sondern empfinde sich darüber hinaus diesem Zusammenhang ergeben. Die Pointe der einleitenden Ausführungen Bultmanns liegt in der Diagnose einer Schieflage der Fragerichtung: Die Bearbeitung der Geschichtlichkeit des Menschen und somit der Verhältnisbestimmung von Geschichte und Mensch liege im „Wesen der Geschichte (the idea of history)“222 begründet und werde durch die dominierende Bearbeitung der „Frage nach dem Sinn der Geschichte (the meaning in history) verschleiert“223. So kann Bultmann zwar den Versuchen, nach dem Sinn der Geschichte zu fragen, ein legitimes sowie bedeutsames Interesse attestieren, doch kritisiert er diese Versuche gleichzeitig im Hinblick auf die ihnen eigene Fragehaltung. Deutlich wird zudem, dass der Frage nach der Geschichtlichkeit menschlichen Daseins ein Freiheitsmoment innewohnt, mit dem die Verschiebung vom Sinn zum Wesen der Geschichte gerechtfertigt wird. Denn 219

A.a.O., 106. B, R, Jesus, 9. 221 B, R, Geschichte und Eschatologie, 3. 222 A.a.O., 12. 223 Ebd.

220

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im Verstehen des eigenen Daseins als geschichtliches, gewinne der Mensch ein besseres Verständnis seiner selbst. Bultmann beschreibt die Erfahrung der Geschichtlichkeit zunächst als Ohnmacht. Der Mensch wisse um seine Geschichtlichkeit, die aber nicht nur von ihm ausgehend durch Aktivität (Wille und Handlung) konstituiert, sondern auch durch extreme Passivität bestimmt sei.224 Die Frage nach der Freiheit erwächst aus diesem Zusammenhang von Aktivität und Passivität. Durch das vollständige Verstehen dieses Zusammenhangs könne die eigentliche Freiheit, die wahre Existenz erlangt werden.225 Bultmann beschreibt die Errungenschaft dieser Freiheit durch die Zeit hindurch und stellt dabei unterschiedliche Qualitäten fest. So sei in der griechischen Antike der Begriff der Freiheit eng an die Einsicht in die eigene Verortung im geschichtlichen Zusammenhang gebunden.226 In der Gnosis gehe es um die Kontrastierung des Diesseitigen und Jenseitigen, die zur Freiheit führe. Angelegt im Alten und Neuen Testament erkennt Bultmann einen Freiheitsbegriff, der von Vertrauen in einen Gott der Geschichte und der Verlässlichkeit geprägt sei.227 Die Kategorie der „göttlichen Ordnungen“228 spiele hier eine große Rolle, die dann im Laufe der Zeit immer mehr in Erschütterung geraten sei, woraus sich ein Freiheitsverständnis ergeben habe, dass auf rein formaler Ebene durch eine Emanzipation „von der Tradition und ihrer Autorität“229 geprägt sei. Ausgehend von dieser grundlegenden Umwälzung – der Infragestellung der Tradition – zeichnet Bultmann schemenhaft die weiteren Entwicklungen nach, die zu seiner Diagnose – Geschichtswesen statt Geschichtssinn – führen. Durch den englischen Empirismus und die moderne Naturwissenschaft, die selbst den Menschen unter die methodisch-eigenen Beobachtungen stelle, sei die Frage nach der „true existence“230 verschüttet worden.231 Von dieser methodischen Verschiebung ausgehend zeichnet Bultmann eine Entwicklung hin zum historischen Relativismus, für den er die reine Prozesshaftigkeit menschlichen Daseins konstatiert, die die Frage nach einer true existence unmöglich mache – und somit auch die Frage nach wirklicher Freiheit.232 Das Anliegen Bultmanns ist deutlich wahrnehmbar: Es geht ihm in seiner Darstellung um die Legitimierung seiner Fragestellung. Bis zur Zeit des Historismus sei die richtige Frage, die Frage nach dem Wesen der 224

Vgl. a.a.O., 2–12. Bultmann zitiert hier Erich Frank, der das gesamte Leben des Menschen dem Kampf um die „true existence“ unterordnet (vgl. F, E, Philosophical Understanding and Religious Truth, London/New York/Toronto 1945, 116). 226 „Wenn er diese Ordnung und seinen Platz in ihr erkennt, hat er in ihr seine Heimat.“ (B, R, Geschichte und Eschatologie, 6). 227 Vgl. a.a.O., 7 f. 228 A.a.O., 8. 229 Ebd. 230 B, R, History and Eschatology. The Gifford Lectures (1955), Edinburgh 1957, 7. 231 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 9. 232 Vgl. a.a.O., 10–12. 225

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Geschichte, verdeckt worden. Nun unternimmt Bultmann im Folgenden nicht den Versuch einer Neuerzählung. Er verdeutlicht allerdings, dass die Geschichtlichkeit noch nicht in ihrem ganzen Wesen erkannt worden sei, weder in Bezug auf das menschliche Dasein noch in Abgrenzung zur Eschatologie. Bultmann tritt einen Schritt hinter die große Sinnfrage zurück und nähert sich dem Wesen der Geschichte. Dazu setzt er am äußersten Punkt ein. Mythen werden als erste vorgeschichtliche Größe ausgemacht, in denen die Wesensfrage tangiert werde. Von wirklicher Geschichtsschreibung könne man erst sprechen, wenn aus einem Volk „durch seine Geschichte eine Nation“233 werde und somit ein Geschichtsbewusstsein erwachse. Im Geschichtsverständnis des Thukydides zeige sich das exemplarisch: Der Verlauf der Geschichte werde in Analogie zum Kosmos verstanden, in dem sich ein immer gleicher Bewegungsablauf in wechselnden Konstellationen vollziehe.234 Durch die Parallelisierung von Geschichte und Naturwissenschaft sei folglich gegeben, dass der Mensch und die Geschichte nicht in einen lebendigen Dialog treten. Geschichte werde noch nicht als ein Prozess verstanden, in dem Menschen ihre true existence, „ihr eigentliches Sein gewinnen“235. Der Mensch stehe außerhalb, als Betrachter der Geschichte, und werde somit nicht in seiner Geschichtlichkeit wahrgenommen.236 Diese Stoßrichtung gegen eine Analogie von Geschichte und Natur findet sich schon in der Einleitung zum Jesus-Buch und negiere das lebendige Verhältnis von Mensch und Geschichte, die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins: Das Verhältnis des Menschen zur Geschichte ist ein anderes als das zur Natur. Von der Natur unterscheidet er sich, wenn er sich in seinem eigentlichen Sein erfaßt. Wendet er sich betrachtend zur Natur, so konstatiert er dort Vorhandenes, das er nicht selbst ist.237

Es geht Bultmann hier um den Wirkungszusammenhang, der das Eingebundensein des Menschen in die Geschichte zur Geltung bringe und somit Mensch und Geschichte in einem lebendigen Zusammenhang betrachte. Die noetischen Implikationen von Natur- und Geschichtszusammenhängen setzt Bultmann diametral: Der Mensch stehe innerhalb der Geschichte und könne deswegen nicht einen objektiven Standpunkt außerhalb dieser einnehmen, um geschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge zu verstehen. Für die Naturwissenschaft gelte dies nicht. Gerade dort sei ein Blick von außen gegeben, seien Spekulieren und Abwägen möglich.238

233

A.a.O., 13. Vgl. a.a.O., 16. 235 A.a.O., 19. 236 Vgl. ebd. 237 B, R, Jesus, 7. 238 Vgl. zu dieser Kontrastierung B, R, Rezension zu Karl Barth, Die Auferstehung der Toten, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 38–64, 52–54. 234

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Die Geschichte sei den Menschen als Größe allein deswegen nicht verfügbar, „weil [sie] selber, die geschichtlich Existierenden, [sich] nicht verfügbar sind“239. Die darin ausgesprochene Unverfügbarkeit der eigenen Existenz ist ein Grundmoment im bultmannschen Denken, das auch schon bei Aristoteles (Selbstverstehen und das Problem des Wirklichkeitsverstehens) und Augustin (Selbstverstehen und das Problem des Zeitverstehens) aufleuchtete. Um es mit einer Begrifflichkeit Ricœurs zu sagen, gelingt die Selbsterschließung nur über die „detour“. Die dem Dasein eingeschriebene Aufgabe der Selbstauslegung übernimmt Bultmann von Heidegger. Dieser betont die aufgegebene Selbsterschließung gegenüber der grundsätzlichen Verfallenheit des Menschen: „[D]as Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen.“240 Mit der grundsätzlichen Verfallenheit beschreibt Heidegger zunächst nur die Ausrichtung des Denkens am vorhandenen Seienden. Ein solches Seinsverständnis bleibt rein beim Seienden und dem Vorhandenen ausgeliefert. Neues, wirkliches Verstehen beziehungsweise die true existence steht nicht zur Debatte. Doch gelingt es Heidegger, durch die Einführung von Existentialien den Menschen als aus Möglichkeiten lebend zu verstehen, der seine Freiheit darin erkenne, zunächst die Frage nach der Bedeutung seiner Existenz zu stellen.241 Wirkliche Selbstauslegung als hermeneutische Fundamentalaufgabe menschlichen Daseins könne nur über die richtige Auffassung von Geschichte und somit von der Geschichtlichkeit menschlichen Daseins ermöglicht werden. Mitzuführen ist an dieser Stelle also, dass nach Bultmann die Geschichtlichkeit erst dann richtig erfasst ist, wenn zum einen Mensch und Geschichte nicht als sich gegenüberstehende Größen gefasst werden und zum anderen der Mensch als Dasein verstanden wird, das in dem geschichtlichen Prozess Verantwortung für sein Handeln und damit für die Zukunft hat.242 Erst dann stünden Geschichte und Individuum in einem lebendigen Prozess. Das bultmannsche Vorgehen wird abermals deutlich: Im Rückblick auf archaische und vorchristliche Vorstellungen wird ex negativo ein Bild gezeichnet, aus dem sich positive Implikationen mitführen lassen. Im deutlichen Kontrast zur griechischen Geschichtsschreibung und -ordnung stehe die Vorstellung im alten Israel. Das Erkenntnisinteresse sei anders gelagert. Sei man in der griechischen Geschichtsschreibung interessiert „an der Erkenntnis der immanenten Kräfte, die in der Geschichte wirken“243, so bestehe in der israelitischen Interesse „an der Absicht und dem Plan Gottes, der als Schöpfer auch der Lenker der Geschichte ist und sie zu einem Ziele führt.“244 Die Einheit der Geschichte sieht Bultmann im Plan Gottes, der aber auch an den menschlichen 239

O, H, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, 9. H, M, Sein und Zeit, 21. 241 Vgl. a.a.O., 145. 242 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 19. 243 a.a.O., 20. 244 Ebd.

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Gehorsam gebunden bleibe. Somit ergibt sich laut Bultmann dann die Frage nach der Erfüllbarkeit der göttlichen Verheißung, sofern diese in Abhängigkeit vom Menschen gedacht werde. Eine Antwort erblickt er in der jüdischen Apokalyptik, die die Erfüllung nicht als immanent denkt, sondern in die Eschatologie auslagert.245 Bultmann deutet hier den Einfluss der Eschatologie auf die Geschichte an, den er als Scharnier zwischen Altem und Neuem Testament ansieht. Die zuvor herausgestellte Vorstellung der Periodizität, der Zyklenhaftigkeit des Geschichtsverlaufes, werde in der jüdischen Apokalyptik zwar aufrechterhalten – allerdings mit einer grundlegenden Änderung, die mit der Historisierung der Kosmologie zusammenhänge. Sie bleibe ein innerweltliches Phänomen. Die Anschauung zweier Äonen breche die Vorstellung eines immer wiederkehrenden Ablaufes auf und die Vorstellung der Eschatologie trete auf den Plan, von der aus nun die Geschichte interpretiert werde.246 Der Geschichte werde ein eschatologisches Ende gesetzt, eine radikale Unterbrechung des immanenten Verlaufs. Somit werde der Geschichte eine eindeutige Platzzuweisung durch die Eschatologie zuteil, die auf den ersten Blick jene marginalisiert,247 doch gleichzeitig werde damit die Geschichte als Ort menschlicher Existenzbewährung verstanden, der als Durchgang zum neuen Äon gelte. Die Reduktion der Geschichte auf die Bedeutung für das menschliche Dasein ist die eigentliche Stärke des bultmannschen Ansatzes. Geschichte wird, nach Bultmann „ent-geschichtlicht“, wodurch er den Menschen als verantwortlich handelndes Subjekt ansehen kann.248 In der Apokalypse trage der Einzelne die Verantwortung für sein Handeln. Die Verkündigung Jesu, die Predigt vom Reich und der Herrschaft Gottes, knüpfe an diese Vorstellung an.249 Bultmann zeigt auf, dass Jesu Verkündigung konsequent apokalyptisch sei und die Vorstellungen im Urchristentum aus der Gewissheit speisten, dass die Mitglieder der Urgemeinde der Welt schon präsentisch entnommen seien.250 So wiederholt Bultmann seine Feststellung, auf die er die einführenden Ausführungen hinauslaufen lässt: Im Urchristentum ist die Geschichte von der Eschatologie verschlungen worden. Die urchristliche Gemeinde versteht sich nicht als geschichtliches, sondern als eschatologisches Phänomen. Sie gehört schon nicht mehr zu dieser Welt, sondern zu dem kommenden geschichtslosen Äon, der im Anbrechen ist.251

Zweierlei ist für Bultmanns Ansatz bemerkenswert. Zum einen stellt die Verkündigung Jesu für Bultmann einen Bezugspunkt dar: In eben dieser werde die Be-

245

Vgl. a.a.O., 23. Vgl. a.a.O., 30. 247 Vgl. L, C, Geschichte und Eschatologie, 469. 248 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 35. 249 Vgl. a.a.O., 36. 250 Vgl. a.a.O., 36–38. 251 A.a.O., 42. 246

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

ziehung des Einzelnen zur Geschichte anschaulich. Daran anschließend führt zum anderen die Beziehung von Geschichte und Eschatologie zur Erarbeitung der eschatologischen Existenz, die hier bereits im Verständnis der Urgemeinde anklingt. Das angenommene eschatologische Verständnis der Urgemeinde überträgt Bultmann später auf die konkrete, gläubige Existenz. Exemplarisch wird hier also die Inanspruchnahme der Verkündigung Jesu als Voraussetzung deutlich. Jene Verkündigung ermögliche das urchristliche Verständnis, an das das gegenwärtige Dasein anknüpfen könne. Weniger der Inhalt der Verkündigung Jesu als vielmehr das darauf aufbauende Verständnis der Urgemeinde ist für Bultmann von Interesse. Im Hinblick auf das Ausbleiben der Parusie sieht Bultmann bei Paulus ein neues Verständnis der Eschatologie, an das Johannes konsequent anschließe und das er gleichzeitig radikalisiere.252 Paulus’ Geschichtsauffassung liest Bultmann ausgehend von der paulinischen Anthropologie.253 Paulus dient als Gewährsmann, der die Bedeutung der Geschichte für den Menschen und somit dessen eigentliche Geschichtlichkeit zum Ausdruck bringe. Dabei sei die Vorstellung vom Heil auf das Individuum konzentriert und präsentisch verstanden und dieses Heil somit schon Gegenwart. Man ist schon neues Geschöpf in der Taufe.254 In Christus ist somit für Bultmann das Entscheidende für die Glaubenden geschehen, woraus sich für ihn eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Geschichte und Eschatologie ergibt: Indem Paulus Geschichte und Eschatologie vom Menschen aus interpretiert, ist die Geschichte des Volkes Israel und die Geschichte der Welt seinem Blick entschwunden, und dafür ist etwas anderes entdeckt worden: Die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins, das heißt die Geschichte, die jeder Mensch erfährt oder erfahren kann und in der er erst sein Wesen gewinnt.255

Die Geschichte des Menschen konstituiere sich dabei durch Begegnungen, Begegnungen mit anderen Menschen sowie den Herausforderungen des Lebens, in denen der Mensch auf bestimmte Weise handle und somit Entscheidungen treffe:256 In diesen Entscheidungen wird der Mensch erst er selbst, während das Leben des Tieres nicht durch Entscheidungen geht, sondern immer bleibt, was es ein für allemal durch die Natur ist. Das einzelne Tier ist nur ein Exemplar seiner Gattung, während der einzelne Mensch Individuum, Person ist beziehungsweise sein kann und soll. So steht das Leben des

252

A.a.O., 46. „Die Tatsache, daß der Mensch nur von der Gnade Gottes leben kann, daß Gnade als Gnade nur von dem Menschen empfangen wird, der von Gott zunichte gemacht worden ist, und daß die Sünde, in der der Mensch verloren ist, die Voraussetzung für den Empfang der Gnade ist – diese Tatsache findet in dem eigentümlichen Geschichtsbild des Paulus ihren Ausdruck.“ (a.a.O., 47). 254 Vgl. a.a.O., 48. 255 A.a.O., 49. 256 Vgl. a.a.O., 49 f. 253

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Menschen immer vor ihm, und in seinen Entscheidungen wird es zu einem verfehlten oder zu einem eigentlichen, erfüllten. In seinen Entscheidungen wählt er im Grunde nicht je dies oder das, sondern sich selbst als den, der er eigentlich sein soll und will, oder als einen, der sein eigentliches Leben verfehlt. […] Denn zur Geschichtlichkeit des Menschen gehört es, daß er sich durch seine Entscheidungen sein Wesen schafft, das heißt aber auch, daß er in jede neue Situation hineinkommt als der Alte, der er durch seine bisherigen Entscheidungen geworden ist, so daß seine künftigen Entscheidungen immer schon durch seine früheren determiniert sind. Soll er wirklich frei sein, so muß er also auch von seiner eigenen Vergangenheit frei sein.257

Bultmann hebt die Momente der Entscheidung besonders hervor. Im Grunde genommen erblickt er in ihnen den Motor der Existenz. Es zeigt sich deutlich, dass er das Dasein als ein durch Entscheidungen konstituiertes versteht. Allerdings unterscheide sich das gläubige Dasein in einem bestimmten Punkt vom ungläubigen, im Angesprochensein durch Gott. Nur dieses vermöge den Menschen frei zu machen. Wer sich nur auf das Gesetz stütze, der verkenne diesen fundamentalen Entscheidungscharakter.258 Der Mensch sehe nicht, dass er in jeder neuen Situation als Ganzer infrage gestellt werde und nicht irgendetwas, sondern er selbst als Person gefordert sei und das in echtem Gehorsam. Dabei dient Bultmann die Vergangenheit als Negativfolie für die durch Gott geschenkte Freiheit. Ohne Gottes Gnadengeschenk bleibe der Mensch immer durch seine Vergangenheit bestimmt. Bultmann spricht an anderer Stelle sogar von einer „Tilgung der Vergangenheit“259. Nur Gott könne den Menschen von seiner eigenen Vergangenheit befreien und somit zur eigentlichen Entscheidung befähigen.260 Die herausdestillierte Geschichtlichkeit menschlichen Daseins bei Paulus wird daran anschließend als „ein ständige[s] Unterwegssein […] zwischen dem ,Nicht mehr‘ und ,Noch nicht‘“261 bezeichnet. Es ist also die Begegnung mit Gott, die den Menschen zu seiner true existence führen kann und in der der Mensch zur Entscheidung in Freiheit geführt werde. Dass diese Entscheidung immer wieder neu zu treffen sei, betont Bultmann auch an anderer Stelle.262 Die gegenwärtige Eschatologie habe vor allem Johannes hervorgehoben, der das Moment der Freiheit stark in den Vordergrund rücke,263 ohne dabei die Geschichtlichkeit als formale, ontologische Grundstruktur menschlichen Daseins zu verabschieden. Der Vollzugscharakter wird an dieser Stelle noch einmal plastisch. Das gläubige Dasein vollziehe sich immer wieder neu in den jeweiligen Entscheidungen. Bultmann 257

A.a.O., 50. Vgl. a.a.O., 50 f. 259 B, R, Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 59–78, 74. 260 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 51. 261 A.a.O., 53. 262 Vgl. B, R, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, 139; D., Die Krisis des Glaubens, 13; D., Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 126. 263 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 55. 258

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

setzt es in dieser Hinsicht mit dem vorgläubigen Dasein gleich. Die Grundstruktur ändere sich nicht. Allerdings bleibe das vorgläubige Dasein in dieser Struktur qualitativ verhaftet. Bis zur Aufklärung stellt Bultmann eine Säkularisierung der christlichen Geschichtsvorstellung fest.264 So werde an dem Gedanken der Einheit der Geschichte weiter festgehalten – unter teleologischen Vorzeichen – wobei sich der Glaube an das eschatologische Heil in den Glauben an die immer weiter fortschreitende Menschheit wandle.265 Im Durchschreiten der Aufklärung erhebt Bultmann die Frage nach dem Subjekt der Geschichte, die beispielsweise in geschichtsphilosophischen Ansätzen unterbestimmt sei. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage hält Bultmann einen Neuansatz für nötig. Wieder ist es ein Blick in die Vergangenheit und in unterschiedliche Entwicklungszusammenhänge, aus denen er sich Antworten erhofft. Nur steht dieses Mal der Mensch, genauer das Menschenverständnis zu unterschiedlichen Zeiten, im Vordergrund. Es geht also um den Konnex von menschlicher Existenz und ihrem Verstehen im allgemeinen Sinne. Dabei ist auffällig, dass wieder der Freiheitsbegriff eine zentrale Rolle spielt.266 Er dient als roter Faden, der die Betrachtung des Menschen in der Geschichte und damit seine Geschichtlichkeit durchzieht. Freiheit bedeutet nach Bultmann Freiheit von sich selbst, von den eigenen Verwirklichungen, die immer nur aus den jeweiligen Möglichkeiten der je eigenen Vergangenheit resultieren. Wirkliche Freiheit könne dem Menschen nur durch Gott geschenkt werden,267 da dieser seine Determiniertheit durch die Vergangenheit durchbrechen könne.268 Erst bei Paulus finde sich der Gedanke an einen befreiten Menschen, der in seiner Geschichtlichkeit wahrgenommen, von der Vergangenheit befreit werde.269 Dabei ist zu betonen, dass Bultmann „Freiheit“ bei Paulus nicht als zeitlosen Begriff versteht, der dem Menschen zu eigen sei, sondern als eine Größe, die immer wieder nur neu Ereignis werden könne.270 Für Paulus gehe es darum, für die Zukunft offen zu sein:

264

Vgl. a.a.O., 83. Vgl. ebd. 266 Vgl. zur Bedeutung des Freiheitsbegriffs im bultmannschen Denken: L, C, Freiheit durch Interpretation: Die Aufgabe der Bibelexegese nach Rudolf Bultmann, in: Ingolf U. Dalferth/Pierre Bühler/Andreas Hunziker (Hg.), Hermeneutische Theologie – heute? (HUTh 60), Tübingen 2013, 173–191. Des Weiteren: P, F, Identität als Nichtidentität, 225–231. 267 „[D]ie göttliche Gnade schafft erst die echte Freiheit des Menschen“ (B, R, Gnade und Freiheit, 160). 268 Vgl. B, R, Anknüpfung und Widerspruch, 120. 269 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 108. 270 Vgl. a.a.O., 109. 265

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2. Grundvoraussetzungen bultmannscher Theologie

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Glaube ist Glaube an die Zukunft, die Gott schenkt, an den kommenden Gott. Und das heißt wiederum: in der Bibel ist der Mensch in seiner Geschichtlichkeit verstanden; rein formal ausgedrückt: als der in seiner Gegenwart durch seine Vergangenheit qualifizierte und der von der Zukunft geforderte.271

Die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins sei also schon von Paulus erkannt und sei dann doch wieder verschüttet worden, was Bultmann auf die Überhöhung menschlicher Möglichkeiten zurückführt. So werde der Mensch im deutschen Idealismus nicht von seiner Zukunft infrage gestellt, die Zukunft gelte vielmehr als verfügbar. Daher existiere auch der optimistische Glaube an die Besserung des Menschen.272 Im Kontrast dazu ständen die Romanliteratur und der Realismus, die den Menschen als in seiner Existenz erschüttert zeichneten. Der Realismus sehe zwar die Geschichtlichkeit des Menschen, verstehe ihn aber als teilweise an die Geschichte ausgeliefert.273 Bultmann erblickt also zum einen bei Paulus die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins unter der Gnade Gottes und zeigt zum anderen, wie das Pendel in Richtung der individuellen Verantwortung des Menschen und auch in die seiner hoffnungslosen Auslieferung an die Geschichtlichkeit ausschlagen kann. Die abschließende Frage stellt er im Anschluss an den Realismus, der das Selbst und die Geschichtlichkeit entdeckt habe: Aber ist die so entdeckte Geschichtlichkeit wirklich echte, volle Geschichtlichkeit? Gehört nicht zu dieser das, was der Idealismus aus der christlichen Tradition übernommen hat, der Wille des Menschen, der die Verantwortung für das Selbst übernimmt? Die Verantwortung für die Vergangenheit als je meine Vergangenheit, für die Zukunft als je meine Zukunft? Im Sinne des biblischen Menschenverständnisses ist die Verantwortung für die Vergangenheit das Sich-schuldig-Wissen, die Verantwortung für die Zukunft die offene Bereitschaft für das, was die unverfügbare Zukunft an Gabe und Forderung bringt.274

Deutlich klingt hier an, dass dem Dasein eine phänomenologische, aber auch hermeneutische Dimension eingeschrieben ist; das reflexive Dasein, das auf das eigene Sein geworfen ist, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“275. Durch die Je-Meinigkeit, die „je meine Vergangenheit“ und die „je meine Zukunft“, zeichnet Bultmann eine hermeneutische Kategorie ein. Geschichte könne somit nur verstanden werden, liege also nicht objektiv vor. Dieser bereits festgestellten Grundeinsicht sind die weiteren Ausführungen seiner Gifford Lectures geschuldet. Bultmann tritt damit in gewisser Weise erneut einen Schritt hinter das bereits Erörterte zurück, indem er eine basale hermeneutische Frage aufwirft: „Wie ist es möglich, die überlieferten historischen Dokumente zu verstehen?“276 Nach dem bisher dargestellten Verlauf, steht nun diese hermeneutische Grund-

271

A.a.O., 111. Vgl. a.a.O., 115. 273 Vgl. a.a.O., 122. 274 Ebd. 275 H, M, Sein und Zeit, 12. 276 B, R, Geschichte und Eschatologie, 123. 272

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frage im Zentrum der bultmannschen Vorlesung und verbindet Geschichte und Mensch miteinander. Später wird noch genauer auf das hermeneutische Grundverständnis Bultmanns einzugehen sein, das in den Gifford Lectures vollumfänglich erarbeitet ist. Bultmann greift auf Schleiermacher und Dilthey zurück, um in den Problemzusammenhang von Geschichte und Verstehen einzuführen. Zu Beginn nennt er eine unumstößliche hermeneutische Grundbedingung, die er bei den beiden angelegt sieht: das Vorverständnis, das er auch als „Lebensverhältnis zur Sache“277 benennt. Ohne ein solches Vorverständnis sei ein Verstehen unmöglich.278 Ein bestimmtes Interesse der auslegenden Person begründe die Interpretation und bestimme zugleich die Fragestellung der Auslegung.279 Bultmann nennt an dieser Stelle verschiedene Interessen (wissenschaftlich-historisch, psychologisch, ästhetisch), um zu verdeutlichen, dass unterschiedliche Personen mit unterschiedlichem Interesse und unterschiedlicher Methode zu unterschiedlichen Interpretationsergebnissen kommen werden. An der Spitze der verschiedenen Interessen steht für ihn dann ein solches, das vom Verstehen des Menschen ausgeht: Das Interesse kann endlich darauf gerichtet sein, die Geschichte nicht in ihrem empirischen Verlauf zu verstehen, sondern als den Lebensraum, in dem sich menschliches Sein vollzieht, in dem menschliches Leben seine Möglichkeiten gewinnt und entwickelt, oder kurz gesagt, das Interesse kann das Verständnis des Menschen, wie er ist, war und immer sein wird, betreffen. In diesem Fall besinnt sich der Interpret, wenn er sich auf die Geschichte besinnt, auf seine eigenen Möglichkeiten und versucht, Erkenntnisse seiner selbst zu gewinnen. Seine Frage ist dann die Frage nach dem menschlichen Leben als seinem eigenen Leben, das er zu verstehen und gleichzeitig anderen deutlich zu machen versucht. Solches Fragen ist nur möglich, wenn der Interpret selbst durch die Frage nach seiner eigenen Existenz bewegt ist. Und damit ein gewisses, vielleicht nur ein ganz vages und undeutliches Verständnis von menschlicher Existenz überhaupt vorausgesetzt, das ihn bei seinen Fragen, auf die er Antworten erhofft, leitet.280

Diese Fragestellung wird für Bultmann die entscheidende werden. Doch konzentriert er sich zunächst auf die Beantwortung der eingehenden Frage nach dem Verstehen von Geschichte unter dem Horizont des Objektivitätsproblems. Denn wenn dem Vorverständnis eine so große Bedeutung zugemessen wird, dann stellt

277

A.a.O., 126. Bultmann gibt ein plastisches Beispiel, das sich auf das Erlernen einer fremden Sprache bezieht: „Die Möglichkeit des Verstehens ist darin begründet, daß der Ausleger ein Lebensverhältnis zu der Sache hat, die in dem Text (direkt oder indirekt) zu Worte kommt. Das läßt sich leicht daran klarmachen, wie die Kenntnis einer fremden Sprache ursprünglich gewonnen wird, nämlich dann, wenn die Sachen, die Dinge und Verhaltungen, die durch die fremden Wörter bezeichnet werden, dem Übersetzer vertraut sind aus dem Gebrauch und Umgang im Leben. Ein fremdes Wort, das ein Ding oder eine Handlungsweise bezeichnet, die mir aus meinem Leben absolut nicht bekannt sind, kann nicht übers., sondern nur als Fremdwort übernommen werden.“ (a.a.O., 126 f.). 279 Vgl. a.a.O., 127. 280 A.a.O., 128 f. 278

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sich die Frage, wie sich aus einem individuellen Vorverständnis eine objektive Erkenntnis ergeben kann. Bultmann behauptet, dass Objektivität im Rahmen der subjektiven Blickwinkel einzelner Historiker und der „existentiellen Begegnung mit der Geschichte“281 möglich ist. Historische Objektivität sei nicht zu vergleichen mit der naturwissenschaftlichen. Die angestrebte Objektivität der Geschichtswissenschaft rechne mit den verschiedenen Perspektiven und der existentiellen Begegnung.282 Unterschiedliche Perspektiven könnten mit der gleichen Wertschätzung und dem gleichen Anteil an Objektivität aufrechterhalten werden. Die Frage nach der Begegnung schließt daran an: Es sei erst die existentielle Begegnung mit der Geschichte – freilich unter dem Aspekt des Vorverständnisses –, die paradoxerweise die Objektivität garantiere, da man ansonsten wieder hinter den erbrachten Beweis der Unterschiedlichkeit von Naturwissenschaft und Geschichte zurückfallen und den geschichtswissenschaftlich tätigen Menschen als außerhalb der Geschichte sowie das geschichtliche Ereignis als außerhalb der Geschichte verobjektivieren würde: Echte historische Erkenntnis verlangt gerade die persönliche Lebendigkeit des verstehenden Subjekts, gerade die reiche Entfaltung seiner Individualität. Nur der Historiker, der getrieben wird durch seine Teilnahme an der Geschichte und das heißt: der offen ist für die historischen Phänomene auf Grund seiner Verantwortung für die Zukunft, wird imstande sein, Geschichte zu verstehen. In diesem Sinne ist die subjektivste Interpretation zugleich die objektivste. Nur der Historiker, der durch seine eigene geschichtliche Existenz bewegt ist, wird fähig sein, den Anspruch der Geschichte zu hören.283

Geschichtliche Erkenntnis und Selbsterkenntnis hängen also eng miteinander zusammen. Das Verstehen erhebt Bultmann somit zur anthropologischen Grundkonstante menschlichen Daseins. Verstehen ist nicht eine Frage unter anderen, sondern die entscheidende Frage für eine theologische Anthropologie. Nur über das Verstehen, in diesem konkreten Fall das richtige Verstehen der Geschichte, könne das Dasein zur einer Ahnung von sich selbst gelangen. Dabei ergibt sich die Frage nach der Geschichte für Bultmann aus der „Bewegtheit des Daseins“284, aus der er die Frage nach allen Phänomenen ableiten kann. Dem Verstehen wohnt aufgrund dieser Tatsache immer ein Moment der Unverfügbarkeit inne:285 „Damit, daß das Dasein in seiner Bewegtheit durch die Sorge Erkenntnis ausbildet, zeigt es, daß es auf das Sich-zeigen der Gegenstände angewiesen ist, daß es sich nicht selbst in der Verfügung hat, sondern von seiner Welt abhängig ist, deren Anspruch hören muß, um seine Situation im Augenblick zu verstehen.“286 Das menschliche Dasein ist nach Bultmann ob seiner Bewegtheit, 281

A.a.O., 131. Vgl. ebd. 283 A.a.O., 137. 284 B, R, Theologische Enzyklopädie, 47. 285 Vgl. W, H, Glauben und Verstehen, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 219–229, 224. 286 B, R, Theologische Enzyklopädie, 47. 282

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seiner Geschichtlichkeit auf ein Verstehen angewiesen, das wiederum nicht qua Dasein gegeben, sondern zu dem das Dasein vielmehr aufgefordert ist. Ein solches Verstehen ist für Bultmann allerdings nicht auf einem objektiven Königsweg zu erlangen, da es zum einen auf die Phänomene selbst verwiesen bleibt. Zum anderen betont er konsequent die je eigene Entzogenheit des Daseins eben durch die Bewegtheit. Die Aufgabe des Verstehens ist unter Ablehnung der Objektivität somit nicht verabschiedet, sondern vor diesem Hintergrund erst wirklich hervorgetreten. Der dialogische Charakter in der Begegnung von Mensch und Geschichte scheint herausgestellt, jedoch nur auf den ersten Blick, denn die Kategorie der Zeitlichkeit hat noch keine Beachtung in den Ausführungen gefunden.287 Bultmann ist lediglich zu dem Punkt vorangeschritten, an dem ein Mensch auf ein abgestecktes, geschichtliches Terrain schaut. Ihm ist klar, dass menschliches Dasein als eine Entwicklung verstanden werden muss, die durch die Zeitlichkeit bedingt ist. Erst so wird die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins endgültig erfasst. Bultmann zeichnet eine zeitliche Dimension in den Akt des Verstehens ein. Er versteht die Selbsterkenntnis des Menschen sowohl als Verantwortungsübernahme für die Zukunft als auch als „Akt der Entscheidung“288: [D]ie Geschichtlichkeit des menschlichen Seins [ist] erst vollständig verstanden, wenn das menschliche Sein verstanden ist als Leben in Verantwortung gegenüber der Zukunft und darum als Leben in Entscheidung. Und weiter muß gesagt werden, daß Geschichtlichkeit in ihrer vollen Bedeutung nicht eine selbstverständliche natürliche Eigenschaft des menschlichen Individuums ist, sondern eine Möglichkeit, die ergriffen und verwirklicht werden muß. […] Echte Geschichtlichkeit bedeutet, in Verantwortung zu leben, und die Geschichte ist ein Ruf zur Geschichtlichkeit.289

Das explizierte Verständnis der Geschichtlichkeit und somit auch die Möglichkeit der true existence erklärt Bultmann exklusiv für den Glauben. Dennoch könnten die Grundeinsichten von Philosophie und Geschichtswissenschaft produktiv aufgenommen werden, zeigten sie doch den vorgläubigen Vollzug menschlichen Daseins richtig auf. Allerdings sei aus dem konkret-ontischen Glaubensvollzug anders, nämlich aus der true existence, auf das vorgläubige Dasein, auf die Geschichtlichkeit des Daseins zu blicken. Bultmanns Grundeinsichten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Subjekt der Geschichte ist der Mensch in seinem Vollzug,290 Natur und Geschichte sind grundsätzlich voneinander unterschieden, allerdings beide ebenso der Zeitlichkeit unterworfen wie der Mensch.291 Das Handeln des Menschen als Subjekt der Geschichte changiert zwischen actio und reactio im Handeln selbst

287

Vgl. L, C, Geschichte und Eschatologie, 774. B, R, Geschichte und Eschatologie, 162. 289 Ebd. 290 Vgl. a.a.O., 165. 291 Vgl. ebd. 288

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und die Existenz grundsätzlich zwischen Handeln und Erleiden.292 Bultmann ergänzt seine Bestimmung um das Moment der Zeitlichkeit. Er bestimmt das geschichtliche Dasein als „ein stets in die Zukunft gerichtetes Leben“293, worin er die Zeitlichkeit gegeben sieht: Dies immer Zukünftigsein ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins oder genauer: seine Zeitlichkeit, in der seine Geschichtlichkeit gründet. Das Zukünftigsein ist ja immer ein Hervorkommen aus der Vergangenheit; der auf die Zukunft gerichtete Wille ist der Wille einer durch die Vergangenheit bestimmten Gegenwart. Menschliches Sein ist seinem Wesen nach ein zeitlich sich erstreckendes und spielt sich nicht wie das Naturgeschehen innerhalb der Zeit als einem Raume ab. Der Mensch ist seinem Wesen nach immer unterwegs zu dem, was er eigentlich sein will. Dieses, seine Eigentlichkeit, kann er verfehlen oder gewinnen.294

Die durch die Vergangenheit bestimmte Gegenwart, die auf die Zukunft hin orientiert ist, kann auch als „Phänomen des Augenblicks“295 bezeichnet werden. Alle Facetten der Geschichtlichkeit zögen sich gewissermaßen im Augenblick zusammen.296 Die Eigentlichkeit stehe sodann nicht nur als Wollen, sondern auch als Sollen, als Forderung an den Menschen.297 Durch diese Forderung, das Sollen, entgeht Bultmann jeder Kritik, die ihm eine individualistisch-solipsistische Verkürzung unterstellt. Jene Forderung wird nicht als rein individuell gedacht, sondern gerade in einen gemeinschaftlichen Zusammenhang eingezeichnet. Aus dem Verständnis des Menschen „als Gemeinschaftswesen“298 könne der Mensch erst den Ruf des Sollens, das Streben nach einem guten Leben, ganz wahrnehmen. Für Bultmann ist klar, dass eine wirkliche Verantwortungsübernahme im Augenblick der Entscheidung den Anderen einbezieht, was anhand von Aussagen wie „das Sein des Menschen ist ein zeitlich-geschichtliches Miteinandersein“299 deutlich wird. Was an dieser Stelle lediglich genannt beziehungsweise eingeschrieben wird, findet eine ausführliche Grundierung in einer Vielzahl von Aufsätzen Bultmanns. Die Argumentation verläuft in diesen ähnlich und wird über den Schlüsselbegriff der Liebe in Korrelation mit dem Glauben gespielt. Der Mensch, der aufgrund des Glaubens – vermittelt durch das Gnadengeschenk im Kerygma – zu seiner 292

Vgl. a.a.O., 166. A.a.O., 167. 294 A.a.O., 168. 295 „Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir Augenblick. Dieser Terminus muß im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.“ (H, M, Sein und Zeit, 338). 296 Vgl. L, C, Geschichte und Eschatologie, 476. 297 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 31979, 168. 298 Ebd. 299 B, R, Das christliche Gebot der Nächstenliebe, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 229–244, 235. 293

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Eigentlichkeit finde, bleibe nicht bei sich selbst stehen, sondern begegne dem Anderen in Nächstenliebe. Es ist der Ort der Begegnung mit dem Nächsten in Liebe, den Bultmann als Erweis des Glaubens bestimmt. Somit avanciert der Liebesbegriff bei Bultmann in gewisser Hinsicht zum Beweisgegenstand der true existence. Es ist die Liebe zum Nächsten, die er immer wieder als letzte Konsequenz aus dem Glauben als Existenzvollzug ableitet. Somit lassen sich umgekehrt aus der Begegnung des Menschen mit dem Nächsten Rückschlüsse auf die true existence ziehen. Die Art der Begegnung kann dann als Erweis für das wahrhafte Verständnis des Augenblicks verstanden werden. Am richtigen Handeln gegenüber dem Nächsten erweist sich der gläubige Mensch als derjenige, der verstanden hat, worum es geht: um das Aufgeben der eigenen Superbia, und dem Folgen des Anspruchs, mit dem Gott dem Menschen begegnet.300 Nur wenn der Mensch im Anspruch Gottes „das Gebot der Liebe“301 wirklich verstehe, könne er seinen Mitmenschen in Liebe begegnen. Auf diesen Umstand hebt Bultmann immer wieder ab. In letzter Konsequenz laufen seine Ausführungen zum Glauben immer auf die Weisung der Nächstenliebe hinaus.302 Ethische Äußerungen sind bei Bultmann als stringente Weiterführung seiner theologischen Überzeugungen zu verstehen. An der Parallelisierung des Glaubens und der Liebe über den Tatbegriff wird dies deutlich. Ist Glaube bei Bultmann verstanden als die „freie Tat des Gehorsams“303, so sieht er die Wirklichkeit der Liebe in „der Tat der Liebe“304. Die Tat des Glaubens ist für Bultmann die Tat der Liebe, zu der Gott den Menschen befreie. An folgender Passage wird der Zusammenhang von Glaube und Liebe besonders deutlich: „Aber ebenso gilt, daß es wahren Glauben nur gibt, wenn er in der Liebe wirkt (Gal. 5, 6). Unsere zu Gott ist nur wahr, wenn sie selbst auf der empfangenen Sündenvergebung beruht, ihren reinsten Ausdruck in der Bereitschaft zu vergeben. Im Vergeben wird die radikale Umkehrung der Selbstliebe am deutlichsten wirksam. Ja, indem der Wille zu vergeben, sieht, daß er eigentlich gar nicht zu vergeben hat, sondern daß dem anderen schon vergeben ist, von Gott in Christus, wird dieser Wille eben zum Glauben an den Nächsten, der ihn und mich befreit zur Liebe.“305

In der Begegnung mit dem Anderen validiert sich für Bultmann also der Glaube.

300

Vgl. B, R, Die Krisis des Glaubens, 12. Ebd. 302 Vgl. dazu exemplarisch B, R, Das christliche Gebot der Nächstenliebe, 229–244; D., Die Frage der natürlichen Offenbarung, 79–104; D., Das Verständnis von Mensch und Welt im Neuen Testament und im Griechentum, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 59–78; D., Humanismus und Christentum (1948), in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 133–148; D., Formen menschlicher Gemeinschaft, in: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 262–273. 303 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 317. 304 B, R, Das christliche Gebot der Nächstenliebe, 240. 305 A.a.O., 244. 301

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Die Forderung der Situation, die Bultmann für unabdingbar hält, sieht er im Historismus als übersehen an. Es sei zwar richtig erkannt worden, dass die Situation der Gegenwart aus der Vergangenheit erwachse, aber es sei nicht gesehen beziehungsweise verstanden worden, dass die Vergangenheit in die Situation der Frage führe. Die Problematik der Situation der Entscheidung müsse betont werden, die als Entscheidung gegenüber der Zukunft zugleich eine gegenüber der Vergangenheit sei. Die Vergangenheit habe keinen eindeutigen Sinn, sie sei vieldeutig und könne eben darum die Zukunft nicht eindeutig bestimmen. Die Zukunft sei offen, lediglich in den Möglichkeiten begrenzt durch die Vergangenheit, sodass nicht alles Beliebige möglich sei. Sie sei so offen, da sie den Gewinn oder Verlust des eigentlichen Seins bringe und die Gegenwart zu einem Moment der Entscheidung erhebe.306 Die Relativität der Vergangenheit sei keine Beliebigkeit, sondern habe den positiven Sinn, „daß in ihr [sc. der Gegenwart] als dem Augenblick der Entscheidung der Ertrag der Vergangenheit geerntet und der Sinn der Zukunft entschieden wird.“307 Für Bultmann ist der Zusammenhang der Geschichte nicht durch die reine kausale Verzahnung gegeben, sondern inhaltlich gefüllt. Die Geschichte werde mit dem Moment der Verantwortungsübernahme qualitativ untermauert und in „der Verantwortlichkeit gegenüber der Vergangenheit wie der Zukunft“308 gesehen. So wie für ihn die Einheit der Geschichte nicht einfach aufgrund von kausalen Zusammenhängen gegeben ist und ihre Bedeutung erst im Dialog mit dem Menschen gewinnt, so ist auch das menschliche Dasein für ihn nicht aufweisbar, sondern zunächst möglich, ehe es wirklich wird. Durch die Einschreibung und Betonung der Zeitlichkeit stellt sich die menschliche Existenz darum komplexer dar: Das Ich des Menschen ist durch seine Geschichtlichkeit nicht vollständig bestimmt, solange nicht ausdrücklich in Betracht gezogen ist, daß in den Entscheidungen der Person ein persönliches Subjekt, ein Ich, wirksam ist, das sich entscheidet und das seine eigene Lebendigkeit hat. Nicht, daß das Ich als eine geheimnisvolle Substanz jenseits des geschichtlichen Lebens stünde […]. Das Leben des Ich ist immer ein zeitlich geschichtliches, dessen Erfülltheit immer vor ihm liegt in der Zukunft. Aber das Subjekt der immer neuen Entscheidungen ist das gleiche, eben das Ich als ein immer wachsendes, werdendes, zunehmendes, sich läuterndes oder verfallendes Ich. Ein Zeichen für diese Identität des Ich in dem Strom der Entscheidungen sind Erinnerung und Gewissen und das Phänomen der Reue.309

Wie ist nun aber mit der Zukunft, die in der Entscheidung gewonnen oder verloren werden kann, umzugehen? Ist das Subjekt allein verantwortlich für das Gelingen des Lebens, verbürgt es allein in seinen Entscheidungen die eigene true existence? Ist damit die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz aus christlicher Perspektive richtig beschrieben? Und ist das menschliche Dasein zu solch

306

Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 168. A.a.O., 169 f. 308 A.a.O., 172. 309 A.a.O., 174. 307

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einer Entscheidung als einer wirklichen Entscheidung grundsätzlich überhaupt befähigt? Der Mensch sei immer nur relativ und nicht radikal frei. „Freiheit von sich selbst“310 sieht Bultmann als Grundvoraussetzung für wirkliches Handeln im Moment der Entscheidung. Der Mensch lebe faktisch immer aus dem Bestreben, die Zukunft zu kontrollieren – „de[r] Wahn des Verfügenkönnens“311 – und damit auch über sich zu verfügen, sich zu verobjektivieren.312 Mit diesem Bestreben bleibe er der alte, der der Vergangenheit anhaftende und nicht der zukünftige. Der Mensch könne sich aus diesem misslichen Umstand nicht von selbst befreien, sondern sei auf die Freiheit angewiesen, die ihm als Gabe zuteil werde, „das Geschenk der Freiheit“313. Die Verkündigung des Gnadengeschenks erhalte die Legitimation aus der „Offenbarung der Gnade Gottes in Jesus Christus.“314 Dieser werde im Neuen Testament als eschatologisches Ereignis verkündet: In der Verkündigung will das eschatologische Ereignis jeweils Gegenwart werden, und im Glauben wird es jeweils Ereignis. Für den Glaubenden ist die alte Welt zu Ende; er ist ,neues Geschöpf in Christus‘. Denn eben damit ist die alte Welt für ihn zu Ende, daß es mit ihm selbst als dem alten Menschen zu Ende ist, daß er ein Neuer, ein Freier geworden ist.315

An Christus werde die Beziehung zwischen Eschatologie und Geschichte deutlich. Das Christusgeschehen sei als eschatological event zu verstehen, das sich als ein solches in der Geschichte ereigne und gleichzeitig die menschliche Existenz als eschatologische qualifiziere. Dabei betont Bultmann, dass es sich – und das ist eine der Pointen der engen Verquickung von Geschichte und Eschatologie316 – nicht um ein einmaliges, historisch aufweisbares Geschehen handle, sondern um eines, das immer wieder Ereignis werde in der Verkündigung und im Glauben.317 Diese Verkündigung ist von Bultmann verstanden als Anrede und sie provoziere als solche eine Entscheidung, die sich von „normalen“ Entscheidungen im Hinblick auf die Verantwortung angesichts der Zukunft unterscheide. In der Entscheidung des Glaubens entscheide ich mich nicht für eine verantwortliche Tat, sondern für ein neues Verständnis meiner selbst als des durch Gottes Gnade von sich selbst befreiten und sich neu geschenkten Menschen, und damit für ein Leben aus der Gnade Gottes. Damit entscheide ich mich aber zugleich für ein neues Verständnis all meines

310

Ebd. Ebd. 312 Vgl. ebd. 313 A.a.O., 180. 314 Ebd. 315 Ebd. 316 Als Stimme der Kritik gegen die Vereinnahmung der Eschatologie s. A, W F, Bultmann’s History and Eschatology, in: JBL 77 (1958), 244–248. Albright hält die gesamte Argumentation für haltlos, angefangen bei Bultmanns Auseinandersetzung mit dem Historismus, über seine biblische Herleitung hin zu seiner Charakterisierung der Eschatologie in ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein. 317 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 181. 311

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verantwortlichen Tuns, – nicht so, als ob mir der Glaube die je vom geschichtlichen Augenblick geforderten Entscheidungen abnehmen würde, sondern so, daß alle meine Entscheidungen, all mein verantwortliches Tun von der Liebe getragen ist. Diese, als das reine Sein für die anderen, ist nur dem möglich, der von sich selbst freigeworden ist.318

Die gesamte Darstellung der Gifford Lectures läuft auf diesen neuralgischen Punkt zu. Jedem Augenblick wohne die Möglichkeit inne, ein eschatologischer zu werden, ein Moment zu werden, in dem die gesamte menschliche Existenz zur Disposition stehe und die Möglichkeit, zur Freiheit befreit zu werden, gegeben sei. Zu einem solchen werde der Augenblick durch den Zuspruch Gottes. Der Sinn der Geschichte – und damit schließt Bultmann den Kreis zum Anfang der Vorlesung – liege also in der Gegenwart, die aus christlicher Perspektive als eschatologische Gegenwart zu verstehen sei: „Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein.“319 Zusammenfassend ist festzuhalten: In den Gifford Lectures finden sich Bultmanns Überlegungen zur Bedeutung von Geschichte und Eschatologie in gereifter Form. Konsequent gewinnt er dabei sein spezifisches Verständnis aus der Arbeit am Neuen Testament, insbesondere anhand der paulinischen Theologie sowie des Johannesevangeliums. Seine Einsichten stützen sich vor allem auf das Verständnis der Urchristenheit, das er als entscheidend qualifiziert.320 Bultmann wendet sich der Frage nach der Geschichte unter einer hermeneutischen Fragestellung zu. Es geht ihm mit ihr um die Bedeutung der Geschichte für das menschliche Dasein. Dieses sehe sich zunächst von Passivität bestimmt, es sei ausgeliefert an die Geschichte. Im Kontrast zu dieser negativen Bestimmung sieht Bultmann als Ziel der menschlichen Existenz die Freiheit als eine Befreiung zur true existence. Unter der Frage nach der true existence durchleuchtet er die geisteswissenschaftlichen Entwicklungen und stellt fest, dass die Frage immer wieder ver-

318

Ebd. A.a.O., 184. 320 Das Zustandekommen bestimmter Vorstellungen ist für ihn von untergeordnetem Interesse. Diese Ausrichtung lässt sich schon in einem frühen Aufsatz Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments von 1917 finden. In diesem greift er Diltheys Rede vom Wirkungszusammenhang indirekt auf, wenn er festhält, dass die Geschichte „sich nur an den objektiven Gestaltungen des geistigen Lebens aufzeigen [lässt].“ (B, R, Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments, in: ZThK 27 [1917], 76–87, 80). Unter der Fragestellung der Religionsgeschichte finden sich schon hier Anklänge seines späteren Theologieverständnisses, wenn er die Gott-Mensch-Beziehung, „die Beziehung des Menschen zum Transzendenten“ (a.a.O., 81), als Wesen der Religion konstatiert. Ebenfalls bemerkenswert ist Bultmanns Rede vom „geschichtlich Wesentliche[n]“ (a.a.O., 83), das er als Kategorie für die Beschäftigung mit dem Neuen Testament im Hinblick auf den historischen Jesus vorschlägt: „Was das Wesentliche im Bewußtsein Jesu war, hat der Historiker zwar auch zu fragen, aber nur, um zugleich die tiefere Frage zu stellen: was war das geschichtlich Wesentliche?“ (ebd.). 319

