Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee 3643151292, 9783643151292


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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
I. Eine Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hohelieds
II. Theorie und Analysemethode: Resonanz, Erotik und biblische Anthropologie
III. Resonanz, Erotik und biblisch-anthropologische Lesart des Hohelieds
IV. Resonanz, Erotik und kanonische Lesart des Hohelieds
V. Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee
VI. Literaturverzeichnis
VII. Appendix
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Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee
 3643151292, 9783643151292

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Raphaela Swadosch

Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee Eine Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hohelieds

Exegese in unserer Zeit

LIT

Raphaela Swadosch

Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee

Exegese in unserer Zeit Kontextuelle Bibelinterpretationen herausgegeben von Ute E. Eisen (Gießen / Deutschland) Irmtraud Fischer (Graz / Österreich) Erhard S. Gerstenberger (Marburg / Deutschland)

Band 31

LIT

Raphaela Swadosch

Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee Eine Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hohelieds

LIT

Umschlagbild: Raphaela Swadosch, Permeable Relations, 2022

½ Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-643-15129-2 (br.) ISBN 978-3-643-35129-6 (PDF) Zugl.: Graz, Univ., Diss., 2021

©

LIT VERLAG Dr. W. Hopf

Berlin 2022

Verlagskontakt: Fresnostr. 2 D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-62 03 20 E-Mail: [email protected] https://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag, Fresnostr. 2, D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-620 32 22, E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis Vorwort

9

Danksagung

11

Abkürzungs- und Tabellenverzeichnis

13

I. Eine Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hohelieds

15

1. Annotierte Hohelied Übersetzung

19

2. Stand der Hohelied-Forschung

29

2.1. Anthropologische Hohelied-Auslegungen

35

2.2. Theologische Hohelied-Auslegungen

49

2.3. Autorenschaft und Datierung

57

II. Theorie und Analysemethode: Resonanz, Erotik und biblische Anthropologie

59

1. Der Resonanzbegriff und seine Anwendung

61

2. Erotik und ihre Bedeutung in der Hohelied-Auslegung

67

3. Die resonanten Bezugsfelder

79

4. Der konstellative Personbegriff aus der biblischen Anthropologie

83

5. Analysematrix

91

III. Resonanz, Erotik und biblisch-anthropologische Lesart des Hohelieds

93

1. Natürliche Lebensbedingungen

95

1.1. Natürliche Lebensbedingungen im diagonalen Bezugsfeld

97

1.1.1. Be- und verarbeitete Naturprodukte und Bodenschätze

101

1.1.2. Kultiviertes Land und Nutzpflanzen

111

1.1.3. Nutztiere

123

1.2. Natürliche Lebensbedingungen im vertikalen Bezugsfeld

127

6 1.2.1. Unberührte Natur

129

1.2.2. Naturphänomene

135

1.2.3. Wildlebende Tiere

137

2. Kulturelle Lebensformen

141

2.1. Alttestamentliche Körperauffassungen im Kontext altorientalischer Kultur

143

2.1.1. Kehle / Verlangen / Lebenskraft / Person (næfæš)

149

2.1.2. Auge (ʿajin)

153

2.1.3. Brüste (šad)

155

2.1.4. Kopf (rôʾš), Stimme (qôl), Lippen (śāfāh)

161

2.2. Kulturelle Lebensformen im horizontalen Bezugsfeld

167

2.2.1. Familie, Freunde, Gemeinschaft und Stadt

169

2.2.2. Ämter

177

2.3. Kulturelle Lebensformen im diagonalen Bezugsfeld – Gebäude

181

3. Soziogene Entwicklung individueller/personaler Identität und religiöses Symbolsystem als bezugsfeldübergreifende Resonanzräume 191 3.1. Die soziogene Entwicklung individueller/personaler Identität als bezugsfeldübergreifender Resonanzraum 193 3.2. Das religiöse Symbolsystem als bezugsfeldübergreifender Resonanzraum

201

4. Zwischenfazit

217

IV. Resonanz, Erotik und kanonische Lesart des Hohelieds

221

1. Kanon, Resonanz und Erotik

225

2. Der biblische Kanon als Resonanzraum

229

3. Signifikante Kriterien für die kanonische Lesart

231

4. Leidenschaft als erotische Affizierung

237

7 5. Beziehungsleiden als Repulsionserfahrung

251

6.Wiederherstellung von Beziehung als Transformationsprozess 269 7. Zwischenfazit

279

V. Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee

283

VI. Literaturverzeichnis

287

VII. Appendix

309

1. Intertextuelle Bezüge des Hohelieds nach der Einheitsübersetzung (2017) 309 2. Tabelle der intertextuellen Bezüge des Hohelieds in der Hebräischen Bibel 311

9 Vorwort Die hier in leicht überarbeiteter Form vorgelegte Dissertation von Raphaela Swadosch ist im Rahmen des seit 2017 laufenden internationalen Graduiertenkollegs „Resonante Weltbeziehungen“ der Universität Graz mit dem Max Weber-Kolleg der Universität Erfurt erarbeitet worden. Sie geht davon aus, dass eine Soziologie der Weltbeziehungen, wie sie der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem Resonanzkonzept entwickelte, antike Texte zu verstehen hilft. Theologie und Soziologie will Raphaela Swadosch, die beides studiert hat, ins Gespräch bringen und das gelingt ihr in dieser Arbeit auf hervorragende Weise. Swadosch versteht dabei das Hohelied als Radikalisierung der Beziehungsidee, einen Begriff, den sie, wie sie angibt, Rosa entnommen hat: „Verändert sich das Selbst durch die Weltbegegnung, verändert sich auch Welt durch die Begegnung mit dem Selbst in einem fortgesetzt wechselseitigen Transformationsprozess. Dies bezeichnet Rosa als die Radikalisierung der Beziehungsidee.“ (S. 15). Swadosch spricht sich gegen eine scharfe Trennung von wörtlicher und allegorischer Auslegung des biblischen Textes aus und erweitert den Begriff der Rosa´schen Resonanzachsen durch jenen der resonanten Bezugsfelder, die kontinuierlich resonante Erfahrungen ermöglichen. Diese theoretischen Aspekte aus der Soziologie bringt Swadosch mit dem von Bernd Janowski für die atl. Anthropologie entwickelten konstellativen Personenbegriff in Beziehung, bei dem es ebenso kein Außerhalb von Beziehung gibt und der eine ganzheitliche Vorstellung des Menschseins voraussetzt. Personale Identität wird dabei durch Partizipation im Sozialgefüge bestimmt. Resonanz und Erotik werden sodann mit einem anthropologischen Verständnis des Hohelieds korreliert. Hier wird der Vorteil des Einbeziehens des Resonanzkonzepts deutlich, da die vielfältige Metaphorik, der die Dissertation breiten Raum widmet, sowohl in ihrer Funktion als auch in ihrer Relevanz für die Bezugsfelder aufgeschlüsselt werden kann: Mit viel Gespür geht sie den bildgebenden Realien nach, mit denen die Geliebten einander beschreiben und vergleichen. Dabei betont sie stets die transformierende Kraft der Liebesbegegnung, die die Selbst-Welt-Beziehungen neu konstituieren und Welt und Selbst verändern. „So werden die Liebenden von der Welt und ihren Wertungen geformt und in ihrem Handeln und Ver-

10 halten konstituiert. Dies nenne ich soziogen entwickelte personale Identität.“ (S. 195). Swadosch nutzt innovativ die Unverfügbarkeit als zentralen Aspekt des Rosa‘schen Resonanzkonzepts für die Demonstration der Fluidität der Kommentierung kanonischer Texte: Wer sie auf eine einzige Bedeutung reduzieren will, nimmt ihnen das Resonanzpotenzial und die Texte verstummen oder werden sogar repulsiv. Raphaela Swadosch leistet mit ihrer Arbeit nicht nur einen wertvollen Beitrag zum Resonanzverständnis, sondern auch zur Debatte um die kanonische Schriftauslegung. Im Kontext des internationalen Graduiertenkollegs stellt diese Arbeit eine methodisch höchst reflektierte Leistung dar, die das Resonanzkonzept nicht nur als gleichsam notwendiges Gerüst benützt, sondern es in die alttestamentliche Wissenschaft und insbesondere in die Thematik der Dissertation zu integrieren versteht. Graz und Erfurt, im Sommer 2022 Irmtraud Fischer und Markus Vinzent

11 Danksagung Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die an diesem Projekt beteiligt waren: Auf Seiten der Internationalen Graduiertenschule (IGS) „Resonante Weltbeziehungen in sozio-religiösen Praktiken in Antike und Gegenwart“ bedanke ich mich bei den Sprechern der IGS Prof. Dr. Wolfgang Spickermann und Prof. Dr. Jörg Rüpke sowie deren StellvertreterInnen Prof.in Dr. Dr. h.c. Irmtraud Fischer und Prof. Dr. Hartmut Rosa. Mein Dank gilt auch dem FWF und der DFG, die mit ihrer Förderung der IGS in die Zukunft internationaler und interdisziplinärer Forschung investiert haben. Besonderer Dank gilt meinen Doktoreltern, Prof.in Dr. Dr. h.c. Irmtraud Fischer (Graz) und Prof. Dr. Markus Vinzent (Erfurt) sowie meiner Mentorin Dr. Anna-Katharina Rieger (Graz/Warschau) für die konstruktive und zielführende Betreuung auch in der Phase der Überarbeitung meiner Dissertation. Mein Dank gilt auch den Herausgeberinnen und dem Herausgeber der Reihe, die es mir ermöglicht haben, meine Dissertation einem breiteren Publikum vorzustellen: Prof.in Dr. Ute Eisen, Prof.in Dr. Dr. h.c. Irmtraud Fischer und Prof. Dr. Erhard S. Gerstenberger. Ein herzliches Dankeschön gilt auch Cheflektor Dr. Michael J. Rainer im LIT Verlag, der mich durch den Publikationsprozess begleitet hat. Auf Seiten der evangelisch-methodistischen Kirche möchte ich mich herzlich bei Bischof Harald Rückert für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation dieser Arbeit bedanken. Bei all denen, die mich im Gebet, im Gespräch und in der Korrespondenz begleitet, ermutigt, gestärkt, getröstet, aufgerichtet, beraten, inspiriert und ausgehalten haben, möchte ich mich besonders herzlich bedanken. Ohne sie, wäre diese Aufgabe nicht zu bewältigen gewesen: Susanne, Saskia, Sabine, Tina, Alexandra, Manuela, Choon-Young, Katrin, Monika sowie Jörg Barthel und Walter Klaiber. Eppingen, im August 2022

Raphaela Swadosch

13 Abkürzungsverzeichnis AO AOAT AT BB BHS BHQ Cant ELB EÜ Gesenius HALOT Hapaxleg HB Hld JHWH LU17 LXX MT NIDOTTE NT RGG SCH2000

Alter Orient Alter Orient und Altes Testament. Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte des Alten Orients und des Alten Testaments Altes Testament (auch im Genitiv) BasisBibel (2021) Biblia Hebraica Stuttgartensia (1997) Biblia Hebraica Quinta (2004) Canticum Canticorum (Lied der Lieder), lat. Bezeichnung des Hld Elberfelder Bibelübersetzung (2003) Einheitsübersetzung der Bibel (2017) Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament Hebrew and Aramaic Lexicon of the Old Testament Hapaxlegomenon, griech., Pl. Hapaxlegomena. Bezeichnung für ein Wort, das im Textkorpus der Bibel nur einmal vorkommt. Hebräische Bibel Hohelied, deutsche Bezeichnung des Šîr ha Širîm, die auf Martin Luther zurückgeht Tetragramm; Eigenname des biblischen Gottes, im Deutschen häufig übersetzt mit „HERR“ Martin Luther Bibelübersetzung (2017) Septuaginta; griech. Übersetzung der HB und apokrypher Texte Masoretischer Text New International Dictionary of Old Testament Theology & Exegesis Neues Testament Religion in Geschichte und Gegenwart Schlachter Bibelübersetzung (2000)

14 SoS TLOT ZB

Song of Songs, englische Übersetzung von Šîr ha Širîm. Theological Lexicon of the Old Testament (deutsch: THAT) Zürcher Bibelübersetzung (2019)

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Der konstellative Personbegriff im Anschluss an die resonanten Bezugsfelder im Hohelied 91 Tabelle 2: Natürliche Lebensbedingungen im diagonalen Bezugsfeld 99-100 Tabelle 3: Natürliche Lebensbedingungen im vertikalen Bezugsfeld 127-128 Tabelle 4: Körperbegriffe im Hohelied 147 Tabelle 5: Kulturelle Lebensformen im horizontalen Bezugsfeld 168 Tabelle 6: Kulturelle Lebensformen im diagonalen Bezugsfeld 181 Tabelle 7: Selbstwirksamkeitsaussagen der Liebenden im Hohelied 197 Tabelle 8: Übersicht der intertextuellen Bezüge zum Hohelied 233-234

15

I. Eine Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hohelieds Die hier formulierte Resonanztheorie ... versucht, … eine andere Form des Daseins, eine andere Existenzweise, einen anderen Modus des auf Welt und Leben Bezogenseins wenigstens wieder erahnbar ... [zu machen]. … Was der Spätmoderne fehlt, ist … nicht ein Reformprogramm oder ein institutioneller Plan zur Verbesserung ihrer Modi der Weltbearbeitung; keine Liste an Dingen, die es zu erwerben, oder von Zuständen, die es zu erreichen gilt, sondern eine spürbare, fühlbare Vision einer anderen Form der Weltbeziehung; ist ein Begriff für ihre namenlos gewordene Sehnsucht.1

Aus diesen Worten ist herauszulesen, dass die spätmodernen Beziehungen zwischen Selbst und Welt sich verändert haben und nach Rosas Auffassung durch die Mechanismen der Beschleunigung und Verfügbarmachung von Welt eine Resonanzverarmung stattfindet, die bis zum Resonanzverlust führen kann.2 Resonanz bezeichnet einen Beziehungsmodus und drückt damit eine bestimmte Art und Weise aus, wie Selbst und Welt aufeinander bezogen sind. Diese resonante Bezogenheit ist eine wechselseitige, eine dialogische, eine affizierende, die Selbst und Welt gleichermaßen berührt, bewegt und verändert. Den Ausgangspunkt dazu bildet eine radikal-relationistische Auffassung davon, wie Selbst und Welt einander von Anfang an fortgesetzt wechselseitig konstituieren, da das Selbst sich immer schon in einer Welt vorfindet, zu der es sich in Beziehung setzt. Verändert sich das Selbst durch die Weltbegegnung, verändert sich auch Welt durch die Begegnung mit dem Selbst, in einem fortgesetzt wechselseitigen Transformationsprozess. Dies bezeichnet Rosa als die Radikalisierung der Beziehungsidee.3 Diese Arbeit ist im Rahmen der Internationalen Graduiertenschule (IGS) Erfurt-Graz im Doktoratskolleg Resonante Weltbeziehungen in sozio-religiösen Praktiken in Antike und Gegenwart entstanden und wurde für die Publikation im LIT Verlag überarbeitet. Sie hat sich der interdisziplinären Herausforderung gestellt, Soziologie und Theologie methodisch in einen Dialog zu bringen. Hierfür wurde die Soziologie der Weltbeziehung bzw. 1

2 3

Rosa 2018a, 736–737. Vgl. zur Problematik der Beschleunigung v.a. Rosa 2016. Zur Definition von Verfügbarmachung von Welt vgl. Rosa 2018b, 21–22. Rosa 2018a, 62–63.

16 die Resonanz-Theorie mit Methoden der Bibelauslegung kombiniert. Die grundsätzliche Ausgangsfrage lautet: Kann eine moderne soziologische Theorie dabei helfen, einen antiken biblischen Text auf neue Weise zu verstehen? Und wenn ja, welchen Beitrag leistet ein derart aufbereiteter Text für das heutige Verständnis antiker biblischer Texte? In der Auseinandersetzung mit der Resonanztheorie und ihren möglichen Anwendungen bot sich das Hohelied (Hld) mit seinen vielfältigen Beziehungsmodi zur Untersuchung an. Immerhin geht es im Hld um die Liebe, die nach Rosa ein „komplexes und vielschichtiges Resonanzgeschehen … das nicht auf soziale Beziehungen beschränkt bleibt“4 darstellt. Doch wie kann der garstige historische Graben überwunden werden? Schließlich ist eine Lebensart von vor mehr als zweitausend Jahren in einer altorientalischen Kultur in ihren Aussagen nicht einfach übertragbar auf den modernen westlichen Kulturkreis. Gehen wir allerdings davon aus, dass Rosas These zutrifft, „dass die dominanten Resonanzverhältnisse eben nicht anthropologisch fundiert, sondern historisch kontingent und das heißt: veränderbar sind,“5 dann geben auch die Einblicke in die Organisation des sozialen Miteinanders und das Eingebundensein der Selbst-Welt-Beziehungen in verschiedenste Kontexte im Hld (Gemeinschaft, Natur, Arbeit etc.) Aufschluss über die Qualitäten damaliger Resonanzverhältnisse. Sie müssen nur methodisch erschlossen werden. Diese methodische Erschließung erfolgt über die dialogisch organisierte resonanztheoretische und biblisch-theologische Analysematrix, die in Kapitel II. vorbereitet und vorgestellt und in den Kapiteln IV.1. und IV.2. im Kontext der Kanon-Hermeneutik erneut aufgegriffen wird. Um die resonanztheoretischen Parameter und die Dimension der Erotik methodisch zu operationalisieren, werden Herleitung und Definition der Analyseinstrumente ausführlich dargelegt. Die Notwendigkeit, auch die Erotik methodisch aufzubereiten und als hermeneutischen Schlüssel zu etablieren, ist der Tatsache geschuldet, dass nicht nur das Hld selbst als hoch-erotischer Text gilt, sondern die Erotik eine zusätzliche Qualität der Resonanz darstellt, die es in diesem Kontext zu beachten und ebenfalls zu adaptieren gilt.6 Diese methodisch-theoretischen Grundlagen werden geschaffen, um ihre Anschlussfähigkeit an die biblisch-anthropologische bzw. die kanonische Les4

5 6

Ebd., 161. Ebd., 518. Ebd., 139.

17 art des Hlds zu gewährleisten, die in den Kapiteln III. bzw. IV. entfaltet wird. Der theoretisch-methodischen Grundlagenvermittlung geht ein Überblick über den Stand der Forschung zum Hld voran (Kapitel I.2.). Dieser gibt bereits erste Hinweise auf die Qualität der Resonanzverhältnisse des Hlds anhand seiner bewegten Auslegungsgeschichte. Mit dieser für Resonanzwirkungen sensibel machenden Einführung zum Hld und der methodischen Vorgehensweise in dieser Arbeit, wird der analytische Hauptteil präsentiert. In der Analyse werden im Verbund mit biblischer Anthropologie (Kapitel III.) und kanonischer Lesart (Kapitel IV.) die zwischenmenschlichen und göttlich-menschlichen (Liebes)Beziehungen in ihren resonanz-theoretischen und erotischen Dimensionen ausgelotet, wie sie das Hld darstellt bzw. wie es auf sie intertextuell verweist. In dieser soziologisch-theologisch begründeten Herangehensweise an den Text des Hlds offenbaren sich sowohl hinter, im als auch vor dem Text Transformationsprozesse von Selbst-WeltBeziehungen. Sie ermöglichen ein neues Verständnis der Texte und erschließen diese durch ihre resonanztheoretisch begründeten Erkenntnisse als Dialogangebote, die einen „anderen Modus des auf Welt und Leben Bezogenseins“7 ins Gespräch bringen, der als radikal relational bezeichnet werden kann. Hinweise auf die Radikalisierung der Beziehungsidee wird es in den kommenden Kapiteln häufiger geben. Die Ergebnisse werden in den Zwischenfazits zusammengetragen, um in Kapitel V. zu einer abschließenden Beurteilung zu gelangen. Zunächst soll aber der Gegenstand der Forschung vorgestellt werden. Es ist wichtig, das Hld wenigstens einmal komplett und im Zusammenhang gelesen zu haben, um die affizierende Atmosphäre nachzuvollziehen, von der im Weiteren häufig die Rede sein wird. Im Verlauf der Untersuchung wird es immer wieder nötig sein, zum Text zurückzukehren. Dabei können die geneigten Leser*innen womöglich an sich selbst Transformationsprozesse erleben, die in der Untersuchung ebenfalls beschrieben werden. Allerdings gibt es dafür keine Garantie, denn ein wesentliches Merkmal der Resonanz ist ihre Unverfügbarkeit.

7

Ebd., 736.

19 1. Annotierte Hohelied Übersetzung8 11Lied der Lieder nach Salomo9 2 Er soll mich küssen von Küssen seines Mundes, denn besser ist deine Liebe als Wein. 3Für den Geruch sind deine Salböle angenehm, Salböl ausgegossen ist dein Name, deshalb liebten dich junge Frauen. 4Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen; der König brachte mich (in) seine Zimmer, wir wollen jauchzen und uns freuen an dir, wir erinnern uns deiner Liebe(skunst) ohne Wein10; aufrichtig liebten sie dich. 5 Schwarz bin ich und schön, Töchter Jerusalems, wie Zelte Kedars, wie Vorhänge Salomos.11 6Ihr sollt mich nicht ansehen, die ich schwärzlich bin, 8

9

10

11

Gesamter Text des Hlds Übersetzung der Verfasserin nach dem MT der BHS. Eine ausführliche Textkritik ist den Kommentaren von Keel 1984; 1992, Exum 2005 und Peetz 2015 zu entnehmen. An einigen Stellen weicht meine Übersetzung bzw. Lesart ab und setzt bestimmte Akzente, die ich in den Fußnoten erläutere. Da diese Arbeit interdisziplinär angelegt ist und entsprechend lesbar sein soll, sind alle hebräischen Worte transliteriert. Aufgrund der gut erhaltenen Hld Texte beziehe ich mich auf die textkritischen Angaben der BHQ zu den hebräischen Textzeugen (Unterschiede in plene/defektiv Schreibung und Vokalisierung sowie Abschreibfehler außer Acht lassend). Ich gehe auf die vorgenommenen Korrekturen in Hld 1,5.7 ein, die möglicherweise beschädigten Textabschnitte in Hld 7,7.10, und die Schwierigkeit des Verständnisses aufgrund mangelnden Hintergrundwissens in Hld 6,12. Die Verszählung wurde nach der BHS eingehalten, die Sinnabschnitte sind entsprechend MT sichtbar gemacht durch Absätze. Diese Einteilung entspricht bis heute der synagogalen Liturgie und der Einteilung des biblischen Texts in Wochenabschnitte (Paraschijjot). An dieser Stelle übersetze ich nicht wie in Hld 1,2 gemeinhin üblich komparativ, sondern betone die Einschätzung aus 1,2, die die Liebeskunst des Geliebten ja eindeutig dem Wein vorzieht, was in Hld 1,4 noch einmal aufgegriffen wird, indem die Geliebten sagen, dass sie seine Liebeskunst auch ohne Wein sehr gut in Erinnerung haben. Daher können sie ihre Zuneigung als aufrichtig bezeichnen. Sie ist nicht durch Weingenuss getrübt oder nur durch diesen erfahrbar. Vgl. Gesenius 2013, 694. Der Name šᵉlōmō ist in allen alten Versionen des Hlds zu finden. Immerhin wird das Hld noch in der zeitgenössischen jüdischen Auslegung seiner Autorenschaft zugeschrieben (vgl. Kap. I.2.3.). Dennoch gibt es eine Debatte darüber, ob an dieser Stelle nicht Salma zu lesen sei, die Bezeichnung eines arabischen Nomadenstamms, was im Textvergleich gut zu den Zelten Kedars passen würde (vgl. BHQ Megilloth, Apparat zu Hld 1,5). Die Entscheidung zur Übersetzung scheint sich hier zwischen geografischen, demografischen und qualitativen Deutungen entscheiden zu müssen. Wer, um des Vergleichs Stimmigkeit willen, die Szenerie in die Wüsten- und Agrarlandschaft verlegen möchte, wird

20 es hat mich gebräunt die Sonne. Die Söhne meiner Mutter waren zornig mit mir. Sie setzten mich ein, zu hüten die Weinberge. Meinen Weinberg, der meiner ist, habe ich nicht gehütet. 7Sage mir, den mein Verlangen liebt, wo wirst du weiden, wo wirst du niederliegen am Mittag? Warum sollte ich sein wie eine Eingehüllte vor den Herden deiner Gefährten.12 8Wenn du es nicht weißt für dich, Schöne unter Frauen, geh hinaus für dich (allein), in den Fußspuren der Herde und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.

12

Salma bevorzugen. Wer mehr den qualitativen Aspekt des Vergleichs im Auge hat (es geht hier um Schönheit), kann sich, so wie ich es tue, durchaus mit dem Vergleich der Schönheit der Frau mit den Vorhängen Salomos (dessen legendärer Reichtum auch hochwertige Stoffe einschließen könnte) anfreunden. In meiner Übersetzung ist næfæš nicht wie sonst üblich mit Seele oder als Personalpronomen übersetzt, sondern mit jeweils kontextuell sinnvoll erscheinenden Varianten des Begriffs, die ich in Kapitel II.4. diskutiere und in Kapitel III.2.1.1. analysiere. Im Apparat der BHQ wird für Eingehüllte der etwas sperrige Begriff kᵉꜥōṭyâ diskutiert. „Wie eine Eingehüllte“ ist in diesem Zusammenhang schwer verständlich und wird daher in anderen alten Textzeugen aufgelöst in eine Form von „umherwandern“ (ṭꜥh) (so in: Peschitta, Symmachus, Vulgata und Targum; ebenso übersetzen Keel 1992, 57;58 und Exum 2005, 107). Eine klare Harmonisierung des Texts. Da im Hld Fragment 6QCant aus den Qumran Höhlen der erste Buchstabe des Wortes mit einiger Sicherheit als ein kaf und der zweite zwar nicht mit Sicherheit als ein ayin, aber sicherlich nicht als teth identifiziert werden kann, ist die zugrundeliegende Verbform (ꜥṭh) und die in Hld 1,7 vorfindliche feminine Partizipialform, nach Ansicht der BHQ Autoren, wahrscheinlicher. In diesem Fall ist erneut eine interessante Beobachtung in den Deutungsentscheidungen zu machen: während die einen die geografische Verortung und die Suche nach dem Geliebten in den Vordergrund stellen, werden bei den anderen die textilen Vergleiche aus Hld 1,5 aufgenommen und Vermutungen darüber angestellt, warum sich die Frau einhüllen sollte. Peetz bezieht sich in der Deutung auf Barbiero und nimmt an, die Frau befürchte, als eine Prostituierte zu gelten (in diesem Zusammenhang wird auf Gen 38,15 verwiesen, allerdings wird dort eine Form von kāsâ verwendet), wenn sie so offensichtlich um die heißeste Zeit des Tages nach ihrem Geliebten Ausschau hält (Peetz 2015, 89). Dies scheint dem Umstand geschuldet, dass die Mittagszeit die Zeit ist, zu der die rechtschaffenen Menschen im Schatten Schutz und Ruhe suchen, während andere, die einen zweifelhafteren Lebenswandel pflegen, sich gerade deswegen nach draußen trauen, um ihre Besorgungen zu machen (vgl. Joh 4,6-7.16-18). Meine Übersetzung orientiert sich ebenfalls an der Unerhörtheit der Aktion der Frau, die mit diesem Vergleich m.E. allerdings ausdrückt, dass sie nicht für andere Männer attraktiv bzw. verfügbar sein will, wie eine Frau von zweifelhaftem Ruf, sondern exklusiv für ihren Geliebten.

21 9

Als meine Stute an Streitwagen Pharaos stelle ich dich mir vor, meine Liebste. 10Schön sind deine Wangen mit Schmuckgehängen,13 dein Hals mit Perlenketten. 11Schmuckgehänge aus Gold machen wir für dich, mit Kügelchen aus Silber. 12Solange der König zu Tisch ist, verströmt meine Narde ihren Duft. 13Ein Bündel Myrrhe ist mein Geliebter für mich, zwischen meinen Brüsten nächtigt er. 14Ein Büschel Henna ist mein Geliebter für mich an Weinbergen En-Gedis. 15 Sieh, du bist schön, meine Liebste, sieh, du bist schön, deine Augen sind Tauben. 16Sieh, du bist schön, mein Geliebter, und wonnevoll, und unser Bett ist grün. 17Balken unseres Hauses sind Zedern, unsere Dachsparren sind Wacholder. 21Ich bin eine Lilie14 des Scharon, ein Lotos15 der Täler. 2 Wie Lotos zwischen den Dornen, so ist meine Liebste zwischen den Töchtern. 3Wie ein Apfelbaum zwischen Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter zwischen den Söhnen. Nach seinem Schatten sehnte ich mich und ich verweilte und seine Früchte waren süß für meinen Gaumen. 4Er brachte mich ins Haus des Weines und sein Banner über mir - Liebe. 5Versorgt mich mit Rosinenkuchen, erfrischt mich mit Äpfeln, weil ich liebeskrank bin. 6 Seine Linke unterhalb von meinem Haupt, und seine Rechte umarmt mich. 7 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei Gazellen oder Hirschkühen des Feldes, wenn ihr aufstört und wenn ihr aufweckt die Liebe, bis es ihr beliebt. 8 Stimme meines Geliebten, siehe, er kommt, springt über die Berge, hüpft über die Hügel. 9Vergleichbar ist mein Geliebter mit einer Gazelle oder mit dem Jungen der Hirsche. Siehe, er steht hinter unserer (Haus)Mauer, starrt 13

14

15

Mit der Bezeichnung Schmuckgehänge folge ich Gesenius, 1431 und bleibe im Bild des Stutenvergleichs. Da dieses Wort (ḥabaṣṣelet) nur hier und in Jes 35,1 vorkommt, ist nicht genau zu klären, um welche Blumenart es sich handelt. Vgl. Keel 1992, 79. Die LXX verwendet krinon, Lilie. Mangels Alternativen schließe ich mich dieser Übersetzung an. Die Übersetzer der LXX verwenden für das hebräische šošannā ebenfalls krinon (Lilie) und sorgen so für abgeschwächte erotische Konnotation zugunsten einer „Romantisierung“ des Textes (vgl. Schulz-Flügel 2016, 403–404). Gerhards übersetzt in Rückgriff auf LXX und Vulgata Lilie, räumt aber ein, dass im Kontext des Tempelbaus und einzelner Gerätschaften (Kapitelle, Wasserbecken) von der Form her auch Lotos gemeint sein könnte (Gerhards 2010, 337-338, Fußnote 48). Keel übersetzt Lotos statt Lilie und führt eine überzeugende kulturelle und geografische Begründung an, Keel 1992, 79-82. Musselman plädiert für die Übersetzung Narzisse, Musselman 2012, 84–86.

22 durch die Fenster, blickt durch die Gitter. 10Mein Geliebter antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Liebste, meine Schöne und lauf los! 11Denn siehe, der Winter ist vorbei, der Regen verschwand, er ist gegangen. 12Die Blüten werden gesehen im Land, die Zeit des Singens ist eingetroffen und die Stimme der Turteltaube wird gehört in unserem Land. 13Der Feigenbaum reift Frühfeigen, und die Weinstöcke Blütenknospen, sie verströmen Duft, steh auf, meine Liebste, meine Schöne und lauf los! 14 Meine Taube, in den Spalten der Felsen, im Versteck der Steilwand, lass mich sehen deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist angenehm und deine Gestalt ist schön. 15 Fangt für uns Füchse, junge Füchse zerstören Weinberge, aber unsere Weinberge blühen. 16Mein Geliebter ist mein und ich bin sein, der da weidet in Lotos. 17Solange der Tag heranweht und die Schatten fliehen, gehe umher und gleiche du, mein Geliebter der Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen.16 31Auf meinem Bett in den Nächten suchte ich den, den mein Verlangen liebt, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. 2Ich will aufstehen, jetzt, und ich will umhergehen in der Stadt, in den Straßen und auf den Plätzen, ich will den suchen, den mein Verlangen liebt, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. 3Sie fanden mich, die Wächter, die umhergehen in der Stadt: Ihn, den mein Verlangen liebt, habt ihr ihn gesehen? 4Kaum war ich an ihnen vorbeigegangen, da fand ich den, den meine Lebenskraft liebt, ich hielt ihn und ließ ihn nicht los, bis dass ich ihn brachte ins Haus meiner Mutter und ins Zimmer meiner Empfängnis. 5Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei Gazellen oder Hirschkühen des Feldes, wenn ihr aufstört und wenn ihr aufweckt die Liebe, bis es ihr beliebt.17

16

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Einige Textzeugen lesen hier eine Namensbezeichnung: Berge von Bater, Biter oder Bether (Aquila, Symmachus, Vulgata) oder übersetzen Balsam-/Gewürzberge (Theodotion, Peschitta). LXX liest Bergschlucht und versteht bætær als Nominalform von: zerteilt, zerschnitten. Meine Übersetzung greift die Spalten der Felsen, in denen sich die Geliebte versteckt, aus Hld 2,14 auf und versetzt so den Geliebten in die gleiche landschaftlich raue Dimension, die die Schönheit und das Verlangen nach dem Anblick des geliebten Gegenübers verstärkt. In diesem Abschnitt übersetze ich næfæš in verschiedenen Bedeutungen, die mir im Kontext angemessen scheinen. Damit drückt sich m.E. sehr deutlich eine umfassende geistig-seelisch-körperliche Leidenschaft der Geliebten gegenüber ihrem Geliebten aus. Ihre ganze Person ist in diese Liebesbeziehung involviert, sie ist ihm ungeteilt zugetan.

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Was ist das, heraufkommend aus der Wildnis wie Rauchsäulen, umgeben von Duft, Myrrhe und Weihrauch von allen aromatischen Pulvern der Händler? 7Siehe, sein Sofa, das Salomos, 60 Helden umgeben es, von den Helden Israels. 8Sie alle tragen ein Schwert, sind geübt im Krieg; jeder hat sein Schwert auf seiner Seite, wegen des Schreckens in den Nächten. 9 Eine Sänfte machte sich der König Salomo von Holz des Libanon. 10Ihre Säulen machte er aus Silber, ihre Bespannung aus Gold, ihren Sitz aus Purpur, ihre Mitte legte er aus mit Liebe von den Töchtern Jerusalems.18 11Geht hinaus und seht an, Töchter Zions, den König Salomo mit Krone, es krönte ihn seine Mutter am Tag seiner Hochzeit und am Tag der Freude seines Herzens. 41Sieh, du bist schön, meine Liebste, sieh, du bist schön, deine Augen sind Tauben von dort hinter deinem Schleier; dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die vom Berg Gilead herablaufen. 2Deine Zähne sind wie eine Herde Geschorener, die heraufkommen von der Schwemme, die alle Zwillinge tragen und beraubt von Nachkommen ist keines an ihnen. 3Wie eine karmesinrote Schnur sind deine Lippen, und dein Mund ist reizvoll; wie Spalten des Granatapfels sind deine Wangen von dort hinter deinem Schleier. 4Wie ein Turm Davids ist dein Hals, erbaut zum Arsenal, tausend Schilde hängen an ihm, alle Rundschilde der Helden. 5Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle, die weiden an Lotos. 6Solange der Tag heranweht und die Schatten fliehen, gehe ich hin zum Myrrhe-Berg und zum Weihrauch-Hügel. 7Alles an dir ist schön, meine Liebste, und Makel sind keine an dir. 8 Mit mir vom Libanon, Braut, mit mir vom Libanon komm; reise von der Spitze Amana, von der Spitze Senir19 und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Panther. 9Du hast mein Herz weggenommen, meine Schwester, Braut, du hast mein Herz weggenommen mit einem 18

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Exum greift den Lesevorschlag der BHS auf und übersetzt statt ʾahᵃḇâ (Liebe) ʾᵃḇânîm (Juwelen) und nimmt die Präposition min von den Töchtern Jerusalems als letzten Vokal von ʾᵃḇânîm (Exum 2005, 138-139). M.E. ein Eingriff in den Text, um ihn zu harmonisieren, da neben Gold, Purpur und Silber so auch Edelsteine vorkommen. In der BHQ findet sich dieser Lesevorschlag nicht mehr. Keel bleibt zwar bei der Liebe (bzw. Liebesszenen), rechnet die Töchter Jerusalems aber auch zum nächsten Vers hinzu (Keel 1992, 122). Senir ist der amoritische Name für den Berg Hermon; er kann auch die gesamte Antilibanon Region bezeichnen, Eerdmans Dictionary, 1184.

24 von deinen Augen, mit einem Edelstein von deiner Halskette. 10Was ist deine Liebe schön, meine Schwester, Braut, was ist deine Liebe besser als Wein, und der Duft deiner Öle als alle Balsame. 11Wabenhonig tropfen deine Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder ist wie der Duft Libanons. 12 Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle. 13Deine Schösslinge sind ein Park Granatäpfel mit auserlesener Frucht, Henna mit Narde. 14Narde und Safran, Kalmus und Zimt mit allen Hölzern, Myrrhe und Aloe, mit allen Spitzenbalsamen. 15Quelle, Gärten, Brunnen lebendigen Wassers und sie fließen vom Libanon. 16Erwache Nordwind und komm Südwind, durchwehe meinen Garten, seine Balsame sollen fließen, mein Geliebter soll kommen zu seinem Garten, und er soll seine auserlesene Frucht essen. 51Ich kam zu meinem Garten, meine Schwester, Braut, ich pflückte meine Myrrhe mit meinem Balsam, ich aß meinen Wabenhonig mit meinem Honig, ich trank meinen Wein mit meiner Milch; esst Freunde, trinkt und werdet liebestrunken. 2 Ich bin schlafend, aber mein Herz ist wachend, Stimme meines Geliebten, er klopft an: Öffne mir, meine Schwester, meine Liebste, meine Taube, meine Makellose, denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken nachtfeucht. 3 Ich habe mein Gewand ausgezogen, wie werde ich mich bekleiden? Ich habe meine Füße gewaschen, wie werde ich sie beschmutzen? 4Mein Geliebter streckte seine Hand von dem Loch aus, und meine Eingeweide lärmten wegen ihm.20 5Ich stand auf, ich, zu öffnen für meinen Geliebten, und meine Hand tropfte Myrrhe, und meine Finger überfließende Myrrhe auf die Griffe des Querriegels. 6Ich hatte geöffnet, ich, für meinen Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgedreht und war weggegangen; mein 20

Ich übersetze hier wörtlich, um darzustellen, wie dramatisch die Ereignisse in emotionalkörperlicher Hinsicht für die Geliebte sind. Dass der Geliebte seine Hand durch das Loch streckt, mag für einige Ausleger*innen ein Bild für den Sexualverkehr sein, im Bild des Liebeswerbens geht es hier ja aber gerade um die Nichterfüllung der Zusammenkunft. Es geht eher darum, dass sich die innere Erregung der Geliebten, trotz ihrer (vorgeschobenen) Bedenken dann ereignet, wenn sie ihren Geliebten bzw. einen Teil von ihm zu sehen bekommt. Sie reagiert psycho-somatisch auf ihn und wird sogleich in Bewegung versetzt. Ihre Erregung wird durch die Myrrhe-Verflüssigung dargestellt und in völliger gespannter Erwartung und in maximaler Öffnung für ihren Geliebten, ist dann die Enttäuschung über sein Verschwinden verständlich und ihre anschließende Suche umso leidenschaftlicher.

25 Verlangen war hinausgegangen mit seinem Reden, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht, ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht. 7Die Wächter fanden mich, die umhergehen in der Stadt, sie schlugen mich, sie verwundeten mich, sie nahmen weg meinen Überwurf von mir, die Wächter der Mauern. 8 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was werdet ihr sagen zu ihm? Dass ich liebeskrank bin. 9Was ist dein Geliebter unter Geliebten, Schöne unter Frauen, was ist dein Geliebter unter Geliebten, dass du uns so beschwörst? 10Mein Geliebter ist blendend und rötlich, herausragend unter Zehntausend. 11Sein Haupt ist reines Gold, seine Locken Dattelrispen, schwarz wie ein Rabe. 12Seine Augen sind wie Tauben an Wasserläufen, badend in Milch, sie sitzen in Fassungen. 13Seine Wangen sind wie Balsambeete, Türme aromatischer Kräuter, seine Lippen sind Lotos, sie tropfen überfließende Myrrhe. 14Seine Hände sind Goldrollen, besetzt mit Tarsis, sein Bauch ist eine Elfenbeinplatte saphirbedeckt. 15Seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf Goldsockeln, seine Erscheinung ist wie Libanon, auserlesen wie Zedern. 16Sein Gaumen ist Süßigkeit und alles an ihm ist begehrenswert; das ist mein Geliebter und das ist mein Freund, Töchter Jerusalems. 61Wohin ist dein Geliebter gegangen, Schöne unter Frauen, wohin hat sich dein Geliebter gewandt? Und wir werden ihn suchen mit dir. 2Mein Geliebter ist hinabgegangen zu seinem Garten zu den Balsambeeten, zu weiden in Gärten und Lotos zu pflücken. 3Ich bin meines Geliebten und mein Geliebter ist mein, der weidet an Lotos. 4 Schön bist du, meine Liebste, wie Tirza, schön wie Jerusalem, überwältigend wie Bannertragende.21 5Wende deine Augen weg von mir, sie, die mich bestürzen, dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herablaufen vom Gilead. 6Deine Zähne sind wie eine Schafherde, die heraufkommt von der Schwemme, die alle Zwillinge tragen und beraubt von Nachkommen ist keines an ihnen. 7Wie Spalten des Granatapfels sind deine Wangen von dort hinter deinem Schleier. 860 sind sie, Königinnen, und 80 Nebenfrauen und 21

Während Exum übersetzt: „You are beautiful, my friend, like Tirzah, lovely as Jerusalem, as awesome in splendor as they“ (Exum 2005, 210; 212), und somit erneut den Text m.E. harmonisiert, sind die gängigen Übersetzungen von kanniḏgālôṯ meist mit einem Militärbegriff wiedergegeben (geordnetes Heer bei Keel 1992, 197, Peetz 2015, 241). Da Banner zu tragen aber nicht nur im militärischen Kontext vorkommt, sondern auch bspw. bei den Lagerordnungen der zwölf Stämme Israels während der Wüstenwanderung (vgl. Appendix Bsp. Nr. 11.1), lasse ich die Übersetzung in verschiedene Richtungen offen.

26 junge Frauen ohne Zahl. 9Eine ist sie, meine Taube, meine Makellose, eine ist sie für ihre Mutter, rein ist sie für die, die sie gebar; die Töchter sahen sie und nannten sie gesegnet, Königinnen und Nebenfrauen aber priesen sie. 10 Wer ist sie, die herabschaut wie die Morgendämmerung, schön wie der Mond, strahlend wie die Sonne, überwältigend wie Bannertragende? 11 Zum Walnussgarten ging ich hinab, anzusehen die grünen Triebe des Tals, um zu sehen, ob der Weinstock gesprosst hat, die Granatäpfel blühen. 12 Ich hatte nicht erkannt, mein Verlangen hatte mich eingesetzt als Streitwagen meines edlen Volkes.22 71Kehr um, kehr um, Schulamit, kehr um, kehr um, lass uns dich ansehen; was werdet ihr sehen an Schulamit, als einen Tanz der Doppellager? 2Was sind deine Füße23 schön in den Sandalen, edle Tochter, die Rundungen deiner Schenkel sind wie Schmuckstücke, das Werk von Künstler-Händen. 3Dein Nabel ist eine runde Schale, nicht soll ihr mangeln der Mischwein; dein Bauch ist ein Haufen Weizen, umgrenzt mit Lotos. 4Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle. 5 Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm; deine Augen sind Teiche in Heschbon, vorm Tor Bath-Rabbim,24 deine Nase ist wie der Libanonturm hinblickend nach Damaskus. 6Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel und die Locken deines Hauptes sind wie Purpur; der König wird gebunden mit den Tressen. 7Was bist du schön und was bist du liebreizend, Liebe mit Wonnen.25 8Dieser dein Wuchs gleicht einer Palme, und deine Brüste sind wie 22

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Dieser Vers bleibt in seiner Bedeutung bis dato ein Rätsel. Es gab viele Versuche, ihn entweder zu harmonisieren oder zu erklären, aber die Übersetzungsunterschiede der Textzeugen geben kein eindeutiges Bild ab. Während LXX und Vulgata ꜥammı̂ -nāḏiḇ als Eigennamen übersetzen (vgl. Keel 1992, 208), haben Aquila, Theodotion und Peschitta mein williges Volk. Exum übersetzt: „carried off amid chariots with a prince.“ (Exum 2005, 211; 224-225). Peetz übersetzt: „Wagen meines edlen Verwandten.“ (Peetz 2015, 255) Ich übersetze: meines edlen Volkes. Wer genau das edle Volk ist, wird nicht klar. In meiner Analyse biete ich ein mögliches Verständnis an (vgl. Kapitel III.2.1.1. und IV.5.). Hier und in den folgenden Versen ist die Körperwahrnehmung laut der Körperhierarchie des AO invertiert. Im Kontext der Deutung meiner Übersetzung kann dies als stilistisches Mittel verstanden werden, da der Sinnabschnitt mit einem Kuss endet. Ein Tor in der Stadt Heschbon, welches nach Rabbah ausgerichtet ist (nord-östlich), Eerdmans Dictionary, 157. Die Kombination ʾahᵃḇâ battaꜥᵃnûg̱im wurde von den Textzeugen verschiedentlich übersetzt. LXX übersetzt nahe an MT: „Wie schön und liebreizend bist du geworden, o Liebe, in deinen Freuden.“ Ähnlich auch Symmachus und Vulgata (Geliebte, in deinen Freuden). Aquila und Peschitta berichtigen den Text, fügen ein taw ein, und machen aus der Präposition be das Wort Tochter (bat) so dass es heißt: „Tochter der Freuden.“ Keel

27 Trauben. 9Ich sagte: ich werde an der Palme hinaufklettern, ich werde ihre Fruchtstiele ergreifen, und es sollen dann deine Brüste sein wie Trauben des Weinstocks, und der Duft deiner Nase wie Äpfel. 10Und dein Gaumen ist wie der gute Wein… – der geht geradewegs in meinen Geliebten ein, gleitend, macht Lippen schlafend.26 11Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen.

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orientiert sich daran und übersetzt ebenfalls: „Wie schön bist du und wie freundlich, Liebste, Tochter aller Wonnen.“ (Keel 1992, 221) Exum führt an, dass diese Berichtigung des Textes attraktiv erscheint, allerdings argumentiert sie, dass hier durchaus die Liebe als solche in ihrer emotionalen Qualität gemeint sein kann. Der Geliebte preist die Liebe, die er mit seiner Geliebten erfährt und schwelgt in den Wonnen, die sie ihm bereitet (Exum 2005, 237). Peetz unterstützt diese Deutung (Peetz 2015, 279 „Liebe in Wollust“). So verstehe auch ich die Wortwahl und übersetze entsprechend. Die Schwierigkeit an diesem Vers ist das Vorkommen von dôdî, was die Geliebte stets zur Bezeichnung ihres Geliebten benutzt. Die vorherigen Verse werden als Rede des Geliebten verstanden, der seine Geliebte beschreibt. Dass er hier plötzlich als Angesprochener vorkommen soll, würde einen abrupten Redewechsel mitten im Satz implizieren. Exum weist darauf hin, dass es nirgends sonst im Hld einen solchen abrupten Redewechsel gibt, berichtigt den Text entsprechend und folgt den meisten Textzeugen ebenfalls darin, das Adjektiv schlafend (yᵉšēnim) als Zähne zu lesen (von šēn), so dass nur der Geliebte spricht: „And your mouth like the best wine, flowing smoothly to lovers, gliding over my lips and teeth.“ (Exum 2005, 212; 239-240) (LXX und Peschitta haben zusätzlich meine Lippen; alle Textzeugen außer Targum lesen Zähne). Peetz bezieht sich auf die Hld Übersetzung von Buber und Rosenzweig und übersetzt: „und dein Gaumen wie köstlicher Wein, der eingeht in meinen Geliebten geradewegs, der zum Reden bringt die Lippen der Schlafenden.“ (Peetz 2015, 281) Somit setzt Peetz zwar den Redewechsel voraus und übersetzt nicht Zähne, führt aber das Reden ein, indem sie das Hapaxlegomenon dôḇēḇ vom Akkadischen dababu herleitet (zum Reden bringen). Sie gesteht zwar zu, dass das aramäische dôḇ auch als Wurzel infrage kommt, beruft sich aber auf Zakovitch, dass es für die Bedeutung fließen, tropfen einer Präposition im Satz bedürfe, die hier nicht vorhanden sei. Zudem findet sie nachvollziehbar, dass die Erotik an diesem Punkt so intensiv dargestellt ist, dass sogar Schlafende erregt die Lippen bewegen (ebd., 286-287). Keel hat eine ähnliche Deutung und bezieht die Schlafenden auf das Liebespaar, das noch nach dem Liebesrausch die Lippen mit den Liebkosungen benetzt findet (Keel 1992, 221; 230-232). In meiner Übersetzung verfolge ich eine andere Deutung, die nicht ohne Hilfsverb auskommt (macht), aber nahe am Text bleibt und ohne Umstellung oder Herleitung anderer Worte, Bedeutung findet. Denn der Monolog des Geliebten über die Vorzüge seiner Angebeteten hat einen Höhepunkt erreicht. Er begann bei ihren Füßen und endet nun beim Mund, mit dem sie seine Lobrede beschließen will, indem sie sich in innigem Kuss begegnen, sie seine Lippen also zum Schlafen, zum Schweigen bringt, versiegelt mit ihrem Kuss. Ihre anschließende Analyse in Vers 11 macht deutlich,

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Lauf, mein Geliebter, wir wollen hinausgehen aufs Feld, wir wollen übernachten in den Dörfern. 13Wir wollen früh aufstehen zum Weinberg, wir wollen sehen, ob der Weinstock gesprosst hat, die Blüten geöffnet sind, die Granatäpfel blühen, dort gebe ich dir meine Liebe. 14Die Alraunen geben ihren Duft und über unseren Türen sind alle auserlesenen, neue auch alte; mein Geliebter, (sie) hatte ich für dich gesammelt. 81Wer gibt dich wie einen Bruder mir, einen Säugling der Brust meiner Mutter? Werde ich dich draußen finden, werde ich dich küssen, auch werden sie mich nicht verachten. 2Ich werde dich führen, ich werde dich bringen ins Haus meiner Mutter, sie hat mich gelehrt. Ich werde dir zu trinken geben vom Gewürzwein, vom Saft meiner Granatäpfel. 3Seine Linke unter meinem Haupt, und seine Rechte umarmt mich. 4Ich beschwöre euch Töchter Jerusalems, was stört ihr auf, was weckt ihr auf die Liebe, bis es ihr beliebt? 5 Wer ist sie, die heraufkommt aus der Wildnis, auf ihren Geliebten gelehnt? Unter dem Apfelbaum störte ich dich auf, dort lag in Wehen mit dir deine Mutter, dort lag sie in Wehen, sie hat dich geboren. 6Setz mich als ein Siegel auf dein Herz, als ein Siegel auf deinen Arm, weil stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie Scheol ist Leidenschaft, ihre Flammen sind Feuerflammen, eine Flamme Jahs.27 7Große Wasser, sie vermögen die Liebe nicht zu löschen, und Ströme überfluten sie nicht; wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses geben wird in der Liebe, äußerst verachten werden sie ihn. 8 Unsere Schwester ist jung, und Brüste hat sie keine, was werden wir tun für unsere Schwester am Tag, da er spricht mit ihr? 9Wenn sie eine Mauer ist, werden wir auf ihr eine Silberwehr bauen, und wenn sie eine Tür ist, werden wir Zederplanken auf ihr (fest)binden. 10Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme, folglich war ich in seinen Augen wie eine, die Frieden fand.

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er hat ausgeredet und nun ist sie sicher: an seinem Verlangen nach ihr besteht kein Zweifel. Kurzform von JHWH. Ob dies eine Kurzform des Gottesnamens darstellt oder eine Intensivform markiert (so Keel 1992, 245; Exum, 243; Peetz 2015, 310), wird in den verschiedenen Übersetzungen unterschiedlich gewichtet. Eindrücklich hat Bartelmus den eigenen Wechsel in der Übersetzung von der Intensivform zum Gottesnamen beschrieben und begründet (vgl. Bartelmus 2020, vii). Ich schließe mich ihm an (vgl. auch Schwienhorst-Schönberger, 2015, 157-158).

29 Einen Weinberg hatte Salomo in Baal-Hamon,28 er gab den Weinberg an Hüter, ein Mann bringt mit seiner Frucht tausend Silberstücke. 12Mein Weinberg, der meiner ist, ist vor mir, die Tausend sind für dich, Salomo, und zweihundert für die Hüter seiner Frucht. 13Die verweilt in den Gärten, Gefährten geben acht auf deine Stimme, lass sie mich hören: 14Fliehe, mein Geliebter, und gleiche du einer Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den Balsambergen. 11

2. Stand der Hohelied-Forschung Im Jahr 2016 erschien in der Reihe Biblical Tools and Studies ein Sammelband, der die grundsätzliche Problematik der Hld-Auslegung in der Titelwahl veranschaulicht: Interpreting the Song of Songs – Literal or allegorical?29 Diese Frage wird bis heute von Theologietreibenden unterschiedlich beantwortet. Die Schwierigkeit besteht darin, dass ein antiker Text, der in einer Lebenswelt entstanden ist, die nicht nur zeitlich, sondern auch kulturell von der westlich-modernen unterschieden ist, beansprucht, uns auch heute noch etwas zu sagen. Dieser Anspruch rührt daher, dass das Hld ein Teil des biblischen Kanons ist, und das sowohl in der HB der jüdischen als auch im AT der christlichen Religionsgemeinschaft. Als kanonischer Text fügt es sich ein in die Grundauffassung, dass in der Gesamtschau der biblischen Bücher und Schriften Texte versammelt sind, die etwas über Gott zu sagen haben. Oder besser: über die Beziehung zwischen Gott und Menschen. Da es im Hld aber nach Auffassung der exegetischen Mehrheit keine Erwähnung Gottes gibt, im 1.-2. Jh. n.Chr. ein rabbinischer Disput zum Hld 28

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Baal-Hamon ist keine geografische Ortsbezeichnung, sondern vermutlich eine Anspielung auf Salomos Reichtum (oder Harem), da es wörtlich übersetzt „Besitzer/Ehemann einer Vielzahl/Menge“ bedeutet, vgl. HALOT, Vol. 1, 144; Exum 2005, 260. In beiden Fällen wären sowohl der große Besitz als auch die Vielzahl an Frauen aus Sicht des Geliebten nicht der Geliebten vorzuziehen, sie ist für ihn unendlich kostbarer. Schellenberg und Schwienhorst-Schönberger 2016. Als allegorisch wird die Auslegung der Liebesgeschichte zwischen weiblichen und männlichen Figuren im Hld bezeichnet, wenn sie als Liebesgeschichte im jüdischen Kontext zwischen Israel und Gott verstanden wird bzw. zwischen Gott/Jesus Christus und der Kirche/einzelnen Seele oder mariologisch im christlichen Kontext. In der allegorischen Auslegung wird der Geliebte im Hld mit Gott bzw. Jesus identifiziert und die Geliebte mit Israel bzw. mit der Kirche/einzelnen Seele/Maria.

30 überliefert ist, und der kirchengeschichtliche Umgang mit Erotik und Sexualität sich verändert hat (s. Kapitel I.2.1.), ist eine Divergenz in der HldAuslegung, und in der Frage nach seiner Bedeutung als Teil des Kanons, offensichtlich.30 Der 2019 erschienene Sammelband The Song of Songs Afresh31 trug dieser Unterschiedlichkeit Rechnung und stellte nicht die wörtliche der allegorischen Hld-Auslegung gegenüber, sondern versammelte unterschiedliche methodische und hermeneutische Zugänge zum Hld. In der letzten Kategorie findet sich ein Artikel von Oosthuizen, die auf die Schwierigkeiten der Hld-Auslegung hinweist und eine Erklärung bietet, warum die Debatte darum emotional gefärbt ist.32 Die Autorin beleuchtet die Interpretationslandschaft des Hld und bemerkt, dass Interpretationen häufig mehr mit den persönlichen Überzeugungen und Vorbildungen der jeweiligen Exegetinnen und Exegeten zu tun haben als es zuweilen den Anschein vermittelt. Welche hermeneutischen Wege eingeschlagen und welche Methoden genutzt werden, um Texte auszulegen, sollte daher einer vorherigen kritischen Selbstprüfung unterzogen werden.33 Dabei gehe es v.a. darum, die eigene Methodenwahl in der Auslegung, die eigene Agenda zu klären, um nicht eine subjektive Auslegung zum Standard zu erheben.34 Außerdem gehe es auch darum, trotz aller per30

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Bereits 1964 sagte Loretz der Vielfalt in der Hld-Auslegung blühende Zeiten voraus, vgl. Loretz 1964, 216. Fischer und Fernandes 2019. Ich möchte an die Kontroverse zwischen Keel und Schwienhorst-Schönberger erinnern (exemplarisch nachzulesen in: Schwienhorst-Schönberger und Keel 2003), die anschaulich vermittelt, dass die emotional aufgeladene Debatte nicht im Hld oder seiner Auslegung allein begründet liegt, sondern in den dahinterliegenden Prägungen und Überzeugungen der Theologen. Oosthuizen 2019, 271f. vgl. dazu auch Jost: „In vielen Interpretationen biblischer Texte wird der Erfahrungshintergrund der Exegetinnen und Exegeten nicht benannt. Das führt zu der Annahme, hier seien allgemein menschliche Erfahrungen zugrunde gelegt, die unabhängig vom historischen und soziokulturellen Kontext bestünden. Doch dies trifft keineswegs zu.“ Jost 1995, 20. Schwienhorst-Schönberger verweist auf die Abhängigkeit der Deutung vom „Rezeptionskontext“ und auf die Notwendigkeit einer „kontextuellen Bibelauslegung.“ Schwienhorst-Schönberger 2003, 85–86. Oosthuizen 2019, 268f. Vinzent weist im Kontext seines Retrospektion-Ansatzes darauf hin, dass die Selbstreflexion von Autor*innen im Kontext der Darstellung (religions)geschichtlicher Zusammenhänge unabdingbar wichtig ist. Er schließt sich Piozzi darin an, dass Geschichtsdarstellung fragmentarisch und Subjektivität letztlich nicht zu vermeiden sei, sie aber gleichzeitig ein Phänomen soziogener Entwicklung des Ichs sei, das

31 sönlichen Prägung und eigener Normen und Wertvorstellungen, eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den biblischen Texten zu bewahren und damit zu rechnen, dass Gott auch da zu erkennen sei, wo er die gewohnten Allgemeinplätze verlasse.35 In einer interdisziplinär angelegten Arbeit sind diese grundsätzlichen Selbstprüfungsfragen umso mehr zu begrüßen, da sie dafür sorgen, den eigenen Standpunkt zwischen den Disziplinen (hier: Soziologie und Theologie) stets neu auszubalancieren. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, wie der Forschungsstand zum Hld aufbereitet wird. Da das Hld als Lieddichtung von Metaphern, Vergleichen und semantischer Vielfalt durchdrungen ist, stellt sich weniger die Frage, ob es wörtlich oder allegorisch auszulegen ist, sondern welche Schwerpunkte in der Auslegungsgeschichte die Kommentatorinnen und Kommentatoren setzten.36 Eine Zusammenfassung ihrer (subjektiven) von unterschiedlicher Resonanz zeugenden Auslegungen soll daher vorgestellt werden. Dabei unterscheide ich zwischen anthropologischer und theologischer Hld-Auslegung in der Darstellung der Auslegungsgeschichte.37 Dies trägt einem Umstand Rechnung, der wie folgt zu beschreiben ist: Aus meiner Sicht und mit dem Überblick über die Auslegungsgeschichte des Hlds halte ich diese Unterscheidung einerseits für hilfreich, weil sie verdeutlicht, dass weder die Betonung der zwischenmenschlichen Liebesbeziehung noch die Betonung der Liebesbeziehung Gottes zu den Menschen als Thema oder Auslegungsdimension abgewertet oder verworfen werden muss. Beide Auslegungsformen (und alles dazwischen) kann nebeneinander stehenbleiben und ermöglicht eine Bandbreite an Interpretation, die die Dynamik des Textes verdeutlicht und fördert und so dazu verhilft, den Diskurs lebendig zu halten. Darüber hinaus trägt sie auch der Auslegungsgeschichte des Hlds wertschätzend Rechnung, denn sie anerkennt, dass im Lauf der Zeit dominierende Auslegungen von anderen Ansätzen ergänzt oder abgelöst wurden, was den Eindruck verstärkt, dass das Hld in-

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sich durch andere und mit ihnen formt und verschiedene Selbst-Welt-Beziehungen hervorbringt (Vinzent 2019, 12; 17; 49). Oosthuizen 2019, 269-270. Bartelmus behauptet, das Hld bleibe allegorisch, da es aufgrund seiner Polyvalenz nicht wörtlich ausgelegt werden könne, sondern auf semantischer Ebene mehrdeutig ist. Bartelmus 2020, 14f; 17-18. Hierbei adaptiere ich die von Ausloos vorgeschlagene Gruppierung der Hld-Forschung, greife aber nicht auf die Vokabel „allegorisch“ zurück. Ausloos 2019, 5.

32 haltlich etwas transportiert, das über alle Zeiten und Kulturräume und Auslegungsmethoden hinweg nicht an Interesse eingebüßt, aber eben auch abhängig von diesen Parametern in seiner Deutung Wandel erfahren hat.38 Daher verwende ich weder den Begriff der Allegorie noch der Neo-Allegorie39 in der Gruppierung der Auslegungsgeschichte des Hlds, was darin begründet liegt, dass der Terminus allegorisch zum einen sehr deutungsaufgeladen und ambivalent konnotiert ist,40 und zum anderen dazu verleitet anzunehmen, es werde das Eine gesagt, aber etwas Anderes gemeint. Wie sich im Verlauf dieser Arbeit herausstellen wird, ist jedoch im Hld nicht das Eine gesagt und etwas Anderes gemeint, sondern im Gesagten ist das Eine wie das Andere enthalten. Das ist u.a. daran erkennbar, dass auch in (fast) jeder schwerpunktmäßig anthropologisch orientierten Auslegung des Hlds der Bezug zu Gott oder zum Göttlichen/Spirituellen nicht völlig außer Acht gelassen wird, und ist also nicht so zu verstehen, als gäbe es in dieser Kategorie keine theologischen Aussagen.41 Gleichwohl ist umgekehrt für die schwerpunktmäßig theologisch orientierte Lesart kein Ausschluss anthropologischer Bezüge anzunehmen. Die Integration von Erotik, Sexualität, zwischenmenschlicher Liebe, Körperlichkeit und Materialität bleibt auch hier erkennbar. Insofern gruppiere ich beim Stand der Forschung zum Hld die Auslegungen in anthropologische und theologische Hld-Auslegung, betone aber gleichzeitig ihre inhaltliche Überschneidung oder besser Durchlässigkeit füreinander. Die anthropologische Auslegung ordne ich den Interpretationen zu, die schwerpunktmäßig anthropologische Aussagen zum Hld treffen. Diese Auslegungen befassen sich schwerpunktmäßig mit der zwischenmenschli38

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Eine große Bandbreite an Hld-Auslegungen verschiedener Kulturräume und Methoden präsentiert anschaulich Fischer und Fernandes 2019. Als neo-allegorisch wird bspw. der Ansatz von Schwienhorst-Schönberger bezeichnet, der die (patristische und mystische) Tradition der allegorischen Hld-Auslegung in seiner Lesart aktualisiert und für heute fruchtbar machen will. In der Fachliteratur wird mit der allegorischen Lesart häufig die Anfrage an die Methodik verbunden. Der allegorischen Lesart wird nicht Exegese, sondern Eisegese unterstellt, dass also subjektive theologische Meinungen oder Überzeugungen in den Text hineingelesen werden. Vgl. dazu beispielhaft aus der Perspektive allegorischer (bzw. symbolischer) Auslegung: Heereman 2016, 181. Vgl. dazu aus hermeneutischer Perspektive: Scheffler 2019, 294–295. Davon ausgenommen sind selbstredend die nicht-theologischen Studien, deren Erkenntnisinteresse nicht theologisch, sondern sprachwissenschaftlich, religionswissenschaftlich oder soziologisch u.v.m. ist.

33 chen Sexualität oder anderen Themen zwischenmenschlicher Liebesbeziehungen. Kurzum: die antiken Menschen und ihre Umwelt stehen im Mittelpunkt der Auslegung. Die Bezeichnung theologische Auslegung soll für jene Auslegungen verwendet werden, die das Hld im Kontext des gesamten AT auslegen und so seine Kanonizität betonen. In ihnen rückt die Frage nach der Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch im Text in den Mittelpunkt. Theologische Auslegung soll bedeuten, dass der Aspekt der göttlich-menschlichen Beziehung oder Gottes Liebe schwerpunktmäßig in den Fokus rückt. Und es bedeutet auch, dass die Interpretationsgemeinschaft in den Blick kommt und mit ihr die Frage nach Traditionen in der Auslegungsgeschichte und heutiger Glaubenspraxis. Mit dieser Einteilung der Hld-Auslegungen und dem kritischen Blick auf die Auslegungsgeschichte, die wie beschrieben kontextabhängige und prägungsbedingte Präferenzen der Ausleger*innen durchscheinen lässt,42 möchte ich den Überblick zum Stand der Hld-Forschung beginnen. Diese Einteilung trägt der Entwicklung in der Hld-Forschung Rechnung, in der zunehmende Toleranz hinsichtlich der Vielfalt der Auslegungen herrscht, und sie versucht, diese in ihrem hermeneutischen Zugang zu unterscheiden. Gleichzeitig ist diese Einteilung eine Vorschau auf den Analyseteil, der sich ebenfalls in biblisch-anthropologische und kanonische Lesarten des Hlds entfaltet, wenn auch unter resonanztheoretischer Betrachtung.

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Vgl. dazu auch Fischer 2014, 11–12.

35 2.1. Anthropologische Hohelied-Auslegungen Schon immer wurde die erotisch-sexuelle Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau im Hld wahrgenommen, aber unterschiedlich interpretiert.43 Es treffen nicht nur verschiedene Kulturen, Epochen und Methoden der BibelAuslegung aufeinander, sondern auch unterschiedliche Glaubenssysteme. Welche Texte in den Kanon der HB bzw. des AT aufgenommen und wie sie verstanden wurden, ist daher nie losgelöst vom Kontext der Tradition und Überzeugungen der jeweiligen Glaubens- oder Religionsgemeinschaft zu sehen. Dieses Erbe zu respektieren und gleichzeitig die Bandbreite an Auslegungsmöglichkeiten zu öffnen, um den Veränderungen in Kultur und Zeit gerecht zu werden, bleibt eine große Herausforderung insbesondere für die biblische Theologie.44 Bevor die Zusammenschau schwerpunktmäßig anthropologischer HldAuslegung dargelegt wird, gilt es, die Debatte zur Auslegung des Hlds kurz zu umreißen, um die grundsätzliche Problematik zu verdeutlichen. Hier geht es um den Widerstreit der sogenannten allegorischen gegenüber der wörtlichen Auslegung des Hlds. Mit der allegorischen Lesart wird der Umstand benannt, dass sowohl die jüdische als auch die (früh)christliche HldAuslegung in der Beschreibung des Liebespaares, ihrer gegenseitigen Zuneigung und Sehnsucht, die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel repräsentiert sah45 bzw. die Beziehung zwischen Gott/Jesus Christus und seiner Kirche (der einzelnen Seele/Maria).46 In dieser Art der Ausle43

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Namentlich Bischof Theodor Mopsuestia (ca. 352-428 n.Chr.) war einer der prominentesten frühesten Vertreter der Auffassung, das Hld sei ein weltliches Liebesgedicht, wofür er allerdings von Vertretern kirchlicher Dogmatik angefeindet wurde, vgl. Gerhards 2010, 155; 445; Murphy hält diese Tatsache für einen Streit um die allgemeine Deutungsmacht zwischen der damaligen antiochenischen (Theodor) und der alexandrinischen (Origenes) theologischen Schule und Exegese: Murphy 1990, 22. Letztere hat sich v.a. in der Westkirche durchgesetzt. Vgl. hierzu die Definition des „canonical approach“ bei Childs 1994, 93-94. Vgl. Fox 1985, 237; Cohen 1991, 5; Neusner 1989a, ix, 1989b; Gerhards 2010, 17; Zakovitch 2004, 91; 94-95; Feldman et al. 2013, 1618; Assmann 2015, 242–244; Fishbane 2015, 256-266; Damohorská 2019, 256. Einen ausgezeichneten Überblick zur Hld-Auslegung des westlichen Frühchristentums bis ins 12.Jh. bietet nach wie vor: Ohly 1958. Die Ostkirche (christlich-orthodox) interpretiert das Hld ähnlich wie die jüdisch-rabbinische Auslegung bis heute mystisch-allegorisch, vgl. dazu exemplarisch: Giannaras 2005.

36 gung, wurde die Figur des männlichen Geliebten mit Gott und die Figur der weiblichen Geliebten mit Israel identifiziert (entsprechend im christlichen Kontext: Geliebter=Gott/Jesus Christus; Geliebte=Kirche/Seele/Maria). Diese Auslegung des Hlds stellte die dominierende Lesart seit den ersten Jahrhunderten bis ins 17. Jh. n.Chr. dar, also rund 1500 Jahre lang. Als sich dann ab dem 18. Jh. mit neuen Forschungserkenntnissen und den Schriften der Aufklärung die Autorität kirchlicher Bibelauslegung und Weltdeutung reduzierte, setzte sich, im deutschsprachigen Raum, die Einschätzung Herders durch, die im Hld eine Liebesliedersammlung sah, die sich ganz auf die unschuldig anmutende Liebe zwischen Mann und Frau beziehe.47 Dies, und die verschriftlichten Beobachtungen des Orientalisten und Diplomaten Wetzstein zu einer syrischen Hochzeitszeremonie,48 fast ein Jahrhundert später, werden i.A. als Wegbereiter für die historisch-kritische Bibelexegese des Hlds im 20. Jh. genannt. Diese Entwicklung führte

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Herder schreibt 1778 im Kapitel „Über den Inhalt, die Art und den Zweck dieses Buchs in der Bibel“ (Herder 2000, 71ff.) gleichwohl, dass es eine Sammlung sei und im einfachen Wortsinn verstanden werden soll, allerdings wird in den meisten Kommentaren nicht erwähnt, dass dieser Wortsinn für ihn an Vorbedingungen geknüpft ist, denn Herder hat keinen Zweifel an der Autorenschaft des Hlds (eindeutig von Salomo) (ebd., 77; 83; 96, 97-98) und dass den LeserInnen Auskunft gegeben werde über die Art und Weise wie er dichtete (ebd., 97-98), und dies „war klarer Sinn in Anschauung der Dinge des Lebens, feiner Scharfsinn, ausgebreitete Naturweisheit.“ (ebd., 110). Desgleichen ist für Herder die intertextuelle Lesart in der Deutung und dem Verständnis des Hlds nicht wegzulassen (ebd. 103ff.) und er kritisiert jene, die das Hld aus dem biblischen Kanon ausschließen (ebd., 79-80). Er weist auf Parallelen hin zu anderen Paaren der Bibel, die dem Hld nicht gleichkämen (ebd., 84), den Propheten (ebd., 115) und den anderen Weisheitsbüchern (ebd., 105). Die rabbinische Auslegung (bspw. Zohar) hält er nicht für abwegig, sondern für „Anwendung“ (ebd., 111-112) und hält letztlich jede Deutung über den Wortsinn hinaus nur dann für hilfreich, wenn sie in Übereinstimmung mit der Schrift und dem Glauben stehe (ebd., 117). So ist es für ihn aus diesen Gründen auch nicht fragwürdig, dass das Hld Teil des biblischen Kanons ist und seiner Leserschaft „Liebe, nichts als Liebe“ (ebd., 73) nahebringen will, „jedermann aber siehet, daß diese unendlichen, so augenblicklichen, so unbestimmbaren Anwendungen den Ersten Wortverstand nicht aufheben, sondern voraussetzen, bestätigen und gleichsam bewähren. Gerade wer zuerst dies Eine im Hohenliede ganz und treu fand; kann nachher in der Anwendung alles daher brauchen.“ (ebd., 115). Somit vertritt Herder in der Debatte um die Auslegungsarten des Hlds eine sowohl-als-auch-Haltung. Veröffentlicht in der „Syrischen Dreschtafel“ 1873, vgl. Encyclopedia Britannica.

37 zu weitgehender Ablehnung der allegorischen Auslegung als vorherrschender Lesart des Hlds in der christlich-westlichen Theologie.49 Gründe für die Ablösung der allegorischen Auslegung sahen viele Theolog*innen in der Tatsache gegeben, dass es seit früher rabbinischer Zeit einen Disput darüber gegeben habe, ob das Hld berechtigterweise Teil des Kanons sei.50 Die Erörterung dieses Disputs geht laut Fachliteratur ins 1.-2. Jh. n.Chr. zurück. Hierzu wird regelmäßig ein Zitat von Rabbi Akiba (ca. 50/55-135) aus der Mischna Jadajim 3,5 angeführt, dessen Lobpreis des Hohelieds dafür zu sorgen schien, dass es lediglich unter dem Vorzeichen seiner allegorischen Deutung Eingang in den Kanon der HB fand: Rabbi Akiba sagte: Das sei fern! Niemand in Israel bestritt, dass das Hohelied nicht die Hände verunreinigt. Denn die ganze Welt ist dem Tag nicht ebenbürtig, an dem das Hohelied Israel gegeben wurde; denn alle Schriften sind heilig, aber das Hohelied ist das Allerheiligste. Wenn sie einen Streit hatten, dann hatten sie einen Streit nur wegen Kohelet.51

Der hier erwähnte Disput wird flankiert von einem anderen Zitat, in dem davon die Rede ist, es sei zu unterlassen, das Hld in Gasthäusern zu singen 49

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Ohly bemerkt dazu: „Wenn irgend einem Buch des Alten Testaments so drohte der Einbruch des geschichtlichen Denkens in die Theologie des vergangenen Jahrhunderts der religiösen Wirkung des Hohenlieds zum Verhängnis zu werden, indem es in dem gleichen Maße, als es ihn zur geschichtlichen Urkunde werden ließ, diesen Text seines Offenbarungscharakters beraubte. Nachdem einmal HERDER im Hohenlied eines der merkwürdigsten Denkmäler altorientalischer Poesie, ja das Urlied der Liebe entdeckt hatte, ist dieses lyrischste Buch der Bibel manch anderem Theologen in seiner Geltung als Wort Gottes erneut fragwürdig, wenn freilich zugleich um seiner literarischen Einzigartigkeit als biblischer Dichtkunst willen auch wieder bedeutsam geworden. Das Christentum der Zeit nach GOETHE hat keine große religiöse Begegnung mit dem Hohenlied mehr erlebt und sein Verhältnis zu ihm in steigendem Maße als philologischhistorisches wenn nicht ästhetisches Problem oder als eine Frage unveräußerlicher Tradition betrachtet, der jedoch keine lebendigen Impulse mehr verdankt wurden.“ Ohly 1958, 5. Vgl. Keel 1992, 15-16; Alexander und McNamara 2003, 34–35 Zur kritischen Auseinandersetzung mit den rabbinischen Zitaten vgl. Gerhards 2010, 477–487. Übersetzung der Verfasserin a. d. Engl., in: Mischna Jadajim 3,5. Mit Mischna („Wiederholung“) wird die Niederschrift der mündlichen Tora bezeichnet, „eine Sammlung von rabbinischen Ausführungsbestimmungen“ zur HB, die im 3. Jh. n.Chr. redigiert wurde (Liss 2011, 397).