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schüttet worden sei. Die Geschichte sei durch eschatologische Vorstellungen begrenzt worden. Vom Standpunkt der Eschatologie aus, sei die Geschichte als Größe zu überblicken. Allerdings sei mit dem Ausbleiben der Parusie wiederum ein neues Verständnis der Eschatologie vonnöten gewesen. Nach Bultmann sind bei Paulus wichtige Implikationen für ein Verständnis von Geschichte und Eschatologie zu finden. Paulus interpretiere Geschichte und Eschatologie konsequent von der Anthropologie ausgehend. Somit sei bei ihm die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins erkennbar, „das heißt die Geschichte, die jeder Mensch erfährt oder erfahren kann und in der er erst sein Wesen gewinnt“321. Nachdem Bultmann die Frage nach dem Verhältnis von Eschatologie und Geschichte durch die Tradition dargestellt hat, kommt er zur „Frage nach dem Menschen in der Geschichte“322. Damit wird auch die hermeneutische Ausrichtung seines Vorhabens deutlich: Nur in der Frage des menschlichen Daseins nach der Geschichte werde deren Wesen deutlich. Diese Frage liege in der Frage nach dem Verstehen von Geschichte. Eine solche Frage des Verstehens von Geschichte ergibt sich für Bultmann aus seinem Verständnis des Menschen als Dasein, „dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.“323 Bultmann versteht also unter Geschichtlichkeit eine spezifische Charakterisierung menschlichen Daseins: Denn zur Geschichtlichkeit des Menschen gehört es, daß er sich durch seine Entscheidungen sein Wesen schafft, das heißt aber auch, daß er in jede neue Situation hineinkommt als der Alte, der er durch seine bisherigen Entscheidungen geworden ist, so daß seine künftigen Entscheidungen immer schon durch seine früheren determiniert sind. Soll er wirklich frei sein, so muß er also auch von seiner eigenen Vergangenheit frei sein.324

Bultmann gelangt zur Geschichtlichkeit über die Auseinandersetzung des Menschen mit der Geschichte als solcher. Wenn Bultmann davon spricht, dass „die Subjektivität des Historikers ein notwendiger Faktor objektiver historischer Erkenntnis“325 ist, so sind darin sogleich zwei bemerkenswerte Aussagen enthalten. Zum einen erteilt er damit jeder vermeintlichen Objektivität geisteswissenschaftlicher Erkenntnis eine Absage. Zum anderen verdeutlicht er, dass geschichtswissenschaftliche Erkenntnis nur über die Begegnung des Menschen mit der Geschichte erreicht werden könne. Für ihn kommt es auf „die existentielle Begegnung mit der Geschichte“326 an und insofern „ist die subjektivste Interpretation zugleich die objektivste“327, da in ihr das eigene Selbst am deutlichsten erkannt werde. Geschichts- und Selbsterkenntnis hängen für Bultmann eng zusammen.328 Von dieser Einsicht ist seine Frage nach dem Sinn der Geschichte geleitet: „Ge321

B, R, Geschichte und Eschatologie, 49. A.a.O., 102–122. 323 H, M, Sein und Zeit, 12. 324 B, R, Geschichte und Eschatologie, 50. 325 A.a.O., 133. 326 Ebd. 327 A.a.O., 137. 328 Vgl. ebd. 322

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schichte dient der menschlichen Selbsterkenntnis.“329 Selbsterkenntnis versteht Bultmann als „Akt der Entscheidung“ und als „Verantwortung gegenüber der Zukunft“330. Somit zeichnet er in die Geschichtlichkeit das Moment der Zeitlichkeit ein, wenn er die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins als „Zukünftigsein“331 bezeichnet. Erst im „Akt der Entscheidung“ erkenne der Mensch seine Geschichtlichkeit und ihre Bedeutung: „Echte Geschichtlichkeit bedeutet, in Verantwortung zu leben, und die Geschichte ist ein Ruf zur Geschichtlichkeit.“332 Dieses Ziel der Selbsterkenntnis über die Erkenntnis der Geschichtlichkeit im Akt der Entscheidung könne der Mensch nach christlicher Anschauung allerdings nicht erreichen.333 Denn die menschliche Existenz – verstanden als auf die Zukunft ausgerichtetes Dasein –334 sei durch die Vergangenheit in solcher Form determiniert, dass ihr das eigene Selbst entzogen bliebe. Wirkliche Freiheit und somit die true existence könne dem Menschen nur durch Gottes Gnade geschenkt werden. So kann sich nach Bultmann der Akt der Entscheidung nur aufgrund der Offenbarung vollziehen. Es handelt sich also um einen verdankten Akt.335 Es ist nach Bultmann die Verkündigung des Christusgeschehens, verstanden als eschatological event, die den Menschen so anredet, dass dieser sich neu versteht – im Glauben:336 Die Verkündigung fordert als Anrede Entscheidung. Diese Entscheidung ist offenbar etwas anderes als die in jeder Gegenwart geforderte Entscheidung in der Verantwortung vor der Zukunft. In der Entscheidung des Glaubens entscheide ich mich nicht für eine verantwortliche Tat, sondern für ein neues Verständnis meiner selbst als des durch Gottes Gnade von sich selbst befreiten und sich neu geschenkten Menschen, und damit für ein Leben aus der Gnade Gottes.337

Das hermeneutische Anliegen Bultmanns wird an dieser Stelle deutlich. Im Glauben eröffnet sich nach Bultmann ein neues Verständnis des Selbst und somit auch 329

A.a.O., 162. Ebd. 331 A.a.O., 168. 332 A.a.O., 162. 333 Vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 419. 334 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 167. 335 Dass es sich dabei allerdings nicht um die Vereinzelung menschlicher Existenz handelt, wird bei Bultmann durch die Rede vom Menschen als Gemeinschaftswesen deutlich. (vgl. a.a.O., 168). Der Mensch sei immer unterwegs zu dem, was er sein wolle. Aus dieser Ausrichtung leitet er ein Sollen als ethische Kategorie ab: Aus dem Wollen entsteht bei Bultmann der Anspruch des Sollens. Durch die Eingebundenheit des Menschen in eine Lebenswirklichkeit ist sein Sollen auch von anderen Subjekten abhängig. Aus dieser Einsicht weitet Bultmann die Verantwortungsübernahme für die Zukunft des Einzelnen auf die für die Gemeinschaft ab: „Je mehr sich der Mensch als Gemeinschaftswesen weiß, desto deutlicher wird ihm, daß er unter der Forderung steht, je mehr er sich als geistiges Wesen weiß, desto klarer zeigt sich ihm, daß sein Wollen unter seinem Sollen steht, daß sein Zukünftigsein ein Verantwortlichsein ist.“ (a.a.O., 168 f.). 336 Vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 419. 337 B, R, Geschichte und Eschatologie, 181. 330

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der Mit- und Umwelt. In seiner Abhandlung gilt sein Hauptaugenmerk dem menschlichen Dasein und dem neuen Verständnis des eigenen Daseins im Glauben.338 Durch die Begegnung mit der Geschichte, den „Dialog mit der Geschichte“339, erfolgt die Selbsterschließung des Daseins. Somit ist Bultmanns Beschäftigung mit der Geschichte ein gegenwartsbezogenes Unterfangen und keine Vergangenheitsschau. Die Geschichtlichkeit ist für ihn die Existenzweise des Menschen in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Zu einem Verstehen des eigenen Daseins als geschichtliches kann es Bultmann zufolge nur aufgrund des Kerygmas kommen, das als Anrede den Menschen in die Entscheidung stelle. Im Kerygma werde das Christusgeschehen ausgesagt und in die Gegenwart geholt. Ein solches Verstehen fasst Bultmann als eschatological event auf, ein Geschehen also, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Augenblick zusammengezogen sind – ähnlich der dreifachen Gegenwart bei Augustin. In diesem Verstehen ist das lutherische simul iustus et peccator ausgedrückt,340 sofern das glaubende Dasein auf eigentümliche Weise in der Welt existiere und ihr gleichsam entzogen sei: Die Paradoxie, daß die christliche Existenz gleichzeitig eine eschatologische, unweltliche, und eine geschichtliche ist, ist gleichbedeutend mit dem lutherischen Satz: ,Simul iustus simul peccator.‘341

Bultmanns Vorstellung der true existence, die sich auf das Verstehen des eschatological events bezieht, ist eng mit seiner Vorstellung der Existenz als eschatologischer verbunden. Die Eschatologie nimmt insofern eine Schlüsselfunktion für Bultmanns Geschichtsverständnis ein, als er den Sinn der Geschichte für das menschliche Dasein in der Gegenwart sieht. Sein Eschatologieverständnis ist geprägt von der Einsicht, „den existen[t]ialen Charakter der Geschichte als Sinn der Eschatologie heraus[zu]arbeiten“342. Mit dem existentialen Charakter zielt Bultmann auf das Selbstverstehen menschlichen Daseins. Dieses sei nur aufgrund von Gottes Handeln möglich: „[I]ch verstehe Gott, indem ich mich selbst neu verstehe.“343 In diesem Handeln liege für das menschliche Dasein das Heil, da es in dem wirklichen Verstehen seine eigentliche Geschichtlichkeit erst gewinnen könne, indem es auf den Anspruch Gottes höre und ihm im Akt der Entscheidung entspreche. Nur so werde der Mensch wirklich frei, neu und existiere eschatologisch. Dass für Bultmann Geschichte in ihrem eschatologischen Charakter von herausragender Bedeutung für das menschliche Dasein ist, wird besonders deutlich, wenn er einem fiktiven Menschen im Appellcharakter seine Sicht verdeutlicht: 338

Vgl. L, C, Geschichte und Eschatologie, 478. B, R, Jesus, 8. 340 Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 183 f. 341 Ebd. 342 W, F, Eschatologie, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 323–334, 333. 343 B, R, Theologische Enzyklopädie, 202. 339

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Derjenige, der klagt: ,Ich kann keinen Sinn in der Geschichte sehen, und darum ist mein Leben, das in die Geschichte hineinverflochten ist, sinnlos‘, muß aufgerufen werden: ,Schau nicht um dich in die Universalgeschichte; vielmehr mußt du in deine eigene persönliche Geschichte blicken. Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du mußt ihn erwecken.‘344

2.2.4 Die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins Mit der Geschichtlichkeit beschreibt Bultmann die ontologische Seinsstruktur menschlicher Existenz und erfasst damit die formalen Strukturen menschlichen Daseins – vorgläubig und gläubig. Auf der Grundlage der ontologischen Bedingtheit menschlicher Existenz entwickelt er seine theologischen Vorstellungen und die Beschreibung der konkret-ontischen gläubigen Existenz. Darüber hinaus gelingt es ihm, die grundsätzliche Offenheit menschlichen Daseins im Vollzug zu beschreiben sowie dessen generelle Fragilität zu betonen. Als geschichtliche Existenz ist sie zwar zunächst gegeben, ihr ist aber gleichzeitig das Verstehens aufgegeben, das in sich paradox ist. Denn um ein eindeutiges Verständnis der je eigenen Existenz zu erhalten, müsste der Mensch außerhalb der Geschichte stehen. Da er aber selbst geschichtliches Wesen ist, ist es nicht möglich, „aus [der je] eigenen Existenz herauszuspringen“345 und sie objektiv, wie einen Untersuchungsgegenstand, zu betrachten. Das Verstehen der eigenen Existenz ist dem Menschen also aufgegeben, aber gleichzeitig entzogen. Mit der Betonung der Möglichkeit menschlichen Seins und der gleichzeitigen Entzogenheit einer Bestimmung der je eigenen Existenz endet für Bultmann nicht die Ausleuchtung des Selbst. Damit ist zunächst festgehalten, dass die Existenz nicht gesichert, dass sie immer nur mögliche sei. Bultmann bleibt an dieser Stelle aber nicht stehen, sondern sieht das Dasein zum Verständnis seiner selbst aufgefordert. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Der Mensch sei zu einem Verständnis seiner selbst, obwohl er dies nicht erreichen könne, als geschichtliches Wesen verpflichtet und könne gar nicht anders, als sich immer schon im Vollzug seines Daseins zu verstehen. Hier ist die fundamentale Bedeutung des Verstehens für das menschliche Dasein schon deutlich wahrzunehmen: Beim Verstehen gehe es weder um den Nachvollzug bestimmter historischer Zusammenhänge noch um die schlichte, neutrale Betrachtung verschiedener Sachverhalte, die keine Auswirkung auf das Dasein zur Folge hätten. Vielmehr gilt nach Bultmann: „Alles Verstehen von etwas […] ist letztlich immer ein Verstehen meiner selbst, ein ,Mich in meiner Welt zurechtfinden‘.“346 Deutlich ist nun geworden, dass die Beschreibung des Daseins als ein geschichtliches eng mit der daraus resultierenden Folgerung des Verstehens als Existential 344

B, R, Geschichte und Eschatologie, 184. B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 31. 346 B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 153–187, 155. 345

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verknüpft ist. An die Überlegungen zur Geschichtlichkeit lassen sich somit hermeneutische Fragestellungen nahtlos anschließen. Der Mensch finde sich faktisch in der Geschichte und nicht etwa im freien Raum vor und habe in ihr gewisse Existenzmöglichkeiten.347 Wie bereits gesehen spricht Bultmann vom Dasein, wenn er versucht, den Menschen zu charakterisieren. Dieser generelle Rückgriff auf die Philosophie ergibt sich für ihn konsequent aus der Aufgabe der Theologie, „sich […] über das Wirklichkeitsverständnis des Glaubens in kategorialer Begrifflichkeit Rechenschaft ab[zu]legen.“348 Die Philosophie qualifiziere sich dafür in besonderer Weise, da sie den basalen Anspruch habe „das Dasein als solches zu verstehen“349,350. Mit dem Begriff des geschichtlichen Daseins meint Bultmann die menschliche Existenz umfassend beschreiben, ja besser verstehen zu können – im Gegensatz zu einem Verständnis des Menschen als Naturwesen:351 Wir meinen das Dasein des Menschen richtiger zu verstehen, wenn wir es als geschichtlich bezeichnen. Und wir verstehen unter der Geschichtlichkeit des menschlichen Seins dieses, daß sein Sein ein Sein-Können ist. D. h. daß das Sein des Menschen seiner Verfügung entnommen ist, jeweils in den konkreten Situationen des Lebens auf dem Spiele steht, durch Entscheidungen geht, in denen der Mensch nicht je etwas für sich wählt, sondern sich selbst als seine Möglichkeit wählt.352

347 Vgl. etwa B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 114–133, 126, oder auch D., Geschichte und Eschatologie, 178. 348 P, O, Wie entsteht christlicher Glaube? Untersuchungen zur Glaubenskonstitution in der hermeneutischen Theologie bei Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling, Tübingen 2007, 31. 349 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 308. 350 „Der Gegenstand der philosophischen Forschung ist das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter. Diese Grundrichtung des philosophischen Fragens ist dem befragten Gegenstand, dem faktischen Leben, nicht von außen angesetzt und aufgeschraubt, sondern ist zu verstehen als das explizite Ergreifen einer Grundbewegtheit des faktischen Lebens selbst, das in der Weise ist, daß es in der konkreten Zeitigung des Seins um sein Sein besorgt ist, und das auch dort, wo es sich selbst aus dem Wege geht.“ (H, M, Anzeige der hermeneutischen Situation, in: Günther Figal [Hg.], Heidegger Lesebuch [Klostermann Seminar 21], Frankfurt am Main 2007, 51–75, 53). 351 Verstehe sich der Mensch als ein solches Naturwesen, so verstehe er sich lediglich als „Exemplar einer Gattung von Naturwesen“, weiche der Frage nach der eigenen Existenz aus, gebe sie ab und verkenne seine eigene Begrenztheit im Gegensatz zur Allmacht Gottes (B, R, Die Frage der natürlichen Offenbarung, 87–89). Der Mensch wird im Grunde genommen enteignet: „Er hat kein eigenes Leben; die Zeitlichkeit ist ausgeschaltet; kein Augenblick sagt ihm etwas und bringt Neues, sondern nur immer dasselbe; der Mensch hat kein eigenes Schicksal mehr [Hervorhebung v. B.K.]; und wie nichts, was ihm begegnet, ihm etwas anhaben kann, so kann ihm auch nichts etwas schenken; alles was ihm begegnet, geht ihn nichts mehr an.“ (a.a.O., 87). 352 B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 118.

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Was der Mensch ist, kann nicht von außen oder durch Introspektion eindeutig festgemacht werden.353 „[D]as Sein des Menschen [ist] seiner Verfügung entnommen.“354 Vielmehr nimmt Bultmann den Menschen in seiner Zukünftigkeit, im Lebensvollzug als Möglichkeit seiner selbst wahr. Mit der je eigenen Geschichte sei der Mensch auf so enge Weise verbunden, dass diese bestimmend werde für die Entscheidungen in der Gegenwart, die von der Zukunft aus auf ihn zukämen.355 Menschliche Existenz „kann nicht als Probandum unter Beweis gestellt werden“356. Das Selbst sei somit dem Zugriff enthoben, sei zwar als solches gegeben, müsse aber wiederum in den eigenen Möglichkeiten gewonnen werden.357 Mit der Charakterisierung des Daseins als immer wieder zu ergreifende Möglichkeit,358 schreibt Bultmann eine Zukünftigkeit in die menschliche Existenz ein. Dem aus der Vergangenheit kommenden Menschen werden Möglichkeiten in der Gegenwart gegeben, die aus der Zukunft auf ihn zukommen: Die wirkliche Beziehung unseres Lebens zur Geschichte vollzieht sich darin, daß die Geschichte, aus der wir kommen, uns die Möglichkeiten für unser Handeln in der Gegenwart vorgibt angesichts der Aufgaben, die die Zukunft für uns enthält.359

Diesen Zusammenhang sieht Bultmann als problematisch an und denkt der Frage nach der Gewichtung der Vergangenheit in diesem Zusammenhang nach. Denn wenn sich lebenswirkliche Möglichkeiten aus der je eigenen Vergangenheit speisen, wie frei ist der Mensch dann noch in der Wahl seiner Möglichkeiten? Kann es überhaupt wirklich Zukünftiges geben, das immer auch je mein Zukünftiges ist, wenn je meine Vergangenheit nicht revidierbar ist? Grundsätzlich betont Bultmann einen geschichtlichen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und hebt hervor, dass es sich bei den Möglichkeiten, um die je eigenen handelt, die aus der je eigenen Vergangenheit evoziert werden. Es handle sich um ein Leben im Vollzug. Das geschichtliche Leben sei somit ein „stets in die Zukunft gerichtetes Leben“360, ein Leben im Unterwegssein, das „stets vor [mir] steht [… und] stets verwirklicht werden muß. Jede Gegenwart sei infrage gestellt und herausgefordert durch ihre Zukunft.“361 Somit ist die Existenz nach Bultmann eng gekoppelt an die je eigenen Möglichkeiten, genauer gesagt verwurzelt in diesen und eben dadurch „ist die Wirklichkeit, in der der Mensch steht“362,

353

Vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 139. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 118. 355 Vgl. B, R, Die Frage der natürlichen Offenbarung, 91. 356 B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 35. 357 Vgl. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, in: 120 sowie D., Geschichte und Eschatologie, 141. 358 Vgl. beispielsweise B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 126. 359 B, R, Die Frage der natürlichen Offenbarung, 91. 360 B, R, Geschichte und Eschatologie, 167. 361 Ebd. 362 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 130. 354

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immer zukünftig.363 Die Wahl der Möglichkeiten sei sodann immer eine Entscheidung beziehungsweise ein Verhalten gegenüber der je eigenen Vergangenheit und gleichzeitig immer auch eine Entscheidung über die Zukunft.364 Mit der Betonung der Daseinsmöglichkeit gelingt es, einem deterministischen Menschenbild den Riegel vorzuschieben. Denn somit ist die Möglichkeit eines Verhaltens zur eigenen Vergangenheit gegeben, die Möglichkeit also auch zur Kritik an oder Emanzipation von der eigenen Vergangenheit. Allerdings ist zu betonen, dass es für Bultmann Gottes Geschenk der Gnade ist, das zu wirklicher Freiheit führt. Erst durch das Gnadengeschenk werde der Mensch in die wirkliche Entscheidung gestellt und gleichzeitig befähigt, sich wirklich neu zu verstehen, sich also selbstbewusst zu seiner Vergangenheit zu verhalten.365 Die wirkliche Entscheidung ist für Bultmann also immer „Glaubensentscheidung“366. Der Geschichtlichkeit wohnt damit ein weiteres Moment inne, das sich aus der formal-ontologischen Struktur menschlichen Daseins unmittelbar ergibt: die Aufgabe des Verstehens. Diese verknüpft Bultmann mit seiner basalen anthropologischen Annahme des Strebens zur true existence: „Der Mensch ist seinem Wesen nach immer unterwegs zu dem, was er eigentlich sein will. Dieses, seine Eigentlichkeit, kann er verfehlen oder gewinnen.“367 Während die Philosophie die Möglichkeit des Erreichens der eigentlichen Existenz als dem Menschen zur Verfügung stehend sehe, bestreitet Bultmann diese Möglichkeit. Für ihn ist klar, dass das menschliche Dasein auf Gottes Gnade angewiesen ist und bleibt, um zur true existence und somit zu einem wirklichen Selbstverstehen zu kommen. Für ihn ist auch klar, dass „im Glauben die vorgläubige Existenz existentiell-ontisch überwunden“368 ist, was aber nicht so zu verstehen sei, dass nun die „existential-ontologischen Bedingungen von Existieren vernichtet sind“369. Für Philosophie und Theologie sei allerdings in gleicher Weise die Aufgabe des Verstehens gegeben, des Verstehens der eigenen Situation, die die Grundlage für die eigentliche Existenz darstelle. Durch die Angewiesenheit auf Gottes Gnadenhandeln werde deutlich, dass es der gläubigen Existenz als geschichtliches Dasein um ein Verstehen Gottes und seines Handelns gehen müsse, also auch um ein Verstehen des Umschlags von ungläubiger zu gläubiger Existenz: „Es gibt den Glauben nur als radikalen, alles in ein neues Licht rückenden Wechsel vom Unglauben zum Glauben.“370 Die hermeneutische Aufgabe ist darum doppelt gelagert: einmal für das geschichtli-

363 Schon Heidegger hat mit der Geschichtlichkeit die Zeitlichkeit als ein Grundmoment menschlicher Existenz verstanden (vgl. H, M, Sein und Zeit, 378 f.). 364 Vgl. B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 130. 365 Vgl. B, R, Gnade und Freiheit, 160. 366 Ebd. 367 B, R, Geschichte und Eschatologie, 168. 368 B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 66. 369 Ebd. 370 D, I U., Radikale Theologie, 60.

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che Dasein selbst, das den Umschwung vom Unglauben zum Glauben verstehen müsse, und dann als Aufgabe der Theologie als Wissenschaft, eben diesen Wechsel zu verstehen. Der Theologie wohnt somit schon immer eine hermeneutische Aufgabe inne, es kann sie nach Bultmann nur als hermeneutische Theologie geben. Die Geschichtlichkeit des Daseins ist die formal-ontologische Grundstruktur menschlicher Existenz, auf deren Boden sich dann das konkret-ontische Verstehen des gläubigen Daseins vollzieht. Die Beschäftigung mit der Geschichtlichkeit führt zur Hermeneutik, der im folgenden Abschnitt nachgegangen wird. Über die Erarbeitung der bultmannschen Hermeneutik lässt sich der Glaubensbegriff konturieren. Mit dessen Aufarbeitung kommt der gesamte Abschnitt der Prolegomena zum Ende. Auf dieser Grundlage ist eine Erarbeitung des Kerygmabegriffs möglich, der als Schlüsselkategorie innerhalb der bultmannschen Theologie anzusehen ist. Schließlich geht es Bultmann immer um die Frage nach dem Zum-Glauben-Kommen, das sich in der Begegnung mit dem christologischen Kerygma vollziehe.

2.3 Verstehen als Existential Anhand der Geschichtlichkeit wird deutlich, dass dem Verstehen eine zentrale Stellung zukommt. Das Ziel des Verstehens ist für Bultmann das jeweils verstehende Subjekt. Die faktische Geschichtlichkeit menschlichen Daseins schließt einen Verstehensprozess dieser Bedingtheit und damit ein Verhalten zu dieser ein.371 Bultmanns Interesse gilt also einem solchen Verstehen, das das verstehende Subjekt in dem Prozess des Verstehens mitdenkt und damit dem „teilnehmenden Verstehen das menschliche Sein in seinen Möglichkeiten als den eigenen Möglichkeiten des Verstehenden“372 eröffnet. Dies sieht er insbesondere als genuine Aufgabenstellung einer theologischen Hermeneutik an, die sich auf die Frage nach der von Gott angesprochenen menschlichen Existenz beziehe und dabei auf die formal-ontologischen Strukturen menschlichen Daseins, also auch auf die Geschichtlichkeit, zurückgreife. Dazu ist sie nach Bultmann fähig, da die Theologie nicht mit einem „doppelten Wirklichkeitsbegriff operieren“373 könne, da sie den Glauben als Existenzweise beschreibe. Diese Existenzweise gelte es, als solche zu begreifen und zu versprachlichen. Bultmanns hermeneutische Überlegungen zielen also in letzter Konsequenz auf das Verständnis des Glaubens als neue Weise des Existierens. Will man folglich verstehen, was Glaube heißt, so muss man zunächst die Frage nach den basalen Bedingungen des Verstehens verstehen. Mit der Geschichtlichkeit des Daseins ist zunächst der formal-ontologische Unterbau für ein solches Unterfangen erarbeitet.

371

S. dazu auch H, M, Sein und Zeit, 382 f. B, R, Das Problem der Hermeneutik, 221. 373 H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 225.

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Mit einer bewusst theologischen Färbung sind Bultmanns Überzeugungen in die sogenannte existentiale Interpretation eingeflossen, die nun dargestellt wird. Daran anschließend soll unter der konkreten Fragestellung nach dem Verständnis mythologischer Inhalte des Neuen Testaments Bultmanns Ansatz der Entmythologisierung untersucht werden. Dieser geht unmittelbar aus seiner existentialen Interpretation hervor. Die breiten und ausführlichen Diskussionen um den Entmythologisierungsvortrag von 1941 sollten über diesen Umstand nicht hinwegtäuschen. Existentiale Interpretation und Entmythologisierung ergänzen sich und lassen sich daher nur in der Zusammenschau erläutern. Sie sind als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen. So ergibt eine künstliche Unterscheidung beider Sachverhalte, sofern das Interesse der Aufarbeitung ein inhaltliches ist, keinen Sinn. Inhaltlich geht es bei beiden Stichworten um eine bestimmte Art des Verstehens biblischer Texte. Von der Aufarbeitung dieses Verstehensvorgangs sind die folgenden Ausführungen geleitet. Es soll nicht um die Aufarbeitung der Debatte um die Entmythologisierung gehen. Vielmehr ist die Erarbeitung als Angang zum Verständnis des Kerygmas zu sehen. Schließlich haben sich Bultmanns Ausführungen zur Hermeneutik an diesem entscheidenden Moment zu messen. Denn wenn Glauben als Existenzweise des Daseins zu verstehen ist und sich diese aufgrund des Kerygmas ergibt, so muss gefragt werden, inwieweit das menschliche Dasein das christologische Kerygma verstehen kann und zu verstehen hat. Unter dieser übergeordneten Fragestellung sind folgende Überlegungen zu verstehen. 2.3.1 Die existentiale Interpretation Bultmann entwickelt seine Hermeneutik ausgehend von der klassischen Frage nach dem Verstehen von Texten, um sie dann auf jegliche Form menschlichen Verstehens auszuweiten. In seinem 1950 erschienenen Aufsatz Zum Problem der Hermeneutik ist das Anliegen seiner Hermeneutik am deutlichsten fassbar. In ihm finden die bereits angeklungenen hermeneutischen Anliegen ihre ausführliche Explikation. Bultmann fragt „nach der Möglichkeit, Objektivität im Verstehen singulären geschichtlichen Daseins, sc. der Vergangenheit, zu gewinnen“374. Er kommt zu dem Schluss, dass jedes Verstehen sich an einer Fragestellung orientiere und somit nie voraussetzungslos, sondern vielmehr „immer von einem Vorverständnis der Sache geleitet“375 sei. Mit der Verschiedenheit der Fragestellungen korreliere sodann die Verschiedenheit der Verstehensvorgänge im Allgemeinen.376 Die verstehensleitende Fragestellung koppelt Bultmann eng an ein Interesse, das er im Leben der jeweils fragenden Person verortet.377 Schon hier zeigt sich, dass Ver-

374

B, R, Das Problem der Hermeneutik, 212. A.a.O., 216. 376 Vgl. ebd. 377 Vgl. a.a.O., 217. 375

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stehen nicht losgelöst von der menschlichen Existenz vonstattengeht, sondern eng mit dem geschichtlichen Dasein verknüpft ist. Inwieweit der Zusammenhang von Interesse und Sachverhalt dem Fragenden bewusst ist, spielt für Bultmann eine untergeordnete Rolle; in der Frage selbst zeige sich der Lebensbezug: [D]enn nur aus den Bedingungen eines Lebenszusammenhangs ist eine irgendwie orientierte Frage möglich. Und ebenso ist daher verständlich, daß jede Interpretation ein bestimmtes Vorverständnis einschließt, eben das aus dem Lebenszusammenhang, dem die Sache zugehört, erwachsende.378

Dieses Vorverständnis, das unreflektiert und unbewusst vorhanden sein könne,379 ist für ihn die Grundbedingung für jede Art des Verstehens. An anderer Stelle charakterisiert Bultmann jenes auch als „nichtwissendes Wissen“380, das dem Dasein als Antrieb für das Verstehen gelte. Eine konsequente Hermeneutik habe demzufolge der fundamentalen Verbindung von Lebensverhältnis und zu verstehender Sache Rechnung zu tragen. Es gehe darum, die „Möglichkeiten des menschlichen Seins zum Verständnis“381 zu bringen und nicht etwa Texte lediglich als Quellen ihrer eigenen Zeit zu lesen oder aber als reine „Vermittler geschichtlicher Kenntnis“382 – wie dies beispielsweise der Historismus getan habe. Die Interpretation verfehlt das echte Verstehen, wenn sie den Text nach Lehrsätzen als den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung befragt, und wenn sie demzufolge den jeweiligen Text als ,Quelle‘ für ein jeweiliges Stadium der Geschichte […] nimmt und damit diese Geschichte als ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen auffaßt, statt sie in die Gegenwart zu erheben […]. [Vielmehr soll] in dieser Geschichte die Problematik des Seinsund damit des Selbstverständnisses deutlich werden.383

Es könne also nicht darum gehen, die Vergangenheit zu rekonstruieren oder einem Text als Quelle „betrachtend und konstatierend“384 zu begegnen, sondern den Text so zu befragen, „daß ich mir von ihm ein Verständnis meiner selbst neu erschließen lasse“385, sodass der Text eine Möglichkeit des Existenzverständnisses offenbare. Somit erhebt Bultmann das Verstehen zum Existential menschlichen Daseins, das – wie bereits deutlich wurde – in seiner Geschichtlichkeit sich selbst entnommen sei und sich immer wieder in seinen Möglichkeiten gewinnen müsse. Diese Möglichkeiten wiederum liege aber ebenso wenig in der Verfügung des Menschen, sodass sie immer wieder in der Entscheidung386 ergriffen werden 378

A.a.O., 218. Vgl. a.a.O., 218 f. 380 B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 128. 381 B, R, Das Problem der Hermeneutik, 222. 382 A.a.O., 221. 383 A.a.O., 222. 384 B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 124. 385 Ebd. 386 Bultmann spricht wesentlich häufiger von „Entscheidung“ als von „Entschluss“, auch wenn er die Begriffe synonym gebrauchen kann (vgl. P, E M, Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung. Die Rezeption und Transformation der Wahr379

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

müssten.387 Mit dem Begriff der Entscheidung zielt Bultmann zum einen auf die Betonung des Vollzugscharakters des geschichtlichen Daseins388 und zum anderen auf die Unmittelbarkeit der Glaubenskonstitution389. Die Entscheidung sei allerdings keine inhärente Möglichkeit des Daseins, sondern verdanke sich der Gnade Gottes.390 Im Text würden dem Menschen dann Möglichkeiten seiner selbst offenbar. Zum Verständnis dieser Möglichkeiten komme der Mensch allerdings nur, sofern er sich selbst als ein Dasein verstehe, dass in seinen Möglichkeiten erschlossen sei.391 Mit Bultmann ist zunächst festzuhalten: Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis zu der Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet. Ohne ein solches Lebensverhältnis, in dem der Text und Interpret verbunden sind, ist ein Befragen und Verstehen nicht möglich, ein Befragen auch gar nicht motiviert. Damit ist auch gesagt, daß jede Interpretation notwendig von einem gewissen Vorverständnis der in Rede oder infrage stehenden Sache getragen ist. Aus dem Sachinteresse erwächst die Art der Fragestellung, das Woraufhin der Befragung, und damit das jeweilige hermeneutische Prinzip.392

Bultmann beleuchtet verschiedene Interessen, aufgrund derer man einen Text interpretieren könnte, die das „Woraufhin“ der Interpretation bestimmen könnten. Diese diversen Interessensmöglichkeiten drängen sich aufgrund der Komplexität der geschichtlichen Phänomene förmlich auf. So lasse sich von dem unterschiedlich geleiteten Woraufhin ein spezifischer Aspekt, eine Phänomenvariation, beleuchten.393 Unter diesem Gesichtspunkt seien biblische Texte nicht von anderen Texten verschieden.394 Bultmann sieht das Spezifikum der theologischen Exegese also nicht in ihrem Vorgehen. Für das Streben nach einer objektiven Exegese gelte das Gleiche wie für das Verstehen eines beliebigen Textes: Das ganze Unternehmen einer objektiven Exegese sei fehlgeleitet, da es gerade „die äußerste Lebendigkeit des verstehenden Subjekts“395 ausblende und somit einem wirklichen Verstehen entgegengesetzt sei. Denn die grundsätzlichste aller Möglichkeiten des Interesses sei eine solche, in der „das Woraufhin […] gegeben sein

heitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns [TBTö 64], Berlin/ New York 1995, 290 f.). In seinem Entscheidungsbegriff ist die „Hauptstruktur der pragmatischen Glaubensdimension“ (a.a.O., 291) ausgedrückt, die unabdingbar mit der Vorstellung des Glaubens als freie Tat des Gehorsams zusammenhängt. 387 Vgl. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 126. 388 Vgl. B, R, Das christliche Gebot der Nächstenliebe, 240 f. 389 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 152 f. Anm. 62. 390 Vgl. B, R, Humanismus und Christentum (1953), in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 61–75, 74. 391 Vgl. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 127. 392 B, R, Das Problem der Hermeneutik, 227. 393 Vgl. a.a.O., 229. 394 Vgl. a. a. O., 231. 395 A.a.O., 230.

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[kann] durch die Frage nach dem menschlichen als dem eigentlichen Sein.“396 Diese Bestimmung des Verstehens ist die gedanklich stringente Weiterführung der Beschreibung menschlicher Existenz als geschichtliches Dasein. Wenn die Existenz immer nur in den zu ergreifenden Möglichkeiten vorausliegt, „in denen der Mensch nicht je etwas für sich wählt, sondern sich selbst als seine Möglichkeit wählt“397, zukünftig ist und immer wieder auf dem Spiel steht, dann ist Verstehen nicht ein Verstehen eines fremden Gegenstandes, sondern immer zugleich auch Verstehen des eigenen Selbst, eben ein Selbstverstehen.398 Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass es Bultmann nicht nur um exegetische Einsichten geht, die sich aus seiner Hermeneutik ergeben. Dennoch wird der bultmannsche Weg zum Verstehen als Existential von der Exegese her geebnet, sodass Text- und Selbstverstehen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Wenn die Texte des Neuen Testaments nicht anders zu behandeln sind als profane, dann muss das Differenzkriterium in ihrem Inhalt und in den von ihnen evozierten Möglichkeiten menschlicher Existenz gesucht werden. Bultmann selbst weist auf die Exklusivität der biblischen Texte im Gegensatz zu außerbiblischer Literatur hin: What distinguishes the Bible from other literature is that in the Bible a certain possibility of existence is shown to me not as something which I am free to choose or to refuse. Rather, the Bible becomes for me a word addressed personally to me, which not only informs me about existence in general, but gives me real existence. This however, is a possibility on which I cannot count in advance. It is not a methodological presupposition by means of which I can understand the Bible. For this possibility can beome a realtity only when I understand the word. Our task, therefore, is to discover the hermeneutical principle by which we can understand what is said in the Bible.399

Bultmann verdeutlicht, dass es in den biblischen Schriften um eine bestimmte Möglichkeit der Existenz gehe, die das menschliche Dasein nicht frei wählen könnte. Diese spreche sich nicht in allgemeinen Wahrheiten aus, sondern treffe das Dasein konkret-ontisch, also existentiell.400 Bultmanns Vorschlag der Entmythologisierung ist als dezidiertes Programm der existentialen Interpretation zu verstehen. Ihm geht es darum, die hermeneutischen Grundbedingungen aufzuzeigen, unter denen das biblische Zeugnis zu verstehen ist.

396

A.a.O., 228. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 118. 398 Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 155. 399 B, R, Jesus Christ and Mythology, 53 f. 400 Über die Bestimmung des Verhältnisses von biblischer und außerbiblischer Narration gibt Bultmanns Predigttätigkeit Auskunft. 397

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2.3.2 Entmythologisierung – die existentiale Interpretation des neutestamentlichen Mythos In seinem Vortrag Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung verfolgt Bultmann die Aufgabe der existentialen Interpretation. Dabei stellt der Begriff der Entmythologisierung nur die negative Formulierung für den der existentialen Interpretation dar.401 Bultmanns Entmythologisierung kann als „Teilaspekt der existentialen Interpretation“402 verstanden werden:403 Negativ ist die Entmythologisierung daher Kritik am Weltbild des Mythos, sofern dieses die eigentliche Intention des Mythos verbirgt. Positiv ist die Entmythologisierung existentiale Interpretation, indem sie die Intention des Mythos deutlich machen will, eben seine Absicht, von der Existenz des Menschen zu reden.404

Er selbst hat später zugestanden, dass sein gewählter Begriff sein Anliegen nicht treffend zum Ausdruck gebracht habe und bezeichnet ihn als „unbefriedigendes Wort“405. Mit der Entmythologisierung geht es Bultmann also nicht um die Eliminierung des Mythos, sondern um die sachgemäße Auslegung der neutestamentlichen Verkündigung, „die versucht, die tiefere Bedeutung hinter den mythologischen Vorstellungen wieder aufzudecken“406. Sein Vortrag hat innerhalb der Wissenschaft und der Kirche zu hitzigen Diskussionen und Verwerfungen geführt und prägt das Erbe seiner Theologie bis heute.407 Im Folgenden wird der 401 Vgl. H, K, Bultmanns Entmythologisierungsvortrag im Rahmen seiner Hermeneutik, in: Ders., Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, Tübingen 2016, 211–226, 218. 402 H, H, Bultmanns „existentiale Interpretation“ – Untersuchungen zu ihrer Herkunft, in: ZThK 100 (2003), 280–324, 320. 403 Vgl. L, C, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT I/133), Tübingen 1999, 280–282; H, H, Politische Theologie und existentiale Interpretation. Zur Auseinandersetzung Dorothee Sölles mit Rudolf Bultmann (GlLeh 9), Witten 1973, 42; S, L, Die Hermeneutik als dogmatisches Problem. Eine Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Ansatz des theologischen Verstehens, Gütersloh 1961, 147; H, H, Was ist existentiale Interpretation?, in: Ders., Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze. Zum 65. Geburtstag hg. v. Antje Labahn/ Michael Labahn, Göttingen 1995, 229–251, 230; H, F, Das Schriftverständnis in der Theologie Rudolf Bultmanns (AGTL XIII), Berlin/Hamburg 1964, 116 f. 404 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung (I), in: Hans Werner Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos II. Diskussion und Stimmung zum Problem der Entmythologisierung (ThF 2), Hamburg 1952, 179–208, 184. 405 B, R, Jesus Christus und die Mythologie, in: Ders., Glauben und Verstehen IV, Tübingen 1965, 141–189, 146. 406 Ebd. 407 Ein Zeugnis der Debatte bieten die von Hans-Werner Bartsch herausgegebenen Bände Kerygma und Mythos, in denen der Entmythologisierungsaufsatz Bultmanns gemeinsam mit einer Reihe von Artikeln und Beiträgen zu finden ist (vgl. vor allem B, H-W [Hg.], Kerygma und Mythos I. Ein theologisches Gespräch [ThF 1], Hamburg 31954 sowie D. [Hg.], Kerygma und Mythos II. Diskussion und Stimmung zum Problem der Entmy-

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Entmythologisierung anhand des Vortrags nachgegangen. Zusammen mit der zuvor dargestellten existentialen Interpretation ergeben die Ausführungen ein umfassendes Bild bultmannscher Hermeneutik. Die konkludierenden Bemerkungen am Ende sind als Überleitung zur Betrachtung des Glaubensbegriffs zu verstehen. Zu Beginn seines Vortrages stellt Bultmann lakonisch fest, dass das Weltbild des Neuen Testaments ein mythisches sei.408 Damit zielt er ausdrücklich auf die Darstellung des Heilswegs – das Christusgeschehen – in seiner Bedeutung für den Menschen hab. Diesen sieht er im Neuen Testament in Entsprechung zum allgemein mythischen Weltbild.409 Der Heilsweg werde in mythologischer Sprache verkündigt. Nun ließen sich zwar einzelne Mythologeme ausmachen und andere mythologische Zusammenhänge aus dem Umfeld der Entstehung ableiten und erklären. Allerdings sei dieses mythische Weltbild als solches für den heutigen Menschen unverständlich und somit obsolet geworden. Es sei ihm nicht zuzumuten, „das vergangene mythische Weltbild anzuerkennen“410, weil es sinnlos sei, ein vergangenes Weltbild anzunehmen, und darüber hinaus nicht möglich sei, da man sich ein Weltbild nicht einfach aneignen könne.411 Beide Einsichten der Aporie ergeben sich bei Bultmann aus der Geschichtlichkeit des Daseins. Die Annahme eines vergangenen Weltbilds steht in direktem Widerspruch zur Vorstellung des sich in der Gegenwart je neu gewinnenden Daseins. Aus der Unmöglichkeit einer einfachen Repristination des mythischen Weltbildes ergibt sich für ihn die entscheidende Aufgabenstellung der Theologie.412 Es geht Bultmann um die Suche nach der Wahrheit der neutestamentlichen Aussagen.413 An den Wundererzählungen verdeutlicht Bultmann das Problem. Diese seien an sich „erledigt“414

thologisierung [ThF 2], Hamburg 1952; J, K/B, R, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954). Ein eindrückliches Beispiel für die kirchliche Debatte um die Entmythologisierung beinhaltet der Band von Ernst Kinder, in dem sich Vorträge bayerischer Theologen zum Entmythologisierungsvortrag finden, die in Pfarrversammlungen gehalten wurden (vgl. K, E [Hg.], Zur Entmythologisierung. Ein Wort lutherischer Theologie, München 1952). Zur Diskussion um die Entmythologisierung vgl. unter anderem H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 421–432; D., Bultmanns Entmythologisierungsvortrag im Rahmen seiner Hermeneutik, 211–226; S, S, Entmythologisierungsdebatte, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 411–416; H, H, Was ist existentiale Interpretation?, 229–231; L, A, Rudolf Bultmann und die Frage nach der Entmythologisierung, in: Christian Ammer (Hg.), Das Schöne und Wahre im Einfachen, Hannover 2016, 202–232. 408 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), hg. v. Eberhard Jüngel, München 31988, 12. 409 Vgl. ebd. 410 a.a.O., 14. 411 Vgl. ebd. 412 Vgl. auch B, R, Jesus Christ and Mythology, 39. 413 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 15. 414 A.a.O., 16.

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– erledigt im Sinne der Verständlichkeit für den heutigen Menschen. Jeder Versuch, sie als solche Erzählung im mythologischen Sprachduktus zu retten – sei es durch psychologische Interpretationen oder den Vergleich zu anderen Krankheitsbildern –, bestätige diesen Umstand nur.415 Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.416

In dieser wohl prominentesten Aussage des Vortrags ist Bultmanns Anliegen zusammengefasst. Der moderne Mensch könne ausgehend von der neutestamentlichen Mythologie nicht verstehen, dass es sich beim Christusgeschehen um ein ihn betreffendes Geschehen handle, in dem es um sein Heil gehe, „in dem er zur Erfüllung seines Lebens, seiner Eigentlichkeit käme“417. Für Bultmann steht fest, dass eine Lösung nicht durch „Auswahl oder Abstriche“418 zu haben sei. Ein solcher Selektionismus liegt ihm fern. Das Heilsgeschehen sei genuin mythischen Charakters, der nicht durch einzelne Streichungen oder Selektion aufzubrechen sei: „Man kann das mythische Weltbild nur als ganzes annehmen oder verwerfen.“419 So gibt es für Bultmann keinen anderen Weg als die Entmythologisierung, wenn die Verkündigung des Neuen Testaments noch von Bedeutung sein und somit ihren Anspruch auf Gültigkeit behalten soll. Die Aufgabe der Entmythologisierung sieht er allerdings sowohl im Mythos selbst angelegt als auch durch das Neue Testament aufgegeben. Die Entmythologisierung des Mythos sei angebracht, da sie dem Wesen des Mythos als Mythos am nächsten komme. Bultmann greift hier auf seine Einsichten der existentialen Interpretation zurück. Den Mythos definiert Bultmann wie folgt: Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Grenze seiner Welt und seines eigenen Handelns und Erleidens zu erfahren meint. Er redet von diesen Mächten freilich so, daß er sie vorstellungsmäßig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte, und in den Kreis des menschlichen Lebens, seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten einbezieht. Etwa wenn er von einem Weltei, einem Weltenbaum redet, um den Grund und Ursprung der Welt anschaulich zu machen; oder wenn er von Götterkämpfen redet, aus denen die Zustände und Ordnungen der bekannten Welt hervorgegangen sind. Er redet vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich.420

Mit dieser Definition sieht sich Bultmann mit der aktuellen religionsgeschichtlichen Forschung im Einklang.421 Doch ist es auffällig, dass er das Moment der Urzeitlichkeit des Mythos ausblendet. Dadurch weitet er den Mythosbegriff aus,

415

Vgl. ebd. Ebd. 417 A.a.O., 20. 418 A.a.O., 21. 419 Ebd. 420 A.a.O., 22. 421 Vgl. a.a.O., 22 f. Anm. 20. 416

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der nun beispielsweise auch zur Beschreibung von eschatologischen Vorstellungen gelten könne, da Bultmann jede Art von „welthafte[r] Vorstellung von Gott und göttlichem Handeln bereits als mythologisch klassifiziert“422 und hauptsächlich auf den anthropomorphen und vorwissenschaftlichen Charakter des Mythos verweist.423 Bultmann geht also davon aus, dass die Vorwissenschaftlichkeit des Mythos überwunden werden müsse. Der Mythos selbst wolle anthropologisch, das heißt existential, verstanden und interpretiert werden.424 In mythische Sprache gekleidet, fänden im Mythos bestimmte Inhalte ihren sprachlichen Ausdruck. Es werde zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch nicht Herr seiner selbst und der Grund seiner Existenz in einer externen Größe zu finden sei.425 Indem der Mythos beispielsweise „von den Göttern menschlich“426 rede, verdecke er mit dieser verobjektivierenden Sprache selbst das von ihm aufgegebene Anliegen der kritischen Distanz durch eine existentiale Interpretation. In gewisser Hinsicht verdunkle der Mythos also als Mythos selbst den richtigen Weg seiner Auslegung. Der Mythos verhülle sein eigenes Anliegen durch seine sprachliche Gestalt, obwohl er selbst existential verstanden werden wolle.427 Bultmann hat seine Vorstellung vom Mythos bis 1961 stets wiederholt.428 Sein Mythosverständnis befindet sich noch auf der Linie der Mythoskritik des 18. Jahrhunderts.429 Der Mythos wird als Gegenentwurf zur Wissenschaft gesehen. Diese Überzeugung teilt Bultmann: „Mythisches Denken ist der Gegenbegriff zum wissenschaftlichen Denken.“430 Bultmanns Mythosverständnis scheint nur auf den ersten Blick pejorativer Natur zu sein. Denn mit seinem Ansatz der existentialen Interpretation, auf den die Entmythologisierung zielt, gelingt es ihm, den Mythos als „vehicle of revelation“431 zu würdigen. Bultmann stellt damit die epistemische Qualität des Mythos keineswegs in Frage. Vielmehr betont er die bleibende Bedeutung für das menschliche Dasein. Es geht ihm um das Erschließen der Bedeutungsvielheit, das heißt um die Aufdeckung der Sinnpotentiale in 422 P, W, Die weltgründende Funktion des Mythos und der christliche Offenbarungsglaube, in: Hans Heinrich Schmid (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988, 108–122, 116. 423 Vgl. K, U H. J., Arbeit am Mythos? Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann, in: NZSTh 34 (1992), 163–181, 167–169. 424 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 22. 425 Vgl. a.a.O., 23. 426 A.a.O., 22. 427 Vgl. a.a.O., 23. 428 Vgl. S, A, Legacy of Bultmann’s Demythologizing, in: Lukas Bormann/Christopf Landmesser (Hg.), Rudolf Bultmann und die neutestamentliche Wissenschaft (HUTh 88), Tübingen 2022, 65–77, 75. 429 Vgl. K, P-G, Bedeutung der Entmythologisierung, in: Lukas Bormann/Christopf Landmesser (Hg.), Rudolf Bultmann und die neutestamentliche Wissenschaft (HUTh 88), Tübingen 2022, 141–162, 154. 430 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung (I), 180. 431 C, D W., Demystifiying the program of demythologizing. Rudolf Bultmann’s theological hermeneutics (HTR 110) 2017, 1–23, 16.

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der Gegenwart.432 Bultmann sieht sich Für Bultmann ist der Mythos ein fiktionaler Text, in dem es „um die Erfassung je meiner Existenz geht“433: Der Mythos will von einer Wirklichkeit reden, die jenseits der objektivierbaren, der beobacht- und beherrschbaren Wirklichkeit liegt, und zwar von einer Wirklichkeit, die für den Menschen von entscheidender Bedeutung ist; die für ihn Heil oder Unheil, Gnade oder Zorn bedeutet, die Respekt und Gehorsam fordert.434

Eine geschichtliche Standortbestimmung liefert Bultmann wohl deshalb nicht, da für ihn die bleibende Relevanz des Mythos aufgrund seiner Bedeutungsebene offensichtlich ist. Ist die existentiale Interpretation des Mythos das Ziel, dann erscheint ein Nachdenken über die Verfasstheit des gegebenen Mythos unnötig. So bleibt die Gegenüberstellung von Mythos und Wissenschaft für den bultmannschen Mythosbegriff maßgeblich, was aber nicht zu einer Ablehnung des Mythos, sondern zu dessen Bearbeitung führt. Vom Neuen Testament ausgehend stelle sich die Frage der Entmythologisierung allein deshalb, da verschiedene Vorstellungen zur Schöpfung, zur Christologie oder zur Anthropologie miteinander kollidierten. So sei zum einen der Mensch als unfrei vorgestellt, zum anderen aber auch zur Entscheidung gerufen.435 Aufgrund dieser teils diametralen Vorstellungen sei die Aufgabe der Entmythologisierung aufgegeben. Diese Aufgabenstellung sei keineswegs neu und Bultmann sieht sich auch nicht als den ersten an, der sie bearbeitet hat. Schon in der kritischen Theologie des 19. Jahrhunderts sei die Aufgabe erkannt und bearbeitet worden, allerdings in falscher Weise, da „mit der Ausscheidung der Mythologie auch das Kerygma selbst ausgeschieden wurde.“436 Adolf von Harnack, gereicht Bultmann hier als Negativbeispiel. Mit seinem Versuch eines KernSchale-Modells sei „in Wahrheit das Kerygma als Kerygma eliminiert [worden], d. h. als Botschaft vom entscheidenden Handeln Gottes in Christus“437. Das Kerygma ist für die Theologie Bultmanns entscheidend. Es verdeutliche auf eigentümliche und exklusive Weise, dass dem Menschen im Christusgeschehen Heil widerfahren sei, und der Mensch durch das Christuskerygma zur Freiheit befreit werde. Die Religionsgeschichtliche Schule habe das Problem der Mythologie des Neuen Testaments zwar vollends erkannt, allerdings durch ihren Religionsbegriff auch das Christuskerygma ausgeschaltet.438 So bleibe die Theologie vor die Aufgabe der Entmythologisierung gestellt: „Kann es eine entmythologisierende In432 S. G, V, Rationalität und Mythos im Glauben, in: Christof Landmesser/ Doris Hiller (Hg.), Wahrheit – Glaube – Geltung. Theologische und philosophische Konkretionen, Leipzig 2019, 13–28, 27. 433 B, R, Über den Begriff „Mythos“, in: Ders./Paul Althaus, Briefwechsel 1929–1966, hg. v. Matthias Dreher/Gotthard Jasper, Tübingen 2012, 89–96, 94. 434 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 133. 435 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 24. 436 A.a.O., 25. 437 A.a.O., 26. 438 Vgl. a.a.O., 27.

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terpretation geben, die die Wahrheit des Kerygmas als Kerygmas für den nicht mythologisch denkenden Menschen aufdeckt?“439 Bultmann stellt auch die Frage nach der bleibenden Bedeutsamkeit der neutestamentlichen Schriften und somit des Heilswegs für den modernen Menschen. Es geht ihm um das Hören des Anspruches des Kerygmas. Dies ist für ihn nur über eine existentiale Interpretation möglich, die Mensch und Schrift in einen Dialog bringe, der für jenen von Bedeutung sei und ihm ein Verständnis seiner selbst liefern könne.440 Bultmann verdeutlicht seinen Ansatz, indem er die Entmythologisierung selbst vollzieht. Dazu stellt Bultmann zunächst das ungläubige Dasein dem gläubigen Dasein gegenüber. Hier finden sich bereits erarbeitete Motive aus den Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Daseins sowie zum Theologiebegriff wieder. Außerhalb des Glaubens versuche der Mensch, sich zu sichern, lebe aus dem Verfügbaren und in Angst.441 Im Glauben hingegen lasse der Mensch sich fahren und lebe aus der Gnade Gottes, also aus dem Unverfügbaren. Das menschliche Dasein gewinne seine Freiheit durch das Gnadengeschenk Gottes und existiere dadurch eschatologisch, in einer „Distanz zur Welt“442, die als eine zwischen „dem ,noch nicht‘ und dem ,doch schon‘“443 zu verstehen sei. Bei Paulus und noch stärker bei Johannes erblickt Bultmann Momente der Entmythologisierung der apokalyptischen Theologie. So sei in diesen neutestamentlichen Schriften schon eine Entmythologisierung vollzogen worden, da in ihnen die futurische Eschatologie in die präsentische Vorstellung übergegangen sei.444 Bultmann unterstreicht somit die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Entmythologisierung. Auf ein besonderes Mythologumen hebt er allerdings ab, auf das Faktum, dass Glauben nach neutestamentlicher Vorstellung immer Glauben an Christus sei.445 Glauben sei allein durch Christus geoffenbart worden und exklusiv an das Christusgeschehen gebunden. Die entscheidende Frage lautet nach Bultmann also, „ob das christliche Seinsverständnis vollziehbar ist ohne Christus“446, sofern davon auszugehen ist, dass das Christusgeschehen einen mythologischen Rest beinhaltet. Bultmann attestiert der Philosophie im Anschluss an Dilthey, Jaspers und Heidegger, dass sie dem christlichen Seinsverständnis in ihren Arbeiten recht nahe käme, ohne auf das Christusgeschehen Bezug zu nehmen.447 Bultmann bringt hier noch einmal das auf den Punkt, was in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie schon angeklungen ist. So unterscheide sich die neutestamentliche Vorstellung von Glauben dann auch in einem entscheidenden Punkt von der philosophischen Anschauung des 439

A.a.O., 28. Vgl. a.a.O., 29. 441 Vgl. a.a.O., 32–34. 442 A.a.O., 35. 443 A.a.O., 36. 444 Vgl. ebd. 445 Vgl. a.a.O., 39. 446 Ebd. 447 Vgl. a.a.O., 39–43. 440

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Daseins. Denn während die Philosophie das Erreichen der Eigentlichkeit in den Kompetenzbereich des Menschen verlagere, behaupte das Neue Testament, daß sich der Mensch von seiner faktischen Weltverfallenheit gar nicht frei machen kann, sondern durch eine Tat Gottes frei gemacht wird; und seine Verkündigung ist nicht eine Lehre über die ,Natur‘, über das eigentliche Wesen des Menschen, sondern eben die Verkündigung dieser frei machenden Tat Gottes, die Verkündigung des in Christus vollzogenen Heilsgeschehens.448

So spiegelt sich hier die Einsicht wider, dass Philosophie und Theologie den gleichen Gegenstand hätten, allerdings anders mit ihm umgingen. Der Philosophie räumt Bultmann auch hier grundsätzlich ein, vom verfallenen Dasein zu sprechen und gewisse Existentialien hervorzubringen. An einer theologischen „Wiederholung der Philosophie“449 hält er also fest. Das Verstehen des Glaubens als konkrete Existenzweise schreibt er in den Rahmen der ontologischen Daseinsanalyse der Philosophie ein. Damit zeigt er auf, dass sich die neutestamentliche Verkündigung nicht in formal-ontologischer, sondern in inhaltlich-ontischer Hinsicht von der philosophischen Anschauung unterscheidet.450 Nach neutestamentlicher Sicht sei der Mensch im Versuch, seine Eigentlichkeit selbst zu erlangen, als Sünder zu verstehen. Die Behauptung der Eigenmächtigkeit und jeder Versuch der Sicherung verfehlten das eigentliche Ziel, die Möglichkeit der true existence. Während die Philosophie von der Möglichkeit des Freiheitsgewinns als anthropologische Annahme ausgehe, behaupte das Neue Testament, „daß der Mensch selber ganz und gar verfallen ist.“451 So sieht Bultmann den Sinn des Christusgeschehens, das durch das Kerygma vermittelt wird, in der Befreiung des Menschen aus seiner Verfallenheit.452 Die true existence verdankt sich nach Bultmann also exklusiv der Tat Gottes, die im Christusgeschehen zum Ausdruck komme. Bultmann zeichnet die neutestamentliche Botschaft in ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein nach: Das in Christus sich ereignende Geschehen ist also die Offenbarung der Liebe Gottes, die den Menschen von sich selbst befreit zu sich selbst, indem sie ihn zu einem Leben der Hingabe im Glauben und in der Liebe befreit. Glaube als die Freiheit des Menschen von sich selbst, als die Offenheit für die Zukunft, ist nur möglich als Glaube an die Liebe Gottes. Glaube an die Liebe Gottes ist aber so lange Eigenmächtigkeit, solange Gottes Liebe ein Wunschbild, eine Idee ist, solange Gott seine Liebe nicht offenbart hat. Christlicher Glaube ist deshalb Glaube an Christus, weil er der Glaube an die offenbarte Liebe Gottes ist. Nur wer schon geliebt ist, kann lieben; nur wem Vertrauen geschenkt ist, kann vertrauen; nur wer Hingabe erfahren hat, kann sich hingeben.453

448

A.a.O., 45. B, R, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, 64. 450 Vgl. P, O, Glauben und Verstehen, 112; H, K, Bultmanns Entmythologisierungsvortrag im Rahmen seiner Hermeneutik, 215 f. 451 B, R, Neues Testament und Mythologie, 46. 452 Vgl. a.a.O., 46–50. 453 A.a.O., 51. 449

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Die Offenbarung ist das Christusgeschehen, womit der Glaube stringent als Glaube an Christus verstanden wird. Diese Einsicht ist wesentlich für Bultmanns Verständnis des Kerygmas, das er immer als christologisches Kerygma versteht. Für Bultmann bleibt an dieser Stelle eine Anschlussfrage offen: Ist dieses Geschehen nicht auch als ein mythisches Ereignis zu verstehen? Kann dieses Geschehen dem modernen Menschen durch das Mittel der Entmythologisierung in seiner Bedeutung plausibel gemacht werden oder bleibt ein mythischer Rest bestehen?454 Die Entmythologisierung steht und fällt mit der Frage nach der Entmythologisierung des Christusgeschehens, sieht Bultmann in diesem eschatological event doch das Heil des Menschen verbürgt. Lässt sich also das Christusgeschehen in seiner Bedeutung für den Menschen vergegenwärtigen?455 In Jesus Christus sieht Bultmann mythische und historische Elemente miteinander verbunden.456 Die „neutestamentliche Verkündigung identifiziert den präexistenten, inkarnierten und auferstandenen Sohn Gottes mit dem historischen Menschen Jesus von Nazareth.“457 Es sei zu fragen, ob in der mythologischen Rede von der neutestamentlichen Verkündigung nicht nur die Heilsbedeutung der historischen Gestalt ausgedrückt werden solle und man somit das Christusgeschehen als solches entmythologisieren könnte oder ob die Heilsbedeutung nicht ohne mythologische Rede zu haben sei.458 Lässt sich, und wenn ja, inwieweit das Christusgeschehen als eschatological event für das gegenwärtige Dasein entmythologisieren? Oder bleibt dem Menschen nichts anderes übrig als es im Sinne eines sacrificum intellectus in seiner mythischen Einbettung glaubend zu repristinieren? Bultmann spitzt die Frage auf die Rede von Kreuz und Auferstehung zu und fragt, ob diese beiden Heilsereignisse neben ihrem mythischen Verständnis als „ein geschichtliches Ereignis verstanden werden“459 können, also in ihrer Bedeutsamkeit für das gläubige Dasein. Auch hier wird deutlich, dass ein einfaches Verständnis der neutestamentlichen Verkündigung nicht zu haben ist, sondern dass diese selbst eine bestimmte Art des Verstehens zugrunde legt. Denn aus dem rein mythischen Verständnis gehe dem Menschen nicht auf, was dieses Ereignis mit ihm zu tun habe. Bultmann unterstreicht damit erneut die Auslegungsbedürftigkeit der neutestamentlichen Botschaft als dieser selbst eingeschriebene Aufgabe. Die Vorstellungen des Neuen Testaments zum Kreuzestod Jesu seien zunächst mythischer Natur, was sich vor allem an den Opfer- und Sühnevorstellungen zeige.460 Über diese Vorstellungen sei aber schon aus neutestamentlicher Perspektive hinauszugehen, da sie faktisch viel mehr aussagen wollten, „nämlich daß der 454

Vgl. a.a.O., 53. Vgl. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 288 f. 456 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 53. 457 H, K, Bultmanns Entmythologisierungsvortrag im Rahmen seiner Hermeneutik, 216. 458 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 53 f. 459 A.a.O., 54. 460 Vgl. ebd. 455

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Glaubende durch das Kreuz Christi von der Sünde als der ihn beherrschenden Macht, vom Sündigen, frei geworden ist“461. Durch die kosmische Dimension werde das historische Ereignis in seiner Bedeutung zunächst wahrgenommen. Allerdings stecke hinter der mythischen Aussage noch mehr: das Verständnis eines eschatologischen Ereignisses, des eschatological events. Durch dieses Verständnis wird das Kreuz bei Bultmann bedeutsam für das gegenwärtige Dasein, das sich durch dieses Geschehen neu versteht und somit Anteil an diesem gewinnt: „[A]n das Kreuz Christi glauben, heißt […], das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen zu lassen.“462 Es geht um die gegenwärtige Bedeutung für das Dasein, das sich als Teil dieses Geschehens verstehe. In gewisser Weise scheint hier erneut der Dialog mit der Geschichte durch. Das historische Ereignis des Kreuzestodes wird nicht als verobjektivierbares, singuläres Ereignis verstanden, sondern als Geschehen in seiner Bedeutung für das gegenwärtige Dasein ernst genommen. Gerade im geschichtlichen Verständnis erschließt sich für Bultmann das Kreuzesgeschehen als Heilsgeschehen.463 Es gelingt ihm hier, mythologische Sprache in Bezug auf ein historisches Ereignis zu betrachten und gleichzeitig die gegenwärtige Bedeutung und somit Geltung der neutestamentlichen Verkündigung zu betonen, sodass seine Äußerungen zum Kreuz als eindringliches Beispiel seiner Entmythologisierung gelten.464 In ähnlichen Bahnen sind Bultmanns Äußerungen zur Auferstehung zu verstehen. Auch wenn es sich dabei nicht wie bei der Kreuzigung um ein historisches Ereignis handelt, gehe sie nicht in der nachträglich-mythischen Beglaubigung der Kreuzigung auf. In ihrer Charakterisierung als kosmisches Ereignis seien beide miteinander verbunden, gehörten aber auch auf andere Weise zusammen.465 Beide seien als eschatologisches Ereignis zu verstehen. Somit habe der glaubende Mensch nicht nur Anteil am Kreuzesgeschehen, sondern auch am Auferstehungsgeschehen.466 Die Parallelität beider Ereignisse streicht Bultmann besonders heraus: Die Auferstehung ist also kein mythisches Ereignis, das die Bedeutung des Kreuzes glaubhaft machen könnte; sondern sie wird ebenso geglaubt wie die Bedeutung des Kreuzes. Ja, der Auferstehungsglaube ist nichts anderes als der Glaube an das Kreuz als Heilsereignis, an das Kreuz als Kreuz Christi.467 461

A.a.O., 55. Ebd. 463 Vgl. a.a.O., 56. 464 „Die mythologische Rede will im Grunde nichts anderes als eben die Bedeutsamkeit des historischen Ereignisses zum Ausdruck bringen. Das historische Ereignis des Kreuzes hat in der ihm eigenen Bedeutsamkeit eine neue geschichtliche Situation geschaffen; die Verkündigung des Kreuzes als des Heilsereignisses fragt den Hörer, ob er sich diese Bedeutung aneignen, ob er sich mit Christus kreuzigen lassen will.“ (a.a.O., 57). 465 Vgl. a.a.O., 57 f. 466 Vgl. a.a.O., 60. 467 A.a.O., 60 f. 462

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Nach Bultmann bezeugen also beide, der Glaube an das Kreuz und der Glaube an die Auferstehung, inhaltlich dasselbe: „Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, begegnet uns im Worte der Verkündigung, nirgends anders. Eben der Glaube an dieses Wort ist in Wahrheit der Osterglaube.“468 Die Betonung des unhintergehbaren Zusammenhangs von Glauben und Verstehen Bultmanns wird deutlich, wenn er nur wenig später präzisiert: „Der verstehende Glaube an das Wort der Verkündigung ist der echte Osterglaube; er ist der Glaube, daß das verkündigte Wort legitimiertes Gotteswort ist.“469 Das Heilsgeschehen wird für Bultmann also immer wieder neu gegenwärtig in der Verkündigung. Somit zählt er die Verkündigung selbst zum Heilsgeschehen.470 Bultmann beschreibt den Heilsweg von der Inkarnation über den Kreuzestod Jesu bis hin zur gegenwärtigen Predigt. Durch letztere erlange das gläubige Dasein Anteil am zunächst vergangenen Geschehen, verstanden als eschatological event. Diese Teilhabe ist für Bultmann folglich nur über eine Art hermeneutischen Umweg möglich, über die existentiale Interpretation der neutestamentlichen Verkündigung, die sich im Hören der Predigt aktualisiere. In dieser meint er, gerade der Intention des Neuen Testaments zu folgen und die Paradoxie der neutestamentlichen Verkündigung zu ihrem vollen Recht zu bringen; die Paradoxie nämlich, daß Gottes eschatologischer Gesandter ein konkreter historischer Mensch ist, daß Gottes eschatologisches Handeln sich in einem Menschenschicksal vollzieht, daß es also ein Geschehen ist, das als eschatologisches nicht weltlich ausweisen kann.471

Die Bedeutung dieses Zusammenhangs kann nach Bultmann nur vom gläubigen Dasein verstanden werden. Das Verstehen des gläubigen Daseins läuft bei Bultmann zunächst parallel zu dem des ungläubigen Daseins. Jedoch stellten sich die zu verstehenden Phänomene dem gläubigen Dasein anders dar. Das dieses neue Verstehen sich nicht aus den Möglichkeiten menschlichen Daseins selbst ergebe, betont Bultmann auch an anderer Stelle eindrücklich: „Der Glaube ist in seinem eigenen Sinne als das Dasein umgestaltend nicht wahrnehmbar, er ist als das Ergreifen Gottes und als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins.“472 Das vorgläubige Dasein könne das, worum es eigentlich gehe, nicht verstehen. Die eschatologische Relevanz im Christusgeschehen stehe nur dem gläubigen Dasein als gerechtfertigtem Dasein zur Verfügung. Die Entmythologisierung sowie die existentiale Interpretation sind bei Bultmann von dieser Einsicht geleitet. Sie folgten ihrem Anliegen nach der neutestamentlichen Botschaft vom christologischen Kerygma. Aufgrund der Anrede Gottes, verstanden als Kerygma, verstehe der Mensch das eschatological event, das σκα νδαλον473, das Christusge468

A.a.O., 61. Ebd. 470 Vgl. H, K, Bultmanns Entmythologisierungsvortrag im Rahmen seiner Hermeneutik, 217. 471 B, R, Neues Testament und Mythologie, 64. 472 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 311. 473 Ebd. 469

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schehen. Mithilfe des Kerygmas bringt Bultmann zum Ausdruck, dass zum einen Glauben als Existenzvollzug eine neue Weise des Verstehens sei und zum anderen der Mensch sich durch das Kerygma verstanden wisse. Auf Basis dieser Grundüberzeugung ist das Entmythologisierungsanliegen Bultmanns zu verstehen. Es geht ihm darum, zu verdeutlichen, was mit den neutestamentlichen Aussagen gemeint ist, sie also in ihrer Bedeutung für das menschliche Dasein zur Geltung zu bringen. Dies gelinge nur, indem man über die psychologischen, soziologischen und historischen Verständnisse hinaus gehe: Die Verkündiger, die Apostel: Menschen in ihrer historischen Menschlichkeit verständlich! Die Kirche: ein soziologisches, historisches Phänomen; ihre Geschichte historisch, geistesgeschichtlich verständlich! Und dennoch alles eschatologische Phänomene, eschatologisches Geschehen! Alle diese Behauptungen ein ,Ärgernis‘ (σκα νδαλον), das nicht im philosophischen Dialog, sondern nur im gehorsamen Glauben überwunden wird. Alles Phänomene, die der historischen, der soziologischen, der psychologischen Betrachtung unterliegen, und die doch für den Glauben eschatologische Phänomene sind. Gerade ihre Nichtausweisbarkeit sichert die christliche Verkündigung vor dem Vorwurf, Mythologie zu sein. Die Jenseitigkeit Gottes ist nicht zum Diesseits gemacht wie im Mythos, sondern die Paradoxie der Gegenwart des jenseitigen Gottes in der Geschichte wird behauptet: ,Das Wort ward Fleisch.‘474

Bultmann geht es allein um die Betonung des Paradoxes, dass sich in einem historischen Geschehen zugleich ein eschatologisches Ereignis zeige. „[E]in mythologischer Rest“475 bliebe lediglich bestehen, wenn man die Rede vom Tun Gottes als Mythologie verstünde.476 Bultmann schlägt unter Ablehnung einer solchen Annahme ein differenzierteres Verständnis des Handeln Gottes vor. Er sieht Gottes Handeln nicht als eines, „das sich zwischen weltlichem Handeln oder weltlichen Ereignissen abspielt, sondern als eines, das sich in ihnen ereignet. […] In ihnen aber findet Gottes verborgenes Handeln statt.“477 Auf diese Verhältnisbestimmung kommt es Bultmann an. Die mythologische Rede verdecke die Eigenart göttlichen Handelns und damit gleichzeitig die Bedeutung des Heilsgeschehens für das menschliche Dasein. Resümierend lassen sich für die existentiale Interpretation und Entmythologisierung drei Einsichten festhalten, die für Bultmanns Theologie richtungsweisend und für sein Verständnis des Kerygmas bedeutsam sind. Erstens wird deutlich, dass es Bultmann im Zusammenhang des Verstehens der neutestamentlichen Verkündigung um ein „hermeneutisches Problem- und Methodenbewußtsein“478 geht. Entmythologisierung ist nicht Eliminierung des Mythos479 und existentiale

474

B, R, Neues Testament und Mythologie, 64. A.a.O., 63. 476 Vgl. ebd. 477 B, R, Jesus Christus und die Mythologie, 173. 478 K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes. Positionen, Probleme, Perspektiven, Göttingen 2001, 31. 479 Vgl. S, W, Glauben und Verstehen. Rudolf Bultmann und die moderne 475

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Interpretation ist nicht als Vermenschlichung der christlichen Heilsbotschaft zu verstehen. Nichts läge Bultmann also ferner als den Mythos zu verabschieden. Vielmehr hebt er auf eine angemessene Auslegung des Mythos ab, die die Bedeutung der neutestamentlichen Verkündigung für das heutige gläubige Dasein zum Gegenstand hat.480 Zweitens geht es ihm daran anschließend um die Frage nach dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens für den modernen Menschen481 und um die Erhellung der neutestamentlichen Verkündigung mithilfe der Klärung der jeweils verwendeten Begriffe und Zusammenhänge. Es ist „die Anstrengung des Begriffs“482, die ihn antreibt.483 Drittens stellt sich für Bultmann die Frage nach dem Verstehen nicht unabhängig vom Glauben. Dieser Umstand wird sowohl in dem Titel als auch in der Selbstanzeige zu den Bänden Glauben und Verstehen deutlich: So gehe es in allen Aufsätzen um das Problem, welches Verstehen dem christlichen Glauben gegeben sei. Das ist einmal die Frage, wie das Kerygma, das den Glauben begründet, zu verstehen sei, aber auch die Frage, wie unter dem Kerygma der Mensch sich selbst als Glaubender zu verstehen habe.484

Diese Aufgabenstellung deckt sich mit den Äußerungen Bultmanns in den Epilegomena seiner Theologie des Neuen Testaments, in der er auf „das aus Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Welt und Mensch“485 abhebt. Bultmanns hermeneutische Überlegungen sind eng an seine Vorstellung des christlichen Glaubens gebunden. Sie ergeben sich für ihn aus konsequenter Exegese und aus der Überzeugung von der Bedeutung des Christusgeschehens für Lebenswelt. Ansprache vom 7.9.2002 aus Anlaß der Aufstellung einer Büste von Rudolf Bultmann in Oldenburg. (https://www.kirche-oldenburg.de/fileadmin/Redakteure/PDF/bul tmannschmithals.pdf, zuletzt abgerufen am 17.03.2023); L, A, Rudolf Bultmann und die Frage nach der Entmythologisierung, 212. 480 „Now it is the Word of God which calls man into genuine freedom, into free obedience, and the task of de-mythologizing has no other purpose, but to make clear the call of the Word of God. It will interpret the Scripture, asking for the deeper meaning of mythological conceptions and freeing the Word of God from a by-gone world-view.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 43). 481 Vgl. H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams. Herkunft, Bedeutung und Problematik einer Denkfigur Bultmanns, in: Ders., Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, Tübingen 2016, 227–253, 228. 482 A.a.O., 227. 483 Ein eindrückliches Zeugnis für diese Begriffsklärungen bilden seine 26 Artikel zum Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. Im Zusammenhang seiner Mitarbeit am Wörterbuch beklagt er gegenüber Heidegger eine mangelnde Begriffsklärung: „[D]ie meisten der Lexikon-Artikel zeigen, daß bei den jüngeren Leuten (von den älteren nicht zu reden) die Fähigkeit zu wirklicher Interpretation der neutestamentlichen Begriffe erschreckend gering ist.“ (B, R/H, M, Briefwechsel 1925–1975, 177 f.). 484 Selbstanzeige von „Glauben und Verstehen“, Bultmann an O. Siebeck, zitiert nach H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 218. 485 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 585.

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das moderne Dasein. Durch seine Hermeneutik verdeutlicht er, dass Glauben nicht als bloßes Für-wahr-Halten gelten kann, sondern als eine bestimmte Art des Verstehens zu begreifen ist. Glauben und Verstehen gehören zusammen. Damit geht einher, dass es Bultmann beim Verstehen um ein Selbst-, Wirklichkeitsund Gottverstehen geht, die für ihn miteinander in Verbindung stehen.486 Diese Einsichten prägen Bultmanns Glaubensbegriff, dem im Folgenden nachgegangen wird.

2.4 Glauben als „freie Tat des Gehorsams“ Es bietet sich an, eine Klärung des bultmannschen Glaubensbegriffs mit seinem πιστευ ω κτλ.-Eintrag aus dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament beginnen zu lassen.487 In diesem finden sich die zuvor erarbeiteten hermeneutischen Anliegen Bultmanns umgesetzt. Ausgehend vom Neuen Testament kommt er zu seinem Verständnis des Glaubens. Dieser Weg kann somit selbst als „Entmythologisierung“ bezeichnet werden. So leistet die Untersuchung des πιστευ ω κτλ.-Eintrags gleich ein Zweifaches: zum einen die Annäherung an den Glaubensbegriff und zum anderen die Schaffung eines Verständnisses für dessen Genese ausgehend vom neutestamentlichen Zeugnis. Im Neuen Testament sei die alttestamentliche Vorstellung des Glaubens als Gehorsam aufgenommen worden. Glauben an Gott heiße im Alten Testament, Gott als Gott anzuerkennen und ihm mit Gehorsam zu begegnen.488 Das Gehorsamsmoment habe sich dann immer weiter durchgesetzt, dabei allerdings ob seiner strukturellen Verwendung die Entscheidung des geschichtlichen Daseins verdeckt.489 Das neutestamentliche Bedeutungsspektrum reicht nach Bultmann von Vertrauen über Hoffen bis Gehorchen. Das Gehorchen werde vor allem dadurch deutlich, dass Unglaube nicht nur mit αÆ πιστειÄν, sondern auch mit αÆ πειθειÄν wiedergegeben werde.490 Aus den ausführlichen Vorüberlegungen kon486 „Ist die Weise, in welcher uns Gottes Wort in Menschenworten begegnet, keine andere als das Wort des Glaubens, so ist der Glaube selbst – wie von R. Bultmann zu lernen bleibt – als eine Weise des Verstehens zu interpretieren. Glaube bedeutet nichts anderes, als das Wort des Glaubens in einer ganz bestimmten Weise zu verstehen. Und zwar ist ein Verstehen menschlicher Rede von Gott in Christus gemeint, durch welches der Adressat solcher Rede sich selbst und seine Wirklichkeit neu verstehen lernt.“ (K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 236). 487 Auf die Bedeutung des Artikels macht vor allem Jüngel aufmerksam (vgl. J, E, Glauben und Verstehen, 37–42). Zur Mitarbeit Bultmanns am Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament s. B, L, Rudolf Bultmann und das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament. Eine Neubewertung, in: ZThK 118 (2021), 23–56. Zum Verhältnis von Wörterbuchartikeln und Bultmanns Theologie vgl. B, M, Lexikonartikel, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 192–199, 196–199. 488 Vgl. B, R, Art. πιστευ ω κτλ., in: ThWNT VI (1959), 174–230, 198. 489 Vgl. a.a.O., 201. 490 Vgl. a.a.O., 206.

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statiert Bultmann für die speziell christliche Verwendung des πι στις-Begriffs, dass Glaube die „Annahme des Kerygmas von Christus“491 meine. Die neutestamentliche Vorstellung führt er zurück auf das, was Gott in Jesus Christus getan hat. Bultmann rückt also das Christusgeschehen ins Zentrum seiner Überlegungen. Im Christusgeschehen sieht er das entscheidende Geschehen für das menschliche Dasein vollzogen, an dem es im Glauben Anteil habe.492 Bultmann ist interessiert an einer Inklusivität des Heilsereignisses für das menschliche Dasein, also an einem „persönlichen Verhältnis zu Christus“493. Es zeigt sich in aller Klarheit, dass Bultmanns theologisches Programm Eingang in seine Beiträge zum Theologischen Wörterbuch gefunden hat.494 Hier findet sich in gewisser Hinsicht eine Entmythologisierung par excellence: Das Entscheidende aber ist das Folgende: der Glaube an Christus als die Annahme des Kerygma von ihm bejaht nicht etwa nur die Vorhandenheit einer bis dahin unbekannten göttlichen Person, einer ,fremden Gottheit‘ (Ag 17, 18). Denn die Gestalt Jesu Christi ist von ihrem ,Mythos‘, d. h von der durch sein Leben, Sterben und Auferstehen geschehenen Geschichte unabtrennbar.495

Präzise fragt Bultmann hier nach dem Verhältnis von historischer Person und Heilsgeschehen und gewissermaßen nach der Aneignung dieses Zusammenhangs. So gehe es nicht um ein reines Bejahen des Zusammenhangs, ein Festhalten am Mythos entgegen der Vernunft. Vielmehr sei eine positive Antwort nur im Glauben möglich.496 Im Glauben werde das Kerygma bejaht als Geschehen, das somit in seiner Bedeutung für das glaubende Subjekt wahrgenommen werde. Bultmann zielt auf die Erschlossenheit der Existenz ab: Der Glaube an Jesus Christus aber ist in seinem ursprünglichen und eigentlichen Sinne nicht Gehorsam gegen den immer schon bekannten Herrn; vielmehr wird im Glauben selbst erst die Existenz dieses Herrn erkannt und anerkannt: der Glaube ergreift die Überzeugung, daß es für ihn diesen Herrn, Jesus Christus, gibt. Denn erst im Kerygma begegnet ihm dieser Herr, und auf das Kerygma hin glaubt er, und er kann auch ferner immer nur auf diese Botschaft hin glauben. Diese wird nie zu einer bloß orientierenden Mitteilung, die alsbald mit dem Wissen entbehrlich würde, sondern sie bleibt immer der Grund des Glaubens. [...] Deshalb aber sind der Glaube an das Kerygma und an die durch es vermittelte, Person untrennbar, und der Glaube bleibt immer in diesem Sinne ein ,Wagnis‘, daß er auf das Kerygma hin glaubt.497

Die Exklusivität des Kerygmas wird deutlich. Erst im Kerygma begegne dem Menschen Gott und aufgrund des Kerygmas habe er Anteil am Heilsgeschehen. 491

A.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 210 f. 493 A.a.O., 211. 494 Vgl. B, L, Rudolf Bultmann und das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament, 39–42; B, M, Lexikonartikel, 198 f. 495 B, R, Art. πιστευ ω κτλ., 212. 496 Vgl. ebd. 497 Ebd. 492

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So verstandener Heilsglaube sei aus neutestamentlicher Perspektive sowohl hinsichtlich seines Entstehens als auch seines Status ins Auge gefasst.498 Bultmann unterstreicht somit seine Rede vom Glauben als Existenzweise. Es änderten sich nicht die formal-ontologischen Grundbedingungen menschlichen Daseins, sondern die konkret-ontischen Ausdeutungen. Bultmann verdeutlicht auf diese Weise, dass Glauben ein bestimmter Modus menschlicher Existenz sei, der für ihn den einzigen Weg zur true existence darstellt. Die πι στις sei darüber hinaus an die Tat Gottes, also an das Christusgeschehen, gebunden. Unter dieser versteht Bultmann vor allem Inkarnation, Kreuz und Auferstehung. Somit kann er unter Bezugnahme auf Johannes auch Jesus als den Logos, das Wort, bezeichnen, das sich im Wort der Verkündigung erschließe.499 In allem erweist sich die πι στις als der Akt, kraft dessen sich der Mensch in der Antwort auf Gottes eschatologische Tat in Christus aus der Welt herausstellt und die radikale Hinwendung zu Gott vollzieht; als der Akt, in dem sich die neue eschatologische Existenz des Christen gründet, und als die Haltung, die ihr eigen ist. Und als solche die Existenz konstituierende Haltung beherrscht die πι στις das Leben schlechthin.500

Glaube ist somit die Annahme des Kerygmas501, verstanden als geschichtliche Möglichkeit menschlichen Daseins502, die ein neues Verständnis für das je individuelle Leben eröffne.503 Wie Aktivität und Passivität auf Seiten des gläubigen Daseins zu verstehen sind, ist bisher noch offengeblieben. Was bedeutet die Annahme des Kerygmas, das zu einem neuen Verstehen führt? Ist damit die Freiheit des Daseins gewahrt, wenn es doch auf Gottes Tat bezogen bleibt und seine true existence allein dem Christusgeschehen zu verdanken hat? Bultmann ist dezidiert an der Frage nach der Annahme des Kerygmas interessiert. Dabei versucht er, eine diesem Geschehen inhärente Spannung auszutarieren: Auf der einen Seite gilt für Bultmann die Betonung der Unverfügbarkeit des Glaubens. Auf der anderen Seite ist ihm an einer Profilierung der wirklichen Aneignung, der wahrhaften Teilhabe an diesem Geschehen gelegen, das sich im Glauben als Existenzvollzug zeige. Das Ringen um die Versprachlichung des paradoxen Ineinanders beider Behauptungen zeigt sich in einem Brief an Friedrich Gogarten: Das ,Hören‘ kann doch nur ein Vorgang des geistigen Lebens sein. Und ich sehe nicht ein, warum das bestritten werden soll, warum nicht zugestanden wird, daß der Glaube in der Tat auch ein Akt ist, wenn auch Akt, der das Wunder verbirgt. […] Ich meine aber, daß es gerade darauf ankommt, diese Paradoxie zu behaupten, daß der Glaube Wunder ist, ohne dadurch zu verzichten, zum Akt im geistigen Leben zu werden, daß er Akt des geistigen Lebens ist, ohne dadurch aufzuhören, Wunder zu sein.504 498

Vgl. a.a.O., 213. Vgl. a.a.O., 216. 500 A.a.O., 217. 501 Vgl. a.a.O., 218. 502 Vgl. ebd. 503 Vgl. a.a.O., 219. 504 B an F. Gogarten, 31.12.1992, in: Hermann Götz Göckeritz (Hg.), Rudolf Bultmann – Friedrich Gogarten. Briefwechsel 1921–1967, Tübingen 2002, 17–21, 18. 499

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Wenn Glauben nicht als etwas Widervernünftiges gelten soll, dann muss er nach Bultmann als Vollzug menschlicher Existenz gelten, auch wenn Bultmann festhält, dass der Mensch so wenig über seine eigene Existenz verfüge, dass er gar keine „Möglichkeit der freien Tat habe“505. Als sprachliche Reflexion dieser Erkenntnis ist seine Rede von der „freie[n] Tat des Gehorsams“506 zu verstehen, auf die er auch in seinem πιστευ ω κτλ.-Eintrag abhebt.507 Die Rede von der Tat bringe zum Ausdruck, „daß πι στις die schlechthinnige Hingabe des Menschen an Gott ist, und zwar eine Hingabe, zu der sich der Mensch nicht etwa von sich aus entschließen kann“508. Als solche Tat versteht Bultmann den Glauben im Kontrast zum Werk (εÍ ργον).509 Er beschreibt den Glauben als freie Tat im Augenblick der Entscheidung, da er mit dieser Formulierung zwei grundlegende Anliegen seiner Theologie ausdrücken kann: die Bedeutung des Glaubens für das menschliche Dasein und gleichzeitig die Unverfügbarkeit dieses Geschehens. Im Gegensatz zum Werk bleibe der Mensch im Tatbegriff immer mitgenannt. Symptomatisch stehe das Werk sodann für den Versuch der Selbstrechtfertigung des Menschen, der von sich selbst meine, den Weg zur Eigentlichkeit finden zu können, wobei der Glaube darin reine, freie Tat sei, da dem Menschen bewusst werde, dass er sich eben nicht sich selbst zu verdanken habe und immer auf die Gnade Gottes angewiesen sei und bleibe.510 Bultmann greift die zuvor erarbeitete Gehorsamskonnotation der πι στις wieder auf, um die Tat des Glaubens zu konturieren. Frei sei die Tat des Gehorsams durch ihre Haftlosigkeit: Weder ist sie gesichert in geschichtlichen Phänomenen noch im Dasein des Menschen selbst; auch von außen erhält sie sonst keinerlei Legitimation als durch das Kerygma.511 Diese Betonung der Unverfügbarkeit ist dem Bemühen Bultmanns geschuldet, nichts außer dem Kerygma die eigentliche Freiheitsrealisierung zuzuschreiben. Der Glaube könne sich nicht vom Menschen aus ergeben, sondern bleibe Gottes Tat, auf die der Mensch antworte.512 Unter dieser Voraussetzung sei Glaube nicht als weltliches Phänomen, sondern als Wunder zu verstehen.513 „[D]er Akt des Glaubens“514 sei nicht als ein weltliches, sondern als ein eschatologisches Phänomen wahrzunehmen. „Das Eschaton ist

505

B, R, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments,

32. 506

B, R, Theologie des Neuen Testaments, 317. Zur zeitgeschichtlichen Einordnung des Tatbegriffs in der protestantischen Theologie s. H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 231–236. 508 B, R, Art. πιστευ ω κτλ., 221. 509 Vgl. ebd. 510 Vgl. B, R, Gnade und Freiheit, 156 f. 511 „Für das Wort ist also keine andere Legitimation zu fordern und keine andere Basis zu schaffen, als es selbst ist.“ (B, R, Zur Frage der Christologie, 107). 512 Vgl. B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 18. 513 Vgl. B, R, Art. πιστευ ω κτλ., 226. 514 Ebd. 507

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Gegenwart geworden“515, und deshalb stehe die gläubige Existenz im „Doch schon“ und „Noch nicht“516: Der Akt des Glaubens versetzt also nicht in einen Zustand des Entweltlichtseins, sondern ist der Akt der Entweltlichung, der ständig neu zu vollziehen ist, so daß das ganze Leben von ihm durchherrscht ist.517

Ein Strukturmoment dieses Aktes sieht Bultmann im Erkennen: [D]as Erkennen kann sich nie über den Glauben hinausschwingen und es hinter sich lassen. Alles Erkennen, das mit dem Glauben beginnt, bleibt auch im Glauben; aber alles Glauben soll auch zu einem Erkennen werden. Wie alles Erkennen immer nur ein glaubendes sein kann, so kommt im Erkennen der Glaube zu sich selbst; das Erkennen ist also ein Strukturmoment des echten Glaubens.518

Dass es sich beim Glauben um „ein sich Bestimmenlassen durch das Erkannte, ein Sein im Erkannten“519 handelt, wird mit dem Strukturmoment der Erkenntnis zum Ausdruck gebracht. Glauben und Erkennen sind nach Bultmann ebenso wenig voneinander zu unterscheiden wie Glauben und Verstehen.520 Glauben ist laut Bultmann ein bestimmter Modus des Verstehens, zu dem das Dasein durch das Kerygma gelange. Bultmann betont, dass „der Gehorsam ein verstehender“521 sein müsse, da er sonst nicht Tat, sondern Werk sei und somit nicht den Menschen in seiner gesamten Existenz betreffe.522 Mit seiner Rede vom Glauben als freier Tat des Gehorsams gelingt es Bultmann, die „Eigenart des Glaubens als Gabe Gottes und zugleich als Lebensakt des glaubenden Menschen“523 zur Geltung zu bringen und an der lutherischen Grundeinsicht festzuhalten, dass Glaube nie Besitz werden könne.524 Damit wird er der Spannung von verdanktem Glaubensgeschenk und tätigem Glaubensvollzug gerecht und grundiert mit diesem sprachlichen Balanceakt seine Rede von der true existence.525 515

A.a.O., 228. Vgl. a.a.O., 224. 517 A.a.O., 228 f. 518 A.a.O., 229. 519 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 431. 520 Vgl. J, E, Glauben und Verstehen, 41 f. 521 B, R, Theologische Enzyklopädie, 158. 522 Vgl. ebd. 523 H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 244. 524 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 134. 525 Zur Einordnung des problematischen Begriffes „Tat“ im Zusammenhang des Glaubens vgl. H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 227–253, insb. 243–253. Es ist abschließend zu betonen, dass die Rede von der freien Tat des Gehorsams im Gesamtzusammenhang bultmannscher Theologie zu verstehen ist. Erst dann eröffnet sich hinter dem sperrigen Begriff der Tat die inhaltliche Stoßrichtung des Glaubensbegriffs. Hammann verweist in seinen Ausführungen auf den jüngelschen Ausdruck der „kreativen Passivität“ (a.a.O., 251), der sich als Metapher anbietet. Mit ihr bringt Jüngel die Spannung im Akt des Zum-Glauben-Kommens zum Ausdruck: „Der Mensch selbst hingegen kann für sein Zusam516

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3. Auf dem Weg zum Kerygma Die ausführliche Betrachtung der Grundvoraussetzungen hat einen inhaltlichen Zugriff auf die bultmannsche Theologie ermöglicht. Vor dem Hintergrund der Prolegomena wird im Folgenden der Weg zum Kerygma beschritten, das als Schlüsselkategorie anzusehen ist. Den Weg ebnen der Titel von Glauben und Verstehen sowie die Bezeichnung Bultmanns als Theologen des Paradoxons.

3.1 Glauben und Verstehen als Titel bultmannscher Theologie Überblickt man das theologische Gesamtwerk Rudolf Bultmanns, so ist festzustellen, dass sowohl eine klare fachbezogene Einordnung als auch eine Zuordnung zu einer theologischen Schule526 schwerfällt. In der Aufsatzsammlung Glaumensein mit Gott nichts, gar nichts tun. Er kann nur empfangen. Er ist tatsächlich rein passiv (mere passive) an seiner Rechtfertigung beteiligt.“ (J, E, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 155). In diesem Geschehen leiste der Mensch „das Nichts-Tun“ (a.a.O., 155, Anm. 77). Somit gelingt es Jüngel, im bultmannschen Sinne den Menschen als beteiligten in einem Akt kreativer Passivität wahrzunehmen. Sicherlich ist auch die bultmannsche Gehorsamssemantik problematisch. Denn auch wenn er sich bemüht, die Freiheit des Daseins zu betonen, evoziert die Rede vom Gehorsam negative, autoritäre Assoziationen. Das Überfallartige am Kerygma wird unterstrichen und der Mensch als sich unterwerfender verstanden. Auch wenn an den Einsichten Bultmanns festzuhalten ist und er seine Rede vom Gehorsam als Exeget aus der paulinischen Tradition ableitet, scheint es gewinnbringend zu sein, über diese Semantik hinauszugehen. Das Austarieren von Gnadengeschenk und Freiheitsverwirklichung lässt sich mit dem Begriff der Entdeckung im Sinne Eberhard Jüngels ausdrücken: „Indem der Mensch von Herzen Ja sagt zu Gottes effizientem Rechtfertigungsurteil, bejaht er, daß über ihn bereits entschieden, gnädig entschieden ist und daß in dieser effizienten göttlichen Entscheidung der gerechtfertigte und also neue Mensch bereits konstituiert ist. Er entdeckt sich als neuen Menschen, als von Gott konstituierten neuen Menschen.“ (a.a.O., 204). Zur Problematisierung des Gehorsamsbegriffs in der evangelischen Theologie s. die umfassende Studie von W, M, Distanz des Gehorsams. Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend (RPT 87), Tübingen 2016. 526 So stellt Hans Hübner in seinen Ausführungen zum Bultmann-Gedenkjahr 1984 in Bezug auf die publizierte Theologische Enzyklopädie fest: „Der weitere Wert der Publikation dieser Vorlesung besteht auch darin, daß wir nun ein systematisch-theologisches Werk des Exegeten Bultmann besitzen, der ja gerade als Interpret des NT seinen bewußt systematischtheol. Ansatz hatte, ohne daß er durch ihn die Auslegung des NT ideologisiert hätte. Die Lektüre erweist, wie Exegese und Syst. Theol. aufeinander angewiesen sind, wenn nicht Exegese zu Positivismus degenerieren oder Syst. Theol. sich in bloßer Spekulation verfangen soll.“ (H, H, Rückblick auf das Bultmann-Gedenkjahr 1984, 643). Was für die fachliche Ausrichtung gilt, kann auch für die theologische Schulrichtung attestiert werden. So lässt er sich in gewisser Hinsicht aufgrund der frühen Jahren seiner Schaffenszeit der dialektischen Theologie zuordnen, wenngleich er später durch seine existentiale Interpretation und die Entmythologisierungsdebatte harsch aus ebendiesem Lager kritisiert werden wird, sodass er sich ebenso der „,modernen Theologie‘“ (H, C, Freiheit aus Glauben, 159) zuordnen ließe. Beide Beobachtungen bedingen sich gegenseitig (vgl. M, J, The Scope of Demythologizing, 29).

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ben und Verstehen lässt sich allerdings eine Grundbewegung seiner theologischen Arbeit erkennen: Ausgehend von alttestamentlich-jüdischen Vorstellungen, den Schriften des Neuen Testaments – im Fokus stehen vor allem Johannes und Paulus – und in der Auseinandersetzung mit der hellenistischen Umwelt durchleuchtet Bultmann das menschliche Dasein unter den Begriffen „Glauben“ und „Verstehen“. Aufgrund dieses Befunds verwundert es kaum, dass auch in exegetisch ausgerichteten Beiträgen das gegenwärtig-christliche Dasein respektive die Entwicklung vom unchristlichen zum christlichen Dasein im Zentrum der Analyse steht. Mit seiner Konzentration auf den von Gott angesprochenen Menschen und der Betonung des Zusammenhangs von Glauben und Verstehen unterläuft Bultmann somit selbst eine fachbezogene Einordnung seines theologischen Schaffens.527 Dabei ist zu beachten sowie zu betonen, dass die Pole (Glauben und Verstehen) nicht gegeneinander ausgespielt werden, hängen sie doch für Bultmann eng zusammen. Die Tatsache, dass Bultmann von verschiedenen Zeitgenossen immer wieder der Vorwurf gemacht wurde, sich der Philosophie Heideggers zu ergeben, das genuin Christliche unterzubestimmen und statt Theologie Philosophie zu treiben,528 ist vor allem auf Missverständnisse seiner Theologie zurückzuführen. Bultmann hat diese sowohl selbst antizipiert529 als sich ihnen immer wieder gestellt.530 Die Vorwürfen kulminieren vor allem in der Debatte um die Entmythologisierung. Sie ergeben sich aus der formalen Fokussierung des menschlichen Daseins – wohlgemerkt und oft von Kritikern vergessen – als von Gott bestimmter Existenz, die Bultmann vornimmt. Dass der enge Zusammenhang von Glauben und Verstehen, den Bultmann durch seine existentiale Interpretation im Zusammenhang mit seinem Programm der Entmythologisierung auch als Konnex von Glauben und Selbstverstehen ausweisen kann, auf harsche Kritik gestoßen ist, ist verschiedenen Missverständnissen geschuldet, die sich vor allem auf Bult527 Vgl. etwa Titel wie Adam, wo bist du? Über das Menschenbild der Bibel (B, R, Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 105–116) oder Die Bedeutung der alttestamentlich-jüdischen Tradition für das christliche Abendland (B, R, Glauben und Verstehen II, Tübingen 51968, 236–245). Aus der Fokussierung des menschlichen Daseins ergeben sich sodann das fächerübergreifende Interesse Bultmanns und seine eigene, über die Fachgrenzen hinausreichende Arbeit. Im Hinblick auf die Ausleuchtung menschlichen Daseins „fallen im Grunde Theologie und Exegese oder systematische und historische Theologie zusammen“ (B, R, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, 34). 528 S. zum Beispiel B, K/B, R, Briefwechsel 1911–1966, hg. v. Bernd Jaspert (Karl Barth GA V/1), Zürich 21994, Nr. 98, 162. 529 Vgl. a.a.O., 161. 530 Vgl. beispielsweise die Entgegnung auf Gerhardt Kuhlmanns Aufsatz Zum theologischen Problem der Existenz. Fragen an Rudolf Bultmann, in: ZThK 37 (1929), 28–57; B, R, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, Heidelberg 51978, 7–10; B, R, Jesus Christ and Mythology, 57–73; insbesondere die zahlreichen Antworten Bultmanns auf verschiedene Aufsätze in K, C W. (Hg.), The Theology of Rudolf Bultmann, 257–287.

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manns Äußerungen zum historischen Jesus und zu seinem hermeneutischen Ansatz in Bezug auf die göttliche Offenbarung zurückführen lassen.531 Denn Bultmann hat den Menschen in der Gottesbeziehung vor Augen und diese Relation als ein bestimmtes „Wie“ der menschlichen Existenz. Die ihn leitende Motivation, die Analyse der Beziehung von Gott und Mensch im Modus von Glauben und Verstehen, geht keinesfalls mit einer Nivellierung der Offenbarung einher. Vielmehr zielt sie darauf, diese besser zu verstehen, indem sie dem individuell gläubigen Subjekt als geschichtlichem Dasein Rechnung trägt. Doch ist es gerade die Fokussierung des gläubigen Subjekts, das in der zeitgenössischen Theologie zum Teil argwöhnisch betrachtet wurde.532 Bultmann teilt diese Wahrnehmung: „Sie werden in meinem Glauben und Verstehen die Ketzerei wittern.“533 Die Kursivierung von „Verstehen“ kann als Bestätigung des zuvor Angedeuteten verstanden werden. Es geht Bultmann um beide Pole, Glauben und Verstehen,534 um einen solchen Glauben, der ein wahrhaftes Verstehen zuallererst ermöglicht. Die Frage nach Gott gehe mit der Frage nach dem Selbstverständnis einher und könne nicht von dieser unterschieden werden: Man’s life is moved by the search for God because it is always moved, consciously or unconsciously, by the question about his own personal existence. The question of God and the question of myself are identical.535

Bultmann ist interessiert am Verstehen auf Seiten des Menschen, dessen wahre Existenz sich aus dem Offenbarungsgeschehen ergebe.536 Selbst- und Gottverstehen sind als Paar zu betrachten, wenn er behauptet, „daß dem Hörer unter dem Wort seine Existenz durchsichtig wird“.537 Der grundsätzlich hermeneutische Zug seines Anliegens wird in nuce an folgender Aussage deutlich: „[W]ill

531 Vgl. auf dieser Linie: M, B, Faith and Self-Understanding: Towards a Post-Barthian Appreciation of Rudolf Bultmann, in: IJST 10/1 (2008), 21–35. Die Umstrittenheit der Theologie Bultmanns führt auch Eberhard Jüngel unter anderem auf verschiedene Missverständnisse zurück (vgl. J, E, Glauben und Verstehen, 68). 532 Das wird beispielsweise in einem Brief Karl Barths deutlich, in dem er sich auf Predigten Bultmanns bezieht, die dieser ihm zusandte. Dabei spricht er in der inhaltlichen Ablehnung eben dieser für sich und Eduard Thurneysen: „Es entspricht wohl Ihrer Beschwerde über die ,dürre Dogmatik‘ unsrer Erzeugnisse, wenn wir unsererseits in den Ihrigen nicht eigentlich Christus verkündigt, sondern – was u. E. in einer ,guten‘ Predigt nicht geschehen dürfte – den glaubenden Menschen explizit sehen, und wenn wir sie darum gerade als Predigten […] langweilig finden, nicht hinausgehend über das, was man etwa von ,positiven Ritschlianern‘ (in einem hierzulande sehr verbreiteten Genus) zu hören bekommt.“ (B, K/B, R, Briefwechsel 1911–1966, 162). 533 A.a.O., 161. 534 Vgl. zu der Betonung des Zusammenhangs s. F, E, Glauben und Verstehen, in: ZThK 66 (1969), 345–353, 346 f. 535 B, R, Jesus Christ and Mythology, 53. 536 „[F]aith is a new understanding of personal existence. In other word, God’s actions bestows upon a new understanding of ourselves.“ (a.a.O., 73). 537 B, K/B, R, Briefwechsel 1911–1966, 161.