38 und es dadurch zu einem (normalen) Lied zu machen.52 Dass diese Aussagen darauf hinweisen, dass allein die allegorische Auslegung des Hlds seine Kanonizität begründete, hat vor allem Gerhards stark in Frage gestellt. 53 Die Zitate zum Singen des Hlds im Wirtshaus könnten vielerlei bedeuten: es könnte um die Missachtung von Kantillations-Vorgaben gehen oder um die Missachtung des kanonischen Status‘ des Hlds oder um ein verfehltes Verständnis seiner Bedeutung.54 Die Klärung dieser Fragen ist schwierig und geht, genau wie der Disput über die Verunreinigung der Hände, zuweilen einher mit der Spekulation über das mutmaßliche Datum der abschließenden Kanonbildung der HB. Im Rückgriff auf das Buch Jesus Sirach wird davon ausgegangen, dass die Kanonisierung der biblischen Bücher im Zeitraum zwischen 180 v.Chr. bis ins 1. Jh. n.Chr. vor sich ging, da dort schon eine Aufteilung der biblischen Bücher erwähnt wird („Gesetz, Propheten und andere Bücher“55). Später, beim Geschichtsschreiber Flavius Josephus, ist vom „Gedanken eines abgeschlossenen und unveränderlichen Bücherkorpus (= jüdischer Kanon, ohne dass der Begriff vorkäme)“56 die Rede (Ende des 1. Jh. n.Chr.). 52

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Babylon. Talmud Sanhedrin 101a, 2.(ca. 450-550 n.Chr.): „Die Weisen lehrten: Jemand, der einen Vers aus dem Hohelied liest und ihn als eine Art weltliches Lied wiedergibt und nicht als heiligen Text, und jemand der irgendeinen biblischen Vers in einem Gasthaus liest, nicht zu seiner angemessenen Zeit, sondern als bloßes Lied, bringt Böses in die Welt, während die Tora sich mit Sacktuch umgürtet und vor dem Heiligen steht, gesegnet sei Er, und zu ihm sagt: Herrscher des Weltalls, deine Kinder geben mich wieder wie eine Harfe, die von Faxenmachern gespielt wird.” Übersetzung der Verfasserin a.d. Engl. Ein weiteres Rabbi Akiba zugeordnetes Zitat aus der Tosefta Sanhedrin 12,10 (ca. 190230 n.Chr.) besagt: „Wer auch immer das Hohelied in Bankettsälen trällert, und es auf diese Weise als Lied behandelt, hat keinen Anteil an der kommenden Welt.” Übersetzung der Verfasserin a.d. Engl., nach: Gault 2019, 1. Gerhards 2010, 477–487, 2016. Vgl. Fishbane 2015, xxii. Gertz et al. 2019, 31. Der Enkel (Ben Sirach) übersetzte die Weisheit seines Großvaters, Jesus Sirach, ins Griechische (vermutlich nach 116 v.Chr.). Dort heißt es im Prolog: „Zahlreiche und bedeutende Einsichten sind uns durch das Gesetz und die Propheten und die anderen, auf sie folgenden Bücher gegeben, um derentwillen man die Erziehung und Weisheit Israels loben muß.“ Kaiser 2005, 7. Gertz et al. 2019, 31. In diesem Kontext ist freilich anzumerken, dass Flavius Josephus mit seinem Geschichtswerk das Ziel verfolgte, die Texte jüdischer Überlieferung als vertrauenswürdige historische Quellen gegenüber den griechischen zu verteidigen. Die Frage, ob in dieser Nennung auf einen festgelegten Textcorpus innerhalb der jüdischen

39 In diesem Zusammenhang würde sich der rabbinische Disput nicht auf die Frage der Kanonizität des Hlds beziehen, sondern auf eine andere Uneinigkeit, womöglich im Kontext der Verschriftlichungsform oder des liturgischen Umgangs mit dem Text.57 Wird der Abschluss der Kanonisierung

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Glaubensgemeinschaft rückzuschließen ist, bleibt m.E. spekulativ: „es gibt unter uns nicht tausende von Büchern, die untereinander in Uneinigkeit und Konflikt stehen, sondern nur zweiundzwanzig Bücher, die die Aufzeichnung aller Zeiten beinhalten, die zurecht als vertrauenswürdig gelten. Fünf von ihnen sind die Bücher Mose, die beides beinhalten, das Gesetz und die Überlieferung vom Ursprung der Menschheit bis zu seinem [Moses; Anm. d. Verf.in] Tod; das ist ein Zeitraum von etwas weniger als 3,000 Jahren. Von Moses Tod bis Artaxerxes, König von Persien nach Xerxes, schrieben die Propheten nach Mose den Verlauf der Geschichte ihrer eigenen Zeit auf in dreizehn Büchern. Die übrigen vier Bücher enthalten Hymnen für Gott und lebenspraktische Anweisungen für die Menschen.” Übersetzung der Verfasserin a.d. Engl., in: Mason 2007, 29–30. Unter den am Ende genannten vier Büchern der Hymnen Gottes, könnte sich das Hld befunden haben (so mutmaßt Barclay in Fußnote 166). Giszczak bspw. versucht darzulegen, dass es in Mischna Jad. 3,5 nicht um die Frage nach der Kanonizität des Hlds geht, sondern um die spezielle Behandlung der Schriftrollen an sich und verweist auf Mischna Jad. 4,5: Liss u.a. scheinen Giszczaks Argument zu unterstützen. So mussten Schriften, die die Hände verunreinigen, „in Hebräisch oder Aramäisch, und zwar in der sog. ‚assyrischen‘ Schrift (d.h. in Quadratschrift) auf einer Lederrolle mit einer bestimmten Tinte geschrieben sein.“ (Liss und Böckler 2011, 5; Giszczak 2016, 218). Liss u.a. führen weiterhin aus, dass sich die Verunreinigung der Hände nicht auf die Kanonfrage bezog, sondern eine jüdisch-gesetzliche Maßnahme war, die einen verlorengegangenen Sinn ursprünglicher ritueller Reinheitsvorstellungen erneuern wollte und ihn so erklärte, dass er wieder nachvollziehbar wurde. So wurden die betreffenden Schriften tief verehrt und als kostbar bezeichnet, damit ihnen im liturgischen Gebrauch „größtmögliche Sorgfalt zukommen“ konnte und der Einklang mit anderen Reinheitsvorschriften gewahrt war (Liss und Böckler 2011, 6). Allerdings verhandelt der moderne Kommentar zu den Megilloth (5 Festrollen aus denen zu verschiedenen Festzeiten in der Synagoge vorgelesen wird; das Hld ist dem Pessach-Fest zugeordnet) im Talmud die Frage aus der Mischna Jad. 3,5, ob das Buch Ester die Hände verunreinigt und gibt eine allgemeine Erklärung dafür ab, was das bedeutet: „Only Holy Scriptures causes the hands to be defiled. This is a concept we learned about in Tractate Yadajim, especially towards the end of chapter three and chapter four. Saying that a certain book does not defile the hands implies that it is not part of the Bible.” Daf Shevui to Megillah 7a,6. Fishbane führt ebenfalls das Argument an, dass die Debatte sich um die unterschiedliche Behandlung oder Gewichtung der Schriften drehte, ob ihnen die gleiche oder unterschiedliche Heiligkeit zukomme, aufgrund ihrer mangelnden oder nur vagen Indizien für göttliche Inspiration. Für Fishbane ist Rabbi Akibas Aussage Beweis dafür, dass das Hld zu diesem Zeitpunkt bereits Teil des Kanons war: Fishbane 2015, xxii.

40 jedoch später datiert, kann genau entgegengesetzt argumentiert werden.58 Es scheint, dass die Formulierungen in Mischna und Talmud ein je nach eingenommener Perspektive der Wissenschaftler*innen unterschiedliches Ergebnis erbringen. Die Antwort auf die Frage danach, ob das Hld aufgrund seiner allegorischen Lesart oder schon vorher Teil des Kanons der HB war, scheint außerhalb der jüdischen Hld-Auslegung nicht eindeutig zu klären. Für sie gilt indes unbestritten, dass allein aufgrund von Sprache, Metaphorik und innerbiblischen Bezügen, eine Deutung über die anthropologische Dimension hinaus von Anfang an womöglich intendiert, aber sicher so verstanden und entsprechend ausgelegt wurde.59 Mit diesen Hintergrundinformationen beginnt die Darstellung der schwerpunktmäßig anthropologischen Auslegung des Hlds Ende des 19., Anfang des 20. Jh. Zu dieser Zeit hatte die allegorische Auslegung des Hlds bereits ihren Zenit überschritten. Archäologische Funde und religionswissenschaftliche Studien zum AO begünstigten um die Jahrhundertwende neue Hypothesen zur Bedeutung und Auslegung des Hlds, allen voran die kult-mythologische Hypothese. Sie bezog sich einerseits noch eng auf den religiösen Kontext des biblischen Textes, argumentierte aber auch sehr einseitig mit der Verarbeitung außerisraelitischen Kulturguts im Hld, das sich zumeist auf Elemente eines mesopotamischen Fruchtbarkeitskultes bezog.60 Aufgrund dieser Schwerpunktsetzung wurde dieser Ansatz in den Jahrzehnten danach jedoch meist abgelehnt mit dem Argument, dass heidnische Kulte sicher nicht in hebräischen Bibeltexten verarbeitet worden wären.61 Im Zuge der vorwiegend religionswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Körperbildern und den Forschungen zu interkulturellen Bezügen zwischen den Texten der Bibel und ihrer Umwelt, gab es jedoch seit den 1980er Jahren vermehrt Beiträge, die den Ansatz der kult-mythologischen Überlegungen wieder aufgriffen und weiter beforschten. So wurde neben der Nähe zur Liebesliedwelt Ägyptens62 eine motivische und thematische 58

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So bspw. Alexander und McNamara 2003, 34f. Sie setzen den Abschluss der Kanonisierung nicht vor 160 n.Chr. an und halten die Allegorisierung der Hld-Deutung für das entscheidende Kriterium seiner Aufnahme in den Kanon. So auch schon: Keel 1992, 16. Vgl. exemplarisch: Cohen 1991, 7–15; Heereman 2016, 185-189; 198-199. Vgl. Meek 1922, 1924. Rudolph 1962, 92; Gerlemann 1965, 48; 51-52; Cohen 1991, 5; Zakovitch 2004, 36–37. Fox 1985, 2016; Modras 2000.

41 Nähe des Hlds zu Liebesdichtungen sumerischer, babylonischer u.a. Provenienz beschrieben.63 Im Zuge dieser Forschung kamen auch die Vorstellungen altorientalischer Körperbilder und die Rollenverteilung der Geschlechter in Liebesdingen in den Blick. Diese Beobachtungen gingen einher mit der kritischen Reflektion der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen im Blick auf die antiken Texte und ihre Übertragung auf moderne Kontexte im Rezeptionsprozess. Diese Arbeiten sensibilisierten die Forschungsgemeinschaft für die Gefahr anachronistischer, gegenderter Interpretationen.64 Indes die Vorstellung, dass Israel u.a. aufgrund seiner politisch-gesellschaftlichen Lage, der Exilerfahrung und der Sicherung eigener identitätsstiftender Schriften auch Motive oder Bildwelten anderer Kulturen in einer „re-lecture“65 verarbeitet hat, ist leicht vorstellbar. Die Nähe zur Liebeslyrik anderer Kulturen bringt allerdings auch eine gewisse Auffassung über deren Zusammenhänge mit sozio-religiösen Praktiken ins Spiel. So wurde bspw. die Nähe zu einem hieros gamos Ritus (Heilige Hochzeit) untersucht,66 der in den mesopotamischen Kulturen zur Legitimierung und zur Vergöttlichung der Könige diente,67 sich im Kontext israelitischer Religionspraxis aber so nie nachweisen ließ.68 Gleichwohl verschweigt die Bibel selbst keineswegs, dass die Israeliten sich in der Verehrung anderer Götter und

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Vgl. die Arbeiten von Nissinen 1998b, 2017; Black et. al. 2006; Hagedorn 2016. Zur Nähe des Hlds zu griechischer Liebesdichtung vgl. Müller 1998. Zur These, die griechische Übersetzung des Hld hätte seine allegorische Rezeption befördert vgl. SchulzFlügel 2016. Jost 1995; Asher-Greve 1997; Meador 2000; Fischer 2002a; Asher-Greve 2006; Black 2013. Nissinen 2017, 101. Vgl. auch Schroer 2013, 125. Nissinen 2006. Hierbei wurde der König, in einer aus heutiger Sicht nicht eindeutig zu klärenden Weise, mit einer Göttin des Pantheon intim verbunden, was seine Aufnahme in den Rang der Götter bedeutete und seine Machtposition stärkte. Vgl. Kaiser 1991, 659–673. Pongratz-Leisten 2017, 225–226. Hutter 1996, 104–105. Gault 2019, 27–28. Frevel empfiehlt daher, die Interpretation des Fruchtbarkeitskultes für den Kontext des Hlds – erneut – gänzlich aufzugeben: Frevel 1995b, 620, während Nissinen argumentiert, dass diese neuen Erkenntnisse über die Bedeutung des Ritus auch auf die Auslegung des Hlds neues Licht werfen könne und seine religiöse (allegorische) Lesart begründen helfe: Nissinen 2006, 10–12.

42 Göttinnen neben JHWH betätigten,69 was also den Einfluss von Religionspraxis anderer Kulturen in Israel nahelegt.70 Ob nun aber der Monotheismus dafür verantwortlich zeichnete, dass weibliche Gottheiten systematisch verdrängt wurden, ist nicht mit Sicherheit zu klären,71 es bleibt aber der Umstand, dass der zumeist männlich konnotierte JHWH Gott über weibliche Seiten und Eigenschaften verfügt. Fischer konstatiert daher zurecht: Die Herausbildung der monotheistischen Gottesvorstellung läßt die Unmöglichkeit der ausschließlich männlichen Rede von Gott deutlicher hervortreten als etwa die vorexilische ‚Alleinverehrung‘ oder gar der polytheistische Kontext mit Aschera als Paredra JHWHs. Da mit dem Weiblichen elementare menschliche Grundfunktionen und -bedürfnisse angesprochen werden, muß der Eine Gott auch diese ansprechen und integrieren.72

Das wirft die Frage auf, ob die Formen der Liebe und der Liebesbeziehungen auch heute noch mit einem gender-bias gelesen werden, der den weiblichen und männlichen Figuren im Hld bestimmte Verhaltensweisen zuordnet. Dass das Hld diese dann durchbreche (weibliche Figur – sexuell aktiv; männliche Figur – eher passiv) löst das Problem gegenderter Zuschreibungen von Liebeseigenschaften nicht auf, sondern affirmiert ihre dichotome Grundlage. Erst eine Integration aller Anteile und Eigenschaften der Beteiligten, die eine zwischenmenschliche und göttlich-menschliche 69

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Vgl. bspw. Dtn 16,21; 1 Kön 15,13f.; 18; 2 Kön 21,7; 23,4f.; Jer 7,17f.; 44,15f. Interessant hierzu ist die Diskussion um die Pithosinschriften aus der Karawanserei in Kuntilet ʿAğrud, in denen u.v.a. Inschriften und Malereien auch eine Inschrift gefunden wurde, die lautet: JHWH von Teman und seiner Aschera. Nach der Analyse und Einschätzung von Keel und Uehlinger sind weder die ikonografischen noch textlichen Funde als „(sexuell determinierte) Paar-Relation zu verstehen“ (Keel u. Uehlinger 2010, 270), in der Aschera die Göttin an JHWHs Seite bezeichne: „Jahwes Aschera stand nicht gleichrangig neben Jahwe, sondern wurde als eine seine Segensmacht vermittelnde Wirkgröße in Gestalt des stilisierten Baumes vorgestellt und war Jahwe insofern untergeordnet.“ (a.a.O.) Und: „Die Aschera galt in Israel und Juda im 8. Jh. nicht als Jahwes Paredros [Begleiter, Helfer bedeutender Gottheiten, Anm. d. Verf.in], sondern – als Kultobjekt in Gestalt des stilisierten Baumes – als Mittlerin seines Segens.“ (ebd., 272). Dass die Verehrung weiblicher Gottheiten anderer Kulturen im antiken Israel vorhanden war, zeigen die Arbeiten von Winter 1983; Frevel 1995a. Vgl. hierzu Oeming 2019, 206–209. Fischer 2002a, 30. Weitere Indizien für einen weiblich konnotierten Metapherngebrauch hinsichtlich des einen (männlichen) Gottes sieht Fischer in Num 11,12f. und Jes 40-66, vgl. auch: Fischer 2007, 248–249. Ähnlich argumentiert Maier 2014, 188–189.

43 Liebesbeziehung ausmachen, ohne gender-spezifisch zu unterscheiden, würde eine neue Qualität und Freiheit im Ausdruck und der Lebensweise liebevoller Beziehungen ermöglichen und sie gleichzeitig radikal transformieren. Damit diese Entwicklung aber nicht in eine metaphysisch-philosophische Richtung allein tendiert, braucht es die Personalität der Liebeserfahrung, in der Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und Spiritualität zusammengehalten und als anthropologische Existenzweisen mit Gott in Beziehung gesetzt werden. Einen anderen schwerpunktmäßig anthropologischen Auslegungshorizont stellen die Studien dar, die sich dem philologisch-performativen Ansatz verpflichtet sehen, ein dramatisches Plot im Hld herauszuarbeiten. Die Dramahypothese nahm Ende des 19. Jh. mit Delitzsch ihren Anfang und taucht immer wieder in Variationen in der Hld-Auslegung auf. Der Versuch, dem Hld eine dramatische Handlung, ein generelles Plot zu unterlegen, gelang selten ohne Eingriffe in den Text, um die vielen Brüche und Szenenwechsel zu harmonisieren.73 Eine Variante dieser Zuordnung kann im literarischen Stilmittel der Travestie gesehen werden. Geliebter und Geliebte gäben sich darin den Anschein, eine Travestie nach oben (König und Königin) oder nach unten (Gärtner, Hirte, Hüterin des Weinbergs etc.) durchzuführen, um den zeitgenössischen gesellschaftlichen Konventionen und Rollenbildern jeweiliger Statuszugehörigkeit zu entfliehen.74 Diese Deutungen sind in Verbindung mit Wetzsteins Beobachtungen einer syrischen Hochzeit entstanden, die in den sieben Tage währenden Feierlich73

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Delitzsch kennzeichnete das Hld als dramatisches Pastorale, in: Delitzsch 1875, 10. Rudolph verweist auf das massive Eingreifen in den Text und notwendige Umstellungen und Harmonisierungen als Folge dieser Annahme in: Rudolph 1962, 97–98. Gegen eine dramatische Lesart des Hld aufgrund fehlender kontinuierlicher Handlungsstränge und Brüche wandten sich auch: Gerlemann 1965, 59; Krinetzki 1981, 4; Keel 1992, 24, 25; Zakovitch 2004, 38. Gilt die Dramahypothese als von der Sammlungshypothese überholt, erhielt sie dennoch gelegentlich sprachwissenschaftliche Unterstützung. Stoop-van Paridon nahm, wie für die Dramahypothese üblich, eine Dreiecksliebesgeschichte an, die sich zwischen der Schönheit vom Lande und ihrem geliebten Hirten und ihrer Aufnahme in den salomonischen Harem und der Begegnung mit dem König abspielt. Stoopvan Paridon 2005, 474–477. Gerlemann 1965, 60–61; Müller 1997. Das Hld als Comedy: Whedbee 1993, 277–278. Das Hld als subversive Dichtung, um gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren: LaCocque 1998. Das Hld als Spottlied auf König Salomo: Schellenberg 2020, dem entgegen argumentiert Heereman 2016, 213–214.

44 keiten, Braut und Bräutigam als Königspaar inszenierte. Allerdings ließ sich diese Beobachtung aus dem syrischen Raum des 19. Jh. nicht für das antike Israel nachweisen.75 Die Dramahypothese findet in der aktuellen Hld-Forschung als performanz-theoretische Untersuchung erneut Anklang.76 Am weitaus häufigsten wird in der Kommentarliteratur aber die Sammlungshypothese vertreten, die sich im Zuge religionswissenschaftlich orientierter historisch-kritischer Bibelexegese durchsetzte. Es handelt sich beim Hld einerseits um eine Liedersammlung, andererseits wird aber darauf hingewiesen, es sei vermutlich einer redaktionellen Überarbeitung des Hlds geschuldet, dass gewisse sprachliche und motivische Wiederholungen den Eindruck einer Gesamtkomposition, einer literarischen Einheit erweckten.77 In dieser Einschätzung bleibt die grundsätzliche Möglichkeit gegeben, dass einzelne Lieder aus verschiedenen Epochen stammen könnten also tatsächlich über einen längeren Zeitraum hinweg gesammelt wurden.78 Auf dieser historisch-kritischen Grundlage setzen sich die komplexen Beiträge feministischer Theologie seit den 1990er Jahren mit dem Hld und seiner Rezeption auseinander und thematisieren v.a. Machtverhältnisse: Dabei kommen die innerbiblischen Machtstrukturen antiker Gesellschaften ebenso zur Sprache wie die Mechanismen wissenschaftlicher Deutungsmacht hinsichtlich bestimmter Auslegungspräferenzen.79 Dies wiederum bedingte eine Ausweitung des Themenspektrums, das im Hld erkannt werden konnte und um Themen wie Rassismus, soziale Kontrolle und die be75

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Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Travestie-Deutung des Hlds vgl. Heereman 2016, 190–196; Berlejung 2021, 137; 158. Sie wird im Zuge von literaturwissenschaftlichen Performanz-Ansätzen aktualisiert, vgl. bspw. bei Hopf 2016, 2018. Einsichten dazu liefern die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen von Roberts 2007, 396; Noegel und Rendsburg 2009, 172 und der Kommentar von Exum 2005, 37. Die Auffassung, dass das Hld von Anfang an als literarische Einheit verfasst wurde, vertritt bspw. Sister Mary Timothea Elliott, R.S.M. 1989, 260; Assis 2009, 266. Assis macht darauf aufmerksam, dass es der Lyrik zu eigen sei, weder zeitliche noch räumliche Stringenz abzubilden, sondern emotionale Befindlichkeiten, die weder dem Anspruch der Logik noch der Kohärenz folgen würden und trotzdem als Erfahrungseinheit zusammengehörten. Assis 2009, 10. Die Frage nach Datierung und Autorenschaft des Hlds wird in Kapitel I.2.3 aufgegriffen und vertieft. Meyers 1993; Brenner 1997, 2007; Exum 2000; Müllner 2017. Vgl. für das AT: Fischer 2003, 2009, 2019 sowie: Fuchs 2003, 2016; Kalmanofsky 2018.

45 reits erwähnten gegenderten Körperbilder erweitert wurde. Diese Ansätze erschlossen weitere Möglichkeiten zur Auslegung des Hlds und regten zu einem Diskurs an. Darüber hinaus sensibilisierten die feministisch-sozialkritisch geprägten Auslegungen für die Zusammenhänge von Sprache (Text; Diskurs) und Ausübung von (Deutungs)Macht.80 In den letzten zehn Jahren lässt sich eine weitere Öffnung und Vielfalt der Hld Auslegung erkennen, in der queere Ansätze zur Deutung des Hlds ebenso ihren Platz finden81 wie Arbeiten, die die Zugehörigkeit des Hlds zur Weisheitsliteratur des AT nachzuweisen versuchen: das Hld sei eine lebenspraktische Anleitung zum guten Liebesleben.82 Frische Zugänge zur Hld-Auslegung verspricht der anfangs erwähnte Band mit Artikeln verschiedener Autoren, die in ihren Ansätzen Themen aufgreifen, die sie im Hld verhandelt sehen, wie z.B. die psychoanalytische Dimension des Hlds und wie es in der Glaubenspraxis Verwendung findet, bspw. in der jüdischen Pessach-Liturgie.83 Daneben gibt es weitere Kommentare und Schriften zur Beschreibung von Emotionen im Hld84 und Artikel zu den schwerpunktmäßig sexuell-erotisch gelesenen Passagen und Metaphern.85 Deren Anliegen scheint darin zu bestehen, kirchliche Dogmen 80

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Vgl. die Arbeiten von Trible 1991; Streete 1997; Fischer 2004s. In diesem Zusammenhang wird darauf aufmerksam gemacht, dass moderne Konzepte von Sexualität (auch Homosexualität) nicht mit denen der Antike gleichzusetzen sind: Brenner 1997, 177; Nissinen 1998a, v–vi. Zu Rassismus und sozialer Kontrolle s. auch die Arbeit von Weems 1997. Vgl. zur Kritik feministischer Hld-Auslegung und einer s/m-Deutung des Hlds Burrus und Moore 2003. Vgl. die Arbeiten von King 2007; Hügel 2013. Die Zuordnung des Hlds zur Weisheitsliteratur findet sich schon bei Keel 1992, 16 und in Frevel und Zenger 2016, 7; und in den Arbeiten von Walsh 2000; Andruska 2019. Walsh ist weniger an der formgeschichtlichen Einordnung des Hlds interessiert als an den weisheitlich-lebenspraktischen Hinweisen und Anleitungen, die die Erotik des Hlds in unser Leben hinein entwirft, während Andruska den Nachweis zu erbringen versucht, dass das Hld innerbiblisch zur Weisheitsliteratur zu zählen ist, indem sie es mit Weisheitsliteratur aus der Umwelt Israels vergleicht. Kritisch dazu äußert sich Peetz 2020a. Ablehnung einer Zuordnung des Hld zur Weisheitsliteratur bei Heereman 2018. Damohorská 2019.Vgl. zu psychoanalytischen Deutungen des Hlds bereits Landy 1983. Linafelt 2006, 298–300; Peetz 2015, 2018, 2020b. Peetz 2015 untersucht die Emotionalität im Hld allerdings zusätzlich auch unter besonderer Berücksichtigung der allegorischen Auslegungspraxis. Clines 1995; Boer 1999; Case 2017; Schellenberg 2020a. Gegen eine durchweg sexualisierte Hld-Lesart argumentierte bereits Fox 1985, 298–299, wenngleich er einräumt,

46 kritisch zu hinterfragen, die die Erotik in der Hld-Auslegung vergeistigen und geistlich deuten also entkörperlichen oder lediglich auf die Institution Ehe einschränken wollten. Dieser tendenziösen Leibfeindlichkeit und ErosSkepsis wird auch im alttestamentlichen, biblisch-theologischen Diskurs begegnet, in dem die zwischenmenschliche Sexualität als Teil grundlegender und wichtiger anthropologischer Lebenswirklichkeit qualifiziert wird, die von Gott her bereits schöpfungsgemäß angelegt und gutgeheißen ist.86 In Rezeption und Umgang mit der Sexualität erweist sich daher ein kultureller Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Auslegung, der aufgrund seiner historischen Komplexität hier nicht ausführlich behandelt werden kann. Vielleicht soviel: Während in der Tora Sexualität im Kontext der Fortpflanzung begrüßt, im Kult-Kontext geregelt und im Sprüchebuch als Kraft, die sowohl zu Treue als auch Ehebruch führen kann, besprochen wird, wollten die prophetischen Schriften sie gegen heidnische Abweichungen schützen. Im Allgemeinen ist der Umgang mit (ehelicher) Sexualität in der jüdischen Religionspraxis positiv.87 Innerhalb der christlichen Kirche setzte sich eine (neo-platonische) leibfeindliche Tendenz durch, die die Entwicklung des Geistes und die Höhen

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87

dass der Koitus zur Liebesbeziehung gehöre, sein Vollzug aber außerhalb der Darstellungen des Hlds liege (ebd., 313). Gegen eine pornographische Lesart, wie bei Boer 1999, aber für eine erotische argumentiert Gault 2019, 23. Gollwitzer 1978, 21–46; Haag und Elliger 1989, 88–89; Paganini 2021, vgl. 10–11.Vgl. zum Argument schöpfungsgemäß gelebter Sexualität seit Erschaffung der Menschen und einer Gegenposition: Fischer 2020a, 13–22; Schmid 2020, 3-12. Grunert und Kloß argumentieren, dass voreheliche sexuelle Aktivitäten auch in der Bibel keineswegs ausgeblendet werden und zitieren u.a. Hld 3 und 5. Ihrer Auffassung nach war vorehelicher Verkehr im Alten Israel vermutlich die Regel, wofür Rechtstexte wie Ex 22,15f oder Dtn 22,13ff. Regularien entwarfen, die prekäre und missbräuchliche Strukturen im sexuellen Miteinander regeln sollten, um die Schwächeren in der Gesellschaft (junge Frauen) zu schützen (Grunert und Kloß 2021, 202; 226-227.) In der jüdischen Auffassung gehört Sexualität zur condicio humana, im kabbalistischen oder chassidischen Kontext wird die Freude des Koitus mit dem „intensiven Studium des Heiligen Textes“ der Bibel verglichen (Braun und Ehalt 2009, 21–22), verweist damit aber auch auf einen anderen Deutungskontext von Sexualität, der mit einem eher asketischen oder philosophischen Verständnis von Sexualität verbunden ist, was im Verlauf der Geschichte immer wieder auch und gerade in Auseinandersetzung mit christlichen und philosophischen Strömungen auftauchte (vgl. Biale 1997, 5-6). Eine zeitgenössische positive Einstellung zur Sexualität findet sich bspw. bei Lapide 1993, 36–37. Eine Sammlung wichtiger Texte der jüdischen Religionsgemeinschaft zum Themenbereich Sexualität, Ehe und Familie v.a. im Kontext von Regularien bietet Berger 2006.

47 spirituellen Wachstums mehr betonte als die körperlichen Freuden.88 Die Erhebung der Ehe zum Sakrament in der katholischen Kirche (ca. 13. Jh.) und ihre Unauflösbarkeit (beispiellos in den Buchreligionen),89 führten zur Einschränkung der Sexualität auf den Bereich der Ehe und die Fortpflanzung, was sich im weiteren repressiven Verlauf der Geschichte in WestEuropa in einer Sublimierung erotisch-sexueller Kräfte fortsetzte, die in der Arbeit kanalisiert wurden und aus der Sexualität in der Ehe eine ökonomische Institution machten.90 88

89 90

Vgl. bspw. die Erbsündenlehre des Kirchenvaters Augustinus und die daraus erwachsende Frömmigkeitspraxis. In Augustinus Auffassung wurde die Ursünde Adams über die Fortpflanzung des Menschen von einer Generation an die andere vererbt, so wird „die Geschlechtslust bzw. die Konkupiszenz (sinnliche Begehrlichkeit, Begehrlichkeit des Menschen) zum Träger der Erbsünde.“ Saarinen 2003, Sp. 1395. Deshalb muss der Geschlechtsakt fürderhin (außer zur notwendigen Fortpflanzung) weitestgehend unterbunden und auf höhere, geistliche Ziele gerichtet werden. Situation heute: Während die kath. Kirche an der E. festhält und sie als Grundbedingungen menschlicher Erlösungsbedürftigkeit qualifiziert und auch weiterhin mit der Konkupiszenz zusammenbringt (Naturbedingung menschlicher Existenz), hat die protestantische Kirche die E. zwar abgelehnt, aber „die grundsätzliche theol. Bedeutung der bleibenden Sünde hervorgehoben.“ Saarinen 2003, Sp. 1397. Braun und Ehalt 2009, 38. Seit dem 18. Jh. sieht Foucault einen gesellschaftlichen Wandel hinsichtlich des Umgangs mit Sexualität und Ehe, den er als gesellschaftspolitische Repression im Dienst der Ökonomisierung beschreibt: „Sicherlich stand seit langem fest, daß ein Land, das Reichtum und Macht erstrebte, bevölkert sein mußte. Aber zum ersten Mal kommt eine Gesellschaft zu der dauerhaften Einsicht, daß ihre Zukunft und ihr Glück nicht nur von den Regeln ihrer Heirat und Familienorganisation abhängen, sondern von der Art und Weise, wie ein jeder von seinem Sex Gebrauch macht. Von den rituellen Klagen über die unfruchtbaren Ausschweifungen der Reichen, der Junggesellen und der Libertins wechselt man über zu einem Diskurs, der das sexuelle Verhalten der Bevölkerung gleichzeitig zum Gegenstand der Analyse und zur Zielscheibe von Eingriffen macht; von den massiv populationistischen Thesen der merkantilistischen Epoche geht man über zu feineren und besser kalkulierten Regulierungsversuchen, die je nach den Zielen und Erfordernissen zwischen einer geburtensteigernden und einer geburtensenkenden Richtung schwanken. Durch die Politische Ökonomie der Bevölkerung hindurch bildet sich ein ganzes Raster an Beobachtungen über den Sex. An der Grenze des Biologischen und des Ökonomischen entsteht die Analyse der sexuellen Verhaltensweisen, ihrer Determinationen und Wirkungen. Es kommt nun auch zu jenen systematischen Feldzügen, die jenseits der traditionellen Mittel - moralische und religiöse Ermahnungen, fiskalische Maßnahmen - aus dem Sexualleben der Ehepartner ein ökonomisch und politisch abgestimmtes Verhalten zu machen versuchen.“ Foucault 2017, 38–39.

48 Aufgrund dieser Zusammenhänge scheint es verständlich, dass gerade das Hld mit seiner positiven Sichtweise von Erotik und Sexualität als Teil der Bibel von den einen als Störfaktor empfunden und von den anderen als Befreiungsschrift begrüßt wird. Bei all der Auslegungs-Vielfalt ist jedenfalls nicht daran zu denken, diese bunte Komplexität der Hld-Deutung umkehren und vereinheitlichen zu wollen. Vielmehr stellt sich die Frage, auf welchem Hintergrund und für welchen Lebens- bzw. Forschungskontext die Auseinandersetzung mit dem Text und seiner Deutung stattfindet. Dass es hier große Unterschiede gibt, ist augenfällig. Es geht dabei aber nicht um die Frage nach richtiger oder falscher Hld-Auslegung, sondern um die Anerkennung verschiedener hermeneutischer und methodischer Zugänge. Neben den vielfältigen anthropologischen Lesarten, bieten auch die theologischen Lesarten des Hlds eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher Zugänge, wenngleich es ihnen zu eigen scheint, keine vergleichbar diverse Deutungs-Vielfalt vorweisen zu können.

49 2.2. Theologische Hohelied-Auslegungen Im Zuge einer Darstellung der schwerpunktmäßig theologisch orientierten Hld-Auslegung, möchte ich zunächst auf die allegorische Hld-Deutung zurückkommen, die sich mehr als 1500 Jahre als vorherrschende Lesart behauptete und in der jüdisch-rabbinischen und christlich-orthodoxen Religionsgemeinschaft noch heute mehrheitlich beibehalten wird. Was den Auslegerinnen und Auslegern damals und heute gemein ist, ist die Übertragung der im Hld beschriebenen zwischenmenschlichen Liebe auf das Verhältnis zwischen Gott/Jesus Christus und seinem Volk/seiner Kirche. Gerade in der erotisch aufgeladenen Sprache, der reichhaltigen Metaphorik und Bilderwelt, wird der anthropologische Sinn der Worte transzendiert und weist auf den Ursprung aller Liebesbeziehung in Gott hin. Das ging nicht stets mit einer Auslegung einher, die die Entkörperlichung oder Leibfeindlichkeit beförderte,91 sondern fand bspw. in der christlichen Mystik einen stark körperlich-sinnlichen, ekstatischen Ausdruck in der Kontemplation des Hlds und der Sehnsucht nach der unio mystica zwischen den Gläubigen und Jesus Christus.92 Allerdings war das Umfeld monastischer Kontemplation von der Lebenspraxis der meisten Menschen weit entfernt, so dass dies als eine von vielen Möglichkeiten gesehen werden sollte, wie das Hld ausgelegt oder erlebt werden kann. Die Frage nach einem Deutungsmuster, das sich im Kontext der anderen Schriften des AT wiederfinden lässt, ist für die erste Zeit christlicher HldAuslegung schnell beantwortet. Wie die jüdisch-rabbinische Hld-Auslegung, so befürworteten sowohl Hippolytus von Rom (†235 n.Chr.) als auch Origenes (185/6-253/4 n.Chr.) in Alexandria die allegorische Lesart des Hlds, da es die Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk Israel beschrieb und insofern für den christlichen Gebrauch auf die Liebesbeziehung zwischen Jesus Christus und der Kirche bzw. der einzel91

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In der rabbinischen Auslegung wird die Kraft erotischer Bildwelt auf das Göttliche übertragen; vgl. hierzu: Kearney 2006, 311. Vgl. hierzu Vogel 2015, 53–54; Avila 2011, 60-61; 111-119; Mechthild von Magdeburg 2003. Das St. Trudperter Hohelied ist eine Hld-Auslegung, die im Untertitel als „Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis“ qualifiziert wird, die zur Kontemplation für Nonnen verfasst wurde und tiefer in die Liebe zu Gott einführen sollte. Haug et al. 1998, 333–335.

50 nen Seele übertragbar war.93 Die Vereinnahmung der HB durch eine christologische Lesart und die Beimischung neo-platonischen Gedankenguts (bspw. die Dreiteilung des Menschen in Leib – Geist – Seele) sowie der Vorzug der LXX vor den hebräischen Handschriften zeichnet wohl verantwortlich für die spezifische Auslegungsgeschichte des Hlds, die sich im Kulturraum des christlichen Abendlandes seit dem 5. Jh. n.Chr. entwickelte.94 Dabei blieb die bevorzugte Lesart die allegorische, deren Anwendung langfristig jedoch zu einer Vernachlässigung der körperlich-leiblichen Erfahrungsdimension in der Hld-Auslegung führte.95 Sexualität, Erotik und Sinnenfreuden als Dimensionen menschlicher Lebenswirklichkeit zu erfassen und angemessen theologisch zu thematisieren, bleibt bis heute eine Herausforderung für die christlich-westliche Theologie. Fischer hat hier ein Beispiel gesetzt und die biblischen Facetten von Sexualität zusammengestellt, um die Freuden und die Leiden im Kontext geschlechtlichen Begehrens zu thematisieren. Im Fall des Hlds verbindet 93

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Vgl. zu Hippolytus: Ohly 1958, 15–16. Für Origenes war die Erkenntnis des Gehalts an göttlicher Offenbarung im Hld an die Bildung der Auslegenden geknüpft. Vom Fleischlichen zum Geistlichen, ja zur mystischen Schau vorzudringen, war somit nur denen vergönnt, die über hohe Bildung, Bibel- und Fremdsprachenkenntnis verfügten. Für Origenes war das Hld ein Schauspiel, eine Anleitung zum moralisch guten Handeln, um der Seele den Weg zur geistlichen Liebe zu weisen. Vgl. dazu: Quasten und Plumpe 1957, 22–23. Vgl. Wilken 2003, xx; xix; Markschies 2003. In einer Predigt des Origenes zum Hohelied findet sich eine Passage, die den Kontext der Hld-Auslegung nach seiner Auffassung gut darstellt und die beginnende Binarität von Seele=gut und Fleisch=schlecht reflektiert: „Alle Bewegungen der Seele hat Gott, der Schöpfer des Alls auf das Gute hin geschaffen. Doch durch unseren Gebrauch geschieht es oft, daß die Dinge, die von Natur aus gut sind, uns zur Sünde führen, weil wir sie schlecht gebrauchen. Eine der Bewegungen der Seele ist die Liebe; wir gebrauchen sie gut zur Liebe, wenn wir die Weisheit und die Wahrheit lieben. Doch wenn unsere Liebe zum Schlechteren verkommt, dann lieben wir Fleisch und Blut. Du also, als Geistmensch, höre geistlich, wie die Worte der Liebe gesungen werden, und lerne, die Bewegungen deiner Seele und die Glut der natürlichen Liebe auf Höheres zu richten nach dem Wort: 'Liebe sie [die Weisheit], und sie wird dich beschützen, umfasse sie, und sie wird dich erhöhen' (Spr 4,6.8).“ Frank 1987, 57. Zum Einfluss der LXX Übersetzung auf die allegorische Lesart im Christentum vgl. Schulz-Flügel 2016. Bremmer weist darauf hin, dass sich erst ab dem 5. Jh. n.Chr. eine Veränderung der Vorstellung von psyché entwickelte, die den Körper-Seele Dualismus bevorzugte. Wie genau es dazu kam, bleibt laut Bremmer bis heute ungeklärt. Die frühen christlichen Ausleger hätten also Körper und Geist/Seele noch ganzheitlich betrachtet. Bremmer 2012, 179-180; 185. Vgl. Longman 2001, 36.

51 sie eine anthropologische Lesart, die die Freuden von Erotik und Sexualität (außerhalb der Ehe) genauso wertschätzt und beim Namen nennt, mit der im Hld angelegten Möglichkeit zur allegorischen Lesart durch seine zahlreichen intertextuellen Bezüge.96 Damit weist sie auf eine jüngere Entwicklung hin, in der sich verschiedene Theolog*innen erneut der Frage nach der allegorischen Deutung des Hlds zuwandten. Gerhards bspw. machte es sich zur Aufgabe nachzuweisen, dass das Hld bereits bei seiner Entstehung als Allegorie gedacht war und führt dies darauf zurück, dass diese Deutungsdimension dem Hld inhärent sei und daher nicht grundsätzlich ausgeklammert werden dürfe, auch nicht in modernen Kommentaren und Auslegungen.97 Schwienhorst-Schönberger setzte sich mit dem Vorwurf der Vergeistlichung körperlich-sexueller Liebe und Lust und einer unterstellten Leibfeindlichkeit durch die Allegorisierung des Hlds auseinander und argumentierte, die Grundproblematik in der Hld-Auslegung sei auf die hermeneutischen Zugänge und ihre jeweiligen Besonderheiten zurückzuführen. So sieht er bspw. einen Zusammenhang zwischen den Methoden der Gattungskritik, die das Hld meist aus seinem kanonischen Kontext herauslösen würden, um die Frage nach dem Sitz im Leben klären zu können. Für das Hld (sofern es zur Weisheit gezählt wird) und bspw. die Prophetie würden unterschiedliche Gattungen gelten, also unterschiedliche Sitze im Leben rekonstruiert werden, in denen die Texte geschrieben und rezipiert wurden, womit sich sozusagen von selbst eine intertextuelle oder kanonische Lesart verbieten würde. Nach der Problematisierung dieser Methode verweist er darauf, dass ebenfalls mit wissenschaftlichen Methoden auch die Allegorie des Hlds ihre Verteidiger fände und will im Ergebnis eine verbindende Lösung vorschlagen:98 Schwienhorst96

97 98

Im Kapitel „Sexualität und Fest – Sexualität als Fest“ (Fischer 2021a, 124–132), thematisiert Fischer die anthropologischen Aspekte der Hld-Metaphorik. Im Kapitel „Der Gott Israels als begehrender Mann: Ehe als Bildgeber für die Bundestheologie“ (ebd., 165170), weist sie auf die intertextuelle (allegorische) Lesart im Kontext der Ehe-Metapher als Bild für den Bund Gottes mit Israel hin. Zu positiv besetzten Aspekten von Sexualität in der Bibel vgl. Fischer 2021b. Gerhards 2010, v.a. Kapitel XII., 2016. Schwienhorst-Schönberger 2015, 17. Er erwähnt die Kommentare der katholischen französischen Theologen Robert und Tourney als Beispiele, wie auch mit streng wissenschaftlicher Exegese die allegorische Auslegung des Hlds gerechtfertigt werden kann. M.W. werden diese Autoren in Kommentarliteratur zum Hld meist nicht genannt, was

52 Schönberger möchte sowohl anthropologische als auch theologische Aspekte der Hld-Auslegung in den Fokus gerückt wissen und argumentiert, dass „die erotische Erfahrung über sich hinaus weist auf eine göttliche Wirklichkeit.“99 In diesem Kontext werde die (eheliche!) Liebe besonders ausgezeichnet, weil sie „in den größeren Zusammenhang der Gottesliebe gestellt und dadurch vor unerfüllbaren Erwartungen geschützt“100 werde. Eine ebenfalls verbindende Position von anthropologischer und theologischer Hld-Auslegung nimmt Barbiero ein. Er deutet das Hld entlang historisch-kritischer Methodik inklusive religionswissenschaftlicher Einsichten, und einer gleichzeitig intertextuellen Lesart, die dem kanonischen Anspruch des Textes gerecht wird. Er deutet diese Vorgehensweise nicht als allegorische Auslegung, sondern als metaphorische, „and it corresponds, at root, to the reality of human love which is, at once and inseparably, flesh and spirit.”101 Die parallel zur christlichen Auslegungsgeschichte verlaufende jüdischrabbinische Hld-Auslegung hingegen kennt die allegorische Auslegung so nicht. Der Begriff Intertextualität (oder Symbolik, auch Anspielung oder Typologie) ist treffender, wenn die Art und Weise rabbinischer Methodik zur Auslegung von Bibeltexten beschrieben werden soll.102 Seit dem Targum (ca. 4.-8. Jh. n.Chr.), dem Midrasch Šîr HaŠirîm Rabbāh (ca. 8.-10. Jh. n.Chr.) und später folgenden Hld-Auslegungen sowie der Aufnahme des Hlds in die Pessach-Liturgie (ca. 8. Jh. n.Chr.), hat die rabbinische Auslegung die intertextuelle Lesart bewahrt.103 Die zwischenmenschliche Sexua-

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auch damit zu tun haben könnte, dass ihre Werke bisher nicht ins Deutsche oder Englische übersetzt sind. Robert 1963; Tournay 1963. Schwienhorst-Schönberger 2015, 25. Dieser Gedanke findet sich auch bei: Lapide 1993, 36–37; Oeming 2018, 329–330. Schwienhorst-Schönberger 2015, 168–169. Barbiero 2011, 44. S. Kugel 1981, 136–137; Boyarin 1990, 226–227; Heereman 2016, 183-187; 197-202. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es auch innerhalb des Judentums verschiedene Strömungen in der Bibeltext-Auslegung zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte gegeben hat. Da hier unmöglich detaillierter vorgegangen werden kann, mag dieser Hinweis dafür sensibilisieren, dass verschiedene Auslegungsarten des Hlds zu allen Zeiten in Umlauf waren und sich Mainstreams aus einer Vielzahl von Gründen durchsetzten bzw. die Oberhand im Diskurs bekamen. Ausführlich haben dies Ohly und Gerhards thematisiert, ein kurzer und prägnanter Überblick findet sich bei Birnbaum 2018. Der Targum ist eine aramäische Übersetzung des Bibeltextes, dem eine Interpretation zur Unterweisung für Schule und Gemeinde beigefügt ist. Der Targum legt das Hld

53 lität wurde mit dem Gottesbild bzw. der religiösen Weltdeutung in Einklang gebracht bzw. Qualitäten der zwischenmenschlichen Liebesbeziehung wurden als Dimensionen zur Illustration für die Gottesbeziehung mit Israel verwendet. Sexualität als schöpfungsgemäße Gottesgabe und Auftrag zur Prokreation steht in antiker Zeit im Vordergrund und richtet den Fokus auf die Regelungen im Kontext der Ehe und ihre identitätsbewahrenden Traditionen (Mischehen, Scheidungsrecht, Ehepflichten etc.).104 So kann auch die enge Verbundenheit von Frau und Mann in der Ehe als gottgewollte Ordnung (vgl. Gen 2,24) und als Keimzelle der familiären und gesellschaftlichen Strukturen im Alten Israel gelten. Sie diente in vielen Texten u.v.a. bei den Propheten als metaphorisch verwendeter Bildgeber für die Beziehung zwischen Israel und JHWH. Diese Lesart repräsentiert eine von vielen Strömungen innerhalb der jüdischen und rabbinischen Hld-Auslegung in der Zeit zwischen dem 2.-20. Jh. n.Chr. Sie steht im Kontext der schwerpunktmäßig theologischen HldAuslegung, weil sie die Auffassung vertritt, die Liebesbeziehung zwischen den Liebenden des Hlds stehe für die liebevolle Gottesbeziehung zu Israel, die im Bild des (Ehe)Bundes zwischen Gott und Israel mit dem Exodus begann, im Sinai-Bund gipfelte und bis heute andauert.105 Die Bücher der Tora, der Propheten und andere, Salomo zugeordnete Bücher sowie die übrigen Schriften, werden miteinander in Dialog gebracht und ergeben eine Hld-Deutung, die über die Zeit hinweg aktuell bleibt und sich hineinübersetzen lässt in veränderte sozio-religiöse Praxiskontexte. Bibeltexte werden jeweils neu ausgelegt und angepasst, ohne die traditionellen, gewachsenen

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konsequent als Abhandlung der Heilsgeschichte Gottes mit Israel aus. Text in englischer Übersetzung nachzulesen bei: Gollancz 1908. Mit kritischen Kommentaren versehene Targum Abhandlungen finden sich bei: Menn 2000; Alexander und McNamara 2003. Der Midrasch Šîr HaŠirîm Rabbāh beinhaltet eine Sammlung von Auslegungen einer Vielzahl von Rabbinen zur Bedeutung einzelner Verse oder Worte im Hld. Bisher in englischer Übersetzung zweibändig erschienen und nachzulesen bei: Neusner 1989a, 1989b. Zu Datierung und Inhalt des Midrasch vgl. Stemberger 2010, Kapitel V.1b. Die Aufnahme des Hld in die Pessach-Liturgie wurde durch die Midrasch-Auslegung befördert und ist bis heute in der aschkenasischen und sefardischen Tradition beibehalten. Teilweise wird das Hld auch am Ende des Sederabends gesungen (vgl. Liss und Böckler 2011, 354). Zur intertextuellen Lesart rabbinischer Bibel-Auslegung (Midrasch) vgl. Kugel 1981, 136–138. Vgl. Berger 2006, 2ff. Liss und Böckler 2011, 353–354.

54 Beziehungsbilder zwischen Gott und Israel aufzugeben. So stehen anthropologische und theologische Auslegung des Hlds einander nicht gegenüber, sondern markieren verschiedene Kontexte und Dimensionen zwischenmenschlicher Lebenswirklichkeiten, die sich überschneiden.106 Obwohl es in Midrasch und Targum nicht um die in der Alltagswirklichkeit gelebte Sexualität nach Vorlage des Hlds geht und der Vollzug des Koitus meist nicht aus den Versen herausgelesen wird, ist die Erotik in ihrer Wirkung nicht bestritten, sondern übernimmt eine wichtige Funktion in der leidenschaftlichen Gottesbeziehung.107 Die Einstellung zur Sexualität als Bereich menschlicher Lebenswirklichkeit wird in der rabbinischen BibelAuslegung in seiner anthropologischen Bedeutung generell anerkannt und nicht tabuisiert. Gerade in der Anerkennung und Annahme geschlechtlichen Miteinanders, werden die Kräfte der körperlichen Liebe weder überbetont noch bagatellisiert, aber erhalten angemessene Beachtung als Erfahrungsdimension im Kontext menschlichen Zusammenlebens (die auch Regularien erfordern bspw. für kultische Reinheit, Ehepflichten, Scheidung etc.) und in der Gestaltung der Gottesbeziehung (ein Volk im Ehebund mit seinem Gott).108 106

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Exemplarisch dafür führe ich den Kommentar von Fishbane an, der die PaRDeS-Methode rabbinischer Hld-Auslegung zusammengetragen hat und sie fruchtbar macht für die gegenwärtige Hld-Deutung. PaRDeS steht für die 4 Ebenen des Zugangs zu Bibeltexten. Fishbane erklärt ihre Bedeutung anhand des Zohar (Schriftwerk zur Kabbala, mystischer jüdischer Lehre/Spiritualität): „peshat is the outer (textual) garment of Scripture; derash is its (more concealed cultural) body (with its theologies and laws); remez is the (inner) soul of this textual being (with hints of religious quest and truth); and sod is the (supernal) supersoul (of Scripture, its ultimate divine dimension).” Fishbane 2015, S. xxxviii. Hier stehen die traditionellen Auslegungen der jüdischen Rabbinen nebeneinander, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Die peshat-Auslegung entspräche der anthropologisch orientierten Hld-Auslegung. Vgl. zu weiteren Methoden rabbinischer Bibelauslegung auch die middot (Auslegungsregeln verschiedener Rabbinen) verstreut in Talmud und Midrasch. Im 19. Jh. von Malbim zusammengestellt (613 Regeln). Cohen 1991, 13–14; Pardes 1992, 124–125; Zimmermann 2001, 207–208. Vgl. die peshat- und sod-Auslegungen zu zahleichen Hld Versen in Fishbane 2015. Im Kontext dieser Arbeit ist es nicht möglich, alle Entwicklungen im Umgang mit Sexualität innerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft nachzuvollziehen. Einen guten Überblick über die zwar vielen Regeln zur Sexualität (v.a. in Bezug zu ritueller Reinheit; Pflichten; Sanktionen etc.), aber die grundsätzlich positive Haltung zu ehelichem (!) Geschlechtsverkehr bietet: Berger 2006. Einen Überblick über die Auffassungen und den Umgang mit Sexualität „Vom biblischen Israel bis zum zeitgenössischen Amerika“ bietet Biale 1997.

55 In diesem Kontext seien noch die Textfunde aus den Höhlen in Qumran erwähnt. Als im Jahre 1947 in Khirbet Qumran, nordwestlich des Toten Meeres, Fragmente von Schriftrollen mit Texten der Bibel entdeckt wurden, war dies eine Sensation. Diese Funde schlossen eine Lücke in der Textüberlieferung von einem Jahrtausend.109 Seither wurden Fragmente von mehr als 1000 Schriftrollen in 11 Höhlen gefunden. In Höhle 4 und 6 fanden sich auch Fragmente des Hlds.110 Die Siedlung in der Nähe der Höhlen gibt dennoch Rätsel auf. Es ist nicht eindeutig, welche Art von Gemeinschaft dort zwischen dem 1. Jh. v.Chr. und dem 1. Jh. n.Chr. lebte. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Gemeinschaft über eine Bibliothek verfügte, in der die wichtigen religiösen Texte ihrer Zeit in Abschriften aufbewahrt wurden. Über 200 Schriftrollen mit biblischen Texten wurden gefunden und mit den anderen Textzeugen verglichen.111 Die Fragmente des Hlds geben ebenfalls Rätsel auf, da sie in anderer Form vorliegen, d.h. es sind nicht alle 117 Verse des Hlds, wie sie im MT zusammengestellt sind, in den Textfunden nachweisbar.112 Äußerlich betrachtet sind die Schriftrollen sehr klein im Vergleich zu den anderen Schriftrollen biblischer Bücher. 6QCant ist die kleinste von allen.113 Es stellt sich die Frage, ob diese gekürzten Fassungen des Hlds womöglich für das Mitführen gedacht waren und so in den Kontext eines liturgischen Gebrauchs rücken.114 Ob die gekürzten Versionen indes darauf hindeuten, dass sie nur bestimmte Passagen aus einem bereits vollständig vorliegenden HldText verwandten oder gar Entwicklungsstufen verschiedener Texteditionen

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Wie die Stellung der Frau sich innerhalb und außerhalb rabbinischer Auslegungen zur Sexualität über die Zeit verändert hat, wäre eine eigene Dissertation wert. Hierzu sei verwiesen auf weitere Arbeiten von: Ostriker 2000; Fonrobert und Ilan 2001; Maier 2012; Bauks et al. 2019. Die ältesten Textfunde aus Qumran sind aus dem 3. Jh. v.Chr., die masoretische Textversion, die auch der BHS zugrunde liegt, ist der Codex Leningradensis aus dem Jahre 1008/9 n.Chr. (vokalisierter, fixierter Text). Natürlich gab es auch zu diesem Text ältere protomasoretische Textgruppen (noch nicht vokalisiert und fixiert). Stökl Ben Ezra 2016, 4; in Höhle 4 wurden drei Fragmente gefunden 4QCanta; 4QCantb; 4QCantc; in Höhle 6 eines 6QCant. Stökl Ben Ezra 2016, 195f. 4QCanta enthält die Verse 3,4-5.7-4,7 und 6,11-7,7; 4QCantb enthält die Verse 2,93,2.5.9-4,3.8-11a.14-5,1; 4QCantc enthält die Verse 3,7-8 und 6QCant die Verse 1,1-7. Tov und Ulrich 2000, 195–219; Baillet und Milik 1962. Tov und Ulrich 2000, 197–198.

56 darstellen, wird kontrovers diskutiert.115 Heereman ist sich indes sicher, dass die kürzeren Versionen des Hlds in ihrer redaktionellen Bearbeitung erst den Schliff bekommen haben, der ihre symbolische Auslegung und Lesart begünstigte.116 Mit letzter Gewissheit kann jedoch auch hier keine abschließende klare Aussage gemacht werden. Weitere Erkenntnisse aus der Forschung bleiben abzuwarten. Eine eindeutige Aussage darüber, wie die Hld Texte damals konkret ausgelegt wurden, ist leider nicht überliefert. Die Tatsache, dass sie in einer religiösen Gemeinschaft als wichtige Zeugnisse aufbewahrt wurden, kann nun zweierlei bedeuten: entweder wurden sie zusammen mit den Regularien zum gemeinschaftlichen Miteinander unter Paaren hinzugezogen oder bereits in dieser Zeit intertextuell gelesen und als Hinweise verstanden, dass in der Liebesbeziehung von Frau und Mann etwas mitschwingt, das den Umgang des liebenden Gottes mit Israel illustriert. Stimmt die Vermutung, dass das Format der Schriftrollen einen liturgischen (oder womöglich seelsorgerlichen) Gebrauch nahelegt, so ist zu vermuten, dass eine – wie auch immer geartete – Kombination aus anthropologischer und theologischer Lesart gepflegt wurde. An dieser Stelle halte ich fest, dass ich mit der Einschätzung sympathisiere, dass dem Hld eine wie auch immer geartete Redaktion widerfahren ist, die dafür sorgte, bei der Lese- und Deutungsgemeinschaft – bis heute – Resonanzmöglichkeiten zu eröffnen. Überdies ist bei einer solchen Redaktion das Vorliegen anderer biblischer Schriften entscheidend hinsichtlich der intertextuellen Bezüge. Seine künstlerische Gestaltung legt also nicht nur eine absichtsvolle Endredaktion des Hlds nahe, sondern auch eine absichtsvolle Komposition, erkennbar an den inhaltlichen Anspielungen auf andere Texte der HB, ganz unabhängig davon, ob dies als Allegorie von Anfang an geplant war oder nicht. Das Hld weist allein durch seine Metaphorik und Erotik über eine eindimensionale Bedeutung hinaus. Eine detaillierte Untersuchung seiner daraus resultierenden Resonanzverhältnisse schließt sich in Kapitel III. an. Bleibt noch, den derzeitigen Forschungsstand zu Autorenschaft und Datierung des Hlds zusammenzufassen.

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Vgl. dazu Heereman 2016, 204–210. Sie stellt die kontroversen Überlegungen von Tov (Textbestand vorhanden) und Ulrich (unterschiedliche Texteditionen) einander gegenüber. Ebd., 212-215.

57 2.3. Autorenschaft und Datierung Eine Bandbreite an Vorschlägen zur möglichen Autorenschaft des Hlds und seiner Datierung existiert entsprechend zu seinen Auslegungs- oder Lesarten. Von ihnen möchte ich drei nennen, die in der Kommentar- bzw. Auslegungsliteratur häufig zu finden sind: Zum einen wird die Autorenschaft König Salomo direkt zugeschrieben.117 Allerdings hat die Glaubwürdigkeit dieser Zuordnung in den letzten Jahren an Überzeugungskraft eingebüßt, da viele sprachwissenschaftliche Untersuchungen eine größere Nähe der HldDichtung zur persisch-hellenistischen Epoche nahelegen. Für die späte Datierung sprächen vor allem die Lehnworte aus dem Persischen und die Nähe zur griechischen Liebesdichtung.118 Die Entstehungszeit bzw. zumindest die Zeit der Endredaktion des Hlds wird daher heute zumeist ins 4.-1. Jh. v.Chr. datiert. Dass einzelne Verse oder Passagen indes auch Liedgut aus früherer Zeit enthalten könnten, wird teilweise noch eingeräumt. Diese Datierung des Hlds in die persisch-hellenistische Zeit kann als allgemeiner Konsens in der alttestamentlich-wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Hld angesehen werden. Ein Hinweis im babylonischen Talmud bringt eine zweite Perspektive ins Spiel. Dort werden Fragen und Antworten zur Reihenfolge und Autorenschaft der biblischen Bücher verhandelt. Es heißt in Abschnitt Baba Bathra 15a,2, dass König Hiskija und seine Mitarbeiter nicht nur für die Verschriftlichung des Hld verantwortlich zeichnen, sondern ebenso für das Buch des Propheten Jesaja, das Sprüchebuch und Kohelet.119 Das würde das Hld sowohl später datieren (7.-6. Jh. v.Chr.), als auch Salomos Autorenschaft entziehen, es aber dennoch in den Bereich höfischer Gelehrsamkeit verorten.120 Da in der rabbinischen Hld-Auslegung jedoch zumeist die Autorenschaft Salomos vorausgesetzt wird, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, ob diese Angabe im babylonischen Talmud eine von Salomo abweichende Autorenschaft nahelegt oder einen späteren Verschriftlich-

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Meist in der rabbinischen Auslegung vgl. Fishbane 2015, xx. Vgl. Hagedorn 2005; Gerhards 2010, 29ff. The William Davidson Talmud; s. auch Liss und Böckler 2011, 5. Das nimmt Keel an und datiert die Entstehung des Hlds ins 8.-6. Jh. mit Option zur späteren Aufnahme weiterer Gedichte, Keel 1992, 9-10; 14.

58 ungsprozess benennt, der der Textsicherung diente.121 Insofern bleibt die eindeutige Zuordnung des Hlds zu einer/einem oder mehreren AutorInnen ungewiss. Ebenfalls nicht abschließend zu klären ist – drittens – die Frage danach, ob unter der/den AutorInnen des Hlds auch Frauen gewesen sein könnten. Einerseits kann argumentiert werden, dass der hohe Redeanteil der weiblichen Figur und die lebensweltlichen Bezüge von Frauen (bspw. Haus der Mutter) einen größeren Raum erhalten.122 Andererseits können genau die gleichen Beobachtungen auch unter einem männlichen Blick versammelt werden.123 In der Tatsache, dass der weibliche Körper in den Beschreibungsliedern weit mehr in den Blick kommt und öffentlicher ist als der männliche, kann ein weiterer Hinweis gesehen werden für männlich geprägte Sichtweisen auf Frauen.124 Gleichzeitig könnte dieser Umstand auch eine weibliche Revolte gegen genau jene gesellschaftlich geprägten Konventionen darstellen, die weibliche Sexualität einschränken und regulieren wollen.125 In dieser Frage ist jede/r Exeget*in erneut mit der Frage nach der persönlichen Prägung und Vorbildung konfrontiert und wird sich deshalb den für sie/ihn jeweils plausibel erscheinenden Begründungen anschließen.126 In Hinblick auf die AutorInnen-Intention wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese sich nicht zweifelsfrei klären lässt. Manch alttestamentliche Theolog*innen liefern überzeugende Argumente für die von Anfang an intendierte allegorische Lesart des Hlds. Andere Theolog*innen liefern überzeugende Argumente für den Wandel der Lesart aufgrund der sich verschiebenden Deutungsmacht-Strukturen antiker und neuzeitlicher Religionsgemeinschaften bzw. deren Durchsetzung durch synagogale oder kirchliche Verantwortungsträger. Abhängig von der eingenommenen Position scheinen die einen oder die anderen Argumente plausibel.

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Letzteres bestätigt Keel, ebd., 9. Brenner 1993, 97; Munro 1995, 145–147; Müllner und Thöne 2012; Thöne 2012; Staubli 2016, 2017. Für weibliche Autorenschaft durch Vergleiche mit griechischer Lyrik argumentiert Burton 2005. Hopf 2015, 76. Clines 1995, 103–105; Brenner 1997, 32; Hopf 2015. Vgl. Pardes 1992, 139–142; Butting 1993, 164–165, 2000, 147–149; Hopf 2015, 93 bezweifelt das. Black 2013, 228–229.

59 Die Vielfalt in Fragen nach der Autorenschaft, AutorInnen-Intention, Datierung und Auslegung des Hld ist heute vermutlich nicht mehr eindeutig zu klären. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Teile des Hlds im Umfeld höfischer Gelehrsamkeit entstanden, tradiert und durch weitere Lieddichtungen ergänzt, im 4.-1. Jh. redaktionell bearbeitet und in den Kanon der hebräischen Bibel aufgenommen wurden, weil es sowohl anthropologischen wie theologischen Ansprüchen damaliger Bibelauslegung und Weltdeutung genüge tat. II. Theorie und Analysemethode: Resonanz, Erotik und biblische Anthropologie Das vorhergehende Kapitel zu den vielfältigen anthropologischen und theologischen Hld-Auslegungen gibt zu denken. Weit davon entfernt nach richtiger oder falscher Bibelauslegung zu fragen, ist die Tatsache einer solchen Bandbreite an Lesarten nicht allein mit der Methodenvielfalt und der Integration prinzipiell stets vorläufiger wissenschaftlicher Erkenntnisse über andere Kulturen zu erklären. Wie sich gezeigt hat, ist die Auslegung biblischer Texte auch vom Kontext und der Sozialisation der Auslegenden abhängig sowie von allgemeinen Gesellschaftsstrukturen, in denen sie einst geschrieben wurden, und in denen sie rezipiert werden. Damit verknüpft sind Menschenbilder, Gottesbilder, Weltdeutungen, Moralvorstellungen, Werte u.v.m. Um die Botschaft des Hlds nicht in dichotomen Auslegungsstrukturen zu verfestigen, muss bedacht werden, dass anthropologische und theologische Auslegungen des Hlds keine Gegensätze darstellen, sondern zusammengehören. Der Ansatz, den ich hier verfolgen möchte, konzentriert sich daher auf Resonanz und Erotik (als besondere Form der Resonanz) als verbindende Elemente anthropologischer und theologischer bzw. kanonischer Bibel-Auslegung. Sie treten zwar in der Beschreibung nebeneinander, sind aber füreinander durchlässig. Die Durchlässigkeit in der Verbindung von anthropologischer und kanonischer Hld-Lesart wird durch die Kombination der methodisch aufbereiteten hermeneutischen Schlüssel in dieser Arbeit illustriert: Resonanz, Erotik und biblische Anthropologie werden miteinander verbunden und bereiten den Boden, aus dem eine kanonische Lesart erst erwachsen kann, die wiede-

60 rum neue Perspektiven für die biblische Anthropologie eröffnet. Das eine ist ohne das andere nicht möglich und alle Methoden sind wesentlich daran beteiligt, dass eine ganzheitliche Hld-Auslegung ermöglicht wird, deren Resonanz- und Transformationspotential enorm ist. Um dieses Potential am Ende aufzuzeigen, gehe ich wie folgt vor: In Kapitel II.1. wird der Resonanzbegriff inhaltlich geklärt und in seiner Anwendung vorgestellt. Es werden die Resonanzparameter beschrieben, die in der Analyse des Hlds zur Anwendung kommen. Kapitel II.1. vermittelt das Grundverständnis der Resonanz, wie es in dieser Arbeit durchgehend eingesetzt und angewendet wird. Das anschließende Kapitel II.2. enthält einen gestrafften Überblick zur Begriffsgeschichte der Erotik als besondere Form der Resonanz, um überzuleiten zur Definition, die in dieser Arbeit verwendet wird. Die Erotik bildet im Kontext dieser Theoriebildung ein wichtiges Bindeglied im Resonanzprozess. Das Hld als erotischer Text soll dabei aber nicht ausschließlich auf den Bereich der Sexualität eingegrenzt werden. Es soll vielmehr im Kontext einer ganzheitlichen Selbst-Welt-Beziehung verstanden werden, die alle Bereiche menschlicher Lebenswirklichkeit berührt und ihre radikale Relationalität betont. Mit der Einführung der resonanten Bezugsfelder in Kapitel II.3. wird eine Dimension der Resonanztheorie aufgegriffen, die im Kontext sozio-religiöser Praxis an Bedeutung gewinnt: Die Ausbildung stabiler resonanter Bezugsfelder in alle Richtungen (horizontal, diagonal, vertikal, zum Selbst). Sie beschreiben die verschiedenen Beziehungen, die für die Liebenden im Hld erkennbar sind. Dazu gehören die Familien- und Naturbezüge und die Resonanz mit Materialien und Kulturgütern aller Art sowie der Geografie des Landes. Der Verbindung von soziologisch-hermeneutischem Ansatz und biblischanthropologischer Lesart des Hlds liegt ein Person Verständnis zugrunde, welches sich aus dem radikal-relationistischen Ansatz der Resonanztheorie einerseits und der hier vorgenommenen Adaption des konstellativen Personbegriffs1 (Kapitel II.4.) andererseits ergibt. Die vielfältigen Lebensbezüge, in denen die Menschen damals in Israel lebten, lassen sich auch im Hld erkennen und werden in Kapitel III. in vier Merkmale eingeteilt: die 1

Ich folge hierin dem von Janowski entwickelten Ansatz des konstellativen Personbegriffs, den er von Assmann für den Kontext der hebräischen Vorstellungs- und Lebenswelt der Bibel übernommen und adaptiert hat. S.v.a. Janowski 2009, 2014, 2019. Vgl. zur konstellativen Anthropologie für das antike Ägypten, Assmann 2012.

61 natürlichen Lebensbedingungen, die kulturellen Lebensformen, die soziogene Entwicklung individueller/personaler Identität und das religiöse Symbolsystem. Diese Merkmale werden mit den vier resonanten Bezugsfeldern (diagonal, horizontal, zum Selbst, vertikal) verknüpft und mithilfe der Parameter der Resonanz und der Definition von Erotik untersucht. Sie dienen dazu, die Resonanzverhältnisse des Hlds zu erfassen und zu beschreiben. Die Analyse wird verdeutlichen, dass die Resonanzverhältnisse eine Transformationskraft entfalten, die fortgesetzte Resonanz ermöglicht und den Kontext der Deutung über den Text des Hlds hinaus radikal relational erweitert. In Kapitel IV. wird diese Erweiterung ausführlich anhand der Beschreibung der kanonischen Lesart des Hlds entfaltet. 1. Der Resonanzbegriff und seine Anwendung Die Moderne steht in der Gefahr, die Welt nicht mehr zu hören und sich eben darum auch selbst nicht mehr zu spüren, so lautet das Fazit meiner eigenen Soziologie der modernen Weltbeziehung. Sie ist unfähig geworden, sich anrufen und erreichen zu lassen.2

So beschreibt Hartmut Rosa das Phänomen des Resonanzverlustes in den von Kapitalismus und Konsum geprägten westlichen Gesellschaften unserer Zeit. In ihnen gelten die Verfügbarmachung von Welt3 und die Ausweitung der individuellen Weltreichweite als Resonanzversprechen, die in die Enttäuschung dieser Erwartung führen müssen, weil Resonanz prinzipiell unverfügbar, d.h. nicht machbar ist. Resonanz ist kein Gefühl oder ein emotionaler Zustand, auch wenn im Resonanzgeschehen Gefühle ausgelöst werden. Sie ist vielmehr als Beziehungsmodus zu verstehen „als eine spezifische Art des Auf-die-Welt-Bezogenseins.“4 Dieses Bezogensein von Selbst und Welt ereignet sich zwischen Menschen, Menschen und Dingen, Tieren, der Natur und Religion mit ihren Gottheiten und Kosmologien. Resonanz 2

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Rosa 2018b, 34. Als Welt erscheinen in Rosas Resonanztheorie „andere Menschen, Artefakte und Naturdinge, aber auch wahrgenommene Ganzheiten wie die Natur, der Kosmos, die Geschichte, Gott oder auch das Leben und nicht zuletzt auch der eigene Körper oder die eigenen Gefühlsäußerungen.“ Rosa 2018a, 331. Ebd., 288f.

62 entsteht überall da, wo Begegnungen in ein dialogisches Verhältnis treten, das Züge eines „wesenhaften inneren Berührens oder Entsprechens und eines wechselseitigen Reagierens im Sinne eines genuinen Antwortens“5 aufweist. Resonanz ist somit als „strikt relationaler Begriff bestimmt.“6 Resonanz entsteht durch Anrufung und Antwort auf diese Anrufung, was gleichzeitig bedeutet, dass Anrufende/s und Antwortende/s über eine je eigene Stimme verfügen müssen, um in diesen Beziehungsmodus einzutreten.7 Resonanz ist kein Echo, sondern Dialog. Im Resonanzgeschehen wird das Subjekt durch Welt affiziert, d.h. berührt und bewegt und antwortet auf diese Affizierung mit Emotion und Handlung, berührt und bewegt selbst, entsprechend der individuellen Selbstwirksamkeitserwartung.8 Dieser Beziehungsmodus ist nicht planbar im Sinne einer quality time. Resonanz ist und bleibt grundsätzlich unverfügbar: „Ein Spezifikum der Resonanz ist es daher, dass sie sich weder sicher erzwingen noch garantiert verhindern lässt.“9 Der Grund, warum Menschen überhaupt in der Lage sind in Beziehungsmodi (Resonanzen) mit anderen/m einzutreten, liegt darin, dass sie sich von Beginn an in eine Welt hineingestellt finden, zu der sie sich in Beziehung setzen. Zu dieser Welt möchten sie eine gelingende Weltbeziehung aufbauen, die zum guten Leben beiträgt. Was das gute Leben beinhaltet mag individuell unterschiedlich sein, aber in Hinblick auf die subjektiven Grundvoraussetzungen zur Resonanzerfahrung geht es, nach Rosa, stets um die Verknüpfung von starken und schwachen Wertungen mit Selbstwirksamkeitserwartungen. Letztere stehen mit zwei Weltbeziehungsmodi in Verbindung, die Rosa als „Angst und Begehren“10 bezeichnet. Er versteht 5

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Ebd., 101. Ebd., 285. A.a.O.; ebd., 298. Rosa bezieht sich beim Konzept der Selbstwirksamkeit auf den kanadischen Psychologen Albert Bandura, der Ende der 1970er Jahre self-efficacy folgendermaßen definierte (Rosa übersetzt selbst): „Die Menschen schreiben ihrem eigenen Handeln kausale Wirkmacht zu. Für das Verständnis ihres Verhaltens ist nichts wichtiger und durchschlagender als die Überzeugungen, die Akteure bezüglich ihrer Fähigkeiten haben, ihre eigenen Handlungen und deren Effekte auf die Umwelt sowie die relevanten Umweltereignisse selbst zu kontrollieren. Wirksamkeitserwartungen beeinflussen daher, wie Menschen denken, wie sie fühlen, wie sie sich motivieren und wie sie handeln.“ Ebd., 270-271. Rosa 2018b, 44. Rosa 2018a, 187.