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man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.“538 Neben der behaupteten unabdingbaren Nutzbarmachung philosophischer Arbeit im Hinblick auf theologische Sätze ist diese Art der Definition der Beziehung von Gott und Mensch immer wieder an Bultmann kritisiert worden, aufgrund der Befürchtung, er würde die menschliche Seite allein betonen.539 Doch nicht um die Aufarbeitung der kritischen Stimmen, sondern um die Erhellung des Kerygmabegriffs bei Bultmann soll es im Folgenden gehen. Für die theologische Arbeit Bultmanns ist festzustellen, dass am Ende der zwanziger Jahre das Leitmotiv, die Frage nach dem Zusammenhang von Glauben und Verstehen, elaboriert und deutlich wahrnehmbar ist,540 wenngleich sich auch schon in seinem Frühwerk gewisse Implikationen finden lassen.541 Erstaun538

B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 28. In dieser Aussage ist der Einfluss seines Lehrers Wilhelm Hermann deutlich zu erkennen. Dessen berühmtes Votum: „Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut“ (H, W, Die Wirklichkeit Gottes, Tübingen 1914, 42) scheint durchs Bultmanns Aussage hindurch. Die Modifikation des hermannschen Votums ist vor allem in seiner soteriologischen Ausrichtung lutherischer Fasson zu erkennen (vgl. A-P, C, Augustin, Luther und das Luthertum, in: Christof Landmesser [Hg.], Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 24–30, 24 f.). Bultmann betont in seiner Orientierung stärker das Wort Gottes, das er als alleinige Bedingung für die Rechtfertigung sieht. 539 Deutlich wird, dass Bultmann ein Theologe des Paradoxons ist, dessen Theologie durch ein eigentümliches In-Spannung-Halten ausgezeichnet ist. Bultmanns Theologie ist insofern anfällig für etwaige Missverständnisse, als sie sich punktuellen Zugriffen vermeintlich anzubieten scheint. Das wird vor allem an den isolierten Diskursen zum Programm der Entmythologisierung, des Vorverständnisses sowie des Verhältnisses zur Philosophie deutlich. Doch durch diesen selektiven Zugriff wird man der bultmannschen Theologie nicht gerecht. Diese ist nur in ihrem Ganzen, in ihrem engen Beziehungsgeflecht vollends zu verstehen. Die einzelnen Topoi ergänzen sich, sodass der Beobachtung John Macquarries zuzustimmen ist: „Kerygma, grace, revelation; a word of God addressed to us, the decisive event of Jesus Christ, the saving act of God in Christ – these topics which we have just surveyed do not seem easy to reconcile with that radical demythologizing at which we looked at an earlier stage, yet they are just as essential to Bultmann’s thought. He seems to speak with two voices. Sometimes one voice predominates, sometimes the other. At one time he seems to be moving inevitably in the direction of equating the New Testament teaching with a philosophy of man’s existence, at another time he is strongly affirming the supreme importance of God’s dealings with men in Christ.“ (M, J, The Scope of Demythologizing, 26). So hat es zum Teil den Anschein, Bultmann spreche tatsächlich mit zwei Stimmen, allerdings mit zwei Stimmen, die sich nicht widersprechen, sondern vielmehr in komplexer Art aufeinander bezogen bleiben. So ist es vonnöten – um in dem Bild Macquarries zu bleiben – wenn Bultmann mit der einen Stimme spricht, beispielsweise das menschliche Dasein fokussiert, im Hintergrund immer die zweite, die Betonung des Christusgeschehens, zu hören. 540 Neuere Publikationen machen die Kohärenz des bultmannschen Denkens deutlich (vgl. B, J U., Bultmannforschung. Hilfsmittel, Institutionen und neuere Forschung, in: Christof Landmesser [Hg.], Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 8–12, 11 f.), die in dieser Untersuchung an dem Konnex von Glauben und Verstehen sowie der theologia paradoxa aufgezeigt wird. 541 Vgl. L, C/K, A, Zur Einführung. Rudolf Bultmann als Theologe der Gegenwart, in: Dies. (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1975) – Theologe der

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lich ist, wie die Klärung dieser leitenden Fragestellung das gesamte Denken Bultmanns durchzieht und diese in die Gesamtkonzeption seiner Theologie eingebunden ist.542 Ab den Zwanzigerjahren – besonders spürbar in der Aufsatzsammlung Glauben und Verstehen – ist alles auf diesen Konnex ausgerichtet, sei es aus neutestamentlich-exegetischer oder aus systematisch-theologischer Perspektive.543 Auch über die Aufsatzsammlung hinaus kann Glauben und Verstehen als Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Philosophie, Göttingen 2010, 1 f. Vgl. darüber hinaus die präzise Darstellung des Frühwerks in H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 1–125. Einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze in der Sekundärliteratur, um das Werk Bultmanns zu fassen, findet sich bei Herbst (H, C, Freiheit aus Glauben, 160–174). In gewisser Hinsicht wird mit dem Titelvorschlag für Bultmanns Theologie die Frage nach der genauen Verortung Bultmanns unterlaufen. Denn den Punkt, zu welcher Zeit welche Einflüsse überwiegen, ist lediglich von sekundärem Interesse. Mit einem thematisch ausgerichteten Ansatz lassen sich die verschiedenen Nuancen zunächst als solche wahrnehmen, ohne zu vorschnellen Schulzuordnungen zu gelangen und sich durch ebensolche den Blick auf die theologischen Pointen zu verstellen. Es ist das Begriffspaar von Glauben und Verstehen, unter dem Bultmann sich einer eindeutigen Zuordnung unterzieht und eher als ein Theologe zu verstehen ist, der in einer Zeit des Umbruchs und Neuanfangs eine vermittelnde Stellung einnimmt. Zur theologischen Entwicklung Bultmanns in Glauben und Verstehen s. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 221–227. 542 Die Komplexität sowie Reichweite der bultmannschen Theologie finden sich insofern implizit in der Sekundärliteratur wieder, als zur Erschließung bestimmter Grundaxiome verschiedene Grundpfeiler seiner Theologie aufeinander bezogen werden. So ist es freilich möglich, mit einem werkgeschichtlichen Ansatz das Denken Bultmanns aufzuschlüsseln, allerdings ergeben sich ein schlüssiges Gesamtbild und die Wucht seiner Gedanken erst durch eine Zusammenschau, die die komplexen Zusammenhänge ausleuchtet. Exemplarisch für den Bezug der einzelnen gewichtigen Themen untereinander – eingedenk der unterschiedlichen theologischen Fachbereiche – s. B, E-M, Hermeneutik und Geschichte bei Rudolf Bultmann, in: Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Geschichte und Vergangenheit. Rekonstruktion – Deutung – Fiktion, Neukirchen-Vluyn 2007, 53–65; L, G, Keˆrygma and History in the Thought of Rudolf Bultmann, in: FORUM third series 3/2 (2014), 45–61. 543 Dieser Umstand lässt sich unter anderem an der engen Verbindung von Exegese und Systematischer Theologie aufweisen. Diese sieht Bultmann als konsequente Weiterführung jener, da es beiden um das geschichtliche Daseinsverständnis des Menschen gehe. Die Exegese habe den Fehler des Historismus zu vermeiden, der die neutestamentlichen Texte lediglich als historische Quellen und den Menschen somit als von der Vergangenheit determinierten ansehe (vgl. B, R, Geschichte und Eschatologie, 168–170). Vielmehr solle sie das in den Texten laut werdenden Daseinsverständnis herausarbeiten (vgl. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 124). So ist also auch die Exegese ganz in den Prozess der Klärung des Zusammenhangs von Glauben und Verstehen eingebunden, ohne dass Bultmann ihr ihre eigenständige Berechtigung abspricht. Allerdings verfehle sie ihre Aufgabe als theologische Exegese, wenn sie an ihrem Ziel, der Freilegung des Daseinsverständnisses beziehungsweise der Möglichkeiten menschlichen Seins, vorbeiarbeite (vgl. B, R, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, 17 f.), wenn sie die Texte lediglich als historische Quellen der Vergangenheit betrachte (vgl. B, R, Das Problem der Hermeneutik, 222) oder sie gar unter ein kategorisiertes, allgemeines Existenzverständnis rubriziere (vgl. B, R, Die Bedeutung der „dialektischen Theologie“, 119).

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Titel über Bultmanns gesamter theologischer Arbeit stehen.544 Indem er Glauben und Verstehen in Beziehung setzt, unterläuft er bestimmte Gegenüberstellungen, beispielsweise die von Glaube und Wissen. Dabei gelingt es ihm, Glauben und Verstehen in produktiver Spannung zu halten und einer einseitigen wie simplifizierenden Betonung nur eines der beiden Begriffe entgegenzuwirken.545 Bultmann fragt nach den Grundvoraussetzungen für ein glaubendes Verstehen respektive einen verstehenden Glauben. Unter dieser Überschrift weitet er den Blick mithilfe seines grundhermeneutischen Ansatzes auf den Konnex und die Wechselwirkungen von Selbst-, Wirklichkeits- und Gottverstehen aus.546 In den Epilegomena seiner Theologie des Neuen Testaments macht Bultmann auf die Darstellung des Zusammenhangs von Gott, Welt und Mensch als theologische Aufgabe aufmerksam: Entscheidend ist es, daß die theologischen Gedanken als Glaubensgedanken aufgefaßt und expliziert werden, d. h. als Gedanken, in denen sich das glaubende Verstehen von Gott, Welt und Mensch entfaltet; also nicht als Produkte freier Spekulation oder wissenschaftlicher Bewältigung der Problematik von Gott, Welt und Mensch durch das objektivierende Dasein.547

Unter Glauben und Verstehen subsumiert sich die theologische Arbeit Bultmanns. Zugleich bricht dieser Konnex eine harsche Grundgegenüberstellung der Pole, weil sich eine Subjekt-Objekt-Umkehrung ergibt: Im Glauben, verstanden als eine besondere Modalität des Verstehens, ist der Mensch nicht nur Subjekt, sondern zunächst Objekt des hermeneutischen Vorgangs.548 Denn wie für Bultmann klar ist, dass ein glaubendes Verstehen sich fundamental von einem objektivierenden Verstehen unterscheidet, so steht auch fest, dass es sich beim glaubenden Verstehen um „ein sich Bestimmtseinlassen durch das Erkannte, ein Sein im Erkannten“549 handelt. In welchem Verhältnis Passivität und Aktivität im Glauben als Verstehensvorgang im menschlichen Dasein zu sehen sind, wird noch genauer zu klären sein. So genügt es zunächst, auf das Verstehen als Verstehen des Menschen und gleich544 Auf dieser Linie beispielsweise G, A, Was sich nicht von selbst versteht, 55. 545 Vgl. K, U H. J., Hermeneutische Theologie. Zugänge zur Interpretation des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis, Neukirchen-Vluyn 2008, 103. 546 So fasst Eduard Ellwein den Zusammenhang von Selbst- und Gottverstehen bei Bultmann folgendermaßen zusammen: „Gott erkennen heißt, ihn anzuerkennen, ihn im Gehorsam anerkennen und in eins damit sich selbst von Gott her neu verstehen, sich selbst von daher durchsichtig werden. Jeder Satz über Gott hat nur so für uns Gültigkeit, daß wir erkennen: Mea res agitur.“ (E, E, Fragen zu Bultmanns Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas, in: Ernst Kinder [Hg.], Ein Wort lutherischer Theologie zur Entmythologisierung. Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem theologischen Programm Rudolf Bultmanns, München 1952, 7–32, 18). 547 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 586. 548 Vgl. dazu K, U H. J., Hermeneutische Theologie, 104. 549 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 431.

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zeitig seines Verstandenseins im Glauben aufmerksam zu machen.550 Diese Pointe ergibt sich aus Glauben und Verstehen. Selbstverständnis und Gottverständnis hängen ebenso zusammen wie Verstehen und Verstandensein im Glauben. Um diesen Grundzusammenhang lassen sich weitere Themen sowie Begriffe arrangieren, die für die bultmannsche Theologie prägend und die jeweils paradoxen Charakters sind. Ist für das theologische Programm Bultmanns die Überschrift Glauben und Verstehen treffend, so kann – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – Bultmann selbst als „Theologe des Paradoxons“ betitelt werden. Es sind das In-Spannung-Halten, das seine Theologie auszeichnet, der grundhermeneutische Ansatz, der Glauben und Verstehen verbindet, sowie die einzelnen Paradoxa, die ihn zum Theologen des Paradoxons par excellence machen und durch die seine Theologie als genuine theologia paradoxa bezeichnet werden kann.551

3.2 Bultmann – ein Theologe des Paradoxons Gibt Glauben und Verstehen der Theologie Bultmanns mit seinem grundhermeneutischen Ansatz den Titel, so lässt sich Bultmann selbst als Theologe des Paradoxons bezeichnen. Sein Werk ist durchzogen von vielen theologica paradoxa. Dabei ist zu betonen, dass die Paradoxa sich gegenseitig erläutern.552 Die einzel550 „,Glauben und Verstehen‘ meint kein Nebeneinander oder gar eine Konkurrenz dieser beiden Lebenswirklichkeiten; vielmehr war das zentrale Interesse des Theologen Bultmann stets darauf gerichtet, das Miteinander, den notwendigen Zusammenhang von Glauben und Verstehen darzutun, den Glauben inmitten des Lebens und menschliches Leben aus dem Glauben heraus verstehbar und verständlich zu machen.“ (S, W, Glauben und Verstehen, 1). 551 Diese Zuschreibung ist rein formal im Anschluss an Luthers Vorwort zu seinen Heidelberger Thesen von 1518 zu verstehen, die er mit theologica paradoxa überschreibt (L, M, Disputatio Heidelbergae habita [1518] [WA 1], 1883, 353–374, 350). Vgl. hierzu auch G, L, Modus loquendi theologicus: Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie 1515–1518, Leiden 1975, 150. Zur Aufnahme der theologica paradoxa bei Heidegger s.  V, H, Theologia paradoxa, theologia crucis. Heidegger’s Luther, in: Heinrich Assel/Bruce L. McCormack (Hg.), Luther, Barth, and Movements of Theological Renewal (1918–1933) (TBTö 188), Berlin/Boston 2020, 149–170. Allerdings ist inhaltlich das Paradoxonverständnis Kierkegaards für Bultmann prägend, der über ein rein antinomistisches Verständnis des Paradoxons hinausgeht, das lange prägend für die klassische Logik war (vgl. B, F-P, Art. Paradoxie, in: NHPhG II, Freiburg im Breisgau 2011, 1714–1727, 1715). Wie zu zeigen sein wird, ist die Theologie Bultmanns nicht etwa deshalb paradox, weil sie sich in Antinomien verliert, sondern weil sie mithilfe des Paradoxons bestimmte Zusammenhänge sprachlich fasst, die ansonsten nicht zu fassen wären. Die Pointe liegt gerade darin, dass die Zusammenhänge nicht sinnlos, sondern sinnvoll sind: „Darin liegt gerade das Paradox, mit dem die Pneumatologie in theologischer Perspektive befaßt ist. ,Im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche‘ ist kein Widerspruch, auch keine Antinomie, sondern ein Paradox insofern, als hier beides zugleich wahr zu nennen ist, ohne zu oszillieren.“ (S, P, Kommunikation von Paradoxen. Zu Luhmanns Umgang mit Paradoxen und den anschließenden Möglichkeiten für die Theologie, in: Günter Thomas/Andreas Schüle [Hg.], Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, 67–92, 81). 552 John Macquarrie, der mit seinen Arbeiten großen Anteil an der Einführung Heideggers

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nen theologica paradoxa werden im Folgenden kurz vorgestellt. In diesem Zuge tauchen Begrifflichkeiten aus den Prolegomena wieder auf, die nun mit ihrem eigentümlichen Charakter sowie im Zusammenhang wahrgenommen werden. Es wird deutlich, dass sie alle in besonderer Weise auf das Christus-Paradoxon rückbezogen sind und von dort aus ins Kerygma ausstrahlen. Bultmanns Theologie lässt sich besser verstehen, wenn man ihn als Theologen des Paradoxons wahrund ernstnimmt. Darüber hinaus wird mit diesem Zugriff deutlich, dass das Kerygma als die Schlüsselkategorie innerhalb seiner Theologie anzusehen ist. 3.2.1 Die eschatologische Existenz Ein erstes Paradoxon ist in der Bestimmung der christlichen Existenz als eine im Dazwischen, zwischen dem „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ zu sehen.553 Dieses Dazwischen wird immer wieder als „eschatologische Existenz“554 qualifiziert. Die Bezeichnung der christlichen Existenz als eschatologische leitet sich konsequent aus der Bestimmung des Verhältnisses von Eschatologie und Geschichte ab, die in aller Ausführlichkeit in Bultmanns Gifford Lectures zur Explikation kommt.555 Das paradoxe Verhältnis von Geschichte und Eschatologie sei bedingt durch „die paradoxe Identität des innerweltlichen Geschehens mit dem Handeln des jenseitigen Gottes.“556 Deshalb versteht Bultmann Eschatologie im Hinblick auf das menschliche Dasein in ihrer Bedeutung als ein „eschatological event“557, als ein „eschatologisches Geschehen“558. Hinter dem englischen event steht ein Geschesowie Bultmanns in die anglophone Theologie hat, beginnt seine Abhandlung über die Reichweite der bultmannschen Entmythologisierung und seiner Kritik mit dem Kapitel The Paradox in Bultmann. In diesem legt er in gewisser Weise den Weg zum Verständnis der bultmannschen Theologie als Theologica paradoxa frei und verteidigt diese im Abschlusskapitel unter der pointierten Überschrift Towards Vindicating the Paradox (vgl. M, J, The Scope of Demythologizing, 222–244). Dabei ist auffällig, dass er der Entmythologisierung in Beziehungen nachdenkt. So setzt er das meist isoliert kritisierte Programm Bultmanns in Beziehung zur Exegese, zum Geschichtsbegriff, zum Kerygmabegriff, zur Philosophie sowie zur Sprache. Die Isolierung der Entmythologisierung sowie die allzu eilige Auflösung der einzelnen Paradoxa in der bultmannschen Theologie laufen ihm zuwider. Diese Grundeinsicht ist zu betonen und als der richtige Zugriff auf die Theologie Bultmanns als Ganzes zu qualifizieren. 553 Vgl. B, R, Der Mensch zwischen den Zeiten nach dem Neuen Testament, 35–54, bes. 41. 554 Vgl. beispielsweise B, R, Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum, 75. 555 B, R, History and Eschatology. The Gifford Lectures (1955), Edinburgh 1957. Im weiteren Verlauf werden sowohl der englische Originaltitel History and Eschatology als auch die deutsche Übersetzung „Geschichte und Eschatologie“ zitiert. Die deutsche Übersetzung, die von Bultmann überprüft wurde, bietet sich für die Untersuchung der gedanklichen Entstehung an. Das englische Original dient der kritischen Rückversicherung bestimmter Begrifflichkeiten. 556 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 136. 557 B, R, History and Eschatology, 151. 558 B, R, Geschichte und Eschatologie, 180.

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hen, ein geschichtliches Ereignis, das den Menschen „in eine neue Lage [seiner] selbst versetzt“559. Eschatologie ist für Bultmann keine rein transzendente Größe, die der wahrnehmbaren, immanenten Geschichte ein Ende setzt, sondern ein Geschehen in der Geschichte, das jeweils wieder Ereignis werden kann, ohne dabei aber detektorisch aufweisbar zu sein.560 Eschatologie und Geschichte werden in ihrer Bedeutung für die menschliche Existenz wahrgenommen, ausgeleuchtet561 und darüber hinaus in den Zusammenhang von Glauben und Verstehen eingeordnet. Bei Bultmann ist das Paradoxon von Geschichte und Eschatologie rückbezogen auf den Glauben, denn im Glauben – sowohl als fides qua und fides quae – bleibe dieses Paradoxon gehalten.562 Es sei gerade das eschatological event, das nur im Glauben als solches zu fassen sei und somit erst im Glauben verstanden werden könne. Erst im eschatological event, das sich nur im Glauben als solches zu verstehen gebe, sei das eigentliche Paradoxon zu erblicken,563 das sich für Bultmann in der eschatologischen Existenz als paradoxer niederschlägt.564 3.2.2 Der Umgang mit der Geschichte In der Begegnung des Menschen mit der Geschichte ist ein weiteres Paradoxon hinsichtlich geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu erkennen. Im Zugriff

559 B, R, Theologische Enzyklopädie, 66; D., Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 2. 560 „Es ist die Paradoxie der christlichen Verkündigung beziehungsweise des christlichen Glaubens, daß das eschatologische Geschehen nicht echt in seinem eigentlichen Sinne verstanden ist […], wenn es als ein Geschehen aufgefaßt wird, das der sichtbaren Welt ihr Ende setzt in einer kosmischen Katastrophe, sondern daß es ein Geschehen innerhalb der Geschichte ist, anhebend mit dem Auftreten Jesu von Nazareth, sich weiter vollziehend im Lauf der Geschichte, – aber nicht als eine historisch festzustellende Entwicklung, sondern jeweils Ereignis werdend in Verkündigung und Glaube. Jesus Christus ist eschatologisches Ereignis nicht als ein Faktum der Vergangenheit, sondern als der jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anredende.“ (B, R, Geschichte und Eschatologie, 180 f.). 561 B, R, Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments, 86. 562 „Faith stresses the paradoxical identity of an historical event and the eschatological event. If the historical Jesus were eliminated, then the paradox would be destroyed and the kerygmatic Christ would be reduced to a mythological figure.“ (B, R, Reply to Edwin M. Good, „The Meaning of Demythologization“, in: Charles W. Kegley [Hg.], The Theology of Rudolf Bultmann, New York 1966, 258–261, 260). 563 Bultmann betont immer wieder, dass das eigentlich Paradoxe an theologischen Aussagen nicht auf Verstandesebene liege und gibt dafür an einer Stelle das Beispiel der Vergebung. Dass Gott vergibt, könne verstanden werden, was das aber für das einzelne Individuum bedeute, das könne nur im Glauben erfasst werden (vgl. B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22). 564 Vgl. B, R, Zur Auslegung von Galater 2,15–18, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. Erich Dinkler, Tübingen, 1967, 394–399, 397.

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des Menschen auf die Geschichte als Wissenschaft, also als Historie, zeigt sich Bultmanns von Grund auf hermeneutisches Anliegen. So streitet er grundlegend ab, dass es einen rein objektiven Zugriff auf die Geschichte und somit neutrale historische Ergebnisse geben könne. Für ihn hat die tätige Person, in diesem Falle die geschichtswissenschaftlich-orientierte Person, eine unhintergehbare Rolle im Prozess geschichtlicher Erkenntnis. Diesem Umstand gerecht werdend ist für ihn insofern die „subjektivste Interpretation zugleich die objektivste“565, als eine solche die Person in ihrer jeweiligen Subjektivität im hermeneutischen Prozess ernst nehme. Bultmann unterstreicht damit die Bedeutung des Vorverständnisses. Gleichzeitig konterkariert er das Ziel jedweder Wissenschaft, zu objektiven Erkenntnissen zu gelangen. Jede Behauptung objektiver Erkenntnis sei falsch, da sie das Vorverständnis der verstehenden Person nicht ernst nehme und sie somit aus dem hermeneutischen Prozess herausdenke. Daran anschließend sei solche Erkenntnis ohne Bedeutung, da sie losgelöst von der Person erscheine. Somit könne ihr keine Bedeutung beigemessen werden. Damit sei sie für die Existenz gleichgültig, da es nicht zu einem wirklichen „Dialog mit der Geschichte“566 komme. 3.2.3 Die Freiheit Bultmanns Freiheitsbegriff ist ebenfalls paradoxen Charakters. Ausgehend von der klassischen protestantischen Annahme einer gebundenen Freiheit wird Bultmann nicht müde zu betonen, dass der Mensch sich fahren lassen müsse, um wirklich zu sich selbst zu kommen und somit frei zu sein.567 Selbstwerdung und Freiheit hängen für ihn eng zusammen. Wirkliche Freiheit und damit wirkliche Selbstwerdung verdanke der Mensch Gott allein.568 „The paradox of gaining one’s self by giving it up in self-commitment and sacrifice (Matt. 16:25) is only possible for man when he encounters God as self-giving love.“569 Für Bultmann liegt der Ermöglichungsgrund der Freiheit bei Gott. Wolle der Mensch also zu 565

B, R, Geschichte und Eschatologie, 137. B, R, Jesus, 8. 567 Vgl. beispielsweise B, R, Das Befremdliche des christlichen Glaubens, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 197–212, 210–212 sowie D., Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, 140. 568 Vgl. beispielsweise B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 19. Anhand des Freiheitsverständnisses Bultmanns kann das grundlegende Verhältnis des zuvor vorgeschlagenen Titels seiner Theologie – Glauben und Verstehen – als Kuppel verbildlicht werden. So lassen sich alle einzelnen Paradoxa auf den Grundkonnex von Glauben und Verstehen zurückführen beziehungsweise dienen als praktische Umsetzung desselben. So ist die wahre Verwirklichung von Freiheit und damit einhergehender Selbstwerdung exklusiv vom verstehenden Glauben aus gegeben. Wie Freiheit und Selbstwerdung sich also einem nicht verfügbaren Geschehen verdanken, wie in aller Grundsätzlichkeit der Glaube, so zielen sie auf ein neues Verständnis auf Seiten des Menschen. 569 S, H-H, The Consequences of Bultmann’s Theology for Ethics, in: Charles W. Kegley (Hg.), The Theology of Rudolf Bultmann, New York 1966, 183–200, 188. 566

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wirklicher Freiheit gelangen, müsse er die vermeintlich eigene Sicherheit aufgeben.570 Freiheit bedeutet für Bultmann also in nuce Freiheit von sich selbst, von den eigenen Verwirklichungen,571 die immer nur aus den jeweiligen Möglichkeiten der je eigenen Vergangenheit resultieren. Seine Rede vom Geltungsbedürfnis des Menschen, das er als moderne Übersetzung für die Werkgerechtigkeit bei Paulus und als anthropologische Konstante beschreibt,572 veranschaulicht die lebenswirklich-paradoxe Bedeutung der Freiheit. Der Glaube stehe diametral zum Geltungsbedürfnis des Menschen. Die eigentliche Geltung des Menschen verdanke dieser nicht sich selbst, sondern es zeige sich vielmehr, dass erst im Glauben der Mensch sich seiner wahren Geltung bewusst sei, da er sich von Gott anerkannt wisse.573 Freiheit bedeutet nach Bultmann „die Befreiung von dem Willen, sein Leben selbst sichern zu können.“574 Das Paradoxon der Freiheit liegt also in seiner Bedeutung und Konsequenz für das Selbst. Wirkliche Freiheit ist nach Bultmann darüber hinaus allein Gott zu verdanken, da nur sein Wort den Menschen von seiner Determiniertheit aus der Vergangenheit befreit und ihm wirklich neue Möglichkeiten der Existenz schenkt. Das Verständnis dieses Paradoxons ist dann auch für Bultmanns Glaubensbegriff von zentraler Bedeutung. So wie das glaubende Dasein in seinem Verlieren sich selbst gewinne und frei werde, so bedeute Glauben auf Seiten des Menschen die „freie Tat des Gehorsams“575. „[E]r ist freie Tat, und weiß sich doch erwählt.“576 3.2.4 Der Christus Das wohl grundlegendste Paradoxon, das bei Bultmann zu erkennen ist, ist das Christus-Paradoxon: Wie kann eine historische Person (Jesus) zugleich eine eschatologische (Christus) sein oder, um das Geschichte-Eschatologie-Paradoxon ergänzt, wie kann ein historisches Geschehen zugleich ein eschatologisches sein, das von entscheidender Bedeutung für das menschliche Dasein ist?577 Um das Christus-Paradoxon kreisen gewissermaßen die anderen bereits dargestellten Paradoxa.578 Bultmanns Theologie ist ein genuin „paradox-christologischer An-

570

Vgl. B, R, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, 140. Vgl. B, R, Jesus Christ and Mythology, 40. 572 Vgl. B, R, Gnade und Freiheit, 150 f. 573 Vgl. a.a.O., 152. 574 B, R, Das Befremdliche des christlichen Glaubens, 210. 575 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 317. 576 B, R, Gnade und Freiheit, 157. 577 Vgl. B, R, Reply to Schubert M. Ogden, „The Significance of Rudolf Bultmann for Contemporary Theology“, in: Charles W. Kegley (Hg.), The Theology of Rudolf Bultmann, New York 1966, 271–275, 272. 578 Exemplarisch kann hierfür die Arbeit von Bernard Booth genannt werden, der ausgehend von diesem Paradoxon die gesamte Theologie Bultmanns als paradox beschreibt (vgl. B, B, The Paradox of Bultmann’s historical Jesus for Faith. A Question of History, Ottawa 2013, 45). 571

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satz“579 zu eigen, ja er selbst spricht von der „Theologie des Paradoxes“.580 Christus ist für Bultmann das Synonym für „die eschatologische Tat Gottes [Hervorhebung v. B.K.]“581. Diese Aussage kann nur aus dem zuvor beschriebenen Paradoxon von Geschichte und Eschatologie heraus verstanden werden. Es handelt sich um ein eschatologisches Geschehen in der Geschichte.582 ,In Christus‘ ist der ,eschatologische‘ Einbruch der jenseitigen Welt in die irdische erfolgt, der Einbruch der göttlichen Welt, in der nicht mehr das menschliche Werk, sondern nur die göttliche Gnade Geltung hat und verleiht.583

Christus ist bei Bultmann der nervus rerum. Die Offenbarung Gottes besteht für ihn „in nichts anderem als dem Faktum Jesus Christus.“584 Bultmann sieht die Offenbarung also inhaltlich durch Christus bestimmt.585 Seine Rede vom Christusgeschehen unterstreicht sein Verständnis der Offenbarung als Geschehen und somit die Wahrnehmung der Offenbarung in ihrer Bedeutung für den Menschen. Gerade aus dem Skandalon des οë λο γος σαÁ ρξ εÆ γε νετο586 ergibt sich für den Menschen das Heil, so Bultmann. Über die Vergegenwärtigung dieses Geschehens – also über das Kerygma – habe der Mensch Anteil am Heilsweg. Darüber hinaus ist es das Christus-Paradoxon, aus dem sich der Zusammenhang von Glauben und Verstehen ableiten lässt:

579 W, M, Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit (HUTh 49), Tübingen 2005, 117. 580 Vgl. B, R, Zur Frage der Christologie, 92. 581 Zur Frage der Christologie, Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum, 75. 582 Offenbarung und Geschichte sind aufeinander bezogen, was Bultmann am paradoxen Christusgeschehen zeigt. Gleichzeitig lässt sich an der folgenden längeren Passage das enge Beziehungsgeflecht der einzelnen Paradoxa ablesen: „Deshalb hat er zwar recht mit der Behauptung, daß die Bezogenheit der Offenbarung auf die Existenz das ,Herz‘ meiner Interpretation der joh Abschiedsreden sei (113); aber er übersieht, daß existentielles Verstehen nicht Subjektivität ist, und daß der Begegnungscharakter der Offenbarung nicht dadurch geleugnet wird, daß sie als unzugänglich für die objektivierende historische Forschung bezeichnet wird. Daß damit die Offenbarung nicht von der Geschichte gelöst wird, sieht er nicht, weil er das Paradox nicht sieht, das die ganze Darstellung des Joh durchherrscht, nämlich, daß das historische Wirken Jesu zugleich eschatologisches Geschehen ist.“ (Bultmanns Rezension zu Schubert M. Ogden, Christ without Myth [1961], in: JR 42 [1962], 225–227, abgedruckt in: B, R, Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg. v. Matthias Dreher und Klaus W. Müller, Tübingen 2002, 504–506, 504). 583 B, R, Adam, wo bist du?, 114 f. 584 B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 18. 585 Den paradoxen Charakter des Offenbarungsgeschehens macht Bultmann an Jesus Christus fest. In ihm als Mensch und der gleichzeitigen Behauptung seiner Göttlichkeit erblickt er „die Paradoxie des Offenbarungsgedankens“ (B, R, Theologie des Neuen Testaments, 403). 586 Vgl. B, R, Neues Testament und Mythologie, 64.

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Die Paradoxie, von der allein in der Theologie mit Recht die Rede sein kann, besteht nicht in unbegreiflichen und absurden Gedanken, in irrationalen Aussagen, sondern in einem Geschehen, im Handeln Gottes, der in Christus die Sünde vergibt. Für den Verstand ist hier gar nichts anstößig und paradox. Denn was Vergebung ist, kann jedermann verstehen, wenn er will; daß aber Gott wirklich vergeben hat, ist freilich nicht einzusehen, sondern nur zu glauben.587

Das Paradoxe am Christusgeschehen, das im Kerygma vergegenwärtigt wird, hat für Bultmann nichts mit einem sacrificium intellectus zu tun. Grundsätzlich seien Glaubensaussagen verstehbar. Das eigentlich Paradoxe ergebe sich erst im Glauben beziehungsweise im gläubigen Verstehen. Daraus resultiert sodann die bultmannsche Bestimmung der Theologie. Aus dieser Feststellung lassen sich zudem Aufgabe sowie Eigenart der Predigt ableiten: Die Offenbarung muß also ein uns unmittelbar betreffendes, an uns selbst sich vollziehendes Geschehen sein, und das Wort, das Faktum des Verkündigtwerdens, gehört selbst zu ihr. Die Predigt ist selbst Offenbarung und redet nicht nur von ihr, so daß sie einen Inhalt vermittelte, den man verstehen oder zu dem man sich wissend verhalten kann, um damit die Offenbarung zu ,haben‘. Indem die Predigt etwas mitteilt, redet sie zugleich an; sie wendet sich an das Gewissen des Hörers, und wer sich nicht anreden läßt, versteht auch das Mitgeteilte nicht.588

In der Offenbarung und somit im Christusgeschehen finden alle anderen Paradoxa ihren Kulminationspunkt.589 Die paradoxe Christologie ist somit der Ausgangspunkt der bultmannschen Theologie,590 aus dem sich alle anderen Paradoxa 587

B, R, Zur Frage der Christologie, 91 f. B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 21 f. 589 Vgl. beispielsweise E, G, Theologie und Verkündigung, 21–26. 590 An dem Punkt der Paradoxchristologie wird der Einfluss Kierkegaards auf Bultmann besonders virulent. Die alleinige Betonung der Menschwerdung Gottes in Christus unter Absehung der Person oder des Werkes Jesu Christi kann als die Hauptparallele von Bultmann und Kierkegaard gesehen werden (vgl. G, H, Das Christusbild Sören Kierkegaards. Verglichen mit der Christologie Hegels und Schleiermachers, Düsseldorf/Köln 1960, 45). In den Philosophischen Brocken wird dies besonders spürbar. Dort ist es die Figur des Paradoxons, mit der Kierkegaard das Eigentümliche des Glaubens fasst und die Christologie und in ihr das Verhältnis von historischem Jesus und geglaubtem Christus beleuchtet (vgl. K, Sø, Philosophische Brocken. übers. u. mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ hg. v. Liselotte Richter, Hamburg 2016, 52–80). S. zur Paradoxiechristologie Kierkegaards unter anderem F, H, Die Christologie des Paradoxes. Zur Herkunft und Bedeutung des Christusverständnisses Sören Kierkegaards, Göttingen 1970; G, H, Das Christusbild Sören Kierkegaards; D., Das Christusverständnis des jungen Kierkegaard. Ein Beitrag zur Erläuterung des Paradox-Gedankens, Itzehoe 1962; Clemens Sedmak, „Die Idee einer relevanten Philosophie“ bei Søren Kierkegaard. Versuch einer kritischen Würdigung, in: ZKTh 119 (1997), 129–158, 142–144; V, K, Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen zu einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst, Regensburg 2017, 124–128; S, H, Kierkegaard und Luther (KuD 30), München 1984, 227–248. Zur generellen Bedeutung der bultmannschen Kierkegaardrezeption s. B, C, Kierkegaard receptus I+II. 588

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ergeben.591 Um ein anderes Bild zu bemühen, kann die Theologie Bultmanns auch als Kaleidoskop beschreiben werden. Aus anderer Perspektive ergibt sich ein anderes Bild, das sich jedoch aus der Grundanordnung sowie -bezogenheit der einzelnen Teile ergibt. So bleibt kein einzelnes Teil isoliert, sondern ist verzahnt mit einem weiteren. Aus einem Blickwinkel lässt sich mehr der Pol des Glaubens, aus einem anderen mehr der Pol des Verstehens erkennen, allerdings nicht isolieren. Die Christologie ist bei Bultmann bestimmend für die Verkündigung, die für ihn schon im Christusgeschehen angelegt ist: „Das Christentum verkündet ein Ereignis, oder vielmehr: in der Verkündigung vollzieht sich das Ereignis, das Jesus Christus heißt, fort, die Offenbarung Gottes in Menschenwort.“592 Dieses Paradoxon, dass sich in der Verkündigung selbst das Ereignis vollzieht und immer wieder neu ereignet, gilt es nach Bultmann aufrechtzuerhalten.593 Das ist für ihn das Alleinstellungsmerkmal der Theologie, das Aufrechterhalten der Paradoxa, sodass er als Theologe des Paradoxons zu verstehen ist.594 Die Verkündigung ist 591

In ähnlicher Weise betont Tillich das Christus-Paradoxon: „Die christliche Behauptung, daß das Neue Sein in Jesus als dem Christus erschienen ist, ist paradox. Sie ist das einzige, allumfassende Paradox des Christentums.“ (T, P, Systematische Theologie II, Stuttgart/Frankfurt am Main 71981, 100). Grundsätzlich liegt Tillichs Paradoxieverständnis in seiner Systematischen Theologie auf der Linie Luthers. So versteht er das Paradox als etwas, das der Meinung beziehungsweise der Erwartung widerspricht, nachdem er vermeintliche Missverständnisse des Begriffs aus dem Weg geräumt hat (vgl. a.a.O., 100–102). Die Ableitung aller anderen Paradoxa aus dem Christus-Paradoxon wird an folgender Aussage deutlich: „Die paradoxe Behauptung z. B., daß der Christ ,simul peccator, simul justus‘ ist, ist kein Paradox neben dem christologischen Paradox, daß Jesus der Christus ist. Historisch und systematisch ist alles andere im Christentum Bestätigung der schlichten Behauptung, daß Jesus der Christus ist. Sie ist nicht dialektisch und nicht irrational, nicht absurd und nicht sinnlos – sie ist paradox, d. h. gegen die Selbstbeurteilung und gegen die Erwartung des Menschen gerichtet. Das Paradox ist Ausdruck für eine neue Wirklichkeit und kein logisches Spiel mit Widersprüchen.“ (a.a.O., 102). In zweifacher Hinsicht sind sich Tillich und Bultmann hier nahe: zum einen in der Hervorhebung des Christus-Paradoxons, das als Schmelztiegel und somit als hermeneutischer Schlüssel für das jeweils gesamttheologische Denken zu verstehen ist, zum anderen in der Betonung des Christus-Paradoxons als Scharnier für den Zusammenhang von Glauben und Verstehen, als Ermöglichungsgrund für menschliches Verstehen schlechthin. Denn es geht beiden im Christus-Paradoxon um die Bedeutung eben dieses Ereignisses für das menschliche Dasein, freilich immer in der Ausrichtung auf Gott. 592 B, R, Das Befremdliche des christlichen Glaubens, 207. 593 Vgl. ebd. 594 Auch hier ist er sich in dem Anliegen eines In-Spannung-Haltens und somit Aushaltens des Paradoxen in der Theologie mit Kierkegaard einig. Bultmann spricht sich klar gegen jedweden Versuch aus, das genuin Christliche mit historischen Mitteln sichern zu können. Das Kerygma ist für ihn unhintergehbar und nicht abzusichern, was sich als konsequentes Ausdeuten seines Theologieverständnisses lesen lässt: „Die Polemik gegen die Stützungsversuche des christlichen Glaubens durch historische Beweisgänge speist sich bei Kierkegaard wie bei Bultmann aus der theologisch legitimen Erkenntnis, daß der auf das Paradox bezogene Glaube dadurch seines wesentlichen Momentes beraubt würde.“ (F, H, Die Christologie des Paradoxes, 108). Diese Abwehrhaltung gegen den historischen Erweis zur Absicherung ergibt sich wiederum aus dem Geschichtsbegriff Bultmanns. So geht es

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also kein Zusatz, sondern steht in enger Verbundenheit zum Christusgeschehen und somit zur Offenbarung. In dieser Verbindung nimmt die Rede vom Kerygma eine zentrale Stellung ein, die über das Paradoxon der Predigt abschließend angedeutet werden soll. 3.2.5 Die Predigt Wenn sich das für den Menschen alles Entscheidende im Christusgeschehen ereignet hat, in dem Paradoxon von Geschichte und Eschatologie, von historischem Jesus und geglaubtem Christus, dann liegt die Folgefrage auf der Hand: Wie kann der gegenwärtige Mensch an diesem Geschehen partizipieren und, noch grundsätzlicher wie wird ein vergangenes Geschehen zum gegenwärtigen Geschehen? Nach Bultmann geschieht dies durch die Predigt.595 Sie sei zwar Menschenwort, spreche aber die Vergebung Gottes zu und sei somit Menschen- und Gotteswort zugleich. Zudem führt Bultmann die Predigt auf die urchristliche Verkündigung zurück.596 Dabei spielt das eschatologische Geschehen die entscheidende Rolle: This eschatological event is, in its paradoxical identity with the historical event, never a bygone event, but it is fulfilled again and again in the preaching of the Church. Just as certainly as the Church is a phenomenon in world history, it is at the same time an eschatological phenomenon.597

Bultmann immer um die persönliche Begegnung, den Dialog des Individuums mit der Geschichte, nicht aus objektiver, sondern aus involvierter Perspektive. 595 Der bisherige Argumentationsgang lässt sich – mit all seinen Facetten – anschaulich an folgender Aussage Bultmanns verdeutlichen: „This living Word of God is not invented by the human spirit and by human sagacity; it rises up in history. Its origin is an historical event, by which the speaking of this word, the preaching, is rendered authoritative and legitimate. This event is Jesus Christ. We may say that this assertation is paradoxical. For what God has done in Jesus Christ is not an historical fact which is capable of historical proof. The objectifying historian as such cannot see that an historical person (Jesus of Nazareth) is the eternal Logos, the Word. It is precisely the mythological description of Jesus Christ in the New Testament which makes it clear that the figure and the work of Jesus Christ must be understood in a manner which is beyond the categories by which the objective historian understands worldhistory, if the figure and the work of Jesus Christ are to be understood as the divine work of redemption. That is the real paradox. Jesus is a human, historical person from Nazareth in Galilee. His work and destiny happened within word-history and as such come under the scrutiny of the historian who can understand them as part of the nexus of history. Nevertheless, such detached historical inquiry cannot become aware of what God as wrought in Christ, that is, of the eschatological event.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 79 f.). 596 Die Sakramente versteht Bultmann als verbum visibile und sieht sie funktional auf gleicher Ebene wie die Verkündigung an, da sie nichts anderes täten, als die Heilstat für das menschliche Dasein zu vergegenwärtigen (vgl. beispielsweise B, R, Anknüpfung und Widerspruch, 121). 597 B, R, Reply to H. P. Owen, „Revelation“, in: Charles W. Kegley (Hg.), The Theology of Rudolf Bultmann, New York 1966, 261 f., 261.

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Die Predigt verdankt sich nach Bultmann also dem eschatological event, das nicht zu einem Ende kommt, sondern immer wieder neu Ereignis werde. In dieser Weise partizipiere sie an dem Paradox, dass Gott in Christus Mensch geworden ist, und setze dieses produktiv ins Werk.598 Auf dieser Linie kann auch die bultmannsche Bestimmung der Theologie als Wissenschaft verstanden werden. Er bezeichnet sie zwar als positive Wissenschaft mit historischem Kern, ist sich aber gleichzeitig der Problematik dieser Aussage bewusst. Denn auch wenn die Theologie wie andere Disziplinen die Eigenschaft einer positiven Wissenschaft habe, unterscheide sie sich doch von diesen. Der Gegenstand (das Positum) sei der Theologie nicht einfach gegeben, lasse sich allerdings im Verstehen gläubiger Existenz abbilden und durchdringen.599 Somit kommt Bultmann zu der paradoxen Annahme der „Möglichkeit und […] Unmöglichkeit der Theologie“600, die auch als Beschreibung der zuvor thematisierten Predigt gelten kann. Die Herleitung der Paradoxa unter Betonung der Eschatologie wird des Weiteren auch an der Rede von der Kirche deutlich. Diese versteht Bultmann als „,eschatologisches‘ Faktum“601, also als ein Phänomen, das zwar dem „objektivierenden Blick“602 zugänglich, gleichzeitig aber diesem eigentümlich entzogen sei. Die Rede vom eschatological event dient bei Bultmann somit auch der Betonung des neuen Verstehens der gläubigen Existenz strukturähnlich der claritas externa und der claritas interna.603 Der objektivierende Blick sei allen Menschen zuteil, der Blick allerdings, der auf das Wesen geht, sei nur im Glauben gegeben. Doch ist die Weise interessant, die der Predigt zu dieser Scharnierfunktion verhilft. An dieser Stelle kommt Bultmann auf das Kerygma zu sprechen. Das Kerygma (κη ρυγµα), das als Anrede zugleich auch das Ausgesprochene bezeichnet604 und mit sich trägt, vermittelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart und findet nach Bultmann in der Predigt seine Aufgabe.605 Es erfüllt bei Bultmann zwei vermittelnde Aufgaben: Zum einen vermittelt es die zeitliche Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, indem es von einem vergangenen Ereignis gegenwärtig respektive in die Gegenwart hinein spreche. Das tue es zum anderen in der Vermittlung zum geschichtlichen Dasein. Das Geschehen wird nach Bultmann

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Vgl. B, R, Reply to Schubert M. Ogden, 273. Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 162 f. 600 A.a.O., 163. 601 B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 154. 602 B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 137. 603 S. L, M, De servo arbitrio 1525 (WA 18), 1908, 600–787, 606–609. 604 Vgl. B, R, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 188–213, 208. 605 „Christian preaching, on so far as it is preaching of the Word of God by God’s command and in His name, does not offer a doctrine which can be accepted either by reason or by a sacrificium intellectus. Christian preaching is kerygma, that is, a proclamation addressed not to the theoretical reason, but to the hearer as a self.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 36). 599

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3. Auf dem Weg zum Kerygma

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nur richtig verstanden, „wenn es als in der Gegenwart, je meiner Gegenwart, sich vollziehendes verstanden wird“606. 3.2.6 Das Kerygma Im Kerygma finden sich die beiden Pole von Glauben und Verstehen wieder: Bultmann sieht im Kerygma die Möglichkeit des Zum-Glauben-Kommens verbürgt. Das Paradoxon des Kerygmas, das Inhalt und Anrede zugleich sei, und sich dem Christus-Paradoxon verdanke, bildet gleichsam das Scharnier zwischen Gott und Mensch. In ihm wird die hermeneutische Ausrichtung der bultmannschen Theologie besonders deutlich, denn in ihm ist der Weg des Verstehens zu suchen. Das Kerygma verbürgt dieses Verstehen für Bultmann in seiner Eigenart als Kerygma und ist somit von exzeptioneller Bedeutung.607 Doch ist Bultmann zurückhaltend, was die genauere Ausgestaltung des Kerygmas anbelangt. Eine strukturelle Ähnlichkeit zu Christus lässt sich – nicht nur ob des paradoxen Charakters – erkennen, denn auch hier konzentriert sich Bultmann auf das „Dass“,608 das Dass des Gekommenseins Christi und im Anschluss daran auf das des Kerygmas.609 So wie für Bultmann in Christus als dem Offenbarer die Offenbarung selbst verbürgt ist – „Jesus ist gesandt als Offenbarer; und was offenbart er? Daß er gesandt ist als Offenbarer“610 –, so auch im Kerygma, das, was dieses zum Kerygma werden lasse, das „Faktum Jesus Christus“611. An dieser Verknüpfung zeigt sich erneut besonders eindrücklich die enge Verwobenheit der einzelnen Paradoxa. An eben diese schließt sich ein weiteres an, das strukturell gleich formuliert ist. Denn für Bultmann ist klar, dass das, was Glauben ist, erst im Glauben erfahren werden kann beziehungsweise der Gegenstand des Glaubens erst im Glauben zu fassen ist und somit immer exklusiv an die Offenbarung und damit an das Christusgeschehen gebunden bleibt: „Erst im Glauben erschließt sich der Gegenstand des Glaubens; deshalb gehört der Glaube zur Offenbarung selbst.“612 Die Paradoxa bleiben aufeinander bezogen und legen sich gegenseitig aus. Dabei ist ihnen – wie gerade gezeigt – dieselbe Grundstruktur zu eigen: Im

606

B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22. So ist im Übrigen Heinrich Ott der Meinung, dass man Bultmann guten Gewissens als „de[n] ,Theologe[n] des Kerygma[s]‘“ (O, H, Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, 142) bezeichnen kann. 608 Die Beziehung von historischem Jesus und Kerygma lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Da jedoch der historische Jesus und seine Verkündigung nicht der Inhalt, sondern die Voraussetzung des neutestamentlichen Kerygmas sind, reduziert sich dessen Inhalt auf das bloße Daß des Gekommenseins Christi.“ (K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 37). 609 Zum Verhältnis von Christus und Kerygma einschlägig s. E, G, Theologie und Verkündigung. 610 B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22. 611 A.a.O., 18. 612 A.a.O., 23. 607

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Glauben erschließt sich der Gegenstand des Glaubens, in der Offenbarung erschließt sich der Gegenstand der Offenbarung, in Christus erschließt sich der Gegenstand der Offenbarung. Das Kerygma, das Christus zum Gegenstand hat, wird erst richtig verstanden, wenn es als Kerygma verstanden wird. Es ist diese paradoxe Grundstruktur, die der Theologie Bultmanns zutiefst eingeschrieben ist und die als hermeneutischer Schlüssel zu seinem Denken dienen kann.613 Im Kerygma wird das Paradoxe in Bultmanns Theologie – wie gesehen – noch einmal besonders offenkundig. Auffallend ist, dass das Paradoxon jeweils im Dass und nicht im „Was“ respektive „Wie“ liegt. So ist für Bultmann entscheidend, dass sich Gott in Christus exklusiv geoffenbart hat, dass die Predigt dieses Ereignis verkündet und dass im Kerygma dieses Ereignis als Anrede den Menschen trifft und somit erneut zum Ereignis wird. Anhand der Betonung des Dass der Offenbarung lässt sich erklären, dass Bultmann lediglich an dem Dass der Person Jesu614 sowie an dem Dass der Verkündigung Jesu interessiert ist.615 Wie Jesus zum Verkündiger wurde, sei vielleicht für Geschichtswissenschaftler interessant, für theologietreibende Menschen allerdings die falsche Frage.616 Die vehemente Ablehnung dieser Fragestellung ist bei Bultmann als die grundsätzliche Absage jeder Absicherung des Christusgeschehens zu lesen. Geschichtswissenschaftliche Methoden könnten dieses Geschehen, verstanden als das eschatological event, nicht absichern. So wie das Paradoxon des Glaubens nur im Glauben verstanden werden könne, so könne keine historische Absicherung den Glauben von seinem Wagnischarakter be-

613 Der Zusammenhang lässt sich in den Worten Bultmanns wie folgt formulieren: „Das Paradox ist dieses, daß das eschatologische Geschehen in der Geschichte Ereignis geworden ist im Leben und im Tode Jesu, und daß es je Ereignis wird in der Predigt der Kirche, die als predigende ebenfalls zugleich ein historisches Phänomen und jeweils eschatologisches Ereignis ist.“ (B, R, In eigener Sache, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 178–189, 187). 614 Vgl. B, R, Jesus, 15. Prägnant formuliert Bultmann an anderer Stelle: „Allerdings ist Jesus als reiner Mensch aufgetreten wie ein Prophet und Lehrer. Er trägt keine Lehre über seine Person vor, aber er sagt, daß das Faktum seines Wirkens das entscheidende sei. Seine Lehre ist nicht neu durch ihren Gehalt an Gedanken; denn in ihrem Gehalt ist sie nichts anderes als reines Judentum, reiner Prophetismus. Aber daß er es jetzt sagt, in letzter entscheidender Stunde, das ist das Unerhörte. Nicht das Was, sondern das Daß seiner Verkündigung ist das Entscheidende.“ (B, R, Die Christologie des Neuen Testaments, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 245–267, 265). 615 „Der Verkündiger muß zum Verkündigten werden, weil das Daß seiner Verkündigung ja das Entscheidende ist, seine Person, aber nicht seine Persönlichkeit, ihr Hier und Jetzt, ihr Ereignis, ihr Auftrag, ihre Anrede.“ (a.a.O., 266). Ebenso eindrücklich formuliert Bultmann an anderer Stelle: „Jesus ist gesandt als Offenbarer; und was offenbart er? Daß er gesandt ist als Offenbarer. Das soll man glauben und darin das Leben haben. Er offenbart also das Leben; aber nicht so, daß er es einsichtig macht oder nur vermittelt und den Weg zu ihm öffnet, sondern so, daß er es selbst ist.“ (B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 23). 616 Vgl. B, R, Die Christologie des Neuen Testaments, 265 f.