63 sie „als die grundlegenden Triebkräfte und existentiellen Seinsweisen des Menschen …, wenn sie als Angst vor Entfremdung, das heißt vor einem Stumm- und/oder Feindlichwerden der Welt und vor einem korrespondierenden Beziehungsverlust, und als Resonanzbegehren gedeutet werden.“11 Wovor Menschen sich fürchten und was sie begehren ist vielfältig und unterschiedlich, aber es formt „die Konturen des Subjekts und der Welt,“12 in der sich das Subjekt vorfindet. Wie mit den Erfahrungen von Attraktion (Resonanz- bzw. Beziehungsbegehren) und Repulsion (Entfremdung; Angst vor Resonanz- bzw. Beziehungsverlust) umgegangen wird, hat wiederum Auswirkungen auf die Qualität der Selbstwirksamkeit. Kurz: im Allgemeinen gilt, dass sich eine gelingende Weltbeziehung entwickelt, wenn der Umgang mit Angst- und Begehrenserfahrungen für das Subjekt zufriedenstellend verläuft und zur Stabilisierung oder Steigerung der Selbstwirksamkeit beiträgt. Wer erwartet, dass sie/er in einer Begegnung berührt/erreicht wird und zu berühren/zu erreichen vermag, fördert das Zutrauen in die eigene Selbstwirksamkeit.13 Besonders wichtig für positive Selbstwirksamkeitserfahrungen ist dabei interessanterweise nicht allein der Erfolg, ob also Selbstwirksamkeit im gestalterischen, instrumentellen Sinne erfolgreich angewandt und erfahren wurde, sondern das relationale Moment. Wer erlebt, dass sie/er andere/s erreichen kann, i.S. einer „sich im Prozess ergebenden Wechselwirkung,“14 die/der fühlt sich selbstwirksam. Es ist die Erfahrung der Dialogizität, das Aufeinander-Antworten, welches eine positive Einstellung zur eigenen Selbstwirksamkeit bewirkt. Insofern ist die Selbstwirksamkeit ein sich soziogen entwickelndes Phänomen, das im wechselseitigen Austausch und in der Begegnung mit anderen/m entsteht.15 Diese Selbstwirksamkeitserfahrungen wiederum steigern das intrinsische Interesse an der Welt, der Begeg-

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Ebd., 194-195. Ebd., 189. Ebd., 272-273. Ebd., 274. Dieselbe Wechselwirkung lässt sich auch für Kollektive voraussetzen: „In Formen des gemeinsamen Handelns machen Individuen nicht nur die Erfahrung sozialer Resonanzbeziehungen, in denen sie sich wechselseitig erreichen, antworten und verstärken, sondern sie erleben auch ihre Fähigkeit, etwas erreichen und bewegen zu können, mithin also gleichsam weltwirksam zu sein.“ Ebd., 275.

64 nung mit ihr und generieren Resonanzerwartung, die eine Offenheit für Affizierungen mit sich bringt.16 Doch nicht allein die Selbstwirksamkeitserwartung und -erfahrung macht gelingende Weltbeziehungen möglich, dazu gehört auch der Bereich der starken und schwachen Wertungen.17 Das Konzept gelingenden Lebens, stützt sich in der Lebensführung der Subjekte auf eine „moralische Landkarte,“18 die den Rahmen für eine gelingende Weltbeziehung und ein gutes Leben absteckt. Je nach Weltausschnitt, in den das Subjekt hineingestellt ist, gibt es gesellschaftliche Normen, Werte, ethische Vorstellungen, Erstrebenswertes, Wertvolles und Wichtiges, das jeweils vom Gegenteil zu unterscheiden ist. Ein Subjekt muss diese Normen und Werte nicht zwingend selbst begehren, aber sie sind unabhängig von dessen eigenen Wünschen allgemein wichtig und betreffen sie, gehen sie etwas an. Das macht sie zu starken Wertungen.19 Komplementär zu diesen starken Wertungen gibt es die Dimension der schwachen Wertungen. Sie beziehen sich vorwiegend auf die Objekt- und Handlungsebene und somit auf den subjektiv unterschiedlich gestaltbaren Weltausschnitt. Dort werden Objekte oder Handlungsweisen als positiv (oder negativ) bewertet, weil ihr Gebrauch dem subjektiven Willen entspricht und Lust oder Spaß erzeugt (oder nicht). Allerdings fehlt dabei die Dimension einer inneren Berührung, da schwache Wertungen für sich genommen nicht allgemein wichtig sind und kein dialogisches Selbst-WeltVerhältnis herstellen, sondern eine Echokammer erzeugen.20 Da Menschen mit der Welt „begehrend-affektiv“21 und „bewertend-kognitiv“22 in Beziehung treten, schlussfolgert Rosa, dass sich eine Resonanzer16

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Ebd., 273-274. Erfahrungen misslingender Selbstwirksamkeit würden entsprechend gegensätzliche Auswirkungen auf die Menschen haben, ihre Selbstwirksamkeitserwartungen schmälern und ihre Resonanzerwartung reduzieren. Wer nicht erlebt, dass sie/er andere erreichen kann, zieht sich zurück, entfremdet sich. Aber auch eine übersteigerte Selbstwirksamkeit, die sich nur noch auf Aneignung und Verfügbarmachung von Welt und Reichweitenvergrößerung ausrichtet, führt zu verstummender Selbst-Welt-Beziehung (vgl. ebd., 275-281). Hierfür bezieht sich Rosa auf Taylor, ebd., 226ff. Ebd., 227. Ebd., 226-228. Ebd., 228-229. Ebd., 230. Ebd., 231.

65 fahrung erst dann einstellt, wenn subjektiv individuelle, schwache Wertungen mit den kollektiven starken Wertungen „momenthaft übereinstimmen beziehungsweise wo beide Dimensionen unseres normativen Bezogenseins zugleich angesprochen werden und sich in einer Balance befinden.“23 Wo die persönlichen schwachen Wertungen mit den sozial-gesellschaftlichen starken Wertungen übereinstimmen, wird eine Resonanzerfahrung ermöglicht, d.h. dass ein Beziehungsmodus zwischen Subjekt und Welt zustande kommt, der affiziert und transformiert. Die Transformation der Selbst-Welt-Beziehung gestaltet sich in der Resonanz stets radikal relational, weil nicht nur das Selbst „variiert, sondern … Welt …ko-variiert.“24 Ganz unabhängig davon, ob Welt sich tatsächlich verändert hat oder durch die Wahrnehmung des Selbst verändert ist, beide sind nicht mehr wie zuvor.25 Dieses dynamische Aufeinander-Bezogensein von Selbst und Welt ist untrennbar mit der Resonanzerfahrung verknüpft, in der Welt nicht angeeignet und verfügbar gemacht wird, sondern in der Welt anverwandelt26 wird. Grundvoraussetzung für die Anverwandlung ist, dass ein Dialog „die eigene Stimme dieses Anderen und damit dessen Unverfügbarkeit konstitutiv anerkennt.“27 Es geht nicht um Aneignung, Verfügbarmachung, sondern um transformierenden Dialog. In einem solchen resonanten Anverwandlungsprozess, verflüssigt sich die (bisherige) SelbstWelt-Beziehung und wird in eine veränderte transformiert. Gleichwohl entspricht der Verflüssigung der Selbst-Weltbeziehung nicht eine Auflösung von Selbst oder Welt in ozeanischem Gefühl, denn der Verlust der eigenen Stimme würde ja Resonanz verunmöglichen. Es handelt sich eher um eine Durchlässigkeit der Selbst-Welt-Beziehung, die einerseits eine Verwischung der Konturen verhindert (um des Erhalts der eigenen Stimme willen), aber gleichzeitig offen ist für einen dialogischen, affizierenden Austausch, der Transformationspotential freisetzt. Daher bezeichnet Resonanz

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A.a.O. Ebd., 63. Vgl. hierzu Rosa 2018b, 42. Rosa benutzt Anverwandlung und Transformation mehr oder minder als synonyme Begriffe, vgl. ebd., 41-42. Rosa 2018a, 326.

66 eine genuine „Begegnung mit einem anderen als Anderem, nicht die Verschmelzung zu einer Einheit.“28 In der Transformation verändern sich Selbst und Welt in radikal relationaler Weise. Welt ko-variiert mit dem variierenden Selbst, aber beide behalten ihre jeweils eigene Stimme. Beide verändern sich, sind nicht mehr wie zuvor, bieten aber dadurch neue Anknüpfungspunkte für weitere affizierende Begegnungen mit den/m Anderen und ermöglichen weitere Transformationsprozesse.29 Diese Veränderungen sind weder planbar noch verfügbar und grundsätzlich ergebnisoffen. Ob sich nachhaltige oder vorübergehende Veränderungen eingestellt haben, ist im Grunde erst am Ende des Anverwandlungsprozesses erkennbar.30 Zusammengefasst kann Resonanz als Beziehungsmodus gelten, der sich zwischen dem von Beziehungsverlust, Entfremdung und Resonanzbegehren angetriebenen Selbst und dessen Welt ereignet. Resonanz ist unverfügbar, sie entsteht dort, wo Selbst und Welt sich berühren und bewegen, und die normative Bezogenheit des Selbst auf seine Welt in schwachen und starken Wertungen zusammentrifft. In diesem dialogischen Beziehungsmodus wird das selbstwirksame Selbst Welt anverwandeln. In dieser Anverwandlung verändert sich die bisherige Selbst-Welt-Beziehung, sie transformiert Selbst und Welt gleichermaßen. Diese veränderte Selbst-Welt-Beziehung ist wieder offen für neue Affizierungen. Resonanz als Beziehungsmodus ist nicht als Harmonisierung oder Konsonanz zu verstehen, sondern als wechselseitige Bewegtheit und Berührung, die den Transformationsprozess anstößt aus dem sich sowohl Selbst als auch Welt verändert wieder neu konstituieren. Anhand dieser Eckpunkte zur Bestimmung des Resonanzbegriffs nenne ich fünf Parameter in Rückbezug auf Rosa, die in der weiteren Analyse dazu dienen, die Resonanzverhältnisse des Hlds zu beschreiben:

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Ebd., 743. Ebd., 211ff; 325f. Rosa 2018b, 44.

67 Resonanz als Beziehungsmodus beinhaltet folgende fünf Parameter:31 1. Unverfügbarkeit: Resonanz ist grundsätzlich unverfügbar, sie kann nicht erzwungen oder gemacht werden. 2. Affizierung: Selbst und Welt werden wechselseitig berührt und bewegt (Emotion). 3. Antwortbeziehung: Selbst und Welt rufen an und antworten mit ihren je eigenen Stimmen; sie treten in einen Dialog ein, in dem Welt anverwandelt wird. 4. Selbstwirksamkeitserwartung: im Kontext einer momenthaften, ausbalancierten Wertungsdimension des Selbst (starke und schwache Wertungen stimmen überein), im Verbund mit intrinsischen Interessen, wird erwartet, erreicht zu werden und andere/s zu erreichen. 5. Transformation: verflüssigte Selbst-Welt-Beziehungen verändern sich in ergebnisoffener radikal relationaler Weise, i.e. Welt ko-variiert mit dem variierenden Selbst. Für eine systematische Untersuchung werden die fünf Parameter Unverfügbarkeit, Affizierung, Antwortbeziehung, Selbstwirksamkeit und Transformation an den Hld-Text herangetragen. Sie sind eng verbunden mit den resonanten Bezugsfeldern (Kapitel II.3.) und dienen in der Analyse (Kapitel III. und IV.), gemeinsam mit der Erotik, zur Beschreibung der jeweiligen Resonanzverhältnisse. 2. Erotik und ihre Bedeutung in der Hohelied-Auslegung Das Hld gilt als erotische Dichtung, die aufgrund ihrer Thematik (Liebe, Leidenschaft) ein besonderes Affizierungs- und Resonanzpotential bietet. Liebe, Leidenschaft, Erotik transformieren die Selbst-Welt-Beziehung insgesamt und werden von Rosa als „vibrierender Draht zur Welt“ bezeich-

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Rosa entwickelt vier Kriterien der Resonanz, in denen auf unterschiedliche Weise die Dialogizität mit vorkommt (vgl. Rosa 2018a, 298 mit Rosa 2018b, 39–44). Aufgrund des vorliegenden Themas erschien es mir allerdings geboten, die Antwortbeziehung als eigenständiges Kriterium aufzuführen, weil diesem Punkt angesichts der Dialogstruktur des Hlds besondere Aufmerksamkeit zukommt. Vgl. hierzu Rosas fünf Kriterien der Resonanz in Peters und Schulz 2017, 315–316.

68 net.32 Da Erotik im Kontext dieser Arbeit eine erweiterte Bedeutung gewinnt, die über eine sexuell konnotierte hinausgeht, ist eine ausführlichere Herleitung vonnöten. Sie soll am Ende ein radikal relationales Verständnis von Erotik ermöglichen, wie es dieser Arbeit zugrunde liegt. Etymologisch leitet sich das Wort Erotik aus dem griechischen Verb eramai ab, „welches heftig begehren, verlangen, lieben meint.“33 Der Gott Eros geht bei dem Dichter Hesiod (7. Jh. v.Chr.) aus dem anfänglichen Ur-Chaos hervor und trägt eher unheimliche Züge. Die Dichterin Sappho (6. Jh. v.Chr.) benennt Eros in seiner Ambivalenz als ein „süß-bitteres, unüberwindliches/heilloses, kriechendes Untier.“34 Bei Platon (5.-4. Jh. v.Chr.) entfaltet der Eros verschiedene Aspekte. Er kann die Suchbewegung nach der anderen Hälfte des vormals ungeteilten Menschen bezeichnen oder zum allgemeinen Streben nach dem Guten anleiten. Allerdings bleibt er eine sich in körperlichen Symptomen zeigende Kraft, die den Verstand auszuschalten vermag und der nur zu wehren ist, indem diese Eros-Kraft auf andere Objekte umgeleitet wird und sich im Begehren und Verlangen nach „dem Guten, Wahren und Schönen, dessen Erlangung Glückseligkeit bringt“35 ausdrückt. Der Körper, oder besser der Aspekt der körperlichen Erotik, bleibt bei Platon auf die Zeugung von Nachkommen beschränkt und wird in seiner darüber hinaus gehenden Ausrichtung auf den Körper eher als tierisches Verhalten gesehen. Die tendenzielle Abwertung der körperlichen Aspekte des Begehrens und Verlangens geschieht zugunsten einer Ausrichtung auf die Unvergänglichkeit, die Unsterblichkeit, die im dualistischen Verständnis menschlicher Existenz von Körper und Seele (oder trichotomisch: Körper-Geist-Seele) ihren intellektuellen Ausdruck findet. Der Körper ist der vergängliche Teil menschlicher Existenz, die Seele der unsterbliche. Das Begehren und Verlangen der Seele ist höher bewertet als das Begehren und Verlangen des Körpers. Ein allein auf den Körper gerichteter Eros ist somit ein „fehlgeleiteter.“36 32

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Rosa 2018a, 24; 139. Heimerl 2009, 20. Woher das Wort genau kommt, ist ungeklärt. A.a.O. Ebd., 21-22. Heimerl verweist hier auf Platons Schriften (Symposion und Phaidros), in denen der Eros konzeptualisiert wird. Vgl. auch Bubers Beschreibung des griechischen Eros Verständnisses (Buber 2019b, 138–139). Heimerl 2009, 22.

69 In der HB gibt es neben den Schöpfungserzählungen auch andere Kontexte, die verdeutlichen, dass Erotik durchaus ambivalent wahrgenommen wird, wenngleich sie nicht personifiziert ist, sondern als Kraft am und im Menschen wirkt. Es sind die Verhaltensweisen der Menschen, und auf was ihre Herzen gerichtet sind, die darüber entscheiden, ob sexuelles Begehren und Liebesverlangen zum Problem wird (auch für die ganze Gemeinschaft) oder nicht. Die erotische Leidenschaft wird entsprechend durch verschiedene Aspekte nicht gelingender und gelingender gelebter Sexualität thematisiert.37 Für den Kontext der HB ist zum einen auf die Erzählungen über Vergewaltigungen oder sexuelle Gewalt zu verweisen, die nicht nur schreckliche Auswirkungen für die Opfer haben, sondern im weiteren Verlauf zumeist zu Mord und Totschlag Einzelner oder ganzer Sippen führen (vgl. Gen 34; Ri 19-20; 2 Sam 13).38 Zum anderen ist jedoch das Hld geradezu eine Feier erotischer Liebe, Lebensfreude, Fülle und gegenseitigen Begehrens. Sogar das Sprüchebuch kann nicht umhin zu empfehlen, dass die fortgesetzte geglückte Sexualität innerhalb einer Liebesbeziehung zu einem insgesamt guten Leben beiträgt (vgl. Spr 5,15-19; vgl. auch Koh 9,7-10), während Sexualität auf Abwegen (Ehebruch) zu ernsthaften und zerstörerischen Konsequenzen führt (Spr 6, 20-34; 7). Im christlichen Rezeptionsprozess erfuhr das biblische Zeugnis zur Ambivalenz des Eros Veränderung. Im Verlauf der christlichen Kirchenlehre wurde der entpersonifizierte Eros einerseits in seiner körperlichen Begehrensdimension abgewertet, domestiziert und als Zeichen selbstbezogener Bedürfnisbefriedigung wahrgenommen, dem allein in der Zeugung von Nachkommen noch eine Existenzberechtigung zukam. Andererseits äußerte er sich als geistliche Heilssehnsucht, die sich nach Gott als Gegenüber sehnt und ausstreckt, bei dem allein alles Begehren gestillt werden kann.39 Besonders anschaulich vermittelt dies die mittelalterliche Brautmystik, deren VertreterInnen das Begehren nach der Vereinigung der Seele mit Jesus Christus (oder Gott) z.T. in einer Art und Weise beschreiben, die einer existentiellen (ekstatischen) Erfüllung und Befriedigung gleichkommt, die zwar 37

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Vgl. hierzu Fischer 2021a. In den Kapiteln V.-VIII. werden gelingende Beziehungen, enttäuschte Erwartungen, Belastungen und der Festcharakter der Sexualität thematisiert. Siehe zum Thema sexuelle Gewalt auch ebd., 133-158. Vgl. Heimerl 2009, 29–30

70 körperlich erfahren wird, aber geistlich überformt und gedeutet ist.40 Seither haben viele Entwicklungen dazu beigetragen, die Ambivalenz des Eros weiter zu pflegen. Die von Freud Ende des 19. Anfang des 20. Jh. entwickelte Psychoanalyse greift ein dualistisches Kräfteverhältnis zwischen Eros und Thanatos auf. Freud qualifiziert sie als Primärtriebe im Menschen: Eros, der Lebenstrieb, und Thanatos, der Todestrieb. Dies geschah aufgrund einer folgenschweren Voraussetzung Freuds: „Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.“41 In Übereinstimmung mit seiner Theorie des Wiederholungszwangs, der die Lebensführung nach dem Lustprinzip42 noch übersteigt, sind die Triebe stets auf Regression gerichtet, wollen also einen früheren Zustand wieder herstellen. In der Annahme, dass der frühere Zustand der der Unbelebtheit war, scheint der Todestrieb dem Lebenstrieb überlegen. Allerdings gibt es in der Sexualität eine Einschränkung, denn die Sexualtriebe werden zu den „eigentlichen Lebenstrieben; dadurch, daß sie der Absicht der anderen Triebe … entgegenwirken.“43 Dennoch hält Freud auch den Sexualtrieb nur für eine Verzögerungsstrategie auf dem Weg in die unvermeidliche Regression, das Lebensende, den Tod. In Rückbezug auf Platons Symposion und der dort

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Vgl. exemplarisch: die Schriften zum Hld von Bernhard von Clairvaux in: Schellenberger 2018; Mechthild von Magdeburgs Nachdichtung zum Hld, in: Mechthild von Magdeburg 2003; das St. Trudperter Hohelied in: Haug et al. 1998, eine Nachdichtung zum Hld zur Kontemplation für Nonnen, und die Gedanken zum Hld von Teresa von Avila, in: Avila 2011, 54–127. Freud 2016, 1387. Nach Freud ist der Mensch stets darum bemüht, Unlust zu vermeiden und Lust zu erzeugen, zu erreichen und handelt nach diesen Maximen, insofern nicht der Wiederholungszwang den Lustgewinn vorübergehend aussetzt. Sollte es doch etwas im Menschen geben, das dem Todestrieb entgegenstehe, dann kann es sich nur um verdrängte Triebe handeln, die in ihrer Sublimierung Kulturschaffen ermöglichen, aber früher oder später nach voller Befriedigung drängen: „Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten ‚unbändig weiter vorwärts dringt‘ (Mephisto im Faust, I, Studierzimmer).“ Ebd., 1391-1392. Ebd., 1390.

71 verhandelten Entstehung des Geschlechtstriebs,44 sieht er seine Theorie bestätigt, dass die Regression das Ziel des Lebens ist, also die Wiederherstellung eines früheren Zustandes: bei Platon die Einheit des Menschenwesens, bei Freud der Zustand der Unbelebtheit.45 Was lässt sich aus den vorherigen Darstellungen für die Resonanztheorie ableiten? Zunächst ist zu betonen, dass Erotik das Element der Sozialität und Relationalität enthält.46 Bei der Erotik geht es nicht nur um das Subjekt, 44

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In Platons Symposion ist es Aristophanes, der das ursprüngliche „dreifache Zwittergeschlecht“ ins Spiel bringt, das nach seiner Teilung fürderhin permanent nach der Wiedervereinigung strebt. Zeus hatte das vormals ungeteilte Wesen zerschnitten, um seine Kraft zu vermindern, weil es die Götter selbst herausforderte und so sein wollte wie sie (Platon 2018). Gedanken, die Freud überdies bereits in den indischen Upanishaden aus dem 8. Jh. v.Chr. fand und die seine grundsätzliche Theorie der Regression stützen. Freud 2016, 1407–1408. Clemente hält Freuds Auslassung der biblischen Schöpfungserzählungen in seiner Theorieentwicklung (Jenseits des Lustprinzips), die immerhin mythologische und religiöse Lehren der griechischen und indischen Antike aufnimmt, für des Pudels Kern, weil sie der Theorie des Todestriebs fundamental widersprächen. Die Genesis-Erzählungen stellten dem Freud’schen Todestrieb einen Schöpfergott gegenüber, der nicht nur selbst das Leben ist, sondern es auch geschaffen hat. Wenn Gott den Menschen und seine Lebenskraft geschaffen hat und der Tod erst die Konsequenz aus der Verfehlung des Lebensziels des Menschen ist, dann bedeutet das, nach Freud‘scher Terminologie, dass der vorherrschende Regressionstrieb zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, Eros (der Lebenstrieb) ist, nicht Thanatos (der Todestrieb). Clemente 2020, 16–18. Ich möchte kritisch anmerken, dass Gott in Gen 2 den Menschen aus Erde schuf und dieser erst durch das Einhauchen des Atems ein lebendiges Wesen wurde. Dies entkräftet Freuds Hypothese m.E. zunächst nicht, denn dann stünde Unbelebtheit auch hier am Ursprung des Lebens. Der Einbruch des Todes nach dem Sündenfall kleidet den Regressionstrieb in biblische Worte: „Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ (Gen 3,19, LU17) Mit der psychoanalytischen Terminologie ist insofern nichts auszurichten als sie ein Kampfszenario befördert, das sich theologisch im Beziehungsgeschehen auflösen muss, wo es letztlich nicht um Lebens- oder Todestrieb geht, sondern um Beziehungsbegehren und Entfremdung/Beziehungsverlust und das eine im anderen (s.u. Buber). Bei Buber heißt es über die Ausdrucksformen des Eros: „Da streift ein Verliebter umher und ist nur in seine Leidenschaft verliebt. Da trägt einer seine differenzierten Gefühle wie Ordensbänder. Da genießt einer das Abenteuer seines Faszinierens. Da schaut einer entzückt dem Spektakel seiner eignen vermeintlichen Hingabe zu. Da sammelt einer Erregungen. Da läßt einer die »Macht« spielen. Da plustert sich einer mit fremder Vitalität auf. Da vergnügt sich einer, zugleich als er selbst und als ein ihm sehr unähnliches Idol vorhanden zu sein. Da wärmt sich einer am Brand des ihm Zugefallenen. Da experimentiert einer. Und so fort und fort – … Sie fassen alle in die Luft. Nur wer den andern

72 das ein Objekt begehrt und einem Trieb folgt, sondern um die zuallererst dem Subjekt vermittelte Fähigkeit zu begehren, die als Dynamik der Zugewandtheit bezeichnet werden kann und von der Geburt an durch Kommunikation und Begegnung entsteht und gefördert wird (Körpersprache, Sinnlichkeit, Kognition etc.).47 Des Weiteren ist Begehren allein noch keine Erotik, sondern Begehren in einem bestimmten Sozialitätskontext, der zuerst die Dimensionen dessen umschreibt, was überhaupt begehrenswert ist, weil es mit starken und schwachen Wertungen aufgeladen ist.48 Gleichzeitig scheint auch ein Gegenpol nötig, der dem Begehren Grenzen setzt, um einerseits vor Schaden zu bewahren und andererseits das Begehren noch zu verstärken. Angst und Begehren tauchen bei Rosa entsprechend als sozial-philosophisch entwickelte Phänomene auf.49 Angst und Begehren präsentieren sich als „elementare Formen der Weltbeziehung“, die sich in Attraktion oder Repulsion ausdrücken.50 Sie begründen „die Beziehungsqualität unserer Weltbeziehung“ und „formen und bilden … die Konturen des Subjekts und der Welt.“51 Sowohl die Erfahrung von Angst und Begehren, als auch der Umgang mit ihnen, entscheiden über die jeweilige Beziehungsqualität unserer Weltbeziehung. Rosa begreift sie „als die grundlegenden Triebkräfte und existentiellen Seinsweisen …, wenn sie als Angst vor Entfremdung … und vor einem korrespondierenden Beziehungsverlust und als Resonanzbegehren gedeutet werden,“52 also als „Beziehungsbegehren.“53 Angst und Begehren äußern sich zwar in menschlichen Erfahrungen, bevölkern Erinnerungen und treiben zu ihrer eigenen Vermeidung bzw. zu ihrer Erfüllung

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Menschen selber meint und sich ihm zutut, empfängt in ihm die Welt. Nur das Wesen, dessen Anderheit, von meinem Wesen angenommen, ganz existenzdicht mir gegenüberlebt, trägt mir die Strahlung der Ewigkeit zu.“ Buber 2019b, 139–140. Vgl. Lüthi 2001, 61ff. Rosa bezieht sich auf Charles Taylor’s Theorie zu den starken und schwachen Wertungen und auf Max Weber’s Kulturbegriff, die als „Basis für die Entwicklung aller kultureller und kognitiver Selbst- und Weltverständnisse“ dienen und „unhintergehbar“ sind. Rosa 2018a, 188. Zum Begriff der starken Wertungen siehe noch ausführlicher das nachfolgende Kapitel 2.2. Vgl. Rosa 2018a, 187. A.a.O. Ebd., 189. Ebd., 194-195. Rosa 2018b, 119.

73 an, bleiben aber „in ihren Tiefenstrukturen un-heimlich.“54 Die Angst vor Entfremdung/Beziehungsverlust und das Beziehungsbegehren sind die resonanztheoretisch übersetzten Freud’schen Primärtriebe, die sich in ihrer Zielrichtung jedoch von der Regression zu lösen vermögen. Sie ermöglichen vielmehr ein präsentisches Verständnis von Resonanzerfüllung. In der grundsätzlichen Unverfügbarkeit von Resonanz wird ein erfüllter Moment des Beziehungsbegehrens ermöglicht, in dem sich die Angst vor Entfremdung aufgelöst hat. Im Resonanzmoment und seiner „transitorischen“ Qualität,55 tritt ein ergebnisoffenes Transformationspotential der Selbst-WeltBeziehung in Kraft, das weitere Resonanzmomente ermöglicht. Rosa geht es also nicht um Regression, die Herstellung eines früheren Zustandes, sondern um die Anerkennung der radikalen Unverfügbarkeit des Todes als existentielle Realität des menschlichen Lebens. Ein Resonanzverhältnis ist mit dem Tod nicht möglich, wohl aber mit „der eigenen Endlichkeit, denn das heißt: auf das Leben und die Lebendigkeit, hörend und antwortend reagieren.“56 In dieser Hinsicht stimmt Rosa überein mit einer biblischen Perspektive auf das Lebensende: Der natürliche Tod als ultimative Angst vor Beziehungsverlust ist für die biblischen Menschen eine Realität des Lebens mit Erinnerungsfunktion: er macht die Menschen dessen eingedenk, dass sie ihr Leben, die Lust am und zum Leben nur begrenzt genießen können und daher umso eifriger nach dem Beziehungs-Leben trachten sollen.57 Die Realität des Todes setzt dem

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Rosa 2018a, 202. Ebd., 204. Rosa 2018b, 95. Selbstmord, Sterbehilfe oder gewaltsam herbeigeführter Tod sind Verfügbarmachungen des Todes, die aber in der Verstummung des Selbst-Welt-Verhältnisses enden und daher keine Resonanz ermöglichen, ebd. 95-97. Vgl. ein exemplarisches biblisches Beispiel mit resonanztheoretischen Parametern in Klammern: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig [Beziehungsbegehren]! Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang [erotische Affizierung]. Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden [Entfremdung, Beziehungsverlust]. Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern [Transformationserwartung; fortgesetztes Beziehungsbegehren]. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern [Selbstwirksamkeitserwartung]!“ Ps 90,12-17 (LU17)

74 Leben eine Grenze, und stellt in der ultimativen Selbsthingabe eine große Herausforderung für die Menschen dar, nämlich alles loszulassen, was ein Mensch liebt … Dieses Loslassen des eigenen Lebens und des geliebten Gegenübers ist die größte Forderung und Herausforderung des Todes an die Liebe. Daß darin die Liebe den Tod überwindet, ist die eschatologische Antithese zu der Vermutung des Unglaubens, daß der Tod das letzte Wort behalte – auch gegenüber der Liebe.58

Der Tod wird auch an anderen Stellen in der Bibel nicht als das letzte Wort vernommen, bspw. in Abrahams Vertrauen auf den Gott des Lebens als er seinen einzigen Sohn Isaak opfern soll (Gen 22) oder auch in der eschatologischen Hoffnung der Auferstehung der Toten, die Jesus Christus durch die Überwindung des Todes am Kreuz erlangt hat (vgl. Mt 28,6ff., Mk 16,9ff., Lk 24,5ff., 1 Kor 15,12ff., 1 Thess 4,13ff.). Der Tod wird hier als Oppositionsmacht zum Lebenstrieb entkräftet.59 So bleibt zuvorderst der Eros als Lebenstrieb, als Lebendigkeit, das bestimmende Element menschlicher Lebensgestaltung nach biblischem und resonanztheoretischem Entwurf. Angst vor Beziehungsverlust und Beziehungsbegehren können weiterhin als grundlegende Erfahrungsdimensionen menschlicher Lebensrealität aufgefasst werden. Sie konstituieren eine dynamische Spannung, die die Menschen in ihrer Lebensgestaltung ausbalancieren und gestalten können.60 Es lässt sich also Folgendes festhalten: Reduziert sich die Angst vor Beziehungsverlust durch die tragende Erfahrung stabiler Beziehungen, bewirkt dies eine erhöhte Selbstwirksamkeitserwartung und eine hohe Bereitschaft, sich der Welt und anderen zuzuwenden und neue Erfahrungen zu sammeln, die – ob repulsiv oder attraktiv – jeweils integriert werden 58

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Härle 2000, 633–634, vgl. Hld 8,6: Stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie Scheol ist Leidenschaft, ihre Flammen sind Feuerflammen, eine Flamme Jahs. Vgl. dazu Clemente 2020, 18–19. Als biblische Referenz für dieses grundlegende Beziehungsbegehren führe ich Gen 2,1825 an. Dort heißt es, dass die Einsamkeit des Menschen ein Zustand ist, der nicht gut ist und dem abgeholfen werden muss; zunächst durch die Schöpfung der Tierwelt, die jedoch keine adäquate Entsprechung liefert, weshalb aus dem Menschen dann schließlich Frau und Mann entstehen, einander entsprechende Gegenüber. Vgl. dazu auch Vogels 1978; Fischer 2017, 310–311. Nach der Vertreibung aus dem Paradies muss das Beziehungsbegehren der Menschen zueinander und zu Gott sozusagen unter veränderten Vorzeichen neu erlernt und ausbalanciert werden (vgl. Gen 3,16-23; 4).

75 können. Dadurch wird den Menschen ein Auf-die-Welt-Bezogensein ermöglicht, das auf lebendiges Beziehungsleben hinzielt. Dieses ist gekennzeichnet durch ein umfassendes, radikal relationales Aufgehobensein in der Welt, die Schöpfung Gottes ist; es zeigt sich in Beziehungen zu anderen Menschen (und Tieren, der Natur) und zu sich selbst, die alle Geschöpfe Gottes sind und in einer von Gott gestifteten Beziehung, die sich als angstfreie und erfüllende Lebensweise präsentiert, in der Gott selbst die Quelle allen Lebens ist. Ist Gott die Quelle allen Lebens, dann ist die Lebenslust des Menschen, sein Drang nach Lebendigkeit, eine erotische Disposition, die als Schöpfungsgabe gelten kann und radikal relational Selbst und Welt aufeinander bezogen sein lässt, um füreinander Leben zu ermöglichen. Diese erotische Disposition zeigt sich in Momenten der erotischen Affizierung, wenn „Körper und Geist gewissermaßen in Resonanzbereitschaft versetzt und für die Präsenz des Anderen maximal [ge]öffnet“61 sind. Die Weltbeziehung des Selbst wird durchlässig in der erotischen Attraktion und kann sich „auch auf andere Weltsphären als den Körper ausbreiten ... und dann als erotische ... Weltbeziehung“62 auftreten. Im Kontext dieser erotisierten Weltbeziehung steht denn auch die Haltung einer Welt-Zugewandtheit der einer Welt-Verfügbarmachung gegenüber.63 61

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Rosa 2018a, 139. Rosa verwendet den Begriff der erotischen Attraktion synonym zu dem des Verliebtseins. Ebd., 141-142. Es geht mir anders als Marcuse aber nicht um eine panerotische, grenzenlose erotische Attraktion, sondern um eine kontextuelle, wie ich weiter unten noch näher beschreibe. Ebd., 139. Rosa bezieht sich v.a. auf Marcuse, dieser wiederum bezieht sich in der Definition von Eros und Triebstrukturen auf Sigmund Freud. Vgl. ebd., 31-32; 141-143. Marcuse vermutet, dass die Auflösung der sozio-politischen Repression in einem Gesellschaftssystem zu einer Transformation einseitig ausgerichteter Triebstruktur führt, und sich über den gesamten Organismus der Menschen und ihre Umwelt ausbreitet, so dass „das Leben des Organismus selbst zum Gebiet und Ziel der Triebe“ wird. „Dieser Vorgang legt fast von selbst aus seiner inneren Logik heraus die begriffliche Umgestaltung der Sexualität in den Eros nahe.“ Marcuse 1973, 202. Da dieser Vorgang für Marcuse nur in nicht dem Leistungsprinzip folgenden Gesellschaftsstrukturen erfolgen kann, plädiert er folgerichtig für eine Umgestaltung der gesamten Gesellschaft zu „einer Kultur, die aus freien libidinösen Beziehungen erwächst und von ihnen getragen wird.“ Ebd., 204-205. In der Ausweitung des Eros würde das Begehren weitaus mehr Befriedigung finden als in der Begrenzung auf einzelne Bereiche. Wenn die Menschen den Dualismus der eigenen Existenz (Körper-Geist) überwinden würden, dann impliziere die „Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit“ keine genitale Fokussierung in der Sexualität,

76 Ein erotisiertes Selbst-Welt-Verhältnis ist eine lebenslustige und lebenslustvolle64 Zugewandtheit zu einem Gegenüber. Begehren ist nicht egoistische Triebbefriedigung, sondern Beziehungsbegehren. Macht, Gewalt und Verfügbarmachung verhärten und fixieren die Beziehungen zwischen Menschen, Mensch und Natur bzw. Menschen und Dingen und verunmöglichen die erotisierende Aufladung der Beziehungsverhältnisse. Sie sind nicht auf maximale Öffnung, Zugewandtheit, Macht- und Gewaltverzicht ausgerichtet, also auf Leben ermöglichende Grundvoraussetzungen, sondern auf Welt-Beherrschung, die die Gegenüber verdinglicht, verfügbar macht und sich so von ihnen entfremdet. In dieser Verfügbarmachung verstummt die Resonanz.65 Mechanismen der fixierenden Welt-Beherrschung verunmöglichen überdies die Option zu radikaler Relationalität in resonanten Selbst-Welt-Beziehungen, weil sie Selbst und Welt daran hindern zu variieren und zu ko-variieren. In einer erotisierten Atmosphäre Beziehungsleben ermöglichender und auf Lebendigkeit hinzielender Lebenslust, sind es nicht nur die Menschen, die Optionen zur Veränderung und Gestaltung haben, sondern auch die Umwelt ko-variiert im Transformationsprozess der Resonanzerfahrung.66 Es sei durch die veränderte Wahrnehmung oder die gestalterischen Möglichkeiten, Welt ko-variiert mit dem variierenden Selbst. Beide miteinander ermöglichen in der erotischen Aufladung ihres radikal relationalen Beziehungsverhältnisses Lebendigkeit, erfülltes Beziehungsbegehren, eine „responsive Weltbeziehung.“67 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Erotik als Lebenslust, die Beziehungsleben ermöglicht und auf Lebendigkeit hinzielt, über verschiedenste Ausdrucksformen verfügt, die in allen Bereichen der Selbst-Welt-Beziehung der Menschen vorkommen. So gehört zur Lebenslust alles, was mit den Sinnen erfahrbar ist (Düfte, Anblicke, Berührungen, Hören, Schmecken, andere kognitive, intellektuelle und spirituelle Stimulanzien etc.) und die Menschen maximal öffnet für ihre Gegenüber (Mensch, Tier, Ding, Na-

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sondern eine Ausweitung des Begehrens auf alle Bereiche menschlicher Lebenswirklichkeit und führe so zu ganzheitlicher Zufriedenheit und kreativer Kulturentwicklung. Ebd., 207-208. Die Verwendung des Begriffs der „Lebenslust“ zur Definition der Erotik führe ich auf Marti zurück. Marti 1987, 53. Rosa 2018b, 10, 21–22, 34. Rosa 2018a, 62–63. Rosa 2018b, 120.

77 tur, Gott).68 In dieser Resonanzbereitschaft, im Hören auf die Stimme des anderen, im Antworten auf die Affizierung, im Transformationsprozess der Resonanzerfahrung, wird jede Form von Repression, Gewalt, Beherrschung und Zerstörung ausgeklammert.69 Es bleibt festzuhalten, dass Erotik ein auf das Leben gerichtetes dynamisches Geschehen ist. Es versetzt in Bewegung und ist selbst in Bewegung. Lebenslust kann sich prinzipiell an allem affizieren und setzt so Dynamiken und Transformationsprozesse frei, die wieder neue Formen von Beziehungsleben ermöglichen und auf Lebendigkeit hinzielende Zugewandtheit, also neue Lebenslust, hervorbringen. Allerdings ist die erotische Affizierung auch nicht willkürlich, sondern im Rahmen des Selbst-Welt-Bezugs von Individuen an deren jeweilige Sozialisation, Kulturform, Gesellschaftsstruktur und Persönlichkeitsentwicklung angelehnt. Jedoch verändert die erotische Attraktion auch das Selbst-Welt-Verhältnis: „Wer verliebt ist, ist auf eine andere, verwandelte, neue Weise in die Welt gestellt, denn er oder sie verfügt nun über jenen ‚vibrierenden Draht‘ zur Welt, … das entscheidende Kriterium einer resonanten Weltbeziehung.“70 Insofern gesellt sich das Element der radikalen Relationalität zu der erotischen Affizierung, weil sich nicht nur das Selbst, sondern auch die Welt mit dem Selbst verändert. Welche Definition der Erotik lässt sich nun aus den vorangegangenen Überlegungen ableiten? Erotik soll im Kontext dieser Arbeit als Lebenslust definiert werden, die in der Zuwendung des Selbst zur Welt maximale Öffnung (Resonanzbereitschaft) bewirkt, auf Lebendigkeit hinzielt und Beziehungsleben ermöglicht. So wird die einseitige Kontextualisierung auf die Sexualität hin vermieden, ohne sie jedoch auszuschließen. Die Ergänzungen: auf Lebendigkeit hinzielend und Beziehungsleben ermöglichend, beleuchten die Tiefendimensionen der Erotik, die mit ihrer Lust am Leben gleichzeitig für ihre eigene Kontinuität sorgt.71 Beziehungsleben zu ermöglichen und auf Lebendigkeit hinzuzielen sind im biblischen Kontext keine selbstbezogenen Aufgaben. Sie erscheinen 68

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Körper und Geist werden in dieser Definition nicht als getrennte Entitäten betrachtet, sondern als Aspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes, wie es später auch im Kontext der Körperauffassung wiederkehrt. Vgl. Marcuse 1973, 199-200; 203; 207-209. Vgl. auch Marti 1987, 52–53. Rosa 2018a, 139. Zur Erklärung des „vibrierenden Drahtes“ siehe auch ebd., 24-25. Laut Marti will der Eros „Dauer, Fortgang, Geschichte!“ Marti 1987, 53.

78 überwiegend als solche, die sich für den Erhalt und für die Ermöglichung von Beziehungsleben mit anderen, mit der Gemeinschaft einsetzen.72 Sie zeigen sich bspw. in der Leidenschaft für den Fortbestand der natürlichen Umwelt, in nicht-ausbeuterischen, zugewandten Beziehungen zu Natur, Mensch und Tier (das schließt auch die Selbstsorge mit ein), in der Sexualität und in der Beziehung zum Schöpfer allen Lebens, zur Quelle der Lebendigkeit.73 In Anwendung auf das Hld entfaltet sich Erotik als Lebenslust im Kontext der Bildgeber aus den Bereichen Essen, Trinken, Düfte, Anblicke, Körperlichkeit, Sexualität, Materialität und Imaginationen bzw. Sehnsüchte. Sie generieren ein erotisches Bildfeld, durch das alle Sinne affiziert werden. Die im Text beschriebene Lebenslust (Genuss, Freude, Überwindung lebensfeindlicher Zustände) zielt in ihrer Gesamtheit auf den Bereich der Lebendigkeit (Bewegung, Vitalität, Regeneration) und Ermöglichung von Beziehungsleben. Diese Lebenslust will Liebesleben ermöglichen, fortgesetzt und in allen Bereichen der miteinander verquickten Selbst-Welt-Beziehungen der Liebenden. Zu diesen gehören auch die weitere Familie, Freunde, Gemeinschaft, Tiere, Natur und Kulturgüter. Die Erotisierung des gesamten SelbstWelt-Bezugs zielt auf fortgesetzte Lebendigkeit, die immer wieder neu Liebes- und Beziehungsleben ermöglicht und transformiert. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende Definition von Erotik für den Kontext dieser Arbeit:

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In diesem Kontext denke ich bspw. an den Schöpfungsauftrag (Gen 1,26-30; 2,15) und an die Zehn Gebote (Ex 20,1-17 und Dtn 5,6-21), über die es heißt: „So habt nun acht, dass ihr tut, wie euch der HERR, euer Gott, geboten hat, und weicht nicht, weder zur Rechten noch zur Linken, sondern wandelt auf dem Weg, den euch der HERR, euer Gott, geboten hat, damit ihr leben könnt und es euch wohlgeht und ihr lange lebt in dem Lande, das ihr einnehmen werdet.“ Dtn 5,32-33 nach LU17 [Hervorh. der Verfasserin]. Oder auch die Bestimmungen zum nachhaltigen Ackerbau und Beziehungsleben ermöglichenden Umgang mit Sklaven, Schulden und Nutztieren in Lev 25 (vgl. Dtn 15) sowie Jesu radikal relationale Bergpredigt (Mt 5,1-7,29; vgl. Lk 6,20-49). Hier lässt sich eine Parallele zu Marcuses Sozialutopie erkennen, in der die Ausbildung und Ausweitung freier, libidinöser Beziehungen zu einer Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit führt und die unter repressiven Systemen fehlgeleiteten Kräfte des Eros befreit und ganzheitlich integriert. Vgl. Kapitel II.2. Fußnote 63.

79 Erotik ist Lebenslust, die in der Zuwendung des Selbst zur Welt maximale Öffnung bewirkt, auf Lebendigkeit hinzielt und radikal relationales Beziehungsleben ermöglicht.

3. Die resonanten Bezugsfelder Resonante Bezugsfelder74 ergeben sich in sozialen und politischen Beziehungen (horizontal), in Beziehung zur Welt der Dinge (diagonal) und hinsichtlich der „Beziehung zur Welt als Totalität“75 (vertikal: Natur, Geschichte, Kosmos, Gott) und zu sich selbst i.S. einer Reflexion der Resonanzwirkung im Selbst und der Entwicklung von intrinsischen Interessen und Selbstwirksamkeit. Da das Selbst von Anfang an in eine Welt hineingestellt ist, zu der es in Beziehung tritt, werden auch die Bedingungen zur Entwicklung von resonanten Bezugsfeldern von der jeweiligen Umwelt mitgeformt. Die Umwelt gibt sie vor, „und [schafft] dabei spezifische kulturelle Resonanzräume beziehungsweise Resonanzsphären …, in denen die Gesellschaftsmitglieder ihre mehr oder minder individuellen … [resonanten Bezugsfelder; Einf. d. Ver.in] entdecken und ausbauen können.“76 Den resonanten Bezugsfeldern ist gemeinsam, dass Individuen in ihnen wieder74

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Der metaphorische Begriff der Resonanzachse wirkt m.E. zu statisch und begünstigt die Vorstellung eines top-down oder bottom-up Resonanzverkehrs. Daher verwende ich den metaphorischen Begriff der resonanten Bezugsfelder im Folgenden synonym für die von Rosa entwickelten Resonanzachsen, da mir der Begriff des stabilen Bezugsfeldes offener, dynamischer und relationaler erscheint und insofern für die Zwecke dieser Arbeit geeigneter ist. Ich beziehe mich hierfür auf das im Doktoratskolleg entwickelte (unveröffentlichte) Glossar zur Resonanz (Rosa et al. 2019). Dort werden die Resonanzachsen wie folgt definiert: „Resonanzachsen sind die stabilen Bezugsfelder, auf denen Subjekte immer wieder Resonanzerfahrungen machen. Individuelle Resonanzachsen bilden sich in der Regel innerhalb kultureller Resonanzsphären. Jeder Mensch hat andere Resonanzachsen. Für die einen mag das Sport sein, für andere ist es vielleicht Musik oder Religion oder politisches Engagement. Die Resonanzachsen unterscheiden sich zwar von Subjekt zu Subjekt und auch von Kultur zu Kultur, haben aber im Leben eines Menschen eine relative Stabilität.“ [Hervorhebung d. Verf.in] Rosa 2018a, 331. A.a.O.

80 kehrende Resonanzerfahrungen machen, sie also Bereiche darstellen, in denen wiederholt Resonanz erfahren und erwartet wird. In kulturell unterschiedlichen Resonanzräumen verhelfen bestimmte Rituale zur Etablierung stabiler resonanter Bezugsfelder. Rituale unterscheiden sich von Ritualisierungen hinsichtlich ihrer Form und Bedeutung. Aber beide zeichnen sich durch ihre Wiederholungsfrequenzen aus. So definiert Stollberg-Rilinger sie wie folgt: Als Ritual im engeren Sinne wird … eine menschliche Handlungsabfolge bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt. Hingegen wird von Ritualisierung im weiteren Sinne schon dann gesprochen, wenn sich ein bestimmtes Verhalten in seiner äußeren Form regelmäßig wiederholt.77

Ritualisierungen sind bspw. das morgendliche Zähneputzen, das abendliche Weckerstellen, das samstägliche Autowaschen usf. Rosa nennt als Beispiele für Rituale die christliche Abendmahl- oder Eucharistiefeier, aber auch das Einlaufen einer Fußballmannschaft ins Stadion oder den instrumentalen Auftakt am Beginn eines Musikkonzerts.78 Beim Abendmahl ist die Ritualqualität entlang der o.g. Definition anschaulich darstellbar. Innerhalb des Gottesdienstes wird das Abendmahl je nach Denomination täglich, wöchentlich oder monatlich gefeiert. Vor dem Empfang des Abendmahls gehört ein Bekenntnis der persönlichen Verfehlungen in der Liturgie (oder im Vorfeld des Gottesdienstes) zum festen Bestandteil der Teilnahme, dies kann als vorbereitendes Reinigungs- oder Heiligungsritual gelten.79 Die Handlungsabfolge in der Abendmahlsliturgie ist standardisiert. Es gibt einen bestimmten Wortlaut, bei dem die Präsentation von Brot und Wein (bzw. Traubensaft) erfolgt. Die Person(en), die das Abendmahl austeilt/en, vollzieht/en die Vorbereitungen auf dem Altar vor den Augen der ganzen Gemeinde. In der römisch-katholischen Eucharistiefeier sind Litur77

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Stollberg-Rilinger 2013, 9. Rosa 2018a, 297. Auch hier sind je nach Denomination weitere Handlungen im Bereich Reinigungs- oder Waschungszeremonie möglich. Bei den Mennoniten bspw. wird der Empfang des Abendmahls von einer Fußwaschung begleitet, wie es von Jesus bei seinem letzten Pessach-Mahl mit seinen Jüngern erzählt ist, was aber eher die Bedeutung des Dienstes an den Geschwistern symbolisiert und eine Übung in Demut darstellt (vgl. Joh 13).

81 gie und Symbolik noch umfangreicher als bei einer methodistischen Abendmahlfeier, aber bei allen Feiern wird die teilnehmende Gemeinde untereinander und mit Jesus Christus verbunden, der dieses Ritual gestiftet hat und seine Nachfolgenden zur Wiederholung anhielt und zur Erinnerung an seine Liebestat der Selbsthingabe am Kreuz aufforderte, bis er wiederkommt (vgl. Mt 26,26-29; Mk 14,21-25; Lk 22,19-20; 1 Kor 10,16-17; 11,23-26). Auf diese Weise werden Christ*innen durch die Teilnahme am Abendmahl sowohl in ihrem Glauben und ihrer Zuversicht gestärkt als auch ihre Verbindung zu ihrem Erlöser und zueinander erneuert. So sind in einem einzigen Ritual alle resonanten Bezugsfelder aktiv: in den sozialen Beziehungen verbinden sich die Gläubigen unter- und miteinander im gemeinsamen Bekenntnis (horizontal) und treten gleichzeitig mit Jesus Christus, ihrem Retter und mit Gott, der dieses Heilsgeschehen ermöglicht hat, in Beziehung (vertikal). In der Beziehung zur Dingwelt sind Brot und Wein als Leib und Blut Christi symbolisch aufgeladen und lassen in der wortwörtlichen Einverleibung von Welt die/den Einzelne(n) in sich selbst die Wirkung von Brot und Wein fühlen (vertikal und zum Selbst). Die Erinnerungsfunktion verbindet die Gläubigen überdies mit allen Gläubigen aller Zeiten und auf der ganzen Welt (horizontal und vertikal i.S.v. Geschichte).80 An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass sich die resonanten Bezugsfelder aufgrund ihrer gegenseitigen Durchlässigkeit und Durchdringung als in hohem Maße relational erweisen. Sie generieren keine trennenden Dichotomien oder bestimmen fest umgrenzte Bereiche, in denen allein Resonanz erfahrbar ist, sondern die Affizierung erfolgt auf verschiedenen Feldern gleichzeitig. Die Bezugsfelder überlagern sich. So entsteht eine spezifische Dynamik im Resonanzmoment, die nie genauso wiederholbar, geschweige denn verfügbar ist, aber die Menschen mit einer bestimmten Resonanzerwartung zur nächsten Abendmahlfeier kommen lässt. Die emotionale, soziale und mental-körperliche Affizierung, die im Ritual geschaffen wurde, führt zur Erfahrung einer gewissen Selbstwirksamkeit in der oder im Anschluss an die Feier. Es ist Berührung geschehen, das Selbst wurde erreicht und es hat selbst Andere/s berührt und erreicht bspw. in der 80

Vgl. zum Abendmahl in der ev. Kirche Deutschland und zu Liturgie und Praxis: https://www.ekd.de/Abendmahl-11028.htm und https://www.ekd.de/23220.htm, Zugriff 21.9.2010.

82 freudigen Annahme von Brot und Wein und/oder in der (geistlich-körperlichen) Begegnung mit Jesus Christus bzw. Gott. Die Anrufung wurde gehört und eine vorläufige Antwort gegeben, aber der entstandene Dialog bedarf der Fortsetzung. Weitere Besuche von Abendmahlfeiern bzw. Gottesdiensten werden getätigt und mit Resonanzerwartung aufgeladen. Auf diese Weise können sich resonante Bezugsfelder im Leben des Selbst stabilisieren, bleiben aber stets variabel entsprechend den Transformationsprozessen der Selbst-Welt-Beziehung. Felder haben zwar auch ihre Begrenzungen, aber diese bewegen sich mit dem bewegten Selbst und der bewegten Welt mit. Sie können sich verengen oder erweitern, integrieren oder ausschließen, je nach Weltanverwandlung durch das Selbst. Anhand des Abendmahls wurde dargelegt, wie die resonanten Bezugsfelder beschreibbar werden, und wie sich die resonanztheoretischen Parameter anwenden lassen. Die resonanten Bezugsfelder, die im Hld erkennbar sind, beschreiben stets die Modi der Beziehungsgestaltung, also inwiefern die Liebenden zur sie umgebenden Welt Beziehung aufnehmen. Es werden wiederholt bestimmte Bezugsfelder angesprochen, innerhalb derer sich Resonanz ereignet. Diese werden mit den Kriterien des konstellativen Personbegriffs aus der biblischen Anthropologie verknüpft. Daraus ergibt sich eine Analysematrix, anhand derer die weitere Vorgehensweise erklärt wird.

83 4. Der konstellative Personbegriff aus der biblischen Anthropologie In den Texten des AT gibt es kein außerhalb von Beziehungsgefügen. Es gibt vielleicht kein einheitliches und festgeschriebenes Menschenbild, da der Mensch jeweils in seinen vielfältigen Bezügen in den Blick genommen wird (als Rechtssubjekt, als Kultteilnehmende oder -ausführende, als einem bestimmten Amt verpflichtet, als Mitglied einer Familie, Sippe, eines Stammes usf.81), aber es gibt dieses Menschenbild nie ohne ein damit aufs Engste verknüpftes Gottesbild. Das Menschen- und Gottesbild ist allerdings historisch wandelbar und ändert sich mit den Veränderungen der Umwelt und des Denkens und Erlebens der Menschen.82 Diese Veränderungen schlagen sich in biblischen Texten nieder und nutzen unterschiedliche Genre, um aus verschiedenen Blickwinkeln die Lebensbezüge der Menschen zu beschreiben, um verbindliche Aussagen zu machen oder zum Nachdenken anzuregen. Die Herausarbeitung der „Korrelation von Textwelt und Lebenswelt“83 bedeutet, dass Themen wie Arbeit, Familienverhältnisse, Stadt- und Land-Räume und der Bezug zur Natur Materialien liefern, die biblische Schriften, wie das Hld, als literarischen Text mit den lebensweltlichen Bedingungen damaliger Zeit in Beziehung setzen. Dabei bleibt es nicht aus, dass Begriffe wie næfæš84 oder lēb85 die

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Vgl. Janowski 2019, 29–30. Hier sei auf die redaktionellen Bearbeitungen biblischer Texte vor allem in nachexilischer Zeit verwiesen oder die theologische Auseinandersetzung mit dem Theodizee Problem, wie wir sie bspw. im Buch Ijob finden (spätere Weisheitsliteratur). Janowski 2014, 554. næfæš kommt siebenhundertvierundfünfzigmal in der hebräischen Bibel vor, davon siebenmal im Hld. Seine Bedeutung umfasst: „1. Kehle, Gurgel, Rachen; 2. Hals; 3. Hauch, Atem; 4. Gier, Begierde, Verlangen; 5. Bez. f. das, was Menschen u. Tiere z. Lebewesen macht: herk. Seele, a. Leben, Lebenskraft, m. Sitz i. Blut, Lebewesen; 6. als Träger v. Gefühlen, Empfindungen, Affekten; 7. Person a) Koll. Sg. vor allem bei Zählungen (vgl. dtsch. Seelenzahl) b) Bez. f. Sklaven c) als Indefinitpron. (irgend)jemand d) "Seele" eines Toten; 8. i. Formeln der Selbstaufforderung; 9. suff. als Umschr. v. Pronominalbegriffen (sie selbst...); 10. Gottes eigene.“ Gesenius 2013, 833–836. lēb kommt über achthundertfünfzigmal in der hebräischen Bibel vor, davon dreimal im Hld. Seine Bedeutung umfasst: Herz als Zentrum von Verstand, Gefühl und Wollen. vgl. Gesenius, 590-592.

84 moderne Forschung vor ein definitorisches Problem stellen: Wie verstehen wir den Begriff Person im Kontext des AT?86 Die Vorstellungen darüber, was eine Person ausmacht und bezeichnet, sind zeitgeschichtlich-kulturellem Wandel unterworfen. Dennoch wird der Personbegriff benötigt, um eine biblisch-anthropologische Untersuchung durchzuführen, die wiederum den Bogen in unsere heutige Zeit spannen kann und an die Resonanztheorie anschlussfähig ist. Diese Anschlussfähigkeit lässt sich durch Rosas Soziologie der Weltbeziehung herstellen: Im Sammelband Resonanzen und Dissonanzen87 reagiert Rosa auf die Frage seiner Kritiker, welche Subjekttheorie seiner Resonanz eigentlich zugrunde liege wie folgt: „Die einfachste Antwort hierauf lautet, dass die Resonanz keine Subjekttheorie voraussetzt, weil sie nicht subjektphilosophisch, sondern radikal-relationistisch angelegt ist. Subjekte sind demnach immer schon das Ergebnis von je spezifischen Weltbeziehungen [Hervorhebung d. Verf.in].“88 Weil das Subjekt sich immer schon in einer Welt vorfindet und ihr nicht vorausgeht, sind sowohl Welt als auch Subjekt in einem wechselseitigen Formungs- und Konstitutionsprozess verbunden, den Rosa als Radikalisierung der Beziehungsidee bezeichnet. „Selbstverhältnis und Weltverhältnis lassen sich in diesem Sinne nicht trennen,“89 sie konstituieren sich gegenseitig. Variiert das Subjekt, ko-variiert auch Welt. Diese Grundlage der Resonanztheorie lässt sich gut mit den Elementen des konstellativen Personbegriffs aus der biblischen Anthropologie vereinbaren. Die alttestamentlichen Menschen sind in ihrer Existenzweise und Lebensart auch immer schon in ein Sozialgefüge eingebunden, in dem und durch das sie sich positionieren und definieren. Es gibt kein Außerhalb von Beziehungen für die vitale Lebensgestaltung der Einzelnen. Fällt jemand 86

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Ich möchte darauf hinweisen, dass es im Hebräischen keine Entsprechung zum Begriff der Person (lat.: persona: Maske, Rolle, Status, griech.: prosopon: Angesicht, Maske, Vorderseite) gibt (Cancik 2008, Sp. 1120). D.h. aber nicht, dass die Vorstellung davon, was eine Person auszeichnet ebenfalls nicht existiert. Sie lässt sich für den hebräischen Kontext anderweitig herleiten wie im Folgenden zu zeigen ist. Für den heutigen Kontext wird laut RGG der Begriff Person ersetzt mit „Subjekt, Individuum, Identität, Selbst oder ich.“ Dadurch trete allerdings der Aspekt der Sozialität von Person in den Hintergrund oder werde nur selektiv einbezogen. Schmidt 2008, Sp. 1129. Die Synonyme für Person, wie hier genannt, verwende ich auch in dieser Arbeit. Peters und Schulz 2017. Ebd., 320. Rosa 2018a, 62–63.

85 aus dem Sozialgefüge heraus, bedeutet dies gleichsam seinen sozialen Tod, der in einigen Fällen wie ein physischer Tod anmutet.90 Die alttestamentliche Person ist stets Teil einer Familie, Sippe, eines Stammes, eines von Gott auserwählten Volkes, einer Kultur, eng verwoben und verknüpft mit anderen.91 Die Welt des alttestamentlichen Menschen ist eine weitgehend agrarische, die sich durch Abhängigkeit von Wetter, Gunst der Götter, Festkalender, Familienplanung und harte körperliche Arbeit auszeichnet. Die gegenseitige Formung und Konstituierung von Selbst und Welt ist zu dieser Zeit noch deutlich erkennbar, denn was den Menschen durchweg konstituiert ist die Verbindung der Konzepte Ganzheitlichkeit und Relationalität. Ganzheitlich wird der Mensch im Alten Testament betrachtet, weil er als lebendiges Wesen ungetrennt ist zwischen Seele und Körper, sich also weder dichotom noch trichotom (Geist – Seele – Körper) differenzieren lässt. Als solche psychosomatische Einheit ist er vom Grundsatz her relational angelegt vom ersten bis zum letzten Atemzug, ausgehend von der Relation Schöpfer – Geschöpf (Schöpfungserzählungen), bis hin zu den dynamischen Wechselverhältnissen mit der ihn umgebenden Sozialsphäre.92 In einem ähnlich vielschichtigen und bereits vorfindlichen Beziehungsgefüge verortet Rosa denn auch die Menschen der Moderne, die zur Welt eine Beziehung aufnehmen, die „je nach historischem und kulturellem Kontext fließende oder auch feste Grenzen“93 hat. Diese Welt wird entweder gefürchtet, geliebt oder indifferent wahrgenommen. Entscheidend ist für die sich stets neu konstituierenden Selbst-Weltverhältnisse, dass sich nicht nur das Selbst, sondern auch die „Welt selbst jeweils konstituiert beziehungs-

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Vgl. Ijob 3; 6-7; Psalm 22; 55 u.ö. Es ist zu beachten, dass Hiob und die genannten Psalmen aus Sicht derer geschrieben sind, die Not leiden und soziale Ausgrenzung erleben, weil sie sich zu Gott halten, also rechtschaffen sind. Janowski 2019 v.a. 183-224. Bei Brasser findet sich bspw. eine etymologische Herleitung des Personbegriffs. Dementsprechend definiert er Person so: „Menschen sind insofern ‚Personen‘, als sie ein Verhältnis von Individualität und Kollektivität realisieren.“ Brasser 2008, 59. Aber auch in dieser Definition wird Raum freigelassen für die Dimension einer Person, die nicht nur in der „Individualisierung der kollektiven Identität“ (ebd., 60) aufgeht, sondern stets noch mehr ist. Etwas, das die Person noch auszeichnet, was aber verborgen ist. „Das ‚wahre Gesicht‘ bleibt immer ungesehen.“ A.a.O. Rosa 2018a, 63.

86 weise zu erkennen gibt, ko-variiert.“94 Darin besteht die radikal-relationistische Selbst-Welt-Beziehung. Dem alttestamentlichen Verständnis ist diese Vorstellung nicht fremd, denn auch hier folgt Person-Sein nicht dem Prinzip der Rationalität und dem ordnenden Gegenübertreten zur Welt,95 sondern ist gekennzeichnet „durch Konstellationen, die komplexe, auf Sozialität und Gegenseitigkeit ausgerichtete Beziehungen des Menschseins zum Ausdruck bringen.“96 Für den Kontext des AO insgesamt beschreibt Assmann die personale und kollektive Identität entsprechend als eine Soziogenese.97 Er beschreibt das Ich, als etwas, das wächst, von außen nach innen. Es baut sich im Einzelnen auf kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der es gehört, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe. Die Wir-Identität der Gruppe hat also Vorrang vor der Ich-Identität des Individuums, oder: Identität ist ein soziales Phänomen bzw. ‚soziogen‘.98

Damit ist die Konstituierung des Individuums aber mitnichten im Kollektiv aufgegangen. Seine individuelle Identität entfaltet sich als bewusst wahrgenommene Unterschiedenheit von anderen, in der Körperlichkeit, im Denken, in der eigenen Einzigartigkeit usf.99 Die personale Identität wiederum setzt sich aus der individuell unterschiedlichen, vielschichtigen „Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges“100 zusammen, in denen sich das Individuum in verschiedenen „Rollen, Eigenschaften und 94

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A.a.O. Wie sich dies bspw. aus dem platonisch-dualistischen Menschenbild ergibt, vgl. Platon 2017, 26ff. verhandelt bei: Taylor 1994, 207; 208; 215; Rösel 2009, 161. Janowski 2015, 4. Linkenbach und Mulsow nennen dieses Phänomen In/Dividualität: „So far we conclude that throughout history persons move in different social contexts or areas of life - in which they relate to other persons, things (objects) and ‘not unquestionably plausible’ agents or authorities (the transcendent, the divine) - and these contextual relationships require dividual as well as individual traits, each in different degrees. Thus in/dividuality always includes both the openness (relatedness) and partibility of human beings as well as their capacity to become more bounded, indivisible, possessive and autonomous entities under particular historical circumstances.” Linkenbach und Mulsow 2020, 334. Assmann 2018, 130. Ebd., 131. Ebd., 131-132.

87 Kompetenzen“101 zeigt und anerkannt wird. Daraus folgert Assmann: „Beide Aspekte der Ich-Identität … sind ‚soziogen‘ und kulturell determiniert.“102 In dieser Hinsicht stimmen die vorgestellten biblischen, religionswissenschaftlichen und soziologischen Definitionen von Person im Kern überein und bilden so einen Konsens, der der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt werden kann. Im Kontext des Hlds als Teil der HB gehe ich daher von dieser soziogenen bzw. radikal-relationistischen Entwicklung personaler Identität aus, die an entscheidender Stelle noch einer Ergänzung bedarf, die mit der alt-israelitischen Vorstellungswelt zusammenhängt. Keel macht im Kontext des Hlds darauf aufmerksam, zeitgenössische Autoren beschwerten sich darüber, dass die Beschreibungen der Liebenden voneinander jeweils nur an der Oberfläche, am Körper hängenblieben und nicht in die wesenhafte und charakterliche Tiefe menschlicher Individualität hinabreichten.103 Dem hält Keel entgegen, dass Körperteile im Kontext der HB den ganzen Menschen repräsentieren können, denn sie werden „nie unter dem Aspekt der Form wahrgenommen, sondern unter dem ihrer Funktion und Dynamis.“104 Er weist auf die Verstehens-Voraussetzungen für den biblischen Text hin, um Missverständnisse in der Auslegung vermeiden zu 101

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Ebd., 132. A.a.O.; vgl. auch Frevel 2018, 72. Härle definiert Personalität ähnlich wie Assmann und nahe an Rosa „als ein allem Verhalten vorgegebenes komplexes Beziehungsgefüge und der[n] Begriff ‚Person‘ demzufolge als ein[en] Relationsbegriff, an dem wenigstens drei Aspekte zu unterscheiden sind: - die Beziehung der Person zu sich selbst; - die Beziehung der Person zu anderen Personen (und zu Gegenständen); - die Beziehung der Person zum Ermöglichungsgrund ihres Personseins. Im Blick auf jeden dieser drei Aspekte ist es dann noch einmal sinnvoll, zwei Ebenen zu unterscheiden: die ontologische Ebene, auf der die Person sich in ihrer Selbstbezogenheit, Weltbezogenheit und Ursprungsbezogenheit gegeben ist, und die dadurch ermöglichte Ebene der Selbstbestimmung, auf der eine Person sich zu sich selbst, zu ihrer Mitwelt und zu ihrem Ursprung verhält.“ Härle 2000, 249–250. Die drei (vier) Aspekte des Personbegriffs bei Härle korrespondieren mit den resonanten Bezugsfeldern (Selbst, horizontal (diagonal) und vertikal). Die ontologische Ebene heißt bei Rosa Unverfügbarkeit, die Selbstbestimmung entspricht Rosas Definition von Selbstwirksamkeit. Keel 1984, 27. Er bezieht sich hierin auf die Anthropologie des Alten Testaments von Hans Walter Wolff, 1. Aufl. erschienen 1973, München, 22-23. Keel 1984, 27. Vgl. auch die in diesem Kapitel besprochenen Begriffe næfæš und lēb in den Fußnoten 84 und 85.

88 können.105 Wonach moderne Leser*innen im Hld suchten, spiegle nicht unbedingt das Interesse oder die Gepflogenheiten alt-israelitischer Dichtung wieder. Die gegenseitige Beschreibung der Körper der Liebenden sei nicht dazu da, ihre Form und ihre reine Äußerlichkeit zu betonen, vielmehr gehe es im Grunde gar nicht wirklich um die Körper, in moderner Auffassung des Begriffs Körper (im Dualismus Körper – Seele), „sondern es geht um die Person, die in ihren verschiedenen Aspekten alle Lebenskräfte, alle Lust und Herrlichkeit der Welt verkörpert. Die Welt existiert für den Liebenden nur noch im Geliebten/in der Geliebten, erhält von ihm/ihr aus aber gleichzeitig neue Leuchtkraft [Hervorhebung d. Verf.in].“106 Diese erotische Aufladung sorgt dafür, dass sich das geliebte und das liebende Selbst verändern, und mit ihnen auch die Welt um sie herum in radikal relationaler Weise. Um Selbst und Welt im Hld und ihre radikale Relationalität zu beschreiben, stelle ich nun die Merkmale des konstellativen Personbegriffs vor, die sich mit den resonanten Bezugsfeldern kombinieren lassen. Die Merkmale des konstellativen Personbegriffs setzen sich zusammen aus: den natürlichen Lebensbedingungen, die das Selbst umgeben; den kulturellen Lebensformen, in die es hineinerzogen wird und an denen es (mit)gestaltend teilhat; der soziogenen Entwicklung individueller und personaler Identität, die sich in der Welt und durch sie konstituiert und dem religiösen Symbolsystem, das die Weltdeutung mit starken Wertungen auflädt und sie normativ formt. Diese vier Merkmale des konstellativen Per105

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An dieser Stelle möchte ich exemplarisch auf eine inner-theologische Debatte um den Personbegriff hinweisen, die sich daran entzündet, dass dem alttestamentlichen Menschen ein Mangel an innerer Tiefe unterstellt wird, der keine Konstituierung einer charakteristischen Ich-Identität zulasse (vgl. Di Vito 2009, 216–217, der sich hierfür auf Taylor bezieht); Argumente gegen diese Pauschalisierungen weisen einerseits Vorstellungen zurück, nach denen die alttestamentliche Gesellschaft primitiver sei als die moderne und halten in diesem Zusammenhang das Absprechen von Innerlichkeit (der Unterscheidung zwischen Innen und Außen der Person) und die angeblich eingeschränkte Selbstreflexivität in Hinblick auf zahlreiche Beispiele aus der Bibel (v.a. Klage-Psalmen) für nicht haltbar (vgl. Frevel 2017, 16, 23-25, 35-36, 42-43; Grohmann 2017, 261; Frevel 2018, 71–72). Di Vito verwendet keinen radikal-relationistischen, sondern einen individualistischen, subjektivistischen Ansatz in seiner Arbeit (sein Verständnis von Taylor ist eher selektiv, er zitiert zweimal dieselbe Seite aus den Quellen des Selbst, klammert aber weitgehend den kritischen Unterton in Taylors Ausführungen zum modernen Verständnis des Selbst aus, vgl. Taylor 1994, 207ff.) und ist mit seiner Definition von Person daher für diese Arbeit zu vernachlässigen. Keel 1984, 27–28.

89 sonbegriffs können mit den resonanten Bezugsfeldern kombiniert werden, die aus dem Text des Hlds gewonnen wurden. In diesen Bereichen werden die Modi der Resonanz einer detaillierten Analyse unterzogen: „– die natürlichen Lebensbedingungen beziehen sich auf den geographischen Raum Palästinas/Israels (Zeitrhythmen, Klimazonen, Bodenbeschaffenheit, Landschaftsreliefs) mit seiner spezifischen Tier- und Pflanzenwelt,“ 107 hierzu zählen die im Hld dargestellten Bereiche: kultiviertes Land, Nutzpflanzen und -tiere, Bodenschätze, verarbeitete Naturprodukte sowie die nicht-kultivierten Bereiche wie Berge, Wüste etc., geografische Angaben und die Nennung wilder Tiere, naturbelassener Pflanzen sowie klimatische Verhältnisse und Naturphänomene. – die „kulturellen Lebensformen wie die Sozialität des Menschen und seine spezifische Körperauffassung, die sich in diesem Lebensraum ausgeprägt haben,“108 erstrecken sich auf die Bereiche aller sozialen Beziehungen im Hld (Familie, Freunde), auf den Lebensraum mit seinen Aufgaben (Städte, Ämter, Arbeit) und auf weitere Materialien und Gegenstände sowie Gebäude(teile) usf. ̶ die soziogene Entwicklung der individuellen/personalen Identität,109 die dynamischen Entwicklungen von individueller bzw. personaler Identität in der Darstellung von Körperlichkeit110 und insbesondere (geschlechtsspezifischer) Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen und ihren Ausdruck von Selbstreflexivität, findet sich im Hld im Bereich der gesamten Welt-Beziehung und ihrer Auswirkungen auf die individuelle/personale Identität der Liebenden.111 107

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Janowski 2014, 541, 542-544. Vgl. auch Frevel 2010, 53, 55; Janowski 2014, 541–542. Ebd., 541; 544-546. Vgl. auch Janowski 2019, 21, 28-30. In Anlehnung an Assmann 2000, 2012, soll auch der Dimension der Individualität, des Personseins, Rechnung getragen werden. Daher ergänze ich dieses vierte Merkmal für den konstellativen Personbegriff. Körper ist sowohl sozial konstituiert vgl. Häusl 2010, 159, in Bezug auf Geschlechtlichkeit vgl. Fischer 2004, als auch individuell verschieden also einzigartig und unverwechselbar vgl. Assmann 2018, 131. Dass diese Dimension bei Janowski als eigenständige fehlt liegt daran, dass er die Entwicklung personaler und kollektiver Identität unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Lebensformen als Unterpunkt verhandelt, vgl. Janowski 2014, 545-546; Janowski 2019, 30-32. Ich führe sie extra an, weil sie im Hld m.E. eine herausgehobene Position einnimmt.

90 – „das religiöse Symbolsystem, mit dessen Hilfe die Menschen des alten Israel ihre Lebenswelt (..) deuten,“112 „ist ein kulturelles Zeichensystem … mit dessen Hilfe die Menschen des alten Israel ihrer natürlichen Lebenswelt“113 begegnen und sie zu verstehen suchen. Dieses kulturelle Zeichensystem gilt als zugrundeliegendes Weltdeutungs- und Wertesystem, das auch im Hld an verschiedenen Stellen zu erkennen ist. Die Merkmale des konstellativen Personbegriffs sind – dem Namen entsprechend – nicht als getrennte Bereiche anzusehen, sondern als Elemente einer Konstellation, die sich aus verschiedenen Bereichen menschlicher Lebenswirklichkeit zusammensetzt. Die Kombination der Merkmale des konstellativen Personbegriffs mit den resonanten Bezugsfeldern eröffnet den Dialog zwischen alttestamentlicher Anthropologie und der Soziologie der Weltbeziehung. Mithilfe der fünf Resonanzparameter und der Definition von Erotik als hermeneutische Schlüssel, lassen sich die Resonanzverhältnisse beschreiben, die bei der biblisch-anthropologischen Lesart des Hlds erkennbar werden.

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Janowski 2014, 541, 546-550. Vgl. auch Janowski 2019, 21, 33-36. Ebd., 21.

91 5. Analysematrix Im Folgenden werden die Merkmale des konstellativen Personbegriffs und ihr Anschluss an die Resonanztheorie tabellarisch dargestellt. Die kategoriale Einteilung ist als idealtypisch zu verstehen. In der Analyse gibt es viele Überlappungen hinsichtlich der verschiedenen Zuordnungen, sodass manche Bereiche des konstellativen Personbegriffs auf mehreren resonanten Bezugsfeldern verhandelt werden. Die grundsätzliche inhaltliche Permeabilität bleibt auch in der schematischen Darstellung durch die gestrichelten Linien gewahrt. Resonante Bezugsfelder im Hohelied Horizontales Bezugsfeld

Konstellativer Personbegriff der biblischen Anthropologie

Natürliche Lebensbedingungen

Kulturelle Lebensformen

Liebespaar, Familie, Freunde, Gemeinschaft; Städte, Orte mit und ohne Namen; Ämter, Arbeit; Körperauffassung

Diagonales Bezugsfeld

Vertikales Bezugsfeld

Be- bzw. verarbeitete Naturprodukte und Bodenschätze; kultiviertes Land und Nutzpflanzen; Nutztiere

Unberührte Natur und Naturphänomene; wildlebende Tiere

Materialien, Gegenstände; Gebäude und Gebäudeteile

Soziogene Entwicklung individueller/ personaler Identität

Körperauffassung, Status, Rolle, Eigenschaften

Religiöses Symbolsystem

Kosmologie, Schöpfung, Gott Deutung der Lebenswelt (affirmativ, kritisch)

Bezugsfeld des Selbst

Selbstwirksamkeit; Beschreibungen von Reflexion

Tabelle 1: Der konstellative Personbegriff im Anschluss an die resonanten Bezugsfelder im Hohelied

92 Diese Analysematrix ermöglicht eine strukturierte Vorgehensweise. Jeder Quadrant wird analysiert.114 Die in Tabelle 1 verwendeten Überbegriffe werden in den Einzelanalysen aufgeschlüsselt. Eine tabellarische Darstellung am Anfang jeder Analyseeinheit, zeigt die im Hld vorkommenden Materialien, Naturphänomene, Gemeinschaftsbezüge, Städte, Ämter, Gebäude etc. Die in Kapitel II.1. und II.2. entwickelten Definitionen von Resonanz und Erotik dienen als hermeneutische Schlüssel für die resonanten Bezugsfelder, die auf die biblisch-anthropologischen Merkmale angewendet werden.

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Die Resonanzachse des Selbst bzw. das Bezugsfeld des Selbst ist in der Tabelle als den konstellativen Personbegriff übergreifend dargestellt, da es sich im Rahmen von Selbstwirksamkeitserwartungen und Selbstwirksamkeitserfahrungen, intrinsischen Interessen, Emotionen zeigt und dort, wo Reflexion beschrieben wird. Insofern wird das Bezugsfeld des Selbst bei der Behandlung der einzelnen Quadranten jeweils mitberücksichtigt.

93 III. Resonanz, Erotik und biblisch-anthropologische Lesart des Hohelieds Das vorangehende Kapitel hat die theoretischen und methodischen Grundlagen der weiteren Vorgehensweise in dieser Arbeit vorgestellt. Im Detail verläuft die Untersuchung folgendermaßen: Zunächst werden in aller Kürze die natürlichen Lebensbedingungen und die kulturellen Lebensformen allgemein beschrieben, wie sie im AO bzw. im Alten Israel zu erschließen sind und üblich waren, um eine Vorstellung für das Setting im Hld zu gewinnen. In diesem Setting werden dann die mindestens viermal oder häufiger1 vorkommenden Worte aus den resonanten Bezugsfeldern im Hld mithilfe der beiden hermeneutischen Schlüssel, der Resonanz und der Erotik, gedeutet. Die begrenzte Anzahl ermöglicht eine leistbare Analyse für diese Arbeit. Die infrage kommenden Worte werden einerseits im Kontext der jeweiligen Verse oder Sinnabschnitte des Hlds und andererseits in ihrem Vorkommen in weiteren Texten der HB gedeutet. In der Analyse wird herausgearbeitet, wo Resonanzmomente im Hld erkennbar sind, und wie sie sich konstituieren. Erotik und Resonanz dienen dazu, die Deutung der Hld Verse in ein heutiges Verständnis zu übertragen und Aussagen darüber zu treffen, was die metaphorische Bildsprache des Hlds leistet, und wie sie in einer biblisch-anthropologischen Lesart verstanden werden kann. Im Zwischenfazit werden die wichtigsten Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und bewertet. Bei der biblisch-anthropologischen Lesart des Hlds liegt der Fokus auf den diagonalen und horizontalen Bezugsfeldern, also den resonanten Beziehungen zur Dingwelt und zwischen Menschen.2 Gleichwohl wird immer wieder deutlich werden, dass beide Bezugsfelder auch zum vertikalen Bezugsfeld hin durchlässig sind. Eine strenge Begrenzung auf rein anthropologische Aussagen ist daher weder möglich noch wünschenswert, sondern 1

2

Nach Durchsicht aller Begriffe, erwiesen sich vier oder mehr Vorkommen als praktikable und repräsentative Auswahl für die Analyse. Die Beziehung zu Tieren ist im Alten Israel sicher anders als heute. Einerseits sind Nutztiere in gewisser Weise zur Dingwelt zugehörig, bewegen sich aber in Hinblick auf ihre existentielle Bedeutung und Wertschätzung an der Schnittstelle von diagonalem und horizontalem Bezugsfeld. Um der Übersichtlichkeit willen, habe ich die Tiere unter dem Merkmal der natürlichen Lebensbedingungen als Nutztiere dem diagonalen und als wildlebende Tiere dem vertikalen Bezugsfeld (unberührte Natur) zugeordnet.

94 vermittelt den wechselseitigen Zusammenhang der sich verändernden Selbst-Welt-Beziehungen der Liebenden mit ihrem ko-variierenden Umfeld.

95 1. Natürliche Lebensbedingungen Nach dem biblischen Zeugnis spiegelt sich die enge Verbundenheit des Menschen mit dem Land3 in drei Bezugsfeldern wider: Laut Schöpfungserzählung hat Gott das Menschenwesen (ʾadām) aus dem Erdboden (ʾadāmāh) geformt und ihm Leben eingehaucht (Gen 2,7). Nach dem Tod hat Gott den Menschen zur Rückkehr zum Staub bestimmt (vertikales Bezugsfeld; Gen 3,19). Das Land bzw. den Boden zu bebauen, zu bearbeiten und zu bewahren, ist sowohl vor als auch nach der Verfehlung gegen Gottes Gebot grundlegende Aufgabe der Menschen (diagonales Bezugsfeld; Gen 1,26-29; 2,15 und 3,17-19a; vgl. auch Gen 8,22).4 Darüber hinaus ist das Land die Verbindung zwischen den Generationen und unter den Mitgliedern eines Haushaltes, in den auch Mägde, Knechte und Sklaven eingeschlossen sind.5 Alle sind an der Bewirtschaftung des Landes beteiligt und übernehmen diese Verpflichtung von den Vorfahren, um sie an die Nachfahren weiterzugeben (horizontales Bezugsfeld; Gen 17,8-9, 26,1-5).6 Diese stabilen Bezugsfelder werden noch zusätzlich vom Sabbatgebot, der Einhaltung der Sabbatruhe für Mensch und Arbeitstier und dem Festkalender begleitet (vgl. Ex 23,10ff., Lev 23).7 Sabbatgebot und Feste haben wiederum drei Dimensionen, in denen sich Resonanzerfahrungen stabilisie3

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Die häufigsten Bezeichnungen im Hebräischen für Land, Erde, Boden sind ʾæræṣ und ʾadāmāh. Beide werden synonym gebraucht, bei ʾadāmāh liegt der Bezugspunkt noch etwas stärker im Bereich „Ackerboden, kultivierter Boden“, Vos 2010. Im Kontext dieser Arbeit und um irreführende Bezeichnungen zu vermeiden, verwende ich die weitgefasste Übersetzung das Land (von hebräisch haʾāræṣ) zur Bezeichnung dessen, was heute als Palästina/Israel bezeichnet wird, was ich aber aufgrund des Anachronismus nicht verwenden möchte. Auch das Hld gibt dem beschriebenen Land keinen Namen, sondern setzt verschiedene Landmarken, die zur Entstehungs- bzw. Redaktionszeit ganz sicher nicht den tatsächlichen Landesgrenzen entsprachen und eher an frühere Zeiten erinnern. Zu den Namen des Landes vgl.: Blum und Oswald 2006, 13–14; Haag 2012, 12–15. Vgl. Krüger 2009, 623–626; Fischer 2018, 192, 194f.; Janowski 2019, 227f. Vgl. ebd., 246ff. Vgl. van Oorschot 2017, 172–173. Wenngleich diese beiden eher dem Bereich des religiösen Symbolsystems oder den kulturellen Lebensformen zuzuordnen sind, möchte ich sie doch an dieser Stelle nennen, weil sie den Umgang mit den natürlichen Lebensbedingungen im Kontext des Hlds vorstrukturieren.

96 ren können: In der Einhaltung des Sabbatgebots wird Gott gelobt für die Schöpfung, von der er am siebten Tag ruhte und diese Ruheordnung fürderhin zum Wohl von Menschen, Tier und Natur einsetzte (Ex 20,8-11; Lev 25,1-7). Gott wird für seinen Segen gepriesen, der am reichen Ernteertrag ablesbar ist. Beim Erntefest werden Gott im Kultritus die Erstlingsfrüchte dargebracht, um so die radikal relationale Angewiesenheit auf den göttlichen Segen im Leben und Arbeiten der Menschen zu betonen (vertikal; vgl. Dtn 26). Den Ernteerträgen wird Wertschätzung entgegengebracht (weil sie Gottes Gabe sind). Ihr Verzehr verhilft zum leiblichen Wohl, schenkt Freude und Genuss und belohnt für die mühselige Arbeit (diagonal; vgl. Neh 8,10-12; Koh 5,17-19; 8,15). In dieser wechselseitigen Sozialität und radikalen Relationalität von Land, Natur, Tieren, Mensch und Gott ist kein Platz für Ausbeutung und missbräuchlichen Umgang. In diesem komplexen Sozialgefüge ist der Schaden am Land oder am Anderen daher immer auch ein Schaden an sich selbst (diagonal, horizontal und Bezugsfeld des Selbst).8 Diese wechselseitige Verantwortung stärkt die Gemeinschaft innerhalb der Großfamilie und darüber hinaus zu allen Mitarbeitenden und Mitlebenden, auch den Fremden im Land (horizontal; vgl. Ex 23,9, Lev 18,26; 19,10, Num 15,15-16, Dtn 24,19-21).9 In diesen vier stabilen Bezugsfeldern ist das Ideal für ein friedliches und sozial gerechtes Zusammenleben beschrieben. Dieses Zusammenleben wird in einem Land organisiert, das zwischen dem 31. und 33. Breitengrad am Rand der subtropischen Klimazone liegt. Es gibt Wüstenlandschaften im Osten und Süden und feuchte Zonen, besonders im Winter zur Regenzeit, westlich zum Mittelmeer hin und in der nördlichen Gebirgsregion.10 Im Winter kühlen die Temperaturen ab, allerdings so gut wie nie unter den Gefrierpunkt. Wenn es regnet, dann meist ausgiebig und fast ausschließlich innerhalb der fünf Monate von Oktober/

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Vgl. das sog. Talionsgesetz (ius talionis – Schadensregulierungsrecht) in Ex 21-22 in dem Schadenersatzregeln vermerkt sind, um den sozialen Frieden zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Zu den Bestimmungen über Festzeiten, Ackerbau, Umgang mit Sklaven und StammesErbrecht des Landes vgl. Ex 23,10ff.; Lev 25, Dtn 15; Num 26 (Losverteilung des Landes nach Stämmen beim Einzug der Israeliten nach Kanaan), Verteilung des Landes an die 12 Stämme in Jos 13ff.; Num 27 (hier ist die Bestimmung zum Erbrecht der Töchter verzeichnet; s. auch die Erweiterung in Num 36). Uehlinger et al. 1984, 39. Vgl. auch Blum und Oswald 2006, 14–23; Haag 2012, 19–39.

97 November bis April/Mai. In dieser Zeit regnet es ca. 80% des Gesamtniederschlags pro Jahr.11 Früh- und Spätregen sind besonders wichtig für die Landwirtschaft, das Wachsen und Gedeihen von Früchten, Gemüse und Getreide. Dementsprechend wird der Regen im biblischen Kontext als besonderer Segen Gottes qualifiziert (vgl. Dtn 11,14; Jer 5,24; Joël 2,23; Ps 84,7; Jak 5,7).12 Zwischen Juni und September regnet es kaum, daher ist der Tau zur Bewässerung von Früchten und Gemüse sehr wichtig; auch diesen spendet Gott, wofür er gepriesen wird (vgl. Dtn 33,13.28; Hos 14,6; Ps 133,3). Andererseits kann reichlich Tau den Aufenthalt über Nacht „im Freien sehr unangenehm machen."13 (vgl. Hld 5,2) Die Beobachtung der Wetterphänomene und der Umgang mit den teilweise lebensbedrohlichen Wasserknappheiten bekamen im Verlauf des Kulturanbaus existentielle Bedeutung. So begannen die Menschen den klimatischen Bedingungen „größte Aufmerksamkeit zu schenken und in allem, was damit zusammenhing, Gott am Werk oder wenigstens Metaphern für sein Wirken zu sehen.“14 Diese natürlichen Lebensbedingungen bilden die Grundlage für die weiteren detaillierteren Beobachtungen zum Text des Hlds. 1.1. Natürliche Lebensbedingungen im diagonalen Bezugsfeld Zwischen dem Gebirge im Norden, der Wüste im Süden, zur Linken begrenzt durch das Mittelmeer und zur rechten durch Totes Meer und Jordan, erstreckt sich das Land. Im Hld wird das Land durch die Erwähnung einiger Regionen und Ortsnamen abgesteckt (Libanon, Hermon, Amana, Damaskus, Tirza, Karmel, Scharon, Kedar, Mahanajim, Jerusalem, Heschbon, Gilead, En-Gedi, Israel). Diese Eckpunkte lassen sich gut mit den Grenzschilderungen des salomonischen Königreichs in Übereinstimmung bringen (1 Kön 4,20-25), erinnern aber auch an das Land Kanaan, das Gott einst Abraham verheißen hatte (Gen 12,1-9), stimmen aber letztlich nicht hun11

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Uehlinger et al. 1984, 40–41. Vgl. Blum und Oswald 2006, 23–26; Haag 2012, 39–41. Uehlinger et al. 1984, 43; Janowski 2019, 23. Uehlinger et al. 1984, 50. Ebd., 52-53; Janowski 2019, 23f.

98 dertprozentig überein. Womöglich ein Indiz dafür, dass es im Hld nicht um territoriale Zusammenhänge geht, sondern um die Regionen, die am fruchtbarsten und eindrücklichsten sind und so Gottes Schöpfung, des Menschen Kulturleistung und die Umwelt der Liebenden bestmöglich in Szene setzen. Mit Städten und Regionen, Tälern und Bergen in allen Himmelsrichtungen wird die Vielfalt und Gegensätzlichkeit im Umfeld der Liebenden im Hld abgebildet und als affizierendes Resonanzangebot erkennbar. Neben den erhabenen Gebirgen und den fruchtbaren Landstrichen sind auch Wasserspeicher und Städte erwähnt, wodurch die agrarischen Lebensbedingungen und der Handel in den Vordergrund rücken. Die im Hld erwähnten Spezereien wurden nicht alle im eigenen Land angebaut und gewonnen (bspw. Myrrhe, Weihrauch und Narde sind Importwaren15). Bodenschätze wie Gold und Silber stammten teilweise aus dem eigenen Land.16 Die häufigsten Nennungen im Hld finden sich in den Bereichen: kultiviertes Land, Nutzpflanzen, agrarische (Handels)Produkte sowie Viehzucht.17 Anhand der Analysematrix (Tabelle 1), lässt sich dementsprechend für den ersten zu untersuchenden Quadranten eine Vielzahl an Worten im Hld finden. Der Bezug zur materiellen Welt ist im Hld ausgeprägt. Die umfang15

16

17

Vgl. Neumann-Gorsolke und Riede 2002, 82. Bodenschätze gab es an verschiedenen Stellen im Land, bekannt sind der Eisen- und Erzabbau u.a. im Jordangraben und die Gewinnung von Kochsalz und anderen Mineralstoffen aus dem Toten Meer, vgl.: Haag 2012, 42–43. Gold wurde bspw. im 4. Jt. v.Chr. in der Gegend um den Wadi Nachal Qana nachgewiesen, südl. des Bergs Garizim in der heutigen Westbank Israels, vgl. Markl 2010a. Bei Silber ist ein Vorkommen in der Levante seit dem 4. Jt. v.Chr. nachgewiesen, vgl. Markl 2010b. Gault widmet diesem Umstand das Kapitel 4 in seinem Buch mit der Überschrift: „Nature as Erotica.“ Er schreibt: „In the Song, there is hardly a thought, feeling, or movement that is not likened to a plant or living creature, as the couple look at each other with one eye and the world of nature with the other. Filled with erotic euphemism and double entendre, the poet employs flora and fauna to depict the form and function of the lover’s physical bodies. Whether mountains or trees, gardens or vineyards, animals or agriculture, the man and woman consider their beloved’s body as a place of private pleasure, a source of sexual delights.” Gault 2019, 89. Widersprechen möchte ich Gault hinsichtlich der Aussage, die Form des Körpers werde durch Flora und Fauna beschrieben, denn für den alttestamentlichen Kontext der Körperauffassung stimme ich mit den AutorInnen überein, die verdeutlichen, dass es nicht um die Form geht, sondern um die Funktion, die Dynamis der beschriebenen Körperteile (vgl. Keel 1984, 27; Schroer und Staubli 2005, 21; Bester und Janowski 2009, 22–23; Grohmann 2017, 267–268). Vgl. auch Kapitel III.2.1. in dieser Arbeit.

99 reiche Liste illustriert das (vgl. auch Tabelle 6 zu den kulturellen Lebensformen im diagonalen Bezugsfeld). Diagonales Bezugsfeld

Be- und verarbeitete Naturprodukte

Be- und verarbeitete Meeresund Bodenschätze

18

19

20

Natürliche Lebensbedingungen Aloe18 Alraune (Mandragora)19 Balsam Elfenbein Gewürzkräuter Henna Honig (Waben-, -seim) Kalmus Karmesin Milch Myrrhe Narde20 Öl(e), Salböl(e) Purpur(stoff) Rosinenkuchen Safran Schal Trauben (am Weinstock) Weihrauch Wein Weizen Zelte und Vorhänge Zimt Alabaster Chrysolith, Saphir Gold Perlenkette; Schmuckgehänge (aus Gold); Krone Kette Schale Silber

Verse im Hld

Anzahl

4,14 7,14 4,10.14.16; 5,1.13; 6,2; 8,14 5,14; 7,5 5,13 1,14; 4,13 4,112; 5,12 4,14 4,3 4,11; 5,1.12 1,13; 3,6; 4,6.14; 5,1.52.13 1,12; 4,13.14 1,32; 4,10 3,10; 7,6 2,5 4,14 5,7 2,13.15; 7,13 3,6; 4,6.14 1,2.4; 2,4; 4,10; 5,1; 7,3 (Mischwein); 7,10; 8,2 7,3 1,5 4,14 5,15 5,14 1,11; 3,10; 5,11.14.15

1 1 7 2 1 2 4 1 1 3 8 3 3 2 1 1 1 3 3

1,10.11; 3,11 4,9 7,3 1,11(Kügelchen); 3,10; 8,11

Je 1 1 1 3

8 1 Je 1 1 1 1 5

Aloe kommt nur noch in Psalm 45,9 vor (vgl. Appendix VII.2., Bsp. 37.2, 41.1 und Heereman 2016, 214). Die Alraune kommt nur noch in Gen 30,14-16 vor. Im Rahmen dieser Erzeltern-Erzählung geht es um Eifersucht, Unfruchtbarkeit und den Tauschhandel zweier Schwestern, die sich den Ehemann Jakob teilen müssen. Die fruchtbare, aber ungeliebte Lea bekommt von ihrem Sohn Ruben Alraunen. Sie galten als Aphrodisiaka und Fruchtbarkeit steigernd (vgl. Häusl und Aßmann 2018, 52, 54). Die unfruchtbare, aber geliebte Rahel erwirbt sie von Lea, die daraufhin im Tausch eine Nacht mit Jakob verbringen kann (vgl. Appendix VII.2., Bsp. 52.6). Narde kommt im ganzen AT nur im Hld vor.

100 Kultiviertes Land und Nutzpflanzen

Nutztiere

Apfelbaum/Äpfel Dattelpalme DattelrispenHapaxleg Feigenbaum und grüne FrühfeigeHapaxleg Granatapfel Garten/Gärten Teiche bei Heschbon Quelle, Brunnen WalnussHapaxleg Weinberge (-gärten) Weinstock Wacholder (als Bauholz) Zeder (als Bauholz) Kleinviehherden (Ziegen) Schafe/Schafherde Stute

2,3.5; 7,9; 8,5 7,8.9 5,11

4 2 1

2,13 4,3.13; 6,7.11; 7,13; 8,2 (Saft) 4,122.15.162; 5,1; 6,22.11; 8,13 7,5 4,12.152 6,11 1,62.14; 2,152; 7,13; 8,112.12 2,13; 6,11; 7,9.13 1,17 1,17; 8,9 1,7.8; 4,1; 6,5

Je 1 6 10 1 3 1 9 4 1 2 4

4,2; 6,6 1,9

2 1

Tabelle 2: Natürliche Lebensbedingungen im diagonalen Bezugsfeld

101 1.1.1. Be- und verarbeitete Naturprodukte und Bodenschätze Die große Bedeutung agrarischer Erzeugnisse und Handelsprodukte lässt sich deutlich im Hld ablesen. Eine große Vielfalt an Feld- und Baumfrüchten, der Weinanbau, und die Haltung und Zucht von Kleinvieh, verdeutlichen den engen Bezug zur Natur, zu ihrer Nutzung und Kultivierung. Die Bezüge zu verarbeiteten Naturprodukten, Rohmaterialien und Bodenschätzen führen den blühenden Handel im AO und darüber hinaus vor Augen.21 Für den Bereich der be- und verarbeiteten Naturprodukte im Hld entfallen die häufigsten Nennungen auf Myrrhe und Wein, gefolgt von Balsam und Honig. Ihre erotisierenden und Resonanz-Qualitäten werden im Einzelnen analysiert. Den Wein werde ich im Verbund mit Weinberg/Weinstock in Kapitel III.1.1.2. analysieren. Myrrhe (môr) ist „ein dunkelrotes, bitteres Harz, das aus den knotigen Zweigen des Baumes der botanischen Gattung Commiphora austritt und in Arabien, Abessinien [das heutige Äthiopien und Eritrea; Anm.d.Verf.in] und der somalischen Küste beheimatet ist.“22 Aus der Myrrhe wurde ein Duftstoff gewonnen, der zur Parfümierung von Kleidern und Bettwäsche benutzt wurde und sowohl festliche (vgl. Ps 45,9 mit Hld 3,6)23 als auch erotisierende Wirkung hatte. Die der Myrrhe zugeschriebene erotisierende Wirkung, lässt sich noch im Buch Ester (2,12) und in den Sprüchen finden.24 Ester wird einer ausgiebigen Schönheitsbehandlung mit Myrrhenbalsam unterzogen, bevor sie dem persischen König zugeführt wird. Im Sprüchebuch parfümiert die fremde Frau ihr Bett u.a. mit Myrrhe und lädt andere Männer zum außerehelichen Verkehr ein (Spr 7,17).25 Im Hld wird die Myrrhe in verschiedenen Versen kontextualisiert und zur Beschreibung der Geliebten und des Geliebten insgesamt achtmal verwendet (Hld 1,13; 3,6; 4,6.14; 5,1.52.13). Vom Geliebten geht eine erotisierende Wirkung aus. Er ist es, der wie ein duftendes Myrrhe-Bündel zwischen den 21

22 23

24 25

Vgl. zu Handelswegen und Handelswaren: Häusl und Aßmann 2018, 61; 65. Neumann-Gorsolke und Riede 2002, 80. In Hld 3,6 wird die Myrrhe u.a. im Kontext des Festzugs von Salomo erwähnt, wo sie festlichen Duft verströmt. In Ps 45,9 werden die Gewänder des Königs beschrieben, wie sie an seinem Festtag (Hochzeitstag?) Düfte von Myrrhe, Zimt und Kassia verströmen. Neumann-Gorsolke und Riede 2002, 80. Vgl. Appendix VII.2., Bsp.: 41.1, 41.2, 41.3.

102 Brüsten der Geliebten nächtigt26 (Hld 1,13) und von dessen Lippen kostbare Myrrhe tropft (Hld 5,13). Die Wirkung der Myrrhe kann hier als erotisierend oder aphrodisierend beschrieben werden und illustriert das Verlangen der Geliebten, das auch in Hld 5,5 zur Geltung kommt. Hier tropft Myrrhe von den Fingern der Geliebten auf den Türgriff als sie ihrem Geliebten Einlass gewähren will, den sie doch zunächst hat warten lassen. Es scheint als habe auch sie sich der Schönheitsbehandlung mit Myrrhenbalsam unterzogen, der nun, entsprechend ihrer Erregung und Transpiration, von ihren Fingern tropft.27 Der Geliebte findet stets neue Wege, seine Geliebte mit der kostbaren Myrrhe zu vergleichen. Zum einen bezeichnet er eine ihrer Brüste als Myrrhe-Berg (Hld 4,6), während er sie zum anderen als einen Park voll edelster Hölzer und Gewürzpflanzen beschreibt, die allein ihrer Duftintensität wegen die Sinne betören (Hld 4,14). Später mutet der Liebesgenuss wie die Beschreibung eines Festmahls an, voller affizierender Düfte, vielfältigen Geschmacks und berauschender Wirkungen (Hld 5,1).28 Als Luxusware symbolisiert die Myrrhe die Kostbarkeit, die die Liebenden füreinander darstellen. Der belebende Duft und die berauschende Wirkung der Myrrhe dienen als Vergleiche für die Qualität der gegenseitig geschenkten und erfahrenen Liebe und der lustvoll erlebten körperlichen Nähe. Mit allen Sinnen „maximal geöffnet für die Präsenz der/s Anderen,“29 sehen und erleben die Liebenden im Hld ihr geliebtes Gegenüber in den besonderen und alltäglichen Dingen des Lebens, die das Verlangen lebendig halten. Dies verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn sie voneinander getrennt sind (vgl. Hld 5,6), wenn Entfremdungserfahrungen das Liebesglück stören und unterbrechen. Dann versagt die Lebenskraft, führt zu erfolgloser Suche und Liebeskrankheit (Hld 5,7-8). 26

27

28 29

Im AO war es weit verbreitet, um den Hals Amulette oder Gewürzbündel zu tragen, die Duft verströmten. Da Myrrhe teure Handelsware war, wurde damit auch die sozial hohe Stellung der TrägerIn dargestellt, vgl. Keel 1992, 68ff. Im Kontext der Auslegung von Hld 5,5 findet sich eine Beschreibung einer orientalischen Sitte, nach der ein abgewiesener Liebhaber, den Türgriff mit Salböl einrieb, um seine Beständigkeit zu bezeugen. Vgl. Herder 2000, 46, Fußnote 25. In der SCH2000 Bibelübersetzung wird ebenfalls auf diesen Brauch in der Fußnote zu Hld 5,5 hingewiesen. Myrrhe als Bestandteil des Salböls zur Heiligung der Gerätschaften und Priester im Zelt der Begegnung (Ex 30,22-33) wird in Kapitel III.3.2. verhandelt. Rosa 2018a, 139.

103 Hingegen ist der Genuss der Liebe ein Fest, eine überbordende Fülle an Sinneseindrücken, in denen es nichts anderes mehr gibt als nur die/den Geliebte/n in allen Dingen. Ein Feuerwerk an Lebensfreude, Lebendigkeit und Lebenslust entzündet sich (Hld 4,13-15), das unbedingt auch mit anderen geteilt werden will (Hld 5,1). Die Liebe der Liebenden und ihr Genuss schaffen neue Lebensmöglichkeiten, weil die Selbst-Welt-Beziehungen der Liebenden auch ihre Umgebung verändern. Plötzlich spricht die Myrrhe eine andere Sprache und begegnet auf veränderte Weise. Sie ist nicht mehr nur Gewürz, Luxus-Importware, sondern sie ist ein Symbol für den Duft, den Genuss und die Wertschätzung für die/den Geliebte/n. In dieser Affizierung verflüssigt sich die bisherige Selbst-Welt-Beziehung, in der die Myrrhe verschiedenen Dingen diente, wie als Duftsäckchen Wohlgeruch zu verbreiten und den eigenen Status sichtbar zu machen.30 Aller köstliche Duft und aller Ruhm rührt nun vom Geliebten her. Er ist wohltuend und verleiht Ansehen durch seine Liebe und Zuwendung. In ihrem erotischen Dialog inmitten der fluiden Duftsubstanzen erkennen die Liebenden, dass sie in der Lage sind, einander zu erreichen, zu berühren, selbstwirksam zu sein. Weil sie ihn berührt und bewegt, ist er ihr ganz zugewandt und umgekehrt. So treten beide ein in den Transformationsprozess ihres Miteinanders, in dem sich die Beziehung zur materiellen Welt grundlegend verändert. Die Dinge verlebendigen sich auf das geliebte Gegenüber hin. Die anverwandelte Welt wird zur Begegnung, zum Dialog mit der/dem Geliebten. Aller bisherige Genuss, alle Wertschätzung der Luxusgüter, verwandelt sich in Genuss und Wertschätzung der/des Geliebten. Sie/er wird zur Welt. Das diagonale Bezugsfeld wird durchlässig für das horizontale. Die Dinge werden nicht objektiviert, sondern mit leidenschaftlicher Affizierung aufgeladen. So lassen sie sich nicht mehr aus dem Beziehungsgefüge der Liebenden heraustrennen, sondern gestalten sie mit. Diese Mitgestaltung erfolgt wiederholt und stabilisiert das Resonanzgeschehen im Hld. Die Dinge werden in ihrer Anverwandlung in die Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden integriert. Dies verdeutlicht auch das nächste Beispiel.

30

Myrrhe war teuer. Wer sie gebrauchte war als höher gestellte Person mit entsprechenden Mitteln zum Erwerb solch exklusiver Importware erkennbar. Vgl. dazu Keel 1992, 68– 69.

104 Balsam (beśamîm) wird aus dem „kleinwüchsigen Balsamstrauch (commiphora gileadensis)“31 gewonnen. Er wird im Hld siebenmal erwähnt (Hld 4,10.14.16; 5,1.13; 6,2; 8,14). Der angeschnittene Baum sondert ein zunächst „grüne[s], dann sich bräunlich verfärbende(s) Harz“32 ab, das einen „feinen und angenehm zitronigen Duft“33 verströmt. Der Balsamstrauch wird auch unter den kostbaren Geschenken der Königin von Saba an König Salomo erwähnt (vgl. 1 Kön 10,2.10). Er wurde nach archäologischen Funden in der Gegend um En-Gedi und Jericho angebaut und galt als der vorzüglichste Wohlgeruch unter allen Düften und wurde daher sehr geschätzt.34 Der Geliebte im Hld beschreibt, dass der Duft der Geliebten mit ihren Ölen den Duft des Balsams noch übertrifft (Hld 4,10), was angesichts seiner Beliebtheit und Hochschätzung die Geliebte noch kostbarer, duftender und geschätzter werden lässt. In Hld 4,10.14.16 finden sich Anspielungen auf die Körpertranspiration der Geliebten, die dem Geliebten wie erlesenster Duft anmutet. Alle Wohlgerüche damaliger Zeit werden genannt, sogar der kostbarste von allen, die Narde, um zu betonen, dass die Geliebte genauso wundervoll duftet wie sie. Alle Wohlgerüche der Welt werden von der Geliebten ausgeströmt und in dieser die Sinne betörenden Duftatmosphäre ist die erotische Affizierung fast mit Händen zu greifen. Die Geliebte ruft sogar die Winde an, die ihr helfen sollen, ihren Wohlgeruch zu verbreiten, damit der Geliebte seinen Weg zu ihr findet und sie sich treffen können, um sich dieser Sinnenfreude und einander hinzugeben. Der Geliebte muss hier nicht zweimal gebeten werden und lädt auch die Freunde ein, es ihm gleichzutun und sich an der Liebe zu berauschen (Hld 5,1). Auch der Geliebte wird mit Balsam assoziiert, aber in einer anderen Variante, denn in Bezug zu ihm werden Balsambeete oder -berge genannt (Hld 5,13; 6,2 bzw. 8,14). Wo in Bezug auf den Geliebten vom Balsam die Rede ist, scheint es eher um die ursprüngliche Herkunft des Balsams zu gehen. Sein Geruch spielt vielleicht auch noch eine Rolle (Hld 5,13), aber noch eindrücklicher ist, dass die Ortsbestimmung des Balsams im Kontext mit der Geliebten steht. Da sie den Duft des Balsams und aller wohlriechenden 31

32 33 34

Neumann-Gorsolke und Riede 2002, 80. A.a.O. Keel 1992, 154. Keel verwendet das Synonym Commiphora opobalsamum für den hier gemeinten Balsamstrauch. A.a.O.; vgl. auch Neumann-Gorsolke und Riede 2002, 80.

105 Spezereien sozusagen verkörpert, muss er auch in ihrer Nähe sein (Hld 6,2). Sie ist die Quelle des Wohlgeruchs, sozusagen das Balsambeet, das er aufsucht, der Balsamberg, den er erklimmt, um die Höhen der erotischen Duftatmosphäre zu genießen (Hld 8,14). Die Durchlässigkeit zwischen dem diagonalen und dem horizontalen Bezugsfeld wird deutlich: Dinge kulminieren in ihrer Wirkung, ihrer Funktion und Bedeutung im Umfeld der natürlichen Lebensbedingungen zu Qualitäten des geliebten Gegenübers bzw. werden von der/vom Geliebten noch übertroffen. Die/der Geliebte wird zur Welt, alle Dinge sind vom vibrierenden Draht zur Welt affiziert, die erotische Aufladung der Dingwelt mit den Qualitäten der/des Geliebten, verändert die Beziehung zur Welt. Mit Balsam, Honig (s.u.) und Wein (s. Kapitel III.1.1.2.) sowie verschiedenen ätherischen Ölen, gewinnen die fluiden Dinge im Hld an Bedeutung. Sie sind häufig genannt und verbreiten eine Atmosphäre, in der sich auch die Weltbezüge verflüssigen. Die fluiden Substanzen im Hld zerfließen in einer Metaphorik, die auch die Grenzen zwischen Dingwelt und geliebtem Gegenüber zerfließen lässt. Dichotomien werden aufgehoben. In der Verflüssigung des Selbst-Welt-Verhältnisses wird Welt anverwandelt und mit veränderter Bedeutung aufgeladen. Die Welt, die bisher war, hat sich verändert, denn nun ist die/der Geliebte zur Welt geworden und in ihr/ihm ist die ganze Welt enthalten. Diese Veränderung bewirkt auch eine veränderte Selbstwirksamkeit. Die Geliebte kann die Zugehörigkeit des Geliebten zu ihr und ihre zu ihm frei heraus sagen (Hld 6,3). Sie berühren und bewegen sich gegenseitig. An anderer Stelle wird deutlich, dass die fortgesetzte veränderte Welt-Beziehung dafür sorgen wird, dass diese Zugehörigkeit exklusiv ist und andauert (Hld 8,12-13). Die Höhen der unvergleichlichen Duftatmosphäre, die ja die Geliebte selbst darstellt, sollen auch weiterhin erklommen werden (Hld 8,14). Die gesamtgesellschaftlich hohe Wertschätzung für Öle, Balsame (und Wein), wird in diese fluiden Duft- und Geschmacksatmosphäre von den Liebenden anerkannt. Daher können sie diese wichtigen Wertungen auch nutzen, um die überaus wichtige Bedeutung des geliebten Gegenübers für sich und vor anderen auszudrücken. Die Liebenden sind einander so wertvoll und wichtig, wie es Öl, Balsam, Wein, Myrrhe usf. für die Lebensgemeinschaft sind, in der sie leben. Durch diese wertschätzende Bewertung des Gegenübers in Übereinstimmung mit den gesamtgesellschaftlich hohen

106 Bewertungen für diese Naturprodukte, erzeugen die persönlichen Bewertungen der Liebenden immer wieder an verschiedenen Stellen im Hld Resonanzmomente. Die gegenseitige Zugehörigkeitsbekundung ist dabei kein Versuch, die Beziehung zu fixieren, denn das würde ja das Verstummen der Resonanz nach sich ziehen. Es geht hier eher um die Stabilisierung des horizontalen Bezugsfelds, das in der Zuwendung zum geliebten Gegenüber und dem Bekenntnis gegenseitiger erotischer Attraktion fortgesetzt Voraussetzungen schafft, dass Resonanz eintreten kann. Wenngleich an anderer Stelle auch nicht verschwiegen wird, dass sie sich nicht erzwingen lässt (vgl. Hld 5,2-8). Als letztes Beispiel aus dem Bereich der be- bzw. verarbeiteten Naturprodukte führe ich den Honig (deḇaš) an. Honig wird viermal im Hld erwähnt (Hld 4,112; 5,12) und einmal auch im Verbund mit Milch. Hierdurch gerät das sprichwörtlich gewordene Land, in dem Milch und Honig fließen, in den Blick.35 Honig aus Bienenzucht wurde bereits seit dem 1. Jt. v.Chr. im Land gewonnen. Es wurde aber auch aus dem Saft reifer Früchte (bspw. von Trauben, Datteln oder Feigen) ein honigartiger Sirup hergestellt, der auch gemeint sein könnte.36 Von wildem Honig spricht Ri 14,8. Der Honig hat belebende Wirkung und lässt die Augen strahlen (vgl. 1 Sam 14,25.29). Er tut gut und erfreut den Gaumen (Spr 24,13). Zu viel davon zu essen, schadet aber (Spr 25,16.27). Der Honig greift im Hld das Bild des süßen Liebesgenusses auf. Der Geliebte findet Honigseim auf den Lippen der Geliebten und unter ihrer Zunge Honig und Milch, d.h. ihre Küsse schmecken ihm süß (Hld 4,11). Dort wo sich die Küsse der Liebenden abspielen, dort ist das gelobte Land zu finden. Im Liebestaumel des süßen Kusses wähnt sich der Geliebte im verheißenen Land. Seine ungezügelte Leidenschaft kennt daher keine Grenzen mehr und wird metaphorisch dadurch ausgedrückt, dass er u.a. den Honig mitsamt der Wabe aufisst (Hld 5,1).37 Die Metaphorik ist an dieser Stelle recht eindrücklich und evoziert eine erotisierende Atmosphäre, in der die Liebesfreuden mit einer existentiellen Geborgenheit in einem Land verknüpft sind, in dem kein Mangel herrscht und ein Sattwerden in Aussicht steht. Satt werden die Liebenden aneinan35

36 37

Ausführungen zum Honig in Hinblick auf seine religiöse Bedeutung finden sich in Kapitel III.3.2. Sals 2018; Häusl und Aßmann 2018, 75. Vgl. Keel 1992, 170. Zur Deutung dieser Metaphorik als Oralverkehr s. Peetz 2015, 207.

107 der, im Genuss von Düften, Geschmack und Süße ihrer Intimität. Die Geliebte wird dem Liebenden zur Nahrung, zum existentiellen Bestandteil seines Lebens. Erneut zeigt sich das diagonale Bezugsfeld als durchlässig und verknüpft zwei Resonanzmomente miteinander: den des Genusses der Nahrung und den des Genusses der Liebe. In der Gleichzeitigkeit dieser Affizierung wird die Geliebte zur Süße im Leben des Geliebten. Sie versüßt seine Existenz. Er weiß, wo das gelobte Land zu finden ist: unter ihrer Zunge. So wird die Geliebte zur ganzen Welt, zum Land der Verheißung schlechthin. Die Welt um die Liebenden herum wird verwandelt, es entsteht eine neue Welt, eine Welt, die sich aus der Liebesbeziehung der Liebenden generiert und die bisherige Sicht auf die Welt verändert. Nachdem nun auf die häufigsten Nennungen aus dem Bereich der bebzw. verarbeiteten Naturprodukte eingegangen wurde, wende ich mich nun den Bodenschätzen zu. Nur das Gold (zāhāḇ; in Hld 5,15 faz; in Hld 5,11 kætæm faz (feinstes oder pures Gold)) schafft es mit insgesamt fünf Nennungen in die Analyse (Hld 1,11; 3,10; 5,11.14.15).38 Es dient generell dazu, den hohen Wert, die Kostbarkeit oder Schönheit von etwas auszudrücken. Wer Gold besitzt, verfügt über materiellen Wohlstand, der auch nach außen sichtbar ist (bspw. durch Schmuck, vgl. Hld 1,11; 3,10).39 Im Hld wird Gold zur Beschreibung der Schönheit und Kostbarkeit des Geliebten verwendet. Er ist von Kopf (Hld 5,11) bis Fuß (Hld 5,15) kostbar in den Augen der Geliebten. Seine Hände sind wohl aufgrund der Tatsache, dass er mit ihnen die Geliebte hält, zusätzlich noch als mit Edelsteinen besetzt beschrieben (Hld 5,14), was ihren Wert weiter steigert. An diesem Reichtum an Bodenschätzen, Edelsteinen und anderen kostbaren Materialien wird der Geliebte gemessen. Und wie schon die Geliebte, übertrifft er sie alle bzw. vereinigt er ihren gesamten Wert und ihre Kostbarkeit in seiner Person. Er ist Kostbarkeit, erlesenster Art.40 In diesem dialogischen Beziehungsmodus wird deutlich, dass die Dingwelt sich in ihrer Funktion und Wirkung im Geliebten wiederfindet. Er ist kostbar, strahlend, edel, heraus38

39 40

Vgl. zāhāḇ, in NIDOTTE, Vol. 1, 1050-1059; kætæm, in: NIDOTTE, Vol. 2, 732-735. faz, in NIDOTTE, Vol. 3, 590-592. Gold kommt in der HB v.a. im Kontext des Heiligtums vor. Die Bedeutung des Goldes im religiösen Kontext wird in Kapitel III.3.2. aufgegriffen. Markl 2010a. Vgl. Schiller 2010.

108 ragend für die Geliebte. Die Materialien sind da, um seine Schönheit und Kostbarkeit zu beschreiben. Er wird zur Welt des Wohlstands und der Schönheit, zum Inbegriff des Reichtums, in dessen Genuss die Geliebte durch die Liebe zu ihm gelangt. In radikaler Relationalität wandeln sich Selbst und Welt und die resonanten Bezugsfelder werden füreinander durchlässig, indem sie alltagsgebräuchliche Dinge und Luxusgüter mit erotischer Affizierung aufladen, weil in ihnen die/der Geliebte sichtbar wird. Die Liebe ist kein abgesonderter Bereich, der die Liebenden aus der Welt herausführt, sondern die ganze Welt wird zur/zum Geliebten. In dieser Intensivierung und Transformation des Selbst-Welt-Bezugs, in der Erfahrung fortgesetzter Selbstwirksamkeit gegenseitiger Berührung und Bewegung, erfolgt eine Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit der Liebenden, die sich auf ihre Umwelt ausdehnt und alles zum Schwingen, zum Sprechen, zum Klingen bringt. Die Liebenden haben nicht nur einen vibrierenden Draht zueinander und zur Umwelt, sondern sie verkörpern diesen vibrierenden Draht füreinander, denn ihre ganze Person wird durch die erotische Aufladung des liebenden Gegenübers affiziert. Was dieses Begehren am Leben hält, ist die Lebenslust, die durch die/den Geliebte/n erfahren wird und weiter erfahren werden will. In sich wiederholenden Begegnungen und durch Sehnsüchte und Träume, sorgen die Liebenden dafür, dass sich ihre resonanten Bezugsfelder stabilisieren und weiterhin Resonanzmomente möglich sind. Was dieses Begehren fördert, ist die Angst vor Beziehungsverlust, und tatsächlich schweigt das Hld auch nicht über solche Repulsionsmomente. Die Erfahrung von Entfremdung und ihre Überwindung dienen auch der Transformation des Selbst-WeltVerhältnisses, weil deutlich wird, dass Liebe nicht verfügbar gemacht werden kann, weder durch Drängen noch durch Hinhalten (vgl. Hld 5,2-8). Die hohe gegenseitige Wertschätzung der Liebenden rührt von der Übereinstimmung ihrer persönlichen Bewertung des Gegenübers mit den gesellschaftlichen Wertungen zu Naturprodukten, Luxusgütern und Bodenschätzen. Deren schlechthin hohe Bewertung, die mit Vorstellungen zu Wohlstand, Wohlbefinden und Gottes Segen einhergeht, wird im Hld auf den Kontext der Liebe übertragen. Gold hat einen hohen Wert und wird zu einer noch viel größeren Kostbarkeit, wo es als Schmuck die Geliebte ziert (Hld 1,11) oder als Vergleich für das wertgeschätzte Haupt des Geliebten, seiner Hände und Füße dient (Hld 5,11.14.15). Myrrhe als teure Importware, die

109 intensiv duftet, ist der beste Vergleich dafür, wie teuer die Geliebten einander sind und wie sie vom Geruch des geliebten Gegenübers erotisch affiziert werden. Alle Balsame der Welt wiederum reichen gar nicht dazu aus, die Kostbarkeit zu beschreiben und auszudrücken, die die Geliebte für ihren Geliebten darstellt. Sogar das gelobte Land, der Ausdruck höchsten Segens und göttlicher Verheißung wird als Beschreibung der Kostbarkeit, Wonne und köstlichster Sättigung verwendet, um die honigsüßen Küsse der Geliebten zu beschreiben. Die Erotik in diesen Hld Versen ist intensiv. Es wird eine Lebenslust verströmt, die die Liebenden in ihrer gegenseitigen Zuwendung maximal füreinander öffnet und sie so auch offen werden lässt für die ganze Welt um sie herum. Die Affizierung kennt scheinbar keine Grenzen, denn der erotisierte Zustand der Liebenden, ihre vibrierende Verbindung zur Welt, berührt und bewegt sie gegenseitig und auch die Dinge und Menschen in ihrer Umwelt. Alles wird von Lebendigkeit erfüllt und verbindet das liebende Paar mit der Welt in radikal relationaler Weise. Die Welt verändert sich, weil die Liebenden sich verändern. Ihre Selbst-Welt-Beziehungen werden durch die erotische Affizierung, durch den wechselseitigen Dialog, ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen und die Erkenntnis über die Unverfügbarkeit der Liebe in einen Transformationsprozess geführt, in dessen Folge nichts mehr ist wie es war. Das Resonanzerlebnis verändert Selbst und Welt der Liebenden und stellt sie verändert, stellt sie neu in die Welt zu der sie veränderte Beziehungen knüpfen. Im Zuge dieser Veränderungen kann es aber auch zu Repulsionserfahrung kommen. Besonders dort, wo Grenzen offenbar werden zwischen gesellschaftlich starken Wertungen und den persönlichen Wertungen der Liebenden. So heißt es bspw. in Hld 8,7b, dass ein Mann, der sein gesamtes Vermögen für die Liebe hingibt, von seinem Umfeld verachtet wird. Dass die Liebe umgekehrt in ihrem Wert von der Umwelt als weniger kostbar empfunden wird als materieller Reichtum, wird für die Liebenden im Hld zum Störfaktor, an dem sich die Geister der starken Wertungen notwendigerweise scheiden müssen. Hier ist die Resonanz als Beziehungsmodus gefährdet. Eine Auflösung dieser Situation gibt es im Hld nicht. Dieser Umstand bleibt auf der Aussageebene ohne weiteren Kommentar. Auf horizontaler Ebene ist ein stabiler Beziehungsmodus so nicht zu erreichen, wenn die Liebenden fortgesetzt konträr zur gesellschaftlichen Wer-

110 tung leben, lieben, handeln. So kann Welt zuweilen auch zum Hindernis für transformative Resonanzerfahrungen werden. Das Hld verschweigt das nicht, bietet aber auch keinen Lösungsweg dafür an, sondern überlässt es den Liebenden, ihren je eigenen Weg zu finden.

111 1.1.2. Kultiviertes Land und Nutzpflanzen Im Bereich kultiviertes Land und Nutzpflanzen, verfügen folgende Worte über die häufigsten Nennungen: Weinberge, -gärten im Verbund mit Wein aus dem vorherigen Kapitel sowie Garten/Gärten, Granatapfel und Apfel bzw. Apfelbaum. Wein ist nicht nur im Hld, sondern im ganzen biblischen Kontext ein höchst geschätztes agrarisches Produkt.41 Wein erfreut das Herz (Ps 104,15), kann aber im Übermaß genossen auch Schaden anrichten (vgl. Spr 23,20-21). So wird bspw. von Noah erzählt, dass er den allerersten Weinberg pflanzt (Gen 9,20), aber auch den ersten Weinrausch erleidet (Gen 9,21), was üble Konsequenzen für einen seiner Nachkommen nach sich zieht (Gen 9,22-27). Da also Weinberg und Weintrinken eng zusammenhängen, fasse ich die neun Nennungen der Weinberge, -gärten (kæræm) (Hld 1,62.14; 2,152; 7,13; 8,112.12) und die vier des Weinstocks (gæfæn, gefānîm) (Hld 2,13; 6,11; 7,9.13) mit den acht Vorkommnissen des Weines (jajîn) zusammen (Hld 1,2.4; 2,4; 4,10; 5,1; 7,3 (Mischwein); 7,10; 8,2) und behandle sie gemeinsam, beginnend mit dem Weinberg. Die Kultivierung des Erdbodens, die Pflanzung und Pflege verschiedenster Pflanzen- und Baumarten konstituiert das enge Verhältnis, das Mensch und Natur eingehen. Es ist schöpfungsgeschichtlich von Anfang an gegeben und verbindet Mensch und Natur aufs Engste, denn sowohl der Boden als auch der Mensch öffnen sich füreinander maximal: der Boden wird vom Menschen umgegraben und vorbereitet, um das Saatgut aufzunehmen und fürderhin bewässert und gepflegt zu werden. Der Mensch widmet sich ganz der Pflege und investiert Zeit, Kraft und Geduld. Der Boden spendet Leben durch das Wachstum essbarer Pflanzen für den Menschen und der Mensch erhält die Lebensfähigkeit des Bodens durch achtsame Bewirtschaftung und geregelte Ruhezeiten, in denen Felder und Weinberge brach liegen, um sich zu regenerieren (Vgl. Lev 25,3-13). Erdboden und Mensch sind in radikal relationaler Beziehung miteinander verbunden. Das ist allerdings auch dann der Fall, wenn die Ernte ausbleibt, Wetterverhältnisse die Pflanzen zerstören und die Arbeit der Menschen zunichtemachen. Dann drohen Hungersnöte, Landflucht und Verödung.42 Auf die eine wie die andere Weise ist die 41

42

Weinstock/Weinberg als Symbol für Gottes Segen und als Bild für das Volk Israel sowie Wein als Trankopfer im Opferkult, werden in Kapitel III.3.2 behandelt. Vgl. Fellmeth 2006, 84–89.

112 Beziehung zwischen Menschen und Land existentiell. Der Rhythmus von Pflanzung, Aufzucht, Ernte und Neubeginn, gestaltet auch den Lebensrhythmus der Menschen, ihre Arbeit, ihre Festzeiten, ihre Ruhephasen.43 Bei einem Weinberg ist die stete körperliche Arbeit der Menschen mit dem Wachstum und dem Ertrag der Weinstöcke aufeinander abgestimmt. Die Hingabe des Menschen an die Fürsorge für die Pflanze, wird von der Pflanze in ihrer Fruchtbarkeit und der Wirkung ihres Ertrags auf den Menschen zu einem wechselseitigen Dialog (vgl. Hld 6,11; 7,13; 8,11). Einen Weinberg anzulegen und zu pflegen, die reifen Früchte gegen Wildschweine, Füchse (Hld 2,15; vgl. auch Hld 1,6), Vögel und andere Wildtiere zu schützen44 sowie die Erntezeit und das Keltern, machten die Arbeit im und am Weinberg zu einer sehr zeitaufwendigen und anstrengenden Sache.45 Wer neu einen Weinberg pflanzt und noch nicht abgeerntet hat, ist sogar vom Kriegsdienst befreit (Dtn 20,6). „Dieser Regelung liegt nicht nur der große ökonomische, sondern auch der affektive Aufwand zugrunde, der mit der Anlage eines Weinbergs verbunden war. Man setzte in ein solches Unternehmen die größten Hoffnungen,“46 denn der Wein galt nicht nur als Grundnahrungsmittel, sondern machte auch das Schicksal der armen und elenden Leute erträglich (Spr 31,4-7), und sein Fehlen wurde als Verlust von Jauchzen und Wonne des Landes bezeichnet (Jes 24,11). Insofern als der Weinberg existentielle Bedeutung hat, weil er die Lebendigkeit von Land und Mensch mit seinem Ertrag bezeugt, wird der Weinberg zur idealen Metapher für die Geliebte, die für den Geliebten ebenfalls existentielle Lebendigkeit und Lebensfreude ist (Hld 7,9). Hat er sie, braucht er nichts weiter (Hld 8,12).47 Der Weinstock kommt als Anzeiger für die beginnende Entwicklung der Früchte in den Blick, dort wo es im Hld heißt, dass die Liebenden nachsehen, ob der Weinstock schon sprosst und Blüten treibt (Hld 2,13; 6,11; 7,13). In Hld 7,9 kommen allerdings die Brüste der Geliebten als bereits 43

44 45 46 47

Silberstein 2002, 31–33. Janowski et al. 1993, 151. Vgl. Nielsen 2002, 118. Uehlinger et al. 1984, 77. In Hld 1,14 gibt es einen Vergleich des Geliebten mit einem Büschel Henna (oder auch Zypernblume) bei den Weingärten En-Gedis, das an dieser Stelle wohl eher als genuine Ortsbezeichnung zu verstehen ist, um den Geliebten bestmöglich zu beschreiben. Er wird hier allerdings nicht direkt mit dem Weinberg verglichen, sondern mit der Pflanze, die dort wächst (Zyperblume oder auch Henna(strauch)).

113 gereifte Trauben des Weinstocks in den Blick, da ist der Liebesgenuss schon weiter fortgeschritten, während die Überprüfung des Blütenstands das noch vor sich hat, aber schon in Aussicht stellt (Hld 7,13). In der Atmosphäre frühlingshaften Erwachens der Natur fügt sich das Erwachen der Liebe nahtlos ein. Der natürliche Wachstumsprozess im Weinberg dient an diesen Stellen als Bezugspunkt für die Darstellung der Bereitschaft zum Liebesgenuss. Wie im Schwur der Geliebten an die Töchter Jerusalems (s. Kapitel III.2.2.1.) ist das richtige Timing in der Liebe wichtig. Dann, wenn neues Leben im Weinberg hervorbricht, Blüten sich öffnen, dann ist auch die Zeit zur maximalen Öffnung für die Präsenz des geliebten Gegenübers gekommen. Im Hld wird der Wein gleich in Vers 1,2 das erste Mal von insgesamt acht Malen erwähnt (Hld 1,2.4; 2,4; 4,10; 5,1; 7,3 (Mischwein); 7,10; 8,2). Dort wird die Liebe des Geliebten als noch besser als der Wein beschrieben, was gleichzeitig die hochgeschätzte Stellung des Weins im Gemeinschaftswesen damaliger Zeit verdeutlicht. Auch in Vers 1,4 wird erneut der Wein als Vergleichsmittel herangezogen und als der Liebe des Geliebten nachstehend bewertet. Die vom Wein hervorgerufene Fröhlichkeit des Herzens, das Vergessen der eigenen Sorgen und die ausgelassene Stimmung sind in ihrer Wirkung von der Liebe des Geliebten übertroffen. Die Liebe des Geliebten ist es, die die Funktion des Weins übernimmt: seine Liebe macht die jungen Frauen fröhlich und jauchzend; seine Liebe ist berauschender als der Rebentrunk und selbst in Erinnerung an sie, wird ihre Wirkung erneut spürbar, ganz ohne den Einfluss von Alkohol. In Hld 2,4 wird ein Weinhaus als Kulisse der Liebesbegegnung der Liebenden beschrieben. Auch hier ist die enge Verbindung zwischen der Wirkung des Weines und der Liebe des Geliebten in ihrer Wirkung auf die Geliebte ähnlich zu bewerten wie zuvor. In Hld 4,10 ist es dann der Geliebte, der die Liebe der Geliebten mit Wein vergleicht bzw. feststellt, dass sie noch besser ist als Wein (vgl. Hld 1,2). In Hld 5,1 beschreibt der Geliebte ein Festgelage und vergleicht den Liebesgenuss mit der Einverleibung von allerlei kulinarischen Genüssen wie Myrrhe, Honig, Wein u.a. und fordert die Freunde dazu auf, ebenfalls liebestrunken zu werden, also die frohmachende, berauschende, süße und sorgenfrei-machende Wirkung der Liebe zu genießen. Hld 7,3 spricht vom Nabel der Geliebten, dem nie der Mischwein ausgehen soll, was im Verbund mit der Nennung des Bauches als Weizenhaufen umgrenzt mit Lotos als

114 Hinweis auf nicht enden sollende Fruchtbarkeit verstanden werden kann. Oder auf fortgesetzten Genuss sexuellen Verkehrs abzielt, der den Hunger stillt, wie das Brot, berauschend wie Mischwein wirkt, und wie der Lotos zur Regeneration der Lebenskraft beiträgt.48 Vers 7,10 ist ein Kurzdialog zwischen den Liebenden. Nachdem er ausführlich die Vorzüge seiner Geliebten gepriesen hat (Hld 7,2-9), angefangen bei ihren Füßen, endet er nun bei ihrem Gaumen. Der mundet ihm wie der gute Wein und mit dem verschließt sie ihm die Lippen, um sie zum Schlafen, zum Schweigen, zu bringen und um sich anschließend – so kann vermutet werden – dem gegenseitigen Verlangen hinzugeben (Hld 7,11). Erneut ist es die Wirkung des Weins, die hier besungen wird, seine frohmachende, berauschende Wirkung, die den Genuss der Körperlichkeit der Liebenden metaphorisch vermittelt. Zuletzt ist es wieder die Geliebte, die den Geliebten diesmal offenbar tatsächlich mit Gewürzwein tränken will (Hld 8,2), um die von der Mutter an sie weitergegebenen Liebeskünste darzubieten. Der Weingenuss soll eine Stimmung erzeugen, in der der Liebesgenuss eine Steigerung erfährt und im Verbund mit Granatapfelsaft ein herb-süßes Szenario heraufbeschwört, das in einer inniglichen Umarmung endet (Hld 8,3). Die erotische Aufladung des Weins und seines Genusses könnte kaum deutlicher sein. Wein ist der Inbegriff der Lebensfreude und Lebenslust. Wenn nach all der harten Arbeit der Ertrag des Weinbergs in Krügen ausgeschenkt wird, dann ist das ein hochgradig affizierendes Geschehen, es macht das Herz froh und unbeschwert. Die harte Arbeit im und am Weinberg ist geprägt von Repulsion (Tiere müssen verscheucht, unwirtliche Zustände wie Unkraut und Schädlinge behoben werden) und Attraktion (hingebende Pflege und Fürsorge für die Weinreben, direkter physischer Kontakt bei der Weinlese und Kelter und das genussvolle Trinken des Weines am Ende der Produktionskette). Erfolg und Umfang beim Ertrag sind grundsätzlich unverfügbar. Selbst bei sorgfältigster Pflege und guten klima48

Weizen ist das wichtigste Grundnahrungsmittel und sein Vorhandensein bewahrt vor Hunger (vgl. Dtn 8,8; Uehlinger et al. 1984, 71). Lotos gilt als Pflanze, die neue Lebenskraft und Regeneration symbolisiert (vgl. Uehlinger et al. 1984, 87; Keel 1992, 80; 82), in diesem Zuge halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass der Mischwein ebenfalls auf fortgesetzte Fruchtbarkeit anspielt. Mischwein kann in einer anderen Lesart auch als Produktion von Scheidensekret beim Geschlechtsakt interpretiert werden, was dann als Wunsch an die Geliebte gelten kann, ihre Freude an lebenslang andauernder lustvoll gelebter Sexualität zu haben (vgl. Case 2017, 182–184).

115 tischen Voraussetzungen liegt der Ernteertrag letztlich nicht in der Hand der Menschen. So schwankt die Beziehung zum Weinberg und zum Wein stets zwischen Angst und Begehren: Angst vor Ernteverlust und Verlust von Lebensqualität und dem Begehren nach guten Ernteerträgen, nach gutem Leben mit dem Genuss des Weines. Wein wird somit zur idealen Metapher für die Wirkweise der Liebe zwischen den Liebenden. Die Wirkung des Weins wird von der Wirkung des Ver- und GeliebtSeins übertroffen. Geliebt zu werden vom liebenden Gegenüber, macht froh, unbeschwert, ist berauschend und macht lebendig. Das wiederholte Resonanzerlebnis des Weingenusses im diagonalen Bezugsfeld ist durchlässig geworden für den wiederholten Liebesgenuss im horizontalen Bezugsfeld. Der Wein steht nun nichtmehr allein für sich in seiner Wirkung, sondern wird mit der erfahrenen Liebe assoziiert, mehr noch: Wein zu trinken und seine Wirkung zu erleben wird radikal relational mit der Erfahrung des Geliebt-Seins gleichgesetzt bzw. sogar noch davon übertroffen. Die Wirkung des Weins mit seiner Unbeschwertheit, Freude und Wertschätzung wird von der Wirkung des Liebesgenusses der Liebenden weit übertroffen. Beide berühren und bewegen einander auf eine Weise, die selbst der Wein nicht auszulösen vermag. Wein ist daher nicht mehr nur Genussmittel, sondern Referenzpunkt, von dem die Freuden der Liebe, ihre frohmachende, berauschende Qualität als ihm überlegen versinnbildlicht werden. Wer also die Wirkung des Weingenusses kennt kann sicher sein, dass sie von der des Liebesgenusses weit übertroffen wird. Wie der Wein ist auch die Liebe nicht einfach verfügbar. Beide sind in komplexen Zusammenhängen von vielen Faktoren abhängig. Aber wenn sie erfahren werden, verändern sie die gesamte Selbst-Welt-Beziehung nachhaltig. Es entsteht das Bild eines einzigen rauschhaften, beglückenden Zustandes, in der die Liebe den Wein hinsichtlich dieser Funktion abgelöst hat.49 Der „vibrierende Draht zur Welt“50 führt zu einer insgesamt veränderten Selbst-Welt-Beziehung, in der nicht nur das Selbst sich in der Zuwendung zum Gegenüber maximal öffnet, sondern die ganze Welt um das Selbst herum erotisiert wird und sich in einer erotisierten Welthaltung über das Liebespaar hinaus in die Lebenskontexte der Liebenden erstreckt. Dort 49

50

Gault hält „love as intoxication“ für eine „conceptual metaphor“ im gesamten Hld, Gault 2019, 132ff. Rosa 2018a, 24; 139.

116 wird Anteil gegeben an den Liebesfreuden, an der Erkenntnis der Unverfügbarkeit der Liebeserfahrung (vgl. Hld 5,1 und Hld 2,7; 3,5; 5,8; 8,4) und ihre Auswirkungen auf die Selbstwirksamkeit der Liebenden werden verdeutlicht (vgl. Tabelle 7 in Kapitel III.3.1.). Im Bereich kultiviertes Land liegt der Garten/die Gärten (gan/gannîm; in 6,11 ginnat) mit insgesamt zehn Nennungen im Hld weit vorn (Hld 4,122.15.162; 5,1; 6,22.11; 8,13). Das nur in Hld 4,13 vorkommende pardēś bedeutet Park und übertrifft die Dimensionen eines Gartens bei weitem, weil eine überbordende Fülle von Pflanzen damit ausgedrückt ist, die im Grunde nur im königlichen Milieu oder bei sehr reichen Leuten im AO vorstellbar ist. In Koh 2,5-6 wird das Anlegen von Gärten und Parks und ihrer Bewässerungssysteme aus der Sicht König Salomos beschrieben.51 Gärten waren im AO sorgfältig gehegte und gepflegte Areale, in denen Fruchtbäume, Kräuter, Sträucher, sogar Weinstöcke angepflanzt und reichlich bewässert wurden. Sie stellten Wohlstand und Segen dar und boten eine Vielzahl an Düften und Genüssen.52 Gärten kommen in der HB einundvierzigmal vor. Die meisten Nennungen beziehen sich auf den Paradiesgarten Eden oder synonym auch den Gottesgarten.53 Daneben finden sich Erwähnungen von Königs- und Kräutergärten (2 Kön 25,4; Jer 39,4; 52,7; Neh 3,15; Kräutergarten in Dtn 11,10; 1 Kön 21,2). Gartenmetaphern sind in der Liebesdichtung des gesamten AO sehr beliebt und kommen häufig vor.54 Im Hld ist die Geliebte der Garten (Hld 4,12.15-16; 5,1; 6,2). Sie ist ein verschlossener Garten, noch nicht offen für die Liebe, aber üppig bepflanzt, ausreichend bewässert und die herrlichsten Früchte und Spezereien in Fülle hervorbringend. So ist die Geliebte für den Geliebten der Inbegriff des Paradieses. Sie ist Schönheit und Genuss in einem. Er leert das gesamte Gewürz- und Balsamregal seiner Erinnerung, um ihre erotisierende und berauschende Wirkung auf ihn vor das geistige Auge zu malen. Bei all der Leidenschaft erteilt sie schließlich grünes Licht und fordert den Geliebten indirekt auf, in seinen Garten – also zu ihr – zu kommen und die erlesenen Liebesfrüchte zu essen. Diese Einladung zum Liebesakt lässt sich der Geliebte nicht zweimal sagen. In Hld 5,1 berichtet er in der Retrospektive den hier angesprochenen Freunden, welch überbordenden Genuss ihm die Ge51

52 53 54

Zu Autor, Datierung und Aufbau von Kohelet s. Frevel und Zenger 2016, 467-476. Keel 1992, 158f; Häusl und Aßmann 2018, 69. Vgl. Appendix VII.2., Bsp. 45.1. Zur religiösen Bedeutung des Gartens s. Kapitel III.3.2. Häusl und Aßmann 2018, 107. Vgl. zur Bedeutung der Gartenmetaphorik Fischer 2015.

117 liebte bereitet hat mit der Verkostung ihrer Früchte, d.h. mit dem Genuss ihrer Liebe und kann in seiner anhaltenden Affizierung nicht umhin, auch den Freunden die Freuden des Liebesgenusses zu empfehlen. In Hld 6,11 ist von einem Walnussgarten (ginnat ʾærgôz) die Rede, zu dem die Geliebte ins Tal hinabgehen will, um den Blütenstand von Weinstock und Granatapfel zu überprüfen. Der Walnussgarten stellt eine Rarität dar. Die Walnuss kommt in der gesamten HB nur hier in Hld 6,11 vor, obwohl der Walnussbaum eine weite Verbreitung im östlichen mediterranen Raum hatte. In dieser Metaphorik fügt er sich allerdings in die Reihe von Weinstock und Granatapfel als Anspielung auf die Fruchtbarkeit des Landes als auch der Geliebten ein.55 Dieser Vers ist gleichzeitig ein Hinweis auf das „geduldige Warten“56 des Geliebten hinsichtlich ihrer Blütenstandprüfung, ob sie also bereit ist für die Liebe. Schließlich beschreibt der Geliebte in Hld 8,13 seine Geliebte erneut als seiner Leidenschaft entzogen. Sie verweilt in den Gärten, d.h. sie ist hinter den Mauern des Hauses und nur ihre Stimme dringt nach draußen. Dort wird sie allerdings auch von den Gefährten des Geliebten gehört. Sein Wunsch aber ist es, von ihr allein erwählt zu werden. Ihre Stimme will er hören, wie sie ihn zu sich ruft. Dies tut sie denn auch und treibt ihn zur Eile an, um die Höhen der lustvollen Duftatmosphäre, die Balsamberge, erneut mit ihm zu erklimmen. In der Gartenmetaphorik treten Natur, kultivierte Nutzpflanzen und Menschen in Dialog miteinander. Erneut werden die resonanten Bezugsfelder füreinander durchlässig, wenn im angelegten und bewässerten Garten der natürliche Fruchtstand zum Vergleich für die Liebesbereitschaft der Geliebten dient. Was in der Natur und im bewirtschafteten Garten zu beobachten ist, wie er umsorgt und gepflegt werden muss, wie er bewässert und beschnitten werden muss, und wie der natürliche Lauf der Jahreszeiten seine Früchte reifen lässt, so ist auch die Geliebte im Prozess des Liebeswerbens der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Geliebten. All seine Leidenschaft fließt in die Umwerbung seiner Geliebten und sie erwidert seine Avancen und nimmt die Gartenmetaphorik auf. Im Dialog miteinander und der Natur geschieht fortwährende Affizierung. Die Liebenden werden voneinander 55

56

Musselman 2012, 142. Keel 1992, 207–208; Häusl und Aßmann 2018, 107.

118 und dem üppigen Garten berührt und bewegt. Plötzlich ist der Garten nicht mehr nur ein kultiviertes Stück fruchtbarer Boden mit allerlei fruchtragenden Pflanzen voller paradiesischer Genüsse und Düfte und in voller Blüte und Pracht, sondern er ist die Geliebte. Der Geliebte findet das Paradies bei ihr, in ihrer Liebe, in der Intimität ihrer Begegnung. Ihre Bereitschaft, sich so weit wie nur möglich für ihn zu öffnen, erotisiert die gesamte SelbstWelt-Beziehung der Liebenden. Darüber hinaus ko-variiert die Welt, in Form des Gartens, mit den sich verändernden Liebenden. Das gesicherte Überleben mit einem blühenden Garten voller Früchte und Kräuter ist nun gleichbedeutend mit der Lebenslust, die die Liebenden durch ihre Liebe erfahren. In gegenseitiger Durchdringung werden Genüsse des Gartens zu Genüssen des geliebten Gegenübers. Die existentielle Bedeutung, die die Liebesbeziehung in der Durchlässigkeit zwischen diagonalem und horizontalem Bezugsfeld erhält, verflüssigt die Grenzen zwischen Welt und Selbst und verbindet die Liebenden mit ihrer Umwelt in radikal relationaler Weise. Ein Garten ist jetzt immer auch mit der Geliebten verknüpft, beide werden in der Metapher zur Überlagerung gebracht. Beide spenden Lebendigkeit und fördern Lebenslust. Fruchtbarkeit des Gartens ist nun auch sich entwickelnde Liebesbereitschaft der Geliebten. Fruchtgenuss und Liebesgenuss werden zu sich wiederholenden Resonanzmomenten, stets eingedenk ihrer Unverfügbarkeit, die von Bewässerung, Pflege und Hingabe einerseits bzw. von Liebeswerben, Geduld und Bereitschaft andererseits abhängig ist. Es besteht kein Zweifel, dass die Liebenden ihre Selbstwirksamkeit aneinander erfahren und in einen affizierenden Dialog eingetreten sind, in dem die Dinge in der sie umgebenden Umwelt zur Steigerung der Resonanz dienen und die Lebenslust mit jeder Begegnung neu evozieren. Der Granatapfel (rimmonîm) kommt insgesamt sechsmal im Hld vor (Hld 4,3.13; 6,7.11; 7,13; 8,2) und ist im Allgemeinen ein Symbol für „Schönheit/Liebreiz sowie Fruchtbarkeit“57 im AO. Seit prähistorischer Zeit ist der Granatbaum als Kulturpflanze bekannt. Er wächst strauchartig, teilweise bis zu 10 Meter in die Höhe. Die Blüten des Baumes sind im Frühling granatrot und die reifen Früchte werden im September geerntet. Aus Granatapfel-

57

Häusl und Aßmann 2018, 69; vgl. auch; Uehlinger et al. 1984, 87; Zwickel 2002, 220. Zur Bedeutung des Granatapfels in Kunst und Kult, siehe Kapitel III.3.2.

119 kernen lässt sich u.a. Most herstellen (Hld 8,2), während ihre Schalen als Färbemittel verwendet werden können.58 Im doppelten Sinn von Schönheit und Fruchtbarkeit, dient der Granatapfel einerseits als Vergleich zur Beschreibung der Wangen der Geliebten, die ihren Liebreiz ausdrücken (Hld 4,3; 6,7),59 und andererseits als Verbindung von Fruchtbarkeit des Landes (Hld 6,11; 7,13; 8,2) und Fruchtbarkeit der Frau (Hld 4,13). Fruchtbarkeit, symbolisiert durch den Granatapfel, dient dazu, der Sinnlichkeit und dem bleibenden Reiz von Land und Frau Ausdruck zu verleihen: beide schaffen Lebensmöglichkeiten, sie ermöglichen neues Leben und verhelfen zum Genuss erfrischender Lebendigkeit, die sowohl der Genuss des agrarischen Produkts als auch der Genuss der Geliebten bedeutet. So wird die Selbst-Welt-Beziehung insgesamt erotisiert, wobei die Geliebte insbesondere und folgerichtig allein in den Blick kommt. Der Granatapfel(baum) ist ausschließlich mit ihr assoziiert. Ihre Wangen werden mit ihm verglichen, sie sieht nach, ob seine Blüten sprossen, ihr Schoss ist das Zentrum der Fruchtbarkeit, ein ganzer Park Granatäpfel (Hld 4,13). Der Geliebte darf diese Schönheit, diese Lebensfülle und überbordende Fruchtbarkeit der Geliebten genießen. Seine Welt verändert sich durch die Geliebte. Er sieht sie im aufblühenden und sprossenden Granatapfelbaum, er findet sie zum Anbeißen schön und trinkt ihre Liebe, d.h. er konsumiert ihren von Fruchtbarkeit strotzenden Körper im Liebesakt. Gleichzeitig geht es im Hld nicht um den Geschlechtsakt als solchen, abgelöst von der Sozialsphäre und dem religiösen Symbolsystem der Umwelt, sondern um die Resonanzqualität radikal relationaler Erotik, die in der Intimität eines Liebespaares ihren Ausdruck findet. Darin unterscheidet sich das Hld einerseits von der Liebesdichtung aus den benachbarten Kulturen, die in dieser Hinsicht viel eindeutiger sind,60 andererseits wird in den Beschreibungen auch deutlich, dass Lust, Körperlichkeit, Intimität und Nacktheit ganz natürlich 58

59 60

Riede 2017. Keel übersetzt: „Wie ein Riss im Granatapfel (ist) dein Gaumen (?) hinter deinem Schleier hervor.“ Keel 1992, 129. Vgl. Ploughing with the Jewels (sumerisches Liebesgedicht der Götterliebe zwischen Inanna und Dumuzi) in: Black et. al. 2006, 85f. A love song for Šu-Suen (sumerisches Liebesgedicht einer Frau an den König) ebd., 88–89. Oder auch love lyrics of Nabû and Tašmetu, das neuassyrische Götterliebespaar (Nissinen 1998b).

120 im Liebesspiel der Liebenden ihren Platz haben. Hier gibt es keine Scham, aber auch keinen Voyeurismus oder gar Pornografie. Eine Genitalfixierung ist dem Hld nicht zu eigen.61 Das Hld will nicht die Fixierung auf den Geschlechtsakt oder die Geschlechtsteile in den Mittelpunkt rücken, weil Pornografie der Inbegriff einer „das Weltverhältnis fixierenden und verhärtenden“62 Beziehung wäre. Verfügbarmachung, Verdinglichung oder Fixierung spielen sich im Hld nicht ab, im Gegenteil. Es geht darum, in dieser fluiden Atmosphäre sinnlicher Affizierung, sexueller Lust und sich verflüssigender Selbst-Welt-Beziehungen, den Weg in ein radikal relationales, erotisiertes, geweitetes Weltverhältnis zu beschreiben, in dem nicht nur die Liebenden, sondern die ganze Welt sich wandelt. Dieser Transformationsprozess ist es, den das Hld darstellen will und der „mit intensivierten Naturwahrnehmungen und einer Ästhetisierung des Alltagslebens verknüpft ist.“63 Sexualität dient hier als Vergleichspunkt, weil sie in ihrem Affizierungspotential enorm aufgeladen ist. Aber das Hld bleibt nicht bei ihr stehen, sondern nimmt in den Blick, was durch die gelebte Sexualität an erotischer Affizierung insgesamt geschieht. Sehen die Liebenden einander in der Welt, ist die Welt nicht mehr dieselbe, sondern gerät nun als geliebte Welt in den Blick. Durch ihre Resonanzerfahrungen haben sich ihre Selbst-Welt-Beziehungen transformiert und die resonanten diagonalen und horizontalen Bezugsfelder stabilisiert. Die Liebenden finden sich verändert vor und neu in die Welt gestellt. An dieser veränderten Weltbeziehung haben auch noch andere Dinge Anteil. Unter den Nutzpflanzen im Hld kann neben dem bereits behandelten Weinstock noch der Apfelbaum bzw. Äpfel mit vier Nennungen aufwarten (Hld 2,3.5; 7,9; 8,5). Es ist nicht ganz sicher zu belegen, dass das hebräische Wort tappuaḥ wirklich mit Apfel korrekt übersetzt ist oder nicht vielleicht doch die Aprikose oder eine andere Frucht gemeint ist.64 In jedem Fall ist diese Baumart mit ihren Früchten aufgrund ihrer Besonderheit (was womöglich eher für den Apfelbaum spricht) idealer Bildspender für die Quali61

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63 64

Vgl. Thiele 1988, 110–111. Rosa 2018a, 138. Vgl. bspw. Boer, der in seiner Qualifizierung des Hlds als Pornografie die Verdinglichung und Verfügbarkeit von Sexualität beschreibt, die dadurch jegliche erotische Lebendigkeit und radikale Relationalität verliert (Boer 1999, 57-60; 62-63). Rosa 2018a, 139. Statt Apfel wird tappuaḥ bspw. von Musselman mit Aprikose übersetzt (Musselman 2012, 21–22). Vgl. Häußl und Aßmann, die neben Aprikose auch noch Bitterorange vorschlagen (Häusl und Aßmann 2018, 71).