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freien.617 Das Christusgeschehen würde sonst um seinen Ereignischarakter und somit um das Eigene gebracht. Diese grundsätzliche Abschirmung der Christologie und somit des Kerns der bultmannschen Theologie gegen jedwede historische Absicherung hat sodann auch Auswirkungen auf das Kerygmaverständnis Bultmanns. Wenn Bultmann das Christusgeschehen als im Kerygma gegenwärtig ansieht, so gilt die Isolierung ebenso für ebendieses. Das allgemeine Desinteresse Bultmanns am Historischen, in expliziter Weise am historischen Jesus, lässt sich auch zeitgeschichtlich erklären. Nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich innerhalb der protestantischen Theologie eine Entwicklung beobachten, die als „antihistoristische Revolution“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Dieser anthistoristische Zug, der sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts anbahnte, gelangt während der zwanziger Jahre vollends zum Durchbruch.618 Es wird allgemein für ein neues Verständnis der Geschichte eingetreten, für ein nachhistorisches.619 In eins mit dieser Entwicklung fallen die generelle Kritik der dialektischen Theologie an der liberalen Theologie, die Kritik am Kulturprotestantismus sowie die allgemeine Betonung des Gottesbezugs und somit die „Autorität des ,Wortes Gottes‘“620. Doch auch über die Grenzen der dialektischen Theologie hinweg wird das geltende Geschichtsverständnis infrage gestellt, was die Betonung des Christus-Paradoxons bei Tillich deutlich zeigt. Durch die Kritik an den Vorstellungen des Historischen, ausgehend vom Historismus, kommt es gleichzeitig zur Hinwendung zur Eschatologie, was auch bei Bultmann festzustellen ist. Ein „absolute[r] Ort“621 wird gesucht, von dem aus der historische Relativismus überkommen werden soll. Bultmann antwortet – wie noch zu zeigen sein wird – mit der Umformung des Historischen in die Geschichtlichkeit des Daseins, gepaart mit der Betonung der Offenbarung in Jesus Christus, auf die Krisis des Historismusbegriffs. An der produktiven Umformung des Historischen in die Rede von der Geschichtlichkeit und der Zuwendung zur Eschatologie zeigt sich die zeitgeschichtliche Prägung Bultmanns durch die allgemeine antihistoristische Revolution.622

617

Vgl. F, H, Die Christologie des Paradoxes, 100. Vgl. G, R, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignung in Deutschland 1918–1933, München 2008, 190. 619 Vgl. G, F W, Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Emst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs (Bd. 4): Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt am Main 1997, 217–244, 221. 620 G, F W, Art. Historismus II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4 3 (2000), 1795 f., 1796. 621 G, F W, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, 377–405, 388. 622 Zur geistesgeschichtlichen Einbettung der antihistoristischen Revolution sowie der bin618

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Die Betonung des Dass spiegelt sich im Kerygmabegriff wider. So versteht Bultmann das Kerygma als christologisches, das als Kerygma den ChristusLogos aussagt. Die Beantwortung der Frage nach dem, was das Kerygma zum Kerygma werden lässt und auf Seiten des Menschen zum richtigen Verständnis des Kerygmas führt, weist Bultmann implizit mit der Konzentration auf das Dass des christologischen Kerygmas zurück.623 Er begnügt sich mit der Aussage, dass im Kerygma etwas zur Sprache kommt, das nur im Kerygma zur Sprache kommen kann.624 Für Bultmann wird im Kerygma das Christusgeschehen und somit das Heil für das Dasein vergegenwärtigt. Da er die Unverfügbarkeit dieses Geschehens und gleichzeitig die Kontingenz der Offenbarung betonen möchte, hält er jedes Zurückfragen für unangemessen: Man darf also nicht hinter das Kerygma zurückgehen, es als ,Quelle‘ benutzend, um einen ,historischen Jesus‘ mit seinem ,Messiasbewusstsein‘, seiner ,Innerlichkeit‘ oder seinem ,Heroismus‘ zu rekonstruieren. Das wäre gerade der XριστοÁ σ καταÁ σα ρκα, der vergangen ist. Nicht der historische Jesus, sondern Jesus Christus, der Gepredigte, ist der Herr.625

Entscheidend ist und bleibt für Bultmann das Dass:626 dass das Kerygma als christologisches verstanden wird, dass es als Offenbarung und Anrede verstanden wird.627 Bultmann als Theologen des Paradoxons zu bezeichnen628 hilft, seine nentheologischen Diskussion vgl. beispielsweise G, F W, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, 377–405; N, K, Die ,antihistoristische Revolution‘. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien 4), Gütersloh 1987, 133–117. 623 Vgl. E, G, Theologie und Verkündigung, 30 f. 624 Vgl. B, R, Die Christologie des Neuen Testaments, 260. 625 B, R, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, 208. 626 Mit der Betonung des Dass schiebt Bultmann jeglicher Sicherung des Glaubens, etwa durch historische Arbeit, den Riegel vor und argumentiert damit deutlich auf der Linie Kierkegaards (vgl. dazu B, C, Kierkegaard receptus I, 372 f.). 627 Vgl. B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 34. 628 Neben der angesprochenen Kierkegaard-Rezeption, die sich vor allem in dem ChristusParadox zeigen lässt, ist Bultmann sicherlich die prominente Debatte um den Begriff des Paradoxons zwischen Paul Tillich und Karl Barth nicht entgangen. 1923 lieferten sich beide Theologen, unter Einbezug Friedrich Gogartens, in den Theologischen Blättern einen Disput, der sich ob der verschiedenen theologischen Ansätze beider ereignet und in dem wiederum die Rede vom Paradoxon eine exponierte Stellung einnahm (s. T, P, Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, in: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Gesammelte Werke [Bd. VII], hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 216–225; B, K, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“. Antworten und Fragen an Paul Tillich, in: a.a.O., 226–239; T, P, Antwort, in: a.a.O., 240–243; G, F, Zur Geisteslage des Theologen. Noch eine Antwort an Paul Tillich, in: a.a.O., 244–246. Vgl. zur Einschätzung der Auseinandersetzung unter anderem F, H, Theologie des positiven und kritischen Paradoxes. Paul Tillich und Karl Barth im Streit um die Wirklichkeit, in: NZSTh 31

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Theologie besser zu verstehen. Dieses Verständnis ist gleichzeitig gefeit vor allzu simpler Kritik, die meist auf eine Vereinfachung respektive einer Isolation des bultmannschen Ansatzes zurückzuführen ist. Bultmann als Theologen des Paradoxons zu verstehen heißt, ihn in seiner ganzen Komplexität wahr- und ernstzunehmen.629 Bultmann ist als ein Theologe des In-Spannung-Haltens zu verstehen, der an den Zusammenhängen einzelner Paradoxa interessiert ist.630

[1989], 195–212 sowie C, A, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008). Dieser Disput kann als exemplarisch für die Beschäftigung mit dem Paradoxon innerhalb der Theologie zur damaligen Zeit angesehen werden. Tillich wird das Nachdenken über das Paradoxon nicht mehr loslassen. Dabei konzentriert sich, wie bei Bultmann auch, alles auf das Christus-Paradoxon (vgl. T, P, Die Wiederentdeckung der prophetischen Tradition in der Reformation, in: Ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, Gesammelte Werke [Bd. VII], hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1962, 171–215, 197 f.). Die grundsätzliche Stärke der paradoxen Struktur religiöser wie theologischer Sprache erblickt Tillich in der Vermittlung vom Absoluten und Menschlichen (vgl. T, P, Dynamics of Faith, New York 1957, 97). Eine Vermittlung, die in Spannung hält und nicht aufzulösen ist. In dieser Stoßrichtung sind sich Tillich und Bultmann nahe. Denn für beide ist in der Menschwerdung Gottes – in Anlehnung an Kierkegaard – das Hauptparadoxon zu sehen. Es geht beiden um das produktive In-Spannung-Halten der paradoxen Struktur, die das Immanente mit dem Absoluten vermittelt beziehungsweise aussagbar macht. Zuletzt regen beide damit zur Kommunikation über diese Paradoxa an und sehen sie implizit für theologische Aussagen als unabdingbar an. Im Christus-Paradox zeigt sich das am deutlichsten. Der Theologie wohnt dreien zufolge allein das Paradoxon als Strukturelement inne. Aus menschlicher Perspektive ist es für Bultmann hier die stete Gleichzeitigkeit des simul iustus et peccator, das den paradoxen Charakter ausmacht. Diese Einsicht leitet er – wie Tillich – aus dem Christus-Paradoxon ab (vgl. B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 135 sowie T, P, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, in: Gert Hummel/Doris Lax [Hg.], Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich [Bd. IX], Berlin/New York 1998, 94–154, 151). 629 Dazu muss man allerdings die Paradoxa als solche erkennen und darf diese nicht mit einem eher platten Widerspruch verwechseln, was allerdings nur möglich ist, wenn man die einzelnen Paradoxa als ein Gesamtkonstrukt versteht. 630 Als anschauliches Beispiel sei auf eine Passage hingewiesen, in der Bultmann die „paradoxe Identität“ des christlichen Glaubens festhält und somit implizit das Paradoxon als einendes Band seiner Theologie darstellt (vgl. B, R, Zum Problem der Entmythologisierung, 135–137).

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie Bultmann qualifiziert das Kerygma als das ausschlaggebende Ereignis für den Menschen.631 Das Kerygma führe in die Entscheidung632, indem es Anrede sei633 und „[k]eine zeitlose Idee […], sondern ein geschichtliches Faktum“634 verkünde, Jesus Christus. Kerygma ist für Bultmann, wie bereits gesehen, immer christologisches Kerygma. Es geht ihm um „die Proklamation des Faktums Jesus Christus, d. h. seines Gekommenseins, seines Todes und seiner Auferstehung als des eschatologischen Heilsereignisses“635. Das Kerygma, das Christusgeschehen verkündige als eschatological event pro me, ist für ihn die Bedeutung des Osterglaubens.636 Res und signum fallen im Kerygma also zusammen. Bultmann betont dabei konsequent das „Dass“ des Kerygmas. Er führt es zurück auf die Verkündigung Jesu637 und entwickelt von dieser ausgehend einen christologischen Kerygmabegriff. Über eben diesen als an die Verkündigung gekoppelten geht Bultmann hinaus, hat er doch – wie bereits erwähnt – das Christusgeschehen als Heilsereignis vor Augen. So lässt sich pointiert konstatieren, dass Bultmann das Dass der Verkündigung Jesu als link zum Kerygma ausreicht, um die Aufgabe der Verkündigung zu legitimieren. Indem er aber die Verkündigung konsequent weiterdenkt, gewinnt er den Inhalt – Jesus Christus – aus der urchristlichen Verkündigung. Aus der Tatsache der Verkündigung Jesu ist somit Jesus Christus selbst zum Verkündigten geworden. Hinter diesen Umstand – „des Faktums Jesus Christus“638 – komme man nicht zurück.639 Es ist der Verkündigte,

631 Folgender Analyse Ellweins ist vollends beizupflichten, an der noch einmal Bultmanns enge Verknüpfung von Christusereignis und Kerygma deutlich wird: „Der volle Akzent liegt dabei auf der Aktualität der Christusbotschaft, auf der Vergegenwärtigung des Heilsworts und des Heilsereignisses in Predigt und Glaube. Wie sich das im Glas aufgefangene Sonnenlicht in einem einzigen Punkt sammelt, der dann ganz buchstäblich der Brennpunkt werden kann und zündende Kraft in sich birgt, so ist hier bei dieser systematischen Axiomatik alles auf den einen Punkt konzentriert, wo die Verkündigung des Heilsereignisses in Christo geschieht und der Glaubensgehorsam geboren wird.“ (E, E, Fragen zu Bultmanns Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas, 30). 632 Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 169. 633 Vgl. a.a.O., 180. 634 B, R, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, 208. 635 E, G, Theologie und Verkündigung, 30. 636 Vgl. E, E, Fragen zu Bultmanns Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas, 24 f. 637 Vgl. B, R, Die Christologie des Neuen Testaments, 266. 638 E, G, Theologie und Verkündigung, 30. 639 Aus systematisch-theologischer Perspektive ist folgende Einschätzung zutreffend: „Eine wie auch immer geartete Konzeption der Gegenwart Christi ist seiner Auffassung nach nicht über die historische Persönlichkeit, sondern allein im Ereignis des subjektiven Getroffenseins durch das Wort Christi, das Kerygma, möglich. Die historische Persönlichkeit Christi verschwindet dabei dann ganz hinter diesem Kerygma.“ (L, J, Die Gegen-

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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der für Bultmann von entscheidender Bedeutung ist. Jesus Christus, der im Kerygma präsent ist, ist für ihn der Gegenstand des Glaubens.640 Für Bultmann wird „das Heilsgeschehen in Christo sofort zur Botschaft“641, das Kerygma ist ohne Christusgeschehen gar nicht denkbar und vice versa. Vor diesem Horizont sieht er den historischen Jesus lediglich als Voraussetzung für den Glauben, nicht aber als Inhalt: „Nicht der historische Jesus, sondern Jesus Christus, der Gepredigte, ist der Herr.“642 Das Rückfragen hinter den Gepredigten ist für Bultmann nicht von Interesse. In dem Dass der Verkündigung „sind historische Person und Vergangenheit […] bewahrt und vergleichgültigt zugleich zugunsten der Sache, des Gesamtgeschehens der Verkündigung und der jeweiligen Gegenwart“643. Erklären lässt sich die grundlegende Abneigung der Absicherung des Kerygmas nicht nur aus einem genuinen systematisch-theologischen Interesse, sondern auch aus exegetischer Überzeugung. Die Einsichten der Formgeschichte führen bei ihren Vertretern zum unüberwindbaren Hiatus von Glaubenszeugnissen und historischen Quellen. Als Erstere konnten die neutestamentlichen Schriften gelten, als Letztere in keinem Fall.644 Das wird exemplarisch an dem Votum Willi Marxens deutlich, der feststellt, „daß die vor-synoptischen Jesus-Traditionen kein historisch-biographisches Interesse haben, sondern als Verkündigung der Urgemeinde zu verstehen sind“645. Auch wenn Marxens selbst später mit seiner Unterscheidung von Jesus-Kerygma und ChristusKerygma über Bultmann hinausgehen wird, ist seine Aussage doch als stellvertretende zeitgeschichtliche Stimme der Exegese ernst zu nehmen. Der vorherrschenden Ansicht der liberalen Leben-Jesu-Forschung, man könne durch die Zeugnisse der neutestamentlichen Schriften Rückschlüsse auf das Leben Jesu ziehen, wird entgegengetreten.646 Denn von einer gesicherten wie zuverlässigen Quellengrundlage kann aus formgeschichtlicher Perspektive keine Rede mehr wart Christi als Geist des Christentums, in: Christian Danz/Michael Hackl [Hg.], Transformationen der Christologie. Herausforderungen, Krisen und Umformungen [Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 17], Göttingen 2019, 159–168, 160). 640 Vgl. B, R, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, 27. 641 E, E, Fragen zu Bultmanns Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas, 30. 642 B, R, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, 208. 643 M, G M, Vom Unglauben zum Glauben, 46. 644 Vgl. zu den Einsichten der aufkommenden Formgeschichte in dieser Zeit und der damit verbundenen Abgrenzung zur liberalen Leben-Jesu-Forschung in aller Kürze: T, G/M, A, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 25 f. sowie B, R , Historischer Jesus und kerygmatischer Christus, in: Jens Schröter/Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 66–74, 68–71. 645 M, W, Die urchristlichen Kerygmata und das Ereignis Jesus von Nazareth, in: ZThK 73 (1976), 42–64, 43. 646 Vgl. im Zusammenhang mit dem Kerygma auch MF, I A., Art. Kerygma II Dogmatisch, in: RGG4 4 (2001), 935–938, 936 f.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

sein.647 In dieser Richtung sind auch Bultmanns einleitende Ausführungen in seinem Jesus-Buch von 1926 zu verstehen, in denen er die grundsätzliche Bedeutung der Geschichtsbetrachtung herausstellt, seine eigene Darstellung als einen „beständige[n] Dialog mit der Geschichte“648 versteht. Hier finden sich die Implikationen seiner existentialen Interpretation. So hält er fest, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.649

Es geht Bultmann nicht um historische Rekonstruktion der „,Persönlichkeit‘ Jesu“650, sondern vielmehr um die „Sache“651 Jesu, über die der Mensch „zur Erfassung [seiner] eigenen Existenz gelangen“652 könne. Über die Begegnung mit der res also gelange das menschliche Dasein zum neuen Selbstverständnis, die im Kerygma als Kerygma ausgesagt werde. Viele seiner Kollegen sieht er hingegen mit „Rettungsarbeiten“653 beschäftigt, da sie seine Einsicht in die poröse Quellenlage nicht teilten und weiter an einem gesicherten Bild des historischen Jesu festhielten. Der formgeschichtliche Ansatz schlägt sich bei Bultmann dann prominent in seinen einleitenden Ausführungen zur Theologie des Neuen Testaments von 1948 nieder. Für Bultmann gehören Verkündigung und Wirken Jesu nur noch „zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und sind nicht Teil dieser selbst“654. Für ihn steht zu diesem Zeitpunkt somit aufgrund der gemeinsamen Marburger Jahre mit Heidegger, der antihistoristischen Revolution, der exegetischen Einsicht der Formgeschichte sowie der systematisch-theologischen Betonung des christologischen Kerygmas – ausgehend von der dialektisch-theologischen Zuwendung zum Wort Gottes – die Abkehr vom historischen Jesus fest.655 Aus der Abkehr vom verkündigenden

647

Vgl. K, P-G, Die synoptische Überlieferung, 254–256. B, R, Jesus, 9. 649 A.a.O., 11. 650 Ebd. 651 A.a.O., 12. 652 Ebd. 653 B, R, Zur Frage der Christologie, 101. 654 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 1. 655 Dabei macht die Betonung des historischen Jesus als Voraussetzung einer Theologie des Neuen Testaments deutlich, dass Bultmann etwas anderes für theologisch bedeutsam hält als die vorherige Leben-Jesu-Forschung. Es geht ihm um die Differenz „zwischen dem historischen Jesus und Christus“ (B, R, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, 8) – wie er sich später rechtfertigt. Vom Zusammenhang „zwischen dem historischen Jesus und der urchristlichen Verkündigung“ (ebd.) ist er hingegen überzeugt. Dorothee Sölle fasst zusammen: „Der gescheiterte Versuch der liberalen Theologie, ein Lebensbild Jesu herzustellen und ihn uns mit Hilfe dieses Bildes anzunähern, mag bei der Kritik mitgespielt haben. Auf keinen Fall kann sie als eine simple dogmatische Ablehnung der Relevanz des historischen Jesus überhaupt verstanden werden; Bultmann hat ja im Zu648

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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Jesus kommt er zur Hinwendung zum verkündigten Christus. Ein Zurückfragen hinter das Kerygma würde die Charakteristik des Kerygmas als Kerygma untergraben. Der Glaube dürfe nicht durch historische Beweisführung gestützt werden.656 Die Absicherung wird noch untermauert durch Bultmanns Abgrenzung des Kerygmas von der Theologie. So sieht er auf theoretischer Ebene Theologie und Kerygma in Bezug auf ihre Kritikfähigkeit unterschieden. Diese ergibt sich für Bultmann aus der Art der Anrede. Bei der Theologie handle es sich um indirekte, beim Kerygma um direkte Anrede:657 „Sie [sc. die Theologie] ist aber indirekte Anrede; denn in ihr liegt das Kerygma in der Form diskutierter Lehre vor.“658 Da das neutestamentliche Kerygma nur in der kirchlichen Verkündigung vergegenwärtigt werde, habe sich die Systematische Theologie zwar am Kerygma zu orientieren, nicht aber das Kerygma zu verkündigen. Das Kerygma diene der Theologie als Orientierung, da an ihm das eschatologische Handeln Gottes am Menschen deutlich werde.659 Entlang des Kerygmas habe die Systematische Theologie „die systematische Explikation des im Glauben gegebenen christlichen Existenzverständnisses“660 zu erarbeiten. Somit ist dann auch der Maßstab der Kritik klar: Wenn in der Theologie das Kerygma indirekt zur Sprache kommt, dann kann eben dieses Zur-Sprache-Kommen ausgehend vom Kerygma hinterfragt werden:

sammenhang der ,neuen Frage nach dem historischen Jesus‘ ausdrücklich Braun und ebenfalls Käsemann zugestimmt, ,dass der irdische Jesus das Kriterium des Kerygmas ist und dieses legitimiert‘. Das bedeutet sicher nicht, dass der historische Jesus faktisch den biblischen Christus ,verschluckt‘. Der Streitpunkt innerhalb der Bultmannschule scheint mir darin zu liegen, ob man vom kerygmatischen Christus ausgeht und den historischen Jesus zu einem Korrektiv macht, an dem sich die Botschaft messen lässt (so Bultmann), oder ob man sich am historischen Jesus selber orientiert (so Braun) und das Kerygma als die Absolutheit seines Anspruchs versteht, nicht also als eine zusätzliche Substanz, die erst den Glauben ermöglicht, sondern als die Form, in der uns Jesus heute begegnet. Fragt man sachgemäß, worin denn Bultmanns Verzicht auf den historischen Jesus wurzelt oder was zum Beispiel Schmithals gegen den historischen Jesus einzuwenden hat, so lassen sich die Kritikpunkte auf zwei zurückzuführen: einmal unterliegt Jesus als eine Gestalt der Geschichte der historischen Relativierung, er ist nicht einmalig; sodann spricht sich in seiner Botschaft ,nur das Gesetz‘ aus, erst die Verkündigung von ihm bringt das Evangelium.“ (S, D, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Gesammelte Werke [Bd. I], hg. v. Ursula Baltz-Otto/Fulbert Steffensky, Freiburg im Breisgau 2006, 35–116, 56). 656 Vgl. H, H, Politische Theologie und existentiale Interpretation. Zur Auseinandersetzung Dorothee Sölles mit Rudolf Bultmann (GlLeh 9), Witten 1973, 44 f. 657 Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 186. 658 Ebd. 659 „Die systematische Theologie geht deshalb den umgekehrten Weg wie die neutestamentliche Theologie, indem sie vom gegenwärtigen Kerygma aus das christliche Existenzverständnis zu enfalten hat.“ (B, R, Theologie als Wissenschaft, in: ZThK 81 [1984], 447–469, 463). 660 A.a.O., 462.

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Keiner Kritik aber unterliegt das Kerygma, das als Anrede, die ja Gehorsam fordert, nicht von einer neutralen Basis aus beurteilt werden kann, sondern gerade die Preisgabe des eigenen Urteils verlangt. Da aber das Kerygma selbst sich immer nur in der Begrifflichkeit menschlichen Redens ausspricht, ist wohl grundsätzlich genau zwischen Kerygma und Theologie zu unterscheiden, nicht aber ebenso praktisch; d. h. es läßt sich nie eindeutig sagen, was das Kerygma ist, wieviel und welche Sätze es umfaßt. Aber das entspricht ja nur seinem Sinn, daß es nur im Gehorsam verstanden werden kann, daß also das Verstehen immer neu vollzogen werden muß. Und eben darin ist wiederum die Notwendigkeit der Theologie begründet als der bewußt vollzogenen Explikation des glaubenden Verstehens.661

Das Kerygma ist nicht direkt diskutabel. Damit unterscheidet es sich von anderen Begriffen respektive Sachverhalten. Gleichzeitig kann es aber in menschlicher Sprache indirekt ausgesagt werden. Dass diese theoretische Grenzziehung praktisch allerdings vor besondere Herausforderungen gestellt ist, sieht Bultmann klar und betont damit wiederum erneut die theoretische Grenzziehung. Denn er schärft das Bewusstsein für den indirekten Zugriff auf das Kerygma über die Theologie und somit für die Kritikfähigkeit jeder theologischen Hermeneutik. Denn das Kerygma steht, wie gesehen, nie als Gegenstand zur Verfügung,662 sondern ist nur über den hermeneutischen Umweg erreichbar. Das gilt nach Bultmann für die Theologie des Paulus und die Evangelien ebenso wie für die Theologie als Wissenschaft oder die Predigt. In ihnen kann das Kerygma indirekt zur Sprache kommen. Das Kerygma zeichnet sich nach Bultmann dadurch aus, dass es immer wieder neu gewonnen werden muss und daher – wie angeführt – „das Verstehen immer neu vollzogen werden muß.“663 Zu diesem sich immer neu vollziehenden Verstehen leiste die Theologie als begriffliche Explikation ihren unkündbaren Beitrag. Indem Bultmann Kerygma und Theologie in ein Verhältnis setzt,664 wird die Verstehbarkeit des Kerygmas deutlich. Dies ist eine weitere Grundannahme, die bestimmend für die bultmannsche Theologie ist. In ihr spiegeln sich sein hermeneutisches Interesse und die Explikation der Theologie als hermeneutische Theologie wider.665 Durch die Bestimmung des Verhältnisses von 661

B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 186. Vgl. P, E M, Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung, 225. 663 Ebd. 664 Bultmann hält fest, dass es sich bei der Unterscheidung von Kerygma und Theologie immer nur um eine abstrakte handeln kann (vgl. beispielsweise B, R, Theologie als Wissenschaft, 461; D., Kirche und Lehre im Neuen Testament, 186). 665 „An diesem Dilemma setzen Bultmanns hermeneutischen Überlegungen an. Es steht nicht unter menschlicher Verfügung, die Kriterien für das zu benennen, was als Kerygma zu gelten hat. Aber wenn das Kerygma ein neues Sich-Verstehen des Menschen eröffnet, dann setzt das notwendig voraus, daß es ,verständliches Wort ist‘. Das Geschehen, in dem ein Schriftwort zum Kerygma wird, ist ein unverfügbares Ereignis; dennoch ist dieses Geschehen nichts Magisches, sondern eingebunden in einen Prozeß des Verstehens, der nach bestimmten Regeln verläuft.“ (L, J, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart [HUTh 46], Tübingen 2004, 287 f.). 662

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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Kerygma und Theologie wird also zum einen die Absicherung des Kerygmas verstärkt, da es der Relativität enthoben ist, somit jederzeit gültig ist und von Bedeutung werden kann. Zum anderen ist der Theologie als diskursiver Instanz eine genuin hermeneutische Aufgabe zugeschrieben,666 denn das Kerygma ist nach Bultmann eben als Kerygma sprachlich verfasst. Somit ist es in seiner Verfasstheit zu reflektieren und zu kritisieren. Die Theologie werde durch den Anspruch des Kerygmas begrenzt, da sie nicht direkte Ansprache, sondern in ihrer relativen Verfasstheit immer nur indirekte Anrede sein kann. Somit fungiert das Kerygma auch hier als „Grenzbegriff“667: Es begrenzt die Theologie in ihrer Aufgabenstellung, den Menschen als einen von Gott angesprochenen wahrzunehmen. Außer der Funktion des Kerygmas als Grenze rechnet Bultmann ihm eine weitere, vermittelnde Funktion zu. Es sei das in der Gegenwart, im Hier und Jetzt den Menschen treffende Kerygma, das das menschliche Dasein vor die Entscheidung zum Glauben stelle. Somit kann der Kerygmabegriff als Scharnier zwischen Glauben und Verstehen aufgefasst werden. Das Kerygma gibt Aufschluss zum einen über das Verstehen des Zum-Glauben-Kommens und zum anderen über das Verstehen des Glaubens als Existenzweise.668 Das Kerygma überwindet zum einen die zeitliche Differenz, indem es die res, den Christus-Logos als Geschehen, vergegenwärtige. Es lasse das vergangene Ereignis gegenwärtig werden als Anrede. Zum anderen und daran anschließend vermittle es zwischen Gott und Mensch. In ihm treffe Gottes Offenbarung den Menschen als Wort, und zwar direkt als ein solches, das vom Menschen verstanden werden könne und zu einem neuen Selbstverständnis führe: „Christus ist im Wort gegenwärtig. […] Die Christologie ist das Wort Gottes. Dem Wort korrespondiert der Glaube, der Verkündigung das neue Sich-Verstehen des Gläubigen. Sofern nun auch dieses, der Glaube, das neue Verstehen, die Antwort also auf die Anrede, sich ausspricht, ist auch solche Antwort Christologie.“669 So sei das Kerygma also „[n]ichts anderes als das in Jesus Christus gesprochene Wort Gottes, das den Menschen anredet und ihn, indem es ihn gegenüber Gott zum Du macht, zum Selbst werden läßt.“670 Das Kerygma kann als Schlüsselkategorie innerhalb der bultmannschen Theologie angesehen werden. In diesem Begriff laufen die unterschiedlichen Paradoxa zusammen und an ihm bricht sich auch der Konnex von Glauben und Verstehen.671 666

S. dazu S, D, Politische Theologie, 52 f. A.a.O., 55. 668 „In den im Sammelband [Glauben und Verstehen] publizierten Texten wird für ihn [Bultmann] somit die doppelte Frage thematisch, wie der Mensch einerseits das den Glauben begründende Kerygma, andererseits jenes Kerygma als Glaubender zu verstehen habe“. (B, J U., Vorträge und Aufsätze, in: Christof Landmesser [Hg.], Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 180–183, 182). 669 B, R, Die Christologie des Neuen Testaments, 260 f. 670 B, R, Formen menschlicher Gemeinschaft, 272. 671 Der Eindruck einer Sonderstellung des Kerygmas wird auch von Studierenden Bultmanns untermauert: „In Vorlesungen wie Seminaren zeigt sich keine Tendenz zur Vollstän667

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Bultmann erhebt den Kerygmabegriff auf funktionaler Ebene ins Unermessliche, nur – und diese Feststellung sei den folgenden Überlegungen bereits vorweggenommen – hält er sich mit weiteren Ausführungen zum Kerygma zurück.672 Die Begründung für diese Entscheidung wurde deutlich: Hinter das christologische Kerygma solle schlicht nicht zurückgefragt werden, da dies immer eine Relativierung bedeute. Eine Sicherung des Glaubens durch historische Forschung kann es nach Bultmann nicht geben. Er bestreitet damit eine theologische Relevanz des historischen Jesu um der Exklusivität des Kerygmas willen.673 Gleichzeitig unterstreicht er damit auch die Unverfügbarkeit der Offenbarung sowie des Gnadenhandelns Gottes. Bultmanns Anliegen ist es, jedweden Sicherungs- und somit Verobjektivierungsversuch der Offenbarung kategorisch auszuschließen: „Völlig zufällig, völlig kontingent, völlig als Ereignis tritt das Wort in unsere Welt hinein. Keine Garantie ist da, auf die hin geglaubt werden könnte.“674 Mit dieser Kontingenz der Offenbarung sichert Bultmann die Freiheit Gottes unter konsequenter Betonung des „Dass“ des Christusgeschehens. So nachvollziehbar sein Anliegen ist, so birgt diese Schutzmauer gegen jedwede Absicherungsversuche auch Probleme, die im Folgenden eingehend beleuchtet werden. Deutlich ist, dass sich die kritischen Anfragen, die Bultmann in den frühen Jahren entgegengeschlagen sind, alle um das Problem der Betonung des „Dass“ des Kerygmas drehen. Es ist erstaunlich, mit welcher Einmütigkeit sich die Kritik aus dem liberalen, linkstheologischen sowie konservativen, dialektischen Lager auf diesen Umstand stützt – auch wenn die Kritik jeweils anders gelagert ist.675 Die folgende Analyse wird verdeutlichen, inwieweit der Kerygmabegriff fragmentarisch bleibt. Bultmann bemüht sich, den unrelativierbaren Anspruchcharakter des Wortes Gottes im christologischen Kerygma zu betonen und gleichzeitig die Existenz des Menschen als geschichtliche in ihrer Beziehung zu Gott wahrzunehmen. Die Beziehung dieser beiden Pole, die anderer, grundsätzlicherer Natur ist als die der anderen Paradoxa, ist stark strapaziert.676 Das liegt an zwei

digkeit der Materialausbreitung, das Besondere ist vielmehr, daß der Hörer hineingezogen wird in eine Denkbewegung, teilnehmen darf an einem wissenschaftlichen Ringen und Verstehen, an philologischem Differenzieren und sachlichem Nuancieren, wobei immer die Kernfrage nach dem Kerygma und dem christlichen Selbstverständnis leitend bleibt.“ (D, E, Rudolf Bultmann als Lehrer und Mensch, in: KiZ 14 [1959], 257–261, 258). 672 Hans Blumenberg beschreibt die rein formale Seite des Kerygmas „als ein trotziges Daß-überhaupt“ (B, H, Matthäuspassion, Frankfurt am Main 1988, 39), das dann für allerlei inhaltliche Bestimmungen aufgrund der zuvor betriebenen Reduktion frei sei. 673 Vgl. M, G M, Vom Unglauben zum Glauben. Zur Theologie der Entscheidung bei Rudolf Bultmann (ThSt[B] 118), Zürich 1976, 45. 674 B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 37. 675 Vgl. dazu M, J, The Scope of Demythologizing, 222–230. 676 „Die nominalistische Aufhebung des Zusammenhanges zwischen Kerygma und Theologie, die schon angezeigt wurde, wird hier erneut faßbar in der Frage: wie kann der Glaube

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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grundsätzlichen Problemen, die sich unter den Begriffen der Punktualität und Formalität fassen lassen und sich wiederum unter den Generalverdacht einer Verkürzung der christlichen Botschaft formieren. Unter beiden Stichworten sammelt sich ein breiter Strom an kritischen Stimmen, die Bultmann immer wieder entgegengebracht worden sind. Beiden wird im Folgenden zunächst kurz nachgegangen, um daran anschließend ihre Berechtigung zu hinterfragen. Dabei wird deutlich werden, dass Bultmann vor allem an der Betonung der Doppelstruktur des Kerygmas interessiert ist. So möchte er zum einen das Kerygma in seiner grundsätzlichen Verstehbarkeit und somit in seiner Bedeutung für das menschliche Dasein verstanden wissen, zum anderen aber die Unverfügbarkeit des Kerygmas betonen. Zwischen diesen beiden Anliegen changiert der bultmannsche Kerygmabegriff. Auch wenn Bultmann das vergegenwärtigte Christusgeschehen als Inhalt des Kerygmas bestimmt, bleibt die inhaltliche Frage nach dem Konnex von Verstehen und Verstandensein auf Seiten des menschlichen Daseins offen. Diese offene Frage lässt sich unter die Stichpunkte „Punktualität“ und „Überbetonung der Formalität“ einordnen.

4.1 Die Punktualität des Kerygmas im Augenblick der Entscheidung Bultmann qualifiziert das Kerygma als das entscheidende Moment für das geschichtliche Dasein und die menschliche Existenz. In ihm werde der Anspruch an den Menschen deutlich, seine Sicherheit aufzugeben, um wirklich frei zu sein und im Glauben als freier Tat des Gehorsams sich selbst neu zu verstehen. Durch das Kerygma sei der Mensch in die Entscheidung gestellt, sich gewinnen oder verlieren. Es hat fast den Anschein, als überfalle das Kerygma den Menschen an einem bestimmten Punkt in seinem Leben, an dem er das Kerygma als solches wahrnimmt und seinen Anspruch wirklich hört. Dieses Kerygma scheint punktuell verkürzt677 und somit gleichzeitig mythischen Charakters678 zu sein. Dieser Eindruck entsteht ob der Tatsache, dass das Kerygma im Kontrast zu anderen Ereignissen von einzigartiger Qualität sei.679 Denn es stellt den Menschen nach als das bloße Angerufensein, als Antwort auf die Faktizität eines begegnenden Daß jene Erkenntnis ,enthalten‘, die in der Theologie ,erhoben‘ wird? Wieder zeigt sich: die Formalisierung des im Glauben angenommenen Kerygma zum puren Appell, zur reinen Anstößigkeit, macht zwar diesen idealen Limes unangreifbar, aber sie macht ihn zugleich auch unvertretbar.“ (B, H, Marginalien zur theologischen Logik Rudolf Bultmanns, in: PhR 2 [1954], 121–140, 127). 677 Zur Punktualität des Kerygmas s. K, U H. J., Hermeneutische Theologie, 98–119, insb. 118. 678 In diese Richtung und zu dem Stichwort des Mythischen s. B, F, Entmythologisierung oder Entkerygmatisierung der Theologie, in: Hans Werner Bartsch, (Hg.), Kerygma und Mythos II. Diskussion und Stimmung zum Problem der Entmythologisierung (ThF 2), Hamburg 1952, 85–101. 679 „The kerygma speaks to human existence, but it does not speak out of human existence. lt is the proclamation of God’s word addressed to man in his saving acts in Jesus Christ.“ (M, J, The Scope of Demythologizing, 23).

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Bultmann in die eigentliche Entscheidung, führt zum wirklichen Neuverstehen sowie Verstandensein und kann nur im Glauben verstanden werden.680 Es ist der Ereignischarakter, der für den Vorwurf einer Punktualität sorgt. Denn, wenn das Kerygma immer wieder Ereignis werden muss und in der Predigt wird, dann zieht sich das Ganze der christlichen Botschaft auf dieses Ereignis zusammen. Das Kerygma ist der Kulminationspunkt, an dem sich alles entscheidet, der aber keine andere Deutung als den des punktuellen Ereignisses zuzulassen scheint. Alles ist hierauf ausgerichtet: On the contrary, to hear the Scriptures as the Word of God means to hear them as a word which is adressed to me, as kerygma, as a proclamation. Then my understanding is not a neutral one, but rather my response to a call. The fact that the word of the Scriptures is God’s Word cannot be demonstrated objectively; it is an event which happens here and now. God’s Word is hidden in the Scriptures as each action of God is hidden everywhere.681

Die Punktualität des sich immer wieder neu ereignenden Kerygmas findet ihr Pendant in der Rede vom Augenblick in der bultmannschen Theologie. Bultmann qualifiziert den Augenblick – korrespondierend mit dem Ereignis des Kerygmas – als den entscheidenden Moment für das geschichtliche Dasein. Es ist für ihn der Augenblick, in dem sich alles für die menschliche Existenz entscheidet, in dem der Mensch mit seiner ganzen Existenz infrage gestellt wird. Nun unterscheidet sich dieser Augenblick von alltäglichen Augenblicken. Existieren bedeutet für Bultmann immer schon die Entscheidung in den Augenblicken. Das zeichnet für ihn die Geschichtlichkeit des Daseins aus. Doch werde der alles entscheidende Augenblick von Gott durch die Offenbarung als ein solcher qualifiziert:682 Die Augenblicke der Entscheidung, durch die er [sc. der Mensch] hindurchgeht, mögen, menschlich gesehen, wohl im Zusammenhang einer Charakterentwicklung verständlich sein; vom Gesichtspunkt des Glaubens aus stehen sie nicht im Zusammenhang einer Entwicklung, eines Fortschritts; denn sie verlangen, daß sich der Glaubende in ihnen jedesmal ganz aufs Spiel setzt, um sich ganz zu gewinnen oder zu verlieren. Die Begegnung des Augenblicks will ihn je neu machen, ihn von sich selbst, so wie er in das Jetzt kommt, frei machen. Der Augenblick bietet ihm sozusagen sich selbst als Neuen dar, und die Frage der Entscheidung des Augenblicks ist die, ob sich der Mensch diesem Geschenk öffnet oder verschließt. Sein Sein steht vor ihm; und er wird, wenn er sich in der Entscheidung von sich selbst abwendet und sich dem Geschenk des Augenblicks öffnet, der, der er ist – nicht sub specie der Idee, sondern realiter.683

Bultmann stellt an dieser Stelle die Punktualität des Augenblicks unmissverständlich heraus. Problematisch erscheint dabei die Sonderstellung desselben insofern, als auf den ersten Blick kein Platz für Entwicklung oder für Zeit bleibt. Bultmann kontrastiert den Augenblick der Entscheidung durch den Anspruch

680

Vgl. K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 21. B, R, Jesus Christ and Mythology, 71. 682 Vgl. B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 30 f. 683 B, R, Humanismus und Christentum (1948), 139. 681

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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des Kerygmas gerade gegen die alltäglichen Augenblicke des menschlichen Daseins. Eine Kontinuität kann er nur kritisch sehen, wenn er den Moment des Augenblicks als einen solchen versteht, in dem „sich der Glaubende […] jedesmal ganz aufs Spiel setzt, um sich ganz zu gewinnen oder zu verlieren.“684 Darüber hinaus erscheint die Vergangenheit in der obigen Passage nur noch als Negativfolie. Im Glauben werde der Mensch von seiner je eigenen Vergangenheit und letztlich von sich selbst befreit: „[D]enn es ist Erlösung, daß der Mensch von sich selbst frei wird.“685 Fast schon als Gefangenschaft wird hier die Vergangenheit vorgestellt, aus der nur der Anspruch des Kerygmas im Augenblick den Menschen befreien könne. Die Potentialität bleibt bei Bultmann allerdings immer nur bezogen auf den Augenblick der Entscheidung, der sich je und je neu ereignen könne. Der Mensch könne von sich selbst nur befreit werden, wenn er auf den Anspruch Gottes angemessen antworte. Diese Antwort ist allerdings von ihm gefordert, ja das Wort „befiehlt“ sogar den Gehorsam auf Seiten des Menschen.686 Zuspruch und Anspruch finden sich bei Bultmann an verschiedener Stelle unterschiedlich betont. Wie die Rede vom Befehl die unhintergehbare Autorität des Wortes Gottes klarstellt, so wird sie entschärft, wenn Bultmann an anderer Stelle dem gläubigen Dasein die Aufgabe zuteilt, im tätigen Handeln auf das Wort zu antworten.687 So sind im Augenblick der Entscheidung Passivität und Aktivität auf Seiten des zum Glauben kommenden Daseins auf eigentümliche Weise in Spannung gehalten.688 Am greifbarsten wird dies an der Rede vom Glauben als „freie[r] Tat des Gehorsams“689, mit der Bultmann versucht, sowohl dem Wort Gottes als auch dem geschichtlichen Dasein gerecht zu werden. Alles konzentriert sich bei Bultmann für den Menschen also auf den durch Gottes Offenbarung qualifizierten Augenblick: „Denn das Sein im Augenblick ist sein eigentliches Sein.“690 Im Augenblick könne sich das Dasein seiner selbst vollends bewusst werden und somit werde sein Handeln in eben diesem als alles entscheidend qualifiziert.691 Der Augenblick ist bei Bultmann der Moment der 684 685

Ebd. B, R, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung,

19. 686

Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 153. Vgl. dazu H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 246 f. 688 In anderen Worten beschreibt Hartmut von Sass diese Spannung von Passivität und Aktivität in der Glaubenskonstitution folgendermaßen: „And yet, God is not an object outside of our existence, since God is precisely the reality that determines our existence in faith. Then – in that very ,moment‘ – God is no longer the object of faith, but its subject and agent. To exist as a believer entails, accordingly, this paradox of substituting and inverting subjects. Faith is, for Bultmann, the response to the preaching (,Kerygma‘) in which God addresses man. And this trusting faith is only credible in explicit contrast to the world.“ (S, H , Between the Times – and Sometimes Beyond: An Essay in Dialectic Theology and its Critique of Religion and „Religion“, in: Open Theology 6 [2020], 475–495, 482). 689 B, R, Theologie des Neuen Testaments, 317. 690 B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 30. 691 Die Konzentration auf den Augenblick ist bei Bultmann auf die Ausführungen Kier687

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

allumfassenden Entscheidung.692 Zu einem solch entscheidenden Moment wird er bei ihm allerdings nur durch das „Offenbarungswort“693 Gottes. Es ist Gott, der den Moment des Augenblicks als einen solch entscheidenden qualifiziert,694 als einen, in dem sich das menschliche Dasein seiner selbst in besonderer Weise bewusst wird und sich neu verstehen kann.695 So wird auch an dieser Stelle der Konnex von Glauben und Verstehen betont.696 Ein wahrhaft neues Selbstverständnis, ein wirklicher Gewinn der eigenen Existenz, die Entscheidung für das Leben, die wirkliche Freiheit kann es für Bultmann nur in der angemessenen Antwort auf den Anspruch Gottes durch das Kerygma im Augenblick der Entscheidung geben.697 Der Augenblick lässt sich aus Bultmanns Verständnis der Verkündigung Jesu als eschatological event ableiten: Die eigentliche Bedeutung der ,Gottesherrschaft‘ liegt also für die Verkündigung Jesu jedenfalls nicht in den dramatischen Ereignissen ihres Kommens und in dem, was sich menschliche Phantasie über ihren Zustand auszumalen vermag. Sie interessiert ihn als Zustand überhaupt nicht, sondern als das wunderbare Ereignis, das für den Menschen das große Entweder-Oder bedeutet, das den Menschen in die Entscheidung stellt.698 kegaards aus Der Begriff der Angst zurückzuführen (vgl. B, C, Kierkegaard receptus I, 284–292). Kierkegaard weist auf den zweideutigen Charakter des Augenblicks hin, in dem Zeit und Ewigkeit aufeinander bezogen und doch nicht greifbar seien: „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt.“ (K, Sø, Der Begriff der Angst, in: Ders., Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst, hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, München 62015, 441–640, 547). 692 Vgl. dazu M, M, Gegenwart, die sich nicht dehnt. Eine kritische Erinnerung an Bultmanns Zeitverständnis, in: Dieter Georgi/Michael Moxter/Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994, 108–122, 112 f. 693 B, R, Theologische Enzyklopädie, 63. 694 Vgl. H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 247; J, E, Glauben und Verstehen. 69 f. 695 Vgl. M, M, Gegenwart, die sich nicht dehnt, 112 f. 696 Im Hinblick auf den Konnex im Zusammenhang des Augenblicks betont Bultmann die existentielle Dimension und hält somit die Bedeutung für das individuelle Dasein fest: „Vielmehr ist die Erkenntnis Gottes existentiell gemeint als die Erkenntnis des Augenblicks, – des Augenblicks, in dessen Begegnung Gottes Gabe und Forderung, Gottes Gericht und Gnade begegnen als Ruf zur Tat, wie als Ruf zur Übernahme des Schicksals im Guten wie im Bösen.“ (B, R, Humanismus und Christentum [1948], 136). 697 Abzulesen ist dieser Zusammenhang an folgender prägnanter Passage: „Nur das je zum Augenblick gesagte Wort kann als Offenbarung verstanden werden, und zwar, indem es eben den Anspruch des Augenblicks erkennen lehrt. Der Anspruch des Augenblicks müßte als Gottes Wort verstanden werden, und er wird es nur durch das zum Augenblick gesprochene Wort der Vergebung. Das Hören des Wortes der Offenbarung und das Verstehen des Augenblicks müssen also eine Einheit bilden. Wenn jenes der Glaube ist und dieses die Liebe, so müssen diese Eines sein. In der Entscheidung des Glaubens fällt die Entscheidung der Liebe, und diese fällt nicht ohne jene.“ (B, R, Theologische Enzyklopädie, 144). 698 B, R, Jesus, 38.

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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Bultmann spitzt sodann das eschatological event zu, wenn er an anderer Stelle vom „eschatologische[n] Jetzt“699 spricht. In der Aufnahme der Rede vom Augenblick gepaart mit dem eschatologischen Jetzt beschreibt Bultmann den entscheidenden Moment für das einzelne Dasein. Im Augenblick, hergeleitet von der Verkündigung Jesu über den verkündigten Christus als christologisches Kerygma, wird der Mensch nach Bultmann vor die Entscheidung über sein Dasein gestellt und mit Gottes Anspruch konfrontiert: „Dies jeweilige Jetzt des Angesprochenseins, dieser Augenblick, ist das eschatologische Jetzt, weil in ihm die Entscheidung zwischen Tod und Leben fällt.“700 Im Augenblick erkennt der Mensch nach Bultmann den Anspruch Gottes, der von der Zukunft aus immer wieder den Menschen in seiner Gegenwart treffe und ihn vor die Entscheidung stelle.701 Anhand seiner Ausführungen wird deutlich, dass der Ort des Augenblicks die Predigt ist.702 In ihr gelange Christus durch das christologische Kerygma in „eigentümlicher Weise [zur] Gegenwart“703. Damit ist ein Weg vom Verständnis der Verkündigung Jesu hin zum Verständnis des Kerygmas gezeichnet, das wiederum in der Predigt gegenwärtig werde. Als Scharnier fungiert bei Bultmann das eschatologische Jetzt. Die Stärke der Augenblickssemantik ist in der Betonung der Unverfügbarkeit des Kerygmas zu sehen.704 Besonders deutlich wird dieser Aspekt, wenn Bultmann von der Entscheidung im Augenblick als „Wagnis“705 spricht oder sie als „Risiko“706 bezeichnet. Immer wieder betont Bultmann die Ungesichertheit des Kerygmas, die er mit dem unverfügbaren Augenblick korrespondieren lässt: Eben deshalb ist die Glaubensentscheidung nicht eine einmal abgetane, sondern eine für das ganze Leben gefällte, das heißt aber in aller Zukunft als Entscheidung festgehaltene, neu zu vollziehende. Man hat Glauben nicht als eine eingesehene Überzeugung als Besitz, sondern nur im Vollzuge der Entscheidung des Augenblicks, und man hat ihn nicht neben anderen Entscheidungen, sondern in ihnen. Der Glaubende ist deshalb nie ein Fertiger, sondern immer ein Werdender – ,Werdender‘ aber nicht im Sinne des idealistischen Entwicklungsgedankens […]. Der Glaubende ist immer in Unsicherheit.707

Bultmann greift hier auf seine Einsichten zur Geschichtlichkeit des Daseins zurück, um die Bedeutung der Entscheidung für das Dasein zu plausibilisieren. Im Augenblick werde die Beziehung von Gott und Mensch deutlich. Das Gnaden-

699

B, R, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, 144. Ebd. 701 Vgl. B, R, Jesus, 46 f. 702 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 84. 703 Ebd. 704 Vgl. P, E M, Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung, 254. 705 B, R, Wissenschaft und Existenz, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 107–121, 119. 706 A.a.O., 120. 707 B, R, Theologische Enzyklopädie, 145. 700

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geschenk Gottes treffe auf das menschliche Dasein. Dieses Geschehen bleibt bei Bultmann zeitlos, da in ihm die ganze Existenz in der Beziehung zu Gott vergegenwärtigt wird, also die Ewigkeit Gottes auf die Gegenwart des menschlichen Daseins trifft.708 Diese Einsicht kann in struktureller Ähnlichkeit zur Inkarnation verstanden werden. Bultmann kann gar nicht anders, als diese Begegnung mit der Metapher des Augenblicks auszudrücken, will er sie nicht verobjektivieren respektive in die Verfügungssphäre des menschlichen Daseins ziehen.709 Bultmann gelingt es mit der Rede vom Augenblick, die Gegenwart des Daseins mit der Zukünftigkeit Gottes zu vermitteln.710 Der relationale Charakter des Augenblicks wird an folgendem Beispiel deutlich, das Bultmann gibt: Daß mein Vater mein Vater ist, läßt sich scheinbar objektiv feststellen und auch durch Beobachtung wahrnehmen. Aber daß er mein Vater ist, läßt sich im Grunde nur von einem einzigen wahrnehmen, nämlich von mir; und von mir nicht durch uninteressierte Beobachtung, sondern nur in der persönlichen Begegnung, in der er mir Vater ist und ich ihn mir Vater sein lasse.711

Die Einmaligkeit und die Kontingenz dieser Begegnung werden durch die Punktualität des Kerygmas unterstrichen. Dennoch ist das Ringen um die sprachliche Akzentuierung der Begegnung Gottes mit dem jeweiligen Dasein deutlich wahrnehmbar. Eine Spur der Kontinuität des Daseins lässt sich in der jeweiligen Entscheidung über das bisherige Dasein erkennen, zu dem der Mensch in der Begegnung befähigt wird: „Ein Zeichen für diese Identität des Ich in dem Strom der Entscheidungen sind Erinnerung und Gewissen und das Phänomen der Reue.“712 Bultmann erkennt das Moment der Kontinuität des Daseins als unumgänglich an. Über seine Ausführungen zur Geschichtlichkeit des Daseins versucht er diese einzufangen. An der Unableitbarkeit der neuen Entscheidung muss Bultmann allerdings festhalten, wenn er behauptet, dass es sich bei dieser Entscheidung um die einzig wahre handelt.713 Wenn der Augenblick der Entscheidung durch das von Gott hinzugesprochene Wort qualifiziert ist, dann muss sich die Entscheidung von anderen Entscheidungen unterscheiden: Die im Augenblick von mir geforderte Entscheidung reißt mich in gewisser Weise aus dem Zusammenhang meines Daseinsverlaufs heraus; in gewisser Weise! Denn in der Entscheidung handelt es sich ja immer auch um die Stellungnahme zu meinem bisherigen Dasein, dem ich entweder treu zu sein habe, oder von dem ich mich zu einem neuen Leben abkehren soll. Aber indem der Zusammenhang meines Daseins durch eine neue Begegnung – nicht in seinem Daß, aber in seinem Wie – fraglich gemacht wird, ist der Augenblick der Entscheidung ein isoliertes, besser: ein neues Jetzt, und meine Entscheidung ist nicht einfach

708 Bultmann spricht auch „von der Gegenwart der Ewigkeit in der Zeit.“ (B, R, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 348). 709 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 156. 710 Vgl. B, C, Kierkegaard receptus I, 290. 711 B, R, Wissenschaft und Existenz, 116. 712 B, R, Geschichte und Eschatologie, 174. 713 Vgl. B, R, Die Krisis des Glaubens, 15 f.

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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aus dem Früheren ableitbar, wie etwa eine wissenschaftliche Erkenntnis das Ergebnis vorausgegangener Erkenntnisse sein kann.714

Das Problem der Punktualität des Kerygmas ist virulent. Bultmann stellt den einen entscheidenden Augenblick gegen die alltägliche Lebenswelt.715 Vor allem an der Kontrastierung von Gegenwart und Vergangenheit wird dies deutlich. Sofern Letztere nur als Negativfolie fungiert, bleibt sie gewissermaßen unverbunden mit dem Augenblick der Entscheidung, in dem nach Bultmann das gesamte Dasein gegenwärtig wird.716 Den Fokus legt Bultmann hier auf das Loskommen von der Vergangenheit. Zur allgemeinen Freiheitssemantik in Bezug auf die Vergangenheit gesellt sich bei Bultmann eine Ausrichtung auf die Zukunft: „Der Mensch kann nie aus der Zeit herausspringen, sondern hat nur zu wählen, ob seine Gegenwart durch die Zukunft oder durch die Vergangenheit bestimmt sein soll.“717 Von der Vergangenheit für die Zukunft frei zu werden durch das Kerygma ist für Bultmann das movens des Daseins. Durch die Konzentration auf den entscheidenden Augenblick bleibt dieser „isoliert im Gesamtkontext geschichtlicher Wirklichkeit“718. Dieser Hiatus ist problematisch, denn mit dieser Vorstellung der Entscheidung im Augenblick bleibt die Frage nach menschlicher Erfahrung innerhalb eben jenes unbeantwortet. Dadurch liefert Bultmann das Daseins gewissermaßen an eine „Turbulenz der Zeit“719 aus, was aus doppeltem Blickwinkel problematisch bleibt: So ist zum einen ausgehend vom Dasein kein Platz für menschliche Erfahrung als Kontinuitätsmoment gegeben, da es Bultmann, überspitzt gesagt, nur um das nunc stans geht, das immer wieder neu zu erreichen ist. Zwar ist er durchaus an der Betonung der Kontinuität interessiert und beschreibt diese rechtfertigungstheologisch: [D]ie Vergebung setzt gerade die Kontinuität des Gläubigen als des neuen mit dem alten Menschen voraus. Er, der Mensch ist es, der glaubt: simul peccator, simul iustus; der Sünder ist der Gerechtfertigte.720

714

B, R, Wissenschaft und Existenz, 118. Vgl. P, O, Glauben und Verstehen, 111. 716 Die punktuelle Dimension des Augenblicks kritisiert indirekt auch Jürgen Moltmann, wenn er sich unter dem Schlagwort der „transzendentalen Subjektivität des Menschen“ mit Bultmanns Eschatologie auseinandersetzt (vgl. M, J, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie [BEvTh 38] München 1966, 51–61). Er weist aus dem Eschatologieverständnis Bultmanns auf die Konzentration des Augenblicks hin. Somit wird deutlich, dass sich die Fokussierung auf die Gegenwart um die existentiell verstandene Eschatologie ergänzen lässt und sich Bultmann dadurch – bewusst oder unbewusst – aus zwei Richtungen dem Augenblick der Entscheidung nähert. 717 B, R, Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 71972, 65–84, 80. 718 H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 247. 719 M, M, Gegenwart, die sich nicht dehnt, 115. 720 B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 296. 715

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Allerdings steht diese Äußerung der Unverfügbarkeit des Augenblicks der Entscheidung gegenüber, den es immer wieder zu ergreifen gelte. Damit aber gerät die jeweilige Entscheidung im Augenblick in die Gefahr einer reinen „Perpetuierung des Beginns“721 angesichts des Kerygmas. Zum anderen bleibt die Zeit im Augenblick selbst unterbestimmt. Bultmann reduziert die Frage des Verstehens der Existenz auf die Frage nach dem Verstehen des Augenblicks.722 Beide Beobachtungen laufen in folgender, sich freilich bedingender, Konsequenz zusammen: Die Punktualität des Augenblicks, der als Augenblick radikaler Entscheidung zugleich Negation des Verweilens ist, schlägt in die Beschleunigung der Zeit um. Die Interpretation der Rechtfertigungsbotschaft im Rahmen des Zeitbegriffs, ihre Temporalisierung, entfaltet sich als Temposteigerung. Die Zeit wird zur Kurzzeit […]. Inwiefern jedoch von einem ,Innewerden‘, einer ,denkenden Betrachtung‘ oder auch nur von ,Verstehen‘ gesprochen werden kann, wenn dem Vollzug solcher Akte nur eine Schrumpfzeit zur Verfügung steht, muß ein rezeptionsästhetisches Rätsel bleiben.723

Die Frage nach der Kontinuität des Daseins bleibt unbeantwortet. Bei Bultmann ist nicht mehr als eine Spur der Beantwortung zu erkennen. Vielmehr erscheint der Augenblick der Entscheidung losgelöst von der Vergangenheit sowie permanent aus der Zukunft kommend und fällt somit „aus dem geschichtlichen Geschehen heraus“724. Bultmann kann den Augenblick ob seiner starken Hervorhebung nicht in Einklang mit menschlicher Zeiterfahrung bringen – und versucht es auch gar nicht erst.725 Ihm ist eher an der theologischen Spitzenaussage als an detaillierter Erläuterung gelegen.726 So ist die Eindeutigkeit seines Anliegens Stärke und Schwäche zugleich. Es gelingt ihm mit seinen präzisen Formulierungen zwar, die inhaltliche wie qualitative Unterscheidung des Glaubens als Modus des Verstehens zu beschreiben, die er im Augenblick als durch Gott qualifizierten kulminieren lässt. Doch bleibt die Frage nach dem Zusammenhang von vergangener, gegenwärtiger sowie zukünftiger Erfahrung respektive die Entwicklung des Daseins in und der über die Zeit letztlich unterbelichtet, auch wenn Bultmann über „den Neuvollzug als Aktualisierung und Bewährung der Grundentscheidung“727 nachdenkt. Die kritischen Anmerkungen führen insofern zum nächsten Punkt – der Überbetonung der Formalität des Kerygmas –, als eine genauere Bestimmung des Augenblicks der Entscheidung ausbleibt. Zwar gibt Bultmann Aufschluss über die qualitas, doch zielen alle Definitionen des Augenblicks letztlich auf eine funktionale Beschreibung. Das liegt hauptsächlich daran, dass er die Unverfügbarkeit

721

Vgl. M, G M, Vom Unglauben zum Glauben, 42 f. Vgl. J, E, Glauben und Verstehen, 70. 723 M, M, Gegenwart, die sich nicht dehnt, 117. 724 B, R, Theologische Enzyklopädie, 144. 725 Vgl. dazu M, M, Gegenwart, die sich nicht dehnt, 114. 726 Vgl. ebd. 727 M, G M, Vom Unglauben zum Glauben, 43.

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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Gottes und damit die Unverfügbarkeit des Kerygmas zu wahren sucht728 und für ihn gleichzeitig der Inhalt des Kerygmas das Christusgeschehen ist.

4.2 Die Überbetonung der Formalität des Kerygmas Lag das Augenmerk im vorherigen Abschnitt hauptsächlich auf der zeitlichen Dimension des Kerygmas unter Einbezug der bultmannschen Rede vom Augenblick der Entscheidung, so wird nun davon ausgehend die bereits angeklungene funktionale Beschreibung problematisiert.729 In aller Kürze kann dies geschehen, da sich die Formalität des als Anspruch verstandenen Kerygmas als eine Lesart aus der Kritik des Augenblicks ergibt. Dennoch scheint eine eigenständige, wenn auch pointierte Betrachtung sinnvoll, um die Probleme des bultmannschen Kerygmabegriffs in ihrer Breite wahrzunehmen. Wie bereits gezeigt lässt sich das Kerygma als Schlüsselkategorie der bultmannschen Theologie bestimmen. Somit stehen und fallen die Plausibilität sowie die Tragkraft seiner Theologie mit dem Kerygmabegriff. Über die lakonische Charakterisierung des Kerygmas als christologisches kommt Bultmann nicht hinaus. Warum er nicht an einer näheren Beschreibung interessiert ist, wurde bereits deutlich. Im Hinblick auf den historischen Jesus reicht Bultmann das „Dass“ dessen Gekommenseins, als Anker, als link zur Plausibilisierung des christologischen Kerygmas, als Spannungsbogen von Verkündigendem zum Verkündigten und somit auch in der Konsequenz zum gegenwärtigen Dasein. Dies auszusagen und existentiell zu deuten, gelingt Bultmann mit seiner Kerygmavorstellung und hierin ist auch sein theologisches Anliegen zu sehen. Das Kerygma sei zu verstehen als Anrede, die als solche den Menschen „gegenüber Gott zum Du macht, zum Selbst werden läßt“730. Allerdings bleibt Bultmann eine Antwort auf die Frage schuldig, inwieweit das Kerygma Raum für den Konnex von Selbstverstehen und Verstandensein seitens des menschlichen Daseins lässt. Durch die Überbetonung der Formalität des Kerygmas in dessen Funktionalität, bleibt die Frage nach dem inhaltlichen Charakteristikum des Kerygmas unterbelichtet. Dieser Eindruck mag überraschend erscheinen, beschäftigt sich Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments doch scheinbar ausführlich mit dem Inhalt des Kerygmas. Auf knapp 150 Seiten widmet er sich dem „Kerygma der Urgemeinde“ und dem „Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus“.731 Ganz grundsätzlich fragt Bultmann danach, was ins Kerygma zur jewei728 Vgl. P, E M, Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung, 263. 729 Die Anfrage des bultmannschen Kerygmas unter dem Stichwort der Formalität geht prominent auf Hans Blumenberg zurück (vgl. B, H, Marginalien zur theologischen Logik Rudolf Bultmanns, 121–140). 730 B, R, Formen menschlicher Gemeinschaft, 272. 731 S. B, R, Theologie des Neuen Testaments, IX–XI.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

ligen Zeit hineingehört, aber auch hier bleibt er auf struktureller Ebene. Bultmann fragt nach den grundsätzlichen Topoi des Kerygmas und versucht damit Entwicklungslinien zu zeigen, die sich aus den gewissen Umständen der Zeit ergeben. Er spielt also eher verschiedene Entwicklungen über den Kerygmabegriff als dass er eine inhaltliche Ausleuchtung vornimmt, die über das von uns bereits Erörterte hinausginge. Die Ausführungen zum Kerygma sind als Voraussetzungen neutestamentlicher Theologie zu verstehen. Schon hier hält er fest, „das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar, Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen.“732 Bultmann zeigt in seiner Theologie des Neuen Testaments die Entwicklungen und Motive auf, die von der Verkündigung Jesu ausgehend zunächst zum Kerygma der Urgemeinde und später zum Kerygma der hellenistischen Gemeinde geführt haben. Schon im Zusammenhang mit der Urgemeinde rückt Bultmann den Osterglauben in den Mittelpunkt.733 Im Horizont von Kreuz und Auferstehung verstünden die Menschen Jesu irdisches Wirken neu.734 Somit „gewinnt seine Gestalt auch eine die Gegenwart bestimmende Macht.“735 Insofern geben die Ausführungen zwar Aufschluss darüber, wie Bultmann seine theologischen Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit dem Neuen Testament generiert, jedoch bleibt die Kritik der Formalität valide. Die Rede vom Glauben als „Entweltlichung“, die Bultmann dem JohannesEvangelium entlehnt, bestätigt diesen Eindruck. Unter diesem Begriff versteht Bultmann den Glauben „als Zerbrechung aller menschlichen Maßstäbe und Wertungen“736 und hebt somit noch einmal eindrücklich auf den funktionalen Charakter des Kerygmas ab. Denn dieses führe zum Glauben, verstanden als Entweltlichung als neues, geschenktes Selbstverständnis durch seinen Anspruch. Das Kerygma bleibt so formal, da Bultmann sich darum bemüht, es von jedweder weltlichen Verstrickung, jedweder Relativierung freizuhalten – es kann nur Anspruch sein.737 Es gelingt ihm, die bleibende Bedeutung für das individuelle Dasein zu betonen, ohne dabei ontologische Charakteristika Gottes ableiten zu wollen:738 Das „Dass“ ist für Bultmann das Entscheidende: dass das Kerygma im „Hier und Jetzt“739 den Menschen anredet und ihm etwas offenbart, was vorher 732

A.a.O., 2. Vgl. a.a.O., 50. 734 Vgl. ebd. 735 Ebd. 736 A.a.O., 428. 737 Vgl. S, A, Modernisierte Theologie? Zeitgeschichtliche Reflexionen in Rudolf Bultmanns Theologie des Neuen Testaments, in: ThR Neue Folge 79 (2014), 161–189, 187. 738 Vgl. L, U, Heideggers Ausarbeitung der Frage nach dem Sein und die existential-analytische Begrifflichkeit in der evangelischen Theologie Das Problem der ontologischen Konsequenzen der existentialen Interpretation, in: ZThK 53 (1956), 230–251, 242 f. 739 B, R, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, 208. 733

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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verborgen war, eine neue Möglichkeit des Daseins.740 Im Kerygma werde dem Dasein sein Vor-Gott-gestellt-Sein deutlich.741 Im Angesprochensein könne sich das Dasein gewinnen, indem es von sich loskomme. Das Kerygma ist bei Bultmann das Vehikel, das das menschliche Dasein zur Eigentlichkeit führt. Allerdings bleibt die Frage offen, als was Bultmann das Kerygma darüber hinaus versteht. Da er den Anspruchcharakter betont und auf den Augenblick der Entscheidung abhebt, bleibt der Eindruck einer Überbetonung der Funktionalität bestehen. An dieser Stelle laufen die Kritikpunkte bezüglich der Punktualität wie Formalität gewissermaßen zusammen. Das eine bedingt das andere. So verständlich die Beweggründe Bultmanns auch sein mögen und so klar seine Gedanken formuliert sind, bleiben Punktualität und Formalität problematisch. In nuce laufen die Anfragen in einem Punkt zusammen, der sich, sprachlich angelehnt an Gerhard Ebeling, folgendermaßen fassen läßt: Wie ist das Kerygma eigentlich als Kerygma zu verstehen?742 Diese pointierte Nachfrage zielt implizit auf die Verstehensbedingungen des Kerygmas selbst, fragt nach den Verstehensvollzügen auf Seiten des Menschen sowie nach der Zeit des Verstehens. In ihr ist die inhaltliche Bestimmung des Kerygmas als Christusgeschehen gleichermaßen gehalten wie die zeitliche Konzentration auf den Augenblick der Entscheidung. Bultmann lässt dem Verstehen des Kerygmas keine Zeit und kann somit auch nicht plausibilisieren, wie das Kerygma als Kerygma verstanden werden kann. Die Formalität zeigt sich also in der unreflektierten Frage nach dem Inhalt, also was eigentlich verstanden werden soll und danach wie verstanden werden soll. Bultmann schließt Wirkung und Inhalt im Kerygma kurz, wenn er konstatiert, dass das Kerygma das Kerygma selbst erschließe743 oder dass der Anredecharakter selbst zum Inhalt der Anrede gehöre.744 Mehr sagt Bultmann über das Kerygma nicht, da für ihn die Plausibilisierung von der Tatsache der Verkündigung Jesu über die urchristliche Christusbotschaft hin zur gegenwärtigen Bedeutung für das menschliche Dasein ausreicht. Bultmann überwindet damit auf eigene Weise den „garstige[n] breite[n] Graben“745 mithilfe der Rede vom eschatologischen Jetzt. Mit dieser Konzeption gelingt ihm zwar, die Vermittlung des Kerygmas über die Zeit hinweg, allerdings nicht, die Vermittlung des Wortes Gottes und des geschichtlichen Daseins als einen Verstehensprozess im Augenblick zu erklären. Die Behauptung des funktionalen „Dass“ lässt keinen Raum für Aktivität auf Seiten des menschlichen Daseins und kann somit in überspitzter Form eher als

740

Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 158. Vgl. a.a.O., 173. 742 Vgl. E, G, Theologie und Verkündigung, 38. 743 Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 160. 744 Vgl. a.a.O., 180. 745 L, G E, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Sämtliche Werke (Bd. 13), Unveränderter photomechanischer Abdruck der von Karl Lachmann und Franz Muncker 1886 bis 1924 herausgegebenen Ausgabe von Gotthold Ephraim Lessings sämtlichen Schriften, Berlin/New York 1979, 1–8, 8. 741

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

oktroyierter Freiheitsentzug denn als Freiheitsgewinn bezeichnet werden.746 In dem Freiheitsgewinn, also der Ermöglichung neuer Verstehensweisen durch das Kerygma, ist das menschliche Dasein somit zur reinen Passivität gezwungen. Ihm bleibt lediglich die Reaktion als „freie Tat des Gehorsams“ als Antwort auf das ihn ansprechende Kerygma. So klar er aussagen kann, was mit dem Anspruch des Kerygmas ausgesagt wird respektive was dieses für das menschliche Dasein bedeutet, so opak bleibt der genaue Vollzug: Der Gottesglaube redet nicht vom Seelengrunde, sondern vom ganzen Menschen, der in der Welt und in der Zeit steht, in der Gemeinschaft und in der Verantwortung, der je im Ruf des Augenblicks den Ruf Gottes hören soll und je im Entschluß, in der Tat seinen Gehorsam unter Gott durchführen soll. In solchem Gehorsam soll er seine Freiheit von der Welt gewinnen, von der Bindung an die Welt in Angst und Leichtsinn, in Selbsttäuschung und Eitelkeit, – aber nicht wie der Mystiker, indem er dem konkreten Denken, Entschließen und Handeln entflieht. Gerade in der Konkretheit des Lebens die Distanz wahren, die dem Entschluß und der Tat ihren vollen Ernst gibt, weil in ihr der Mensch als ein Freier denkt und handelt, – gerade das heißt Glauben.747

Bultmann lässt dem Wort Gottes überspitzt formuliert nur die Konfrontation.748 Alles entscheidend ist der Anspruch, den das Kerygma erhebt und der den Menschen herausfordert.749 Es trägt somit keinerlei „materiale Übermittlung“750 in sich, die über die funktionelle Bestimmung wie die der christologischen Attribution hinausgeht. Eigentümlich unterbelichtet bleibt somit das bultmannsche Kerygma in seiner Funktion der Vermittlung von Gott und Mensch. Einziger Maßstab für das bultmannsche Kerygma sind sein Anredecharakter sowie die Möglichkeit des Neuverstehens, legitimiert durch die Offenbarung in Christus,

746 In direkter Replik auf Bultmann sieht Blumenberg dieses Problem in aller Schärfe: „Theologie entfaltet die menschliche Antwort auf den Anspruch des Kerygma. Es gibt also für B. keine Theologie ,über‘ das Kerygma selbst, obwohl alle Theologie vom Kerygma herkommt. Ist dieser Zusammenhang ein alogischer? Das würde nicht nur bedeuten, daß jede theologische Aussage im Bezug zum Kerygma bloße Äquivokation wäre, sondern vor allem, daß der im Kerygma zur Entscheidung geforderte Mensch in dieser Entscheidung gar nicht frei sein könnte. Denn nur, wenn er im Kerygma den Grund seiner Entscheidung zu finden vermag, kann seine Antwort frei sein. Dann aber kann das Kerygma nicht alogisch, nicht purer eschatologischer Entscheidungsappell an ein liberum arbitrium indifferentiae sein. Dieses Problem wird wieder begegnen; hier war nur aufzuzeigen, daß es in der nominalistischen Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Kerygma bei B. seine Wurzeln hat. Dieser Nominalismus hat aber nicht nur den Vorteil, daß er das Kerygma unangreifbar macht, sondern auch den Nachteil, daß er ihm das Korrelat der Antwort, nämlich die Freiheit, entzieht.“ (B, H, Marginalien zur theologischen Logik Rudolf Bultmanns, 123 f.). 747 B, R, Die Krisis des Glaubens, 8 f. 748 Vgl. K, J, Eschatologie und Geschichte. Eine Untersuchung des Begriffes des Eschatologischen in der Theologie Rudolf Bultmanns (ThF 13), Hamburg 1957. 749 Vgl. B, R, Kirche und Lehre im Neuen Testament, 186. 750 B, H, Marginalien zur theologischen Logik Rudolf Bultmanns, 123.

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4. Das Kerygma als Schlüsselkategorie

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aber dieses neue Selbstverständnis bleibt insofern abstrakt und formalisiert als das Kerygma den (immer gleichen) Ruf zur Entscheidung beinhaltet, deren jeweilige Konkretionen eben nicht expliziert werden können, weil sie ein Akt oder eine Tat des konkreten Lebens bleiben müssen.751

Bultmann gelingt es nicht zu erklären, wie das Kerygma als Kerygma zu verstehen ist, wenngleich die Einzigartigkeit desselben deutlich wird: Das Wort der christlichen Verkündigung und die Geschichte, die es mitteilt, fallen zusammen, sind eins. Die Geschichte Christi ist keine schon vergangene, sondern vollzieht sich im verkündigten Wort.752

Mehr Auskunft als die, dass „die Geschichte Christi“ gegenwärtig wird, gibt er nicht, sodass sich der „Inhalt auf das bloße Daß des Gekommenseins Christi“753 reduziert. Wie dieser Inhalt allerdings zu verstehen ist, bleibt offen beziehungsweise wird dem Einzelnen lediglich im Augenblick des Anspruchs offenbart.754 Das Kerygma bei Bultmann wird, indem er sich bemüht, es von jedweder Form einer Relativierung freizuhalten, personalistisch-existentiell enggeführt, da seine Wirkung mit dem Inhalt gleichgesetzt wird.755 Gleichzeitig ist sein Mythosverständnis im Hinblick auf das Kerygma problematisch. Bultmann legt nur einen Abbau der Vorwissenschaftlichkeit des Mythos durch seine existentiale Interpretation vor, reflektiert aber nicht die Bedingungen der Transformation in eine andere Sprachform. Zu fragen wäre, inwieweit die Theologie auf eine bestimmte Sprachform angewiesen ist und bleibt, um das christologische Kerygma als Heilsgeschehen zu plausibilisieren.756 Eine Spur der Aufweitung dieser punktuellen wie formalen Engführung lässt sich allerdings in der bultmannschen Rede von der Begegnung ausmachen. Bultmann plausibilisiert indirekt, weil kaum explizit genannt, den Augenblick der Entscheidung auch als Begegnung von Gott und Mensch.757 In dieser Figur kann der Versuch erkannt werden, die ambivalente Spannung von unverfügbarer Offenbarung und verstehbarem Kerygma noch einmal anders zu versprachlichen, ohne sie einseitig aufzulösen: 751

S, A, Modernisierte Theologie?, 182. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 292. 753 K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 37. 754 Vgl. ebd. 755 Vgl. W, M, Vom Wortgeschehen zu einer hermeneutischen Konzeption des Wortes Gottes. Paul Ricœur und seine Rezeption (in) der deutschsprachigen protestantischen Theologie, Berlin 2018, 30. 756 Vgl. auf dieser Linie K, U H. J., Arbeit am Mythos?, 173 f. 757 „Daß ich in der Sache mit Ihnen einig bin, brauche ich kaum zu sagen. Vortrefflich haben Sie das ,extra nos‘ im Gottesbegriff behandelt. U[nd] ich stimme ihnen völlig zu in dem Satz: ,Und die Unverfügbarkeit Gottes ist darstellbar allein in dem Gegenüber der Begegnung‘, u[nd] darin, daß Gott nur sagbar wird im Geschehen.“ (B, R, Brief an M. Mezger vom 26.09.1964, 2 S. hsl. Nachlass Rudolf Bultmann, Mn2–2304, Universitätsbibliothek Tübingen, zitiert nach: Z, W, Entwicklungen in Rudolf Bultmanns Gottesverständnis. Vom Gott jenseits der Welt zum Gott mitten in der Welt, in: ZThK 118 [2021], 160–183, 176). 752

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Dann gilt es also, sich jeweils offenzuhalten für die Begegnungen Gottes in der Welt, in der Zeit. Nicht die Anerkennung eines Gottesbildes, mag es noch so richtig sein, ist wirklicher Gottesglaube; vielmehr die Bereitschaft dafür, daß uns das Ewige jeweils in der Gegenwart begegnen will – jeweils in den wechselnden Situationen unseres Lebens. Die Bereitschaft besteht in der Offenheit, uns etwas wirklich begegnen zu lassen, das uns nicht das Ich sein läßt, das in seinen Zwecken und Plänen in sich abgeschlossen ist, sondern dessen Begegnung uns wandeln, uns immer neu werden lassen will. Die Situationen können ebenso solche der Beglückung wie der Enttäuschung, des Gefordertseins wie des Erleidens sein. Gefordert ist die Selbstlosigkeit, nicht als Methode moralischen Verhaltens, sondern als die Bereitschaft, uns nicht an unserem alten Selbst festzuhalten, sondern unser eigentliches Selbst immer neu zu empfangen. Diese Bereitschaft kann eine fragende, aber sie kann auch eine völlig unbewußte sein. Denn überraschend, wo wir es nicht erwarteten, kann uns Gott begegnen.758

Bultmann hält damit an der Transzendenz Gottes fest, obgleich er davon ausgeht, dass Gott dem Menschen in der Welt begegne.759 Mit der Begegnung plausibilisiert Bultmann das Ineinander von Transzendenz und Immanenz und schafft einen Raum für das angesprochene Subjekt und den ansprechenden Gott. Denn eine Begegnung umfasst nicht nur mehrere Akteure, die sich begegnen, sondern immer auch einen Ort und eine Zeit der Begegnung. Unter Berücksichtigung dieser Metapher lässt sich der Vorwurf der Engführung zwar nicht entkräften, aber doch abdämpfen, wenn man die damit implizit gegebene Orts- wie Zeitbestimmung aufnimmt. Inwieweit Bultmann seiner theologischen Zuspitzung auf den Konnex von Selbst- und Kerygmaverstehen in der Verkündigung nachgekommen ist, soll im Folgenden untersucht werden. Seine umfängliche und gut erschlossene Predigttätigkeit kann Aufschluss über die praktische Umsetzung seiner theologischen Überzeugungen geben. Neben der Rede von der Begegnung gibt Bultmann in seinen Predigten einen Hinweis darauf, dass sich das Kerygma als Narration verstehen lässt. Dieser impliziten Lesart, die in seiner praktischen Verkündigungsarbeit zu finden ist, wird im darauffolgenden Kapitel mithilfe der ricœurschen Hermeneutik explizit nachgegangen.

5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger Die Predigtenmanuskripte Rudolf Bultmanns zeichnen nicht nur ein eindrückliches Bild seiner theologischen Überzeugungen, sondern veranschaulichen auch, wie Bultmann seine existentiale Interpretation im Rahmen christlicher Verkündigung umgesetzt hat.760 Sie geben einen Eindruck von Bultmanns eigens aufge758

B, R, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 126. Vgl. Z, W, Entwicklungen in Rudolf Bultmanns Gottesverständnis. Vom Gott jenseits der Welt zum Gott mitten in der Welt, in: ZThK 118 (2021), 160–183, 183. 760 Ein Überblick über die Verkündigungstätigkeit Bultmanns samt Quellenlage ist zu finden bei H, E, Predigten, in: Christof Landmesser (Hg.), Bultmann 759

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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stellter Verpflichtung christlicher Verkündigung, in der das Christusgeschehen seine Fortsetzung finde.761 Denn für Bultmann ist klar, „daß der Glaube sich nur auf das Wort der Verkündigung gründet“762. Verkündigung solle keine bloße „Mitteilung von Tatsachen“763 sein, sondern dem Dasein ein neues Selbstverständnis erschließen:764 [D]er Charakter des mir begegnenden Wortes muß der sein, daß er mir mein Selbstverständnis erschließt beziehungsweise anbietet, daß er mir mich selbst verstehen lehrt, meinen Augenblick verstehen lehrt. Ein Wort, das ich nicht verstehen kann, indem ich mich unter ihm verstehe, kann ich nicht glauben. Die Predigt hat das Wort so zu verkünden, daß der Hörer die Worte Sünde und Gnade, Glaube und Liebe, Christus und Geist als Möglichkeiten seines Lebens verstehen kann, und daß die Predigt dies vermag, dafür zu sorgen ist die Aufgabe der Theologie.765

Zum einen wird hier deutlich, dass nach Bultmann theologische Arbeit in der Predigt mündet. Zum anderen wird sein Anspruch an die Predigt offensichtlich. Es geht ihm darum, die Inhalte des christlichen Glaubens als Möglichkeiten des je eigenen Existenzverständnisses zu plausibilisieren.766 Bultmanns Ansatz der existentialen Interpretation findet sich also auch hier wieder. Dementsprechend versucht er, das Kerygma in seiner Bedeutung für das menschliche Dasein zu verdeutlichen.767 Das kann seiner Ansicht nach nur in der Predigt gelingen, die „selbst zum Heilsfaktum“768 gehöre. Das Kerygma wird nach Bultmann also nur in der Predigt zur gegenwärtigen Anrede des Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Annahme der exklusiven Heilsbedeutung der Predigt ist Bultmanns eigene Predigttätigkeit zu verstehen. Im Folgenden wird auf der Grundlage von Bultmanns Predigten der Frage nachgegangen, wie er selbst das Kerygma zur Sprache zu bringen versucht. Seine Handbuch, Tübingen 2017, 199–205. Als einschlägige Arbeiten zu Bultmann als Prediger gelten weiterhin: H, E, Rudolf Bultmanns Predigten. Existentiale Interpretation und lutherisches Erbe (MThSt 26), Marburg 1989; D., Rudolf Bultmann als lutherischer Prediger, in: Ulrich H. J. Körtner u.a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 23–63; P, F, Rudolf Bultmann als Prediger. Verkündigung als Vollzug seiner Theologie. Kerygma und Mythos als Problem der Predigt, Hamburg 1970; H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 319–330; E, M, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, 133–175. 761 Vgl. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 289. 762 B, R, Zur Frage der Christologie, 106. 763 B, R, Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 122–130, 122. 764 Vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 201. 765 A.a.O., 158. 766 Vgl. G, E, Einleitung, in: Rudolf Bultmann, Das verkündigte Wort. Predigten – Andachten – Ansprachen 1906–1941, in Zusammenarbeit mit Martin Evang, ausgewählt, eingeleitet und hg. v. Erich Gräßer, Tübingen 1984, V–XIII, IX. 767 Vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 325. 768 B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Predigttätigkeit erstreckt sich über mehr als 50 Jahre und deckt somit die gesamte Zeit seiner theologischen Tätigkeit ab.769 Es ist möglich, seine theologische Entwicklung in seinen Predigten nachzuweisen. Doch soll es im Folgenden hauptsächlich um die inhaltliche wie stilistische Umsetzung seiner theologischen Überzeugungen gehen. Seine Marburger Predigten (1956), die Predigten aus seinem Nachlass in Das verkündigte Wort (1984) und die kürzlich in Aus Zeit wird Ewigkeit (2018) veröffentlichen Trauerpredigten liefern ein umfassendes Zeugnis seines Ringens um das Kerygma. Dieses Ringen wird im Folgenden exemplarisch verdeutlicht. Dies ist möglich, da sich in Bultmanns Predigten Themen und inhaltliche Ausrichtungen immer wieder wiederholen.770 Dementsprechend werden in einem ersten Unterpunkt wichtige, sich wiederholende Predigtgedanken dargestellt. In diesen Gedanken spiegeln sich Bultmanns Grundüberzeugungen wider, zum Beispiel der Zusammenhang von Glauben und Verstehen, die Gott verdankte Freiheit, die Rede von der true existence, die Vorstellung des Glaubens als Existenzweise oder das Christusgeschehen. An Bultmanns Predigttätigkeit wird sein Theologieverständnis im homiletischen Rahmen deutlich. So lassen seine Predigten und Ansprachen auch eine Wechselwirkung mit der akademischen Arbeit vermuten.771 Außerdem werden formale Eigenarten seiner Predigten präsentiert, die – abgesehen von der thematischen Schwerpunktsetzung – sein Anliegen zum Ausdruck bringen, „durch existentiale Interpretation [das Kerygma] zu einer gegenwärtigen Anrede werden zu lassen“772. In einem zweiten Unterpunkt wird eine Predigt zu Lk 5,1–11 vorgestellt. Anhand der Predigt vom 13. Juli 1941 kann Bultmanns Versuch, das Kerygma als gegenwärtige Anrede in einer Predigt zur Geltung zu bringen, veranschaulicht werden.773

5.1 Formale und inhaltliche Grundlinien bultmannscher Predigttätigkeit Die folgenden Ausführungen sind als pointierter Einblick in Bultmanns Predigttätigkeit zu verstehen. Dazu werden die bereits erarbeiteten Themen seiner Theologie exemplarisch anhand seiner Predigten vorgestellt und formale Charakteristika herausgestellt. Formal fallen hauptsächlich zwei Merkmale ins Auge: Erstens lässt sich in Bultmanns Predigten eine Grundausrichtung auf die Hörenden ausmachen. Er setzt damit seine eigene Überzeugung von der Aufgabenstellung der Predigt um. Diese sei so auszurichten, „daß dem Hörer unter dem Wort seine Existenz durch-

769

Vgl. G, E, Einleitung, V. Erich Gräßer spricht „von der häufigen Wiederholung bestimmter Predigtgedanken“ (a.a.O., XII). 771 Vgl. H, E, Rudolf Bultmann als lutherischer Prediger, 27. 772 G, E, Einleitung, IX. 773 Eberhard Hauschildt attestiert Bultmann ab 1927 die vollständige Erarbeitung einer „,existential interpretierenden Predigt‘“ (H, E, Rudolf Bultmann als lutherischer Prediger, 35). 770

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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sichtig wird“774. So unternimmt er in all seinen Predigten eine existentiale Interpretation des auszulegenden Predigttextes.775 Mit diesem Zugriff versucht er, das Kerygma als Kerygma zur Sprache zu bringen,776 also den Hörenden die Bedeutung des Christusgeschehens im Hier und Jetzt zu verdeutlichen. Zweitens ist auffällig, dass Bultmann neben biblischen Texten immer wieder auch literarische Texte heranzieht und längere Zitate verliest. Er bedient sich der prosaischen wie lyrischen Tradition, „weil er in ihr Lebenserfahrungen und Deutungen menschlichen Daseins besonders dicht ausgesprochen fand“777. Insgesamt ist eine Wertschätzung außerbiblischer Narrationen festzustellen. Bultmann bringt sie immer wieder mit dem auszulegenden Text in einen stimmigen Dialog. Damit erweitert er zum einen das in den Texten angezeigte Existenzverständnis des Menschen und führt zum anderen seine existentiale Interpretation wieder in Erzählungen zurück. Allgemein schätzt Bultmann also jede Form der Narration. Deutlich wird diese Wertschätzung an folgendem Auszug aus einer Predigt, in dem Bultmann die Eigenschaften und die bleibende Bedeutung der biblischen Erzählungen festhält: ,Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an!‘ Das gilt aber endlich und vor allem von dem Worte der Heiligen Schrift, das uns eben zu solcher Wachsamkeit und Bereitschaft ruft. Es ist ja kein verklungenes Wort, und so alt es ist, so neu spricht es immer wieder zu uns. Es spricht hinein in unser Alltagsleben als das Wort aus einer anderen Welt. Es spricht im Grunde schon aus den Kirchenglocken, deren Ton von allen anderen Klängen, die sonst unser Ohr umklingen, verschieden ist, – eine fremde Stimme in unserer vertrauten Welt.778

Was hier für das Wort der Heiligen Schrift gesagt ist, lässt sich nach eingehender Lektüre der Predigten im Hinblick auf das allgemeine Existenzverständnis des Menschen auch für die außerbiblisch-literarischen Zeugnisse attestieren, wenngleich sich nach Bultmann die „Predigt als Verkündigung“779 explizit die Auslegung biblischer Texte zu eigen zu machen habe. Für Bultmann ist der Schriftbezug allerdings keine Garantie für christliche Verkündigung.780 Es geht ihm um den richtigen Umgang mit Narrationen, die als allgemeine Wahrheiten präsen774

B, K/B, R, Briefwechsel 1911–1966, 161. Die Beobachtung einiger Rezensenten der Marburger Predigten, dass das Thema der Entmythologisierung nur selten explizit einbezogen werde, kann als Zeugnis für ein Missverständnis derselben gelten. Viele zeitgenössische Theologen erkannten nicht, dass Bultmanns Entmythologisierung nur als eine spezielle Weise der existentialen Interpretation zu verstehen ist (vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 329). 776 Vgl. W, J, Umkehren? – Umgekehrt werden! Was Paul Ricœurs BibelHermeneutik der Fundamentaltheologie zu denken gibt, in: Stefan Orth/Peter Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg/München 2004, 115–136, 127 f. 777 H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 328. 778 B, R, Marburger Predigten, 124 f. 779 B, R, Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung, in: Ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 166–177, 167. 780 Vgl. ebd. 775

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

tiert oder aber als konkrete Anrede genutzt werden könnten.781 Bultmann reflektiert somit über ein Miteinander von formal-ontologischer und konkret-ontischer Dimension in der Predigt. Predigt habe als direkte „Anrede des Wortes Gottes“782 die Aufgabe, den Menschen im Hier und Jetzt, also konkret-existentiell zu treffen.783 Außerbiblische Narrationen versteht er zunächst auf der formal-ontologischen Ebene als Ausdrücke allgemeiner Wahrheiten. Doch stecke in diesen auch das Potential, zur konkreten Anrede zu werden, „indem sie das Jetzt des Angeredeten qualifizieren“784. In biblischen wie außerbiblischen Narrationen erblickt Bultmann das Potential, dass der Angeredete durch sie „seiner selbst inne wird angesichts der für ihn geltenden Wahrheit, daß er damit in die Entscheidung gerufen wird, ja daß er damit verwandelt wird“785. Aus dieser formalen Charakteristik der bultmannschen Predigten ergeben sich die inhaltlichen Schwerpunkte. All das, was nach Bultmann den Hörenden über ihre Existenz durch den Glauben verständlich wird, ist Inhalt seiner Predigten. So legt er in seinen Predigten immer wieder sein Glaubensverständnis dar. Verstanden als fides qua legt er seinen Schwerpunkt auf die Beschreibung der true existence: „Christ sein, glauben heißt: Schon der Zeit dieser Welt vorangeeilt zu sein; heißt: Schon am Ende dieser Welt zu stehen.“786 Die true existence versteht er dabei als eschatological existence. Das wird in der Rede vom „Schon-jetzt“ und „Noch-nicht“ deutlich.787 In der eschatologischen Existenz habe der Mensch schon Anteil am Auferstehungsleben, wie es die Osterbotschaft verkündige.788 Diese Existenzweise beschreibt Bultmann an anderer Stelle mit dem Bild eines Wanderers zwischen zwei Welten.789 Bemerkenswert ist, wie er dabei in konziser Weise fides qua und fides quae aneinander koppelt.790 Folgende Passage verdeutlicht dies – im Hinblick auf das Leben einer Verstorbenen: Es wurde ihr [sc. der Verstorbenen] immer klarer, daß Glaube Hingabe bedeutet, rückhaltlose und vertrauende Hingabe in Gottes Willen und Verzicht auf eigenes Planen und Wollen. Es wurde ihr das immer gewisser in der Anschauung der Gestalt Jesu Christi, in dem sich Gottes Gnade, die durch Tod zum Leben führt, offenbart.791 781

Vgl. a.a.O., 168–170. A.a.O., 167. 783 Vgl. ebd. 784 A.a.O., 170 f. 785 A.a.O., 171. 786 B, R, Marburger Predigten, 171. 787 Vgl. beispielsweise B, R, Das verkündigte Wort. Predigten – Andachten – Ansprachen 1906–1941, in Zusammenarbeit mit Martin Evang, ausgewählt, eingeleitet und hg. v. Erich Gräßer, Tübingen 1984, 161 f.; B, R, Aus Zeit wird Ewigkeit. Trauerpredigten. Eingeleitet und hg. v. Werner Zager, Leipzig 2018, 158. 788 Vgl. B, R, Das verkündigte Wort, 76 f. 789 Vgl. B, R, Aus Zeit wird Ewigkeit, 34. 790 Vgl. R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), in: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 175–198, 191. 791 B, R, Aus Zeit wird Ewigkeit, 48 f. 782

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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Die fides quae ist bei Bultmann auf Christus ausgerichtet. Christlicher Glaube ist für ihn Glaube an das Christusgeschehen, an Inkarnation, Kreuz und Auferstehung.792 Für die akademische Rede wie für die verkündigende Rede von Jesus Christus gilt für Bultmann: „so von ihm reden, wie er für den Glauben und nur im Glauben sichtbar ist.“793 Inhaltlich ist sein Predigtbegriff in Analogie zur Christologie zu begreifen.794 An ihr bricht sich für ihn die Frage nach der angemessenen Verkündigung.795 Das Entscheidende ist für Bultmann das Christusgeschehen, das sich in der Predigt fortsetze.796 Durch die Predigt sei die Möglichkeit der Teilhabe an dem vergegenwärtigten Geschehen gegeben: „In der Predigt wird Christus vergegenwärtigt.“797 In den Trauerpredigten findet sich ein deutlicher kreuzestheologischer Einschlag. Der Blick auf das Kreuz bietet laut Bultmann Trost: Mit solchem Trost verbunden wird der Schmerz zum kostbaren Besitz, und wir lernen ihn verstehen als ein Geschenk Gottes. Den Schmerz verstehen lernen als ein Geschenk Gottes! Das ist ja der tiefe Sinn des christlichen Glaubens an das Kreuz Christi. Auch Not und Leid, Wunde und Schmerz sind Gaben Gottes, Geschenk seiner Gnade.798

Die true existence qualifiziert Bultmann immer wieder als paradoxen Freiheitsgewinn. Denn den eigentlichen Gewinn der Freiheit sieht er im Erkennen der eigenen Limitation, was er unter anderem im Zusammenhang mit dem Glauben an den Gott der Schöpfung erklärt: Denn Gott als den Schöpfer bekennen heißt nicht: glauben, daß in der Schöpfung und so auch im Menschen göttliche Kräfte immanent sind; sondern es heißt zuerst: die Nichtigkeit aller Kreatur und so auch die Nichtigkeit des Menschen vor Gott anerkennen. Es heißt: anerkennen, daß nicht ich über das Leben und seine Güter verfüge, sondern daß Gott mir das Leben und alle Güter schenkt.799

Bultmann interpretiert den Glauben an den Schöpfer auch hier existential, indem er nach der Bedeutung für das gegenwärtige menschliche Dasein fragt.800 An dieser zitierten Passage sind zwei Dinge bemerkenswert: erstens der erklärende Charakter. Viele seiner Predigten ähneln stilistisch einem akademischen Vortrag.801 Zweitens ist ein grundsätzliches Merkmal seiner Predigten die Kontras792

Vgl. beispielsweise B, R, Das verkündigte Wort, 236. B, R, Zur Frage der Christologie, 92. 794 Vgl. H, E, Predigten, 203. 795 Vgl. B, R, Zur Frage der Christologie, 97–99. 796 Vgl. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 288 f. 797 A.a.O., 289. 798 B, R, Aus Zeit wird Ewigkeit, 99. 799 B, R, Das verkündigte Wort, 288. 800 „The understanding of God as creator is genuine only when I understand myself here and now as the creature of God. […] God is genuine only when it actually takes place in my very existence, as I surrender myself to the power of God who overwhelms me here and now.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 63). 801 Vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 324. 793

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

tierung gegen ein allgemeines Verständnis – in diesem Falle von Freiheit. Bultmann bezieht sich durchgehend auf die Lebenswirklichkeit seiner Hörenden und bringt damit „das Evangelium durchaus als kritisches Korrektiv menschlichen Versagens und menschlicher Selbstentfremdung zur Geltung.“802 Gerade in diesem Kontrast zur Alltagswelt versteht er seine Aufgabe, „den pro me-Charakter des Heilsgeschehens“803 herauszustellen. Dieses Heilsereignis ist für ihn kein Ereignis der Vergangenheit, sondern nur richtig verstanden, wenn es als in der Gegenwart, je meiner Gegenwart, sich vollziehendes verstanden wird. Die Art seiner Vergegenwärtigung aber ist die Predigt, die aber nicht vergegenwärtigt in der Weise des Mitteilens von etwas Vergangenem, des Erinnerns daran, sondern als Anrede.804

Wie Bultmann selbst den Versuch der Anrede in der Gegenwart angegangen hat, wird am Beispiel einer Predigt dargestellt.