121 täten des Liebespaares. Überdies gilt der Apfel als aphrodisierend und ist im Kontext von Liebesgenuss in Gedichten bspw. sumerischer Provenienz belegt.65 Bei der griechischen Dichterin Sappho ist der reife Apfel in der Baumkrone ein Bild für die Unerreichbarkeit der Geliebten.66 Die Geliebte empfindet ihren Geliebten als außergewöhnlich unter den vielen jungen Männern in ihrem Umfeld. Sie vergleicht ihn mit einem Apfelbaum zwischen den Waldbäumen und verweilt in seinem Schatten, wo ihr seine Früchte besonders süß schmecken (Hld 2,3). In seinem Schatten, also unter seinem Schutz und durch seine Besonderheit, verbringt sie gerne Zeit mit ihm und hat es nicht eilig, woanders hinzugehen. Seine Früchte, die sie genießt, beziehen sich auf den Liebesgenuss. Er schmeckt ihr süß, er verhilft ihr zu beglückend süßem Erleben, gerade so wie sie für ihn der Honig ist. Beim Erzählen über ihr Liebestreffen verleiht sie ihrer Schwäche Ausdruck, die dadurch entsteht, dass sie gerade nicht in den Genuss seiner Liebe kommt und daher mit Rosinenkuchen und Äpfeln erfrischt und gestärkt werden will (Hld 2,5), also wieder mit den Früchten, die sie mit ihrem Geliebten verbindet. Auf diese Weise wird anschaulich, wie die Bezugsfelder füreinander durchlässig werden. Sie werden es dort, wo Qualitäten der Dinge jederzeit zu Attributen für einen Menschen werden können und menschliche Qualitäten genussvoll wie Dinge anverwandelt werden. Auch das Apfelbaum Motiv verfehlt seine erotisierende Wirkung nicht. Besonders da, wo der Atem der Nase der Geliebten mit Apfelduft und seiner belebenden Wirkung auf den Geliebten verglichen wird (Hld 7,9). Im Liebesgenuss und in unmittelbarer Nähe zum Atem der Geliebten wird der Geliebte erfrischt und bezieht daraus seine Lebenskraft, bevor er sich durch neuerliche Küsse der Geliebten ihrer berauschenden Wirkung, die besser als der Wein ist, hingibt (Hld 7,10a). In Hld 8,5 kommt der Apfelbaum unter einem anderen Aspekt in den Blick. Unter dem Apfelbaum hat die Geliebte den Geliebten aufgestört. Er ist nun nicht mehr der Apfelbaum selbst, sondern ruht ebenfalls in seinem Schatten. Dieser Ort steht in generationeller Verbindung mit der Mutter des Geliebten, denn von ihr ist gesagt, dass sie ihn unter dem Apfelbaum gebo65

66

Vgl. Keel 1992, 82, 86. Fragment 116D in: Sappho 2014.

122 ren hat. So wird eine überzeitliche Verbindung hergestellt zwischen der Geburt des Geliebten unter dem Apfelbaum und dem Liebesgenuss der Liebenden am selben Ort. Über die Zeit hinweg ist dieser Ort etwas Besonderes. Er verbindet die Generationen miteinander und auch ihre Liebe. Die affizierten Liebenden sind nicht nur Individuen oder ein Liebespaar, sondern sie sind auch Sohn und Tochter von Müttern und Vätern, die selbst einmal Liebespaare waren. Das macht den Ort des Apfelbaums zu einer Art Liebes-Stammbaum der Generationen. So kommt mit dem Apfelbaum auch das vertikale Bezugsfeld in den Blick in Form von Geschichte, von Generationengeschichte. Der Baum wird Teil der Familiengeschichte in ihren erotischen Aspekten und berührt und bewegt die Liebenden, während er im Dialog mit ihnen von lebensbejahender Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeugt.67

67

Ähnlich argumentiert Keel 1992, 244–245.

123 1.1.3. Nutztiere Unter den natürlichen Lebensbedingungen ist weiterhin das Verhältnis des Menschen zu den Nutztieren zu beachten, das Aufschluss geben kann über die Bedeutung der vielfältigen Vergleiche zwischen den Liebenden und den Tieren im Hld. Es kommen vor allem Kleinviehherden, meist Ziegen oder Schafe vor (ʿedær, ʿædrē; ṣoʾn), die insgesamt vier Mal im Hld erwähnt werden (Hld 1,7.8; 4,1; 6,5; Schafe in 4,2; 6,6). Der Bezug zu den Wildtieren wird im nächsten Kapitel behandelt. Die folgenden einleitenden Worte beziehen sich aber auf beide Tierarten. Tiere spielen eine wichtige und nicht zu unterschätzende Rolle in der alttestamentlichen Welt. Nach biblischem Zeugnis teilen sie mit dem Menschen nicht nur den Lebensraum, sondern sind ebenfalls von Gott geschaffen und zu lebendigen Wesen gemacht (Gen 2,19; vgl. Gen 1,30). Sie bevölkern Wasser, Land und Luft nach ihrer Art und sind dem Menschen anvertraut, der laut seinem Schöpfungsauftrag über sie herrschen soll, was bedeutet, dass die Menschen sich als von Gott eingesetzte Herrscher in besonderer Weise kümmern und als verantwortungsvoll erweisen sollen gegenüber der ganzen Schöpfung, die Gott gehört (Gen 1,28-30; vgl. Ps 8,7-9; 50,10-11; Ps 148,7-13; Jer 27,5).68 Dies schließt einerseits eine gewisse Verfügungsgewalt über die Tier- und Pflanzenwelt ein, ist aber im Kontext der Vorstellung eines Königsamtes als Verantwortung aller Menschen eben auch mit „Hege und Pflege“69 verbunden, durch die die Menschen Gott gegenüber für ihren Umgang mit der Tier- und Pflanzenwelt rechenschaftspflichtig bleiben. In früher Zeit war den Menschen die enge Beziehung und wesenhafte Nähe zum Tier präsent. Im sozialen Miteinander spielten auch die Verhaltensweisen und das Wohlergehen der Nutztiere eine Rolle, denn gerade „Schaf- und Ziegenherden bildeten die Hauptlebensgrundlage der agrarischen Gesellschaft.“70 Das enge Zusammenleben von Menschen und Nutztieren war daher auch Gegenstand schadensrechtlicher Regelungen, wenn bspw. ein Rind jemanden umstieß und tötete, musste es ebenfalls getötet werden. Das Tier musste genauso Verantwortung für seine Tat übernehmen 68

69 70

Riede 2002, 220–221. Kessler 2017, 98. Schroer 2010, 11.

124 wie der Mensch (Ex 21,28; vgl. Gen 9,5). Genauso war es aber auch vor Ausbeutung geschützt, indem es ebenso wie der Mensch die Sabbatruhe einhalten sollte (Ex 23,12; Dtn 5,14).71 Auch das Zugeständnis, den Tieren vom Ertrag des Feldes zu fressen zu geben, zeugt von einer Fürsorge dem Arbeitstier und sogar den wilden Tieren gegenüber (vgl. Ex 23,11; Lev 25,6-7).72 Insgesamt nimmt es nicht Wunder, dass das Tier auch Gott gegenüber wichtig ist und von Gottes Fürsorge und Heilswirken nicht ausgeschlossen wird (vgl. Jona 4,11; Ps 104,10-30; Joël 1,18-20; 2,21-22; Röm 8,19-22).73 „Auch das Tier ist nicht nur Materie, sondern beseeltes Wesen, von Gott gewollt, auf ihn hin ausgerichtet, von ihm geschützt und geliebt, gleich dem Menschen von seinem Erbarmen lebend.“74 Und mehr noch, es kennt Gott und weiß um die Schöpfungsordnung, in der es bis heute lebt, wo der Mensch sie nicht schon zunichte gemacht hat (vgl. Ijob 12,7-10).75 Darüber hinaus teilen Tier und Mensch auch die Vergänglichkeit. Beide kehren dereinst zum Erdboden zurück (vgl. Koh 3,19-21).76 Bei der großen Bedeutung der Tierwelt für die Menschen und der gemeinsamen Nutzung des Lebensraums, diente die Beobachtung des Wachstums, Aussehens und des Fress-, Jagd- und Sozialverhaltens der Tiere als Vergleichspunkt für die Eigenschaften von Göttern und Menschen gleichermaßen.77 Für den Kontext des Hlds hat allein die viermalige Erwähnung der 71

72 73

74 75 76

77

Henry 1993, 37–38. Ebd., 38-39. Ebd., 44. Diese Hochschätzung des Tieres erweist sich auch im Opferkult, in dem das Tier die Stelle der Menschen einnimmt und durch die Opferung Sühnung für sie erwirkt (Ebd., 42). Ebd., 48. Schroer 2010, 23–24. Das Verhältnis zum Tier ist auch innerbiblisch erkennbar Veränderungen unterworfen. So ist nicht nur die Erlaubnis, Tiere zu beherrschen und sie auch verzehren zu dürfen (Gen 1,29-30; 9,2-3) ein Unterschied zum Verhältnis von Mensch und Tier als Gefährten im Paradies (Gen 2,18-20), sondern es gab natürlich auch in antiker Zeit menschliches Verhalten, das zur Ausrottung von Arten und zur empfindlichen Bestandreduzierung von bspw. Bäumen wie der Zeder führte (vgl. Janowski et al. 1993, 153; Häusl und Aßmann 2018, 122). Das Hld knüpft m.E. aber an die Wertschätzung des Tier-Mensch-Verhältnisses an und steht daher der Schöpfungserzählung von Gen 2,18-20 näher. Riede 2002, 178ff. Als Nachschlagewerk zur Bedeutung der Flora und Fauna Symbolik bei Göttinnen und Göttern in der Ikonografie Kanaans und Israels ist hervorragend geeignet: Keel und Uehlinger 2010. Weitere Ausführungen im nächsten Kapitel.

125 Kleinviehherden den Sprung in die Analyse geschafft. Ihnen kommt zweierlei Bedeutung zu: Sie werden im Kontext von Arbeit und als Vergleich für die Schönheit und Vitalität der Geliebten erwähnt. In Hld 1,7.8 sind sowohl die Geliebte als auch der Geliebte für das Hüten und Weiden der Herden verantwortlich. Vieles weist darauf hin, dass es für die Jugend keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gab. So wie die Frau im Weinberg arbeitet, so hütet sie selbstverständlich auch die Ziegenherde.78 Bei aller Sehnsucht nach dem nächsten Treffen, vergessen die Liebenden doch nicht, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen. Die Herden werden geweidet und zur Mittagszeit gelagert und auch die Zicklein sollen geweidet werden, nachdem sie auf ausgetretenem Pfad der anderen Herden und unter Führung der Geliebten den Weg zu den Wohnungen der Hirten gefunden haben. Die enge Verbindung der Menschen mit Land und Tieren in liebevoller Fürsorge spiegelt eine lebenszugewandte Leidenschaft wider, die die Welt miteinbezieht. Liebe und Arbeit sind hier nicht getrennt, sondern Teil ein und derselben Welt und Ausdruck der menschlichen Geschöpflichkeit. Das Kleinvieh ist mit einbezogen in das Rendezvous der Liebenden. Das Hüten der Herde ist ebenso wichtig wie das Liebestreffen. Beide gehören zur selben Wirklichkeit und werden nicht voneinander getrennt. Die Zicklein, deren zartes Fleisch im Land sehr beliebt war, sind ein ideales Symbol für die Jugendlichkeit und Vitalität der Geliebten, die unerschrocken und zielstrebig den Aufenthaltsort ihres Geliebten aufsucht.79 Während das Vieh an abgeschiedenem Ort lagert, vergnügen sich die Liebenden miteinander. An anderer Stelle wird das Haar der Geliebten mit einer den Berg herablaufenden Ziegenherde verglichen (Hld 4,1; 6,5). Ein Bild höchster Vitalität, und ein exzellenter farblicher Kontrast zu ihren Zähnen. Da die Ziegen meist schwarz und langhaarig waren und ihr Haar gerne zur Herstellung von Zeltbahnen verwendet wurde, wird hier die Aussage der Geliebten in Hld 1,5 noch einmal aufgegriffen und der Bezug zwischen Tier, Mensch und Dingen als ganzheitliches Weltverhältnis deutlich. Gegenüber den schwarzen Haaren der Geliebten stechen ebenso ihre weißen Zähne hervor. Ihre Zähne sind so weiß wie Schafe, die aus der Schwemme kommen, bevor 78

79

Vgl. Fischer 2018, 194ff. Vgl. Schroer 2010, 39.

126 sie geschoren werden (Hld 4,2; 6,6).80 Hierin ist der Hinweis auf weitere textile Materialien enthalten, wenn die Wolle der Tiere in den Blick kommt, die zu Kleidung verarbeitet wurde, und die Zusammenhänge zwischen Viehzucht und menschlichen Kulturtechniken wie Spinnen, Weben und Nähen verdeutlicht. Aus der Tierbeobachtung und dem Umgang mit den Tieren, ihrem Haar und ihrer Wolle kommen die Vergleiche, die die Schönheit und Vitalität auf die Geliebte übertragen. Sie fügt sich ein ins agrarische Bild der gemeinsamen Lebensbezüge. In Tieren, Landschaften und Dingen wird die Geliebte für den Geliebten sichtbar, wird er an sie erinnert. Auf diese Weise ist auch die Tierwelt aus der Dingwelt herausgelöst und wird Teil des resonanten horizontalen Bezugsfelds. Tiere sind nicht nur Nutzvieh, sondern affizieren mit ihrer Lebenskraft, die sie mit dem Menschen gemeinsam haben und mit ihrem Aussehen. Sie treten in den Dialog mit den Menschen. Ihre hohe Wertschätzung und ihre existentielle Bedeutung für die Menschen im Alten Israel, macht die Tiere zu wunderbaren Vergleichspunkten für die Qualitäten des geliebten Gegenübers. Hierdurch wird die Intensität und Zugewandtheit der Beziehung zwischen Menschen und Tieren verdeutlicht, die letztlich in der gemeinsamen Geschöpflichkeit wieder auf den Schöpfer verweist. Menschen und Tiere teilen den Lebensraum miteinander und sind in vielfältiger Hinsicht aufeinander bezogen und voneinander abhängig. In diesem engen Beziehungsgeflecht kommen Aspekte der Fürsorge, des Vertrauens und der Pflege in den Blick. Diese Aspekte sind auch in der Liebesbeziehung vonnöten, wenn sie fortgesetzt Resonanz ermöglichen soll. Läuft die Ziegenherde vom Berg Gilead hinab, um dem Vergleich des wallenden Haares der Geliebten zu gereichen, so muss sie ja zuvor hinaufgetrieben worden sein und fand dort sicher gute Weide vor, denn bei Tieren ist glänzendes Fell mit guter Ernährung assoziiert. Der Vergleich ist also nie einfach oberflächlich nur dem Augenschein nach gewählt, sondern birgt ein tieferes Verständnis über die lebensweltlichen Zusammenhänge damaliger Zeit, die sich als Vergleichspunkt der Liebesbeziehung anbieten. Dieses Verständnis liegt in der radikalen Relationalität begründet, die nach biblischer Aussage Menschen, Tiere und Natur mit Gott verbindet. Sie stehen miteinander im Dialog, werden voneinander berührt und bewegt, erkennen bzw. erleben ihre Selbstwirksamkeit und verändern sich dadurch. Die ero80

Ebd., 32.

127 tische Attraktion, die im Hld durch alle Verse pulsiert, befördert diese Relationalität und sorgt für fortgesetzte Affizierung und weitere Resonanzmomente zwischen den Liebenden. 1.2. Natürliche Lebensbedingungen im vertikalen Bezugsfeld Im Bereich der natürlichen Lebensbedingungen im vertikalen Bezugsfeld unterscheide ich zwischen der unberührten Natur, Naturphänomenen und den Wildtieren. Auch hier gilt, dass die Analyse allein jene Worte berücksichtigt, die ab vier Nennungen aufwärts vorkommen. Insofern beschäftigt sich dieses Kapitel mit dem Libanon, dem Lotos, dem Tag sowie den Gazellen und Tauben. Wie schon zuvor werden die einzelnen Worte in ihrer Bedeutung im AO allgemein bzw. im biblischen Kontext vorgestellt und eingeordnet, bevor dann ihre Analyse unter erotischen und resonanztheoretischen Aspekten erfolgt. Im vertikalen Bezugsfeld steht die Verbindung zur Natur als numinoser Größe als Transzendenzraum im Vordergrund. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über alle im vertikalen Bezugsfeld vorkommenden Worte aus dem Hld. Vertikales Bezugsfeld Unberührte Natur

Naturphänomene

Natürliche Lebensbedingungen Berge und Hügel Berg, -spitze Amanah; Hermon und Senir; Karmel Gilead Große Wasser und Ströme Libanon Lotos (šošannā) Lilie(nart) (ḥabaṣṣelet) Tal, Täler Wasserbäche Wildnis Zeder Feuer Morgenröte Mond Nacht Nordwind und Südwind Regen Sonne Tag

Verse im Hohelied 2,8 4,8 4,8; 7,6 4,1, 6,5 8,7 3,9; 4,82.11.15; 5,15; 7,5 2,1.2.16; 4,5; 5,13; 6,2.3; 7,3 2,1 2,1; 6,11 5,12 3,6; 8,5 5,15 8,6 6,10 6,10 3,1.8; 5,2 4,16 2,11 1,6; 6,10 1,7; 2,17; 3,112; 4,6; 8,8

Anzahl 1 Je 1 Je 1 2 1 7 8 1 Je 1 1 2 1 1 1 1 3 Je 1 1 2 6

128

Wildlebende Tiere

Tod Winter Zeit des Singens (Frühling) Füchse Gazellen und Hirschkühe Tierjunge der Gazelle und junger Hirsch Löwen und Leoparden Rabe Taube/n und Turteltaube

8,6 2,11 2,12 2,152 2,7.9.17; 3,5; 4,5; 7,4; 8,14 2,7; 3,5 4,5; 7,4 2,9.17; 8,14 4,8 5,11 1,15; 2,14; 4,1; 5,2.12; 6,9 2,12

Tabelle 3: Natürliche Lebensbedingungen im vertikalen Bezugsfeld

1 1 1 2 7 2 2 3 Je 1 1 7

129 1.2.1. Unberührte Natur Der Libanon (leḇānôn) wird siebenmal im Hld erwähnt (Hld 3,9; 4,82.11.15; 5,15; 7,5). Er bezeichnet die Gebirgskette im Norden des Landes, Anti-Libanon die ihm östlich gegenüberliegende. Der Libanon war zu biblischen Zeiten besonders berühmt für die dort wachsenden ausgedehnten Zedernwälder, von denen heute jedoch aufgrund massiver Abholzung nur noch ein Bruchteil übrig ist.81 Eine Zeder kann bis zu 1000 Jahre alt werden und trägt erst ab dem 30. Jahr ihres Wachstums Früchte.82 Zedern können eine Höhe von bis zu 40 m, und ihr Stamm kann einen Durchmesser von bis zu 2,5 m erreichen.83 Libanon-Zedern wurden überwiegend als Bauholz eingesetzt, aber auch die Zapfenschuppen der Baumfrüchte wurden gewonnen, da sie einen aromatischen Duft verströmen.84 Als metaphorischer Vergleich wurden sie häufig mit dem König in Verbindung gebracht, um dessen Stattlichkeit, überragende Stärke und Macht zum Ausdruck zu bringen.85 Auch die Macht Gottes wird dort deutlich, wo es heißt, dass die riesigen Libanon-Wälder von Gott persönlich gepflanzt wurden (Ps 104,16). Über König Salomos Bautätigkeit in Jerusalem wird gesagt, dass er den Tempel, den Palast, das Libanon-Waldhaus, den Palast seiner Ehefrau und Tochter Pharaos (1 Kön 6-7,12; vgl. auch 2 Chr 3,1-14) erbauen ließ, wofür Libanon-Zedern von König Hiram aus Tyrus geliefert wurden (1 Kön 5,15-32; 2 Chr 2,1-17). Genau diese Bautätigkeit greift das Hld in Vers 3,9 auf, wo es heißt, dass sich König Salomo eine Sänfte aus Holz vom Libanon bauen ließ, in der er bei dem hier beschriebenen Festzug getragen wird. Diese mutet selbst an, wie ein kleiner tragbarer Palast, mit Säulen aus Silber, Bespannung aus Gold und teuren Purpurstoffen ausgelegt (Hld 3,10). So kommt der Libanon als Baustofflieferant in den Blick und somit als majestätische Bezugsgröße bei einer königlichen Hochzeit. Die Libanonregion dient der Verdeutlichung der Höhen der Liebe, die der König am Tag seiner Hochzeit erklimmt (Hld 3,11). So wird der Naturbezug über die Verarbeitung seiner Rohstoffe 81

82 83 84 85

Musselman 2012, 38; Häusl und Aßmann 2018, 122. Ebd., 124. Goodfellow 2019, 21. Häusl und Aßmann 2018, 124–125. Musselman 2012, 37.

130 zum Bild für Majestät und herausragende Qualität, die in der Verbindung des Königspaares ihre Entsprechung findet. Der Libanon wird als majestätisches Naturphänomen und Hochgebirgskette und als Herkunftsort der Liebenden beschrieben (Hld 4,8).86 Sie soll mit ihrem Geliebten gemeinsam vom Libanon kommen. Sie soll von den Bergspitzen verschiedener Gipfel hinabsteigen zu ihm. Diese als Höhen der Liebe anmutenden Vergleiche, im Verbund mit der Nennung gefährlicher Raubtiere (Löwe und Panther), erwecken beim Geliebten einen nachhaltigen Eindruck: die Geliebte ist furchteinflößend, denn sie hat sein Herz weggenommen (Hld 4,9). Wohl aufgrund ihrer Liebesmacht über ihn, hat der Genuss der Liebeshöhen dafür gesorgt, dass er sein Herz an sie verlor. Mit einem Blick der Liebe und Zuwendung hat sie ihm das Herz gestohlen, das zusätzlich mit dem funkelnden Edelstein ihrer Kette wie ein strahlendes Zwinkern daherkommt. In jedem Fall ist ihre Liebe für ihn ein ganzheitlich beglückendes, berauschendes und betörendes Geschehen (Hld 4,10), welches ihn unter ihrer Zunge das gelobte Land finden lässt (Hld 4,11). In den Liebeshöhen und dem geraubten Herzen, in den Küssen, die das gelobte Land evozieren und in den Düften ihrer Gewänder, die den Libanon in seiner Gesamtheit olfaktorisch heraufbeschwören, wird die Liebesmacht der Geliebten vom Anfang dieses Abschnitts wieder aufgegriffen. Der Geliebte hat in seiner Selbstreflexion erkannt, dass sein Herz ihm nicht mehr selbst gehört, sondern dass sein gesamtes Denken, Fühlen und Wollen nun in der Hand der Geliebten ist. Sie ist das Zentrum seines Lebens, um sie kreisen seine Gedanken, in ihrer Nähe will er sein, koste es, was es wolle. An ihrer Liebe allein will er sich berauschen. In Ehrfurcht vor dieser Liebesmacht gehen diese Verse in sinnlicher Fülle und Lebendigkeit auf. Immer neue Vergleiche finden die Liebeslieder, um die vielfältige Affizierung durch das geliebte Gegenüber auszudrücken. Affiziert durch Düfte, Geschmack und Intimität, wird durch den Bezug zur Hochgebirgsregion der Natur ein neuer Aspekt für das Transformationspotential der Selbst-WeltBeziehungen der Liebenden eröffnet. Diese Liebeshöhen erreichen sie ge86

Häufig wird dieser Umstand im Kontext der dichterischen Umwelt des Hlds als Übertragung der Attribute altorientalischer Göttinnen auf die Geliebte gedeutet. Manche Göttinnen bewohnten in den Vorstellungen damaliger Zeit ebenfalls häufig die Berge und übten furchteinflößende Macht aus, ikonografisch begleitet von wilden Raubtieren, vgl. dazu Keel 1992, 145–149; Janowski et al. 1993, 308; Schroer 2013, 125.

131 meinsam. Wenn sie aus diesem Höhenrausch wieder in den Alltag zurückkehren wird deutlich, dass sich etwas Wesentliches in ihrem Innern verändert hat. Der Geliebte drückt das durch sein weggenommenes Herz aus. Nicht nur im Erlebnis des Liebesgenusses, sondern auch danach hat er eine nachhaltige Veränderung erfahren, die ihn ehrfürchtig werden lässt, ob der Kräfte, die da nun auf ihn wirken. Gemeinsam mit dem nachfolgenden Vers in Hld 4,12, in dem die Geliebte mit einem verschlossenen Garten und einer versiegelten Quelle verglichen wird, stellt der Geliebte eine erlernte Lektion über die Liebe fest: Erst da, wo es dem Geliebten gelingt, sich selbst seiner Geliebten maximal zu öffnen und die Radikalität der Beziehung, die weit über das Paar hinausreicht zu erkennen und sich davon affizieren zu lassen, da öffnet auch sie sich für ihn und sie können sich gemeinsam dem Liebesgenuss hingeben. Der Libanon-Duft und seine Höhen sind in ihrer Bedeutung verändert, denn sie sind im Kontext der Liebesbeziehung neu besetzt. Quelle, Gärten, Brunnen lebendigen Wassers fließen nun vom Libanon herab (Hld 4,15), dem Ort, an dem die Liebeshöhen erfahren wurden. Und auch die Zedern sind nun nicht mehr anders zu denken als im Verbund mit der herausragenden Erscheinung des Geliebten (Hld 5,15). Alle Sehnsüchte, Wünsche und Emotionen der Liebenden lassen sich im Dialog mit dem Libanon auf beide Partner anwenden: Die Berge als Teil von Gottes Schöpfung stehen für die Höhen der miteinander erfahrenen Liebe, während alles Belebende und lebendig machende wie Quellen, Brunnen und ein blühender Garten, nun von der Geliebten abhängen. Die mit ihr erlebten Liebeshöhen speisen nun auch alle anderen Liebesgenüsse. Sie ist der bewässerte Garten, den der Geliebte genießen kann. Er ist die stattliche und duftende Zeder, die ihr die Sinne betört. Über ähnlich lebendig machende Wirkung verfügt auch der Lotos. Die Lotosblume (šušan, šôšannîm) wird achtmal im Hld erwähnt (Hld 2,1.2.16; 4,5; 5,13; 6,2.3; 7,3). Lotos (auch Seerose) wächst vorzugsweise in wasserreichen Gegenden oder Sumpflandschaften. Lotosblumen schließen über Nacht ihren Blütenkelch und öffnen ihn am Morgen wieder mit den ersten Sonnenstrahlen.87 In ihrer Bedeutung ist daher vor allem die lebenserneuernde, lebenspendende Kraft betont, die mit einem berauschenden Duft ein87

Vgl. Häusl und Aßmann 2018, 141; 143.

132 hergeht.88 Lotos ist vor allem im antiken ägyptischen Kunsthandwerk eine beliebte und häufig abgebildete pflanzliche Zugabe zu den Göttern. Der Duft der Lotosblume betört nicht nur, sondern gilt als erfrischende, regenerative Aromabehandlung, die Kraft schenkt für neues Leben.89 Im Kontext der HB wird der Lotos auch im Interieur des salomonischen Tempels aufgegriffen als florale Verzierung an Kapitellen von Säulen (1 Kön 7,19.22) und beim ehernen Meer (Wasserbecken im Heiligtum), das vermutlich der Form eines aufgegangenen Lotos nachempfunden ist (1 Kön 7,26; 2 Chr 4,5). Es liegt nahe anzunehmen, dass hier Gott als Spender der regenerativen Lebenskraft verehrt wird, unter Verwendung von Symbolen, die damals allgemein bekannt waren und in ihrer Wirkmächtigkeit in den Kontext der israelitischen Religionspraxis aufgenommen wurden. Die Symbolkraft des Lotos ist für den Kontext des Hlds eindeutig im vertikalen Bezugsfeld anzusiedeln, denn über die Pflanze und ihre Wirkung entsteht der Bezug zu dem, der die Pflanze wachsen ließ, ihr diese Kraft verlieh und dafür gepriesen wird. Hier ist keine Kulturleistung des Menschen vonnöten, die Lotosblume entfaltet ihre Kraft unabhängig von menschlicher Pflege und gedeiht in wasserreichen Gegenden im Verbund mit der Sonnenkraft. Ein Bild überbordender Lebendigkeit und frischen Lebens inmitten von Wasser und Licht. In Hld 2,1 stellt sich die Geliebte als Lilie und Lotos selbst vor, woraufhin der Geliebte bestätigt, dass sie wie ein Lotos unter Dornen ist, sich also von den anderen jungen Frauen immens unterscheidet, da sie als Person insgesamt neues Leben schenkt und berauscht, während der trockene, stachelige und in verödeter Gegend und unbearbeitetem Ackerboden beheimatete Dornenstrauch das genaue Gegenteil verkörpert, nämlich die „Lebensfeindlichkeit.“90 Beim Anblick anderer Frauen werden bei ihm also keine lebenspendenden Assoziationen geweckt (Hld 2,2). Die Geliebte identifiziert sich direkt mit der Flora, und auch der Geliebte nimmt diese Identifikation auf und führt sie weiter, denn es gibt für beide kaum einen passenderen Ausdruck, um die belebende Wirkung, die sie füreinander haben, zu beschreiben als durch diesen wirkmächtigen floralen Vergleich. Der Geliebte ist in seiner Zugehörigkeit zur Geliebten daran erkennbar, dass er ihrer lebenspendenden Nähe nicht satt wird und sich gütlich tut an ihr, 88

89 90

Keel 1984, 72. Uehlinger et al. 1984, 87; Keel 1992, 80. Häusl und Aßmann 2018, 155. Vgl. auch Riede 2020.

133 ihre lebenspendende Kraft in der intimen Begegnung genießt im Bild des Weidens (Hld 2,16; 6,2.3), das sowohl in Bezug auf ihre Brüste (Hld 4,5) und deren vitale, lebenspendende Qualität verwendet wird als auch für ihren von Lotos umgrenzten Bauch (Hld 7,3). Letzterer Vergleich macht die Verbindung von Vitalität, Regeneration und Fruchtbarkeit deutlich.91 Da Fruchtbarkeit, wie das Leben selbst, von Gott geschenkte Gabe ist, wird das vertikale Bezugsfeld durch die fortgesetzten Liebesbegegnungen mehr und mehr stabilisiert. Das wurde im Motiv des Apfelbaumes bereits zuvor schon angedeutet. Steht die Geliebte, die von sich selbst gesagt hat, dass sie der Lotos ist, im Hld folgerichtig im Mittelpunkt, so verfügt doch auch der Geliebte an einer Stelle über die lebenspendende Qualität des Lotos in seinen Küssen. Seine Lippen sind Lotos (Hld 5,13), was bedeutet, dass die regenerative Wirkung seiner Küsse der Geliebten zu neuer Lebendigkeit verhilft. Im Öffnen seines Mundes wird die sich öffnende Lotosblume assoziiert, die mit den ersten Sonnenstrahlen erwacht und sich öffnet, um ihren betörenden Duft zu verströmen. In diesem Bild beschreibt die Geliebte die Wirkung der Küsse ihres Geliebten wie die Qualität und Symbolkraft des Lotos: berauschend, erfrischend, lebenskräftig. Dass die lebenspendende Wirkung der Küsse aber nicht so einfach verfügbar ist, zeigt der Kontext dieses Verses, denn während sie den Geliebten beschreibt, ist er abwesend. Er ist fortgegangen von der Tür der Geliebten, wo er zunächst Einlass gefordert hatte, aber abgewiesen wurde (Hld 5,2-6). Nachdem die Töchter Jerusalems nachfragten (Hld 5,9), was denn so besonders sei an dem Geliebten, beschreibt die Geliebte ihn in schillerndster Art aus dem Gedächtnis (Hld 5,10-16), in der Hoffnung, in naher Zukunft wieder mit ihm vereint zu sein. Gleichzeitig werden Selbstwirksamkeitserwartungen beschrieben, bspw. wenn die Geliebte aus lauter Sehnsucht des nachts hinausgeht in die Stadt und sogar die gewaltvolle Begegnung mit den Wächtern der Stadt inmitten ihres Liebesleidens verwindet, nur um wieder mit ihrem Geliebten vereint zu sein. Ihn erreichen und berühren zu können. Sie hat für sich erkannt, dass ohne ihn kein Leben möglich ist, nur vergehende Lebenskraft, Schmerz und Liebeskrankheit (Hld 5,6-8). Diesem desaströsen Zustand kann nur doppelte Lebendigkeit und lebenspen91

Vgl. Riede 2015.

134 dende Wirkkraft entgegengesetzt werden in der Wiedervereinigung der Liebenden (Hld 6,2-3). Diese Liebesdialoge und Affizierungen reflektieren eine gesteigerte Selbstwirksamkeit im Hld. Nicht nur berühren und erreichen sich die Liebenden gegenseitig intensiv, sondern ihr ganzes intrinsisches Interesse richtet sich auf die geliebte Person und stimmt mit der schlechthin wichtigen Wertung überein, dass das Finden einer Partnerin eine Gabe Gottes ist, die ein Leben erst so recht lebendig macht (Sir 26,1-4). „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei,“92 heißt es schon in Gen 2,18. In der partnerschaftlichen Zusammenführung von Frau und Mann steckt daher nicht nur die Überwindung der Einsamkeit, sondern die Erotik, die Lebenslust, die die Liebenden maximal füreinander und ihr ganzes Umfeld öffnet, damit sie in zugewandter Weise ihre radikale Relationalität mit der gesamten Schöpfung begreifen und ihre Selbst-Welt-Beziehungen auf Lebendigkeit hinzielend gestalten (vgl. Spr 5,15-21).

92

LU17.

135 1.2.2. Naturphänomene Der Tag (jôm) kommt sechsmal im Hld vor (Hld 1,7 (Mittag); 2,17; 3,112; 4,6; 8,8). Tag und Nacht wurden laut biblischer Erzählung von Gott geschaffen und voneinander geschieden. Das Licht nannte Gott Tag und die Finsternis nannte Gott Nacht (Gen 1,5). So wird erzählt, wie ein regelmäßiger Rhythmus von Tag und Nacht entstand, und eine „Ordnung, eine Sinnhaftigkeit in den Blick“93 kommt, die Gottes Schöpfungshandeln verdeutlicht. Diese Ordnung ist sowohl in der Zeitstruktur erkennbar als auch in der Organisation des Lebens von Menschen und Tieren zu den verschiedenen Tages- und Nachtzeiten. Ps 104 dient hier als anschaulicher Referenzpunkt, in dem das Handeln Gottes an den Geschöpfen besungen und gepriesen wird: Du machst Finsternis, dass es Nacht wird; da regen sich alle Tiere des Waldes, die jungen Löwen, die da brüllen nach Raub und ihre Speise fordern von Gott. Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. Dann geht der Mensch hinaus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend.94

Die Wildtiere und die Menschen sind nach dieser Ordnung in ihrem Schaffen und Treiben voneinander getrennt. In der für die Menschen agrarisch orientierten Lebensorganisation, bildet der Zeitraum vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang einen Rahmen für die Arbeit,95 die in der Mittagszeit unterbrochen ist. Der Mittag ist die Ruhezeit (Hld 1,7).96 Die Nacht ist zum Ausruhen da und zum Verbleib im Schutz des Hauses oder Zeltes.97 Mit der Bezeichnung Tag ergibt sich der Bezug zu Gott in zweierlei Hinsicht: Einerseits durch die Schöpfungserzählung und die festgesetzten Abläufe der Tag-, Nacht-, und Jahreszeiten. Andererseits durch die Zuversicht auf Gottes Hilfe und Beistand in jeder Lebenslage an dem Tag, den Gott 93

94 95 96 97

Janowski 2019, 373. LU17. Vgl. Krüger 2009, 624–625. Lanckau 2008b. Vgl. Lanckau 2008a. Thöne weist darauf hin, dass die Nacht im Hld mit der Stadt verknüpft ist (Hld 3,1; 5,2) und daher als „potentiell bedrohlicher und gefährlicher Chronotopos erscheint.“ Thöne 2012, 386.

136 gemacht hat (Ps 118,24), also an jedem Tag. Der Tag mit seiner Wärme, mit den Düften und der schöpfungsgemäßen Verankerung in der sinnhaften Weltordnung Gottes, steht im Antwortverhältnis mit den Menschen, ihrer Arbeitseinteilung, ihren Genusszeiten und ihrer Anpassung an die Rhythmen der Natur. Im Hld ist die göttliche Ordnung vorausgesetzt, und die Liebenden fügen sich in sie ein und leben in ihr. Die Zeit zum gegenseitigen Genuss ihrer Liebe ist kein Widerspruch zu dieser Ordnung. Sie fügt sich in die erwachende, blühende und sprießende Natur ein und so auch in das große Ganze Gottes guter Schöpfung mit ihren Rhythmen (vgl. Gen 8,22). In der gegenseitigen Affizierung der Liebenden und durch die blühende Natur, spüren sie etwas von dieser ihre Liebe übersteigenden göttlichen Wirklichkeit, in der sie ihrem Auftrag gemäß schalten und walten. In ihr finden sie auch die Zeit, einander in Liebe und Leidenschaft zu begegnen, weil auch dies Teil ihrer schöpfungsgemäßen Erschaffung ist, dass sie zueinander finden, nicht um eins zu sein und zu einer Einheit zu verschmelzen, denn dann würde die Resonanz verstummen, sondern um einander mit ihrer einzigartigen Entsprechung zu erfreuen, lebendig zu machen und die Einsamkeit zu überwinden.98 Die Transformationskraft dieser radikal relationalen Selbst-Welt-Beziehung, in der Welt, Gott und Menschen miteinander im Dialog sind, berührt und bewegt werden und selbst berühren und bewegen, ist weder selbstverständlich noch kann sie gemacht werden. Sie ist ein Geschenk und verändert die Liebenden, ihre Welt und ihre Beziehung zu Gott, der da auftaucht, wo die Leidenschaft als Flamme Jahs beschrieben wird (Hld 8,6) und in seiner Intensität die machtvolle Qualität der empfundenen Liebe zwischen den Liebenden, ihren Sehnsüchten, Wünschen und Emotionen, adäquat wiedergibt.

98

Vgl. zur Erschaffung der Frau in der Schöpfungserzählung Gen 2,18-24 als Entsprechung des Mannes, als Hilfe zur Überwindung der Einsamkeit: Fischer 2017, 310–311, 2019, 275–276; Janowski 2009, 189, 2019, 99; Schroer 2017, 303.

137 1.2.3. Wildlebende Tiere Unter den wildlebenden Tieren stehen sowohl die Gazellen als auch die Tauben im Fokus.99 Die Gazelle (ṣeḇijāh, ṣeḇāʾôt) kommt im Hld siebenmal vor (Hld 2,7.9.17; 3,5; 4,5; 7,4; 8,14) und zählt zu den Tieren, die im ganzen AO eine Verbindung zu einer Göttin der Liebe aufweisen. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen „besonderen Lebens- und Regenerationskräfte“100 sind sie Symbolträger für die Wirkungen der gegenseitigen Liebesbeziehung. Gazellen sind anmutige Tiere, die mit einer gewissen Verspieltheit assoziiert werden können, wie sie so scheinbar mühelos und kraftvoll springen und hüpfen, gleich wie die Brüste der Geliebten (Hld 4,5; 7,4) oder wie der erwartungsvoll herannahende Geliebte (Hld 2,9.17; 8,14).101 Außerdem wurde das Fleisch der Gazellen zum Verzehr sehr geschätzt.102 In Hld 2,7; 3,5 wird bei den Gazellen oder Hirschkühen des Feldes geschworen, die Liebe nicht zu wecken, bevor es ihr selbst beliebt. Geschworen werden durfte eigentlich nur bei Gott (vgl. Dtn 6,13; 10,20). In diesem Kontext ist die Schwurformel nur dann verstehbar, wenn angenommen wird, dass die personifizierte Liebeskraft im Kontext israelitischer monotheistischer Religion als Gazellen-Symbol ohne den Bezug zu einer Göttin Eingang gefunden hat. Oder wenn das hebräische Wort im Plural als Bezeichnung Gottes gelesen wird (ṣeḇāʾôt), im Deutschen häufig zusammen mit dem Tetragramm vorkommend als Herr der Heerscharen übersetzt.103 Die Hirschkuh, die mit der Gazelle im Verbund in dieser Schwurformel auftaucht, könnte auf ein weiteres biblisches Motiv, auf die nach Wasser lechzende Hirschkuh verweisen, was wiederum als Ausdruck für die Sehnsucht nach Gott dient (vgl. Ps 42,2).104 So könnte die Schwurformel über99

100 101 102 103

104

Die Zeitschrift Bibel und Kirche widmete sich in einer Ausgabe exklusiv dem Thema: „Der andere Blick auf Tiere“ und beschäftigt sich in den versch. Artikeln mit der besonderen Beziehung von Mensch und Tier nach biblischem Zeugnis (und im Koran), Katholisches Bibelwerk e.V 2016. Uehlinger et al. 1984, 150. Riede 2002, 49. Uehlinger et al. 1984, 150. So übersetzen bspw.: LU17; ZB. In diesem Fall ist das zugrundeliegende hebräische Wort allerdings von ṣāḇāʾ abgeleitet, was so viel heißt wie: „Macht, Mächtigkeit, Heerscharen“ oder „der, der auf dem Thron sitzt.“ Kreuzer 2013. Schroer 2010, 109

138 setzt lauten: Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei der göttlichen Lebens- und Regenerationskraft und der Sehnsucht nach göttlicher Zuwendung, wenn ihr aufstört und wenn ihr aufweckt die Liebe bis es ihr beliebt. In dieser Form könnte der Schwur ein Hinweis für Gottes freie, souveräne und unverfügbare Liebeszuwendung sein, die zu ihrer Zeit eintreffen wird, aber nicht erzwungen werden kann, genauso wenig wie die Liebe zwischen den Liebenden. Die der Gazelle zugeschriebene enge Verbindung mit einer Liebesgottheit, macht sie zu einem idealen Dialogpartner im Beziehungsmodus der Liebenden. Die Agilität der Gazelle ist mit der Lebendigkeit verknüpft, die die Liebenden füreinander ausstrahlen. Als Namensvetterin der Gottheit verbindet die Gazelle die Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden mit der göttlichen Sphäre der Schöpfungsordnung. Frei und wild wie die Gazelle, so ist auch die Liebesdynamik grundsätzlich unverfügbar, wird aber als Attribut des geliebten Gegenübers erfahrbar, berührt und bewegt die Liebenden und stärkt sie in ihrer Selbstwirksamkeit. Denn wann immer die Brüste der Geliebten fröhlich hüpfen oder der Geliebte seinen Weg springend über Berge und Hügel zur Geliebten findet, setzen sie ihre Vitalität ein, um einander in Liebe zu begegnen, um einander zu berühren und zu bewegen. Die Natur dient zur Affizierung der Liebessprache, in der die Liebenden ihr Empfinden füreinander ausdrücken. Gleichzeitig sind Gazellen nicht mehr nur wildlebende Tiere, sondern repräsentieren einen Aspekt des geliebten Gegenübers, der nun stets im Anblick des Wildtieres gegenwärtig wird. Als weiteres Beispiel für die Welt der wildlebenden Tiere, führe ich die Tauben (jônāh, jônîm; in 2,12 tôr) an.105 Tauben kommen im Hld ebenfalls siebenmal vor (Hld 1,15; 2,12 (Turteltaube).14; 4,1; 5,2.12; 6,9). Die Taube ist im AO ein beliebtes Tiermotiv. Auch sie tritt meist zusammen mit einer Liebesgöttin auf und gilt als Überbringerin der Liebesbotschaft.106 Sie signalisiert die Bereitschaft zur Liebe.107 So ist die Aussage im Hld, dass die Augen der/des Geliebten Tauben sind so zu deuten, dass in ihrem und in seinem Blick die Liebesbotschaft und Liebesbereitschaft dem geliebten Gegenüber zufliegt (vgl. Hld 1,15; 4,1; 5,12).

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Tauben waren wildlebend, wurden aber auch domestiziert und dienten als Fleischlieferant und Opfertiere (vgl. Kapitel III.2.2.), Riede 2010. Keel 1984, 62; Riede 2002, 44f. Keel 1993, 168.

139 An anderer Stelle in der HB ist es ebenfalls die Taube, die nach der Regenzeit von Noah aus der Arche losgeschickt wird, um nach Festland Ausschau zu halten. Sie kehrt mit einem Ölzweig im Schnabel zurück und bringt dadurch Kunde von Gottes Erbarmen, der nach der Sintflut den Überlebenden einen neuen Lebensanfang schenkt (Gen 8,8ff.). Als Botin für lebensermöglichende Zukunft und Zuwendung Gottes, kann sie hier als Liebesbotin verstanden werden. Im Kontext von Kult und Opferritus ist die Taube neben anderen Tieren aufgeführt, um in verschiedenen Opferriten u.a. Sühnung für den Menschen zu erwirken vor Gott (vgl. Lev 1,14; 5,10; 12,6; 14,30).108 Eine Taube, die am Wasser sitzt oder gar in Milch badet (vgl. Hld 5,12), ist Symbol für „Lebensfrische … Lebensfülle.“109 In Hld 2,14, 5,2 und 6,9 ist die Taube als Kosename für die Geliebte verwendet.110 Einzig die Turteltaube in Hld 2,12 bezeichnet das Tier an sich, das aber ebenfalls in einer Botenrolle den beginnenden Frühling durch ihren Gesang ankündigt. Tauben werden fast ausschließlich im Kontext von Gottheiten verortet, als Begleiterinnen altorientalischer Liebesgöttinnen oder als Opfertiere im JHWH-Kult. Ihnen kommt eine hohe Bedeutung zu. Dass sich diese hohe Bedeutung auch im Hld in der häufigen Nennung wiederfindet, spricht für die hohe Resonanz, die Tauben im Dialog mit den Menschen auch im alten Israel erzeugten. Während der Kultbezug im Hld nicht direkt erkennbar ist, so lässt sich die Bedeutung der Tauben in diesem Kontext doch zwischen den Zeilen lesen, denn im Opferritus geht es darum, die Beziehung zwischen Menschen und Gott durch das Sühneopfer wieder in Ordnung zu bringen. Beziehung wiederherzustellen und die Liebesbeziehung zu Gott zu erneuern, ist ein wesentliches Element gelingenden, guten und gesegneten Lebens. In diesem Sinne werden die Liebenden im Bild der Taube affiziert, ihre Liebesbeziehung auch immer wieder zu erneuern. Sie sollen einander fortgesetzt Liebesbotschaften zukommen lassen, und einander an der lebensermöglichenden Kraft und Lebenslust gegenseitig Anteil geben. Ob als Kosename für die Geliebte, als Symbol für das Überbringen von Liebesbotschaften oder von Lebensfülle, die schnäbelnden Tauben werden im Kontext einer Zärtlichkeit gedeutet, die ein Erkennungsmerkmal der 108

109 110

Zur religiösen Bedeutung der Taube s. Kapitel III.3.2. Schroer 2010, 79. Ebd., 76.

140 Liebesbeziehung der Liebenden im Hld darstellt. In dieser Übertragung der Bedeutung der Tauben auf die Liebesqualitäten der Liebenden, werden die Bezugsfelder füreinander durchlässig. Die Beziehung zu Gott ist eingebettet in eine Selbst-Welt-Beziehung, die von der Symbolkraft des Tieres affiziert ist und fortgesetzt erotisch aufgeladene Resonanzen erzeugt. Die zärtliche Lebenslust und Lebendigkeit, die sich in Kosenamen und Liebesblicken zeigt, transformiert die Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden nachhaltig. Sie sind verändert in die Welt gestellt und auf sie bezogen, weil ihnen keine Taube nur mehr eine Taube ist, sondern Botin ihrer Liebe und Kunde eines neuen Lebensbeginns, der mit ihrer Liebesbeziehung begann und die ganze Welt veränderte. Die Welt wird nun mit den Liebesblicken betrachtet und ko-variiert in radikal relationaler Weise mit den Liebenden. Alle Wünsche, Sehnsüchte und Emotionen sind nun mit dem geliebten Gegenüber verknüpft und vermischen sich mit den erotischen Qualitäten der gesamten Schöpfung, hinter denen Gott als Ursprung, Quelle und Ziel allen Lebens erkennbar wird.

141 2. Kulturelle Lebensformen Die Auseinandersetzung mit den natürlichen Lebensbedingungen im Kontext des Hlds hat gezeigt, dass die Selbst-Welt-Beziehungen der Liebenden in füreinander durchlässigen resonanten Bezugsfeldern beschrieben werden können. Die radikal relationale Beziehung zwischen Selbst und Welt wurde anhand der sich wandelnden Wahrnehmung des geliebten Gegenübers und der Umwelt deutlich, in der die/der Geliebte zur Welt wird und die Welt zur/zum Geliebten. Die in der Liebesbeziehung transformierten SelbstWelt-Beziehungen konstituieren Welt und Selbst neu. Beide sind verändert und nicht mehr dieselben wie zuvor. Es hat sich etwas verändert, ohne dass die Liebenden direkt darauf Einfluss nahmen und sich die Welt verfügbar gemacht hätten. Was sich ereignete im Dialog zwischen Selbst und Welt war eine Affizierung, die die Liebenden in ihrer maximalen Öffnung füreinander berührte und bewegte. In dieser veränderten Naturwahrnehmung und dem veränderten auf-die-Welt-Bezogensein, bleibt es nicht aus, auch nach dem Transformationspotential in den weiteren sozialen Beziehungen der Liebenden zu forschen. Die Sozialsphäre konstituiert die liebenden Personen wesentlich mit, weil die starken Wertungen der Lebensgemeinschaft als normative, schlechthin wichtige Ansprüche an die Beziehung der Liebenden und ihr Verhalten herangetragen werden. Da eine Resonanzerfahrung u.a. dann zustande kommt, wenn die starken Wertungen der Sozialgemeinschaft mit den schwachen Wertungen der einzelnen Personen übereinstimmen, ist ein Blick auf die im Hld erkennbare Sozialität der Liebenden unvermeidlich. Das Medium in dieser Sozialität ist die leibliche Person. Da der Körper sowohl individuell unterschieden als auch sozial konstituiert ist, werden zunächst die Körperauffassungen im AO und im alttestamentlichen Kontext skizziert, denn Körperlichkeit ist ein wesentliches Element der Kommunikation und Relationalität im Hld. Anhand dieser Grundlage können dann die weiteren Sozialbeziehungen (Familie, Freunde, Gemeinschaft) und die Verbindungen zu anderen kulturellen Lebensformen der Liebenden, wie Stadt und Ämter, in den Blick genommen werden. Wie schon zuvor gilt auch für diese Analyse, dass Worte aus dem Hld ab vier Nennungen aufwärts berücksichtigt werden.

143 2.1. Alttestamentliche Körperauffassungen im Kontext altorientalischer Kultur Das alttestamentliche Verständnis von Person lässt einen komplexen Zusammenhang zwischen der Körperauffassung (Leibsphäre) und der Sozialstruktur (Sozialsphäre) erkennen. Danach „wird zum einen der menschliche Körper als eine konstellative, d.h. aus einzelnen Teilen und Organen zusammengesetzte Ganzheit verstanden; zum anderen bedeutet menschliches Leben die Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge oder Rollen.“111 Die einzelnen Körperteile können in alttestamentlichen Texten jeweils Stellvertreter der ganzen Person sein, das Herz bspw. wird stellvertretend für den denkenden, fühlenden und wollenden Menschen angeführt. Die Funktionalität der Glieder und Organe, ihre Wirkung (Dynamis) steht im Vordergrund, und ist nie unabhängig von der Weltbeziehung des Menschen. Die Körperglieder, Organe und ihre Lebensfunktionen kommen deshalb gemeinsam mit der Sphäre des sozialen Kontexts (Gemeinschaftsbezogenheit) in den Blick.112 Dieser Punkt ist insofern wichtig als er das moderne Denken, das sich häufig zunächst auf die Form bezieht, herausfordert. Ein Körper und ein entsprechendes Schönheitsideal sind je nach kulturellem Hintergrund spezifisch konstruiert und spiegeln die zu dieser Zeit mehrheitlichen Vorstellungen darüber wider, was als schön, gesund und vital oder als hässlich, krank und nicht vital angesehen wird.113 Wenngleich auch so mancher Vergleich im Hld befremdlich anmuten mag, diente er doch dereinst dazu, eine besondere Schönheit, einen besonderen Reiz oder eben die hervorragende Einzigartigkeit des geliebten Gegenübers herauszustellen. Die Körperkonzepte im AO bestechen durch eine aspektivische Darstellung in der Bildwelt (Ikonographie) und eine konstellative Vorstellung von einzelnen Körperteilen in Bezug zum (ganzen) Menschen.114 Wie Berlejung gezeigt hat, interagierte die Person in der altorientalischen Antike auf ver111

112 113 114

Janowski 2015, 45. Häusl 2010, 159. Vgl. Fischer 2016. Brunner-Traut spricht für den ägyptischen Kontext von der Vorstellung einer Gliederpuppe; den Körper als Einheit aufzufassen setze sich erst ab dem klassischen Griechenland durch (ca. 5.-4. Jh. v.Chr.) Brunner-Traut 2012, 32.

144 schiedenen Ebenen mit ihrer Umwelt und war „leiblich definiert.“115 Der Mensch war in der Einheit mit seinem Körper „in ein konstellatives Netzwerk mit Wesen aller Art eingebunden,“116 so dass eine komplexe Struktur entstand, in der das Körperbild und die soziale Einbettung des Einzelnen integriert waren. Bei ihrer Analyse der Körperomina aus der mesopotamischen Überlieferung fand Berlejung u.a. heraus, dass die Farbe Rot, als Teint oder beim Haar, mit Kraft und Vitalität assoziiert war.117 Omina teilten die Menschen nicht nur geschlechtlich ein, sondern gaben auch Auskunft darüber, ob eine Person physiognomisch ihrer Rolle, ihrem Status, ihrer Aufgabe entsprechen würde (bspw. bei der Brautwahl).118 Das Äußere wurde so als biologisch-natürliche Quelle genutzt, um die zukünftige Anpassungsfähigkeit an das bestehende Gesellschaftssystem zu prüfen. Körperomina als naturgegebene Unterscheidungskriterien zu nutzen, perpetuierte ein statisches, hierarchisches Gesellschaftssystem mit geschlechtstypischer Arbeitsteilung.119 Im alttestamentlichen Kontext stellt sich die Bedeutung der Physiognomik allerdings anders dar. So wurde sie bspw. nicht „für die Zukunftsdivination, sondern nur zur Charakterbestimmung“120 genutzt. Es wurde zwar angenommen, dass „bestimmte körperliche Merkmale auf bestimmte Eigenschaften hinweisen,“121 jedoch diente deren Wahrnehmung zur Förderung „der Menschenkenntnis.“122 Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufgrund der Physiognomie ist nach dem alttestamentlichen Textbefund nicht durchgängig nachweisbar.123 Geradezu kritisch hinterfragt wird die Kategorisierung oder Einschätzung der Menschen nach dem äußeren Erscheinungsbild, als Gott nicht den stattlichen ältesten Sohn Isais zum König Israels erwählt, sondern den jüngsten Sohn, den Schafhirten David. Dies teilt er dem in seinen Diensten stehenden Propheten Samuel mit: „Und JHWH sprach zu Samuel: Sieh nicht auf seine Erscheinung und seinen hohen Wuchs, weil ich ihn verworfen habe, denn 115

116 117 118 119 120 121 122 123

Berlejung 2012, 376. A.a.O. Berlejung 2009, 310. Berlejung 2012, 391. A.a.O. Berlejung 2009, 323. A.a.O. A.a.O. Fischer 2018, 194ff.

145 nichts sieht der Mensch, denn der Mensch sieht auf den Anblick, aber JHWH sieht auf das Herz.“124 Das Herz wiederum steht für das Denken, Fühlen und den Willen der Menschen.125 In diesem Kontext ist also die innere Haltung eines David das entscheidende Kriterium für Gottes Erwählung zu einem verantwortungsvollen Amt und nicht allein die körperlichen Merkmale. Als psycho-somatische Einheit sind die alttestamentlichen Menschen dennoch auch leiblich definiert. Der Körper scheint sich stellenweise in die Welt hineinzuerstrecken, weil der Mensch sich „nicht einfach als Gegenüber zur Natur, sondern als Teil der natürlichen Lebenswelt empfand.“126 Der Körper als Teil der natürlichen Lebenswelt verfügt zusätzlich über eine geschlechtliche Unterscheidung in männlich und weiblich (vgl. Gen 1,27; 2,21-25), was im Rahmen kultureller Entwicklungen auch zu geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen geführt hat. So ist auch für das Hld zu beobachten, dass die überwiegende Zahl der Körperbegriffe auf die Beschreibungen der Geliebten entfallen und ihre primären Geschlechtsmerkmale (Brüste) besonders betont werden. Die „altorientalisch konventionelle Körperhierarchie und -wahrnehmung“127 wird im Hld ebenfalls eingehalten. Die Körper werden meist von oben nach unten beschrieben. Die Nennung von makellosen Zähnen, schönen/festen Brüsten, dichtem Haar, rundem Nabel und Bauch gehören in die Beschreibung der Geliebten.128 Der Geliebte wird hingegen beschrieben, „als rot, mit glänzenden Augen, dichter dunkler Lockenpracht und hochgewachsen“129 (vgl. Hld 5,10-12). Der Körper ist also durch seine äußere Erscheinung gleichzeitig ein Vehikel, um die betreffenden Menschen einerseits in ihrer Geschlechtlichkeit 124

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1 Sam 16,7. Übersetzung der Verfasserin. So schon Wolff 1994, 84-87; 89. Janowski 2019, 324. Er zitiert hier Weippert 2006, Altisraelitische Welterfahrung (AOAT 327), 191ff. Hier ist bspw. das althebräische Maßsystem gemeint (Elle, Spanne, Handbreit, Finger u.Ä.). Berlejung 2009, 323–324. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung auffällig, dass gerade Nabel, Bauch, Füße, Schenkel nur in Hld 7 vorkommen. Und gerade hier ist die Aufzählung der Körperteile invertiert, also von unten nach oben aufsteigend. Darüber hinaus ist unklar, wer gerade die Geliebte beschreibt, ob die in Hld 7,1 angesprochene nicht weiter definierte Gruppe oder der Geliebte, der aber spätestens ab Vers 7,9 wieder übernimmt. Berlejung 2009, 324.

146 und körperlichen Verfassung wahrzunehmen, und um sie andererseits bestimmten geschlechtsspezifischen Rollen und auch einem bestimmten Status zuzuordnen.130 Im Hld, in dem es vornehmlich um die aufzählende Zusammenschau einzelner Körperteile geht, durch die die Liebenden im Text als begehrenswert beschrieben werden, wird der Beziehungsaspekt besonders deutlich. Da die Dynamis der Körperteile auf Kommunikation und Sozialität abzielt, ist die Beziehungsdimension dem Körper bereits eingeschrieben. Das bedeutet zum Beispiel in Hinblick auf die im Hld so häufig verwendete Aussage: die Geliebte sei schön, dass Schönheit als Beziehungsaspekt – also in seiner Wirkung – verstanden werden soll. „Schön ist also letztlich nicht der einzelne Mensch, sondern die Beziehung unter zwei oder mehr Menschen. Das Schönheitsideal ist kein Körper, sondern ein Verhältnisideal.“131 [Hervorhebung d. Verf.in] Das soll den Körper nicht überflüssig machen oder abwerten, sondern es nimmt ihn vielmehr hinein in ein ganzheitliches PersonVerständnis, in eine radikal-relationistisch konstituierte Selbst-Welt-Beziehung. Diese Selbst-Welt-Beziehung steht der Natur nicht gegenüber, sondern setzt sich als ein Teil von ihr zu ihr in Beziehung. Für das Hld lässt sich eine Vielzahl an genannten Körperteilen beobachten. Geliebte und Geliebter werden in ihrer Leiblichkeit wahrgenommen und beschrieben. Dabei werden manche Körperteile für beide Geschlechter verwendet und andere geschlechtsspezifisch. Der tabellarische Überblick über die im Hld vorkommenden Körperbegriffe ist daher farblich unterlegt. Gelb und grün dienen zur Illustration der geschlechtsspezifischen Verwendung einiger Körperbegriffe. Die gelb markierten Körperbegriffe werden für die Geliebte verwendet, die grünen für den Geliebten. Beide Farben im

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Berlejung 2012. Maier vertritt im Kontext des AT die Meinung, dass Gleichheit und Differenz der Geschlechter Seite an Seite stehen. Es gäbe zwar geschlechtsspezifische Differenzierungen, die aber auch immer wieder durchbrochen würden. Maier 2012, 202. Schroer und Staubli 2005, 27. Die Wirkung von Schönheit ist also (auch im Hld) an der Affizierung der Umwelt und im Wechselspiel der Liebenden an der Wirkung innerhalb und außerhalb ihrer Erfahrungs- und Lebensbereiche abzulesen. Ein Negativ-Beispiel: In 1 Sam 17,42 wird erzählt, dass die Begegnung von David mit Goliath mit dem Spott Goliaths einherging, denn als dieser David sah, verachtete er ihn, weil er jung war, eine rötliche Hautfarbe hatte und gutaussehend war, was ihn in Goliaths Augen offensichtlich als kampfuntauglich disqualifizierte.

147 Verbund zeigen, dass die Körperbegriffe für beide Geschlechter verwendet werden. Körperbegriffe132 Arm Augen Beine/ Schenkel Brüste Eingeweide; i.S.v. Bauch Füße Gaumen Gestalt/Erscheinung //Wuchs Haare Hals Hautfarbe schwarz / strahlend und rot Herz Kopf (Haupt) Kehle, Verlangen, Lebenskraft, Person Linke und Rechte //Hände //Finger Lippen Locken Mund Nabel und Bauch Nase Schläfen Stimme Wangen Zähne

Hohelied Vers ♀ ♂ 8,6 1,15; 4,1.9; 5,12; 6,5; 7,5; 8,10 5,15/ 7,2 1,13; 4,5; 7,4.8.9; 8,8.10 5,4; 5,14 5,3 / 7,2 2,3; 5,16; 7,10 2,142; 5,15 // 7,8 4,1; 6,5 1,10; 4,4; 7,5 1,5 / 5,10 5,2; 8,6 2,6; 5,2.11; 7,62; 8,3 1,7; 3,1.2.3.4; 5,6; 6,12 2,6; 8,3//5,4; 5,5; 5,14//5,5 4,3.11; 5,13; 7,10 5,2.11Hapaxleg; 7,6 1,2; 4,3 7,3 7,5.9 4,3; 6,7 2,8.12.142; 5,2; 8,13 1,10; 5,13 4,2; 6,6

Häufigkeit 1 7 Je 1 7 2 2 3 3 // 1 2 3 Je 1 2 6 7 Je 2//3//1 4 3 2 Je 1 2 2 6 2 2

Tabelle 4: Körperbegriffe im Hohelied

Augen, Brüste, Kehle / Verlangen / Lebenskraft / Person (næfæš), Kopf, Stimme, Lippen, werden am häufigsten genannt. Sie geben preis, dass das Hauptaugenmerk auf der Geliebten ruht, mit der næfæš als ganzheitlich zu verstehendem Personbegriff (oder als Personalpronomen), und den Brüsten (šad) als primären weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Kopf, Augen, Stimme und Lippen werden für beide Geschlechter verwendet und konzentrieren sich auf den Gesichtsbereich. 132

Hier zähle ich nur diejenigen Körperbegriffe auf, die sich auf die Liebenden beziehen. Die Brüste der Mutter (Hld 8,1) und das Herz Salomos (Hld 3,11) sowie die Seite der Helden Jerusalems (Hld 3,8) und die Hände eines Kunsthandwerkers (Hld 7,2) sind nicht berücksichtigt.

148 Dies ist einerseits bei der überbordenden erotisch konnotierten Körperlichkeit ein überraschendes Ergebnis, macht aber andererseits auch sehr deutlich, dass die einzigartig machenden Charakteristika der Liebenden zuallererst in ihren Gesichtern, in ihrer Einzigartigkeit zu finden sind. Das macht den Körper nicht überflüssig, sondern umso reizvoller. Jedes Körperteil des geliebten Gegenübers repräsentiert den ganzen Menschen und illustriert in der aufzählenden Zusammenschau das gesteigerte Begehren nach ihr/ihm. Die Körperbegriffe sollen als „Grundelemente menschlicher Weltbeziehungen“133 verstanden werden, an denen Merkmale von Erotik und Resonanz herausgearbeitet werden.

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Hierunter versteht Rosa 2018a u.a. die körperlichen Weltbeziehungen (Kapitel II), die sich bspw. im Atmen (ebd., 92ff.), Essen und Trinken (ebd., 98ff.), und in Stimme, Blick und Antlitz (ebd., 109ff.) zeigen.

149 2.1.1. Kehle / Verlangen / Lebenskraft / Person (næfæš) Auch wenn næfæš nicht die häufigsten Nennungen im Hld vorweisen kann, möchte ich dennoch mit ihr beginnen, weil sie eine umfangreichere und existentiellere Bedeutung hat als die anderen Körperteile. Die næfæš kommt siebenmal im Hld vor (Hld 1,7; 3,1.2.3.4; 5,6; 6,12). Die meisten Bibelübersetzungen geben næfæš mit Seele wieder. Aber næfæš bedeutet nicht Seele (konnotiert mit dem heutigen Verständnis des Körper-Seele Dualismus), sondern zunächst einmal „Kehle.“134 Diese Bedeutung schließt unmittelbar an die Schöpfungserzählung in Gen 2,7 an, in der geschildert wird, wie Gott dem aus dem Erdboden geformten Menschenwesen Lebensatem einhaucht, woraufhin das Menschenwesen zu einer næfæš ḥajjāh, zu einem lebendigen Wesen wird. Diese Bedeutung des Wortes næfæš macht die kaum enger zu fassende Bezogenheit auf und die vitale Abhängigkeit des Menschen von Gott vom ersten bis zum letzten Atemzug deutlich.135 Der Mensch ist hier nicht als geteilte Person im Blick, sondern als psychosomatische Einheit. Die næfæš wird nicht i.S.v. Seele als geistig-immaterieller Teil des Menschen verstanden. Die næfæš ist das ganze Lebewesen mit Gefühlen, Leidenschaften, Verstand und dem Drang nach Leben, nach Lebensfreude.136 In dieser Hinsicht ist sie mit der Erotik verbunden. Wenn Erotik die lebendig machende Lebenslust ist und næfæš die Lebenskraft, dann sind beide gemeinsam die næfæš ḥajjāh. Die næfæš repräsentiert jene Aspekte menschlichen Lebens, die sich in Abhängigkeit zu Gott als dem Schöpfer in der Bedürftigkeit ausdrücken, Leben zu empfangen, zu atmen, durch Gott, der den Lebensatem einhaucht. Kurz: existentielles Sehnen und Verlangen des Menschen nach der Beziehung zu Gott werden mit einem Wort bezeichnet, das den Menschen in seiner Lebenskraft insgesamt beschreibt. Diese Lebenskraft kommt von Gott und strebt zu Gott hin. Sie affiziert in diesem lebensenergetischen Zyklus auch die Umwelt der Menschen. Nach dieser Weltanschauung besteht eine

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næfæš kommt siebenhundertvierundfünfzigmal in der HB vor, davon siebenmal im Hld. Zu ihrer Bedeutung vgl. Kapitel II.4. Fußnote 84. Vgl. Swadosch 2020, 6. Rosa verweist auf den schöpfungstheologischen Zusammenhang des Atems in Rosa 2018a, 92. Vgl. Seebass 1986, 552.

150 existentielle Verbindung zwischen Gott und allen lebendigen Wesen, auch den Tieren (vgl. Gen 1,20.21.24). Im Kontext von Sozialität steht denn auch die Aussage der Geliebten in Hld 6,12, wo sie angibt, ihr Verlangen (næfæš) habe sie als Streitwagen ihres edlen Volkes eingesetzt. Abgesehen davon, dass dieser Vers in der Übersetzung etwas sperrig ist, kann er auf eine ernste Entschlossenheit hindeuten. Die Geliebte geht ihrer täglichen Routine nach, den Fruchtstand der Pflanzen zu überprüfen (Hld 6,11) als sie plötzlich erkennt, dass sie zu allem bereit ist. Die militärischen Bezüge in Hld 6,10.12-13 deuten an, dass die Liebe eine Transformationskraft entwickelt hat, durch die die Geliebte bereit ist, für sie zu kämpfen. Sie fühlt sich eingesetzt als Streitwagen, mit dem ihr edles Volk ansonsten in den Krieg zieht.137 Es ist nicht ihre Entscheidung gewesen, sondern das Verlangen hat sie in diese Lage versetzt. Sie gibt der Gruppe, die sie auffordert umzukehren zu verstehen, dass nichts an ihr zu sehen ist als der Tanz der Doppellager, eine Vorbereitung auf den großen Kampf.138 Sie ist bereit, alles für den Geliebten zu riskieren. Alles in die Waagschale zu werfen, was sie hat und wer sie ist.139 Hld 6,12 derart zu deuten ergibt sich aus dem Umstand, dass die Geliebte sich selbstreferentiell mit næfæš bezeichnet, was stets im Kontext der Suche nach dem Geliebten geschieht, und das Hld in einem weiteren Aspekt anschlussfähig macht an die biblischen Schöpfungserzählungen. Es verknüpft die Erschaffung der næfæš ḥajjāh, des erotisch lebenskräftigen Wesens, mit der Bedeutung, die die Zusammenkunft mit dem Geliebten hat. Die Geliebte ist durch die erotische Attraktion ihres Geliebten lebendig (vgl. Hld 1,7; 3,1-4). Dort wo die Liebenden voneinander getrennt sind, wo die erotische Attraktion nicht ausgelebt wird, da versagt der Geliebten die Lebenskraft (Hld 5,6). Schmerz und Qual illustrieren die Vergeblichkeit der anschließenden Suche nach dem Geliebten, die Sehnsucht bleibt unerfüllt, die 137

138 139

Im 9.-8. Jh. gab es eine blühende Pferdezucht in Israel. Pferde wurden aus Ägypten heraufgebracht, in Megiddo gezüchtet und zugeritten und dann an das assyrische Großreich verkauft. Finkelstein 2014, 133. Dieser historische Hintergrund wirft ein erhellendes Licht auf den Zusammenhang, den die Geliebte im Hld zwischen der Kriegskunst und dem Edelmut ihres Volkes herstellt. Doppellager, maḥănājîm, erinnert an Gen 32, die Erzählung von Jakobs Kampf mit Gott am Jabbok. Vgl. Kapitel IV.5. Andere Deutungen betonen hier die literarische Nähe der Beschreibungen bzw. den Vergleich der Geliebten mit Dichtungen über mesopotamische, assyrische u.a. (Kriegs)Göttinnen, vgl. Keel 1984, 51; Schroer 2013, 125.

151 næfæš stumm und liebeskrank (Hld 5,6-8). In diesen Versen wird deutlich: Leben ist lieben, aufeinander Bezogen-Sein, radikal relational. Gestillte Sehnsucht nach dem geliebten Gegenüber vitalisiert. Zusammensein belebt und aktiviert. Ungestillte Sehnsucht macht krank. Einsamkeit oder Vereinzelung betrübt und schränkt ein. Der Aspekt des Verlangens, der Sehnsucht, findet schließlich seinen Kontrapunkt. Die Geliebte, die stetig begehrende und sehnsuchtsvolle næfæš spricht: „Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen [tešuqātô]!“ (Hld 7,11). Die Geliebte war bereit, alles zu riskieren, in den Kampf zu ziehen, um der Liebe, um des Verlangens willen. Sie geht siegreich mit der Erwiderung ihres Verlangens durch den Geliebten daraus hervor. Danach kommt das Wort næfæš im Hld nicht mehr vor. In dieser Gegenseitigkeit des Verlangens scheint sich die Erfüllung einer grundlegenden Sehnsucht zu präsentieren, die wieder zurückführt zu den ersten Menschen und ihrer Beziehungs-Verfehlung. Dem Strafspruch an die Frau in Gen 3,16b: „Nach deinem Mann wird dein Verlangen (tešuqātēḳ) sein, aber er wird über dich herrschen,“140 wird durch diese Aussage im Hld alles Repulsive, Entfremdende, Trennende genommen. Es geht nicht um die Vorherrschaft des Mannes über die Frau, sondern um die Erfüllung der Sehnsucht nach gegenseitigem Verlangen141 und einer – trotz Kriegsmetaphorik – gewaltlosen Liebe, die alles riskiert, um lebendig zu machen und zu bleiben. Auf der Suche nach dieser Lebendigkeit im Anderen werden Grenzen überschritten. Aber obwohl die Affizierungen im Hld zuweilen anmuten, als würden sie die Grenzen zwischen Natur, Menschen und Dingen auflösen, so geht es im resonanten Erleben jedoch nie um Verschmelzung, sondern um Transformation. Selbst und Welt sind verwandelt, weil die Liebesbeziehung einen Transformationsprozess in Gang gesetzt hat, der grundsätzlich ergebnisoffen ist. Der Atem, der den Menschen gegeben ist und sie zu einer næfæš ḥajjāh, einem lebendigen Wesen macht, ist die Leben ermöglichende Kraft, die Erotik, die Lebenslust, die im Hld kontinuierlich als treibende Kraft der Liebe dargestellt wird. Die Lebendigkeit und Lebenslust der Schöpfung, in 140

141

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. Landy 1983, 249–252; Trible 1993, 117; Brenner 2007, 243–244; Butting 2000, 150; Fischer 2009, 273–274.

152 der Gott seinen Lebewesen nahekommt, wie die Liebenden einander beim Kuss (Hld 1,2), schafft eine Durchlässigkeit des horizontalen zum vertikalen Bezugsfeld. Die Sehnsucht, das Verlangen der Geliebten nach dem Geliebten, beschreibt auf einer existentiellen Ebene jene der Menschen nach Gott.

153 2.1.2. Auge (ʿajin) Der gemeinsam mit den Brüsten siebenmal genannte Körperteil im Hld ist das Auge (Hld 1,15; 4,1.9; 5,12; 6,5; 7,5; 8,10). Auch Varianten des Wortes sehen kommen im Hld sehr häufig vor. Sehen (raʾāh) wird in verschiedenen Verbformen im Hld neunmal verwendet.142 Das demonstrative Adverb hinnēh (i.S.v. Siehe!), kommt ebenfalls neunmal vor.143 Weitere Verben aus dem Bereich Sehen finden sich in Hld 2,9 und Hld 4,8. Insgesamt dreiundzwanzigmal kommen Wörter (neben dem Auge) mit Bezug zum Sehen vor.144 Damit ist auch gleich die Funktion benannt, die die Augen und das Sehen im Hohelied erfüllen sollen: die Liebenden sollen einander und die sie umgebende Natur in ihrer Fülle und Pracht sehen. Die Augen sehen die geliebte Person und sie senden gleichzeitig Liebesbotschaften durch „Blicke:“145 Ein Blick sagt mehr als tausend Worte, heißt es treffend. Und so ist es auch im Hld. Wenn Menschen sich gegenseitig in die Augen sehen, dann stellt dies „die unmittelbarste physische Form des bewussten In-Beziehung-Tretens mit einem Menschen, einem Tier oder auch einer Sache, zum Beispiel einer Landschaft“146 dar. Werden Blicke ausgetauscht, dann können Resonanzen entstehen, wenn der Blick des Gegenübers oder ein Anblick „berührt oder ergreift.“147 In solchen resonanten Momenten gerät etwas im Innern von Menschen (oder Tieren) in Bewegung. In den Augen des Gegenübers wird etwas wahrgenommen, was den eigenen Alltag unterbricht. Eine Anrufung scheint aus dem Blick des Gegenübers oder dem Anblick auszugehen und ein responsives Verhältnis begründen zu wollen. In den Augen der Liebenden im Hld, in ihren Blicken, können Liebesbotschaften ausgetauscht werden (im Motiv der Taube, Hld 1,15; 4,1), und es kann eine Erschütterung stattfinden, wenn klar wird, welche Macht die Lie142

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Hld 1,6; 2,12.14; 3,3.11; 6,9; 7,1.5.13; als Nominalform i.S.v. Anblick (marʾæh) in Hld 2,142. Hld 1,152.16; 2,8.9.11; 3,7; 4,12. Dieser Befund passt hervorragend zu der häufigen Verwendung von raʾāh in der HB, wo es insgesamt eintausend dreihundertmal vorkommt als am häufigsten genannte Sinneswahrnehmung: vgl. Schroer und Staubli 2005, 94. Vgl. dazu Keel 1984, 55–56.; Kipfer 2021. Rosa 2018a, 115. Ebd., 116.

154 be der Geliebten über den Geliebten hat, wie sie ihm das Herz genommen hat, und wie ihr Blick ihn emotional überwältigt (Hld 4,9; 6,5). Die Augen nehmen also gar nicht in erster Linie eine äußerliche Schönheit wahr, sondern eine Beziehungsqualität: Der Austausch von Liebesbotschaften und die emotionalen Erschütterungen werden über die Blicke vermittelt. Was mit den Augen wahrgenommen wird ist einerseits die individuelle Schönheit. Andererseits treten im Anblick des geliebten Gegenübers Aspekte der Umwelt, die sich als Vehikel zur Beschreibung anbieten, mit in den Blick. Die Blicke sind erotisch aufgeladen. Was die Augen sehen, erblicken und an Botschaften senden, fördert die Lebenslust. In Hld 5,12 sind die Augen des Geliebten wie Tauben, die an Wasserläufen sitzen und die in Milch baden. Seine Augen werfen ihr also nicht nur Liebesblicke zu, sondern sie symbolisieren nährende Fülle und Lebendigkeit. Die Augen der Geliebten, die mit den Teichen in Heschbon (Hld 7,5) verglichen werden, können im Kontext einer Trinkwasserversorgung oder Bewässerungsanlage gelesen werden, die zur Bewirtschaftung von Feldern und Gärten diente.148 In diesem Sinne wären die Augen der Geliebten nicht nur glitzernd wie die Wasseroberfläche, sondern ihre Augen, ihre Blicke, würden den Geliebten tränken und lebendig erhalten. Diese Deutung schließt sich eng an die Ausführungen zur næfæš an, die ebenfalls diesen existentiellen Bezug zwischen den Liebenden und die gegenseitige lebendig machende und Leben ermöglichende Qualität der Beziehung hervorhob. Orte, Dinge, Kontexte aus der Umwelt der Liebenden werden zu Bildern für die als existentiell erfahrene Beziehung zum geliebten Gegenüber, die sich an Wasserreservoiren, nahrhaften tierischen Produkten und den Schöpfungserzählungen messen lässt. In diesem radikal relationalen Beziehungsgefüge ist die Transformation der Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden eine Verwandlung der geografischen, ökologischen, sozialen und religiösen Bezüge. Sie sind nicht mehr nur das, was sie sind, sondern sie sind mehr, sie sind Qualitäten der Lebenswelt und Qualitäten des geliebten Gegenübers zugleich. Welt hat sich verändert, weil sie nun nicht mehr nur Welt ist, sondern geliebte Welt. Die Liebenden verkörpern füreinander diese transformierte Welt, die sich sehen und erfahren lässt. Die ganze Bandbreite der Relationalität der Liebenden

148

Vgl. zu berēḳāh, nom. pool, pond, NIDOTTE, Vol. 1, 754.

155 mit der eigenen Kultur und Natur verbindet sich zu einem umfassenden, resonanten Verhältnisideal. 2.1.3. Brüste (šad) Die weiblichen Brüste sind ein beliebtes Motiv altorientalischer Ikonografie. Figurinen, die ihre Brüste ein- oder beidhändig halten, finden sich sehr häufig bei archäologischen Ausgrabungen.149 Sie dienen als Bild für göttlichen Segen, Fruchtbarkeit und den Leben schenkenden Aspekt weiblicher Gebär- und Stillfähigkeit. Die weiblichen Brüste werden im Alten Testament gleichermaßen häufig als erotische und nährende Brust beschrieben. Die nährenden Brüste sind mit dem Segen Gottes verbunden. Sie sind dabei nicht nur den Säuglingen vorbehalten, sondern erotisch aufgeladen mit „Lebenslust und Lebensfreude“150 und bieten „Regeneration und Frische.“151 (vgl. Hld 7,9) Diese Einschätzung belegt auch ein Vers aus dem Sprüchebuch. Dort wird dem Mann geraten, lieber zuhause die Liebesfreuden zu genießen als bei der fremden Frau. In diesem Sprüchebuch-Vers ist zwar die Ehefrau gemeint, aber der Genuss ihrer Brüste ist nicht allein dem Säugling vorbehalten, wenn es in Spr 5,19 heißt: „Ihre Brüste mögen dich sättigen/tränken allezeit, ihre Liebe berausche dich immer.“152 Brüste kommen im Hld insgesamt siebenmal vor (Hld 1,13; 4,5; 7,4.8.9; 8,8.10). Über die Brüste der Geliebten spricht nicht nur der Geliebte, sondern auch die Geliebte selbst (Hld 1,13; 8,10). Dies tut sie in einer Art und Weise, die deutlich macht, dass sie in erster Linie insbesondere für den Geliebten einladend und anziehend sind. Ihre Form ist dabei nicht so entschei-

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Diese Figurinen stellen zumeist den Fruchtbarkeits- und leben schenkenden Aspekt weiblicher Gottheiten dar und waren auch in Israel zu alttestamentlicher Zeit weit verbreitet. Für Ikonografie und umfangreiches Material zu archäologischen Funden vgl. Berlejung 2001, 52–58; Schroer 2008, IPIAO; BODO Bibel+Orient; Bieberstein 2012, 19-20; 35. Schroer und Staubli 2005, 67. A.a.O. Übersetzung der Verfasserin.

156 dend,153 vielmehr geht es um den Genuss der Brüste, um das Berühren und Schmecken der Brüste und um ihre Dynamik. Die Brüste der Geliebten werden mit schmackhaften Trauben (Hld 7,8-9) und mit Gazellen Zwillingen verglichen (Hld 4,5; 7,4). Die süßen Trauben evozieren die oral erfahrbare Süße der Brüste der Geliebten. Der Vergleich mit den Gazellen malt ihre Dynamik und Verspieltheit vor Augen, weil sie hüpfen.154 Die Brüste der Geliebten stehen somit für Sinnenfreude und für sexuelle Lust. Sie setzen in dieser Hinsicht das Motiv des Verlangens vonseiten des Geliebten fort, welches die in Hld 7,11 getätigte Aussage der Geliebten inhaltlich füllt und auf sie zuläuft. Als primäre Geschlechtsmerkmale sind die Brüste der Geliebten im Hld in ihrer erotischen Attraktion für den Geliebten klar im Mittelpunkt. Ihre Bedeutung als Symbol für Lebenslust und Lebensermöglichung ist kaum zu überschätzen. Die Lebendigkeit, die die Brüste der Geliebten ausstrahlen, und die in der Intimität der Liebenden vom Geliebten unmittelbar sinnlich erfahren wird, sind erneut nicht anders als mit Vergleichen köstlichster Früchte und lebendigster Dynamik fassbar. Was die Welt, die Natur an Genüssen bietet, an Lebensfreude, an sinnlich reichhaltiger erfrischender Qualität, das sind dem Geliebten die Brüste seiner Geliebten. An ihrem Busen liegt er einmal mehr im gelobten Land, das er zuvor schon unter ihrer Zunge fand. Dazu passend bleibt die Erwähnung säugender Brüste an die Mutter im Hld verwiesen. Die Stillfähigkeit zeichnet nicht die Qualität der Brüste der Geliebten aus, sondern die der Mutter (Hld 3,4; 6,9; 8,1.5). Ein Hinweis darauf, dass es im Liebesverbund der Liebenden nicht um Heirat und Nachwuchszeugung geht. Dies verdeutlicht auch die Abwesenheit bestimmter Worte, wie bspw. die Gebärmutter, in Bezug auf die Geliebte, von der nirgendwo im Hld die Rede ist.155 Und auch nicht die Erwähnung oder der 153

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Gault bspw. bezeichnet die Brüste generell als groß, da er auch den Bezug zu Bergen in Hld 2,17; 4,6 und 8,14 mit den Brüsten gleichsetzt. Sein Argument: „body as landscape“ ist eine durchgängig genutzte metaphorische Stilistik im Hld. Gault 2019, 219–223. So auch Schellenberg 2020a, 69. Allerdings geht es wie bereits gezeigt nicht um die Form der Körperteile, sondern um ihre Funktion bzw. Dynamis. Vgl. Riede 2002, 49. Vgl. auch Keel 1992, 138f. ræḥæm (Mutterleib oder Gebärmutter) kommt nicht vor, sondern bæṭæn (Bauch, auch Leib), der eher nachgeordnet auf den Aspekt der Gebärfähigkeit hindeutet. Vgl. Fox 1985, 309. Nach NIDOTTE kommt bætæn im AT in vier Grundbedeutungen vor: „(a) the abdomen or belly; (b) digestive organs; (c) the organs of procreation; and (d) rounded

157 Verweis auf das Eins-Werden des Fleisches von Mann und Frau (vgl. Gen 2,26), was ein starkes Signal für die Verbindlichkeit der Ehe darstellen würde.156 Aber das Hld spricht in seinen Liedern nicht von Zukunftsplanung, sondern immer nur vom Jetzt, vom Augenblick, vom Resonanzmoment.157 Ganz im Kontrast zu der sonst häufig in der HB geschilderten Notwendigkeit der Heirat zur Zeugung von Nachkommenschaft und zur Sicherung der wirtschaftlichen Gegenwart und Zukunft.158 Diese Notwendigkeit zeigt sich im Kontext altorientalischer Heiratspraxis daran, dass überwiegend mit Einsetzen der Geschlechtsreife die Möglichkeit zur Heirat gegeben war. Ist das Hld aber weitgehend nicht im Kontext von Heirat und Eheleben komponiert, ergibt sich ein sehr junges Alter für die Protagonisten in den Liedern. Davon zeugt wohl auch die Aussage der Brüder: „Unsere Schwester ist jung, und Brüste hat sie keine, was werden wir tun für unsere Schwester am Tag, da er spricht mit ihr?“ (Hld 8,8). In diesem Kontext geht es vermutlich um Überlegungen zu Heiratsverhandlungen zwischen einem nicht näher bezeichneten Brautwerber und den männlichen Verwandten der Schwester (vgl. Gen 24; 34).159 Da die Geschlechtsreife offensichtlich noch nicht eingesetzt hat, aber die Eheplanung für sie bereits in vollem Gange zu sein scheint, ist die Frage danach, was zu tun ist, auf ihr Sexualleben bzw. ihr zukünftiges Verhalten gerichtet. Weiter heißt es entsprechend aus Sicht der Brüder im Hinblick auf ihre Schwester: „Wenn sie eine Mauer ist, werden wir auf ihr eine Silberwehr bauen, und wenn sie eine Tür ist, werden wir Zederplanken auf ihr (fest)binden.“ (Hld 8,9). Die Brüder kommen als Wächter der Sexualität der Schwester in den

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158 159

projection (used in building).” NIDOTTE, Vol. 1, 640-641. Vgl. auch Gesenius: „GBdtg. Höhlung, Inneres 1. Bauch, Unterleib, 2. Bauch i.S.v. Magen 3. Leib d. Frau 4. Abstr. Schwangerschaft 5. Inneres (des Menschen) 6. bautechn. (?) Bauchung (am Säulenaufsatz) 7. Scheide (des Kurzschwertes).“ Gesenius et al. 2013, 139–140. Zur Verbindung von ræḥæm und raḥamîm (Mitgefühl, Erbarmen, Liebe) und seine Verwendung in Bezug auf Gott s. Trible 1991, 33–59. Die einzige Hochzeit im Hld wird in Bezug zu König Salomo in Hld 3,9-11 angeführt und dort als Ereignis beschrieben, das für sich steht. Vgl. Rosenzweig: Liebe „kann beständig nur sein, indem sie ganz im Unbeständigen, im Augenblick, lebt, und sie muß beständig sein, damit der Liebende nicht bloß der leere Träger einer flüchtigen Wallung sei, sondern lebendige Seele.“ Rosenzweig 2018, 182. Vgl. Janowski 2019, 105, 120ff. Vgl. auch zur Abwesenheit von Begriffen für den Sexualverkehr im Hld im Gegensatz zu anderen biblischen Erzählungen Swadosch 2022. Vgl. Schwienhorst-Schönberger 2015, 160–161.

158 Blick. Sie gewähren dadurch Einblick in den Bereich der von Männern kontrollierten weiblichen Sexualität und Heiratspraxis zu damaliger Zeit.160 Die Tatsache, dass eine solche Kontrolle sexueller Aktivität von Frauen stattfand, kann im Umkehrschluss bedeuten, dass trotz des Verbotes sexueller Zusammenkünfte vor der Eheschließung, es durchaus vorkam, vorehelichen Verkehr zu haben. In Hinblick auf das junge Alter bei der Eheschließung, nämlich kurz nach der Geschlechtsreife, bedeutet das mehrheitlich Teenager-Sex. Dass eine nicht behütete Tochter zur Schande und zum Problem der ganzen Familie, der ganzen Ortsgemeinschaft werden konnte, zeigen die Sanktionen hinsichtlich sozialer Isolation bei Fehlverhalten.161 Oder, wie im Fall des Hlds, die Bestrafung der Geliebten durch mühevolle Arbeit im Weinberg (vgl. Hld 1,6). Gleichzeitig wird für (junge) Frauen eingeschränkter Schutz vor sexueller Gewalt geboten, indem die Konsequenzen verschiedenen Missbrauchs aufgeführt werden, die den männlichen Täter in die Verantwortung nehmen, aber somit auch andeuten, dass sexuelles Fehlverhalten vorkam und geregelt werden musste (vgl. Lev 20,10ff.; Dtn 22,13ff.).162 Die hohe Relationalität in der damaligen Gesellschaftsform zeigt die Konsequenzen und Auswirkungen auf, die unvorsichtiges, missbräuchliches oder egoistisches und unbeherrschtes Handeln Einzelner für die ganze Sippe nach sich zog. Daher werden auch im Hld an verschiedenen Stellen diese Gemeinschaftsbezüge für beide Geschlechter angedeutet (öfter für die Geliebte), zwischen den Zeilen womöglich zur kritischen Reflexion anregend (vgl. Hld 1,5-6; 3,8; 5,7; 6,8.12; 8,1.7). Die Schwester in Hld 8,8-10 reagiert jedenfalls auf die brüderlichen Maßnahmen zur Kontrolle ihrer Sexualität mit einer gewissen Ironie und zeigt sich selbstbewusst. Sie scheint sehr wohl in der Lage, selbst über ihren Körper und ihr Sexualverhalten zu bestimmen: „Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme, folglich war ich in seinen Augen wie eine, die Frieden fand.“ (Hld 8,10). Es scheint, als habe sie sich als Mauer erwiesen im Umgang mit vorehelichem Sexualverkehr, also abwehrend und nicht dafür 160

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Vgl. dazu Thöne 2012, 332–333; Janowski 2019, 116f.; Fischer 2021a, 22–26. Fischer 2003, 68–70. Vgl. zur vorehelichen Sexualität auch Grunert und Kloß 2021. Vgl. dazu Fischer 2021a, 28-35. Zur sexuellen Gewalt in verschiedenen Texten des AT vgl. ebd., 36-44; 133-158. Zur sexuellen Gewaltmetaphorik im Kontext der Ehe-Metapher zwischen JHWH und Israel bei den Propheten des AT s. Baumann 2000; Fischer 2021a, 159–165. Zur sozialen Kontrolle und Gewalt gegen die Geliebte in Hld 1,6, 5,7, 8,8-10 s. auch King 2007, 365–369.

159 zugänglich, während ihre Brüste auf geschlechtsreife Größe gewachsen sind. Mauer und Turm suggerieren, dass sie den Überblick hat und Herrin der Lage ist. Während ihre Brüder also damit beschäftigt waren, sie metaphorisch für den Verteidigungsfall aufzurüsten, hat sie längst mit ihrem Liebhaber in selbstwirksamer Weise Frieden geschlossen, also eine Vereinbarung getroffen. Diese Verse sind eingebettet zwischen der Spitzenaussage des Hlds in 8,6 und den offenen Schlussversen in Hld 8,10-13, in denen die Geliebte am Ende nicht nur um ihren hohen Wert weiß, den sie für den Geliebten hat, sondern auch klar wurde, dass trotz anderer Frauen und Männer, der/die Geliebte einzig ist in ihrer/seiner Bedeutung für ihren/seine Liebespartner/in. Die Anrufung wurde erwidert. Die Affizierung hat sich ereignet, die Umwelt darf erkennen, dass bereits eine Transformation der SelbstWelt-Beziehungen stattgefunden hat und fortgesetzte Resonanz zu erwarten ist, durch den Schalom (Frieden) Bezug. Der Schalom hat in der HB eine umfassende Bedeutung.163 Er liest sich wie eine Segensverheißung über der Verbindung zweier Menschen, die trotz der gesellschaftlichen Konventionen, die Beziehungen verfügbar machen wollen, ihren eigenen Weg des Friedens, Wohlergehens und des Heils finden. Sie gehen diesen Weg in einer Verbindlichkeit, die auf Gegenseitigkeit beruht. In den bereits stabilen horizontalen und diagonalen Bezugsfeldern, in denen sich Resonanz fortgesetzt ereignet hat, wird erneut die Durchlässigkeit in Richtung des vertikalen Bezugsfeldes deutlich, da der Schalom, gleich wie die Liebesleidenschaft, mit Gott als dessen Spender in Verbindung steht. Die Verbindung zwischen der Schwester und ihrem Brautwerber kommt als von Gott mit Schalom gesegnete in den Blick und als Dialogangebot. Die verbindliche Verbindung zweier Menschen muss nicht nur zu zweit bewältigt werden, sondern Gott schließt sich als Dritter diesem Bund an und wirkt mit und in ihnen in verbindender, ganzheitlicher, friedenbringender Weise.164 An dieser Stelle ist, im Gegensatz zum sonstigen Tenor

163

164

Es finden sich folgende Bedeutungen für šālôm: „nom. peace, friendship, happiness, well-being, prosperity, health, luck, kindness, salvation,” NIDOTTE, Vol. 4, 132-133. Vgl. Rut 3,1. Noomi will ihrer Schwiegertochter Rut einen Ruheplatz (mānôaḥ) verschaffen, damit es ihr gutgeht und meint damit die aktiven Bemühungen, um die Heirat mit Boas.

160 des Hlds, das Bild eines eventuell bevorstehenden Ehebundes womöglich angedeutet. Das gewaltlose und liebevolle Geschlechterverhältnis, das bereits mit der Gegenseitigkeit des Verlangens der Liebenden angeklungen war, erhält hier noch einmal einen krönenden Abschluss. Die nachfolgenden Verse sind in ihrer entspannten Gelassenheit und Überzeugtheit als Ausdruck einer umfassenden Ruhe innerhalb der Beziehung der Liebenden zu lesen, in der ihre gegenseitige Zugehörigkeit keine weiteren Beweise mehr benötigt. Die transformierten Selbst-Welt-Beziehungen der Liebenden verfügen nun über das Zutrauen in die jeweilige Selbstwirksamkeit, das geliebte Gegenüber zu erreichen. Sie entfalten sich als fortgesetzter Dialog mit einer Dynamik und Erotik, die die ganze Umwelt einbezieht, die das geliebte Gegenüber verkörpert, ohne dadurch verfügbar zu sein. Der Weltbezug ist insgesamt affiziert und lässt sich als libidinöse Weltbeziehung beschreiben, in der das Selbst der Welt als geliebter Welt begegnet und das geliebte Gegenüber freigeben kann. Die Transformation bleibt letztlich ergebnisoffen und offenbart so das Affizierungspotential der Liebesbeziehung, weil Liebe nicht verfügbar macht, sondern frei.

161 2.1.4. Kopf (roʾš), Stimme (qôl), Lippen (śāfāh) Die vierthäufigsten Nennungen von Körperteilen umfassen den oberen Bereich des Körpers und sind auf den Kopf (sechsmal) und die Lippen (viermal) fokussiert. Weniger als Körperteil als etwas, das mit den Lippen zusammenhängt, wird die Stimme (sechsmal) an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt. Der Kopf (das Haupt) kommt im Hld sechsmal vor (Hld 2,6; 5,2.11; 7,62; 8,3). Pro Kopf sagen wir auch heute noch und meinen damit, dass Personen konkret abzählbar sind. Ein Kopf repräsentiert pars pro toto den Menschen insgesamt.165 Für Tierhäupter wird ebenfalls roʾš verwendet. Es kann auch den Anfang von etwas bezeichnen, einen Anführer oder einen zeitlichen Beginn, die Spitze von Bergen, außergewöhnliche Erlesenheit bei Lebensmitteln usf.166 Darüber hinaus lassen Kopfhaltungen Rückschlüsse über die innere Haltung eines Menschen zu. Den Kopf zu neigen entspricht einer demütigen Haltung. Den Kopf zu erheben kann Aufrichtung und Anerkennung bedeuten oder aber Hochmut. Der Kopf als oberstes Körperteil in der altorientalischen Körperhierarchie ist deswegen auch mit Erhabenheit verbunden.167 Es erscheint daher passend, wenn das Haupt der Geliebten im Hld mit dem Berg Karmel verglichen wird (Hld 7,6). Das Haupt symbolisiert auf diese Weise nicht nur das höchstgelegene Körperteil, sondern auch eine Erhabenheit der zu ihm gehörigen Person. Zusammen mit den samtig-edlen Locken auf dem Haupt der Geliebten ergibt sich ein Anblick der vor „Vitalität und Erotik“168 nur so strotzt (Hld 7,6). In der HB dient der Karmel meist als Symbol der Fruchtbarkeit, der Höhe/Erhabenheit oder wird als heilige Stätte beschrieben, an der sich JHWH im Wettstreit mit den Götzen als wahrer (und einziger) Gott erweist (vgl. 1 Kön 18).169 Zusammen mit der Scharon Ebene, mit der sich die Geliebte in Hld 2,1 selbst vergleicht, ist die ganze Region als Bild für das blühende Leben an sich vorzustellen. Der Anblick der Geliebten ist die pure Freude und Lebenslust für den Geliebten. 165

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Schroer und Staubli 2005, 69. NIDOTTE, Vol. 3, 1013-1017. Wolff 1994, 110. Schroer und Staubli 2005, 78f. Vgl. zu Carmel NIDOTTE, Vol. 4, 465-466.

162 Ihr Anblick ist das blühende Leben, macht lebendig, lässt die ganze Umwelt in neuem Licht erstrahlen. Das Haupt des Geliebten wird mit Kostbarkeiten, die Farbe und Beschaffenheit seiner Locken mit Flora und Fauna verglichen und vermittelt ein Bild von Vitalität und Glanz (Hld 5,2.11). Das Haupt mit einer entsprechend üppigen und gepflegten Haarpracht ist ein „altorientalisch konventionelles Schönheitsideal,“170 das auch im Hld seine Wirkung nicht verfehlt. Ohne Zweifel sind die Liebenden füreinander der schönste Anblick, den sie kennen. Sie sind so schön wie die Welt, die sie umgibt. In Hld 2,6 und 8,3 beschreibt die Geliebte wortgleich die innige Umarmung mit ihrem Geliebten nach einer bestimmten Art und Weise, in der die Linke des Geliebten unter dem Haupt der Geliebten ist, während seine Rechte sie umfasst. In der altorientalischen Ikonografie gibt es solche Abbildungen häufig. Sie gelten als „klassische Position, in der Liebende … dargestellt werden.“171 Im Hld tritt diese Beschreibung beide Male im Verbund mit der Beschwörungsformel der Töchter Jerusalems auf, die Liebe nicht zu stören und zu wecken, bis es ihr beliebt. Solche Umarmungen, solche Intimität und Nähe, haben ihre eigene Zeit. Liebe kann nicht erzwungen oder hergestellt werden, ihr eignet das Moment der Unverfügbarkeit. Eine weitere Qualität, die die Liebenden in ihrer Einzigartigkeit und relationalen Ausrichtung beschreibt, ist die Stimme (qôl). Sie kommt dementsprechend genauso häufig vor wie das Haupt, sechsmal (Hld 2,8.12.142; 5,2; 8,13). qôl bezeichnet in der HB jedoch nicht nur die Stimme, sondern „jegliche Art von Laut oder Geräusch,“172 die sich dann im Kontext genauer zuordnen lassen. Diese Laute oder Geräusche können sowohl aus der Tierund Pflanzenwelt stammen (Hld 2,12), als auch von Instrumenten oder Kriegsgetümmel und bezeichnen im Plural fast immer das Wetterphänomen der Donnerschläge.173 Wird qôl dagegen in der Bedeutung Stimme oder Rede benutzt, ist dies meist durch weitere Beschreibung der Klangfarbe oder der Wirkung angezeigt: die Stimme ist dann bspw. süß i.S.v. angenehm wie in Hld 2,14, einladend und anregend wie in Hld 2,8 oder drängend und fordernd wie in Hld 5,2.

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Berlejung 2009, 324. Vgl. Keel 1992, 89. Müller 2018. A.a.O.

163 Wendungen, die sich häufig in der HB finden, betonen den relationalen Aspekt der qôl in Zusammenhang mit dem Hören: so soll auf jemandes Stimme gehört werden i.S.v. Gehorsam. Insbesondere, wo von Gottes Geboten die Rede ist, bspw. im Kontext von Dtn. Die Stimme zu erheben kann im Kontext von Jubel, Rufen oder auch Trauer vorkommen.174 Es ist an die Klangfarbe der Stimme der Geliebten gedacht, wenn es heißt: „Meine Taube, in den Spalten der Felsen, im Versteck der Steilwand, lass mich sehen deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist angenehm und deine Gestalt ist schön.“ (Hld 2,14). Die Taube ist für eher sanftes Gurren bekannt, was den Geliebten an die Stimme seiner Geliebten erinnert. Auch hier finden wir eine Verbindung zur Tierwelt, die die Qualität der Stimme und ihre Klangfarbe beschreibt. Ihre Stimme ist angenehm und erzeugt Genuss und Freude in seinen Ohren. Ihre ganze Gestalt (Nominalform von Sehen) ist für Auge und Ohr durchweg ansprechend und wird vom Geliebten begehrt. Seine Sehnsucht danach, die Geliebte zu sehen und zu hören, ist sehr groß. Gleichwie das Sehen eine kommunikative Handlung darstellt, so ist auch die Stimme auf Relationalität hin angelegt. Denn ohne, dass jemand sie hört, hat die Stimme keine Wirkung oder Bedeutung. Das Hören der Stimme des/der Anderen, zumal im Kontext der Liebesbeziehung, verweist also stets auf eine Gegenseitigkeit. Sprechen und Hören begründen einen Dialog zwischen den Liebenden, in dem die Stimme des geliebten Gegenübers mit ihrem Klang Resonanz herstellt (Hld 5,2; 8,13). Mit der Qualität der Stimme wird die Berührung durch sie ausgedrückt. Es ist etwas in der Stimme der Liebenden, das sie gegenseitig aufhorchen und sie physisch und psychisch aufeinander reagieren lässt. Sowohl der Anblick des geliebten Gesichts als auch das Hören der Stimme rufen eine „leiblich basierte psychische Resonanzwirkung“175 hervor. In dieser umfassenden Affizierung der Sinne, gewinnt die Sehnsucht noch zusätzlich an Intensität. Die Trennung der Liebenden muss daher immer wieder überwunden werden, damit die erotische Affizierung erneuert werden kann. So entwickeln sich resonante Bezugsfelder zwischen den Liebenden, die sich mit jeder Begegnung

174

175

A.a.O. Rosa 2018a, 111; 121.

164 einerseits weiter stabilisieren und andererseits füreinander durchlässig bleiben. Die Stimme wird unter Zuhilfenahme der Lippen geformt. Lippen und Mund werden in der HB häufig gemeinsam im Kontext von Sprache verwendet. Ein Privileg, das die Menschen den Tieren voraushaben. Mund und Lippen sowie Zunge und Gaumen sind sozusagen die Werkzeuge zum Sprechen. Auch hierin lässt sich eine auf Relationalität hin angelegte Bedeutung von Körperteilen erkennen. Kommunikation ist die erste Qualität, die Mund und Lippen zukommt. Sich mitzuteilen, vor allem zu antworten, sind die Tätigkeiten, die über die Sprache ausgeübt werden. Daher scheint es wohl kaum verwunderlich, dass die Sprache über vergleichsweise viele Organbezeichnungen verfügt.176 „Damit dürfte deutlich sein, daß wir im menschlichen Sprachorgan dem spezifischen Wesen des Menschen besonders nahekommen. In der Fähigkeit zur Sprache ist die entscheidende Bedingung für die Menschlichkeit des Menschen gegeben.“177 So ist die Bedeutung der jeweils individuellen Kommunikations-Ausstattung der Menschen (Gesicht, Augen, Mund, Lippen, Stimme etc.) in ihrer radikalen Relationalität besonders deutlich. Denn wo Anrufung und Anblick auf Antwort und Blickerwiderung treffen, entsteht ein Beziehungsmodus zwischen zwei einzigartigen Stimmen, die sich in gegenseitiger Affizierung erleben und dadurch verändert werden. Weniger im Kontext von Sprache, sondern im erotisch-körperlichen Genuss der Küsse, sind die Nennungen der Lippen im Hld zu verstehen, die insgesamt viermal vorkommen (Hld 4,3.11; 5,13; 7,10). Mit (Mund und) Lippen können Menschen „essen, lachen, küssen.“178 Die unterschiedlichsten Gegenüber in der sozialen Gemeinschaft können geküsst werden. Küssen findet statt unter Liebenden, in Familien, zur Begrüßung, als Bruderbzw. Schwesterkuss, und auch als Ausdruck von Loyalität gegenüber einer höhergestellten Person.179 Die Lippen im Hld sind dementsprechend dort in Szene gesetzt, wo geküsst und gegessen oder getrunken wird. Der erste Vers des Hlds beginnt mit der Sehnsucht nach den Küssen des Geliebten. Der Mund bzw. die Lip176

177 178 179

Im AT gibt es nur jeweils ein Wort für Augen und Ohr, aber „keine menschliche Tätigkeit hat mithin so viele Organbezeichnungen wie die Sprache.“ Wolff 1994, 121. Ebd., 122. Schroer und Staubli 2005, 109. Ebd., 110.

165 pen werden entgegen der sonst im alttestamentlichen Gebrauch häufigen Verbindung von Mund/Lippen und Sprache im Hld als Werkzeuge der Lebensfreude, der Lust, des Genießens in Szene gesetzt und dadurch erotisch aufgeladen. Der Liebeskuss bzw. die Sehnsucht danach, ist die Ouvertüre zu den anderen Liedern des Hlds und findet seine Entsprechung im reizvollen Mund der Geliebten, dessen Lippen karmesinroten Schnüren gleichen (Hld 4,3). Daneben werden Speisen und Gewürze genannt, die von den Lippen der Liebenden tropfen und die köstliche Süße und belebende Wirkung eines intensiven Kusses beschreiben (vgl. Hld 4,11; 5,13). Und schließlich gibt es auch Situationen, in denen das Schweigen eine Resonanz auslöst, die darin besteht, dass die süßholzraspelnden Lippen des Geliebten mit einem Kuss der Geliebten verschlossen werden (Hld 7,11). In den Körperbegriffen, die Umarmungen, Anblicke, Hören und Antworten vermitteln, wird die Einzigartigkeit des geliebten Gegenübers deutlich. Das Haupt, die Augen, die Lippen, die Stimme sind unverkennbare Merkmale individueller und sozialer Identität und ein Medium der Kommunikation.180 Im Beziehungsmodus des Dialogs sind die individuellen Stimmen der Liebenden in gegenseitiger Anrufung und Antwort aufeinander ausgerichtet. Sehen ist sehen der/des Anderen in allen Dingen und in der Natur, in der Welt. Küssen ist küssen der/des Anderen, ein lebendig machendes Ereignis, das nach Wiederholung verlangt. Hören, antworten, affizieren, berühren, bewegen und erkennen, dass das geliebte Gegenüber berührt und bewegt werden kann, führt zur Transformation der Selbst-Welt-Beziehung, denn die Welt weitet und wandelt sich in erotischer Affizierung und wird zur Resonanzsphäre für die Liebenden. In ihr bilden sich stabile resonante Bezugsfelder aus, ohne dass die Liebe verfügbar gemacht wird. Sie ist vielmehr kontinuierliche Anrufung, die Antwort wünscht und manchmal fordert, jedoch nicht erzwingt, denn wo dies versucht wird, droht Repulsion oder gar Entfremdung (vgl. Hld 5,6-8). Wie in diesem Kapitel deutlich wurde, sind die Körperteile der Liebenden Ausdruck ihrer ganzen Person und gewinnen an Bedeutung, weil sie als Kommunikationsmedium in den Dialog mit dem geliebten Gegenüber eintreten. Entlang der altorientalisch konventionellen Schönheitsideale werden auch im Hld Körperteile in ihrer Art und Weise der Beschreibung als begeh180

Vgl. Janowski 2016, 35–37.

166 renswert markiert. Insofern die Körperteile die individuelle Einzigartigkeit der Liebenden unterstreichen und sie gleichzeitig in soziale Bezüge einbinden, wird ihre Bedeutung für die Entwicklung individueller und personaler Identität in Kapitel III.3.1. noch einmal aufgegriffen. Der Körper als Medium relational ausgerichteter Kommunikation impliziert das Vorhandensein von Beziehungen, nicht nur zwischen den Liebenden, sondern auch zu Familie, Freunden etc. Diese werden im folgenden Kapitel näher betrachtet.

167 2.2. Kulturelle Lebensformen im horizontalen Bezugsfeld Neben den Körperauffassungen sind die sozialen Beziehungen weitere Elemente kultureller Lebensformen. Die im Hld erwähnten Beziehungen, erstrecken sich nicht nur ganz offensichtlich auf das Liebespaar bzw. die Liebespaare in dieser Liebesliedersammlung, sondern erwähnen in fast beiläufiger Weise zahlreiche weitere Beziehungen, die das soziale Umfeld der Liebenden mit ins Blickfeld rücken. Diese weiteren sozialen Beziehungen werden dann zu resonanten horizontalen Bezugsfeldern, wenn deutlich wird, dass sich eine bestimmte Wiederholung der Begegnung ereignet und ein Antwortdialog stattfindet, der die Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden und ihrer Umwelt verändert und deren Selbstwirksamkeit fördert. Die erotische Aufladung dieser sozialen Beziehungen herauszuarbeiten, gehört ebenfalls zur Analyse in diesem Kapitel. Die folgende Tabelle liefert einen Überblick über die drei Bereiche kultureller Lebensformen, von denen jeweils erneut diejenigen Worte genauer analysiert werden, die vier oder mehr Nennungen im Hld aufweisen. Für den Bereich Liebespaar, Familie, Freunde, Gemeinschaft, lassen sich neben den Liebenden noch die Töchter und die Mutter der Liebenden nennen. Im Bereich Ämter, Arbeit, ist allein der König häufig genug vertreten. Im Bereich Städte, Orte mit und ohne Namen, wird der Fokus auf Jerusalem liegen. Wie bereits zuvor werden die einzelnen Worte zunächst in ihrem altorientalischen bzw. biblischen Kontext verortet, bevor sie dann mittels der Erotik und der Resonanz genauer analysiert werden. Da die Liebesbeziehung der Liebenden im Hld ohnehin das beherrschende Thema darstellt, wird sie an dieser Stelle nicht noch einmal behandelt. Es ist m.E. in den vorhergehenden Kapiteln deutlich geworden, dass die Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden sich als hochgradig erotisch und resonant erwiesen hat. Unter Absehung der Kosenamen (Geliebte, Freundin, Schöne, Braut, Schwester, Makellose; Geliebter, Bruder, Freund) wende ich mich nun den anderen sozialen Beziehungen der Liebenden zu, um festzustellen, welche Resonanzqualität dort zu erkennen ist.

168 Horizontales Bezugsfeld (Liebespaar), Familie, Freunde, Gemeinschaft

Kulturelle Lebensformen Geliebte, Freundin, Schöne Braut, Schwester (die Geliebte) Schwester Makellose (die Geliebte) Geliebter Bruder (der Geliebte) Freund (der Geliebte) Mutter Tochter; Töchter Brüder (Söhne der Mutter) Söhne Gefährten Freunde Junge Frauen

Ämter, Arbeit

Städte, Orte mit und ohne Namen

Wächter König Königinnen Konkubinen Pharao Hirtin/Hirten Weinberghüter Milit. Bereich (Helden, Kämpfer, Bannertragende (2x), Doppellager) Kunsthandwerk Krämer Kedar Tirza Jerusalem Zion Israel En-Gedi Scharon Baal-Hamon Heschbon Bath-Rabbim Stadt (mit Straßen und Plätzen) Damaskus Land Feld Dörfer

Verse im Hld 1,8.9.15; 2,2.10.13; 4,1.7; 5,2.9; 6,1.4 4,8.9.10.11.12; 5,1

Anzahl 12 6

4,9.10.12; 5,1.2 8,82 5,2; 6,9 1,13.14.16; 2,3.8.9.10.16.17; 4,16; 5,2.4.5. 62.8.94.10.16; 6,12.2.32; 7,10.11.12.14; 8,5.14 8,1 5,16 1,6; 3,4.11; 6,9; 8,1.2.5 1,5; 2,2.7; 3,5.10.11; 5,8.16; 6,9; 7,2; 8,4 1,6 2,3 1,7; 8,13 5,1 1,3; 6,8

5 2 2

3,3; 5,72 1,4.12; 3,9.11; 7,6 6,8.9 6,8.9 1,9 1,7.8 8,11.12

3 5 2 2 1 2 2

3,72; 4,4; 6,4.10; 7,1 1,11; 4,9; 7,2 3,6 1,5 6,4 1,5; 2,7; 3,5.10; 5,8.16; 6,4; 8,4 3,11 3,7 1,14 2,1 8,11 7,5 7,5 3,2.3; 5,7 7,5 2,122 2,7; 3,5; 7,12 7,12

Tabelle 5: Kulturelle Lebensformen im horizontalen Bezugsfeld

33 1 1 7 11 1 1 2 1 2

Je 1 3 1 1 1 8 1 1 1 1 1 1 1 3 1 2 3 1

169 2.2.1. Familie, Freunde, Gemeinschaft und Stadt Abgesehen davon, dass der Geliebte im Hld am häufigsten genannt wird, da die Geliebte noch häufiger über ihn als mit ihm spricht,181 mutet das übrige soziale Bezugsfeld im Hld sehr weiblich an. Die Tochter/Töchter werden im Hld ganze elfmal erwähnt (Hld 1,5; 2,2.7; 3,5.10.11; 5,8.16; 6,9; 7,2 (Tochter); 8,4), während die Mutter siebenmal vorkommt (Hld 1,6; 3,4.11; 6,9; 8,1.2.5). Auf diesen Umstand haben bereits zahlreiche Theologinnen aufmerksam gemacht, was im Zusammenhang mit der Autorenschaft des Hlds hin und wieder dazu führte, weibliche Autorinnen hinter dem Hld zu vermuten, da die weibliche Lebenswelt im Gegensatz zum Tenor mehrheitlich männlicher Lebenswelt in der übrigen HB hier derart in den Vordergrund rückt (ähnlich wie im Buch Rut).182 Was altorientalische Gemeinschaften zusammenhält, sind v.a. Normen und Werte wie Gerechtigkeit und Recht, Wahrheit und Weisung. Das Zusammenleben in sozialer Gerechtigkeit zu organisieren und Normen und Werte zu schaffen, die zur rechten Anleitung im Lebensvollzug dienen und zur Aufrichtigkeit anhalten, begründet gelingendes und gutes Leben in Gemeinschaft und gegenseitiger sozialer Anerkennung.183 Darüber hinaus sind Werte wie Barmherzigkeit und Hingabe für den alttestamentlichen Kontext erwähnenswert. Sie sind weniger normativ als narrativ entfaltet und bilden zusammen mit der Gastfreundschaft wichtige Elemente gelingenden Zusammenlebens auch mit Fremden.184 Dieses Zusammenleben ist auf der anderen Seite von Verhaltens- und Organisationsweisen bedroht, die den sozialen Frieden und das gelingende Miteinander gefährden, zersetzen und zerstören.185 Von der Familie, über die Sippe, den Stamm hin zur bäuerlichen oder städtischen Lebensgemeinschaft, galt es dem Propheten Micha als erwiesen, wie ein gutes und sozial gerechtes Leben aussehen sollte: „Es ist dir 181

182 183 184 185

Die Anrede Geliebter, dôdî, kommt insgesamt dreiunddreißigmal im Hld vor (s. Tabelle 5). Zählen Bruder (8,1) und Freund (5,16) für den Geliebten mit, wird er sogar fünfunddreißigmal genannt. Davon spricht die Geliebte ihn insgesamt nur viermal direkt als Geliebten an (Hld 1,16; (4,16); 7,10.12.14). Vgl. dazu Kapitel I.2.3. Janowski 2019, 184ff. Janowski 2019, 187ff. Vgl. ebd., 200ff.

170 gesagt, Mensch, was gut ist, und was JHWH von dir begehrt: nämlich Recht zu tun und Güte zu lieben und demütig zu gehen mit deinem Gott.“186 (Mi 6,8). In diesem Sinne kommen nun die sozialen Beziehungen im Hld in den Blick, die die Lebensgemeinschaft im alten Israel abbilden bzw. die im Hintergrund der Liebesbeziehung der Liebenden erkennbar sind und an dieser Stelle unter erotischen und resonanztheoretischen Blickwinkeln betrachtet werden. Da wären zunächst einmal die Töchter. In Zusammenhang mit ihrer Nennung fällt auf, dass sie siebenmal im Verbund mit der Stadt Jerusalem genannt werden. Die Töchter Jerusalems rücken in zweierlei Hinsicht in den Fokus. Zum einen scheinen sie das Publikum oder die Gruppe des weiblichen Chores in den Liebesliedern zu sein, die mit der Geliebten als Dialogpartnerinnen interagieren, während der Geliebte sich außer an die Geliebte noch direkt an die Freunde richtet (Hld 5,1) und indirekt an Gefährten (Hld 8,13). Die Verbindung Töchter – Jerusalem macht zum anderen die Lieder zu intertextuellen Dialogpartnern innerhalb der HB. Für den Kontext dieser Arbeit lässt sich hier allerdings eine interessante Differenzierung beobachten. Da im Hld ausschließlich der Plural vorkommt (Töchter Jerusalems), in den übrigen Schriften der HB aber jeweils allein von der Tochter Jerusalem die Rede ist, stelle ich im Anschluss an Müllner und Thöne187 folgenden Unterschied fest: Wo in der HB von der Tochter Jerusalem im Singular die Rede ist, ist damit die Personifikation aller Einwohner/innen der Stadt Jerusalem oder gar des gesamten Volkes Israel gemeint.188 Dass hingegen im Hld der Plural verwendet wird, stellt den Beziehungsaspekt in den Vordergrund. Die Stadt ist die Herkunftsstadt der Töchter. Sie sind nicht als Personifikation der Stadt gemeint, sondern Jerusalem ist ihre Stadt, in der sie zuhause sind. Insofern sind sie als Nachbarinnen oder Freundinnen der Geliebten im Hld angesprochen. Die intertextuelle Verbindung ist zwar kaum zu übersehen, transformiert die Bedeutung aber in signifikanter Weise, indem statt des Singulars die Pluralform benutzt wird und somit auch das Relationsverhältnis aufgebrochen wird und sich konkret personalisieren lässt. 186

187 188

Übersetzung der Verfasserin. Müllner und Thöne 2012, 18. Von den insgesamt vierzehn Nennungen in der HB findet sich nur im Hld der Plural benôt jerušālājîm. An den anderen sechs Fundorten ist es der Singular bat jerušālājîm (2 Kön 19,21; Jes 37,22; Mi 4,8; Zef 3,14; Sach 9,9; Klgl 2,13.15).

171 Im Kontext der Liebeslieder macht dies durchaus Sinn. Denn der vibrierende Draht zur Welt verändert Selbst-Welt-Beziehungen, Sichtweisen und Haltungen mitunter in radikal fundamentaler Weise. Weil nichts mehr so ist wie vorher, sind auch bestimmte Welt-Bezüge verflüssigt und können neu anverwandelt werden. Die Töchter treten somit nicht als Personifikation eines Volkes oder einer Stadt, sondern als Frauen aus Fleisch und Blut in Erscheinung, die als Dialogpartnerinnen der Geliebten als Gegenüber in der durch die Liebe verwandelten Welt vorkommen. In dieser verwandelten Welt kommt Jerusalem als Stadt an sich in den Blick. Als Wohnort, als Zuhause, als Heimat für die Menschen, als Zentrum der Liebesbeziehung der Liebenden, und als Zentrum der Liebesbewegungen neben den ländlichen Schauplätzen. In radikal relationaler Weise wird die Bedeutung eines innerbiblischen Bildes im Liebesgeschehen des Hlds zugunsten eines sich horizontal stabilisierenden resonanten Bezugsfeldes neu kontextualisiert, jedoch ohne das vertikale zu verlieren. Wo in der HB die Tochter Jerusalem als Personifikation der Stadt und ihrer Einwohner/innen oder ganz Israels in den Blick kommt, handelt es sich um prophetische Aussagen in Gottes Auftrag.189 Sie sind von zukünftigem Frieden, Triumph und überwältigender Freude gekennzeichnet, wenn Gott das Volk rettet, bewahrt, zurückbringt, wiederherstellt. Dies ist ein hoffnungsvoller und liebevoller Aspekt in der Beziehung zwischen Gott und dem Volk, der in Kapitel III.3.2. noch genauer untersucht wird.

189

Tochter bzw. Töchter Jerusalems kommt vierzehnmal in der HB vor (siebenmal im Hld): In 2 Kön 19,21 und Jes 37,22 spricht der Prophet zu König Hiskija, angesichts der assyrischen Streitmächte unter Sanherib. Weil der König Gott um Hilfe anflehte, wird die assyrische Armee nicht siegen, sondern Israel wird angesichts ihres Scheiterns über sie spotten, im Kopfschütteln der Tochter Jerusalems ausgedrückt. In Mi 4,8 im Kontext der Ankündigung des kommenden Friedensreiches Gottes, wird die Rückkehr des Königtums an die Tochter Jerusalem prophezeit. In Zef 3,14 soll sich die Tochter Jerusalem freuen, weil Gott sich ihrer angenommen hat. In Sach 9,9 wird der Tochter Jerusalem das Kommen ihres Messias vorhergesagt. Allein in Klgl 2,13.15 findet sich ein negativer Kontext, wo die Zerstörung der Tochter Jerusalem vorhergesagt wird und der Spott der Besucher und Nachbarn. In fast allen Versen (außer Klgl 2,15) kommen sowohl die Bezeichnung Tochter Jerusalem als auch die Bezeichnung Tochter Zion vor. Im Hld ist von den Töchtern Zions (Pl.) in Hld 3,11 die Rede, im Kontext der königlichen Hochzeit.

172 Doch zurück zu den Töchtern Jerusalems im Hld. Durch die sich wiederholenden Begegnungen der Geliebten mit den Töchtern, und durch die sich ebenfalls wiederholende Nennung Jerusalems als Ortsbestimmung in verschiedenen Kontexten, werden horizontale Beziehungen zu Menschen und Orten gestärkt. Jerusalem wird zum festen Bezugspunkt im Hld, zum Schauplatz von Ereignissen, wie bspw. der nächtlichen Suche nach dem Geliebten (Hld 3,2-3; 5,6-7) oder der Krönung des Königs (Hld 3,10-11). Es ist die Heimatstadt der Töchter und für mindestens eines der Liebespaare. Aus der Personifikation der Tochter Jerusalem, kommen im Hld die Töchter Jerusalems als lebendige Wesen in den Blick, die nichts anderes personifizieren als sich selbst, ihre Gemeinschaft untereinander und jene mit den Liebespaaren. Die Liebe verändert den Blick auch auf die Stadt und sorgt so für transformierte Weltbezüge, die neue Lebensmöglichkeiten eröffnen, Beziehungen lebendig machen. Dieses Verhältnisideal verfügt über seine eigene Schönheit und dient dadurch auch als Vergleich mit der Geliebten, die schön ist wie Jerusalem (Hld 6,4), weil Jerusalem mit Leben und Beziehung und daher prinzipiell mit Erotik und Resonanz gefüllt ist. Die erotische Aufladung erfährt der Dialog mit den Töchtern durch ihre Partizipation an den Liebesabenteuern der Geliebten. Sie werden mit hineingenommen in die erotische Attraktion der Liebenden, die sie offensichtlich selbst affiziert (Hld 2,7; 3,5; 5,9; 6,1). In dieser Hinsicht fügt sich die Beziehung der Liebenden in die Beziehungen um sie herum auf eine radikal relationale Weise ein. Denn nicht nur die Weltbeziehung der Liebenden ist durch ihre Liebe verändert, sondern auch die Weltbeziehung der Töchter durch ihre Partizipation an dieser Liebe. Die Affizierung durch die Liebe multipliziert sich in die Umwelt des Liebespaares hinein und sorgt für ein Transformationspotential, das die eigenen Selbst-Welt-Beziehungen weit übersteigt und die Weltbeziehungen anderer Menschen berührt, bewegt und verändert. In Hld 2,7 und 3,5 bleiben die Töchter Jerusalems als stumme Dialogpartnerinnen nur Angesprochene und werden dazu angehalten, die Liebe nicht zu stören, bis es ihr beliebt. Sie werden also aufgefordert, die Unverfügbarkeit der Liebe zu akzeptieren und sie nicht erzwingen oder verfügbar machen zu wollen. Als die Geliebte in Liebesnot gerät und Repulsion, Entfremdung und Resonanzverlust in der Beziehung zum Geliebten drohen, bekommen die Töchter Jerusalems eine hörbare Stimme. In dem Moment, da der Beziehungsmodus zum Geliebten verstummt, werden die Töchter zu

173 Dialogpartnerinnen mit eigener Stimme. Auf diese Weise kann sich die erlebte Repulsion nicht zur Entfremdung auswachsen. Im Dialog mit der Geliebten erkundigen sich die Töchter zunächst, warum denn der Geliebte so besonders sei für die Geliebte (Hld 5,9). Nach seiner Beschreibung können sie durchaus nachvollziehen, warum die Geliebte derart von ihm schwärmt und über ihre Trennung von ihm liebeskrank geworden ist. Sie bieten an, der Geliebten bei ihrer Suche zu helfen (Hld 6,1), was jedoch schlussendlich nicht nötig ist, weil er inzwischen wieder aufgetaucht ist. Die Zurückhaltung zu Beginn und die Anteilnahme am Ende dieses Abschnitts zeigen deutlich, wie stark die Töchter von der Liebeserzählung und dem Verhalten der Geliebten affiziert werden. Die Geliebte berührt sie mit ihrer Liebe zum Geliebten und weckt in ihnen selbst den Wunsch, Liebesglück zu erfahren bzw. bei seiner Erlangung anderen behilflich zu sein. Selbst berührt und bewegt zu sein eröffnet ihnen ihre eigene Selbstwirksamkeit und die Selbstwirksamkeit der Geliebten, denn die Töchter scheinen nun überzeugt zu sein, andere berühren zu können, indem sie die Liebenden wieder zusammenbringen wollen. Sie wollen dies mit der Geliebten gemeinsam tun. Der Geliebten aus ihrer Liebeskrankheit herauszuhelfen, damit sie wieder lebendig sein kann, gelingt nur in der transformierten Haltung von oberflächlichem Interesse hin zu echter Anteilnahme. Die Resonanzwirkung ist im Hld direkt an den Töchtern Jerusalems erkennbar und macht sie zu wichtigen Weggefährtinnen der Geliebten, weil sie mit ihnen ein stabiles horizontales Bezugsfeld aufbaut. Wo allein von Töchtern die Rede ist (Hld 2,2; 6,9) ist es stets der Geliebte, der spricht. In seinen Aussagen sind die Töchter nicht näher definiert, es lässt sich keine gemeinschaftliche Beziehung ausmachen. Es könnten sowohl die Schwestern der Geliebten gemeint sein als auch die jungen unverheirateten Frauen des Ortes ohne Namen, von denen die Geliebte die Schönste ist (Hld 2,2). Die anderen Töchter, die neben Königinnen und Nebenfrauen auftauchen, nennen die Geliebte gesegnet (Hld 6,9). Dies steht ebenfalls in Bezug zur Einzigartigkeit der Geliebten und lässt sie in diesen weiblichen Sozialverbänden eine herausragende und wohlwollend beurteilte Position einnehmen. Es scheint hier kein Konkurrenzverhalten zu geben, sondern positiv verstärkende Botschaften, die der Geliebte als Referenz anführt, um auch seine Affizierung zu kontextualisieren.

174 In ähnlicher Weise, wie bei den Töchtern Jerusalems, wird auch die Beziehung zur Mutter im Hld neu kontextualisiert. Die Mutter wird siebenmal erwähnt,190 ganz im Gegensatz zu einem Vater, von dem in den einhundertsiebzehn Versen nicht ein einziges Mal die Rede ist. Die Mutter ist einmal die Mutter der Söhne (Hld 1,6), des Salomo (Hld 3,11) und des Geliebten (Hld 8,5), wie auch am häufigsten die Mutter der Geliebten (Hld 3,4; 6,9; 8,1; 8,2). Im Bild der Gebärerin (oder Stillenden) des geliebten Gegenübers, kommt sie viermal in den Blick (Hld 3,4; 6,9; 8,1.5). An einer Stelle in der Funktion als familiäre Herkunftsbestimmung der Brüder (Hld 1,6) und an anderer Stelle in der Funktion derer, die ihren Sohn zum König krönt (Hld 3,11). Am relational wichtigsten Punkt tritt die Mutter als Lehrerin in Liebesdingen auf (Hld 8,2). Es ist bemerkenswert, dass das Lexem an dieser Stelle in dieser Beugung (3. Pers. Sg. fem.) nur ein einziges Mal in der gesamten HB vorkommt.191 Es ist die Mutter, die eine Lehrfunktion übernimmt, die die Selbst-Welt-Beziehung der Geliebten radikal verändert. In der Weitergabe des Wissens über Liebesangelegenheiten, offenbart sich eine erotische Affizierung, die über die Generationen hinweg weitergegeben wird und bereits in der Schwangerschaft beginnt. Die Mutter tritt als primäre Beziehungspartnerin für die ersten Resonanzerfahrungen des Kindes auf. Zunächst im Mutterleib, während der Schwangerschaft und dann nach der Geburt, weil sie die ursprünglichen Antwortbeziehungen mit dem Fötus sowie dem Neugeborenen begründet.192 Sie verhilft dem Neugeborenen in erotischer Affizierung zur Gewinnung von Eigenständigkeit. Der leibliche Kontakt ist also nicht nur „lustvolle Stimulation … [sondern] die erste Sprache, in der das Kind angesprochen und durch die sein Selbstempfinden geweckt wird.“193 Die Erotik, die Lebenslust, die lebendig macht und die durch die Mutter von Anfang an in die Beziehung zum Neugeborenen eingetragen ist, setzt sich im Hld in der Unterweisung in Liebesdingen in späterem Alter fort. 190

191

192 193

Zur Bedeutung der häufigen Nennung der Mutter im Hld vgl. Staubli 2017. Vgl. Appendix VII.2., Beispiel Nr. 53.6. Insgesamt kommt das Verb l-m-d in der HB sechsundachtzigmal vor und bezieht sich fast ausschließlich auf das Verhältnis zwischen dem, was Gott sagt, seinen Satzungen und Weisungen, und dem Volk, das diese lernen soll, und die sie einander lehren sollen sowie die Ehrfurcht, die sie vor Gott lernen sollen und dem, was sie von den anderen Völkern im Umgang mit Götzen nicht lernen sollen. Rosa 2018a, 85–88. Ebd., 89. Rosa zitiert hier Fuchs 2000, 114f.

175 In Kapitel III.1.1.2. im Kontext der Erwähnung des Apfelbaums (Hld 8,5) als Ort der Geburt des Geliebten, ist die Liebe in ähnlich generationenübergreifender Konnotation bereits in den Blick getreten. Der Geliebte ist der lebendige Beweis für die Liebesbeziehung der Eltern. Die Liebenden des Hlds sind nicht allein Liebende, sondern in der Weltbeziehung mit ihren Familien diejenigen, die die Liebe weitertragen. Insofern sie dadurch neu Leben ermöglichen und für Lebendigkeit sorgen, setzt sich die Erotik generationenübergreifend fort und kann so ihr Transformationspotential von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft entfalten. In der fortgesetzten Resonanzerfahrung stellt die Weitergabe der Liebe oder die Anleitung zum Lieben einen generationenübergreifenden Aspekt gemeinschaftlichen Lebens dar. Auf diese Weise etabliert sich ein stabiles horizontales Bezugsfeld. In dieser Stabilität fasst die Geliebte Vertrauen zu ihrer eigenen Selbstwirksamkeit. Die von der Mutter erlernte Lebenslust darf sich in der Liebesbeziehung nun entfalten und offenbart, dass die Geliebte ihren Geliebten zu erreichen vermag. Sie berührt und bewegt ihn mit ihrem Anblick, ihrem Duft, ihrem Blick, ihrer Stimme, ihrem Charakter. Er bewegt sie mit seiner Erscheinung, seinem ausdauernden Liebeswerben, seiner Liebeskunst. Sie treten in einen Dialog miteinander, in dem ihre genuin eigenen Stimmen erklingen und vom geliebten Gegenüber Antwort erfahren, leibgeistlich, ganzheitlich. Im affizierenden Dialog wandeln sich die Liebenden in ihrem Selbst-Welt-Bezug. Die Welt wird eine andere, weil sie mehr und mehr Geliebte/r wird. Die Welt ist gar nicht genug, die anhaltende erotische Attraktion des geliebten Gegenübers zu beschreiben. Die Beschreibungen holen immer weiter aus, erweitern den Raum der Vergleichspunkte, erstrecken sich in die unberührte Tier- und Pflanzenwelt, hin zu kostbarsten Produkten und imposanten Gebäuden. Letztere spielen eine große Rolle im übernächsten Kapitel. Doch zunächst zum König im Hld.

177 2.2.2. Ämter Aus dem Bereich Ämter entfallen auf den König fünf Nennungen (Hld 1,4.12; 3,9.11; 7,6). In den Versen Hld 1,4.12; 7,6 ist der König namenlos. In Abschnitt Hld 3,6-11 ist König Salomo namentlich bezeichnet. Der König repräsentierte im AO das Volk gegenüber den Gottheiten. Er vermittelte zwischen Göttern und Volk und war der Vertragspartner für die „Loyalitätsbestimmungen“194 gegenüber den Göttern. Besonders in mesopotamischer Kultur war der König in verschiedenen Rollen tätig. Als oberster Richter war er dazu eingesetzt, das Recht auszuüben, zu promulgieren und durchzusetzen. Als oberster Priester hielt er den Kult aufrecht und war für Tempelbauten und deren Instandhaltungen zuständig. Er verteidigte als oberster Heerführer sein Volk gegen Feinde, schützte die Grenzen des Landes und hielt generell das Chaos in Schach, das den Kosmos bedrohte.195 In speziellen Riten, wie dem hieros gamos, wurde sein besonderes Amt göttlich legitimiert und religiös aufgeladen. So wurde der König vergöttlicht und hatte dementsprechend viel Macht und Ansehen.196 Das Königsamt in der Bibel wird ambivalent wahrgenommen und als Wunsch des Volkes dargestellt, um sich von den anderen Völkern nicht mehr in der Regierungsform zu unterscheiden (1 Sam 8,19-20). Trotz der zusätzlichen Bürde, die die Versorgung des Königshofes und die Bereitstellung einer Armee und deren Versorgung bedeutet (1 Sam 8,11-18), wird das Königsamt mit Saul als erstem König Israels installiert (1 Sam 9-10). Zuvor jedoch sei es nicht so gewesen. Gerade im Gegensatz zu der v.a. assyrischen Regierungsideologie, ist der Bundesschluss am Sinai zwischen Gott und seinem Volk nach dem Auszug aus Ägypten ein geradezu revolutionäres demokratisches Unterfangen (vgl. Das Bundesbuch in Ex 20,2223,33). Assmann konstatiert: Die Stelle des Königs als vermittelnde und repräsentierende Instanz entfällt in dieser neuartigen Konzeption. Durch diese ‚Umbuchung‘ 194

195 196

Assmann 2015, 250. Pongratz-Leisten 2017, 227–228. Vgl. Hutter 1996, 104–105. Hieros gamos bedeutet Heilige Hochzeit und wurde lange fälschlicherweise als Fruchtbarkeitskult interpretiert, ist aber als Vergöttlichung des Königs und seine Ausstattung mit göttlich legitimierter Macht zu verstehen, vgl. Nissinen 2006, 8; Pongratz-Leisten 2017, 225–226.

178 der König-Gott-Beziehung und der König-Volk-Beziehung auf die Gott-Volk-Beziehung wird aus der assyrischen Staatsideologie die israelitische Bundestheologie. Der Bundesgedanke macht das Königtum überflüssig. Das Volk tritt an die Stelle des Königs. In der Abwesenheit des Königs liegt das Spezifische der alttestamentlichen Bundestheologie.197

Im Verlauf der biblischen Erzählungen ändert sich diese Form der Gemeinschaftsorganisation und weicht einem monarchischen Gesellschaftsmodell, das im AO weithin verbreitet war. Der kanonische Endtext erzählt, dass mit der Einsetzung des Königsamtes Gott als König des Volkes abgelöst wurde (1 Sam 8,7-8). Allerdings ist Gott in der Wahl der Könige David und Salomo entscheidend beteiligt. Insbesondere unter Salomo entwickelt sich das Land zu wirtschaftlicher Blüte und kulturellem Fortschritt (1 Kön 3-10). Ob dies dem Segen Gottes zu verdanken ist oder der Frondienstpraxis, die Salomo nach biblischem Narrativ etabliert, muss offenbleiben (vgl. 1 Kön 5,1.29; 9,20-22; 12,4). Dass König Salomo als Tempelbauer und der Weisheit und Liebe verpflichteter König in die biblischen Erzählungen eingeht, macht auch sein Auftreten im Hld nachvollziehbar. König Salomo war laut biblischer Überlieferung für seine Dichtkunst und für den Luxus in Palast und Tempel bekannt (vgl. 1 Kön 5-7). An dieser Stelle ist womöglich die Sichtweise der Sachlage durch Herder dienlich, da er in Einklang mit der breiten jüdischen Auslegung des Hlds steht.198 Herder, der im Allgemeinen dann zitiert wird, wenn es darum geht, die allegorische Auslegung abzulehnen, schreibt im Deutsch des 18. Jh. über die salomonische Autorenschaft des Hlds: Wenn in der Bibel steht: ‚Salomo hatte fünfhundert Weiber zu Frauen und dreihundert Kebsweiber‘; wenn da steht: ‚Salomo liebte viel ausländische Weiber, dazu die Tochter des Königs in Ägypten – er war weiser, als alle vor ihm, auch weiser, als die Dichter an seinem Hofe – seine Lieder waren dreitausend fünf – er sprach von der Ceder Libanons bis zum Ysop an der Wand, auch von Gewürm, Vieh, Vögeln ‘ wenn dies alles unleugbar da steht, wird man nicht hingerissen 197

198

Assmann 2015, 250. Vgl. dazu Fishbane 2015, xx–xxi. Allerdings ist die salomonische Autorenschaft kein Hinderungsgrund, die Sammlungshypothese zu vertreten, da auch Fishbane auf historische Ungereimtheiten und sprachliche Auffälligkeiten im Hld hinweist, die nicht ins 1. Jt. v.Chr. gehören, sondern eindeutig jüngeren Datums sind.

179 zu fragen: wie redete er denn von seinen Weibern? Wie sang er? Wovon handelten so viel Lieder? Wie sang er den großen Inhalt seines Lebens, die Liebe? Wie sang er sie als der weiseste und glücklichste König? … Stünde es im Verfolg der Geschichte Salomo’s: ‚seiner Lieder waren dreitausend und fünf, und dies ist das Lied d.i. der Ausbund seiner Lieder‘, wer könnte was dagegen haben? … ‚Nun aber stehts als ein besondres Buch da –‘ und weswegen stehts da? … Als göttlich-autorisierter Belag seines Charakters und Lebens. Darum steht es auch unter den hagiographis, den heiligen Büchern, die mehrere dergleichen Beläge enthalten. Kurz, alle Schriften Salomo’s werden hiermit historisch und charakteristisch. Sie wollen in sein Leben zurückgeführt, in seine Seele gelesen werden, so widersprechen sie einander nicht, sondern erklären einander.199

Hinter dieser kanonisch-intertextuellen Lesart Herders verbergen sich horizontale und vertikale Bezugsfelder. Es besteht für ihn kein Zweifel, dass die Bibel göttlich autorisierte Schrift ist, die von den Dingen des Lebens und den Charakteren der Menschen spricht. Die einzelnen Bücher der Bibel stehen miteinander im Dialog, weil auch Gott mit den Menschen im Dialog steht, so wie die Geliebte mit ihrem Geliebten im Dialog ist und mit den Töchtern Jerusalems, den Brüdern, Wächtern und der Mutter. Im Hld überlagern sich das horizontale und das vertikale Bezugsfeld, weil Liebesbeziehungen stets über sich selbst hinausweisen,200 sich weiten und die Welt mit einschließen in die erotische Attraktion. So kann der König einmal in einem konkreten Kontext mit Namen erscheinen (Hld 3,9.11) und ist an anderer Stelle der König des Herzens der Geliebten (Hld 1,4.12; 7,6). So oder so, er regiert. Seine Liebeskunst bringt zum Jauchzen und Fröhlichsein; solange er anwesend ist, umweht der kostbarste Duft die Geliebte, und kein König der Welt kann sich aus ihren fesselnden Locken befreien, egal wieviel Macht er haben könnte. Aber hier, in ihrer Nähe, ist er ganz hingegeben an seine Geliebte, aller Macht und Herrschaft beraubt und völlig hingerissen von ihrer Art zu lieben (Hld 7,7). In der Liebesbeziehung treten gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse in den Hintergrund. Dabei wird deutlich, dass kein Ruhm, kein Reichtum, kein Königsamt der Welt und keine Vielzahl an jungen Frauen 199

200

Herder 2000, 97–98. Vgl. Schwienhorst-Schönberger 2015, 25.

180 wichtiger sein könnte als der Genuss des eigenen Weinbergs, der Genuss der Geliebten, die den Geliebten mit allem versorgt, was zur Lebendigkeit nötig ist (Hld 8,11-12).201

201

Zur Bedeutung von König im religiösen Kontext s. Kapitel III.3.2.

181 2.3. Kulturelle Lebensformen im diagonalen Bezugsfeld – Gebäude Das diagonale Bezugsfeld ist das letzte Untersuchungsfeld aus dem Bereich der kulturellen Lebensformen. Nachdem nun schon fast alle Bereiche aus den natürlichen Lebensbedingungen und den kulturellen Lebensformen analysiert wurden, liegt das Augenmerk in diesem Kapitel auf den Gebäuden, die im Hld genannt werden. Unter den genannten konnten sowohl die Türme als auch die Mauern den Sprung in die Analyse schaffen, da sie beide mindestens viermal genannt werden. Die folgende Tabelle weist auch die anderen Materialien, Gegenstände und Gebäude bzw. -teile nach, die im Hld erwähnt werden. Für den Bereich der Materialien und weiteren Gegenstände wurde aufgrund der geringen Anzahl an Nennungen keine Analyse durchgeführt. Jedoch mache ich auf die intertextuellen Bezüge für die Worte Banner und Säule in Appendix VII.2. aufmerksam (Bsp. 11.1 und 24.1). Hier kann erneut beobachtet werden, wie das diagonale Bezugsfeld durchlässig wird für das vertikale. Diagonales Bezugsfeld Materialien und weitere Gegenstände

Gebäude, -teile

Kulturelle Lebensformen

Verse im Hld

Banner Sänfte Säulen Lehne, Sitz Podeste Streitwagen Schwert(er) Schilde, Rundschilde Sofa/Diwan Griffe des Querriegels Silberstücke (Geld) Zimmer Haus des Weines Turm Davids; Elfenbein-; Libanon-Turm, andere Türme Arsenal Quelle, Brunnen Mauern Fenster Gitter Tor Tür

2,4; 6,4 3,9 3,6.10; 5,15 3,10 5,15 1,9; 6,12 3,82 4,4 1,16 5,5 8,11 1,4; 3,4 2,4

2 1 3 1 1 2 2 Je 1 1 1 1 2 1

4,4; 5,13; 7,52; 8,10 4,4 4,12.152 2,9; 5,7; 8,9.10 2,9 2,9 7,5 7,14; 8,9

5 1 3 4 1 1 1 2

Tabelle 6: Kulturelle Lebensformen im diagonalen Bezugsfeld

Anzahl

182 Zwei Arten von Gebäuden werden analysiert. Turm/Türme (migdāl/ migdālôt), die teilweise konkrete namentliche Bezeichnungen tragen (Libanonturm, Elfenbeinturm), und Mauer/n (kotæl (Hausmauer) bzw. ḥômāh/ḥomot). Beide Gebäude konnten aus Steinen oder Lehmziegeln gebaut sein und dienten der Sicherung einer Stadt.202 Bei einer Belagerung mussten die Mauern dem Ansturm feindlicher Streitkräfte standhalten. Türme dienten dazu, schon von weitem zu erkennen, falls eine feindliche Streitmacht anrückte. Es gab aber auch Türme in der Ebene, abseits von Städten, die als einzelne Wehranlagen und Frühwarnsysteme dienten und an strategischen Punkten gelegen waren. Um sie herum siedelten sich zuweilen Menschen an, was an bestimmten Namen von Ortschaften ablesbar ist, wie bspw. Migdal-El (Jos 19,38) oder Migdal-Gad (Jos 15,37). Wieder andere Türme dienten als Aussichtspunkte zum Schutz von Weinbergen (Jes 5,2) oder von Viehherden gegen natürliche Feinde (Migdal-Eder, vgl. Gen 35,21; figurativ: Mi 4,8).203 Ein Turm ist in jedem Fall ein hohes Gebäude und dient in Beschreibungen der HB gleichermaßen als Schutzraum, Aussichtsposten und Teil der Verteidigungsanlage. Innerbiblisch ist der Turm auch mit der Erzählung des Turmbaus zu Babel assoziiert (Gen 11), ein menschliches Bauprojekt, dessen göttlich geahndeter Größenwahn bekanntermaßen in der Sprachverwirrung endete. Ein Turm kann aber auch auf den Schutzraum hinweisen, der bei Gott zu finden ist. Wo Gott als Turm angesprochen wird, finden Verfolgte oder Verzweifelte Schutz (Ps 61,3; Spr 18,10). Im Hld kommen Turm/Türme insgesamt fünfmal vor. Viermal dienen sie als Vergleichspunkte für ein bzw. mehrere Körperteile der Geliebten (Hld 4,4 Hals; Hld 7,52 Hals und Nase; Hld 8,10 Brüste) und einmal für die Wangen des Geliebten (Hld 5,13). Letztere stehen in Zusammenhang mit dem in Kapitel III.1.1.1. behandelten Balsam. Die Wangen des Geliebten sind Balsambeete, Türme aromatischer Kräuter. Es fällt nicht schwer sich hier ein Küssen und womöglich Hineinbeißen in die Wangen des Geliebten vorzustellen, wenn die Geliebte deren herben Geschmack beschreibt. In jedem Fall ist die Wirkung anregend, belebend und gipfelt im Kuss der von Myrrhe tropfenden Lippen. In dieser Duftatmosphäre wird deutlich, dass der Turmvergleich gleichzusetzen ist mit einer hohen Wirkung des Geliebten 202

203

wall (ḥômâ), und tower (migdāl) in: NIDOTTE, Vol. 2, 50-51 und 835-836. Zu tower vgl. auch Eerdmans Dictionary, 1322-1323.

183 auf die Geliebte. Die überbordende Fülle seiner herb duftenden Gesichtszüge und ihrer Liebkosungen, steigert sich nahezu ins Unermessliche, weshalb die Geliebte auch zusammenfasst, dass einfach alles an ihm begehrenswert ist (Hld 5,16). Die Turmvergleiche in Bezug auf die Geliebte (bzw. in Hld 8,10 gar von ihr selbst verwendet), bringen eine neue Qualität in die Liebesbeziehung hinein. Wo vom Hals (und der Nase) der Geliebten im Vergleich mit Türmen die Rede ist, wird dahinter die Bedeutung von „Stolz“204 oder der „Uneinnehmbarkeit“205 vermutet oder einfach ein mit Ketten geschmückter Hals.206 Türme sind Teil der Wehranlage einer Stadt, aber sie sind nicht wirklich der Gebäudeteil, der einen Angriff abwehrt. Der Turm hat eher die Funktion, die Lage zu überblicken, frühzeitig zu erkennen, wenn Bedrohung naht und im Falle eines Angriffs gerüstet zu sein für den Gegenschlag. Der Vergleich des Halses der Geliebten mit dem Turm Davids (Hld 4,4), an welchem Rundschilde der Helden hängen, spielt m.E. nur sekundär auf einen militärischen Zusammenhang an, denn da wo die Schilde aufgehängt sind, scheint ja gerade keine bedrohliche Situation vorzuliegen, sondern eine dekorative.207 So halte ich diesen Vergleich nicht für den eher aus männlicher Eroberer-Perspektive festgestellten Erweis des Stolzes oder der Uneinnehmbarkeit der Geliebten, sondern einen aus ihrer Perspektive angezeigten und vom Geliebten erkannten Hinweis auf ihre Selbstwirksamkeit.208 Ist an ihrer Haltung für den Geliebten ablesbar, dass sie selbstbewusst und wählerisch ist, dann ist ihre Zuwendung zu ihm noch erotischer und resonanter, denn die Geliebte weiß, was ihr wichtig ist bei einem Mann, und er freut sich darüber, dass sie ihn in Betracht zieht. Der Antwortdialog zwischen den Liebenden setzt sich in ihrer Körpersprache fort. Sie können einander lesen und mit allen Sinnen erfassen. Sie berühren und bewegen einander und erfahren eine zutiefst beglückende Intimität, die ihn ausrufen lässt: „Alles an dir ist schön, meine Liebste, und Makel sind keine an dir.“ (Hld 4,7). Sie ist für ihn perfekt, innerlich und äußerlich. Ist ihr Hals wie

204

205 206 207 208

Keel 1992, 136. Ebd., 138. Peetz 2015, 183. Vgl. Exum 2005, 165. Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger 2015, 115.