5.2 Predigt zu Lk 5,1–11 – die dem Kerygma verpflichtete Verkündigung Es begab sich aber, da sich das Volk zu ihm drang, zu hören das Wort Gottes, da stand er am See Genezareth. Und er sah zwei Schiffe am See stehen, die Fischer aber waren ausgetreten und wuschen ihre Netze. Da trat er in eines der Schiffe, welches das des Simon war, und bat ihn, daß er ein wenig vom Land führe. Und er setzte sich und lehrte das Volk aus dem Schiffe. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: ,Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Fang tut. ‘ Und Simon antwortete und sprach zu ihm: ,Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Aber auf dein Wort will ich das Netz auswerfen.‘ Und da sie das taten, da fingen sie eine große Menge Fische, und ihr Netz riß. Und sie winkten ihren Gesellen, die im anderen Schiff waren, daß sie kämen und hälfen ihnen ziehen: und sie kamen und füllten beide Schiffe so voll, daß sie sanken. Da das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu den Knien und sprach: ,Herr gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch‘. Denn es war ihn ein Schrecken angekommen und alle, die mit ihm waren, über diesen Fischzug, den sie miteinander getan hatten; desgleichen auch den Jakobus und den Johannes, die Söhne des Zebedäus, die Gesellen des Simon. Und Jesus sprach zu Simon: ,Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Menschen fangen.‘805

Bultmann versteht die Perikope als Wundererzählung und sieht die Frage nach der Bedeutung dieses Wunders in der Erzählung selbst angelegt: „Die Geschichte von Petri Fischzug erzählt von einem Wunder und legt uns daher die Frage vor: Was ist christlicher Wunderglaube?“806 Ähnlich seiner Formulierungen im Entmythologisierungsvortrag von 1941 attestiert er dem modernen Menschen eine Ablehnung des Wunderglaubens.807 Die Wirklichkeit stehe in einem natürlichen

802

A.a.O., 327. Ebd. 804 B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22. 805 Übersetzung von Lk 5,1–11 nach B, R, Marburger Predigten, 137. 806 A.a.O., 138. 807 Vgl. ebd. 803

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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Zusammenhang und sei durch Kausalität zu erklären, auch wenn das menschliche Leben manchmal unerklärlich sei. Der Glaube an das Eintreten von Unerwartetem sei aber noch kein Wunderglaube, selbst wenn man ein solches Ereignis als Wunder bezeichne.808 Bultmann verschärft die Frage nach einem angemessenen, das heißt für ihn immer christlichen, Umgang mit solchen Wundergeschichten, indem er verschiedene Aporien präsentiert, und gibt daraufhin eine klare Antwort:809 Das bedeutet in der Tat nicht christlicher Glaube, daß man die Wundergeschichten des Neuen Testamentes für wahr hält. Christlicher Glaube bedeutet der Glaube an die in Christus uns erschienene Gnade Gottes. Das eigentliche Werk Christi besteht aber, wie schon Luther gesagt hat, darin, daß er das Gesetz und den Tod überwunden hat. Und deshalb heißt christlicher Glaube: An ihn als den Befreier von Gesetz und Tod glauben; es heißt aber nicht, die Wundergeschichten des Neuen Testamentes für Wahr halten.810

Neben dem Entmythologisierungsanliegen wird vor allem Bultmanns Konzentration auf das Christusgeschehen, verstanden als eschatologisches Heilsgeschehen, deutlich, das es für ihn nun als christologisches Kerygma zu verkündigen gilt. In gewisser Hinsicht ist hier im Rahmen einer Predigt noch einmal das Verhältnis zwischen der Entmythologisierung als Teil der existentialen Interpretation und dem Kerygma zu erkennen. Die existentiale Interpretation ist ausgerichtet auf das christologische Kerygma: das Kerygma, das das Heilsgeschehen für das gegenwärtige Dasein präsent werden lasse.811 Bultmann zielt nach diesem ersten Zwischenfazit auf das angemessene Verständnis des Wunderglaubens. Christlicher Glaube sei insofern Wunderglaube, als er „Glaube an das wunderbare Handeln Gottes“812 sei. Die Perikope trage zum Verständnis des Handeln Gottes an das menschliche Dasein und zur Bereitschaft der Glaubenden zu einem neuen Verständnis ihrer selbst bei.813 Dementsprechend ist es für Bultmann irrelevant, ob man die Erzählung als „fromme Dichtung“, als „Legende“ oder als „Bericht von einem geschichtlichen Ereignis“ verstehe.814 Wir müssen sie verstehen wie ein Bild, in dem die wunderbare Kraft abgebildet ist, die Jesus über ein Menschenleben gewinnen kann. Die Geschichte leitet uns selbst dazu an, daß wir sie so verstehen müssen.815

Wie ausgehend vom Mythos die Aufgabe der Entmythologisierung gestellt werde, so ergebe sich das Verständnis der Perikope aus dieser selbst. Bultmann legt den Schwerpunkt auf das Jesuswort am Ende der Perikope: 808

Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 139. 810 Ebd. 811 Vgl. H, K, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 322. 812 B, R, Marburger Predigten, 140. 813 Vgl. ebd. 814 Ebd. 815 A.a.O., 140 f. 809

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Das eigentliche Wunder ist die Apostelwirksamkeit des Petrus, ist die Wirksamkeit des von Menschenmund gesprochenen göttlichen Wortes. Eben dieses Wunder soll durch den wunderbaren Fischzug wie durch ein Bild veranschaulicht werden.816

Dass die Entmythologisierung keinesfalls mit einer Abschaffung des Mythos zu verwechseln ist, wird hier noch einmal deutlich. Bultmann schätzt die neutestamentlichen Erzählungen sehr, sieht er doch in ihnen Existentialen für das gegenwärtige Dasein von bleibender Bedeutung. Wunder im christlichen Sinne bedeute also ein Handeln Gottes. Das Glauben an dieses Wunder beschreibt Bultmann mit einer Haltung des Bereitseins für das wundersame Handeln Gottes im eigenen Leben.817 Es geht Bultmann im weiteren Verlauf um die Erörterung eben dieses Bereitseins. Im Glauben an Gott den Schöpfer zeige sich grundsätzlich das Vertrauen in Gottes Tun an Mensch und Welt.818 Bultmann beschreibt Erfahrungen des göttlichen Handelns im ästhetischen, natürlichen sowie schicksalhaften Zusammenhang.819 Allerdings betont er die konkret-ontische Dimension des Verstehens, wenn er festhält, daß es neben uns andere Menschen gibt, die wohl das Gleiche sehen und erleben, die es aber ganz anders ansehen und deuten, die darin gar nicht Gottes Walten schauen und seine Stimme hören. […] Gottes Schöpfertum ist nicht etwas, was offen zutage liegt, so daß jeder es sehen und anerkennen muß. Nein, Gottes Schöpfertum kann immer nur im Glauben erfaßt werden, wenn ich es an mir erfahre.820

Zu einem wahren Verstehen des Handeln Gottes komme es nur im Glauben. Dieser macht den Unterschied zwischen einfacher Naturbetrachtung und Schöpfungshandeln Gottes für Bultmann aus. Durch den Glauben stelle sich ein neues Verstehen ein, ein neues Selbst-, Welt- und Gottverstehen, wie Bultmann an Luthers erstem Artikel des Kleinen Katechismus verdeutlicht.821 Im Glauben an Gott den Schöpfer erkennt Bultmann gewissermaßen die Quintessenz des christlichen Glaubens. In ihm werde die Bedeutung der Rechtfertigung für den einzelnen Menschen deutlich:822 Gestehen wir uns das aber ehrlich ein, so wissen wir auch, was Wunder im eigentlichen Sinn heißen muß: Nämlich ein solches Geschehen, durch das wir dessen inne werden, daß uns trotz alledem, trotz aller Rätsel von Welt und Schicksal, trotz aller Qual der Selbstverurteilung Gott gnädig geschaffen hat und in seiner Schöpferhand hält. Und gerade dann und nur dann, wenn wir nach diesem einen Wunder ausschauen, kann es uns begegnen. Denn wenn wir von dieser Frage bewegt sind, trifft uns Jesu Wort.823

816

A.a.O., 141. Vgl. ebd. 818 Vgl. ebd. 819 Vgl. a.a.O., 142. 820 Ebd. 821 Vgl. ebd. 822 Vgl. a.a.O., 143. 823 A.a.O., 144. 817

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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Ausgehend von einer Wundererzählung über die Frage nach einem Verständnis des Wunders und die Bedeutung des Wunders, gelangt Bultmann zu Gottes schöpferischem Handeln am Menschen und dessen Bedeutung. Im Glauben an Gott den Schöpfer erkenne der sündige Mensch die gnädige Annahme Gottes, trotz aller Widrigkeiten.824 Gleichzeitig hebt Bultmann auf die Frage nach der Involviertheit des Menschen im Verstehensprozess ab, wenn er davon spricht, dass der Mensch von der Frage danach bewegt sein müsse, um von Jesu Wort getroffen zu werden. Nach dieser ersten existentialen Interpretation der Perikope stellt Bultmann die Frage nach dem Verstehen des Wunders aus menschlicher Perspektive. Der vermeintliche Versuch des Menschen, sein Leben zu sichern und über sein Leben zu verfügen, lasse die Frage nach Gott verstummen. Der Mensch könne dann gar nicht anders, als die Welt auch als reinen Naturzusammenhang zu begreifen, der durch Kausalität und Logik geprägt sei.825 Doch werde in diesem Verständnis „die Welt [nicht] in ihrer vollen Wirklichkeit“826 wahrgenommen, denn dafür müsste der Mensch erkennen, dass er nicht über sich verfüge und gerade in seinem Versuch, sich zu sichern, sich verliere: Wollen wir wirklich Gott als den Schöpfer, wollen wir wirklich seine Wunder schauen, sehnen wir uns wirklich nach dem einen großen Wunder, nach einem Geschehen, das uns dessen gewiß macht, daß Gott unser Schöpfer ist, dann heißt das: Wir sehnen uns danach, selbst neue Menschen zu werden; dann heißt das: Wir müssen unser altes Wesen, unsere alte Art, nach eigenem Willen und aus eigener Kraft zu leben, ablegen, wir müssen unsere alte Art als sündig erkennen.827

Die true existence wird hier als die Spannung von simul iustus et peccator verstanden. Im Glauben erkenne der Mensch die Bedeutung des Christusgeschehens, erkenne er, „welches Geschenk Gott der Welt mit Jesus Christus gegeben hat [… und] das Wort, das diese Gnade dem Sünder zuspricht“828. Bultmann kehrt inhaltlich wieder zur Perikope zurück und bindet somit sein Verständnis an die Erzählung. An dem abschließenden Jesuswort – „,Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen‘“829 – verdeutlicht er, dass das Wunder nicht der überraschende Fischfang an sich sei, sondern vielmehr darin liege, „daß er [Jesus] den sündigen Menschen zu sich ruft, in seinen Dienst stellt, daß er ihn verwandelt, ihn neu und rein macht“830.

824 Vgl. L, M, Den frühchristlichen Wundergeschichten Sinn für die Gegenwart entlocken. Rudolf Bultmanns Modell der Entmythologisierung und neuere Sinndeutung der Wundergeschichten Jesu, in: ETL 91/3 (2015), 393–414, 402. 825 Vgl. B, R, Marburger Predigten, 144. 826 A.a.O., 145. 827 Ebd. 828 Ebd. 829 Ebd. 830 A.a.O., 146.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Die entscheidende Frage für Bultmann ist, in Bezug auf diese Erzählung, die nach dem angemessenen Umgang mit der biblischen Erzählung. Das wird noch einmal deutlich, wenn er seine existentiale Interpretation mit Überzeugung formuliert: Daß dieses Wort weiter erklingt, daß es uns auch heute, hier und jetzt, fragt, ob wir bereit sind, unsere ganze Existenz unter diesem Wort zu verstehen, darin offenbart sich das Schöpferwalten Gottes.831

Was es bedeutet, die ganze Existenz unter diesem Wort zu verstehen, also Gottes Schöpferwalten im eigenen Leben zu erfahren, erläutert Bultmann am Ende seiner Predigt. Der Mensch werde im Glauben von sich selbst frei, indem er sich von Gott beschenken lasse, eben seine Wunder zu schauen.832 Das bedeutet nichts anderes, als sich neu zu verstehen und somit auch die Welt und Gott neu zu verstehen: Seine Wunder zu schauen. Er [sc. der zum-Glauben-gekommene Mensch] sieht in der Welt nicht mehr als andere Menschen auch sehen. Er muß ja, da er nicht aus dieser Welt herausgenommen wird, sie immer auch als seine Arbeitswelt ansehen und mit ihrer Ordnung und ihrem Gesetz rechnen. Nicht in der Durchbrechung dieser Gesetze erwartet er Gottes Wunder zu sehen. Aber das ist für ihn wunderbar, daß alles Geschehen, das für andere ein gewöhnliches Geschehen im regelmäßigen Ablauf der Dinge ist, Gottes Tun ist, das ihn beschenkt, das ihn erschüttert, das ihm seine Ohnmacht und Verlorenheit immer aufs neue zum Bewußtsein bringt und ihn Gottes Gnade immer aufs neue erfahren läßt. […] Wohl gibt es auch für das Denken die unlösbare Frage, wie es zugehe, daß die Welt einerseits als die gesetzmäßige Arbeitswelt erscheint und daß sie doch Gottes Schöpfung ist. Dann gilt das Dennoch des Glaubens, das derjenige ehrlich sprechen kann, dem entscheidend Gottes Liebe in Christus begegnet ist, die Liebe, die ihn von sich selbst erlöste. Dann wird er sein Denken Gott gefangen geben, nicht indem er auf seinen Verstand verzichtet auf allen Gebieten, die der Verstand erforschen und erkennen kann, sondern indem er darauf verzichtet, mit dem Verstand seinen Lebensweg zu entwerfen und die Rätsel des Lebens zu lösen.833

Der zum-Glauben-gekommene Mensch bleibt nach Bultmann geschichtliches Dasein. Man kann hier deutlich die Verhältnisbestimmung von formal-ontologischen und konkret-ontischen Aussagen erkennen, die Bultmann seit der gemeinsamen Marburger Zeit mit Martin Heidegger aufgreift. Bultmann verdeutlicht anschaulich, was Glauben bedeutet. Es sei eine neue Existenzweise, die sich in einem neuen, umfassenden Verstehen der Wirklichkeit, also auch des Selbst, äußere und sich dabei aus einem vorherigen Verstandensein ergebe. Dieses Verstandensein beschreibt Bultmann mit Gottes Gnade, die dem glaubenden Menschen immer wieder neu bewusst werde. In dieser Passage findet sich der Kern seiner dem Kerygma verpflichteten Predigt. In einer dichten Beschreibung kon-

831

Ebd. Vgl. ebd. 833 A.a.O., 146 f. 832

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5. Das verkündigte Kerygma – Bultmann als Prediger

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kretisiert er die Bedeutung des Kerygmas für das gläubige Dasein. Viele Einsichten seiner theologischen Arbeit laufen hier zusammen: das Verständnis des Heilsweges als Befreiung des Menschen aus seinem Zwang, sein eigenes Leben sichern zu wollen, sowie die gnädige Zuwendung Gottes als entscheidendes Ereignis für das Dasein. Beide Momente laufen für Bultmann im Christusgeschehen zusammen: „dem entscheidend Gottes Liebe in Christus begegnet ist, die Liebe, die ihn von sich selbst erlöste.“834 Dies ist das eigentliche Wunder, auf das Bultmann mit Lk 5,1–11 abzielt. Auf dieses Ereignis lässt er seine existentiale Interpretation hinauslaufen. In seiner Predigt über dieses Ereignis und der Rede von der Bedeutung sieht er das Kerygma als Kerygma zur Sprache gebracht. Bevor er mit der konkreten Ansprache an die Gemeinde schließt, spezifiziert er das neue Verstehen des Daseins durch den Glauben: Er [der gläubige Mensch] wird Gottes Wunder schauen, und er wird selber Wunder tun. Er hört den Befehl Jesu: ,Fahre auf die Höhe und werfet eure Netze aus, daß ihr einen Zug tuet!‘ Sein Tun erscheint ihm in einem neuen Licht, nicht mehr als selbstgewähltes Tun aus eigener Kraft und nach eigenem Plan, sondern als ein Tun auf Gottes Befehl und deshalb getragen von Gottes Gnade. Ja, er weiß, daß er mehr wagen kann als menschliche Berechnung voraussieht, denn er ist unabhängig von dem, was menschliche Berechnung erreichen möchte, und gibt den Erfolg seines Tuns in Gottes Hand. Sein Tun aber ist, wenn es aus der erfahrenen Liebe Gottes entspringt, selber ein Tun der Liebe, und so hat er die Macht, auch für andere Menschen Gottes Liebe zu bezeugen und vernehmlich zu machen. Ein Mensch, dessen Wesen und Tun von heiterer Liebe getragen ist, ist für andere Menschen ein Wunder. Und in solchem Sinne sind wir alle aufgerufen, nicht nur Gottes Wunder zu schauen, sondern auch an unserem Teil Wunder zu wirken.835

Bultmann bindet hier das Ergebnis seiner Interpretation an die Perikope zurück. Er ergänzt damit seine Aussage von der existentialen Interpretation, die von den Erzählungen ausgehe, durch ein anschauliches Beispiel. Es geht ihm um die Betonung einer scheinbar kontrafaktischen Freiheit, die sich erst einstelle, wenn der Versuch der Eigensicherung aufgegeben werde. Dabei kann die Formulierung „als ein Tun auf Gottes Befehl“836 als Übersetzung des Glaubens als freier Tat des Gehorsams verstanden werden. So betont Bultmann auch hier die Passivität des Menschen im Akt des Glaubens, ist aber gleichzeitig bemüht zu betonen, wie der Mensch Anteil an diesem Geschehen hat. Abschließend weitet er den Blick vom Individuum zum Nächsten: „Ein Mensch, dessen Wesen und Tun von heiterer Liebe getragen ist, ist für andere Menschen ein Wunder.“837 Die vorliegende Predigt untermauert die Beobachtung, die im Hinblick auf Bultmanns Äußerungen zur Ethik schon für den wissenschaftlichen Kontext getätigt worden ist. Über den Liebesbegriff gelingt ihm eine Verknüpfung von Glauben als individuellem Lebensvollzug mit sozialer Konnotation. 834

A.a.O., 146. A.a.O., 147. 836 Ebd. 837 Ebd. 835

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

Bultmann beschließt seine Predigt mit dem Dank für die Arbeit im vergangenen Semester, dem Gedanken an die Menschen im Militärdienst sowie einem Appell: So wollen wir auch unsere Verantwortung umso ernster erfassen und für Gottes Wunder mit unserem schwachen Tun zeugen, damit auch in dieser schweren und sorgenvollen Zeit das Lob des Schöpfers erklinge. ,Der Name des Herrn sei gelobt!‘ Amen.838

An der Predigt zu Lk 5,1–11 wird die enge Verzahnung von akademischer Arbeit und Predigt in Bultmanns theologischem Schaffen deutlich. Dass Bultmann die Erzählung als Wundererzählung versteht, als „fromme Dichtung“839, kann die untersuchte Predigt als existentiale Predigt par excellence angesehen werden. In ihr lässt sich Bultmann von den Überzeugungen leiten, die er unter anderem besonders eindrücklich in seinem Entmythologisierungsvortrag desselben Jahres dargelegt hat. Die Perikope, verstanden als „fromme Dichtung“ im mythischen Gewand, behalte ihre Bedeutung auch für das gegenwärtige Dasein. So ist Bultmann auch in seiner Predigttätigkeit weit davon entfernt, den Mythos abzuschaffen oder das Kerygma aus diesem herauszuschälen. Vielmehr nimmt er die Erzählung als solche wahr, interpretiert sie allerdings stringent in Bezug auf die Bedeutung für das menschliche Dasein. Eben das ist das Anliegen seiner existentialen Interpretation. Sie dient Bultmann in der Predigt dazu, das Kerygma als Kerygma, also als Anrede, zur Sprache zu bringen.840

6. Fazit Echte Anrede ist nur ein Wort, das dem Menschen ihn selber zeigt, ihn sich selbst verstehen lehrt, und zwar nicht als theoretische Belehrung über ihn, sondern so, daß das Ereignis der Anrede ihm eine Situation des existentiellen Sich-Verstehens eröffnet, ihm eine Möglichkeit des Sich-Verstehens eröffnet, die in der Tat ergriffen werden muß. Anrede stellt nicht dies oder das für mich zur beliebigen Wahl, sondern sie stellt in die Entscheidung, sie stellt gleichsam mir mich selbst zur Wahl, als ein welcher ich durch die Anrede und meine Antwort auf sie sein will.841

838

Ebd. A.a.O., 140. 840 „Offenbarung ist nicht Aufklärung, Wissensmitteilung, sondern ein Geschehen; […] das Offenbarungsgeschehen ist nicht ein außerhalb unser sich vollziehender kosmischer Vorgang, von dem das Wort nur die Mitteilung brächte (so daß es nichts anderes als ein Mythos wäre). Die Offenbarung muß also ein uns unmittelbar betreffendes, an uns selbst sich vollziehendes Geschehen sein, und das Wort, das Faktum des Verkündigtwerdens, gehört selbst zu ihr. Die Predigt ist selbst Offenbarung und redet nicht nur von ihr, so daß sie einen Inhalt vermittelte, den man verstehen oder zu dem man sich wissend verhalten kann, um damit die Offenbarung zu ,haben‘. Indem die Predigt etwas mitteilt, redet sie zugleich an; sie wendet sich an das Gewissen des Hörers, und wer sich nicht anreden läßt, versteht auch das Mitgeteilte nicht.“ (B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 21 f.). 841 B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 283. 839

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6. Fazit

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Rudolf Bultmann bindet innerhalb seiner theologischen Überzeugung vom Zusammenhang von Glauben und Verstehen das Selbstverstehen exklusiv an das Kerygmaverstehen. Nur durch die Anrede des Kerygmas, das nicht als Gegenstand menschlicher Wahl zur Verfügung stehe, würden dem menschlichen Dasein wirklich neue Möglichkeiten eröffnet, werde der Mensch angesprochen und zur Eigentlichkeit befreit. Da der Mensch sich immer schon unter der Sünde befinde, in der Welt verhaftet und in seinen eigenen Möglichkeiten verstrickt sei, brauche es ein Geschehen, das diesem geschichtlichen Kontext gegenüberstehe und das menschliche Dasein wirklich befreien könne. Das Kerygma, das das Christusgeschehen als eschatological event zur Anrede bringe, eröffne den Heilsweg für das menschliche Dasein. Bultmann sieht es als verständliche Anrede; verständlich deshalb, da es ohne ein mit ihm korrespondierendes Verstehen auf Seiten des menschlichen Daseins keine wirkliche Anrede wäre.842 Als wesentliches Kriterium gilt für Bultmann das „Gesprochenwerden“843: „In der Verkündigung will das eschatologische Ereignis jeweils Gegenwart werden, und im Glauben wird es jeweils Ereignis.“844 Bultmann bindet das Kerygma also exklusiv an die Verkündigung., wenngleich er auch davon ausgeht, dass die Sakramente als zyklisches Moment der Verkündigung zur Seite treten würden. Das Wort, das „den Anspruch des Augenblicks“845 in sich trage, vergegenwärtige in diesem Ereignis das „eschatologische Jetzt“846, sodass die bultmannsche Rede vom Augenblick nicht als zeitlose Wahrheit verstanden werden will, sondern als konkrete Anfrage im Jetzt an den Menschen, der somit in die Entscheidung gestellt wird. Anhand dieser Konzentration auf das eschatologische Geschehen vergegenwärtigende Wort wird die radikale Qualität desselben deutlich. Als ein solches Wort Gottes sind der Inhalt und der Verstehensprozess der Verfügbarkeit des Menschen entzogen.847 Mit der Anrede durch das Kerygma werde der Glaubensvollzug des menschlichen Daseins ermöglicht. Dieser Vollzug ist bei Bultmann qualifiziert durch ein Selbstverständnis, das alle vorherigen Verstehensweisen verwirft und ablöst.848 Das ungläubige Dasein wird zum gläubigen, allerdings nicht zu einem mit neuen Kräften und Qualitäten ausgestatteten oder unter Absehung seiner Vergangenheit.849 Nehme man eine solche Diskontinuität zwischen altem und neuem Dasein an, so nehme man wiederum das Dasein in seiner Geschichtlichkeit nicht richtig wahr und denke darüber hinaus auch das Kerygma als über842 „Die Möglichkeit des Wortes, verstanden zu werden, fällt zusammen mit der Möglichkeit für den Menschen, sich selbst zu verstehen. Ob er sich so verstehen will, wie ihm im Worte gesagt ist, danach ist er gefragt. Daß er sich so verstehen kann, darin liegt das einzige Kriterium für die Wahrheit des Wortes.“ (a.a.O., 284). 843 A.a.O., 280. 844 B, R, Geschichte und Eschatologie, 180. 845 B, R, Theologische Enzyklopädie, 144. 846 B, R, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 31979, 161. 847 Vgl. beispielsweise P, O, Glauben und Verstehen, 112. 848 Vgl. B, R, Das Problem der „natürlichen Theologie“, 296. 849 Vgl. a.a.O., 296 f.

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Kapitel IV: Selbstverstehen und Kerygmaverstehen

geschichtliche, überzeitliche Kraft, die den Menschen, losgelöst von seiner individuellen Existenz, verwandelt.850 Vielmehr legt Bultmann das Augenmerk auf den Zusammenhang von Glauben und Verstehen, wenn er festhält: Wie der Unglaube das ganze Dasein durchherrscht, als die charakteristische Weise des natürlichen Menschen zu existieren, so ist auch der Glaube eine Weise der Existenz. Und deshalb versteht auch der Glaube die Offenbarung nicht als etwas Neues, sondern versteht sie nur, indem er sich in ihr neu versteht. Das glaubende Existieren vollzieht sich in einem neuen Verstehen der Existenz, – und ebenso bestand ja der Unglaube nicht in der Abweisung irgendwelcher einzelner Glaubensobjekte, sondern in einem, in der Existenz sich vollziehenden, Verstehen ihrer selbst.851

Zum einen sieht man an dieser Stelle noch einmal in nuce, dass es für Bultmann keinen Unterschied im Verstehensvollzug von vorgläubiger und gläubiger Existenz gibt; lediglich die Art des Verstehens ist eine andere und zwar auf die fundamentalste aller Arten. Zum anderen wird deutlich, dass sich das menschliche Dasein im Glauben anders und dadurch neu versteht – und das aufgrund des Kerygmas. Ihm wird ein tieferes Verständnis seiner selbst zuteil, das es nicht selbst hätte erringen können. Dabei ist dem Kerygma eine Doppelstruktur zu eigen: Zum einen muss es in irgendeiner Form verstehbar sein, da es sonst keinen Einfluss auf das menschliche Dasein haben könnte. Zum anderen stößt es ein umfassendes, radikales Neuverstehen erst an, da es von Bultmann als zum Augenblick hinzugesagtes Wort gefasst wird. Es zeichnet sich also trotz seiner grundsätzlichen Verstehbarkeit durch seine Entzogenheit aus. Um das In-Spannung-Halten beider Seiten des Kerygmas ist Bultmann stets bemüht. Die Predigttätigkeit Bultmanns gibt ein eindrückliches Zeugnis über diesen Versuch ab. In seinen Predigten wird der vielfältig verarbeitete Versuch deutlich, einen potentiellen Begegnungsraum zu eröffnen, in dem das Kerygma zur Sprache kommen kann und somit die Hörenden ein neues Selbstverständnis erlangen können.

850 851

Vgl. a.a.O., 295–297. A.a.O., 297.

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Kapitel V

Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik bultmannscher Kerygmatheologie 1. Einführung Die Engführung des bultmannschen Kerygmas bleibt virulent. Auch wenn das theologische Anliegen einleuchtend und unterstützenswert ist, bleibt die grundlegende Kritik am Kerygmabegriff berechtigt. Eine Antwort auf Punktualität und den formalen Anspruchcharakter des Kerygmas kann die dreifache Mimesis geben. Gepaart mit den Einsichten zur Autonomie des Textes, dem Vorschlag einer bewohnbaren Welt sowie der narrativen Identität, kurzum, mit der Hermeneutik des Selbst lässt sich das theologische Anliegen Bultmanns grundieren und damit adäquater versprachlichen. Ein Gespräch zwischen Bultmann und Ricœur bietet sich auch deshalb an, da sich ihre grundhermeneutischen Ansätze ähneln. Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist das bereits implizit deutlich geworden, wenn man die Ausführungen zu Bultmann vor dem Hintergrund des Kapitels zu Ricœur wahrnimmt. So kann beiden Denkern das Interesse am Selbstverstehen über den Umweg der Vermittlung attestiert werden. In diesem Interesse sehen beide Verstehen als Existential an. Beide sind dabei besonders an der sprachlichen Vermittlung interessiert – gerade auch in schriftlicher Form. Ihnen geht es jeweils um den Konnex von Text, Mythos, Metapher, Symbol und dem rezipierenden Selbst. Beide überwinden die klassisch-romantische Hermeneutik und verabschieden sich somit von einem tieferen Verständnis des Autors. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk auf das rezipierende menschliche Dasein, das aber nicht rein subjektiv, sondern nur im Dialog mit den Texten zu einem neuen Selbstverstehen komme. In expliziter sowie prominenter Form nimmt Ricœur in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe des Jesus-Buches auf Bultmann Bezug. In dieser erhellenden Einleitung arbeitet er sich an Bultmanns hermeneutisch ausgerichteter Theologie ab. In einem Zweischritt wird im Folgenden die Theologie Bultmanns um die Narrationstheorie Ricœurs erweitert respektive einer kritischen Weiterentwicklung unterzogen. Eine Untersuchung des bereits erwähnten Vorworts zu Bultmanns Jesus-Buch führt die bereits deutlich gewordenen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede beider Denker explizit aus. Im Anschluss daran ist der Boden bereitet für die produktive Aufnahme der Narration im Hinblick auf den bultmannschen Kerygmabegriff. Mithilfe der Narrationstheorie und ihren weitreichenden Implikationen für die Hermeneutik des Selbst gelingt es, dem Anliegen Bult-

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Kapitel V: Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik

manns gerecht zu werden. Strukturell wird mit dieser theoretischen Unterfütterung der Punktualität und dem Formalismus gewehrt und die Wirkkraft des Kerygmas auf das rezipierende Selbst betont.

2. Ricœurs Vorwort zur französischen Ausgabe von Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie – Zustimmung und Widerspruch Ricœur möchte mit seinen Ausführungen zu Beginn mit gewissen Missverständnissen aufzuräumen, die vor allem die Entmythologisierung beträfen und einen Zugang zur bultmannschen Theologie verstellten.1 So begreift er dann auch sein Vorwort als „Einführung“ in das Werk Bultmanns2, die sich allerdings eher als ricœursche Einordnung sowie kritische Beleuchtung der bultmannschen Theologie im Allgemeinen liest. Diese Beobachtung ist keineswegs banal. Ricœur äußert sich in seinem Vorwort selbstbewusst und eigenständig zu eben den Themen, die er bei Bultmann angesprochen findet, anstatt sich mit einem Referat bultmannscher Theologie zu begnügen.

2.1 Die hermeneutischen Herausforderungen Zunächst attestiert Ricœur der Theologie ein eigentümliches hermeneutisches Problem – die wohl als eine Beschreibung der hermeneutischen Situation zu sehen ist –, das er in der Beziehung von Schrift und Kerygma erkennt.3 In drei Problemkreisen führt Ricœur die hermeneutische Situation für die christliche Religion aus. So sei die christliche Religion erstens vor die Herausforderung einer Bestimmung des Verhältnisses von Erstem zu Zweitem Testament gestellt, die ihre Geschichte bereits durchziehe, aber nie endgültig überwunden werden könne.4 Aus dieser Aufgabe zieht Ricœur den Schluss, dass der christlichen Religion die Hermeneutik zutiefst eingeschrieben und im Christusgeschehen der hermeneutische Schlüssel zu sehen ist, der Erstes und Zweites Testament vermittelt: „Jesus Christus selbst, Exegese und Exeget der Heiligen Schrift, offenbart sich als Logos, indem er das Verständnis der Schriften erschließt.“5 1 Vgl. R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), 175. 2 Ebd. 3 Vgl. a.a.O., 176. 4 Vgl. a.a.O., 176–178. 5 A.a.O., 178. Mit dieser Feststellung trifft er sich mit Bultmann, dem immer wieder eine Art „pneumatologische Unterbelichtung“ vorgeworfen worden ist. Es wäre ja anzunehmen, dass Bultmann beispielsweise unter Zuhilfenahme des Heiligen Geistes den Weg zum wahren Selbstverstehen des menschlichen Daseins beschreibt. Jedoch lehnt er diesen Ansatz wegen

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2. Ricœurs Vorwort zu Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie 253

Als zweite Herausforderung nennt Ricœur eine Erkenntnis, die er exklusiv Bultmann zuschreibt: „[D]aß die Interpretation der Bibel und die Interpretation des Lebens korrespondieren und sich gleichsam wechselseitig einander angleichen.“6 Bestimmte Loci würden neu verstanden, „indem sie den Umweg über diese Auslegung der menschlichen Existenz nehmen“7. Ricœur zielt hier auf die existentiale Interpretation Bultmanns ab und betont die Verwiesenheit von menschlicher Existenz und Christusgeschehen.8 Drittens stehe die christliche Hermeneutik vor der Herausforderung der kritischen Methode, die Ricœur zwar grundsätzlich befürwortet, im Hinblick auf das Kerygma aber als bleibende Problemfolie beschreibt. Denn in gewisser Hinsicht entziehe sich das Kerygma der historischen Kritik: Das Kerygma ist zunächst nicht Textinterpretation, sondern Kunde von einer Person; aus dieser Sicht ist nicht die Bibel, sondern Jesus Christus Wort Gottes. Es stellt sich jedoch ständig neu ein Problem, das daher rührt, daß sich das Kerygma selbst in einem Zeugnis, in Berichten und bald auch in Texten ausdrückt, die das allererste Glaubensbekenntnis enthalten und somit bereits eine Interpretationsschicht in sich tragen. Wir selbst sind nicht mehr jene Zeugen, die mit eigenen Augen gesehen haben, wir sind die Hörer, die die Zeugen vernehmen: fides ex auditu. Wir können in der Folge nur glauben, indem wir einen Text vernehmen und interpretieren, der selbst schon eine Interpretation ist: kurz, wir stehen nicht nur mit dem Alten Testament, sondern mit dem Neuen Testament selber in einer hermeneutischen Beziehung.9

Ricœurs Ausführungen lassen sich als Verschüttung des Ursprünglichen zusammenfassen. Diese erzeuge eine Distanz zum rezipierenden Subjekt, die sich nicht einfach mit den Mitteln der historisch-kritischen Methode überwinden lasse.10 So bleibe die christliche Hermeneutik vor ein Problem gestellt, das sich aus dem Umstand ergebe, „daß das Evangelium selbst zu einem Text, einem Buchstaben geworden ist“11. Im Hintergrund sind an dieser Stelle Ricœurs hermeneutische Einsichten zum Text und zur Textwelt zu lesen. Durch die Textgenese werde eine Distanz zum Ereignis selbst geschaffen beziehungsweise reproduziert, denn auch in der zeitlichen Entwicklung „vom Hörer zum Zeugen des Ereignisses“12 sei ein Abstand zu erkennen. Die Herausforderung der, wenn man so will, Distanzüberwindung zeichnet Ricœur damit in das Stammbuch der christlichen Herseiner nicht tief genug reichenden Verwurzelung im geschichtlichen Dasein ab, bezeichnet mithilfe der Pneumatologie lediglich das qualitative „Wie“ der je eigenen Existenz (vgl. B, R, Theologische Enzyklopädie, 142). Für Bultmann geht alles im christologischen Kerygma auf, das eben als Christus-Logos das Selbst erschließt. 6 R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), 178. 7 A.a.O., 179. 8 Vgl. a.a.O., 180. 9 A.a.O., 181. 10 Vgl. a.a.O., 182. 11 Ebd. 12 A.a.O., 182 f.

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Kapitel V: Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik

meneutik ein. Allerdings verschärfe sich das Problem für den heutigen Menschen, da die Lebenswelten immer weiter auseinandergingen, man aber dennoch über die frühen Bekenntnisse des Glaubens einen Zugang zum Glauben habe:13 Die Heilige Schrift entschlüsseln bedeutet: das Zeugnis der apostolischen Gemeinde entschlüsseln; über das Bekenntnis ihres Glaubens sind wir mit dem Gegenstand ihres Glaubens verbunden. Indem ich ihr Zeugnis verstehe, erhalte ich zugleich das, was in ihrem Zeugnis Anspruch, Kerygma, ,frohe Botschaft‘ ist.14

Ricœur sieht die Hermeneutik als die bleibende wie entscheidende Herausforderung der Theologie an und stimmt Bultmanns theologischem Zugriff zunächst klar zu. Es verwundert nicht, dass er die eben präsentierte dritte Herausforderung als die wesentliche ansieht. Dementsprechend widmet er sich im Folgenden der Entmythologisierung sowie daran anschließend der grundlegenden Frage der Interpretation. In beiden Abschnitten finden sich Zustimmung und Widerspruch zu Bultmann, dessen Position es mitzudenken gilt, um die ricœurschen Äußerungen einordnen zu können.

2.2 Die Entmythologisierung Ricœur sieht deutlich, dass die Entmythologisierung die Umsetzung der existentialen Interpretation ist und keinesfalls mit einer Entmythisierung gleichzusetzen ist.15 Er kommt explizit seinem Anspruch nach, mit bestimmten Missverständnissen Bultmann gegenüber aufzuräumen. Zunächst einmal trage die Entmythologisierung dem zuvor destillierten Umstand der Distanz Rechnung. Denn indem die „mythische Verkleidung“ abgelegt werde, erkenne man den Abstand zur Kultur, „innerhalb deren die Frohe Botschaft Gestalt angenommen hat“16. Ricœur stimmt damit der prominenten Aussage Bultmanns zu, dass man als moderner Mensch die alten Wundergeschichten des Neuen Testaments nicht für wahr halten könne. Schon in seiner Symbolik des Bösen hat Ricœur den problematischen Zusammenhang von modernem Menschen und antikem Mythos ins Auge gefasst und problematisiert. In intellektueller Einmütigkeit bringt er das Problem auf den Punkt und sieht die Aufgabe der Entmythologisierung als unausweichlich an.17 Darüber hinaus ist er sich mit Bultmann einig, dass die mythologischen Vorstellungen das eigentliche Skandalon verdeckten:

13

Vgl. a.a.O., 183. Ebd. 15 Vgl. a.a.O., 184. 16 Ebd. 17 „Für uns Heutige ist der Mythos bloß Mythos, weil wir jene Zeit nicht mehr an die der Geschichte […] anzuknüpfen vermögen und ebensowenig die mythischen Orte in unserem geographischen Raum unterbringen können. Darum kann der Mythos keine Erklärung mehr sein; seine ätiologische Intention auszuschalten ist die Aufgabe jeder notwendigen Entmythologisierung.“ (R, P, Symbolik des Bösen, 11). 14

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2. Ricœurs Vorwort zu Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie 255 Somit ist die Entmythologisierung nur die Kehrseite des Erfassens des Kerygmas. Oder sie ist, anders ausgedrückt, der Wille, den falschen Skandal, den die Absurdität der mythologischen Weltvorstellung für einen modernen Menschen darstellt, zu zerschlagen und den wahren Skandal, die Torheit Gottes in Jesus Christus – ein Skandal, der für alle Menschen und für alle Zeiten ein Skandal bleibt –, zum Vorschein zu bringen.18

Nicht nur erinnert das Votum an den letzten Satz des Entmythologisierungsvortrags, sondern auch die Fokussierung des Christus-Kerygmas wird deutlich. Damit unterstreicht Ricœur den bedeutsamen Anspruch der Entmythologisierung. Es geht eben nicht um eine Lappalie, sondern ums Ganze, um die Vergegenwärtigung des Christusgeschehens als eschatological event, in dem der Heilsweg verbürgt ist. Über die Entmythologisierung kommt Ricœur zum Konnex von Glauben und Verstehen. Durch die Textgenese sieht er einen hermeneutischen Zirkel gegeben: „Um zu verstehen, muß man glauben, und um zu glauben, muß man verstehen.“19 Um den Text zu verstehen, ist es notwendig, an das zu glauben, was mir der Text verkündet; aber das, wovon mir der Text Kunde gibt, ist einzig und allein im Text gegeben. Um zu glauben, ist es daher notwendig, den Text zu verstehen.20

Hier steht erneut Ricœurs Bewertung der Interpretation und der Textwelt im Hintergrund. Über die Interpretation, in diesem Falle über die Entmythologisierung, stoße man auf den Kern der Sache, „auf jenen Anspruch, der der erste Sinn des Textes ist.“21 Erst durch die Entmythologisierung könne zum eigentlichen Skandalon, dem Christusgeschehen, durchgedrungen werden. In diesem Sinne ist Ricœur recht zu geben, wenn er als Entmythologisierung die Interpretation des Mythos versteht.22 Ricœur sieht dann auch richtig, dass es Bultmann nicht darum geht, einen mythischen Rest beizubehalten und damit die Textgestalt der Schrift abzuwerten.23 Wenn Bultmann davon ausgehe, auch nicht mythologisch vom Christusgeschehen sprechen zu können, so sei dies anhand seiner eigenen Glaubenserfahrung zu plausibilisieren, „weil er sich als Glaubender in die Abhängigkeit einer über ihn selbst verfügenden Tat hineinbegibt.“24 Ansonsten würde Bultmann den Fehler begehen, sich als Menschen zu verstehen, der über seine Existenz zu verfügen vermag – eben weil er das Geschehen mythologisch einzuhegen versucht.25 Anhand seiner Predigttätigkeit zeigt Ricœur das Ringen Bultmanns um ein nicht-mythologisches Sprechen vom Christusgeschehen, das sich mit der vorgenommenen Untersuchung deckt. War dieser Abschnitt von Zuspruch ge18 R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), 185. 19 Ebd. 20 A.a.O., 186. 21 Ebd. 22 Vgl. a.a.O., 187. 23 Vgl. a.a.O., 189. 24 A.a.O., 190. 25 Vgl. a.a.O., 189.

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prägt, so zeigen sich im Folgenden die diffizilen Unterschiede in der hermeneutischen Ausrichtung, die die Produktivität des Gesprächs ausmachen.

2.3 Die Interpretation Ricœur zeichnet zunächst die existentiale Interpretation nach, um dann auf ein Problem aufmerksam zu machen, das auch in dieser Untersuchung bisher nicht explizit betrachtet worden ist. Bultmann biete „keine Reflexion auf die Sprache als ganzes“26, lege sich also nicht selbst Rechenschaft über seinen reichhaltigen Sprachgebrauch ab. Ricœur moniert eine Leerstelle im Hinblick auf die Reflexionsebene. Denn obwohl Bultmann am Abbau des Mythos interessiert sei, hantiere er beim Aufbau eigener Theoreme ohne sprachphilosopisches Operationsbesteck. Er erblicke in seinen Äußerungen zur personalistischen Begegnung Gottes im Augenblick keine Symbolik oder Metapher, sondern lediglich analoge Rede.27 Die ricœursche Diagnose kann auch für die Rede von der freien Tat des Gehorsams als treffend gelten. Ricœur kritisiert, dass Bultmann über sein eigenes Ziel hinausschieße, indem er seine existentiale Interpretation nicht reflexiv einhole: „Bultmann glaubt anscheinend, eine Sprache, die nicht mehr „objektiviert“, sei makellos rein. Aber inwiefern ist sie dann noch Sprache? Und was bedeutet sie?“28 Ricœur attestiert Bultmann einen Widerspruch in seiner Hermeneutik, der aus dessen ausbleibender Sprachreflexion resultiere und den er mit dem Begriff der Bedeutung auf den Punkt bringt. Ricœur sieht ganz richtig, dass Bultmann grundsätzlich davon ausgeht, dass auch die entmythologisierte Rede etwas bedeutet und man sich nicht im Quietismus üben muss, um Aussagen über den Glauben zu treffen.29 Doch indem Bultmann sich zum einen lediglich über die Frage der Objektivation der mythologischen Sprache Gedanken mache und zum anderen alles auf den Augenblick der Entscheidung fokussiere, blende er die Bedeutungsdimension des Kerygmas eigentümlich aus.30 Bultmann sehe nicht, dass die neue Versprachlichung, die mit der Entmythologisierung einhergehe, eine neue Weise der Interpretation erfordere und nicht einfach dem Verstehen gegeben sei.31 Ricœur zeichnet ein Bild von der Entmythologisierung, über die Einhegung des Christusgeschehens in bultmannscher Sprache, die er bei Bultmann in der individuellen Entscheidung respektive Aneignung münden sieht. Das Problem

26

A.a.O., 192. Vgl. ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 34. 30 Vgl. R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), 192. 31 „So scheint sich Bultmann kaum viele Gedanken darüber zu machen, daß eine andere Sprache diejenige des Mythos ablöst und daher eine neue Weise des Interpretierens erfordert.“ (ebd.). 27

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2. Ricœurs Vorwort zu Bultmanns Jesus und Jesus Christus und die Mythologie 257

erkennt er dabei in einem Kurzschluss zwischen Versprachlichung und Aneignung. Dieser stelle die Bedeutung des Textes stumm: Eine Theorie der Interpretation, die sofort auf das Moment der Entscheidung zusteuert, geht zu schnell voran; sie überspringt das Moment des Sinns, das die Stufe des Objektiven – nicht als Welthaftigkeit verstanden – darstellt. Es gibt keine Exegese ohne einen ,Sinngehalt‘; dieser liegt im Text und nicht im Urheber des Textes begründet.32

Bultmann kann in der ricœurschen Lesart die Versprachlichung nicht in ihrem kreativen Sinngehalt würdigen und somit weder den entmythologisierten Text noch im strenge Sinne die Predigt als Anspruch an das menschliche Dasein in seiner beziehungsweise ihrer ganzen Wirkkraft wahrnehmen. Bultmann falle hinter seinen eigenen Anspruch zurück, indem er das Problem der Sprache ausblende.33 Es zeigt sich erneut Ricœurs hermeneutisches Programm: Konsequent unterscheidet er zunächst die Bedeutung der Sprache respektive des Textes von der existentiellen Bedeutung für das jeweilige Dasein.34 Damit gelingt es ihm, die Welt des Textes als eigenständige Größe wahrzunehmen: [E]s sind darum zwei Stufen des Verstehens zu unterscheiden: die Stufe des ,Sinns‘ […] und die Stufe der ,Bedeutung‘, die das Moment der Übernahme des Sinns durch den Leser, d. h. das Wirksamwerden des Sinns in der Existenz, darstellt. Der Vorgang des Verstehens in seiner vollen Ausdehnung geht aus vom idealen Sinn und führt zur existentiellen Bedeutung hin.35

Die Textwelt halte beide Momente zusammen: [D]ie Objektivität des Textes, verstanden als Inhalt, Gehalt und Forderung des Sinns, setzt den existentiellen Aneignungsprozeß in Bewegung. Ohne eine solche Auffassung des Sinns, seiner Objektivität, ja seiner Idealität ist keine Textkritik möglich. In einer Hermeneutik, die sowohl der Objektivität des Sinns als auch der Geschichtlichkeit der personalen Entscheidung gerecht werden will, muß daher das semantische Moment, das des objektiven Sinns, dem existentiellen Moment, demjenigen der persönlichen Entscheidung, vorausgehen. […] Wenn der objektive Sinn fehlt, sagt der Text nichts mehr aus; ohne existentielle Aneignung ist das, was er sagt, nicht mehr lebendiges Wort. Es ist die Aufgabe einer Theorie der Interpretation, diese zwei Momente des Verstehens zu einem einzigen Prozeß zusammenzufassen.36 32

A.a.O., 194. Vgl. a.a.O., 193 f. 34 „Phänomenologie ist eine Verpflichtung, zunächst nur zu beschreiben, was sich in den Phänomenen zeigt, und danach erst zu fragen, was sie im realen Kontext bedeuten. P. Ricœur trennt deswegen (wie andere) den Sinn der Texte und ihre existenzielle Bedeutung für uns (meaning und significance). Diese phänomenologische Grundhaltung bezieht sich grundsätzlich auf alle Phänomene unserer Lebenswelt. Ricœurs Thema aber ist die Welt der Texte und deren Sinn.“ (T, G, Das Verschwinden des hermeneutischen Konflikts. Zur Rezeption von Paul Ricœur in der deutschsprachigen theologischen Hermeneutik, in: EvTh73/4 [2013] 258–272, 260). 35 R, P, Vorwort zur französischen Ausgabe von Rudolf Bultmanns Jesus (1926) und Jesus Christus und die Mythologie (1951), 194. 36 A.a.O., 195. 33

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Ricœur versucht mit seinen Anmerkungen, Bultmanns zustimmungswürdigen Anliegen eine adäquate Ausdeutung zu geben. Denn nach eingehender Untersuchung ist klar, dass Bultmann gerade an dem Ineinander von Kerygma- und Selbstverstehen interessiert ist. In gewisser Weise laufen die bereits dargestellten Kritikpunkte der Formalität und Punktualität in der ricœurschen Anmerkung zusammen, denn in beiden ist die Verkürzung des Geschehens angezeigt. Grundsätzlich sei die Autonomie des Kerygmas stärker zu betonen, als es bei Bultmann aufgrund der Zuspitzung auf den Augenblick der Entscheidung der Fall sei:37 Schon der Gedanke der Verkündigung, der Botschaft, des Kerygmas setzt, wenn ich so sagen darf, eine Initiative des Sinns, eine Ankunft des Sinns bei uns voraus, der aus dem Wort ein Gegenüber zur existentiellen Entscheidung macht. Wenn sich nicht bereits der Text dem Leser widersetzt, wie sollte es da zu verhindern sein, daß die Tat, von der er kündet, sich nicht auf ein bloßes Symbol für die innere Umwandlung, für den Übergang vom alten zum neuen Menschen reduziert? […] Die Rechtfertigung durch den Glauben geht für Bultmann, wie für Luther, von einem anderen aus als mir, von jemandem, der mir schenkt, was er mir gebietet; sonst würde die Eigentlichkeit wieder zu einem ,Werk‘ werden, wodurch ich über meine Existenz verfügte. Was mich ,in Anspruch nimmt‘, geht nicht vom Menschen aus, sondern kommt zu ihm.38

Ricœur legt den Finger in die Wunde, bietet aber gleichzeitig mit seinem Interpretations- und Textweltverständnis eine Hilfestellung an, die im Folgenden, gepaart mit seiner Narrationstheorie, zu einem erweiterten Verständnis Bultmanns beitragen wird. Es wird deutlich werden, dass die theologischen Einsichten von bleibender Bedeutung für die Systematische Theologie sind, die durch die Grundierung mit Ricœurs Hermeneutik plausibilisiert werden können. Der unhintergehbare Zusammenhang von Kerygma- und Selbstverstehen lässt sich über den Konnex von Narrations- und Selbstverstehen im Sinne Ricœurs validieren. Versteht man das Kerygma als Narration, so gelangt das bultmannsche Anliegen zur vollen Strahlkraft.

3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt Es gilt nun, die vielseitigen Implikationen der Narrationstheorie Paul Ricœurs für ein tieferes Verständnis des bultmannschen Kerygmas anhand dreier Punkte pointiert zu explizieren. Das Kerygma ist das entscheidende Moment in der Theologie Bultmanns, doch scheint sein Verständnis des Kerygmas punktuell verkürzt und zu formal als Anrede bestimmt zu sein. Zwar bestimmt er den Inhalt des Kerygmas mit dem Christusgeschehen, bleibt aber die Antwort schuldig, wie Verstehen und Verstandensein auf Seiten des menschlichen Daseins zu denken

37 38

Vgl. ebd. A.a.O., 195 f.

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3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt

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sind. Die theologischen Überzeugungen, die zu dieser Beobachtung führen, sind deutlich geworden. Bultmann betont die Unverfügbarkeit des Kerygmas. Mit dieser unhintergehbaren Bedingung gelingt es ihm, das Rechtfertigungsgeschehen als Gnadengeschenk zu verstehen, an seiner Grundüberzeugung von der menschlichen Angewiesenheit auf Gott festzuhalten und die wirklich verändernde Kraft des im Kerygma vergegenwärtigten Christusgeschehens als Heilsgeschehen zu plausibilisieren. So ist deutlich geworden, dass sich daraus eine Engführung in inhaltlicher wie zeitlicher Hinsicht ergibt. Denn Bultmann verweist inhaltlich zwar auf das Christusgeschehen, gibt selbst aber auf theoretischer Ebene keine Reflexion an die Hand, als was das Kerygma darüber hinaus zu verstehen sei. Dass das Kerygma auf die Vergegenwärtigung des Christusgeschehens zielt, ist unstrittig, doch bleibt zu fragen, inwiefern dieses denn im Kerygma vergegenwärtigt wird und wie der vermittelnde Akt von göttlichem Wort und menschlichem Verstehen zu denken ist. Zweitens bleibt zu fragen, ob die Rede vom Augenblick der Entscheidung Zeit für ein wirkliches Neuverstehen lässt, also ob der vermittelnde Akt in seiner eigenen zeitlichen Struktur und im Hinblick auf die Zeiterfahrung des Daseins treffend beschrieben wird. Durch die Konzentration auf den entscheidenden Augenblick bleibt dieser „isoliert im Gesamtkontext geschichtlicher Wirklichkeit“39 und mit dieser Vorstellung von der Entscheidung im Augenblick bleibt die Frage nach menschlicher Erfahrung innerhalb eben jenes unbeantwortet. Ricœurs Korrelation von Narrations- und Selbstverstehen als Maieutik der bultmannschen Kerygmatheologie angesehen werden. Anhand von drei Aspekten werden im Folgenden die Potentiale der ricœurschen Theorie für die Theologie Bultmanns verdeutlicht. So wird zum einen der Anspruch des Kerygmas untermauert, versteht man das Kerygma als Erzählung. Ricœur begreift die Erzählung als autonome Größe, vor der sich das Selbst versteht und durch die das Selbst konstituiert wird. Gleichzeitig kann damit das Moment der Unverfügbarkeit, das Bultmann betont, aufrechterhalten und grundiert werden. Unter Zuhilfenahme der Resonanztheorie Hartmut Rosas kann das Ineinander von Passivität und Aktivität in der Vergegenwärtigung des Christusgeschehens neu beschrieben werden. Schließlich eröffnet das Kerygma als Erzählung einen Erschließungsraum, in dem das menschliche Dasein verwandelt wird und sich wirklich neu verstehen kann. Mithilfe der dreifachen Mimesis gelingt es, die punktuelle Engführung aufzulösen und die zeitliche Struktur dieses Geschehens mit der menschlichen Zeiterfahrung zusammenzubringen.

3.1 Der Anspruch des Kerygmas Bultmann geht vom Anspruch des Kerygmas aus, dem menschlichen Dasein ein neues Verständnis seiner selbst zu ermöglichen.40 Seine hermeneutischen Über39 40

H, K, Der Glaube als freie Tat des Gehorsams, 247. Vgl. B, R, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, 283.

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legungen lassen sich alle in der Fluchtlinie dieses Vorhabens lesen. Mit Ricœur lässt sich der Anspruch des Kerygmas reformulieren.41 In Anlehnung an dessen Symbolbegriff ließe sich sagen: „Das Kerygma gibt; aber was es gibt, das ist: zu denken, etwas zu denken.“42 In dieser pointierten Formulierung findet sich die Doppelstruktur des Kerygmas als Zugleich von Medium und Inhalt wieder. Die Möglichkeit des Neuverstehens lässt sich strukturell mit der Textwelt neu denken. Denn durch sie wird die Begegnung von Kerygma und menschlichem Dasein deutlich. Das menschliche Dasein versteht sich mit Bultmann im Augenblick der Entscheidung eben vor dem Kerygma, verstanden als Narration des Christusgeschehens. Mithilfe des Textverstehens gelingt es, das Zum-Glauben-Kommen als hermeneutischen Prozess zu plausibilisieren, denn dann kann die Funktion des Kerygmas aufrechterhalten und gleichzeitig die formale Verkürzung vermieden werden. Das den Menschen infrage stellende Kerygma initiiert einen Prozeß folgenreicher Neuorientierung, weil die Welt, die sie erschließt – die Welt des Textes –, zum Bewohnen einlädt und deshalb das Befangensein von der Welt, in der der Mensch bisher ,wohnte’, verheißungsvoll aufbricht.43

Deutlich wird, dass es nicht um eine Form von Selbstbestimmung geht, sondern gerade um ein Sich-bestimmt-sein-Lassen aufgrund des Kerygmas.44 Erst dieses initiiert ein Verstehen auf Seiten des menschlichen Daseins. Die biblischen Texte liefern dafür ein eindrückliches Beispiel.45 Diese versteht Ricœur als Zeugnis und macht damit deutlich, „daß die Wirklichkeitsbehauptung untrennbar an die Selbstdesignation des bezeugenden Subjekts gekoppelt ist“46. Das Absolute spricht sich hier und jetzt aus. Es gibt im Zeugnis eine Unmittelbarkeit des Absoluten, ohne die es nichts zu interpretieren gäbe. Diese Unmittelbarkeit wirkt als Ursprung, als initium, hinter das man nicht zurückgehen kann. Von dort ausgehend ist die Interpretation die unabschließbare Vermittlung dieser Unmittelbarkeit. Aber ohne sie wäre die Interpretation immer nur die Interpretation einer Interpretation. […] Eine Her-

41 „[Ü]ber dieses A und Ω hat ein Subjekt keine Macht; das Heilige spricht zum Menschen, und in diesem Ansprechen zeigt es sich als das, was über seine Existenz verfügt (dispose), weil er als Streben und als Wunsch nach Sein sie absolut setzt (pose).“ (R, P, Existenz und Hermeneutik, 45). 42 R, P, Symbolik des Bösen, 396 f. 43 A.a.O., 128. 44 Vgl. K, U H. J., Hermeneutische Theologie, 104. 45 „Die Bewahrheitung des christlichen Redens von Gott kann nur so stattfinden, daß erst die Offenbarung Gottes selbst am Menschen und seiner Welt das aufdeckt, woran sie ihre Wahrheit erweist. So wäre das christliche Reden von Gott mehr als eine bloße Versicherung. Es könnte das Dasein des Menschen und der Welt, wie es im Lichte der biblischen Überlieferung enthüllt wird, daraufhin aber auch wirklich wahrnehmbar ist, als Zeugnis für die Wirklichkeit des biblischen Gottes in Anspruch nehmen.“ (P, W, Die Frage nach Gott, in: Ders., Grundfragen Systematischer Theologie, Göttingen 31979, 361–386, 365). 46 R, P, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Französischen v. HansDieter Gondek, Heinz Jatho u. Markus Seldacek, München 2004, 250.