184 Davids Turm, kommt David mit seiner Geschichte in den Blick, die eine narrative Parallele zu den Liebenden schafft. Es wird deutlich, dass mit der Erwähnung von König David ein Bezug zum Thema der Erwählung hergestellt wird. So wie Gott David (dāwîd) aus den Söhnen Isais dem Herzen nach erwählte (1 Sam 16,6-13), und David als erfolgreicher Anführer einer militärischen Streitmacht in die Geschichte einging, so ist auch die Geliebte imstande, sich ihren Geliebten (dôdî) zu erwählen.209 Sie erwählt denjenigen, dem sie ihr Herz schenken will, der ihr Herz berührt, und wehrt diejenigen ab, die ihrem Herzen nicht entsprechen. Ihre Herzensentscheidung ist im biblischen Verständnis eine Entscheidung, bei der sich Verstand, Gefühl und Willen im Einklang befinden. Der Geliebte erkennt diese Liebesmacht der Geliebten wohl und wird daher nicht müde, sie weiter zu umwerben, ihre Einzigartigkeit zu betonen, um sie für sich zu gewinnen. Mit seinen Worten signalisiert er ihr, dass er sie als Person erfasst hat und auf seine fortgesetzte Erwählung durch sie hofft. Mit der Erwähnung Davids als Bezugspunkt der Geschichte, die im Kontext der biblischen Schriften immer eine Geschichte Gottes mit seinem Volk ist, treten die Liebenden in Verbindung mit ihrer Geschichte, die wiederum unauflöslich mit Gott verbunden ist. Mit diesem Vergleich wird die Beziehung der Liebenden in einen übergeschichtlichen Kontext erhoben, der das horizontale Bezugsfeld auf das vertikale hin durchlässig werden lässt. In Hld 7,5 werden gleich zwei Körperteile der Geliebten mit Türmen verglichen. Der Hals wird als Elfenbeinturm gepriesen und die Nase wird mit dem Turm verglichen, der nach Damaskus blickt. Im Kontext mit Hld 7,6a ergibt sich ein geografisches Setting, in dem ihr Haupt mit dem Berg Karmel verglichen wird (Westen), die Augen mit Teichen in Heschbon (Osten) und ihre Nase gen Damaskus gerichtet ist (Norden). Der Hals besetzt die südliche Himmelsrichtung, damit die Beschreibung der Geliebten mit allen vier Himmelsrichtungen in Verbindung steht. Die Geliebte wird erneut zur Welt, die von einer Höhe zur nächsten reicht und ihre Erhabenheit und kostbarste und lebendig machende Einzigartigkeit betont. Sie bedeutet dem Geliebten die Welt. Überall ist sie zu erkennen. Sie ist untrennbar mit dem

209

Im Hebräischen haben David (dāwîd) und Geliebter (dôdî) dieselben Konsonanten, sind aber unterschiedlich vokalisiert. Hier könnte also ein Wortspiel absichtsvoll eingefügt sein, um den o.g. Zusammenhang anzudeuten.

185 Land verbunden. Egal wohin er blickt und geht, permanent wird ihre Präsenz evoziert. In dieser maximalen Öffnung für das geliebte Gegenüber weitet sich der Selbst-Welt-Bezug und gelangt in eine Dimension, die die resonanten Bezugsfelder füreinander durchlässig sein lässt. Geografie, Gebäude (diagonal), Geschichte/religiöse Überlieferung (vertikal) und die Liebesbeziehung (horizontal) werden miteinander verknüpft, überlagern sich und werden füreinander durchlässig. Resonanz ist in allen Bezugsfeldern erlebbar und wiederholt sich, wann immer die Geliebte oder die Bezugsgrößen in den Blick kommen oder als Bild vor dem geistigen Auge entstehen. So entstehen stabile Bezugsfelder, in denen fortgesetzt Resonanz möglich ist: in der persönlichen Begegnung, auf Reisen, in der Erinnerung usf. Die Geliebte berührt und bewegt den Geliebten mit ihrer allgegenwärtigen Präsenz. Sie verfügt über eine Macht der Liebe, die mit keiner anderen Macht zu vergleichen ist als mit einem Zustand des Friedens, wo alles Kriegsgerät an der Wand hängt, lediglich der Dekoration dient und in alle Richtungen die Welt immer nur die Geliebte ist. In Liebesdingen ist eine andere Macht am Werk, das wissen die Liebenden wohl. Bei dieser Macht geht es nicht um Beherrschung, sondern um Freiheit und Unverfügbarkeit. Beide Liebenden wissen um ihre Selbstwirksamkeit, dass sie das Gegenüber berühren und bewegen und dass ihre Umwelt im Transformationsprozess ihres Resonanzerlebnisses radikal relational ko-variiert. Insofern die Liebenden also ihre Liebe nicht fixieren wollen, sondern ihren Übertrag auf das gesamte Welterleben zulassen und begrüßen, werden sie – vielleicht nur für den Moment – frei von gesellschaftlichen Konventionen. Die Neubesetzung von Vergleichsbildern, dass also die Liebenden einander in der Welt erkennen, entspringt der liebevollen Freiheit, die nichts fixieren will, auch nicht die Bedeutung von Vergleichen, weil der geliebte Mensch jeden Tag eine neue Welt aufschließt und neue Lebendigkeit verströmt, auf die „sinnschöpferisch“210 reagiert werden muss. Jetzt, in diesem Moment, ist der Bildvergleich für die Geliebte passend. Doch das kann morgen schon wieder anders sein, denn Resonanz ist und bleibt unverfügbar und präsentisch bzw. aktualisiert sich stets nur in der Gegenwart.

210

Ich verwende den Begriff im Ricœur’schen Sinn, Ricœur und Jüngel 1974, 48–49.

186 Und so ist die einzige Konstante in der Liebe der Wandel, der immer wieder unternommene Versuch mit Worten zu beschreiben, was das geliebte Gegenüber bedeutet und was es auszeichnet. Die Beschreibungen des Gegenübers im Zustand der Liebe sind permanente „semantische Neuerungen,“211 die metaphorisch gesagt werden müssen, weil sie etwas vorher nicht Dagewesenes ausdrücken sollen: die Liebe zu diesem einen bestimmten Menschen, die die ganze Welt verändert und etwas vollkommen „Neues über die Wirklichkeit“212 aussagt. Diese neue Wirklichkeit gilt insbesondere für die Kombination der Motive Türme und Mauer in Hld 8,10 (in Hld 8,9 bezeichnen die Brüder die Geliebte, ihre Schwester, als Mauer). Die Geliebte spricht hier von sich selbst und reagiert auf die Heiratsverhandlungen der Brüder, die in Kapitel III.2.1.3. schon einmal im Kontext der Analyse der Brüste der Geliebten aufgetaucht sind. Sie selbst bezeichnet sich als Mauer und ihre Brüste als Türme. Mauern kommen insgesamt viermal im Hld vor und abgesehen von Hld 8,9-10 noch in Hld 2,9 und 5,7. Mauern dienten einer Stadt hauptsächlich als Verteidigungsanlage. Türme und Tore waren weitere Bestandteile einer Stadtmauer oder einer Wehranlage. Verschiedene Arten von Mauern entsprachen einerseits dem wirtschaftlichen Budget der Städte und andererseits der erwarteten Bedrohung. Das Material für den Mauerbau bestand vorzugsweise aus Steinen oder Lehmziegeln oder beidem.213 In Hld 2,9 ist eine Mauer des Hauses, in welchem die Geliebte wohnt und dem sich der Geliebte nähert, gemeint. Sie beobachtet, wie er an der Mauer ihres Hauses steht und durch das Fenster hereinspäht. Dann fordert er sie auf, loszulaufen und den Frühling zu begrüßen, das Aufblühen der Natur und der Liebe zu erleben. Die Mauer markiert hier die Grenze zwischen innen und außen. Während der Geliebte außerhalb des Hauses ist, ist die Geliebte im Haus, soll aber zu ihm nach draußen kommen, denn wo er nicht hineinkann oder darf, da soll sie zu ihm hinauskommen.214 Und draußen gibt es so viel zu entdecken, zu hören, zu sehen, zu riechen, so dass die Welt erneut zum sinnenreichen erotisch aufgeladenen Sinnbild der sich gegenseitig entdeckenden Liebenden herangezogen ist. Die affizie211

212 213 214

Ebd., 48 Ebd., 49. wall in Eerdmans Dictionary, 1322-1323.; wall in NIDOTTE, Vol. 2, 50-51. Vgl. dazu Thöne 2012, 170–181.

187 rende Atmosphäre der frühlingshaft sich präsentierenden Natur in den Worten des Geliebten, berührt und bewegt die Geliebte. Schon bevor er zu ihr spricht, hat sie die Mauer zwischen ihnen bereits überwunden, ist bereits in erotische Attraktion zu ihm versetzt. Grenzen lösen sich in der Liebesbegegnung auf und transformieren die Welt der Begrenzungen in eine freiheitliche Atmosphäre von Lebendigkeit und Wandel. So wie die Flora aufblüht und ihr Anblick sich wandelt, wird die Liebe die Liebenden verwandeln. In radikal relationaler Weise werden die Liebenden und die Welt nicht mehr dieselben sein wie zuvor. Keine Mauer kann dies verhindern. Eine ganz andere Art von Mauer wird in Zusammenhang mit den Wächtern der Stadt erwähnt, die die Geliebte in Hld 5,7 übel zurichten, weil sie ihren Liebsten suchte, aber nicht fand.215 Während sie in Hld 3,5 den Wächtern noch entkommen konnte, weil sie ihren Geliebten rechtzeitig antraf, so ist sie ihnen hier ausgeliefert und bekommt die volle Härte ihres Missfallens zu spüren. In diesem Einbruch von Repulsion, Gewalt und verstummter Resonanz, scheint ein Wendepunkt zu liegen, der den Transformationsprozess der Liebesbeziehung um ein Element erweitert, das ihre Unverfügbarkeit noch stärker betont. Die Wächter der Stadt sind an dieser Stelle im Hld gleichzeitig die Wächter der Mauern, da sie aus einem Weltausschnitt kommen, dessen Weltbeziehung nahezu ausschließlich repulsiv ist. Als Wächter der Mauern ist ihre Weltbeziehung von Sorge, Angst und Gewaltbereitschaft geprägt. Naht ein Angriff oder gilt es zu entscheiden, wer Feind und wer Freund ist, sind sie gefragt. Sie sind zum Schutz der Stadtbevölkerung da und tragen eine große Verantwortung. Ihr grundsätzliches Weltverhältnis steht völlig konträr zu 215

In der Kommentarliteratur wird die Problematik der Interpretation dieses Textes deutlich. Es gibt verschiedene Deutungen dieses Abschnitts. Ich erwähne die häufigsten: 1. Prügelstrafe der Wächter als Bild für die sozialen Kontrollmechanismen einer Gesellschaft in Hinblick auf Sexualität und Erotik und die Bestrafung nicht konformer Handlungsweisen der Frau(en) (vgl. Pardes 1992, 128; Exum 2005, 199; King 2007, 365– 369; Thöne 2012, 264–272); 2. Prügelstrafe der Wächter als rechtskonforme Bestrafung, weil sie die Geliebte fälschlicherweise für eine Prostituierte hielten, die zu nächtlicher Stunde verschleiert in der Stadt umhergeht (vgl. Rudolph 1962, 157; Gerlemann 1965, 169; Keel 1992, 183–184; Zakovitch 2004, 218); 3. Das Gewaltszenario wird als Trauma verstanden, mit dem die Geliebte versucht, ihre Gewalterfahrung zu verarbeiten, vgl. Peetz 2015, 222–223 bzw. als psychologische Auseinandersetzung mit den eigenen „verbotenen“ erotischen Sehnsüchten, vgl. Fishbane 2015, 142.

188 dem der Geliebten. Während die Wächter in der Gewaltausübung ihre „eigene Repulsionserfahrung kompensieren,“216 tritt nicht mehr die Welt ihnen, sondern sie treten der Welt repulsiv gegenüber und können so ein Stück Handlungsmacht und Kontrolle gewinnen. In der Gewalt gegen die Geliebte richten sie sich nach innen, nicht nach außen. Der Feind ist nicht jenseits der Stadtmauern zu finden, sondern inmitten der nächtlichen Stadt. In einer als feindlich empfundenen Welt ist für die Wächter die Begegnung mit dem ganz Anderen, mit der Liebe, eine Begegnung mit der eigenen Lieblosigkeit. In dieser Begegnung wird der Dialog gar nicht erst ermöglicht. In Hld 3,5 konnte die Geliebte die Wächter noch ansprechen, aber in Hld 5,7 ist nicht einmal mehr der Dialog möglich. Die Beziehung ist stumm und wird noch zusätzlich mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Im selben Moment wird die verzweifelte Sehnsucht nach Resonanz, nach Beziehung, nach Liebe, auf beiden Seiten offenbar, sowohl auf der Gewalt ausübenden als auch auf der Gewalt erleidenden Seite. Diese Repulsionserfahrung lässt die Geliebte krank werden. In der Erfahrung von Gewalt steckt nichts Gutes. Die Tat der Wächter hat ihre Folgen. In der Zuwendung zu den Töchtern Jerusalems erfährt die Geliebte Trost und Stärkung. Sie weigert sich, von ihrer ursprünglichen Suche zurückzutreten. Auch wenn sie nicht selbst noch einmal losgehen kann, so beauftragt sie doch ihre Freundinnen, dem Geliebten von ihrem drohenden Resonanzverlust zu berichten. Die Töchter sind verblüfft. Wie kann die Geliebte nach einer solchen repulsiven Erfahrung wieder an die Liebe anknüpfen? Hat sie nicht einen großen Schaden erlitten durch das Erlebnis? Mitnichten. Die Repulsionserfahrung führte der Geliebten vor Augen, wie kostbar und weltverändernd, weil weltumarmend die Liebesbeziehung zu ihrem Geliebten ist. In libidinöser Haltung umarmt sie das Erlebnis mit seiner ganzen Repulsion und übersetzt es in die Beschreibung ihres Geliebten (Hld 5,1016). Wo sie verletzt wurde, erscheint er als unbezwingbare, strahlende, kostbare Götterstatue, ein Gegenbild zur Gewaltmacht der Wächter. Deren Tat verdunkelte Angesicht und Herz der Geliebten, aber ihr Geliebter hebt sie empor durch seine Erscheinung und versetzt sie in erotische Attraktion, in der seine strahlende, begehrenswerte Person für sie zum Gegenentwurf der repulsiven Welterfahrung wird. Im Wiederfinden des Geliebten bei den 216

Rosa 2018a, 743ff.

189 Balsambeeten im Garten, wo er am regenerierenden, lebenserneuernden Lotos weidet, findet auch sie die Lebenskraft wieder. In der Bekundung der gegenseitigen Zugehörigkeit und dem daraus resultierenden Zugang zu Leben ermöglichenden und lebendig machenden Ressourcen, die im Blick, der Statur, dem Charakter, den Küssen des Anderen liegen, wird die Repulsionserfahrung zum Verstärker des horizontalen Bezugsfeldes und wirft schon einen Blick voraus zur Spitzenaussage über die Liebe in Hld 8,6-7. Dort ist die ultimative lebensfeindliche Gewalt, die die Liebe und alle Resonanz zum Verstummen zu bringen droht, der Tod, letztlich der Liebe nicht ebenbürtig. Zwischen Geburt (Hld 8,5), Tod und finsterer Scheol (Hld 8,6) sind auch die mächtigsten Ströme und gesellschaftlichen Vorurteile (Hld 8,7) nicht in der Lage, es mit der leidenschaftlich entflammten Liebe Gottes aufzunehmen: „Stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie Scheol ist Leidenschaft, ihre Flammen sind Feuerflammen, eine Flamme Jahs.“ (Hld 8,6). Was dieses leidenschaftliche Feuer ergreift, bleibt nicht gleich, sondern verändert sich. In den Dimensionen solch naturhafter Gewalten wird deutlich, dass es ein Feuer gibt, das sich nicht löschen lässt, das weiter brennt, solange es Geburt, Tod und Liebe in der Welt gibt. In dieser Hinsicht wird die Liebeserfahrung der Liebenden zur Erfahrung der Liebeskraft Gottes. Denn auch Gottes Liebe ist trotz aller Repulsion leidenschaftlich und lässt sich nicht auslöschen. Das horizontale Bezugsfeld der Liebenden hat sich durch alle Erfahrungen hindurch stabilisiert. Am Ende der Analyse der natürlichen Lebensbedingungen und der kulturellen Lebensformen wird deutlich, dass sowohl das diagonale als auch das horizontale Bezugsfeld an sehr vielen Stellen für das vertikale Bezugsfeld durchlässig wurden. Die Liebesbeziehung der Liebenden öffnete sich in der erotischen Affizierung in verschiedenen Aspekten gegenüber der vertikalen Resonanzerfahrung, bspw. in der Naturerfahrung, in der Verbindung mit der Geschichte (der eigenen Familie oder des ganzen Volkes) und in der Metaphorik, die der Dingwelt entstammte. Weil die Liebenden sich selbst veränderten, ko-variierte auch ihr Umfeld und schuf einen Modus radikaler Relationalität. In der Resonanz steht kein Ding, kein Gegenüber und keine Erfahrungsdimension allein für sich, sondern alle zusammen haben Anteil und gestalten diesen Beziehungsmodus mit, berühren und bewegen einander und werden dadurch verändert. Das hat Auswirkungen auf das Person-Verständnis

190 und die Entwicklung individueller bzw. personaler Identität. Genauso wie die Bereiche der natürlichen Lebensbedingungen und der kulturellen Lebensformen zum konstellativen Personbegriff dazugehören, gehören auch das religiöse Symbolsystem und die Entwicklung individueller bzw. personaler Identität dazu. Ersteres wird in Kapitel III.3.2. behandelt und vertieft die vorläufigen Erkenntnisse aus Kapitel III. an den Stellen, wo es um das Erkennen des vertikalen Bezugsfelds im Hld geht. Letzteres kann nach der vorliegenden Analyse nur noch in radikal-relationistischer Weise vonstattengehen, dies zeigt das nächste Kapitel.

191 3. Soziogene Entwicklung individueller/personaler Identität und religiöses Symbolsystem als bezugsfeldübergreifende Resonanzräume Der Begriff Resonanzraum drückt das Phänomen aus, dass jede Gesellschaft die Weltbeziehung ihrer Mitglieder „formt und vorstrukturiert und dabei spezifische kulturelle Resonanzräume … schafft, in denen die Gesellschaftsmitglieder ihre mehr oder minder individuellen [resonanten Bezugsfelder; Einfügung d. Verf.in] entdecken und ausbauen können.“217 Zu diesen Resonanzräumen zählen dann bspw. Musikkonzerte, Naturparks, Museen, Bildungseinrichtungen, Kirchen usf. In diesen Resonanzräumen können Menschen Resonanz erfahren und auch in Resonanzräumen anderer Kulturen. Im Hld zählen zu den Resonanzräumen aus den Bereichen der natürlichen Lebensbedingungen und der kulturellen Lebensformen bspw. das Land, der Garten, die Stadt, das Haus usw. In diesen Resonanzräumen bewegen sich die Liebenden und etablieren resonante Bezugsfelder durch die wiederkehrenden Resonanzerfahrungen mit alltäglichen und extravaganten Gebrauchsgegenständen, mit dem geliebten Gegenüber, Nachbarinnen, Freunden und mit der Natur. Durch die vielfältigen Wechselbeziehungen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, konstituieren sich individuelle und personale Identitäten. Die vorhergehende Analyse warf bereits Blitzlichter auf die Selbstwirksamkeitserfahrungen und -erwartungen der Liebenden. Sie geben verschiedene Anhaltspunkte für die soziogene Entwicklung individueller und personaler Identität der Liebenden und sollen noch einmal systematisch aufbereitet werden. An ihnen wird deutlich, dass die Identitätsentwicklung bezugsfeldübergreifend ist, weil sie sich im Beziehungsmodus mit Dingwelt, Natur und Menschen ereignet und so auch die resonanten Bezugsfelder füreinander durchlässig werden lässt. An verschiedenen Stellen wurde mit dem Hinweis auf die Durchlässigkeit der resonanten Bezugsfelder deutlich, dass das vertikale Bezugsfeld, obgleich es explizit nur im Rahmen der natürlichen Lebensbedingungen vorkam, einen weiteren Resonanzraum öffnet. Dieser Resonanzraum wird in 217

Rosa 2018a, 331. Resonanzräume und -sphären werden synonym verwendet. In dieser Arbeit verwende ich durchgängig den Begriff Resonanzraum. Der Begriff ist für diese Arbeit gut geeignet, weil er sowohl konkrete Orte meinen kann als auch Erlebnis- oder Erfahrungsräume.

192 Abschnitt III.3.2. als religiöses Symbolsystem bezeichnet und greift die an vielen Stellen bereits angedeuteten Bezüge zur religiösen Weltdeutung im Kontext des Hlds systematisch auf.

193 3.1. Die soziogene Entwicklung individueller/personaler Identität als bezugsfeldübergreifender Resonanzraum Wie bereits in Kapitel II.4. angedeutet, gibt es bei Kritikern der alttestamentlichen Anthropologie Vorbehalte hinsichtlich der Konstituierung von Individualität nach modernem Verständnis. Der Komplexität alttestamentlicher Lebenswelten mithilfe des konstellativen Personbegriffs näher zu kommen hat gezeigt, dass sich die verschiedenen Bezugsfelder menschlicher Existenz häufig überschneiden, und die Bereiche natürlicher Lebensbedingungen, kultureller Lebensformen und das religiöse Symbolsystem füreinander durchlässig sind. Weil es in den Liebesliedern des Hlds keine scharfen Trennungen zwischen Natur, Kultur und Transzendenz gibt, bedeutet dies nicht, dass keine personalen Strukturen an den Liebenden erkennbar sind. Im Gegenteil. Die beschriebene Vielfalt an Resonanzmomenten im Hld verdeutlicht, dass hier notwendigerweise Personen vorhanden sein müssen, die je für sich mit eigener Stimme sprechen. Dies impliziert, dass sie als Personen „hinreichend ‚geschlossen‘ bzw. konsistent sind, um mit je eigener Stimme zu sprechen, und offen genug, um sich affizieren oder erreichen zu lassen.“218 Gleichzeitig bedeutet das Vorhandensein von Resonanzfähigkeit aber auch eine Abkehr von individualistischen, subjektivistischen Person Konzepten. Da Resonanz vom Ansatz her radikal-relationistisch ist, Personen sich also immer schon in einer Welt vorfinden, in der sich beide – Welt und Person – wechselseitig formen und konstituieren, ist auch die Entwicklung individueller/personaler Identität eine soziogene Angelegenheit. Das lässt sich bspw. an der Familienkonstellation im Hld gut erkennen, trotz der Abwesenheit des Vaters. Während Familie in der Moderne unter den viel zu hoch gesteckten Erwartungen als Gegenentwurf zu einer „als repulsiv konstruierten Umwelt“219 fungieren muss, ist Familie im Hld nicht der alleinige mit Erwartungen überfrachtete „Resonanzhafen,“220 sondern es treten mehrere Beziehungen und Gemeinschaften in den Blick. Die Freunde und Gefährten des Geliebten, die Nachbarinnen/Freundinnen der Geliebten, verschiedene Ar218

219 220

Rosa 2018a, 298. Ebd., 353. A.a.O.

194 beitszweige und militärisch-höfische Gemeinschaften (vgl. Tabelle 5). Sie alle bilden Weltausschnitte in der geteilten Lebenswelt des Hlds ab. Ihr verbindendes Element ist die Liebe, die aber in ganz unterschiedlichen Kontexten und Transformationsprozessen beschrieben wird. In der Moderne ist die Sehnsucht nach einer genuinen Liebesbeziehung, die fortgesetzt Resonanz in einem horizontalen Bezugsfeld etabliert, häufig mit der Sicherung oder mit dem Versuch der Sicherung der Resonanzqualität durch die Eheschließung verbunden. Aber weder die Ehe noch die Familie garantieren eine Etablierung des horizontalen Bezugsfeldes, wenn die Umwelt ansonsten vorwiegend „kompetitiv oder indifferent konzipiert wird.“221 Wenn die Welt da draußen derart wahrgenommen wird, können die Bewältigungsstrategien nicht wie Kleider an der Schwelle zum Familienheim abgestreift werden. Wenn drinnen, im Familienraum, plötzlich alles anders sein soll, wird die Tatsache verkannt, dass Welt nicht an der Tür haltmacht, sondern auch dahinter noch weiterwirkt. Ehe und Familie können eine solche Umwelt nicht dadurch ausgleichen, dass sie als Gegenkonzept, als Resonanzhafen, gegenüber dem täglichen Kampf da draußen gelten. Resonanz kann nicht erzwungen werden, ihre Unverfügbarkeit lässt sich nicht aufheben. Sie ist von der gegenseitigen Konstitution von Selbst und Welt nicht zu trennen. Neben dem Selbst muss sich daher auch Welt verändern, um den drohenden Resonanzverlust zu überwinden. Zu den familiären Beziehungen müssen sich noch andere Weltverhältnisse hinzugesellen, damit die Welt sich zu verändern beginnt. Neben Liebesbeziehungen sind hier vor allem Freundschaften und partizipative Gesellschaftsformen zu nennen. Sie alle helfen dabei, den Resonanzraum zu durchschreiten, zu erforschen und Anknüpfungspunkte für die individuelle Ausbildung resonanter Bezugsfelder zu finden.222 Im Hld nimmt die Welt aktiv Anteil an der Liebe der Liebenden. Brüder, Gefährten, Freunde, die Töchter Jerusalems und die Mütter sind eingebunden. Sie partizipieren an der Beziehungswelt der Liebenden, mal offensichtlich und mal weniger offensichtlich. Die Liebenden sind nicht aus ihrem sozialen Umfeld losgelöst oder vereinzelt dargestellt, sie verdinglichen einander nicht und versuchen nicht, ihre Liebesbeziehung zu fixieren oder gar verfügbar zu machen und abzusichern. Vielmehr dehnen sich ihre Bezugs221

222

Ebd., 351. Vgl. ebd., 353ff. und 362ff.

195 felder in ihren Selbst-Welt-Verhältnissen aus, so dass sie alles fassen können, was die Welt ihnen bietet an Dingen, Menschen, Tieren, Pflanzen, um die Liebe anzureichern, zu beschreiben, zu genießen. Sie werden erotisch affiziert und lebendig im pulsierenden Rhythmus des vibrierenden Drahtes, den sie in ihrem veränderten in-die-Welt-Gestellt-Sein spüren und weiterentwickeln. Durch die maximale Öffnung für die Präsenz des Anderen, vergrößert sich der erfahrbare Weltausschnitt in Zeit und Raum. Frühere Generationen kommen in den Blick, das Lebensende verliert seinen Schrecken, das Land ist weit und offen. Es ist nicht so, dass die Liebenden nur noch das geliebte Gegenüber sehen, vielmehr sehen sie das geliebte Gegenüber in der ganzen Welt. In den Beschreibungsliedern sehen sich die Liebenden durch die Augen der/s Anderen. Entlang konventioneller Schönheitsideale schreiben sich die Liebenden gegenseitig ihre Rollen zu, die sie in der Gesellschaft erfüllen und die in ihre Körper eingeschrieben sind (vitale, gebärfähige Frau; vitaler, potenter Mann). Sie weichen auf den ersten Blick nicht davon ab. Auch die Konventionen hinsichtlich des Umgangs mit vorehelicher Sexualität und Heiratspraxis lassen sich aus manchen Versen herauslesen und beschränken die Liebenden in ihren Bemühungen, sich zum Genuss ihrer Liebe zu treffen, wenngleich dies nicht unmöglich erscheint. So werden die Liebenden von der Welt und ihren Wertungen geformt und in ihrem Handeln und Verhalten konstituiert. Dies nenne ich soziogen entwickelte personale Identität. Gleichzeitig formen die Liebenden aber auch die Welt durch die Wege, die sie finden, Konventionen zu umgehen oder die Konsequenzen zu ertragen, wenn sie sich nicht umgehen lassen und nicht zuletzt durch ihre von der Liebe veränderten Selbst-Welt-Beziehungen. In ihnen kann die Entwicklung individueller Identität beobachtet werden. Die Liebenden werden füreinander einzigartig, einerseits entlang ihres Leibleitfadens und andererseits durch ihre spezifischen Charaktereigenschaften. Diese Einzigartigkeit ist aber auch eine soziogen entwickelte. Wenngleich die Liebenden ihre Individualität in ihren Sozialverbünden bereits dadurch festgestellt haben mögen, dass sie sich von anderen unterscheiden, so ist ihre Wahrnehmung durch die Augen des Gegenübers doch wesentlich, um eine innere Kontinuität von Individualität zu gewährleisten. So ist die Unterschiedenheit der Geliebten von anderen in den Augen des Geliebten (Hld 2,2; 4,7; 6,9; 8,12) und vice versa (Hld 2,3; 5,10-16) ein wichtiges Element zur Konstitution

196 individueller Identität, die aber nur dadurch zustande kommt, dass ein Gegenüber sie zuspricht oder widerspiegelt. Was die Liebenden füreinander einzigartig macht und ihnen individuelle Identität verleiht, ist der liebende Blick des Gegenübers, die Begegnung mit einer/m Anderen. Dies nenne ich soziogen entwickelte individuelle Identität. Da Resonanz eine Begegnung mit einem anderen als Anderem und nicht die Verschmelzung zu einer Einheit meint, bleibt so auch die Voraussetzung für Resonanz gewahrt, dass die Liebenden mit jeweils eigener Stimme sprechen und in ein responsives Verhältnis eintreten. Was in ihrem Innern vorgeht tritt nach außen, wird für das Gegenüber lesbar, interpretierbar und beantwortbar. Das individuelle Verlangen der Liebenden nach dem einzigartigen geliebten Gegenüber affiziert in seiner Außenwirkung die gesamte Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden und bietet so auch für andere die Möglichkeit zur Transformation. So entwickeln sich personale und individuelle Identität in Wechselbeziehung mit der Welt und offenbaren dadurch ein radikal-relationistisches Element der Selbst-Welt-Beziehung, welches Buber so beschreibt: „Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns, unsre Werke bauen uns auf. … Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen! Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.“223 In dieser relationalen Gegenseitigkeit formen sich Identitäten. „Der Mensch wird am Du zum Ich.“224 Und so ist es auch im Hld.225 Zum Ich werden die Liebenden im Hld aneinander, an der Natur, an Familienstrukturen etc. und in der sich zeigenden Selbstwirksamkeit, die nicht 223

224 225

Buber 2019a, 47. Ebd., 55. Unterstützung erhält diese Sichtweise aus der Gehirnforschung. Fuchs beschreibt das Gehirn als Beziehungsorgan, das zwischen dem Selbst, seiner Umwelt und anderen Menschen Beziehungen vermittelt. Durch diese dialogischen Interaktionen formt sich nicht nur die personale und individuelle Identität, sondern auch das Gehirn verändert sich fortlaufend, abhängig von biographischen, sozialen und kulturellen Prägungen. Dadurch entsteht Personsein: „in ihrem leiblich-zwischenleiblichen In-der-Welt-Sein und In-der-Welt-Handeln finden Personen zu sich selbst…Um sich selbst wirklich zu werden, müssen Personen füreinander wirklich werden. In der zwischenleiblichen Begegnung verkörperter Personen liegt die Einheit des Inneren und Äußeren, des Subjektiven und Objektiven, in der die je eigene und die gemeinsame Wirklichkeit koinzidieren. Paradigma dieser Begegnung ist das Gespräch, in dem der Andere mir in seinen Worten wirklich wird, ebenso wie ich für ihn.“ Fuchs 2013, 310.

197 nur Merkmal der Resonanzerfahrung ist, sondern auch Kennzeichen der Identitätsentwicklung der Gegenseitigkeit, dem radikal relationalen Verständnis der Konstituierung der Selbst-Welt-Beziehungen und des Bezugsfelds des Selbst. Hinweise auf Selbstwirksamkeitserfahrungen oder -erwartungen finden sich viele. Daher lohnt es sich, sie noch weiter zu differenzieren, ob also bspw. die Selbstwirksamkeit einer Selbstaussage entspringt oder ob sie der/m Geliebten jeweils vom geliebten Gegenüber zugeschrieben wird. Eine Tabelle macht die Gewichtung anschaulich. Die gegenseitigen Bekundungen der Schönheit des geliebten Gegenübers bleiben in dieser Auflistung unberücksichtigt, weil die erotisch besetzten Körperbeschreibungen mehr als deutlich Selbstwirksamkeit erweisen, also das geliebte Gegenüber zu berühren und zu ergreifen vermögen. Sie von sich (26)

Hld 1,5-7; 2,1.7; 3,1-5; 4,16; 5,2-5(6).8; 6,11-7,1.10.13; 8,1-2.4.6.10

Sie über ihn (11)

Hld 1,2-4.16; 2,4.6.8.9.10; 5,16; 8,3

Sie über sich und ihn (4)

Hld 2,16; 6,3; 7,11.14

Er von sich (4)

Hld 1,9; 4,6; 5,1; 7,9

Er über sie (12)

Hld 2,14; 4,8-13; 6,4-5.9; 8,12-13

Tabelle 7: Selbstwirksamkeitsaussagen der Liebenden im Hohelied

Die Tabelle verdeutlicht, dass Selbstwirksamkeitsaussagen der Geliebten im Hld und über sie insgesamt achtunddreißigmal (bzw. zweiundvierzigmal) vorkommen. Die Selbstwirksamkeitsaussagen in Bezug auf den Geliebten summieren sich auf fünfzehnmal (bzw. neunzehnmal).226 Entlang des bereits in verschiedenen Publikationen festgestellten Überhangs an Aktivität und Initiative aufseiten der Geliebten im Hld scheint dieses Ergebnis, auf den ersten Blick, diesen Eindruck zu bestätigen. Allerdings ist die Selbstwirksamkeit keine Einbahnstraße, keine Aktivität oder Initiative, die nur von einer Person ausgeht. Mehr noch als andere Aussagen beschreibt die Selbstwirksamkeitserwartung gerade jene Qualität, die zwar von der Person ausgeht, aber gerade auf die Resonanz, den Beziehungsmodus mit dem Gegenüber hin angelegt ist, damit sie überhaupt zur Selbstwirksamkeitserfahrung werden kann. Wird das Gegenüber erreicht, 226

Die Zahlenangaben in Klammern rechnen die vier Nennungen aus dem Bereich: Sie über sich und ihn hinzu.

198 berührt, bewegt, ergriffen, dann kann von einer Selbstwirksamkeitserfahrung gesprochen werden. Dies spricht in eindrücklicher Weise für die radikal-relationistisch verstandene Identitätsentwicklung, in der das Ich sich am Du entwickelt, eben dadurch, dass bestimmte Formen der Selbstwirksamkeit zugesprochen werden, weil sie sich in der Erfahrung des geliebten Gegenübers auswirken, also das Gegenüber berührt und bewegt oder ergriffen wird. Erst in der Bezeugung der Ergriffenheit des geliebten Gegenübers, wenn deutlich wird, dass das Gegenüber erreicht wurde, wird die Selbstwirksamkeitserwartung zu einer Selbstwirksamkeitserfahrung und damit auch zu einem resonanten Bezugsfeld des Selbst. Die Geliebte zeigt sich in diesen Selbstwirksamkeitsaussagen in verschiedenen Kontexten. Sie trifft diese Aussagen nicht allein in Bezug auf ihren Geliebten, sondern auch in Bezug auf die Töchter Jerusalems (Hld 1,5-6; 2,7; 3,5; 5,8; 8,4), die Wächter (Hld 3,3), eine nicht näher definierte Gruppe (Hld 7,1), die Mutter (Hld 8,2) und die Brüder (8,10), während der Geliebte nur einmal direkt in Kontakt mit anderen tritt (Hld 5,1). In Hld 1,3-4 werden indirekt die Auswirkungen seiner Selbstwirksamkeit bei einer Gruppe junger Frauen berichtet. In Hld 8,13 buhlt er um die Aufmerksamkeit der Geliebten neben Gefährten, die sich auch für die Geliebte interessieren. Aufgrund dieser Beobachtungen ziehe ich folgende Schlussfolgerungen: Die Geliebte im Hld ist in anderer Weise in die Welt gestellt als der Geliebte. Das liegt zum einen an den Geschlechtsunterschieden, den dementsprechend entwickelten personalen Identitäten, aber zum anderen – und womöglich in entscheidenderem Ausmaß hinsichtlich der Resonanz – an der gelebten Beziehungsvielfalt. Da diese beim Geliebten praktisch nicht vorhanden ist, bezieht er seine Selbstwirksamkeit nahezu ausschließlich aus den Zuschreibungen der Geliebten, die gegenüber seiner Selbsteinschätzung mehr als doppelt so hoch sind. Der oben bereits angedeuteten Logik der soziogenen Entwicklung individueller und personaler Identität entsprechend fällt auf, dass auch die Geliebte fast gleich häufig von ihrem Geliebten Selbstwirksamkeit zugesprochen bekommt. In ihrer Unterschiedlichkeit erreichen und berühren die Liebenden einander also in ausgewogener Weise. Mehr noch als der Geliebte erlebt sich die Geliebte noch zusätzlich in vielen verschiedenen Beziehungskontexten und kann mit ihren Selbstwirksamkeitserwartungen an verschiedenen Stellen Erfahrungen sammeln. Ihre individuelle Identität ist denn auch klarer erkennbar als die ihres Geliebten. Das entscheidende Du, an dem der Geliebte zum Ich wird, ist seine

199 Geliebte, während sie aus der Vielfalt der Dus, der Gegenüber, ihr Ich konstituiert. In der erotischen Attraktion, im Liebesgeschehen, ist die Selbstwirksamkeit des Geliebten an die Selbstwirksamkeit der Geliebten gebunden und vice versa. Ohne die Erfahrung ihrer gegenseitigen Affizierung, ihres responsiven Verhältnisses, ohne transformative Kräfte, die die Weltbeziehung verändern und ohne die Anerkennung der Tatsache, dass die Liebe, wenn auch inniglich begehrt, doch unverfügbar ist, erfahren sich die Liebenden in ihrer Beziehung zueinander und zur Welt nicht als selbstwirksam. Sie erreichen, berühren und bewegen einander und konstituieren in dieser Gegenseitigkeit eine Weltbeziehung, die es nur gibt, weil sie einander lieben. Die Entwicklung personaler und individueller Identität mag insgesamt als soziogen gelten, hat jedoch sogar innerhalb dieser Konstellationen einen individuellen Charakter, der daher rührt, dass genau diese spezifischen Konstellationen, in denen die Liebenden zueinander und ihrer Umwelt stehen, für niemand sonst gelten. Ihre Art und Weise des In-die-Welt-Gestelltseins ist also gleichermaßen soziogen wie individuell, weil ihre Identitäten in einzigartiger Weise durch die Welt mitgeformt werden. Das Ich der Liebenden ist einzigartig und in seiner Einzigartigkeit radikal-relationistisch, weil es nicht dieses einzigartige Ich wäre ohne das entsprechende Du. Das Hld drückt diese radikal-relationistische Identitätsentwicklung durch die verschiedenen Bezüge der Liebenden zu ihrer Umwelt aus. In den Vergleichen, die die Liebenden zur gegenseitigen Beschreibung finden, zeigt sich die Welt und wird so zum mitkonstituierenden Anteil der Identitätsentwicklung. Dabei besteht eine innere Verbindung zwischen Land, Natur, Kultur, Menschen und Tieren, die letztlich ebenso unerlässlich sind für die Entwicklung eines individuellen Ichs, wie die Liebe des geliebten Gegenübers. Die Realität wäre eine andere in einer anderen Beziehungskonstellation. Die Wirklichkeit, die die Liebenden im Hld in und mit ihrer Liebesbeziehung kreieren, ist Schöpfung im sprachlichen und lebensweltlich-erfahrbaren Sinn. Sie ist eine neue Wirklichkeit, eine relational begründete Wirklichkeit, die das Selbst-Welt-Verhältnis aller Beteiligten affiziert und transformiert. Selbstwirksamkeit ist eine relationale Kraft, die sich zuerst nach dem Gegenüber ausstreckt, und aus der Erfahrung des Vermögens, die/den

200 Andere/n zu erreichen, eine Kraft generiert, die das Selbst zu sich selber bringt. Im Berührt-Werden der/des Anderen, wird das Vermögen, berühren zu können, zur Selbstwirksamkeitserfahrung. Das Ich konstituiert sich am Du. In dieser Hinsicht schlägt das Hld erneut den Bogen zur Schöpfungserzählung, denn auch dort werden die Menschen am Du zum Ich: „Und der Erdling sprach: Diese nun ist Knochen von meinem Knochen und Fleisch von meinem Fleisch, Frau (͗îššāh) soll sie gerufen werden, denn vom Mann (͗îš) wurde sie genommen.“227 (Gen 2,23). An dieser Stelle wird deutlich, dass die „strömende All-Gegenseitigkeit“228 einen Ursprung benötigt, der in dieser Schöpfungserzählung als aktiv handelnde göttliche Schöpfungskraft erkennbar wird, die allen Konstitutionsprozessen zugrunde liegt. Daher wird sich das Kapitel zum religiösen Bedeutungssystem anschließen, das ebenfalls als bezugsfeldübergreifender Resonanzraum die radikale Relationalität der Selbst-Welt-Beziehung der Liebenden im Hld um eine weitere Deutungsdimension bereichern wird.

227

228

Übersetzung der Verfasserin. Buber 2019a, 47.

201 3.2. Das religiöse Symbolsystem als bezugsfeldübergreifender Resonanzraum In den Kapiteln III.1. und III.2. wurden bereits einige Worte analysiert, die eine doppelsinnige Bedeutung haben. Sie tauchen im Hld einerseits im Kontext des Genusses und der Liebesfreuden in erotisch affizierender Weise auf, haben aber daneben häufig auch noch religiöse Konnotationen, um die es nun in diesem Kapitel gehen soll. In der folgenden Analyse werde ich sie inhaltlich zusammenfassen, allerdings nicht entlang der tabellarischen Darstellungen wie in den vorigen Kapiteln.229 Das religiöse Symbolsystem repräsentiert als Bestandteil des konstellativen Personbegriffs die Dimension der Weltdeutung. Dieses Symbolsystem liegt der altisraelitischen Gesellschaft zugrunde, in der, wie wir zuhauf aus den biblischen Erzählungen entnehmen können, Kultpraxis und Götterglaube zum Alltagsleben dazu gehörten. In einer Welt, in der Naturphänomene und Lebensvollzug von Kräften und Mächten beherrscht zu sein scheinen, die jenseits des menschlichen Einflussbereiches liegen, bleibt es nicht aus, sich mit diesen Kräften in Verbindung zu setzen und sie wohlgesinnt zu stimmen, damit sie für das Menschenwerk Gelingen und Segen schenken. Wie sich Weltdeutung konstituiert, ist stets in Verbindung mit den Geschehnissen in der Umwelt zu sehen. In sie hinein wirken identitätsstiftende Traditionen, Normen, Werte und Organisationsformen von Gesellschaften sowie sozio-politische Dimensionen.230 In Bezug zu den Worten, die ich nun in ihrem religiösen Kontext aufgreife, sind diese Veränderungen der Weltdeutung nicht unwichtig, treten aber in ihrer klassisch exegetischen, historisch-kritischen Relevanz hinter die Fokussierung auf die Resonanz und die Erotik zurück. Im Vordergrund steht das Aufzeigen des radikal-relationistischen Beziehungsgeschehens in seinen Resonanzqualitäten. Laut biblischer Erzählung führte die Gottheit, JHWH, das Volk Israel aus seiner Gefangenschaft in Ägypten hinaus in die Freiheit, was von vielerlei 229

230

Behandelt werden: Myrrhe, Honig, Gold, Granatapfel, Lotos, Kleinvieh, Tauben, Gazellen, Jerusalem, Türme und Mauern, König, Garten, Wein, Weinberg in dieser Reihenfolge. Zu den Aspekten vorexilischer, exilischer und nachexilischer Weltdeutung vgl. Janowski 2019, 344ff. Zu biblischen Textwelten siehe auch: Ballhorn 2007, 10–11.

202 Plagen für die Ägypter begleitet wurde, deren Herrscher Pharao die Israeliten nicht gehen lassen wollte, weil sie eine wichtige Arbeitskraft darstellten (Ex 1-15). Nach dem Auszug aus Ägypten treten die Israeliten, angeführt von Mose, mit Gott am Berg Sinai in Verbindung, bekommen Regeln für das gute Leben und einen Bauplan für das Zeltheiligtum, eine Art mobiler Tempel, für die weitere Reise bis ins gelobte Land (Ex 19-31). Für dieses Heiligtum, in dem tägliche Opferkulte und im Jahresrhythmus wiederkehrende Festzeiten gefeiert werden sollten, waren die Gerätschaften und die diensttuenden Priester Gott zu weihen. Zu diesem Zweck wurde ein heiliges Salböl zubereitet, mit dem die Geräte und Priester gesalbt wurden, um sie für ihren Dienst für Gott zu heiligen (Ex 30,23-30).231 Myrrhe erfährt in diesem religiösen Kontext eine Steigerung, weil sie als kostbare Zutat dieses heiligen Salböls aus dem profanen Gebrauchskontext in den Kultkontext überführt wird. Sie hört deswegen nicht auf, als Zutat in Ölen zur Schönheitsbehandlung verarbeitet (Est 2,12) oder auf dem Bett der fremden Frau ausgesprengt für weniger heilige Zwecke benutzt zu werden (Spr 7,17), aber sie bekommt an dieser Stelle auch noch eine über ihren profanen Gebrauch hinausführende Bedeutung. Ähnliches gilt auch für ihr Vorkommen in Ps 45. Dort wird eine königliche Hochzeit besungen, bei der die Gewänder des von Gott mit Freudenöl gesalbten Königs nach Myrrhe, Aloe und Kassia duften (Ps 45,9).232 Die Deutung der Myrrhe umfasst also in allen Fällen die Vorbereitung auf etwas Besonderes. Myrrhe war ein kostbares und teures Produkt. Insofern sind die Schönheitsbehandlung, das Bettbesprengen und die duftenden Kleider die Vorbereitung auf jeweils besondere Lebenssituationen, die durch ihren Duft zum Wohlbefinden, zur erotischen Affizierung beitragen sollen. Vom heiligen Salböl, von dem die Myrrhe nur ein Bestandteil ist, heißt es allerdings: „Auf keines andern Menschen Leib soll es gegossen werden; du sollst auch sonst in der gleichen Mischung nichts herstellen, denn es ist heilig; darum soll es euch als heilig gelten. Wer solche Salbe macht oder einem Unberufenen davon gibt, der soll aus seinem Volk ausgerottet werden.“233 (Ex 30,32). Dass es eine Sonderstellung unter den Salbölen einnehmen soll, begründet seinen Status als heiliges Salböl.

231

232 233

Vgl. Appendix VII.2., Bsp. 37.1. Vgl. Appendix VII.2., Bsp. 41.1-41.3. LU17.

203 Wo also im Hld von der Myrrhe die Rede ist, da öffnet sich ein Verständnis für sie als Gebrauchsgegenstand zur Steigerung der erotischen Affizierung und gleichzeitig der Eindruck, dass sie in der Kombination bestimmter Ingredienzen einem heiligen Zweck dient. Was der Deutung der Myrrhe in allen Lebenskontexten aber gemeinsam ist, das liegt in ihrer Wirkung begründet: sowohl im Gottesdienst für JHWH als auch in der intimen Liebesbegegnung zwischen Menschen schafft sie eine erotische Atmosphäre. Dies ist in beiden Kontexten gewünscht, wenn auch unterschiedlich ausgelebt. Die Myrrhe markiert in olfaktorischer Weise die Besonderheit der Begegnung zwischen Liebenden und zwischen Menschen und Gott. So wird das horizontale Bezugsfeld durchlässig für das vertikale und ein und dasselbe Pflanzenprodukt trägt dazu bei, eine maximale Sinnesöffnung zu evozieren, in der Lebendigkeit gestiftet wird in wesentlichen Beziehungskonstellationen. In der religiösen Deutung umweht diese Begegnungen dieselbe Resonanz, die die Menschen sowohl aufeinander hin als auch auf Gott hin affiziert. Neben der Myrrhe hat auch der Honig eine religiöse Bedeutung. Als eine der beiden Bezeichnungen für das gelobte Land, kommt Honig (zusammen mit Milch) ausnahmslos im Kontext der Landverheißung Gottes an sein Volk insgesamt zwanzigmal in der HB vor.234 Dass Gott das Volk in ein Land führt, in dem Milch und Honig fließen, ist gleichbedeutend mit der Verheißung eines Lebens im Überfluss. Milch und Honig stellen Produkte dar, deren Nährgehalte sehr hoch sind und die als Zeichen für ein segenreiches Wirtschaften dienen. Denn wer Milch trinken kann, hat Ziegen oder Schafe, und wer Honig essen kann, hat Bienenstöcke. Beides ist nur dann zu erhalten, wenn ausreichend natürliche Nahrung, Wiesen und Sträucher für das Vieh und Blüten für die Bienen da sind. Diese wiederum gibt es nur, wenn es regelmäßig regnet, damit alles wachsen kann. Da die Fruchtbarkeit des Landes und der Tierwelt nach biblischem Zeugnis von Gottes Segen abhängt, ist eine solche Fülle in jedem Fall als Ausdruck überbordender Fürsorge Gottes zu verstehen. Für die Israeliten ein Zeichen dafür, dass sie ausgesorgt hatten. Die Fruchtbarkeit des Landes ist im Hld auch noch durch den Wein und den Granatapfel ausgedrückt. In Dtn 8,7-10 werden verschiedene Nutzpflanzen genannt, die als Zeichen des Se234

Vgl. Appendix VII.2., Bsp. 34.1.

204 gens JHWHs interpretiert werden, und die Fruchtbarkeit des Landes, das von Milch und Honig überfließt, kennzeichnen. Die Worte kommen auch im Hld vor und sind hervorgehoben. Offensichtlich ist das gelobte Land mit dem Land als Resonanzraum im Hld nahezu identisch: 7

Denn JHWH, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land strömender Wasser, Brunnen und Quellen, die hinausfließen in die Täler und Berge, 8ein Land mit Weizen und Gerste und Weinstock, Feigenbaum und Granatapfel, ein Land mit Olivenöl und Honig; 9ein Land, in dem du nicht in Armut Brot essen musst, es wird dir an nichts fehlen in dem Land, in dem Steine Erz sind und von seinen Bergen gräbst du Kupfer aus. 10Aber wenn du gegessen hast und satt bist, dann segne JHWH, deinen Gott, für das gute Land, das er dir gegeben hat.235

Indem nun das Hld in den Beschreibungen der Geliebten fast alle agrarischen Güter aufgreift, die das gelobte Land auszeichnen, wird auf dem Hintergrund der religiösen Deutung, dass das Land als Gabe Gottes zu verstehen und entsprechend fürsorglich zu behandeln ist, noch etwas anderes ausgesagt. Wenn die Geliebte das gelobte Land ist, so ist unter ihrer Zunge dieses gelobte Land zu finden. Daher ist auch sie selbst als gute Gabe Gottes entsprechend fürsorglich und mit Dankbarkeit zu behandeln. Die Geliebte gehört nicht dem Geliebten. Er kann nicht über sie verfügen, sondern in enger dankbarer Verbindung zu Gott kann er sie hegen und pflegen, ihr in Fürsorge begegnen, und mit Freude genießen, was ihre Liebe an Früchten bereithält. Sie beschenkt ihn mit ihrer Liebe, die für ihn wie der Regen auf das Land ist, belebend, existentiell, und eine Erinnerung an Gott, der letztlich Land und Liebe gegeben hat und am Leben hält. In dieser erotischen Attraktion von Land, Gott und Menschen, werden die diagonalen, horizontalen und vertikalen Bezugsfelder füreinander durchlässig. Segen bedeutet Fruchtbarkeit des Landes und den Genuss der Liebesfrüchte, die die Beziehung der Liebenden hervorbringt. Die Liebesbeziehung der Liebenden rückt so in die Nähe des segensvollen Landesertrags. Die Früchte der Liebe und des Landes sorgen für umfassendes ganzheitliches Wohlbefinden, das die Liebenden umgibt und von ihnen gestiftet wird. 235

Übersetzung der Verfasserin. Auch der Erwerb der Weisheit wird mit dem Genuss des Honigs verglichen, der Wohlbefinden schafft (Spr 24,13-14). Die lexemischen Übereinstimmungen mit dem Hld sind kursiv gekennzeichnet.

205 Der umgekehrte Fall trifft aber genauso zu. Wo ein Leben ohne Gott geführt wird, bleibt der Segen aus, das Land vergeht, vertrocknet und die Freude verkehrt sich in Niedergeschlagenheit. In der Klage des Propheten Joël, im ersten Kapitel, nimmt die Warnung vor dem letzten Gerichtstag JHWHs eine Hauptfunktion ein. Er versucht die repulsive Lebensweise der Menschen zu verdeutlichen, indem er die Verkümmerung der Vegetation als Entzug des Segens Gottes ins Bild setzt. Darüber hinaus werden der Tod des Geliebten und der entleerte Kult als Vergleichspunkte genutzt, um die Intensität der Trauer auszudrücken, die die Konsequenzen eines Lebens in Gottesferne und im Widerstreit zu seinen guten Gaben darstellt. Ein Verstummen der Resonanz, ein Verstummen der Lebendigkeit. So wie die Liebe zuvor alles durchflutete, so ist der Mangel an positiver Zuwendung und Liebe direkt an der Verwüstung des Landes ablesbar. Hier kommen weitere Worte vor, die auch im Hld zu finden sind. Es heißt: 8

Klag dein Leid wie eine junge Frau! Frisch verheiratet, trägt sie schon Trauer. Denn ihr wurde der Mann genommen. 9Kein Speiseopfer und kein Trankopfer gibt es mehr im Haus des Herrn. Darüber trauern die Priester, die ihren Dienst tun für den Herrn. 10Denn verwüstet ist das Feld, ausgetrocknet das Ackerland. Ja, vernichtet ist alles Getreide. Kein Traubenmost und kein Olivenöl fließen mehr in der Kelter. 11Enttäuscht schauen die Bauern umher. Wo ist nun ihr Weizen, wo ihre Gerste? Auch die Weingärtner heulen, denn die ganze Ernte ist dahin. 12Die Weinstöcke sind vertrocknet, die Feigenbäume völlig welk. Alle Bäume des Feldes sind verdorrt: Granatapfel, Dattelpalme und Apfelbaum. Ja, alle Fröhlichkeit ist den Menschen genommen. Wie welke Pflanzen lassen sie die Köpfe hängen.236

Mensch und Natur siechen dahin, wenn der Segen Gottes ausbleibt. Dagegen nehmen sich die Wertschätzung und Süßigkeit eines Lebens nach Gottes Geboten lebendiger aus. Die erotische Affizierung des Menschen durch das Gebot Gottes wird mit Kostbarkeiten und Luxusgütern ins Bild gesetzt. So rückt, neben dem bereits erwähnten Honig auch das Gold in den Blick, welches im Hld ein Zeichen der besonderen, unübertrefflichen Kostbarkeit des geliebten Gegenübers und gleichzeitig religiös aufgeladen ist. 236

BB.

206 Auch in Hinblick auf Gottes Gebote ist der Vergleich mit Gold naheliegend, denn auch sie sind kostbar und unübertroffen wertvoll. Zudem sind sie noch süßer als der beste Honig. In Ps 19,9-11 heißt es: 9

Die Gesetze JHWHs sind richtig, sie erfreuen das Herz, die Gebote JHWHs sind rein, sie machen die Augen hell. 10Die Furcht Gottes ist lauter, sie besteht für immer. Die Urteile JHWHs sind Wahrheit, sie sind gerecht allesamt. 11Sie sind begehrenswerter als Gold und viel reines Gold und sie sind süßer als Honig und Wabenhonig.237

Das kostbare Gold und die köstliche Süße des Honigs sind Gaben für das gute Leben, die Gott bereitstellt für diejenigen, die ihr Leben in Verbindung mit Gott leben. Gottes Gesetze erfreuen das Herz, das heißt sie erfüllen Denken, Wollen und Fühlen mit Zuversicht. Gottes Gebote machen die Augen hell, das heißt mit klarem Blick und Urteilsvermögen kann die Welt gedeutet und das Leben bewältigt werden. Die Ehrfurcht gegenüber Gott entspricht einer demütigen Haltung des Menschen. Gottes Urteile sind Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Leben nach ihnen auszurichten, schafft Orientierung. Sie als wirksam für das eigene Leben zu begehren, kann nicht mit Gold aufgewogen werden und nicht einmal den süßen Geschmack des Honigs übertreffen. Gold und Honig sind erotisch aufgeladen, weil sie beide zum guten Leben in Wohlbefinden und Freude beitragen, wenn sie wie im Hld als Ausdruck der Wertschätzung für den Geliebten bzw. als Ausdruck verzückender und lebendig machender Wirkung der Geliebten daherkommen. Dann erahnen die Menschen, wie belebend und wertvoll Gottes Gaben sind, die zu einem Leben in liebevoller Einbeziehung der ganzen Umwelt anleiten wollen. Wer so liebt und genießt wie die Liebenden, der versteht, wie liebevoll und Freude schenkend Gottes Gebote für die Lebenswege der Menschen sind. Diese erotisch aufgeladene Affizierung entfaltet ihr Transformationspotential im Resonanzmoment und in fortgesetzter Weise in den resonanten Bezugsfeldern. Die unmittelbare Übertragung von Gold und Honig in die Sphäre transzendenter Deutung ist ein Muster biblischer Vergleiche. Bezüge aus dem Alltagsleben werden auf Kontexte des religiösen Lebens übertragen. Profane und religiöse Symbolik durchdringen sich und werden so zur alltäglich erfahrbaren Gottesbegegnung, die den profanen Alltag zu transzendieren 237

Übersetzung der Verfasserin.

207 vermag, indem sie die bekannten Materialien aus dem Leben der Menschen neu kontextualisiert. Auf diese Weise wird eine gelebte Ganzheitlichkeit möglich, die keine Trennung erfordert zwischen der Beziehung mit Gott und der Beziehung der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt.238 Neben den engen Verbindungen zwischen dem guten Leben nach Gottes Geboten und dem Verlust aller Lebens- und Liebesgrundlagen als Konsequenzen einer repulsiven, von Gott abgewandten Lebensweise, spiegeln sich Gottes Segensbekundungen auch in der Symbolik im Tempel und in der Kleidung der Tempelpriester wider. Granatapfel und Lotos symbolisieren die Fruchtbarkeit des Landes und eine Regenerations- bzw. Lebenskraft, die göttlichen Ursprungs ist.239 So ist es wenig überraschend, dass in den Beschreibungen des Tempelbaus unter König Salomo Säulen, Priestergewänder und Gerätschaften mit stilisierten Granatäpfeln und Lotos reich verziert waren (vgl. 1 Kön 7,19. 22.26 und 2 Chr 4,5). Die Wirkung der Pflanzen und ihre Symbolkraft werden zu beziehungsstiftenden Elementen im Tempelkult. In stilisierter Form sind sie Zeichen bleibender Fürsorge und Zuwendung Gottes und haben Erinnerungsfunktion. In freier Natur sind das Vorkommen und der Genuss der Pflanzen ein erotisch affizierendes Erlebnis des göttlichen Segens, dessen Wirkung im Gottesdienst durch die Architektur und das Interieur erinnert wird. Auf diese Weise wird ein responsives Verhältnis zwischen Gott und Menschen begründet, das den Beziehungsmodus in allen Bezugsfeldern stärkt, weil es sie füreinander durchlässig macht. Beim wiederkehrenden Genuss der Früchte und durch den wiederholten Besuch des Tempels stabilisieren sich die resonanten Bezugsfelder und die Normen und Werte, die die Weltdeutung entlang dieser Beziehungsverhältnisse strukturieren. Die enge Verbindung zwischen fruchtbarem Land und Gottes Segen in Form von Regen bzw. Bewässerung zur rechten Zeit, und regenerativer Lebenskraft wird beim Propheten Hosea erkennbar. Dort wird sie zum Sinnbild israelitischer Umkehr und neuer Verwurzelung im Land nach der Exilerfahrung, die als Konsequenz der repulsiven Lebensführung und Abkehr von Gott interpretiert wurde. Es heißt in Hos 14,6: „Ich werde wie Tau sein 238

239

Janowski schreibt in Anlehnung an Keel, „dass die Welt nach altorientalischer und biblischer Auffassung nicht ein geschlossenes und profanes System, sondern eine nach allen Seiten hin offene Größe darstellte.“ Janowski 2019, 349. Vgl. Riede 2017.

208 für Israel, und es soll blühen wie Lotos, und es soll seine Baumwurzeln schlagen wie der Libanon.“240 In der Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und Volk, wird Gott zum lebenspendenden Wasser. So kann sich das Volk regenerieren und neue Lebenskraft entfalten, die dazu führt, dass die Verwurzelung im Land tiefgehend ist, wie Baumwurzeln hoher Bäume (hier sind die Zedern assoziiert). Es soll verhindert werden, dass sie noch einmal aus ihrer Beziehung zu Gott herausgerissen werden. Die Beziehung zwischen Gott und Volk wird gleichsam zur botanischen Lehrstunde. Die liebevolle Zuwendung Gottes zu den Menschen ist so existentiell, lebendig machend und Leben ermöglichend, wie seine Zuwendung zur ganzen Schöpfung. Diese Segensverheißungen gegenüber Land und Leuten, werden als Liebeserweis Gottes dargestellt. Die Antwortbeziehung zwischen Gott und Menschen bezieht das gesamte Umfeld mit ein und verändert die Wahrnehmung. Durch die von Gott initiierte erotische Affizierung der Welt, öffnen sich die Menschen maximal für Gottes Präsenz und treten in den Beziehungsmodus ein, dessen transformative Kräfte dafür sorgen, dass ihre Selbst-Welt-Beziehungen nachhaltig verändert werden. Gutes Leben in segensreichem Land ist dann gleichbedeutend mit dem Leben in Beziehung zu Gott. Das gilt auch für den Bezug zur Tierwelt. Beim Kleinvieh können die gleichen Argumentationslinien verfolgt werden, wie bei der Fruchtbarkeit des Landes. Denn auch eine fruchtbare Herde ist letztlich Zeichen des Segens Gottes und muss achtsam gehegt und gepflegt werden, weil die Tiere mit ihrer Milch, ihrem Fell, der Haut und dem Fleisch alle Grundbedürfnisse der Menschen nach Nahrung, Kleidung und Schutz erfüllen (vgl. Spr 27,23-27).241 So werden frisch gewaschene zur Schur bereite Schafe, und ihre makellosen Lämmchen, zum Vergleich der strahlenden, gesunden Zähne der Geliebten. Die vom Berg herablaufende Ziegenherde wird zum Bild für das Haar der Geliebten (Hld 4,2; 6,6 bzw. 4,1; 6,5). Ist Fruchtbarkeit Ausdruck der Zuwendung und des Segens Gottes, ist die Liebe der Liebenden im Grunde der lebenslustvolle Genuss des göttlichen Segens. In ähnlicher Weise drücken auch die Vergleiche mit wildlebenden Tieren diesen segensvollen Beziehungsmodus aus. Die altorientalischen Bezüge 240

241

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. Frey-Anthes 2010; Rohde 2010. Aus Ziegenhaaren wurden bspw. auch Zeltbahnen hergestellt, daher bieten die Tiere mit ihren Produkten den Menschen Schutz vor den Wetterverhältnissen. Vgl. Hld 1,5; Ex. 25,4; 26,7; 35,6.23.26; 36,14.

209 zu Gottheiten und die symbolische Bedeutung von Gazellen und Tauben wurde bereits in Kapitel III.1.2.3. behandelt. Ergänzend dazu möchte ich weitere religiös aufgeladene Deutungskontexte benennen. In Hld 2,12 bspw. schafft die einzige Erwähnung einer Turteltaube (hattôr) im Kontext des Frühlings eine Verbindung zwischen erwachender Natur und erwachender Liebe. Die Turteltaube als Zugvogel kennt genau den Zeitpunkt ihrer Rückkehr ins Land. Wie die Geliebte im Hld die Töchter Jerusalems beschwört, die Liebe nicht vor der Zeit zu wecken, so ist die Frühlingsliebe der Liebenden genau der richtige Zeitpunkt, weil sie mit der Rückkehr der Liebesbotin (Taube) und der aufbrechenden und sprossenden Natur zusammenfällt. Dem entgegen beklagt Gott durch den Propheten Jeremia, dass sein Volk den richtigen Zeitpunkt, ganz im Gegensatz zu den Zugvögeln, nicht erkennt, um sich den Geboten Gottes entsprechend zu verhalten (vgl. Jer 8,7).242 In Ps 74,19 flehen Betende Gott an, seine Turteltaube (Israel) nicht den Feinden (wilden Tieren) preiszugeben.243 Die Taube und die Turteltaube werden durch ihre vielfachen Kontexte und Bedeutungen zu idealen Vergleichsbildern für die verschiedenen Aspekte der Liebesbeziehung. Die Taube zeigt mit genauem Gespür die rechte Zeit zur Liebe an und überbringt die Liebesblicke Liebender zuverlässig. Gleichzeitig gibt sie durch den Kultbezug als Opfertier ihr Leben hin für die Reinigung der Menschen von Sünde und anderen Umständen, die eine Trennung von Gott implizieren. So werden die Turteltauben zu Botinnen der Vergebung, die eine Wiederherstellung vormals gestörter Beziehungen ermöglichen. Während die Gazellen außerhalb des Opferkultes den Segen Gottes und die überbordende Fülle der Versorgung mit wohlschmeckendem Fleisch verdeutlichen (vgl. Dtn 12,15.22), kommen die Turteltauben als Opfergaben im Sühnekult in den Blick (vgl. Lev 1,14; 5,7.11; 12,6.8; 14,22.30; 15,14.29; Num 6,10). Der Kultbezug, der durch das Taubenmotiv hergestellt wird, ist in dieser Weise eine Darstellung der Liebe Gottes. Gott schenkt in der Kultpraxis Möglichkeiten, Leben und Beziehung zu erneuern. Im Kult wird die Taube zur Überbringerin der Reue und Bitte um Vergebung des Menschen an Gott, auch für unwissentlich begangene Verfehlungen. Die Opferung der Tauben 242

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Appendix VII.2., Bsp. 17.7. Appendix VII.2., Bsp. 17.5.

210 wird von Gottes Seite her als Sühne akzeptiert und so wird die Taube zur Überbringerin der Vergebung. In dieser Wechselseitigkeit entsteht ein Dialog, der fortgesetzt Beziehung ermöglicht und zum guten Leben führt.244 Der Bezug zum religiösen Deutungsgehalt schlägt in hervorragender Weise eine Brücke zur Gestaltung von Beziehung zwischen Liebenden, zwischen denen erotische Affizierung und fortgesetzte Resonanz möglich werden, durch immer neue Liebesbotschaften einerseits und durch Vergebungsbereitschaft andererseits. Im Beziehungsmodus vibriert der Draht zur Welt in vollem Umfang, aber auch Repulsions- und Entfremdungserfahrungen in der Liebesbeziehung müssen einen Modus zur Überwindung haben, damit die Liebe nicht verstummt. Sind Tauben im Hld symbolisch die Überbringer von Liebesblicken der Liebenden, können sie im Kontext von Repulsions- und Entfremdungserfahrungen ebenso als Überbringer eines neuen Anfangs gedeutet werden, der aus der Vergebung erwächst. Resonanztheoretisch ausgedrückt hilft das Verzeihen dabei, eine durch Verletzungen oder Missverständnisse verhärtete Beziehung wieder zu verflüssigen. Es trägt dazu bei, dass ein Transformationsprozess in Gang kommt, durch den Resonanzfähigkeit zurückgewonnen werden kann.245 Im religiösen Symbolsystem kann die Taube als Kultopfer im Dialog zwischen Gott und Menschen als Botin von Umkehr und Vergebung oder Verzeihung gedeutet werden. Diese Qualitäten einer resonanten Antwortbeziehung im diagonalen, horizontalen und vertikalen Bezugsfeld schaffen eine Durchlässigkeit, die radikal relational die Liebesweise Gottes mit der Liebesweise der Menschen zusammenbringt. Die Taube ist die geeignete Botschafterin, die von Liebe und Vergebung kündet, wann immer sie auftritt.246 Ihr wiederholtes Auftreten im Hld trägt zur Stabilisierung der resonanten Bezugsfelder bei. Blicken sich die Liebenden in die Augen, werden die Bli-

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Tauben wurden als Ersatzopfer für arme Leute, die keine Kleintiere besaßen oder sich diese nicht leisten konnten, verwendet. Tauben wurden als Reinigungsopfer dargebracht sowohl von Männern (Lev 15,13-15) als auch Frauen (Lev 15,28-30) bspw. nach Ausflüssen jeder Art. Vgl. Riede 2010. Buber geht vom hebräischen Wort qorban aus und versteht den Opferritus als einen Vorgang, der „nahen, nähern bedeutet; der Sinn des Opfers ist es nun, darin sich selbst Gott zu nähern.“ Buber 2012b, 200. Rosa 2018a, 360–361. Keel verweist darauf, dass der geöffnete Himmel nach der Taufe Jesu aus dem eine Taube herabfliegt grundsätzlich die Bedeutung haben kann, dass Gott hier eine Liebesbotschaft zur Erde schickt, die sich in seinem Sohn verkörpert (Keel 1992, 74).

211 cke, die wie Tauben sind, zu Boten der Liebe und der Vergebung und ermöglichen einen fortgesetzten Dialog. In der religiösen Deutung der Gazellen wurde bereits in Kapitel III.1.2.3. auf den Zusammenhang zwischen Gazellen in altorientalischen Religionen aus dem Umfeld Israels und ihrer motivischen Beigabe zu Liebesgottheiten hingewiesen. Für den Kontext des Hlds wurde angenommen, dass die Gazelle als personifizierte Liebeskraft auftauchte und symbolisch die besonderen Lebens- und Regenerationskräfte verkörperte, bei denen die Geliebte die Töchter Jerusalems beschwört, die Liebe nicht vor der Zeit zu wecken. Der Sprachbefund legt aber auch noch einen anderen Kontext nahe. Im Plural gleicht das Wort, das für mehrere Gazellen verwendet wird, jenem, welches im Deutschen mit Heerscharen übersetzt wird (ṣeḇāʾôt). Diese Bezeichnung Gottes kommt zweihundertneunundfünfzigmal in der HB vor, immer zusammen mit dem Tetragramm JHWH, und besonders häufig bei den Propheten. JHWH der Heerscharen, bezeichnet alle möglichen Heerscharen Gottes wie Engel, Menschen oder gar im astrologischen Sinn das gesamte Firmament. Dahinter steht die Vorstellung, dass JHWH Heerscharen befehligt, die Gottes Willen ausführen. Das kann, muss aber nicht, im militärischen Kontext sein. Das hohe Vorkommen von ṣeḇāʾôt in der prophetischen Literatur weist allerdings auf den Zusammenhang hin, dass die Propheten als Teil von Gottes Heerscharen, also der göttlichen Ratsversammlung, das Gotteswort weitergeben, das in ihrem Kontext häufig Gerichtswort ist und die Menschen zur Umkehr rufen soll.247 Bei der Vorliebe für Wortspiele und Doppelbedeutungen hält das Hld auch hier mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen. Ähnlich wie die religiöse Bedeutung der Taube, steht auch hier das Wort im Kontext des Versuchs, gestörte Beziehung und verstummte Resonanz wiederherzustellen. Wenn JHWHs Heerscharen zum Ziel haben, Gottes Willen zu erfüllen und die Menschen zu Gott zurückzuführen, dann steckt dahinter die göttliche Bemühung um die Wiederherstellung von Dialog und Affizierung. Gott sendet auch hier Boten, die eine Botschaft überbringen, die letztlich Gottes Liebe zu den Menschen ausdrückt im Wunsch nach Gemeinschaft. Da die Bezeichnung JHWH Zebaoth zum ersten Mal in 1 Sam 1,3 auftaucht und im Kontext des Heiligtums in Silo steht, kann auch angenommen wer247

Vgl. Yahweh, 4. Yahweh Zebaoth, in: NIDOTTE, Vol. 4, 1295-1296.

212 den, dass das Wort von einem ägyptischen Wort abgeleitet sein könnte, das sitzen oder thronen bedeutet. Im Kontext mit der Bundeslade, die im Heiligtum steht, würde dies dann anzeigen, dass JHWH auf der Bundeslade thront.248 Eine Vorstellung, die aufgreift, dass Gott inmitten des Volkes wohnen und für sie Sorge tragen will, wie ein König. In beiden Fällen steht die Etablierung eines vertikalen Bezugsfelds im Vordergrund, das im Bild der Gazelle lebendig wird. Ist die Hirschkuh ein Bild für die Sehnsucht nach Gott, dann ist die Gazelle ein Bild für Gottes Kommunikationsbereitschaft. Gott lässt Botschaften überbringen, die in die Beziehung führen. Diese Anrufung steckt in der Verwendung der GazellenMetaphorik im Hld, die einerseits Agilität, Verspieltheit, Lebens- und Regenerationskraft und Liebesbotin ist, und andererseits daran erinnert, dass Gott in Beziehung sein möchte mit seinen Menschen und auch hierfür fortgesetzt Botschaften sendet, die die Menschen zur Antwort auf Gottes Anrufung motivieren sollen. Wie die Tauben und die Gazellen, so ist auch Jerusalem in zweifacher Hinsicht bedeutungsvoll. Zum einen wird das Setting für die Liebeslieder in einen kulturellen Resonanzraum verlegt, der nicht nur religiös, sondern auch politisch aufgeladen ist.249 Zum anderen dienen die Erwähnung der Stadt und in ihrem Zusammenhang die Rede von Mauern und Türmen dazu, bisherige Kontextualisierungen aufzulösen und neue zu schaffen. Zur Stadt Jerusalem gehörten dereinst Mauern und Türmen, die mit der Zerstörung des Tempels 587 v.Chr. niedergerissen und von der Bevölkerung nach der Rückkehr aus dem Exil wiederaufgebaut wurden (vgl. Neh; Esra). Die Mauern und Türme dienten dem Schutz und der Verteidigung der Stadt. Die Tore in der Mauer wurden nachts geschlossen. Ihre Funktion vermittelt eine repulsive Weltbeziehung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie mit Bedrohung und Gewalt rechnet und sich entsprechend im Vorfeld davor zu schützen versucht (vgl. 2 Chr 32,5; für Tyrus Ez 27,10-11).250

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Vgl. Kreuzer 2013. Nach biblischer Erzählung wurden mit der Reichsteilung in Nordreich Israel und Südreich Juda, vermutlich im 10. Jh. v.Chr., auch die Kult- und Machtzentren zweigeteilt. In Samaria, so wird erzählt, war der religiöse/politische Mittelpunkt des Nordreiches, Israel, während Jerusalem der religiöse/politische Mittelpunkt des Südreiches, Juda, war. Appendix VII.2., Bsp. 28.6. und 28.2. vgl. Jerusalem in: NIDOTTE, Vol. 4, 772-776. Zu Tor vgl. Janowski 2019, 332f.