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3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt

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meneutik ohne Zeugnis ist zu einem infiniten Regress in einem Perspektivismus ohne Anfang und Ende verurteilt. […] Das Absolute zeigt sich. In diesem Kurzschluss des Absoluten und der Gegenwart entsteht eine Erfahrung des Absoluten. Von dieser allein zeugt das Zeugnis.47

Ricœur vollzieht mit seinem hermeneutischen Ansatz die Reflexion über die Sprachgestalt des Kerygmas, die bei Bultmann aufgrund des Interesses an der Unverfügbarkeit und der Betonung der Offenbarung ausgeblieben ist. Dass das Kerygma immer in Zeichen und Texten zur Sprache kommt, haben zwar beide gesehen, allerdings lässt sich mit Ricœur die den neutestamentlichen Texten eigentümliche Narrationsstruktur als solche wertschätzen. Bultmann hingegen – das ist bereits deutlich geworden – zielt mit seiner Entscheidungssemantik zu schnell auf das Moment der Aneignung.48 Dennoch gelingt es Bultmann, ein charakteristisches Moment der biblischen Texte zu betonen, das sich als Ineinander von Transzendenz und Immanenz beschreiben lässt. Denn für Bultmann ist klar, dass sich Textverstehen zwar in der Welt ereignet, aber nicht allein in einem innerweltlichen Bezugsrahmen steht.49 Er macht somit darauf aufmerksam, dass sich die biblischen Erzählungen des Neuen Testaments dem Christusgeschehen verdanken und somit unzutreffend beschrieben würden, wenn man sie als mimetisch-kreative Vorstellungen menschlicher Möglichkeiten begreifen würde: Das Kerygma ruft zur Entscheidung: für die von Gottes Handeln (in Jesus Christus) eröffnete wahre Freiheit von der Welt des Vergehens und der Selbstbehauptung – gegen die Unmöglichkeit einer Existenz, die sich aus den Möglichkeiten der Welt versteht und sich so zu einem Teil dieser todverfallenen Welt macht.50

Die biblischen Texte zeugen durch ihre narrative Struktur von der Begegnung zwischen Gott und Mensch, angestoßen respektive initiiert vom Christusgeschehen. Somit „bezeugen sie interpretierte Geschichte als wirklich geschehene [und] dadurch zugleich den sich darin und dabei selbst Bezeugenden“51. Darin ist das Alleinstellungsmerkmal der neutestamentlichen Texte zu sehen. Denn Texte 47 R, P, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Veronika Hoffmann, Freiburg/München 2008, 7–40, 31. 48 „Und dementsprechend ist es die Aufgabe der Interpretation der neutestamentlichen Christusverkündigung nicht, unmittelbar zur Entscheidung für oder gegen Christus aufzufordern, sondern den Gekreuzigten vor Augen zu stellen, damit er selbst seine Wirkung entfalte. Dann kommt es – ubi et quando visum est Deo – nicht zur Entscheidung im Sinne Bultmanns, zum neukantianisch formalistischen Ruf in die Eigentlichkeit menschlicher Existenz, sondern zur ,Einbildung‘, indem die biblischen Texte zuerst zu unserer Einbildung sprechen, indem sie ihr Bilder unserer Befreiung vorsetzen. Alle Bilder unserer Befreiung aber verdichten sich im Bild des Gekreuzigten und Auferweckten.“ (K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 255). 49 Vgl. W, J, Umkehren? – Umgekehrt werden!, 127. 50 A.a.O., 127 f. 51 P, C, Expressiver Theismus. Vom Sinn personaler Rede von Gott (DoMo 32), Tübingen 2020, 392.

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und Erzählungen können als Zeugnis verstanden werden, die als Erzählungen Auskunft über „die Qualität der darin bekundeten Realität“52, also über das Christusgeschehen geben. Diese funktionale Bestimmung des Kerygmas lässt sich insofern mit der Narrationstheorie grundieren, als deutlich wird, inwieweit Passivität und Aktivität auf Seiten des menschlichen Dasein zu denken sind. In Erzählungen kommt das Kerygma zur Sprache.53 Indem sich das gläubige Dasein vor der Erzählung versteht, wird das Geschehen als Ineinander von Verstandensein und Verstehen deutlich.54 Denn das Selbst konstituiert nicht nur durch die Rezeption den Sinn des Kerygmas, sondern wird durch dieses selbst konstituiert.55 Indem Ricœur den Begriff der Aneignung an die Interpretation koppelt, wird zudem deutlich, dass sich der Anspruch des Kerygmas nicht losgelöst von der allgemeinen Erfahrung menschlichen Daseins ereignet: Unter Aneignung verstehe ich, daß die Interpretation eines Textes sich in der Selbstdeutung eines Subjekts vollendet, das sich von da an besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt.56

Erst wenn die sprachliche Gestalt des Kerygmas als Textwelt ernst genommen wird, kann die bultmannsche Engführung der Entscheidungssemantik aufgebrochen werden. Durch die Wahrnehmung der sprachlichen Gestalt wird deutlich, dass „in der hermeneutischen Reflexion […] die Konstitution des Selbst und die des Sinnes gleichzeitig statt[finden].“57 Somit lässt sich das Moment der Entscheidung im Augenblick, die Bultmann als „eine Metapher für die Fülle der unmittelbaren Gegenwart“58 benutzt, insofern grundieren, als der Anspruchcharakter des Kerygmas nicht in eine direkte Entscheidung des menschlichen Daseins mündet, sondern über den Umweg der sprachlichen Gestaltung desselben sich vollzieht. Es wird deutlich, inwiefern das Kerygma den Weg zu einem wirklichen Neuverstehen ebnet. Gleichzeitig bleibt damit die bultmannsche Betonung der Unverfügbarkeit erhalten, wie im Folgenden gezeigt wird.

52

A.a.O., 398. Vgl. K, U H. J., Hermeneutische Theologie, 175. 54 Vgl. a.a.O., 104. 55 Vgl. R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 32. 56 R, P, Was ist ein Text?, in: Ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 79–108, 99. 57 Ebd. 58 O, M, Der Augenblick, Wien 2020, 11. 53

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3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt

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3.2 Die Unverfügbarkeit – die Gabe als Ermöglichungsgrund für Resonanz Im Augenblick gibt es nichts, was sich besitzen ließe. Im Augenblick hat man nicht einmal sich selbst. In ihm scheint alles Wirkliche ungeteilt.59

An den Anspruch des Kerygmas fügt sich nahtlos die Überzeugung der Unverfügbarkeit an – und das in doppelter Hinsicht. So steht für Bultmann zum einen fest, dass der Augenblick der Entscheidung lediglich durch das hinzugesagte Wort Gottes zu einem solchen qualifiziert werde. Damit macht er deutlich, dass das menschliche Dasein weder von sich aus den Moment erzwingen kann noch in irgendeiner Weise für den Vollzug verantwortlich ist. Es kann allein auf die Gnade Gottes hoffen. Zum anderen ist Bultmann überzeugt, dass das menschliche Dasein, wenn es auch grundsätzlich den Anspruch des Kerygmas verstehen könne, diesen nicht zwangsläufig verstehen müsse. In der Unverfügbarkeit kommt also sowohl das Moment des Verstandenseins – als Gnadengeschenk – als auch das des möglichen Neuverstehens zum Tragen. Hinter der Betonung der Unverfügbarkeit steht die Überzeugung, dass erst durch diese dem menschlichen Dasein wirklich neue Möglichkeiten eröffnet werden. Der wahrhaft aufdeckende Charakter des Kerygmas bleibt durch die Unverfügbarkeit gewahrt: Offenbaren, das heißt das, was bisher verborgen blieb, aufdecken. […] Offenbarung in diesem Sinne bezeichnet das Hervortreten eines anderen Begriffs von Wahrheit als des Begriffs der durch die Kriterien der Verifikation und Falsifikation geregelten Adäquations-Wahrheit: eines Begriffs von Manifestations-Wahrheit, im Sinne des Sein-Lassens dessen, was sich zeigt. Was sich zeigt, das ist jedesmal das Angebot einer Welt, einer Welt, die so beschaffen ist, daß ich meine eigensten Möglichkeiten in sie hinein entwerfen kann.60

Durch das unverfügbare Kerygma kann es zu einem Resonanzgeschehen kommen, durch das das angesprochene Dasein verändert wird. Eine soziologische Wertschätzung der Unverfügbarkeit findet sich in Hartmut Rosas Resonanztheorie. In seinem „Beitrag zu einer Soziologie des guten Lebens“61 sieht er die Frage nach einem gelungenen Leben in der Frage, „auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt […] werden kann“.62 Dieser doppelt gelagerten These geht Rosa nach. Als Beschreibungskategorie zieht er ein physikalisches Instrument, das der Stimmgabel, heran: Schlägt man eine Stimmgabel an, beginnt die zweite, so sie sich in physischer Nähe befindet, in ihrer Eigenfrequenz mitzuschwingen. Von Resonanz lässt sich dabei allerdings nur sprechen, wenn beide Körper nicht so miteinander verkoppelt sind, dass die Bewegungen des einen mechanisch-lineare Reaktionen des anderen erzwingen (etwa indem die beiden

59

A.a.O., 22. R, P, Gott nennen, 162. 61 R, H, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main 2016, 14. 62 A.a.O., 53. 60

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Kapitel V: Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik

Stimmgabeln miteinander verleimt oder verklammert werden). Resonanz entsteht also nur, wenn durch die Schwingung des einen Körpers die Eigenfrequenz des anderen angeregt wird.63

Den Begriff der Resonanz bestimmt Rosa also „als einen strikt relationalen Begriff“64. Mit dieser Metapher möchte er den Modus, die Art der Bezogenheit auf die Welt ausleuchten.65 Auf diese Weise gelingt es ihm, sowohl positive als auch negative Erfahrungen zu analysieren. Im ersten Fall würden Welt und Subjekt schwingen, womit tatsächliche Resonanz entstehe, im zweiten Fall, den Rosa auch als „Entfremdung“ bezeichnen kann, bleibr die Welt stumm: Resonanz ist das Andere der Entfremdung […]. Mein Vorschlag lautet daher nun also, Entfremdung als einen Modus der Weltbeziehung zu bestimmen, in dem die (subjektive, objektive und/oder soziale) Welt dem Subjekt gleichgültig gegenüber zu stehen scheint (Indifferenz) oder sogar feindlich entgegentritt (Repulsion).66

Rosas Theorie ist das Moment der Unverfügbarkeit unersetzbar eingeschrieben, da sie ein wichtiges Konstitutionsmoment für wirkliche Resonanz darstellt. Resonanzerfahrungen ließen sich nicht erzwingen, sondern stellten sich ein.67 Nun lässt sich die Resonanzerfahrung auch auf das bultmannsche Kerygma anwenden. Mit ihr lässt sich die Betonung der Unverfügbarkeit soziologisch konturieren. Denn mit ihr wird deutlich, dass das Moment des neuen Verständnisses nicht durch reinen Willensentschluss herbeizuführen ist, es sich „nicht instrumentell herstellen, nicht verfügbar machen lässt“68 Damit wehrt die Betonung der Unverfügbarkeit dem menschlichen Bestreben, alles verfügen zu können. Im Hinblick auf die Frage nach dem Selbstverstehen sensibilisiert die Unverfügbarkeitssemantik für das Moment der Kontingenz und Passivität. Ein neues Selbstverstehen ist nicht allein abhängig vom individuellen Selbst, sondern von anderen Umständen, die nicht zur Verfügung stehen. Die Unverfügbarkeit verbürgt ein wirkliches Resonanzgeschehen, dem das Potential innewohnt, das angesprochene Selbst wirklich zu verändern. Für die biblischen Erzählungen lässt sich die Unverfügbarkeit über das Moment der Vorläufigkeit plausibilisieren. In den biblischen Texten wird Gott genannt, noch bevor dies ein Akt ist, dessen ich fähig bin, das ist es, was die Texte meiner Vorliebe tun, wenn sie sich von ihren Verfassern, vom Milieu ihrer Abfassung und von ihren ersten Adressaten selbstständig machen, wenn sie ihre Welt entfalten, wenn sie auf dichterische Weise aufzeigen und so eine Welt enthüllen, die wir bewohnen könnten.69

63

A.a.O., 282. A.a.O., 285. 65 Vgl. a.a.O., 289. 66 A.a.O., 306. 67 Vgl. a.a.O., 52. 68 R, H, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 22021, 43. 69 R, P, Gott nennen, 162 f. 64

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3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt

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Noch bevor das Selbst in der Lage ist, sich neu zu verstehen und dies zu artikulieren, kommen ihm durch die biblischen Texte neue Möglichkeiten entgegen. Nur, indem das Selbst nicht versucht, über sich und die Textwelt zu verfügen, bleibt die Möglichkeit wahrer Veränderung gegeben. In dieser Hinsicht lässt sich sowohl festhalten, dass Gott als „die alles bestimmende Wirklichkeit“70 zu verstehen und Glaube als eine bestimmte Art des Verstehens anzusehen ist. Das Kerygma ist somit als Gnadengeschenk zu begreifen, das in der Predigt dem verstehenden Dasein ein neues Selbstverständnis ermöglicht.71 Das als Erzählung verstandene Kerygma kann weiterhin als Erschließungsraum menschlicher Existenz gelten.

3.3 Das Kerygma als Erschließungsraum Bultmann betont damit, dass die Interpretation der biblischen Texte nicht nur eine Abbildung der Wirklichkeit darstellt, sondern ein Möglichkeiten eröffnendes Unterfangen ist. Daraus lässt sich lesen, dass den Rezipierenden Erschließungsräume eröffnet beziehungsweise geschenkt werden, aus denen sie neue Möglichkeiten zum Selbst- und Weltverstehen schöpfen können. Dabei lässt sich mit Bultmann festhalten, dass sich die Möglichkeit des Verstehens dieser Texte wiederum der Gabe verdankt. Denn erst im Glauben könne das Dasein die Texte als Angebote einer bewohnbaren Welt wahrnehmen, die sich zwar in der Welt zeigt, allerdings nicht von dieser Welt ist. In Bultmanns Hermeneutik ist selbst ein eigenes Narrationsverständnis angelegt. Die existentiale Interpretation und im Konkreten die Entmythologisierung diffundieren nicht in Satzwahrheiten, sondern finden wiederum Eingang in eine Narration, sei es in der Predigt oder in der Theologie. Erzählungen bieten mit ihren unerschöpflichen Kompilationen einen Resonanzraum an, der als Angebot einer zu bewohnenden Welt zu verstehen ist. Auf diese Weise gibt sich das Kerygma „als Eröffnung und Erschließung neuer Perspektiven und Möglichkeiten menschlicher Existenz zu erkennen“72. Mit Ricœur lässt sich das bultmannsche Kerygma neu füllen: The kerygma may also be reinterpreted in such a way that its transcendence is symmetrically tempered by the process of ongoing interpretation of the symbolic space opened and delimited by the biblical canon. [… W]e interpret insofar as it interprets us.73

Das Kerygma gewinnt an Tiefe, da der relationale Charakter des Kerygmaverstehens verdeutlicht wird. Damit kann das Ineinander von Verstandensein und 70

B, R, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, 26. „Faith in this sense is both the demand of and the gift offered by preaching.“ (B, R, Jesus Christ and Mythology, 40). 72 W, K, Glaube in Vermittlung. Theologische Hermeneutik nach Paul Ricœur, Freiburg im Breisgau 2008, 70. 73 R, P, The Summoned Subject in the School of the Narratives of the Prophetic Vocation, in: Ders., Figuring the Sacred. Religion, Narrative, and Imagination. Übers. v. David Pellauer, bearb. v. Mark I. Wallace, Minneapolis 1995, 262–275, 272 f. 71

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Kapitel V: Paul Ricœurs Hermeneutik als Maieutik

Verstehen auf Seiten des menschlichen Daseins aufgrund des Kerygmas erhalten bleiben. Darüber hinaus macht die ricœursche Rede von der Hermeneutik des Selbst deutlich, dass es sich beim Kerygmaverstehen nicht um eine reine Aneignung handelt, sondern sich das Selbst vielmehr erst vor dem Anspruch des Kerygmas konstituiert. Sowohl das Kerygma als auch das Selbst ist in seiner Unverfügbarkeit in produktiver Schwebe gehalten. Dies gelingt mit dem Interpretationsbegriff: Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bliebe schwach und unbestimmt, wäre es nicht die Antwort auf den Entwurf eines neuen Seins, der mir neu Möglichkeiten zu existieren eröffnet. Die Hoffnung, das unbedingt Vertrauen, wäre leer, würden sie sich nicht stützen auf die immer wieder erneuerte Interpretation der durch die Schrift überlieferten Ereignis-Zeichen, des Exodus im Alten und der Auferstehung im Neuen Testament. Diese Ereignisse der Befreiung öffnen und entdecken die wesenhafte Möglichkeit meiner Freiheit und werden so für mich Wort Gottes.74

Durch diesen wird das Angebot einer bewohnbaren Welt deutlich.75 Mithilfe der dreifachen Mimesis wird die Erzählung in ihrer Autonomie wahrgenommen und der Verstehensprozess neu bedacht: Unterwirft man das Sich-Verstehen der Selbstdarstellung der ,Sache’ des Textes, so schließt der Akt des ,Sich-Verstehens vor dem Text’ eine Kritik der Illusionen des Subjekts ein. Weil das Subjekt sich selbst in den Text einträgt und weil die Struktur des Verstehens, [...] von dem Verstehen, das den Text reden lassen will, nicht getrennt werden darf, ist die Kritik des Selbst integrierender Teil des Sich-Verstehens vor dem Text.76

Damit wird die Grundeinsicht Bultmanns deutlich, dass das Selbst zur Verwirklichung seiner Existenz auf den Anspruch des Kerygmas angewiesen ist und bleibt.77 Durch die Erzählung kommt das Christusgeschehen zur Sprache und wird in der Interpretation erneut zur Narration.78 Mit dieser Sicht entgeht man der punktuellen wie formalen Einengung des Kerygmas auf den Augenblick der Entscheidung. Denn zum einen wird deutlich,

74

R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 44. „Sich der Führung des Sich-Gebenden überlassen heißt glauben. Aber dieses Sich-führen-Lassen ist vor der Vernunft zu verantworten, wenn die Vernunft verstehen kann, wovon sie sich führen läßt, wenn sie es als jene Sinnschöpfung verstehen kann, durch die sie sich als sich selbst gegeben, als zu sich selbst ermächtigt begreift.“ (W, J, Umkehren? – Umgekehrt werden!, 118). 76 R, P, Philosophische und theologische Hermeneutik, 44. 77 „Die Offenbarung des Absoluten in Personen und Handlungen wird unabschließbar vermittelt mit Hilfe der verfügbaren Bedeutungen, die einer vorgängigen Schrift entlehnt werden.“ (R, P, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übers. u. mit einem Nachwort versehen von Veronika Hoffmann, Freiburg/München 2008, 7–40, 33). 78 Vgl. R, P, Hermeneutik der Idee der Offenbarung, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übers. u. mit einem Nachwort versehen von Veronika Hoffmann, Freiburg/München 2008, 41–83, 69. 75

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3. Das Kerygma als Narration – das Angebot einer zu bewohnenden Welt

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inwieweit das Kerygma das Verstehen erst bedingt und zum anderen wird durch die dreifache Mimesis deutlich, inwieweit die Prä- und Refiguration des Selbst durch die Konfiguration des Kerygmas verändert werden. Es grundiert das Anliegen Bultmanns, das christologische Kerygma als Größe zu verstehen, die das menschliche Dasein verändert, indem es dieses nicht überfallartig zur Entscheidung zwingt, sondern ein neues Verständnis anbietet, das es von sich aus nicht evozieren kann. Zudem lässt sich Bultmanns Rede von der freien Tat des Gehorsams neu füllen. Die freie Tat lässt sich dann als die Antwort auf einen Anspruch Gottes verstehen, die immer ungesichert ist, weil sie nur durch das Aufeinandertreffen von Textwelt und derzeitigem Selbstverständnis ermöglicht wird. Gehorsam wäre auf dieser Linie zu verstehen als das Sich-irritieren-Lassen, das Sich-in-der-Ausgeliefertheit-gewinnen-lassen des Selbst.79 Es gelingt dann auch, die biblischen Erzählungen als solche wahrzunehmen. Denn indem in diesen Texten erzählt wird, nimmt das, was erzählt wird, in der Erzählung Gestalt an.80 Freilich lässt sich ein solches Verständnis auf alle Erzählungen ausweiten. Die Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal der biblischen Texte ist somit zu stellen. Sie unterscheiden sich in der Hinsicht von anderen Narrativen, als sie die von ihnen vorgestellte Welt nicht als ihre eigene verstehen.81 Damit unterstreicht die ricœursche Hermeneutik die Einsicht Bultmanns, dass „unser eigentliches Selbst immer neu zu empfangen [ist].“82

79 „Wenn sich selbst zu verstehen heißt, sich vor dem Text zu verstehen, muss man dann nicht sagen, dass das Verstehen des Lesers in der Schwebe gehalten, irrealisiert, potenzialisiert wird in der gleichen Weise, wie die Welt ihrerseits durch das poetische Wort verwandelt wird? Wenn es so ist, muss man sagen, dass die Einbildungskraft derjenige Teil von uns selbst ist, der auf den Text als dichterisches Wort antwortet und der allein der Offenbarung nicht mehr als einem inakzeptablen Anspruch, sondern einem Aufruf begegnen kann, der seine Annahme nicht erzwingt.“ (A.a.O., 83). 80 Als prägnantes Beispiel dürften die Gleichnisse Jesu gelten, die durch ihre Komposition „neue Bereiche von Welterfahrung […] eröffnen“ (R, P, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Ders./Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, mit einer Einführung von Pierre Gisel, München 1974, 45–70, 45). In erzählerischer Form erschließen sie den Rezipierenden eine Vorstellung von der anbrechenden Gottesherrschaft. 81 Vgl. W, J, Umkehren? – Umgekehrt werden!, 132. 82 B, R, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 126.

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Ergebnisse Damit aber sind wir zur Hauptsache gekommen. Für Gottes Ruf bereit sein, das heißt eben: Dafür bereit sein, daß uns unser Leben der irdischen Arbeit mit seinen Sorgen und Plänen, seinen Leiden und Freuden nicht das Letzte ist. Was heißt denn Gottes Einladung? Sie ist doch der Ruf zu einem Höheren, einem Zukünftigsein, einem Jenseitigen! Sie ist der Ruf aus unserer Welt hinaus in seine Welt! […] Sein Ruf fordert von uns Entscheidung zwischen unserer Welt und seiner Welt, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Diesseits und Jenseits.1

Dass das Selbst keinesfalls selbstverständlich ist, ist durch das Vierergespräch deutlich geworden. Dennoch zeigen die vier Denker eindrücklich, dass diese Feststellung keineswegs im Quietismus endet. Über das Verstehen, das die Vier dem Selbst als genuine Charaktereigenschaft eingeschrieben sehen, ist dem Selbst näherzukommen. Dabei setzen sie unterschiedliche Schwerpunkte. Über die Relektüre von Conf. XI ist die Bedeutung der Zeit für das Selbstverstehen deutlich geworden. Augustins Frage nach der Zeit ist gekoppelt an die menschliche Erfahrung. Es ist für ihn der Geist, der die Zeit misst. Eine objektive Zeiterfahrung gebe es lediglich durch den subjektiven Geistesakt. Nur über die jeweils individuelle Erfahrung sei es möglich, sich der Zeit zu nähern. In der Auseinandersetzung mit Augustin wird deutlich, dass es nicht um die Frage nach der Zeitmessung oder -struktur geht, sondern um die Bedeutung der Zeit für das Selbst. Doch Augustin geht noch einen Schritt weiter. Lediglich aus der Gewissheit heraus, dass Gott der Schöpfer auch die Zeit geschaffen hat, kann er über die Zeit nachdenken. Diese Grundüberzeugung ist gleichzeitig als Rückversicherung des je individuellen Geistes und der damit verbundenen Zeiterfahrung zu verstehen. Mit ihr verbindet Augustin Zeiterfahrung und Glaubenserfahrung. Zeiterkenntnis ist für Augustin immer Selbsterkenntnis unter Bezugnahme auf Gott den Schöpfer. Der Zusammenhang von Zeit- und Selbstverstehen erfährt eine Grundierung durch die Gottesbeziehung. Aus ihr lässt sich der Konnex von Selbst- und Gottverstehen oder grundsätzlicher von Glauben und Verstehen ableiten, der der bultmannschen Theologie ihre Überschrift gibt. Über die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik ist deutlich geworden, dass sich ein Selbstverstehen immer in der Auseinandersetzung mit der Umwelt vollzieht. Mit der Konzeption der µι µησις lässt sich festhalten, dass sich das Selbst über die kreative Nachahmung die Wirklichkeit erschließt. Über Aristoteles hinausgehend lässt sich mithilfe des Dreigespanns von µι µησις, µυÄ θος 1

B, R, Marburger Predigten, 134.

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und κα θαρσις die Verwiesenheit des Selbst auf Narrationen im Allgemeinen festhalten. In ihnen zeigt sich die Wirklichkeit für verschiedene Menschen auf unterschiedliche Weise. Wenn auch nicht absichtlich, so wird doch unabsichtlich die Wirklichkeit mithilfe der µι µησις verändert. So lässt sich aus der µι µησις die grundsätzlich hermeneutische Struktur menschlichen Daseins ableiten: Das Selbst ist immer als ein verstehendes zu denken. Es ist sowohl als mimetischschaffendes als auch als mimetisch-rezipierendes zu begreifen. Die µι µησις ist in ihrem Vollzug verwiesen auf Möglichkeiten menschlichen Daseins, die sie kreativ veranschaulicht. Dabei ist sie keineswegs als reines Abbild der Wirklichkeit anzusehen, sondern als Vorstellung von Möglichkeiten. Zudem bietet der µυÄ θος dem menschlichen Dasein einen Raum, in dem und vor dem es sich verstehen kann. Schließlich zielt die Rede von der κα θαρσις darauf ab, dass das Rezipieren von Narrationen Auswirkungen auf das Selbst im Hinblick auf das Selbst- und Weltverstehen hat und nicht in reinem Genuss aufgeht. Aus theologischer Perspektive bleibt die aristotelische Vorstellung insofern fragmentarisch, als in ihr das Selbst allein für sein Selbstverstehen verantwortlich gemacht wird beziehungsweise dem Selbst die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich selbst vollends verstehen zu können. Mit Augustin und Bultmann ist zu betonen, dass ein Selbstverstehen ohne ein Verstandensein durch Gott nicht möglich ist. Die weitreichenden Einsichten aus der Relektüre der Poetik finden sich in der Hermeneutik Ricœurs wieder. Von grundsätzlicher Bedeutung bleibt die Wertschätzung der Narration – in der die Wirklichkeit mimetisch-kreativ verarbeitet wird – als ein Verstehensraum für das Selbst. In dieser funktionalen Bestimmung ist das Potential für eine produktive Aufnahme des Narrationsbegriffs für das bultmannsche Kerygma zu sehen. Ricœur bringt mit der dreifachen Mimesis die augustinische Zeitphilosophie mit der aristotelischen Poetik in ein produktives Gespräch. Ihm zufolge ist die Frage nach der Zeit nur durch die narrative Vermittlung zu beantworten. Ricœur stützt über drei Problemkreise seine These: Zunächst verdecke die kosmologische Zeitmessung immer die phänomenologischen Zeitaspekte. Sodann sieht er sich vor das Problem gestellt, die Zeit in ihrer Ganzheit zu denken. Schließlich werde die Zeit immer schon erlitten, sodass eine objektive Zeitbetrachtung ausgeschlossen sei. Mit dem Konzept der dreifachen Mimesis denkt er den präfigurativen, figurativen und refigurativen Dimensionen der Narrationskomposition nach. Neben den Implikationen für ein Zeitverstehen bietet die Lektüre Ricœurs vor allem für die umfassend grundanthropologische Frage nach dem Selbstverstehen wichtige Hinweise. Für Ricœur steht fest, dass das Selbst unabdingbar auf einen Umweg über die Erzählung angewiesen ist. Über die dreifache Mimesis gelingt es Ricœur, das Erschließungspotential der narrativen Verarbeitung zu plausibilisieren. So sieht er die Aufgabe der Hermeneutik nicht in dem Verstehen des Autors, sondern postuliert die Autonomie des Textes und dessen Textwelt. Während mit der Mimesis I die Voraussetzungen zum Erzählen benannt werden – in klassischer Fasson das Vorverständnis –, wird durch die Mimesis III deutlich, dass der Sinn der Erzählung erst durch die Auseinandersetzung mit dem Text in

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der Lektüre zu finden ist. In Ricœurs Ausführungen zur Erzählung als bewohnbarer Welt und seiner narrativen Identität wird die enge Beziehung von Text und Selbst deutlich. Denn nicht nur gewinnt sich das Selbst nach Ricœur über den Umweg der Narration, vielmehr wird es in seiner Eigenart nur durch die narrative Funktion zusammengehalten. Ohne Vermittlungsleistung lässt sich im Anschluss an Ricœur nicht von einem Selbst sprechen. Diese spannungsreiche Beziehung von Erzählung und Selbst ist von besonderem Interesse für die Theologie. Was für Ricœur die Erzählung ist, ist für Bultmann – das ist nach eingehender Untersuchung deutlich geworden – das Kerygma. Mit der ricœurschen Hermeneutik des Selbst im Hintergrund, lässt sich das Anliegen der bultmannschen Theologie besser verstehen und der theologischen Frage nach dem Selbst näherkommen. Bultmann bindet innerhalb seiner theologischen Überzeugung vom Zusammenhang von Glauben und Verstehen das Selbstverstehen exklusiv an das Kerygmaverstehen. Nur durch die Anrede des Kerygmas, das nicht als Gegenstand menschlicher Wahl zur Verfügung stehe, würden dem Selbst neue Möglichkeiten eröffnet, werde der Mensch angesprochen und zur Eigentlichkeit befreit. Da sich das menschliche Dasein nach Bultmann immer schon unter der Sünde befindet, immer schon in der Welt verhaftet und in seinen eigenen Möglichkeiten gefangen sei, bedürfe es eines Geschehens, das diesem geschichtlichen Kontext gegenüberstehe und das menschliche Dasein wirklich befreien könne. Das Kerygma, in dem das Christusgeschehen als eschatological event zur Wirkung gebracht wird, eröffnet Bultmann zufolge den Heilsweg für das menschliche Dasein. Er geht von einer Verständlichkeit aus, da es ohne ein korrespondierendes Verstehen auf Seiten des menschlichen Daseins keine wirkliche Anrede wäre. Bultmann ist an der Vermittlung der Unverfügbarkeit des Kerygmas und der generellen Verstehbarkeit interessiert, die sich in der Betonung des Zusammenhangs von Glauben und Verstehen spiegelt. Aus der Hervorhebung der Unverfügbarkeit ergibt sich allerdings das Problem, dass der Kerygmabegriff eigentümlich verkürzt erscheint. Bultmann bemüht sich, den unrelativierbaren Anspruchcharakter des Wortes Gottes im christologischen Kerygma zu betonen und gleichzeitig die Existenz des Menschen als in ihrer Beziehung zu Gott geschichtlich wahrzunehmen. Das Verhältnis dieser beiden Pole ist strapaziert. Das liegt an zwei grundsätzlichen Problemen, die sich unter den Begriffen der Punktualität und Formalität fassen lassen, die sich wiederum unter dem Generalverdacht einer Verkürzung der christlichen Botschaft sammeln. Alles konzentriert sich bei Bultmann für das Selbst auf den durch Gottes Offenbarung qualifizierten Augenblick. In diesem könne sich das Selbst vollends bewusst werden, womit sein Handeln in eben diesem als alles entscheidend qualifiziert wird. Der Augenblick ist bei Bultmann der Moment der allumfassenden Entscheidung. Zu einem solch entscheidenden Moment wird er bei ihm allerdings nur durch Gottes „Offenbarungswort“2. Ein wahrhaft neues Selbstverständnis, 2

B, R, Theologische Enzyklopädie, 63.

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ein wirklicher Gewinn der eigenen Existenz, die Entscheidung für das Leben, die wirkliche Freiheit kann es für Bultmann nur in der angemessenen Antwort auf den Anspruch Gottes durch das Kerygma im Augenblick der Entscheidung geben. Allerdings übt sich Bultmann bei der Frage nach der Verstehensweise des Kerygmas in Zurückhaltung. Zwar steht für ihn fest, dass es sich um das christologische Kerygma handelt, dass das Christusgeschehen vergegenwärtige und das verstehende Selbst anspreche. Allerdings bietet er selbst keine Reflexion über die dem Kerygma eigentümliche Sprachform. Bultmann ist immer wieder seine Betonung des bloßen „Dass“ bezüglich der Menschwerdung Gottes und somit auch des Kerygmas vorgeworfen worden. Tatsächlich unterzieht er das Kerygma keiner eigenen Sprachreflexion, was daran liegen mag, dass er das Kerygma von jeder menschlichen Absicherung freihalten will. Für ihn reicht die Bestimmung des „Dass“ sowie die Vergegenwärtigung des Christusgeschehens als Bestimmung. Durch die reine Betonung der Faktizität hat das Kerygma den Anschein eines überfallartigen Moments, das den Menschen zum Glauben führen soll. Eine Spur der Entgegnung kann im bultmannschen Begegnungsbegriff ausgemacht werden. Mit der Begegnung plausibilisiert Bultmann das Ineinander von Transzendenz und Immanenz und schafft gewissermaßen einen Raum für das angesprochene Selbst und den ansprechenden Gott. Anhand seiner umfassenden Predigttätigkeit ist deutlich geworden, wie er selbst seine existentiale Interpretation und die Verkündigung des Heilsgeschehens betrieben hat. In seinen Predigten spiegelt sich eine kreativ-mimetische Verarbeitung des Kerygmas im Sinne von Aristoteles und Ricœur wider. In Kapitel V ist die These der Untersuchung zur expliziten Erprobung gekommen. Zunächst wurde deutlich, wie Ricœur selbst zu Bultmanns Theologie Stellung genommen hat. Ein fingiertes Gespräch darf dieses historische nicht aussparen. Sodann ist die Narrationstheorie vor dem Hintergrund der Hermeneutik des Selbst mit dem bultmannschen Kerygmabegriff in Dialog gebracht worden. Unter Zuhilfenahme der ricœurschen Narrationstheorie lassen sich die Anliegen Bultmanns treffender artikulieren. Dabei geht es keinesfalls darum, seine theologischen Überzeugungen zu revidieren. Vielmehr erlangen sie mithilfe der vielseitigen Hermeneutik des Selbst ihre volle Strahlkraft. Insofern kann Ricœurs Korrelation von Narrations- und Selbstverstehen als Maieutik der bultmannschen Kerygmatheologie angesehen werden. Darüber hinaus führt die Beschäftigung mit Bultmann zu wichtigen theologischen Grundeinsichten, die sich an die Frage nach dem verstehenden Selbst rückbinden lassen. Mit unermüdlicher Eindringlichkeit hat Bultmann auf den Zusammenhang von Verstandensein und Verstehen hingewiesen – ein Verstandensein, das von Gott ausgeht und seinen Niederschlag in einem neuen Selbstverstehen des menschlichen Daseins findet. In seiner Aufsatzreihe geht er unter dem Konnex von Glauben und Verstehen der Frage nach dem christlichen Glauben nach. Diesen begreift er dabei als bestimmte Weise des Verstehens, als Antwort auf das christologische Kerygma. Es geht Bultmann um den Glauben, den er als unabdingbare Grundlage, als Gnadengeschenk begreift, der ein wahrhaftes

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Verstehen erst ermöglicht. Glauben und Verstehen gehören für ihn eng zusammen: Erst im Glauben ist der Gegenstand der Theologie gegeben, wird ein Verstehen des Christusgeschehens möglich und kann das Selbst sich wirklich neu verstehen. So ist Bultmanns theologische Tätigkeit von den Fragen geleitet, wie das menschliche Dasein das Kerygma als den Glauben konstituierendes Moment verstehen kann und wie es sich gleichzeitig angesichts des Anspruchs des Kerygmas selbst zu verstehen hat. Dabei fungiert das Kerygma als Vermittlung in zweifacher Hinsicht: Zum einen vermittelt es die zeitliche Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, indem es von einem vergangenen Ereignis als gegenwärtig spricht. Das tut es zum anderen in der Vermittlung mit dem geschichtlichen Dasein. Das Ereignis wird nach Bultmann nur richtig verstanden, „wenn es als in der Gegenwart, je meiner Gegenwart, sich vollziehendes verstanden wird“3. Im Kerygma laufen somit die beiden Pole „Glauben“ und „Verstehen“ zusammen. Bultmann sieht im Kerygma die Möglichkeit des Zum-Glauben-Kommens verbürgt. Das Paradoxon des Kerygmas, das Inhalt und Anrede zugleich ist, das sich dem Christus-Paradoxon verdankt, bildet gleichsam das Scharnier zwischen Gott und Mensch. Im Kerygma wird die hermeneutische Bewegung der bultmannschen Theologie besonders spürbar, denn in ihm ist der Weg des Selbstverstehens zu suchen. Das Kerygma verbürgt dieses Verstehen für Bultmann in seiner Eigenart eben als Kerygma. Bultmann hat über die Frage nach der Verstehensweise des Kerygmas selbst nicht weiter nachgedacht. Ihm kommt es vor allem auf den Anspruchcharakter desselben an, der zu einem wirklichen Neuverstehen auf Seiten des menschlichen Daseins führt. Bultmann spitzt alles auf den Augenblick der Entscheidung zu. Er verkürzt damit das Kerygmaverstehen auf das Moment der Aneignung, auf das das menschliche Dasein lediglich mit einem „verstehende[n] Ja oder Nein“4 antworten könne. Bultmann hat richtig gesehen, dass Kerygma- und Selbstverstehen eng zusammenhängen und dies über seine hermeneutischen Ausführungen zum Vorverständnis zu plausibilisieren versucht. Über dieses Verständnis fällt die Plausibilisierung des Ineinanders von Verstehen und Verstandensein schwer, denn die Frage nach der Eigenart des Kerygmas bleibt offen. Mithilfe der Hermeneutik Ricœurs gelingt es, die Bedeutung des Kerygmas beizubehalten und gleichzeitig das Ineinander von Verstandensein und Verstehen zu plausibilisieren. Durch das christologische Kerygma spielt Gott dem Selbst die Möglichkeit zu, sich selbst vor dem eschatological event zu verstehen. Mit der Hermeneutik des Selbst wird die exzeptionelle Bedeutung dieses Geschehens versprachlicht. Gleichzeitig wird der existentiellen Überfallsemantik durch die Auffächerung der Mimesis gewehrt. Der Augenblick der Entscheidung, der durch Gottes hinzugesprochenes Wort, das heißt durch seine Gegenwart, qualifiziert wird, lässt sich

3 4

B, R, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, 22. B, R, Neues Testament und Mythologie, 61.

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durch die Untersuchungen zur narrativen Identität in die nicht endende Aufgabe des Selbstverstehens inkorporieren. Versteht man also das Kerygma als Erzählung im ricœurschen Sinne, so umgeht man die Probleme und hält gleichzeitig an den Grundüberzeugungen Bultmanns fest. Für die gegenwärtige Systematische Theologie ist die Beschäftigung mit der Kerygmatheologie Bultmanns von bleibender Bedeutung, da sie Kernthemen protestantischer Theologie versprachlicht. Bultmanns Œuvre ist durchzogen vom Ringen um den Zusammenhang von Glauben und Verstehen. Das Kerygma ist als Schlüsselkategorie für diesen Konnex anzusehen. Durch diesen Begriff unterstreicht Bultmann, dass der Glaube eine bestimmte Art des Verstehens ist, die sich aus einem vorausliegenden Verstandensein ergibt. Im Glauben geht mit der Ent-deckung Gottes ein wirkliches Selbstverstehen einher.5 Die ausdrückliche Erhebung dieses Zusammenhangs für die moderne protestantische Theologie ist seiner Arbeit zu verdanken. Darüber hinaus verdeutlicht Bultmann die Stellung der Systematischen Theologie im Fächerkanon der Theologie. Sie ergibt sich ihm zufolge aus konsequenter Exegese im Sinne existentialer Interpretation und ist ausgerichtet auf die Verkündigung. Mithilfe der ricœurschen Hermeneutik erscheint die christliche Verkündigung als ein Angebot bewohnbarer Welten, indem in ihr die Begegnung von Gott und Mensch mimetisch-kreativ verarbeitet und weitergeschrieben wird. Auf diese Weise begegnet das Kerygma als Erzählung dem menschlichen Dasein und ermöglicht ein Neuverstehen des Selbst und der Wirklichkeit.6 Dabei gilt es, das initium im Kerygma zu sehen – „Gott muß den Anfang machen.“7 Bultmanns Predigttätigkeit gibt ein eindrückliches Bild davon, mit welchem Verve er immer wieder den Anspruch Gottes an das menschliche Dasein zu versprachlichen sucht. Er unterstreicht damit die Unhintergehbarkeit des extra nos, die auch anhand seiner Betonung der Unverfügbarkeit des Kerygmas deutlich wird. Mit Bultmann lässt sich Verstehen als eine Bewegung denken, die vom Glauben angestoßen wird. Glauben ist eine bestimmte Weise des Selbstverstehens und nicht die unkritische oder gar widervernünftige Übernahme von theologischen Überzeugungen. Vielmehr berührt Glauben das Selbst als Ganzes. Es ist ein „erkenntnisgetragenes Vertrauen von ganzem Herzen“8 Gott gegenüber.

5 „Glaube ist eine mit der Entdeckung Gottes sich zugleich einstellende Selbstentdeckung: die Entdeckung einer den ganzen Menschen betreffenden Selbsterneuerung. Wer sich aber als neuen Menschen entdeckt, der kann sich nicht selber als neuen Menschen konstituieren, kann sich auch nicht für seine Existenz als neuer Mensch entscheiden.“ (J, E, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 204). 6 Vgl. K, U H. J., Theologie des Wortes Gottes, 236. 7 B, R, Das verkündigte Wort, 53. 8 K, A, Glauben bekennen, Glauben verstehen. Eine systematisch-theologische Studie zum Apostolikum (ThSt 9), Zürich 2014, 89.

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Am Ende der Spurensuche nach dem Selbst lässt sich pointiert resümieren: Zeit- und mimetisches Wirklichkeitsverstehen lassen sich über die Erzählung zusammendenken. Über die Interpretation von Narrationen – ricœursch gesprochen vor Narrationen – kann sich das Selbst verstehen. Diese Einsichten sind theologisch fruchtbar zu machen und lassen sich mit der bultmannschen Vorstellung vom Kerygma versprachlichen. Eine Relektüre dieses Begriffs über die produktive Kritik der Narrationstheorie Ricœurs hebt hervor, dass im Selbstverstehen Aktivität und Passivität in Spannung gehalten sind. Mit ihr kommt eine Grunderfahrung des Glaubens zum Ausdruck. Das Selbst erwirkt sein Dasein nicht aus sich selbst, sondern empfängt es als Gottes Gabe. Diese Einsicht gilt es für die Frage nach dem Selbst zu betonen: Ein Selbstverstehen ist nur über ein gnädiges Verstandensein vonseiten Gottes möglich. Bultmann hat diesen Zusammenhang treffend mit Glauben und Verstehen betitelt. Mit der Auffassung des Kerygmas als Narration lässt sich am Anspruchcharakter des Christusgeschehens unter gleichzeitiger Einbezogenheit des Verstehensprozesses aufseiten des Selbst festhalten. Dadurch wird deutlich, inwiefern aus christlicher Perspektive das Selbst auf die gnädige Einladung Gottes angewiesen ist, um zu sich selbst zu gelangen: „Was heißt denn Gottes Einladung? Sie ist doch der Ruf zu einem Höheren, einem Zukünftigsein, einem Jenseitigen! Sie ist der Ruf aus unserer Welt hinaus in seine Welt!“9

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B, R, Marburger Predigten, 134.

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Personenregister Albright, William Foxwell  164 Assmann, Jan  96 Bartels, Cora  139, 207 Barth, Karl  132, 133, 134, 138, 197, 214 Bauspieß, Martin  191 Beck, Johannes U.  221 Becker, Eve-Marie  144, 199 Blumenberg, Hans  222 f., 231, 234 Bormann, Lukas  131, 190 Breitling, Andris  66 Buri, Fritz  223 Burkard, Franz-Peter  116 Congdon, David W.  181 Corti, C. Augustín  12, 23 Dalferth, Ingolf U.  112, 125, 135 f., 140, 172 Destrée, Pierre  32 Dilcher, Roman  50 Dilthey, Wilhelm  6 f., 103, 109, 158, 165, 183 Dinkler, Erich  222 Ebeling, Gerhard  112 f., 120, 207, 211, 216, 233 Ellwein, Eduard  200, 216 f. Evang, Martin  141, 237 Evangeliou, Christos C. 30 Fischer, Hermann  109, 207 f., 214 Fischer, Norbert  9, 11, 15, 17, 20 – 24 Frank, Erich  150 Freud, Sigmund  53, 57 Fuchs, Ernst  111, 113, 197 Fuchs, Marko J.  11 f., 22 Gadamer, Hans-Georg  84, 93 Goethe, Johann Wolfgang von  34, 49 Gogarten, Friedrich  192, 214 Golden, Leon  39, 43, 47, 51

Graf, Friedrich Wilhelm  213 f. Gräßer, Erich  237 f. Großmann, Andreas  115, 121, 124, 126, 128, 200 Habermas, Jürgen  7, 25 Haker, Hille  100 f. Herbst, Christoph  195, 199 Homer  30, 36, 44 Hübner, Hans  128 f., 178 f., 195 Husserl, Edmund  53, 57, 81 Iser, Wolfgang  83, 96 Ittel, Gerhard Wolfgang  120 Jauß, Hans Robert  83, 96 Jung, Matthias  115 f., 126, 128 Jüngel, Eberhard  119, 190, 194 f., 197, 274 Käfer, Anne  138, 274 Kegley, Charles W.  136, 196 Kierkegaard, Søren  201, 207 f., 214 f., 226 Kloss, Gerrit  39 Klumbies, Paul-Gerhard  146 König, Bastian  91, 99 Körtner, Ulrich H. J.  188, 190, 211, 223, 235, 261 Kuhlmann, Gerhardt  131, 196 Künneth, Walter  137, 140 Küpper, Joachim  40, 42 – 44, 48 Landmesser, Christof  141 f., 145, 147, 156 Laube, Martin  130 Lauster, Jörg  216, 220 Lessing, Gotthold Ephraim  34, 233 Lubomír Doležel  37, 42 Luther, Martin  133, 168, 194, 198, 201, 208, 210, 243 f., 258 Macquarrie, John  117, 134, 198, 201 f., 223 Martin, Gerhard Marcel  217, 230

294 Marxsen, Willi  217 Mattern, Jens  94 Metz, Johann Baptist  56 Moltmann, Jürgen  229 Moxter, Michael  229 f. Nickau, Klaus  36 Oppermann, Malte  262 Ott, Heinrich  143 f., 152, 211 Pannenberg, Wolfhart  181, 260 Pilnei, Oliver  126, 130, 170 Platon  28, 30, 34, 44 – 51 Polke, Christian  261 Ritschl, Dietrich  56 Rosa, Hartmut  259, 263 f. Sass, Hartmut von  125, 225 Schadewaldt, Wolfgang  34 Schapp, Wilhelm  81 f.

Personenregister

Schleiermacher, F. D. E.  110, 125, 129 f., 158 Schmidt, Ernst A.  13, 23 Schmitt, Arbogast  29, 52 Schneider, Jakob H. J.  26 Schniewind, Julius  119 Schrey, Heinz-Horst  204 Sölle, Dorothee  219, 221 Tatarkiewicz, Wladyslaw  51 Theißen, Gerd  217, 257 Tillich, Paul  208, 213 – 215 Trench, William F.  51 Tumarkin, Anna  33 Weinreich, Harald  56 Wenzel, Knut  265 Werbick, Jürgen  266 Wiercinski, Andrew  101 Wilke, Matthias  206 Wirth, Mathias  195 Wittekind, Folkhart  168

Sachregister Anrede  134, 164, 167 f., 187, 210 – 221, 231 – 250, 271, 273 Anthropologie  119 – 123, 148 f., 154, 159, 166, 182 Auferstehung  132, 185 – 187, 192, 216, 232, 241, 266 (Selbst‑)Auslegung  57, 104, 110, 134, 152, 158, 178, 181, 189, 239, 253 Daseinsanalyse  114, 122, 124, 126 f., 136 – 140, 144, 184

Neubeschreibung  28, 84, 98, 106 positum  116, 119, 130, 210, 121 pro me  216, 242 Rechtfertigung  133, 193, 195, 198, 230, 244, 258 f. res  200, 216, 218, 221 Rezeptionsästhetik  83 – 85 Ruf  123, 146, 160 f., 167, 234 f., 275

Entwicklung  100, 129, 150, 160, 196, 230 Erlebnis / Erleben  6 – 8, 10, 15, 17, 25 f., 44, 131, 244 Evangelium  109, 242, 253

Sakrament  209, 249 Schöpfer  7, 13, 23, 25, 152, 241, 244 – 248, 269 Sünde  138, 154, 186, 207, 237, 249, 271 Sünder  7, 110, 138 f., 184, 229, 245

Fraglichkeit  1, 110

Taufe  154

Heil  147, 154, 156, 168, 180, 182, 185, 206, 214 Heilsereignis  185 f., 191, 216, 242 Heilsgeschehen  4, 180, 184, 186 – 188, 191, 217, 235, 242 f., 259, 272 Heilsweg  179, 183, 187, 206, 247, 249, 255, 271 Historie  204

Unglauben  126, 132, 134, 137, 139 f., 172 f., 190, 250 ungläubig  134, 138 f., 155, 172, 183, 187, 249 Verwandlung  62, 72, 98, 106 vorgläubig  126, 131 – 140, 156, 160, 169, 172, 187, 250 Vorverständnis  60, 68, 92, 96, 105, 109 f., 135, 138, 141, 158 f., 174 – 176, 198, 204

Kreuz  132, 185 – 187, 192, 232, 241 Lesende  37, 83, 88, 93, 98 Liebe  112, 161 f., 165, 184, 226, 237, 246 f.

Wort Gottes  3, 109, 111 f., 198, 218, 221, 225, 234, 242, 249, 253, 263, 266 Wunder  133, 192, 242 – 248

Missverständnis  136, 196 – 198, 208, 224, 239, 252, 254

Zum-Glauben-Kommen  130, 132 f., 173, 194, 211, 221, 246, 260, 273