213 Im religiösen Kontext sind Mauern und Türme aber auch mit Gottes Zuwendung konnotiert. Gott selbst oder Gottes Name werden zum Turm, einem Gebäude das Schutz bietet und die Hilfesuchenden aus ihrer Not herausholt, sie hochhebt und so neue Perspektive schenkt (Ps 61,4; Spr 18,10).251 Die Stadtmauern wiederum dienen nicht den Armeen und Kämpfern als Aufstellungsplatz für das Gefecht, sondern auf ihnen sind Wächter unterwegs, die die Menschen ohne Unterlass zur Umkehr rufen, d.h. die die Menschen dazu anhalten, die Beziehung zu Gott wiederherzustellen (Jes 62,6).252 Sogar die Festungsanlage insgesamt kann als Bild für die Fürsorge, den Schutz und die Stärke Gottes dienen. Sie wird so zum Bild behüteten und vertrauensvollen Lebens in Beziehung mit Gott über Generationen hinweg (Ps 48,13-15).253 Schließlich gibt es noch Kontexte, in denen es um einen abschließenden Gerichtstag Gottes geht, an dem Gott die in Schieflage geratenen sozialen Verhältnisse wieder zurechtbringt und den Stolz und Hochmut derer, die meinten, sie könnten durch Mauern und Türme dafür sorgen, dass sie sich selbst schützen und retten können, zunichtemacht (Jes 2,11-18).254 In den gleichen Kontext gehören die Erwähnungen eines Königs im Hld. Ein König war im alten Israel derjenige, der durch Gesetz, Krieg, Rituale, Weisheit und Gerechtigkeit über sein Volk regierte und die sozial-politische Ordnung aufrechterhielt und für sozialen Frieden sorgte.255 Das Königsamt ist oft mit dem Bild des Hirten verbunden.256 Insofern ist die Fürsorge Gottes mit dem Königsamt vergleichbar und lässt in der Bibel an vielen Stellen Kritik an der menschlichen Ausübung des Amtes erkennen. Demgegenüber hat in der HB JHWH das wahre Königsamt inne (vgl. 1 Sam 12,12; Ps 10,16; 24,8.10; 47,3; 93,1; 95,3; 96,10; 97,1; 99,1; 146,10; Jes 32,22; 44,6; Jer 10,10; 46,18; Zef 3,15; Mal 1,14). JHWH kümmert sich um das Volk, wie ein Hirte um seine Schafe (vgl. Jes 40,11; Ez 34,11.14-15). JHWH verschafft ihnen Ruhe und Wohlbefinden sowie einen umfassenden Schalom

251

252 253 254 255 256

Appendix VII.2., Bsp. 28.4, 28.5. Appendix VII.2., Bsp. 43.4. Appendix VII.2., Bsp. 28.3. Appendix VII.2., Bsp. 28.1. King, Kingship in Eerdmans Dictionary, 767-777. Vgl. Janowski 2019, 34–35. Janowski et al. 1993, 85.

214 (Jes 32,18).257 Durch diese ultimative Zuwendung Gottes werden die zerbrochenen Beziehungen geheilt und es werden neue Beziehungen möglich, damit neues Leben entstehen kann. Dies versinnbildlicht das Motiv der Hochzeit des Königs Salomo im Hld, von dem Heereman sagt, sie würde „the restoration of Israel under the symbol of a messianic wedding“258 verkünden. Eine Hochzeit markiert den Beginn einer neuen Lebenswirklichkeit. Allein an dieser Stelle im Hld sind die Töchter Zion angesprochen, was eine zusätzliche transzendente Dimension der Deutung eröffnet, da der Berg Zion als Regierungssitz JHWHs vorgestellt wurde (vgl. Ps 9,12; 76,3; Jes 8,18; 18,7; 24,23; Joël 4,17). In diesem Sinne ist das Hld ein Fenster, das sowohl in die Welt als auch in die Wirklichkeit Gottes sehen lässt und so beide zusammenbringt. Wer sich in Beziehung zu Gott auf diese Lebenswirklichkeit einlässt, wird verändert. Resonanz ist dann in den verschiedensten Bereichen und Situationen erlebbar. Affizierung ist überall und in jedem Kontext möglich. Wo auch immer im Hld vom Garten die Rede ist, gibt es kaum einen Kommentar, der darin nicht den Hinweis auf den Garten Eden erblickt. Von den einundvierzig Nennungen des Gartens in der HB entfallen einundzwanzigmal auf den Garten Gottes oder Garten Eden.259 Der zehnmalig genannte Garten im Hld kann einen tatsächlichen Garten bezeichnen oder als Metapher für die Geliebte verwendet werden sowie an den Garten Gottes erinnern, an einen paradiesischen Zustand. Die Gartenmetaphorik oszilliert zwischen dem literalen und metaphorischen Gebrauch und bringt alle resonanten Bezugsfelder in Überlagerung. Was zunächst nur ein Garten war, in dem allerlei köstliche Frucht wächst, der gehegt und gepflegt werden muss, wird im Hld zum Sinnbild der Geliebten, die ebenso köstlich ist mit ihren Düften, ihrer Erscheinung, ihrem Charakter, dass sie für den Geliebten einfach zum Anbeißen ist. Er will sie schmecken, berühren, kosten und genießen wie einen Garten voller Früchte, und sie lädt ihn lustvoll dazu ein (vgl. Hld 4,12-16). In ihrer genussvollen, ungetrübten Zweisamkeit werden Erinnerungen an die Schöpfungserzählungen geweckt. Auch in Gen 2,9 ist der von Gott angelegte Garten ausreichend bewässert und voller Bäume, deren Anblick begehrenswert ist und 257

258 259

Vgl. Steins 2012, 44. Heereman 2016, 214. Appendix VII.2., Bsp. 45.1.

215 von denen es sich gut essen lässt. Die Menschen erhalten auch hier den Auftrag, den Garten zu hegen und zu pflegen (Gen 2,16). Die Erotik gehört zum Garten von Anfang an dazu. Gott schuf eine affizierende Umgebung, in der die Menschen sich maximal für die Schöpfung öffnen und sie radikal relational erleben, indem sie ihre lebendig machenden und Leben ermöglichenden Wirkungen erfahren und an ihrer Erhaltung unmittelbar mitwirken können.260 An diese ideale Lebensform werden die Liebenden im Hld erinnert, wenn sie die Affizierung durch den Garten erleben und sowohl in ihrer Fürsorge für die Flora als auch in der Pflege ihrer Liebesbeziehung einander selbst zum Garten werden. Die Qualität der Zugewandtheit wird in diesem Bild der schöpfungsgemäßen Bewahrung des Gartens, seiner Pflanzen, Düfte und der Nahrung spendenden Früchte und Kräuter zum Sinnbild für die Bemühungen in der Liebesbeziehung. Dass jedoch alle Bemühungen umsonst sind, wenn das Wasser fehlt, knüpft an Gottes Schöpfungshandeln an. Leben wird erst dann möglich, wenn Gott es regnen lässt (Gen 2,5), und die dauerhafte Bewahrung des Gartens ist von der Bewässerung abhängig (Gen 2,10-14). In dieser Hinsicht ist die Liebe der Liebenden im Hld von Bemühung und Genuss gekennzeichnet, bleibt aber in ihrer grundsätzlichen Ermöglichung von Gott abhängig, sowohl in der erotischen Affizierung durch die Schöpfung als auch in ihrem kontinuierlichen Resonanzangebot. Solange Gott die Menschen anruft und sie antworten und sich maximal für die Präsenz Gottes öffnen, werden sie berührt und bewegt, damit sie – selbstwirksam – andere zu berühren und zu bewegen vermögen. Im Dialog mit Gott erfahren Menschen Veränderung und entwickeln eine neue Haltung zur ebenso veränderten Welt. Der Weg zum guten Leben offenbart sich als radikal relationistisches Unterfangen und bewirkt eine Lebenslust, Lebensfreude und Lebendigkeit, deren Wirkweise, wie im Hld, am besten mit der Wirkung des Weins beschrieben werden kann: berauschend, wohltuend und frohmachend, ohne dabei die Elemente der Repulsionserfahrungen auszuklammern (vgl. Gen 3,8ff. und Hld 5,2-8). An dieser Stelle ist der Wein im Kultgebrauch zu erwähnen. Zu verschiedenen Opferritualen im Tempelkult, bei denen zumeist ein Schaf oder eine 260

Vgl. Berg 2002, 69-70; 72; 75f.

216 Ziege und Brot dargebracht wurden, begleitete der Wein die Gaben als Trankopfer (Libation) (vgl. Num 15). Wie bei einer Mahlzeit wurden die Opfergaben dargebracht. In fröhlicher Dankbarkeit wurde dann vor JHWH gegessen und getrunken. Ein solches Gemeinschaftsmahl drückt die enge Verbundenheit der Menschen mit Gott aus und macht deutlich, dass JHWH, mitten unter seinem Volk gegenwärtig ist und durch die Darbringung des Opfers geehrt und gelobt wird. Die Gemeinschaft wird in diesem Ritual gestärkt und die dankbare Lebenshaltung, die sich darin zeigt, gefestigt.261 Solche Rituale wirken auf allen Bezugsfeldern stabilisierend. Im gemeinsamen Mahl werden die Beziehungen der Menschen untereinander, zur Gottheit und zu den Gaben gleichermaßen vertieft und transformieren den gesamten Selbst-Welt-Bezug der Opferbringenden und richten sie auf fortgesetzte Relationalität aus. Das gemeinschaftliche Mahl wird in erotisch affizierender, also Lebenslust fördernder Weise, wirksam. Etabliert sich ein responsives Verhältnis im Ritual, tritt Resonanz ein, solange das Ritual normativ wirkt, d.h. starke Wertungen vermittelt und als schlechthin wichtige Form des gemeinschaftlichen Lebens individuell anerkannt wird. Wo die Liebesbeziehung in ihrer Wirkung mit der Wirkung des Weines verglichen wird, da ist der Bezug zum Weinberg inhärent, denn auch dieser erfordert einen hohen Arbeitsaufwand, damit er ertragreich ist. Dieses Bemühen um den Weinberg ist daher ein ideales Bild für die Beziehung Gottes zum Volk Israel, das auch als Weinberg bezeichnet wird und mit derselben ausdauernden Fürsorge von Gott gehegt wird, wie ein Weinberg im alten Israel (vgl. Jes 5,1-7). Die häufige Erwähnung des Weinbergs im Hld steht also ganz in der Tradition der Übertragung eines agrarischen in ein Beziehungsbild, wenn auch die Geliebte einerseits den Weinberg hütet und ihn andererseits verkörpert (Hld 1,6; 8,12). Als Zeichen des Segens Gottes ist der blühende und ertragreiche Weinberg wichtig und wird daher häufig mit der Blüte und fruchtbringenden Haltung des Volkes Israel verglichen, wenn es die Beziehung mit Gott aufrechterhält und ehrt. Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass bei noch so sorgsamster Pflege, der größten Mühe und der liebevollsten Zuwendung Resonanz entsteht, also ein responsives Verhältnis. Resonanz ist unverfügbar und steht der Repul261

Zu den versch. Opferritualen s. Janowski 2019, 299ff. und Offerings and Sacrifices in: NIDOTTE, Vol. 4, 996-1015.

217 sion gegenüber, die aber auch Teil der Lebenswirklichkeit der Menschen ist, auch in religiösen Kontexten. Ist die Anrufung vergebens, bleibt die Antwort aus, gibt es auch keine Möglichkeit zur Resonanzerfahrung, deshalb ist sie auch als Beziehungsmodus definiert. Ohne „strömende All-Gegenseitigkeit“262 entsteht weder Berührung, noch lässt sich das Gegenüber bewegen oder ergreifen. Der Gott der Bibel bemüht sich unermüdlich um Resonanz. Gott schafft Resonanzräume, in denen Begegnung und Bewegung stattfinden kann. Gott möchte ergreifen und ergriffen werden, damit sich Transformationspotentiale entfalten können, die die Welt verändern. Das Hld zeigt, wie das aussehen kann und lädt seine Leserschaft in erotisch affizierender Weise dazu ein, sich auf das Abenteuer der Liebesbeziehungen einzulassen. 4. Zwischenfazit Kapitel III. war in seiner Ausrichtung darauf angelegt, die biblisch-anthropologische Lesart des Hlds mittels Resonanz und Erotik zu analysieren. Die im konstellativen Personbegriff vorkommenden Merkmale (die natürlichen Lebensbedingungen, die kulturellen Lebensformen, die soziogene Identitätsentwicklung und das religiöse Symbolsystem), konnten mit den resonanten Bezugsfeldern in Beziehung gebracht werden. Die Ergebnisse daraus bilden die Überleitung zum IV. Kapitel, in dem es um die erotischen und resonanztheoretischen Aspekte der kanonischen Lesart des Hlds geht. Die resonanten Bezugsfelder erwiesen sich in hohem Maße füreinander durchlässig und veranschaulichten die umfassende Resonanzqualität, die das Hld für alle Merkmale des konstellativen Personbegriffs bietet. Für den Bereich der natürlichen Lebensbedingungen wurde deutlich, dass die dort angeführten Naturprodukte, Nutzpflanzen und Nutztiere in der gegenseitigen Beschreibung der Liebenden dazu dienen, Eindrücke zu verstärken, die nicht nur auf die erotisch evozierten Resonanzen zielen, sondern darauf, diese noch zu übertreffen: Die Liebe ist stets besser als der Wein bzw. der Liebesgenuss ist in seiner Wirkung noch berauschender als die Wirkung des Weins; auch die teuersten Düfte und Balsame reichen letztlich nicht an den Wohlgeruch des geliebten Gegenübers heran. Ein ge262

Buber 2019a, 47.

218 lobtes Land ist unter der Zunge der Geliebten zu finden. Die ganze Fülle an essbaren Köstlichkeiten und Gewürzen muss in einem Atemzug miteinander genannt werden, um nur annähernd die köstliche Befriedigung des Liebesgenusses greifbar zu machen; ein ganzer Park an Früchten muss es sein, um auszudrücken, wie anziehend und vital die Geliebte in ihrer erotischen Attraktivität wirkt. Das Hld macht dadurch sprachlich und emotional deutlich, dass der Beziehungsmodus in erotischer Affizierung zwar Anleihen machen kann an der Welt, die in den liebenden Blick rückt, aber letztlich nicht ausreicht, um auszudrücken, was als neue Welterfahrung erlebt wird, und als neue Aussage über die Wirklichkeit formuliert werden will. Auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für die Darstellung des geliebten Gegenübers setzt das Hld daher Worte ein, die mehrfach gedeutet werden können, also verschiedene Bedeutungen haben. In Bezug auf die analysierten Worte aus dem Hld wurde deutlich, dass manche Deutungen über den anthropologischen Kontext hinausweisen. Die Durchlässigkeit der diagonalen und horizontalen Bezugsfelder für das vertikale, konnte an vielen Stellen beobachtet werden und verdeutlicht, dass gerade in der durch erotische Affizierung aufgeladenen Hld-Metaphorik, bezugsfeldübergreifende Resonanzen entstehen. Bei den kulturellen Lebensformen, in denen die Körperauffassungen und Sozialbeziehungen in den Blick kamen, folgt die gegenseitige Wahrnehmung der Liebenden größtenteils konventionellen altorientalischen Vorstellungen von Schönheit und Vitalität. Der Detail-Reichtum mit dem v.a. die Geliebte im Hld beschrieben wird, verdeutlichte gleichzeitig dahinterstehende gesellschaftliche Normen. Im Kontext von Heiratspraxis, Umgang mit Sexualität und der Weitergabe von Wissen und Zuneigung im generationellen Erinnern, wurden die sozial-gemeinschaftlichen Bezüge im Hld einerseits wertschätzend deutlich und andererseits teilweise kritisch, aber ergebnisoffen reflektiert. An anderer Stelle wurden herkömmliche gesellschaftliche Wertungen in Hinblick auf Machtverhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt, bspw. dort, wo der Macht- und Herrschaftsanspruch des Königs im Angesicht der Liebe kapituliert. In den weiteren sozialen Beziehungen, in deren Kontext vor allem die Geliebte dargestellt wurde (Mutter, Brüder, Nachbarinnen), zeigte sich der Einfluss von gesellschaftlichen Wertungen auf die Konstituierung von Identität. Die individuelle/personale Entwicklung der Identität der Liebenden im Hld erwies sich daher als in hohem Maße interdependent und offenbarte ein

219 radikal-relationistisches Verständnis von Identitätsentwicklung. An den Äußerungen in Hinblick auf die Selbstwirksamkeit (Bezugsfeld des Selbst) wurde jedoch auch deutlich, dass der individuellen Verschiedenheit der Liebenden von anderen Personen große Bedeutung zukommt. Die Einzigartigkeit des geliebten Gegenübers darzustellen, muss daher auch an den Vergleichsbildern letztlich einen Mangel feststellen, denn die Liebenden sind füreinander mehr als das, was im Rückgriff auf die vorfindliche Lebenswelt ausgesagt werden kann. Dies verdeutlicht, dass die Rückübertragung der Vergleiche notwendiger Bestandteil des Ausdrucks umfassender Resonanz ist. Die Welt muss sich durch die Wahrnehmung der Einzigartigkeit des geliebten Gegenübers notwendig wandeln, sich weiten und öffnen, was gleichzeitig auch die Permeabilität der resonanten Bezugsfelder füreinander ermöglicht. In der Begrenzung lebensweltlich erfahrbarer Welt als Vergleichsmoment für die Liebe zum Gegenüber, muss notgedrungen eine größere Welt, eine geweitete Wirklichkeit aufscheinen, um die neue Lebenswelt, die durch die Liebesbeziehung entsteht, überhaupt aussagen zu können, geschweige denn zu gestalten und zur Entfaltung zu bringen. Die Verflüssigung der Weltbeziehung dient daher dazu, die bestehenden SelbstWelt-Verhältnisse nachhaltig zu verändern. Auf diese Weise kommen Transformationsprozesse in Gang, die das Ich-Werden am Du befördern und die die Liebenden auf veränderte Weise in die Welt stellen. Diese veränderte Selbst-Welt-Beziehung verändert aber auch die Welt. Da wo Begrenzungen auftauchen, müssen sie überwunden werden. Die Liebe macht nicht Halt vor Mauern und auch nicht bei negativen Erfahrungen. Nicht zuletzt die Repulsions- oder Entfremdungserfahrungen der Liebenden dienen in diesem Zusammenhang dazu, (drohenden) Resonanzverlust und Resonanzwiedergewinnung zu thematisieren und dadurch auf die andere Seite des Beziehungsmodus aufmerksam zu machen, auf das Liebesleiden. Ausgelöst durch Konflikte mit den starken Wertungen aus gesellschaftlichen Kontexten oder persönlichem Fehlverhalten, entsteht Leiden um der Liebe Willen. Auch diese (drohenden) Repulsionserfahrungen bleiben den Liebenden nicht erspart, da sie letztlich dazu dienen, die Liebeserfahrung noch zu vertiefen. Die Entscheidung, den Kampf aufzunehmen und für die Liebe alles zu riskieren, bringt letztlich die ersehnte Erfüllung in wechselseitig gestilltem Verlangen und gegenseitiger Zugehörigkeitsbekundung. Wo Repulsion überwunden, der drohende Resonanzverlust abge-

220 wendet und Resonanz wiederhergestellt wird, da eröffnet sich ein geweiteter Blick auf die Welt. Wo die eigene Lebenskraft fast versagt, gerät das geliebte Gegenüber – als Götterstatue beschrieben – in den Blick und versinnbildlicht die Sehnsucht nach einer Schutzmacht, einer Lebenskraft, die auch die widrigsten Umstände zu überwinden vermag. Im Bereich des religiösen Symbolsystems, das als ebenfalls bezugsfeldübergreifender Resonanzraum behandelt wurde, werden die Bezüge zwischen der Liebespaarbeziehung im Hld und der Liebesbeziehung Gottes zu seinem Volk auffallend deutlich. Aufgrund der angeführten intertextuellen Bezüge zwischen dem Hld und anderen Schriften der HB, entsteht der Eindruck, dass die Hld-Metaphorik in mehrdeutiger Weise die menschlichweltlichen mit den religiösen Erfahrungsräumen zusammenbringt, wo sich in einer Beschreibung zwei Dimensionen des Erlebens öffnen. Dies drückt sich aber nicht als Allegorie in dem Sinne aus, dass das Eine gesagt und etwas Anderes gemeint ist. Vielmehr entsprechen sich die Bewegungen der Liebesdynamik im Hld und derer zwischen Gott und seinem Volk und sogar der ganzen Schöpfung in resonanztheoretischer Qualität und erotischer Affizierung. Daraus ist zu folgern, dass die Weltdeutung, die durch das Hld und das dahinter erkennbare religiöse Symbolsystem transportiert wird, keine Trennung im Resonanzerleben kennt, sondern die menschliche Liebeserfahrung auf das Verständnis für Gottes Art zu lieben übertragbar macht. In dieser Hinsicht wird deutlich, dass das Hld die Selbst-Welt-Beziehung nicht einseitig subjektivistisch deutet, sondern radikal-relationistisch. Durch die in der Liebe evozierten Transformationsprozesse des Selbst und gleichzeitiger Ko-Varianz der Welt, eröffnen sich neue Einblicke und Ausblicke, die sich fortsetzen ins vertikale Bezugsfeld, in einen erweiterten Raum der Beziehungsmöglichkeiten. Im Beziehungsmodus Resonanz, entwickelt sich ein vibrierender Draht zur Welt, die als geliebte Welt, erweiterte und geweitete Welt ist. Dieser Zusammenhang soll im folgenden Kapitel an den dort vorfindlichen erotischen und resonanztheoretischen Qualitäten der kanonischen Lesart des Hlds noch weiter vertieft werden.

221 IV. Resonanz, Erotik und kanonische Lesart des Hohelieds Anhand der Analyse der ausgewählten Worte aus dem Hld, die den unterschiedlichen Merkmalen des konstellativen Personbegriffs zugeordnet wurden (Kapitel III.), konnte gezeigt werden, dass sie stets in mehreren Kontexten und Bedeutungen vorkamen. Diese intertextuellen1 Bezüge wurden in der Analyse durchweg sichtbar, besonders in Kapitel III.3.2., in dem es um das religiöse Symbolsystem ging. Diese Bezüge, und die Durchlässigkeit der resonanten Bezugsfelder füreinander, warfen Fragen auf. Das Hld steht nicht als isoliertes Buch im Kanon der HB. Seine Kanonizität2 weist darauf hin, dass es Beziehungen zu den anderen biblischen Texten gibt. Über den anthropologischen Bezug hinaus traten bspw. Beziehungsmodi in den Blick, die sich im vertikalen Bezugsfeld ansiedeln lassen und durch die erotische Affizierung ein Gegenüber in den Blick nehmen, das als Anderes ganz anders ist. Durch die Liebesbewegungen der Lieben1

2

Das hier zugrundeliegende Verständnis von Intertextualität orientiert sich u.a. an Steins: „Explizit, vor allem jedoch implizit verweisen die Texte aufeinander, nehmen Formulierungen auf, wiederholen und bearbeiten früher behandelte Themen, so dass sich ein dichtes Textgeflecht aufbaut, in dem die Texte auf vielfältige Art miteinander verwoben sind.“ Steins 2012, 40. Und: „Das Konzept der Intertextualität problematisiert die Geschlossenheit des Textes: Texte lassen sich beschreiben als Schnittpunkte verschiedener Texte, die im Lesevorgang eingespielt werden (können). Intertextualität ist nicht allein und zuerst ein Phänomen der Textproduktion, sondern ein Prozess der Textkonstitution in der Rezeption. Intertextualität ist daher kein Begleitphänomen von Texten, sondern konstitutiv: Textualität ist als Inter-Textualität zu begreifen.“ Steins 2009, 25. Resonanztheoretisch ausgedrückt ist sowohl der Kanonisierungsprozess als auch der Rezeptionsprozess des Hlds als radikal relationaler Vorgang zu sehen, bei dem sich Texte, Textwelten und Interpretierende im Dialog gleichermaßen transformieren. Zur Kanonizität bemerkt Fischer: „Die Entscheidung einer religiösen Gemeinschaft, gewissen Texten dauerhafte Relevanz als göttliche Offenbarung in menschlichem Wort (so Dei Verbum 11) zuzusprechen, bedeutet deren Kanonisierung, die ein Einfrieren des Textbestandes bedingt. Während man bis zum Zeitpunkt der Kanonisierung in den Texten weitergearbeitet, Hinzufügungen und Weglassungen getätigt hat, ist dies danach nicht mehr möglich. Wie Jan Assmann herausgearbeitet hat, müssen heilige Texte rezitiert, jedoch nicht erklärt, kanonische hingegen verstanden und damit ausgelegt werden. Ein kanonischer Text muss daher notgedrungen Kommentare nach sich ziehen, die den Text für die jeweilige Zeit aktualisieren, ihn für geänderte Situationen adaptieren und damit für das Leben der Gläubigen relevant halten. Damit entsteht das Paradox, dass kanonische Texte zwar unveränderbar sind, in ihrer aktuellen Bedeutung aber überaus flexibel sein müssen.“ Fischer 2021a, 20.

222 den hindurch eröffnete sich diese Beziehungsdimension mit dem ganz Anderen, jene zwischen Gott und Menschen. Damit wird nicht die allegorische Auslegung des Hlds befürwortet, sondern eine kanonische. Ist das Hld Teil des Kanons, weil es sich in den Gesamtzusammenhang der biblischen Schriften inhaltlich einfügt, dann sagt es in seiner vorfindlichen Gestalt nicht nur für sich genommen etwas aus, sondern leistet auch einen Beitrag für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs biblischer Schriften. Dieser Gesamtzusammenhang ist die Beziehungsgeschichte Gottes mit den Menschen.3 Die Vorstellung von Beziehung, die bereits in der biblisch-anthropologischen Lesart des Hlds besonders in Kapitel III.3.2. sichtbar wurde, impliziert, dass nichts, was geschieht, außerhalb des Beziehungsverhältnisses Gottes mit der Schöpfung und allen Geschöpfen liegt. In umfassender Weise werden die Beziehungen der Menschen zu Gott, zueinander, zu Dingen, zur Natur, eingebettet in den Kontext eines Beziehungsgeschehens, das sich permanent entwickelt, verändert und eine eigene Lebendigkeit und Dynamik besitzt. Die ko-variierende Welt ist Ausdruck dieser radikalen Relationalität, in der nichts unberührt bleibt von der Beziehungsdynamik, die sich als durch Erotik evozierte Transformationskraft erweist. Diese erotisch evozierte Transformationskraft öffnet und weitet den Kontext des Hlds für den weiteren Kanon und stellt Bezüge zwischen Texten her, deren Vokabular ähnlich ist und erweitert die Beziehungsgefüge auch in Hinblick auf Gott. Dabei geht es jedoch nicht um eine einfache Übertragung der Liebesbeziehung der Liebespaare im Hld auf die Liebesbeziehung Gottes zu den Menschen i.S. allegorischer Auslegungspraxis, sondern um die Analyse der Liebesdynamiken, ihrer erotischen Elemente und Resonanzqualitäten. Wo deutlich wurde, dass die Bedeutung mancher Worte im Hld über eine anthropologische Deutung hinauswies, wurde dies dadurch erklärbar, dass die erfahrene Liebe für die Liebenden eine Lebensrealität erschließt, die völlig neu ist und sich nur unzureichend mit den in der Lebenswelt bereits vorfindlichen Mitteln vergleichen lässt. Die neue Lebens3

Vgl. Steins 2009, 42–43. In besonderer Weise ist und bleibt es im Kontext der HB zunächst die Beziehungsgeschichte Gottes mit dem erwählten Volk, Israel. Mit das Volk oder Israel wird im weiteren Verlauf weniger eine territoriale Bezeichnung ausgedrückt als vielmehr die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, deren Zusammensetzung sich innerhalb der HB zwar auch verändert, deren Konstante aber die Begründung und Fortschreibung einer monotheistischen Glaubensvorstellung ist.

223 wirklichkeit muss sich neu ausdrücken lassen und die vorfindliche Welt erweitern, ja transzendieren, um angemessen über die radikal-relationistische Weltbeziehung der Liebenden Auskunft geben zu können. An dieser Stelle wird die bisher eingenommene Binnenperspektive des Hlds verlassen. Sie hatte sich auf die Beziehung der Liebenden und ihre Umwelt konzentriert, sich mit der Lebenswelt hinter dem Text und im Text befasst. Nun wird die weitere Text-Welt des Kanons in den Blick genommen und mit ihr auch die Interpretationsgemeinschaft, also die Text-Welt vor dem Text.4 Die Zusammenschau des Hlds mit anderen Texten des Kanons der HB soll die durch die Liebesbeziehung neu erfahrene, erweiterte Lebenswirklichkeit aussagen helfen. Der Kanon ist als Text-Welt ein Gegenüber für die Lesenden. Diese TextWelt muss nicht erst geschrieben werden, sondern sie ist in ihrer Form bereits (vor)gegeben und in ihrer Zusammenstellung nicht veränderlich.5 Wohl ist sie aber vielfältig hinsichtlich ihrer Anverwandlung, die eng mit dem Kontext des lesenden und interpretierenden Selbst zusammenhängt.6 Verschiedene Beziehungsgefüge werden bei der Begegnung mit der TextWelt wirksam. Die Texte stehen untereinander in Beziehung und die Lesenden setzen sich einerseits zu dieser relationalen Text-Welt und andererseits zur Interpretationsgemeinschaft in Beziehung. Alle vier resonanten Bezugsfelder können sich so stabilisieren: diagonal im fortgesetzten Gebrauch des Buches und durch den Umgang damit; horizontal durch die wiederholte Begegnung mit den Menschen von einst, die die Texte schrieben, aber auch mit jenen, die sie beschrieben und außerhalb der Text-Welt im 4

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Laut Berges hat die biblische Text-Welt drei Dimensionen: hinter, im und vor dem Text: Eine Lebenswelt hinter dem Text, aus dem der Text erwachsen ist; eine Welt im Text, die beschrieben wird; eine Welt vor dem Text, auf die er hinführen möchte. Berges 2007, 251. Der Kanon ist jedoch nicht einheitlich zusammengestellt, sondern verschiedene Denominationen nutzen verschiedene Zusammenstellungen von Texten, die für die eigene Glaubens- und Interpretationsgemeinschaft verbindlich sind. Dabei beziehen sie sich auf die HB oder andere Handschriften, die LXX und/oder die Vulgata. Mit Steins mache ich darauf aufmerksam, dass die wissenschaftlich betriebene kanonische Lektüre Modellleser*innen simuliert, die „kanonbewusst und kanoninformiert“ sind und – im Kontext dieser Arbeit – die „Leistung fortwährender Kontextualisierung und Intertextualisierung auf der Basis des Textes“ erbringen können. Steins 2009, 52– 53.

224 gegenwärtigen Austausch; vertikal durch die wiederkehrende Begegnung mit den Gotteserfahrungen der Text-Zeugen und in persönlicher Antwort auf die Anrufung aus dem Wort Gottes und die sich daraus entwickelnde Selbstwirksamkeit (Bezugsfeld des Selbst). Im Beziehungsmodus geht es dabei nicht darum, den Text verfügbar zu machen und seine Bedeutung zu fixieren, sondern seine bleibende Relevanz im gegenwärtigen Kontext dialogisch zu aktualisieren. Kanonische Schriftauslegung kann daher im besten Sinne als kritische, postmoderne Erscheinung bezeichnet werden „als sich mit ihr die Frage der Macht des lesenden Subjekts neu stellt und bestimmte Strategien der Verfügung über das Andere des Forschenden entlarvt werden.“7 [Hervorhebung d. Verf.in]. Wenn Resonanz nur da entstehen kann, wo ihre grundsätzliche Unverfügbarkeit gewährleistet ist, und Selbst und Welt mit je eigener Stimme sprechen, dann gilt für den aktualisierenden, auslegenden Umgang mit dem Kanon Zurückhaltung darin, die Texte in ihrer Bedeutung verfügbar machen zu wollen. Sie sollen als gestaltete Gegenüber, als Beziehungsangebote ernst genommen, aber nicht vereinnahmt werden.8 Es gilt, ihre textliche Endgestalt für einen affizierenden Dialog zu berücksichtigen. Ihnen als eigene, andere Stimmen Geltung zuzugestehen. Resonanztheoretisch gewendet heißt das, dass die resonanten Bezugsfelder füreinander durchlässig bleiben dürfen, dass also der Text in seiner kanonischen Beziehungsvielfalt auf verschiedenen Ebenen Beziehungsmodi etablieren oder Repulsion erzeugen kann. Beides fördert einen fortgesetzten Dialog, der Transformationspotential freisetzt und neue Affizierung ermöglicht, nicht zuletzt durch eine erotische Aufladung der Texte. 7

8

Steins übt in diesem Kontext Kritik an einer einseitig verstandenen und angewandten streng historisch-kritischen Bibelexegese. Steins 2007, 113. Aus feministisch-theologischer Sicht vgl. auch Müllner, die von „dialogischer Autorität“ spricht, sowohl innerhalb des biblischen Kanons als auch in der Beziehung zwischen Bibelkanon und Auslegenden, wo keine Stimme die anderen kontrolliert oder bevorzugt und Widersprüche nicht „diachron aufgelöst werden“, sondern erkennen lassen, „dass der positionelle Streit Teil des kanonischen Prinzips ist. Vielstimmigkeit ist dann nicht nur ein Prinzip der Schrift, sondern auch eine Lebensform der Kirchen, die sich von dieser Schrift inspirieren lassen.“ Müllner 2007, 84. Parallel dazu ist für Rosa das Prinzip der Unverfügbarkeit auch sozialkritische Anfrage an und Herausforderung für die Machtverhältnisse heutiger Gesellschaften, indem Verfügbarmachungsszenarien als Ursachen des Verstummens von Resonanz, des Resonanzverlusts, also des Dialog- und Beziehungsverlustes, benannt werden können, vgl. Rosa 2018b, 21-22; 34. Steins 2007, 120.

225 Um den Zusammenhang zwischen Kapitel III. und IV. zu verdeutlichen, soll es daher zunächst darum gehen, die hermeneutischen Konzepte von Kanon,9 Resonanz und Erotik zusammenzubringen. Die Analyse der intertextuellen Bezüge zum Hld soll diese Zusammenhänge verdeutlichen. Fragen, die sich durch die intertextuellen Bezüge und die Durchlässigkeit der resonanten Bezugsfelder ergaben, waren u.a.: Wie hängen die Liebesdynamiken der Liebenden im Hld mit der Liebesdynamik Gottes im biblischen Kanon zusammen? Welche Auslegungen, die das biblisch-anthropologische Verständnis des Hlds erweitern, können durch die kanonische Lesart hinzugewonnen werden? Welche Aspekte rücken in der kanonischen Auslegung des Hlds durch die Analyse der erotischen und resonanztheoretischen Qualitäten in den Fokus? An die vorläufige Beantwortung dieser Fragen schließt sich das Schlusskapitel an, das klärt, in welcher Weise die biblisch-anthropologische und die kanonische Lesart des Hlds die Forschungsleitfrage beantworten, inwiefern das Hld als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee gelten kann. 1. Kanon, Resonanz und Erotik Die biblische Text-Welt präsentiert sich als Kanon in einer ganz bestimmten Form. Als Zeugnis einer religiösen Interpretationsgemeinschaft ist die unveränderbare Sammlung der als unbedingt relevant geltenden biblischen Schriften das Endprodukt langwieriger redaktioneller und theologischer Überarbeitungen. Die christliche Bibel wird auch Wort Gottes genannt, was einerseits die Inspiration der Schriften durch Gottes Geist nahelegt und andererseits das Phänomen aufgreift, dass vormals mündlich weitergegebene Gotteserfahrungen verschriftlicht und über die Zeit weiterbearbeitet wurden. Die Bibel wird so ein zu Text geronnenes Dialoggeschehen,10 welches sich immer dann verflüssigt, verlebendigt und anverwandeln lässt, wenn es in Dialog mit Lesenden, Hörenden und Interpretierenden tritt. Dieses Phä9

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Mit Kanon ist für den Kontext dieses Kapitels die HB gemeint. Die Entscheidung, sich auf den Kanon der HB zu begrenzen hat mehrere Gründe: es musste ein überschaubarer Rahmen für die intertextuelle Recherche gesteckt werden. Eine Analyse der Texte der LXX oder Vulgata gehört zu möglichen weiteren Forschungsfeldern, die den Rahmen dieser Arbeit aber gesprengt hätten; deshalb wurden auch keine NT Bezüge untersucht. Vgl. Steins 2009, 51.

226 nomen der Bibellese und der Interpretation biblischer Texte greift Müllner auf und beschreibt es im Grunde als Resonanzgeschehen. Die resonanztheoretisch anmutenden Termini sind hervorgehoben: 1. Der Text steht in immer neuen Beziehungen zu interpretierenden Gemeinschaften. Zwischen Text und Interpretationsgemeinschaften entsteht ein kontinuierlicher Dialog, in dessen Verlauf beide Seiten sich verändern. 2. Im Kanon finden Dialoge zwischen unterschiedlichen Texten statt. Darin eröffnen sich insofern immer neue Bedeutungspotentiale, als sich immer wieder neue Kontextualisierungen von Einzeltexten ereignen. Der Kanon stellt einen Spielraum von Kontextualisierungsmöglichkeiten bereit. Er leitet an zu einer kreativen Lektüre und erfordert diese, um das Potential auszuschöpfen.11

Da der Kanon einerseits eine geschlossene Textsammlung bildet und andererseits sein Bedeutungspotential offen ist, erfüllt er die resonanztheoretische Voraussetzung, um mit eigener Stimme sprechen zu können, was ihn als (Text)Welt im Resonanzgeschehen qualifiziert. Diese Stimme ist in den verschiedenen Büchern und Schriften der Bibel auf polyphone Weise zu hören, bspw. als Lied, Gebet, Weisheitsspruch, Erzählung, Fabel, Gespräch usf. So bieten die Texte eine große Bandbreite an Anknüpfungspunkten für den Dialog. Interpretierende können sich zu den Texten, der Text-Welt, in Beziehung setzen. Die Text-Welt affiziert mit ihrer eigenen Stimme das lesende, hörende, interpretierende Gegenüber und generiert einen fortgesetzt bewegenden und berührenden Dialog, in dessen Verlauf sich Transformationsprozesse ereignen, in denen sich sowohl das interpretierende Selbst als auch die Text-Welt verändern.12 Die Selbstwirksamkeit des Textes und seines Gegenübers im Lese- und Interpretationsprozess ist als Erwartung an das gegenseitige Vermögen, einander berühren und erreichen zu können, vorhanden. Resonanz stellt sich dennoch nicht automatisch ein, sondern bleibt unverfügbar. Jedoch, die Rahmenbedingungen für Resonanzerfahrungen werden von der biblischen Text-Welt geschaffen und eröffnen Dialogmöglichkeiten, die zu neuen Perspektiven führen und Veränderungspotential beinhalten. Dieses Transformationspotential wird durch vielfältige Affizierungen freigesetzt, nicht zuletzt durch Erotik. Das ist am Hld beson11

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Müllner 2007, 83. Steins drückt diesen Beziehungskontext so aus: „Kanon bedeutet, die Rezeptionsgemeinschaft immer als textkonstituiert und -konstituierend mitzudenken und den Vorgang der Sinnkonstitution aus der Subjekt-Objekt-Konfrontation zu lösen.“ Steins 2009, 43.

227 ders gut zu erkennen, gilt aber auch für andere biblische Texte, wie noch zu zeigen ist. Das Hld illustriert eine Lebenslust und maximal geöffnete Welt-Zugewandtheit, die sowohl das Leben im Hld als auch in seiner Interpretation mit Lebendigkeit erfüllt und die Sinne schärft für die radikale Relationalität der gesamten Schöpfung innerhalb und außerhalb der Texte (bzw. hinter, im und vor dem Text). In der Durchlässigkeit der resonanten Bezugsfelder füreinander weitet sich die Relationalität auf Dimensionen aus, die die Schöpfung miteinbeziehen und auf die kreative Schöpfungskraft hinweisen, die alle Relationalität in Beziehung zu sich selbst begründet hat. Schöpfung als Dialog („Gott sprach … und es geschah so,“13 vgl. Gen 1,6ff.) verdeutlicht diesen radikal relationalen Zusammenhang zwischen anrufender Schöpfungskraft und responsiver Schöpfung. Diese Relationalität kann nicht nur in einer einzigen Weise und durch eine einzige Bezogenheit ausgesagt werden, sondern kommt im gesamten Spektrum von Sprachstilen und Genres vor, um affizierenden Dialog zu ermöglichen. Diese Relationalität der Texte zeigt sich in den intertextuellen Bezügen des Hlds zum restlichen Kanon. Die Erotik ist somit ein verbindendes Element zwischen den Texten des Kanons, weil sie nicht nur dafür sorgt, dass sich die Lesenden maximal für die Begegnung mit dem Text öffnen, sondern weil sie eingesetzt ist, um Lebendigkeit zwischen Text-Welt und Lesenden zu stiften und für ihr biblisch bezeugtes Ideal radikal-relationalen Beziehungslebens zu werben. Buber findet fast schon poetische Worte, um die Bedeutung des Kanons und der Intertextualität biblischer Schriften zu beschreiben. In seiner Auffassung ist die absichtsvolle Komposition des Kanons der Erkenntnis geschuldet, dass ein Text allein nicht ausreicht, um die vielfältigen Dimensionen der biblisch bezeugten Relationalität auszudrücken, weshalb die Texte miteinander auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene kommunizieren und einander dadurch erklären und vertiefen. Auf der Seite der Lesenden und Hörenden entfalten die Texte durch ihre Wiederholungen und Synopsen ein Kraftpotential, das ihren übergeordneten Zusammenhang erkennen lässt. In der Dynamik dieses Dialoggeschehens entstehen keine Dogmen, sondern durch die zusammenhängenden Texte werden Glaubensaussagen sichtbar, 13

LU17.

228 die Sinn stiften und die die Relationalität als biblisches Grundprinzip, sowohl der Textinhalte als auch der Textzusammenstellung, erkennen lassen.14 Diese Ansicht greift das Phänomen der Resonanz in den sozio-religiösen Praktiken des Kanonisierungs- und Interpretationsprozesses auf. Der Text ist ausreichend geschlossen und ausreichend offen, um mit eigener Stimme in den Dialog zu treten. Wortwahl und Wort-Wiederholung als im Kanonisierungsprozess bedeutungsvoll eingesetzte und intertextuell verknüpfte Sinnstifterinnen, ermöglichen gemeinsam mit unterschiedlicher Kontextualisierung im Interpretationsprozess fortgesetzten Dialog. In diesem Dialog, bei dem die Texte des biblischen Kanons einander erklären, vertiefen oder auch widersprechen, treten die Lesenden in diese Gesprächsdynamik ein. Die Texte berühren und bewegen ihre Gegenüber und auch diese berühren und bewegen die Texte. So werden die Beziehungsgeschichten, von denen der biblische Kanon zeugt, zu neuen Beziehungsgeschichten, die durch die lesenden und interpretierenden Gegenüber aktualisiert und anverwandelt werden.15

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„Die Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so daß keiner ihrer Teile in sich beschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offengehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, daß er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondre die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle für ihn einander erleuchten und erläutern, sich für ihn miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen … die Wiederholung lautgleicher oder lautähnlicher, wurzelgleicher oder wurzelähnlicher Wörter und Wortgefüge tritt innerhalb eines Abschnitts, innerhalb eines Buches, innerhalb eines Bücherverbands mit einer stillen, aber den hörbereiten Leser überwältigenden Kraft auf … Biblische Grundworte offenbaren ihre Sinnweite und -tiefe nicht von einer einzigen Stelle aus, die Stellen ergänzen, unterstützen einander, Kundgebung strömt dauernd zwischen ihnen, und der Leser, dem ein organisches Bibelgedächtnis zu eigen geworden ist, liest jeweils nicht den einzelnen Zusammenhang für sich, sondern als einen von der Fülle der Zusammenhänge umschlungenen.“ Buber 2012b, 194-195. Hervorhebungen d. Verf.in, sie markieren der Resonanz nahestehende Termini. Vgl. Steins: „Im gemeinsamen Lesen und Hören wird die Gegenwart als Raum des Wirkens Gottes erschlossen. … Nie geht es um Informationen über die Vergangenheit, sondern um die Konstruktion einer normativen ‚Geschichte‘ einer distinkten Gruppe, für die so alles als Werk Gottes und Ort seiner Gegenwart und seines Wirkens an dieser Gruppe und darüber hinaus an der Welt lesbar wird.“ Steins 2007, 128-129.

229 Das Bezugsfeld des Bibelgebrauchs wird durchlässig für die zwischenmenschlichen Beziehungsgefüge interpretierender Gemeinschaften, die wiederum über sich hinausweisen auf die Begegnung mit Gott, die im und durch das Wort aktualisiert werden kann.16 Der biblische Kanon generiert auf diese Weise einen Resonanzraum, einen dialogischen Beziehungsraum, in dem sich zwischen verschiedenen Texten, Genres und Kontexten und den Lesenden und Interpretierenden in allen resonanten Bezugsfeldern Affizierung wiederholen kann.17 Es ist daher naheliegend, die intertextuellen Bezüge zum Hld auf ihre erotische Affizierungsqualität hin zu untersuchen und den resonanztheoretisch formulierbaren Zugewinn, den eine vertiefend sinn- und beziehungsstiftende kanonische Lesart des Hlds darstellt, zu verdeutlichen. 2. Der biblische Kanon als Resonanzraum Der biblische Kanon generiert einen überzeitlichen und interkulturellen Resonanzraum: Er ist in der Selbst-Welt-Beziehung ein Gegenüber als TextWelt mit eigenen starken Wertungen. Der biblische Kanon propagiert an vielen Stellen, verbunden mit der Liebesbeziehung zu Gott, ein sozial verbindliches Verhalten und Handeln, das über den Textkontext hinaus ernste Anfragen an das eigene Handeln und Verhalten im Hier und Jetzt stellt, wenn der Text in der aktualisierenden Anverwandlung interpretiert wird. Der biblische Kanon vermittelt starke Wertungen und Normen, und er erzählt von Übereinstimmungen der Wertungen oder auch von Repulsionserfahrungen seiner zahlreichen Protagonisten. Dabei ist wichtig zu beachten, 16

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Ähnlich, jedoch ohne Resonanz-Schwerpunkt, formuliert Steins: „Eine kanonische Bibellektüre aktiviert die Vielfalt, ja die partielle Widersprüchlichkeit des Kanons … Im Kanon spricht die Überlieferung vielstimmig weiter. Eine kanonische Lektüre öffnet den Text, ohne ihn diffundieren zu lassen.“ Steins 2009, 10. Darüber hinaus ist die Berücksichtigung des Kanons in der Bibelauslegung „schon im Ansatz theologisch-interdisziplinär ausgerichtet - und sie ist in einem basalen Sinne kirchlich, weil sie die Zusammengehörigkeit von Kanon und Glaubensgemeinschaft als grundlegendes Merkmal des Textes im Blick behält.“ A.a.O. Eine deutliche Präferenz der synchronen Textanalyse liegt dieser Methodik zugrunde, wenngleich die Diachronie nicht gänzlich außer Acht gelassen wird, aber zugunsten der hermeneutischen Schlüssel der Resonanz und der Erotik lediglich ergänzende Funktion hat, also in den Hintergrund tritt.

230 dass nicht der Text an sich normative Funktion hat, sondern ihm diese als Zeugnis der einzigartigen Beziehung, der Begegnung des erwählten Volkes mit Gott zukommt. Der Kanon enthält daher einen normativen Beziehungsauftrag für alle zukünftigen Generationen der in jeder auslegenden Glaubensgemeinschaft aktualisiert wird.18 Das bedeutet, dass die einzigartige Beziehung, die in den biblischen Texten bezeugt ist, immer wieder neu verlebendigt und radikal relational anverwandelt werden will. Der Kanon selbst ist das Ergebnis eines sich wandelnden Beziehungsprozesses, der zu einem bestimmten Zeitpunkt als schriftlich niedergelegtes Zeugnis abgeschlossen war, aber als anhaltende Dialogizität und als Beziehungsangebot über seine geschichtliche Verfasstheit hinaus fortwährend aktualisiert werden kann.19 In Interpretationsprozessen erschließt sich die Beziehung zwischen Gott und Menschen auf vielfältige Art und Weise. Ausgehend vom Hld werden intertextuelle Bezüge zu anderen Beziehungsgeschichten in der HB deutlich, die sich über den Kanon erstrecken und ihn so zu einem „Spielraum der Kontextualisierungsmöglichkeiten“20 werden lassen. In diesem durch den Kanon konstituierten Resonanzraum, in dem Texte untereinander und mit den Interpretierenden dialogisieren, geschieht die Aktualisierung und die Stabilisierung der resonanten Bezugsfelder. Aktualisierte und stabile resonante Bezugsfelder werden nicht zuletzt durch eine erotisch affizierte Zugewandtheit, die Interpretierende durch das Lesen oder Hören des Hlds erfahren, ermöglicht. Die maximale Öffnung für die Präsenz des geliebten Gegenübers im Hld, und die erotisch evozierte maximale Öffnung der Lesenden für den Text, eröffnen durch den geweiteten Blick und das geöffnete Herz eine Begegnung mit dem anderen als ganz Anderem. Gott gerät als Flamme der Leidenschaft in den Blick, als Schöpfungskraft, als personales Beziehungsgegenüber. Durch die Liebenden des Hlds wird diese weitere Liebesbeziehung erkennbar. Sie scheint hinter den gemeinsamen Liebesbewegungen der Liebenden auf und wirft ihr Licht auf weitere Aspekte der Liebe in den kanonischen Texten. Es geht daher nicht um eine Rollenverteilung im Sinne einer allegorischen Auslegung, die das Volk mit der Geliebten und Gott mit dem Geliebten identi18

19 20

Childs 1978, 47. Vgl. auch Steins 2007, 119–120. Steins spricht von einem „Raum der Gottesbegegnung“ (Steins 2007, 121), den der Kanon über Zeit und Historie hinweg aufspannt. Müllner 2007, 83.

231 fiziert (wenngleich dies prinzipiell als Zugang zum Text seine Berechtigung hat), sondern um die Zusammenschau der Liebesbewegungen der/des Geliebten, die auf die Art hinweisen, wie Gott liebt.21 Gottes Liebe ruft und zieht die Menschen biblisch bezeugt zu sich. Sie erotisiert die gesamte Selbst-Weltbeziehung und affiziert die Angerufenen, die mit ihrer Antwort in einen Transformationsprozess eintreten, der Welterleben und Welthaltung verändert. In dieser Resonanzerfahrung geht es jedoch nicht einfach um eine formelhafte Entsprechung. Gottes Liebe ist nicht gleich Menschenliebe und Menschenliebe ist nicht gleich göttliche Liebe. Vielmehr evoziert die Gesamtheit der Liebesdynamiken im Hld zwischen der Geliebten und ihrem Geliebten, zwischen der Schöpfung und den Geschöpfen, zwischen den Dingen und den Tieren einen facettenreichen Beziehungsmodus, der in den intertextuellen Bezügen im kanonischen Resonanzraum weiterklingt. Um diese Klänge für die Analyse zu systematisieren, wurden Kriterien zur Auswahl der intertextuellen Bezüge formuliert. Dazu wurden die Ergebnisse der intertextuellen Recherche einer Prüfung unterzogen, in der anhand dreier signifikanter Kriterien über ihre Auswahl entschieden wurde. Von den drei signifikanten Kriterien mussten die Textverweise mindestens zwei erfüllen, um in die Auswahl aufgenommen zu werden. Diese Kriterien werden im folgenden Kapitel vorgestellt. 3. Signifikante Kriterien für die kanonische Lesart In der neu aufgelegten Ausgabe der EÜ finden sich für das Hld insgesamt einhundertachtzehn intertextuelle Bezüge.22 Die EÜ geht bei den intertextuellen Bezügen über den Kanon der HB hinaus und orientiert sich am Kanon wie ihn die römisch-katholische Kirche im Rekurs auf die Vulgata im

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22

Vgl. zu dieser Einschätzung auch Miskotte 1995, 271–273; Buber 2012a, 38; Rosenzweig 2018, 181-183. Rosa nennt „das wechselseitige Verliebtsein“ ein „komplexes und vielschichtiges Resonanzgeschehen.“ Rosa 2018a, 261. Tabellarischer Überblick in Appendix VII.1. Die Bibel 2017 (E-Book Ausgabe). Die EÜ wurde ausgewählt, weil sie die meisten intertextuellen Bezüge im Hld auflistet. Die Angaben, die sich auf Verweise innerhalb des Hlds beziehen, wurden nicht mitgezählt. Vgl. zu kanonischen Lesarten des Hlds auch Clarke 2013; Steinberg 2013; Strollo 2017.

232 16. Jh. festgelegt hat.23 Neunundsechzig Verse des Hlds in der EÜ verblieben ohne Verweise zu anderen Texten des Kanons. Bei der Abgleichung mit den von mir erhobenen intertextuellen Bezügen im Hld gab es von einhundertachtzehn Bezügen in der EÜ achtundzwanzig Übereinstimmungen mit meiner Aufstellung.24 Die Recherche verdeutlichte, dass prinzipiell zu jedem Wort im Hld Bezüge zu anderen Texten der HB zu finden sind, die Hapaxlegomena selbstredend ausgenommen. Daher mussten Kriterien entwickelt werden, die aus der Fülle der Bezüge diejenigen herausfiltern konnten, die für die in dieser Arbeit vorgeschlagene kanonische Lesart relevant sind. Die Bezüge sollten nicht allein auf ihre lexemische25 Übereinstimmung hin überprüft werden, sondern auch auf ihre thematischen/inhaltlichen Schwerpunkte. Dementsprechend wurden Kriterien festgelegt, die ein intertextueller Bezug aufweisen musste, um in die Auswahl aufgenommen zu werden.26 Die drei Kriterien für die intertextuelle, kanonische Lesart sind im Bereich Sprache, Thema/Inhalt und Metaphorik angesiedelt: 1) Lexemische Übereinstimmung Eine lexemische Übereinstimmung der Worte oder Wortkombinationen (auch Wurzel, Beugung oder Suffigierung) muss zwischen dem Hld und dem ausgewählten intertextuellen Bezug vorliegen (begründete Ausnahmen gibt es dort, wo 2) und/oder 3) stärker gewichtet sind). 2) Thematischer/inhaltlicher Schwerpunkt Eine Behandlung von Themen oder Inhalten aus den Bereichen Liebe, Leidenschaft (Eifersucht), Enttäuschung oder Repulsion im 23

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Vgl. Schöpflin 2007; für einen Gesamtüberblick zur christlichen Kanon-Entwicklungsgeschichte s. Seckler 2000, 37ff. Gen 2-3; 38,18; Ex 3,8; 2 Sam 13; Jes 5,1.7; 7,23; 35,2; 43,1-2; 62,6; Ez 16,7-14; 27,1011; Hos 14,6.8; Ps 19,11; 45,8; Spr 5,16; 7,17. Die anderen intertextuellen Bezüge der EÜ stimmten mit ihren lexemischen, inhaltlichen und motivischen Gewichtungen nicht mit den in dieser Arbeit verwendeten Kriterien überein. Laut DWDS ist das Lexem, eine „sprachliche Einheit, die Träger einer begrifflichen Bedeutung ist; Bestandteil des Wortschatzes einer Sprache bzw. des (mentalen) Lexikons.“ DWDS - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2021b. Die Feststellung inhaltlicher Bezüge kann das subjektive Element in der Auswahl nicht vermeiden. Das Ergebnis hängt notwendigerweise vom Hintergrund der Verfasserin ab, ist selektiv und stellt sich daher ohne Anspruch auf Vollständigkeit zur Diskussion. Die Bestimmung der drei signifikanten Kriterien soll möglicher Kritik in Richtung Willkür und bloßer Konkordanz-Recherche mit Substanz begegnen.

233 Beziehungsgeschehen in zwischenmenschlichen oder Gott-Menschen-Beziehungen sollte vorliegen. 3) Optional: Motive oder Metaphern Eine Übereinstimmung von Motiven oder Metaphern aus Flora und Fauna, aus den Bereichen Materialien, Bauwerke, Arbeit, Ämter usf. kann den intertextuellen Bezügen mit dem Hld gemein sein. Aus der Recherche ergaben sich insgesamt 386 intertextuelle Bezüge. Sie wurden aufgrund der Übereinstimmung mit den signifikanten Kriterien der kanonischen Lesart in die Auswahl aufgenommen.27 Die Ergebnisse der Recherche lassen sich in einer Übersichtstabelle wie folgt darstellen: Hebräische Bibel Tora Genesis (40) Exodus (39) Levitikus (6) Numeri (7) Deuteronomium (12) Vordere Propheten Josua (1) Richter 1 Samuel (3) 2 Samuel (10) 1 Könige (30) 2 Könige (1) Hintere Propheten Jesaja (87)

27

Intertextueller Bezug zum Hld 2,8-10; 3,16.21; 4,7; 6,15; 12,1; 15,10; 22,2; 24,3.7.9.23.25.37.53; 30,14-16; 31,21.38.41.43; 32,3.9; 37,23; 38,12-18.23.27.28; 43,24; 48,13-14 3,8; 14,17-18.22.29; 15,19; 17,11.13; 25,4.10.23; 26,1.31.36; 27,1.10-12; 28,5-6.8.15.33.34; 29,1.3-4; 30,23.34-36; 32,27; 35,2526; 37,25; 38,1.23; 39,25.26 20,24; 26,1.4-5.10-11 1,52; 3,36; 4,13; 13,23.24; 14,8; 32,26 4,24; 6,3; 7,8-9; 11,13; 16,22; 18,15.18; 26,9; 34,1-2.4 5,6 16,7; 18,3; 20,17 1,26; 6,19; 13,1-2.6-8.10; 14,25.27 5,1-4; 6,2.10.20.23; 7,18.19.20.23.27.42; 10,1-5.10.18.21.23-28; 18,19-20 25,17 1,5-6; 2,3-4.13-15.19-21; 3,23; 5,1.7; 6,8; 7,23; 9,12; 11,6-9; 12,3; 13,8; 16,11; 21,3; 25,9; 26,7-9.11; 29,13.24; 32,18; 35,1-2.6; 40,34.11.14.18.25; 41,18.20; 43,2; 44,3; 45,8; 46,5; 47,2; 48,1718.20.22; 50,2.19; 51,3-4.9.17; 52,1-3; 53,2.6-7; 54,2.3.6-8.10; 55,1.12; 58,9.11; 60,15-16; 62,3-6; 63,15; 65,1.24; 66,4.10-12

Die Intertext-Suche für diese Arbeit wurde mit Accordance Software im Text der BHS in der 5. verb. Aufl. von 1997 durchgeführt. Es werden Einzelverse gezählt ohne Mehrfachnennung im selben Vers und ohne doppelte Vorkommen. In Appendix VII.2. liegt eine ausführliche Tabelle der 386 intertextuellen Bezüge zum Hld vor. Der intertextuelle Bezug aus dem Appendix VII.2. wird im Weiteren durch die Anführung der Beispielnummer kenntlich gemacht und der Nennung der Bibelverse beigefügt.

234 Jeremia (16) Ezechiel (21) Hosea (3) Joël (9) Amos/Obadja/Jona Micha (1) Habakuk (1) Zefanja (1) Haggai (3) Nahum/Sacharja/Maleachi Schriften Psalmen (42) Iiob (1) Sprüche (14) Rut (3) Kohelet (7) Klagelieder (1) Ester (3) Daniel (1) Esra/Nehemia 1 Chronik (4) 2 Chronik (19)

4,19; 7,13; 8,7; 11,5; 29,12-13; 31,3-5.20.22.34; 33,3; 35,17; 48,28; 52,22 13,4-5; (16,3-15); 19,10-11; 20,6; 27,5-7.10-12.17-18; 28,13; 33,11; 34,11.14-15; 36,5; 37,26-27 11,4; 14,6.8 1,12; 2,3.16.21-23; 3,2-3; 4,18 6,1 2,1 1,18 2,21-23

3,1.3.4.6; 8,2-3; 19,6.9.11.15; 20,6; 31,8; 45,4.8-9; 48,13; 61,4; 74,17.19; 78,65.68-71; 79,5; 80,8-12; 87,2; 91,5.9a; 104,1-2; 113,8; 118,24; 121,5; 125,2; 139,7.8.10 31,34 3,7-10; 4,20; 5,15-19; 7,17; 18,10; 25,11-12 1,16; 3,7.13 2,4-10 4,7 1,9; 2,12.17 1,4 16,3; 29,23-25 2,7.13; 3,14.16; 4,1-2.5; 6,13; 7,1.3; 9,1; 11,11.16.21.23; 31,5-6.8; 32,5

Tabelle 8: Übersicht der intertextuellen Bezüge zum Hohelied

Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass es Häufungen intertextueller Bezüge in ausgewählten Büchern der HB gibt. Innerhalb der Tora sind intertextuelle Bezüge zum Hld in allen fünf Büchern zu belegen, gleichwohl gibt es eine Reihenfolge in ihrer Häufigkeit. Die meisten Bezüge finden sich im Buch Genesis (vierzig), dicht gefolgt von Exodus (neununddreißig). In den Büchern Deuteronomium (zwölf) und Numeri (sieben) finden sich weniger Bezüge, die wenigstens im Buch Levitikus (sechs). Diese Reihenfolge verstärkt den Eindruck, dass es bei den intertextuellen Bezügen vor allem um die Beziehungsgeschichte Israels mit Gott geht. Allen voran um die Erzeltern- und die Befreiungserzählungen. Die Bezüge zum (Liebes)Leben der Erzeltern und die Anfänge der göttlich-menschlichen Liebesbeziehung, ausgehend von Eva und Adam über Sara und Abraham über Rebekka und Isaak bis zu Lea, Rahel und Jakob, stehen in intertextueller Verbindung zum Hld. Dicht gefolgt von den Erzählungen über den Auszug Israels aus Ägypten, der Teilung des Schilfmeeres, den Bund

235 am Sinai sowie die Anweisungen und Ausführungen zu den Bauarbeiten am Zelt der Begegnung, und die feierliche Einweihung des Zeltheiligtums sowie die Salbung seiner Priester. Der Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk, auf den das Hld mit seiner Wortwahl verweist, nimmt die meisten Textstellen im Buch Deuteronomium ein. Die Bezüge zu den Vorderen Propheten scheinen zahlenmäßig auf den ersten Blick weniger ins Gewicht zu fallen. Wo es um David und v.a. Salomo geht ist die Verbindung zum Hld durch deren namentliche Nennung offensichtlich. Im Kontext der Psalmen, die zweiundvierzig intertextuelle Bezüge zum Hld bieten, kommt jedoch v.a. Gottes Hoheit und Macht in den Blick. Thematisch geht es einerseits um das (göttliche) Königtum, das in den Psalmen häufig besungen wird und andererseits um die facettenreiche Beziehungsgeschichte, die sich in den Psalmen zwischen Gott und Einzelnen oder seinem Volk in poetischer Form niederschlägt. Dabei wird häufig der Exodus aufgegriffen und Gottes Leidenschaft, Fürsorge, Schutz und Zuwendung verkündet. Quer durch alle Bezugstexte hindurch finden sich auch immer wieder Verweise auf Störungen in der Liebesbeziehung zwischen Menschen und zwischen Gott und Volk. Durch die Kontextualisierung der Hld Verse mit anderen Begebenheiten aus der HB wird deutlich, wie Kommunikationsstörungen, fehlgeleitete Leidenschaft und Beziehungsabbruch, Liebesverhältnisse gefährden und zerstören können.28 In diesem Kontext wird Gott häufig in den Mittelpunkt gerückt, und wie er an der misslingenden Beziehung zu den Menschen leidet. Gottes Beziehungsleiden wird mittels Repulsionserfahrungen und verstummender Resonanz beschrieben und überrascht in seiner Intensität. Ist es erst einmal zum Bruch gekommen, dann geraten leidenschaftlich-aufgebrachte, klagevolle Aspekte des göttlichen Beziehungsleidens in den Blick, die sich häufig im Buch des Propheten Jesaja, aber auch in anderen Prophetenbüchern finden lassen. Daneben werden auch andere misslingende zwischenmenschliche Beziehungen durch die Wortwahl im Hld angedeutet. Dort geht es um fehlgeleitete Leidenschaft und ihre verheerenden Konsequenzen (vgl. 2 Sam 13, Bsp. 32.1) oder um enttäuschte Erwartungen, aus denen dennoch Gutes ent28

Vgl. hierzu v.a. die intertextuellen Bezüge zu den Propheten Jeremia, Ezechiel und Hosea.

236 steht (vgl. Gen 38, Bsp. 26.2, 27.1, 54.1). Es geht auch um Eifersucht und Bedrückung, die sich nicht zuletzt aufgrund ungerechter Gesellschaftsstrukturen negativ auf Beziehungen auswirken und für allerlei Beziehungsstörungen sorgen (vgl. Gen 30, Bsp. 52.6). Auf der anderen Seite werden aber auch heilstiftende Beziehungsaspekte in der Analyse sichtbar. Wo es um die Wiederherstellung von Beziehung geht, um Entwicklungs- und Wandlungsprozesse, da wird Gottes Leidenschaft erneut sichtbar und führt von der Überwindung des Beziehungsleidens zu erneuerten Beziehungen und frohmachender Aussicht auf zukünftige neue Lebendigkeit, die einmal mehr die häufigsten Bezüge zum Buch des Propheten Jesaja ausmachen. So sind Beziehungsleiden und Wiederherstellung von Beziehung ähnlich häufig Thema der Verkündigung beim Propheten Jesaja, dem biblischen Buch, das mit Abstand die meisten intertextuellen Bezüge zum Hld aufweist. Da eine Abarbeitung aller 386 intertextuellen Bezüge an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, soll zumindest eine Auswahl vorgestellt werden, die die eben genannten, grundlegenden thematischen Schwerpunkte der intertextuellen Bezüge zum Hld hervorhebt und resonanztheoretisch analysiert. Wie bereits dargelegt geht es im Kanon als Resonanzraum um Beziehungen. Beziehungen zwischen Menschen und Gott. Es geht daher um Leidenschaft, Beziehungsleiden und Wiederherstellung von Beziehung. Diese Aspekte werden mit der resonanztheoretischen Analyse kombiniert. Auf diese Weise kommt Leidenschaft als erotische Affizierung in den Blick und das Beziehungsleiden wird als Repulsionserfahrung beschreibbar. Wiederherstellung von Beziehung und die darin enthaltenen heilstiftenden Aspekte werden als Transformationsprozesse greifbar. Die ausgewählten Beispiele stellen den Hld Vers in Verbindung mit dem intertextuellen Bezug vor. Die erotischen und resonanztheoretischen Qualitäten, die sich dadurch ergeben, werden dargestellt. Auf diese Weise kann eine tastende Begehung des kanonischen Beziehungsraumes erfolgen, die die Untersuchung der Resonanzverhältnisse des Hlds abschließt.

237 4. Leidenschaft als erotische Affizierung Die intertextuellen Bezüge in diesem Kapitel umfassen verschiedene Ausdrucksformen der Leidenschaft,29 wie Liebesbekundungen, Treue, Erwählung, Fürsorge, Freiheit, Rettung, Erbarmen und Segen.30 Wie die intertextuellen Bezüge durch die Hld Verse kontextualisiert werden, und wie sich das Verständnis von Leidenschaft dadurch vertieft, soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Die Auswahl der Beispiele erfolgte einerseits nach ihrer Aussagekraft und andererseits sollte eine Bandbreite der oben genannten Aspekte der Leidenschaft vorgestellt werden. Wie im Hld selbst, soll auch in dieser Analyse mit den Liebesbekundungen begonnen werden. Das Hld verbalisiert zuerst die Sehnsucht nach den Küssen des Geliebten (Hld 1,2). So sind die Lesenden direkt in eine Atmosphäre erotischer Affizierung versetzt. Und weiter heißt es: „Für den Geruch sind deine Salböle angenehm, Salböl ausgegossen ist dein Name, deshalb liebten dich junge Frauen.“ (Hld 1,3). Die erotische Affizierung beginnt in einer Duftatmosphäre fluider Substanzen, die im Verlauf noch häufiger aufgegriffen wird (vgl. Kapitel III.1.1.1.), und führt die Lesenden tiefer hinein in einen Kontext leidenschaftlicher und wohl auch ehrfürchtig machender Beziehungsaussagen. Die Qualitäten des Geliebten scheinen nicht nur überaus angenehm zu sein, sondern auch im Kontext königlichsalbungsvoller Hoheit eine Attraktion zu verströmen, der sich erotisch affizierte junge Frauen nicht entziehen können. Sie beantworten diese Attraktion mit liebender Zuwendung. Eine weitere Form zwischenmenschlicher Liebe in königlichem Umfeld begegnet in den intertextuellen Bezügen aus den Büchern Samuel. Salomos Vater, David, kommt im Kontext der Liebesbekundungen in Verbindung mit Jonatan, dem Sohn des allerersten Königs Saul, in den Blick. Sauls Eifersucht bringt David in Todesgefahr. Sauls Sohn Jonatan hingegen liebt David, bewahrt ihn vor den Mordabsichten seines Vaters und ermöglicht ihm das (Über)Leben. In 1 Sam 18,3 (Bsp. 2.3) heißt es: „Und es schlossen

29

30

Für diese Arbeit bedeutet Leidenschaft „überaus heftige Zuneigung, Liebe zu jmdm., Begierde.“ In: DWDS - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache 2021a. Vgl. Appendix VII.2., Bsp.: 2.2; 2.6; 4.2; 6.1; 6.2; 13.2; 14.1; 17.1; 23.8; 39.1; 47.2; 50.2; 52.6; 52.7; 54.3; 54.5.

238 Jonatan und David einen Bund, bei seiner Liebe zu ihm wie sein Leben.“31 An anderer Stelle wird dieser Liebesbund erneuert (1 Sam 20,17; Bsp. 2.4): „Und wiederum ließ Jonatan David schwören bei seiner Liebe zu ihm, wie die Liebe (zu) seinem Leben liebte er ihn.“32 Dieser Liebesbund trägt auch über den Tod hinaus zur Verbundenheit der Familien untereinander bei und garantiert fortgesetzte Fürsorge für die Familie des zuerst Verstorbenen (vgl. 1 Sam 20,14-15). In der weiteren Erzählung verstirbt Jonatan und wird von David mit einem ergreifenden Klagelied betrauert (2 Sam 1,26; Bsp. 2.5): „Zutiefst betroffen bin ich über dich, mein Bruder Jonatan, wunderbar bist du für mich, über die Maßen. Außergewöhnlich war deine Liebe für mich, von der Liebe der Frauen.“33 Der Tod Jonatans verpflichtet David auf die fortgesetzte Ermöglichung des Lebens seiner hinterbliebenen Familie und perpetuiert auf diese Weise die liebende Verbundenheit der beiden Männer in Hinblick auf die nachfolgenden Generationen.34 Als Vorbild, für diesen auf Treue und zukünftige Verpflichtung hin angelegten Liebesbund zwischen Jonatan und David, kann die Schilderung der gegenseitigen Liebe gelten, die sich bei der Suche nach weiteren intertextuellen Bezügen zum Wort lieben in Dtn finden lässt.35 Gott zu lieben und 31

32 33 34 35

Übersetzung der Verfasserin. Übersetzung der Verfasserin. Übersetzung der Verfasserin. Vgl. mit anderer Akzentuierung und Deutung die Ausführungen bei Fischer 2021a, 73– 76. Insgesamt zweiundzwanzigmal. Das Gebot, Gott zu lieben, findet sich achtmal: Dtn 6,5; 11,1.13.22; 19,9; 30,6.16.20; (auch in Jos 22,5; 23,11). Gott liebt das Volk, die Väter und die Fremdlinge Dtn 4,37; 7,8.13; 10,15.18; 23,6, daher soll auch das Volk Fremdlinge lieben Dtn 10,19 und Gott Dtn 5,10; 7,9; 10,12; 13,4. In Dtn 15,16 geht es um die Liebe eines Sklaven zu seinem Herrn und in Dtn 21,15-16 um die Liebe bzw. NichtLiebe in Polygamie. Das Gebot, Gott zu lieben, kann sein Vorbild auch in altorientalischen Vasallenverträgen haben. Hier geht es weniger um Emotion als um Gehorsam, daher können die betreffenden Dtn-Texte auch als völlig unromantische „covenantal vassal-overloard relationship“ (NIDOTTE, Vol. 1, 287) gelesen werden. Fischer schreibt dazu: „Wenn Israel dieses Gerüst eines völkerrechtlichen Vertragswerks mit dem Buch Deuteronomium übernimmt, aber als Bund zwischen Gott und Volk adaptiert, … so war dies ursprünglich als subversiver Text einer Befreiungstheologie gedacht: Nicht mehr der imperiale Traumaverursacher, dem man unterlegen ist, und der seither permanent mit dem Einmarsch seiner hochgerüsteten Armee droht, gewährt das Leben im Land zu seinen Bedingungen, sondern die Gottheit Israels mit ihrer Rettungsgeschichte gibt ihre Gesetze für ein gedeihliches Miteinander beim Leben im Land. Zu beachten sind daher die Gottesgesetze, die allein Israels Freiheit gewährleisten.“ Fischer 2020b, 128.

239 Gottes Liebe zum Volk thematisieren die Erwählung aus Liebe und die Responsivität, die sich aus dieser liebenden Erwählung ergibt. In Dtn 7,6-9 (Bsp. 2.2) heißt es: 6

Denn ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott; dich erwählte JHWH, dein Gott, zu sein für ihn zum Eigentumsvolk von allen Völkern, die auf der Erde sind. 7Nicht weil ihr zahlreich seid von allen Völkern, hängt JHWH an euch, und hat euch erwählt, denn du bist das kleinste von allen Völkern, 8sondern weil JHWH euch liebt und weil er den Eid bewahrt, den er euren Vätern geschworen hat; JHWH hat euch herausgeführt an der starken Hand und er hat dich erlöst aus dem Haus der Knechtschaft aus der Hand Pharaos, dem König von Ägypten. 9Und wisse, dass JHWH dein Gott ist, er ist Gott, der Gott der Treue, der Bewahrer des Bundes und der Güte, für die, die ihn lieben und seine Gebote bewahren für tausend Generationen.36

Das Volk Israel ist einzigartig für JHWH. JHWH hat es erwählt, sich ihm in Liebe zugewandt. In einem Bund hat sich JHWH dem Volk in Treue verpflichtet. JHWH befreit nicht nur und liebt das Volk, sondern JHWH ist auch gütig und barmherzig und nimmt sich derer an, die am nötigsten Hilfe brauchen. Daneben gibt es Treue und eine in die Zukunft reichende Verpflichtung, die nie endend erscheint (tausend Generationen als Hinweis auf prinzipiell unendliche Beziehungstreue). Diese Bundestreue reicht von der Vergangenheit bis in diese unendliche Zukunft und enthält ein identitätsstiftendes Moment. Das Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Israel gründet sich nicht auf eine emotionale Form der Liebe, sondern auf wechselseitige Treue.37 Es ist die liebevolle Treue Gottes, die das Volk Israel nach dem Zeugnis des Dtn als solches überhaupt generiert. Gottes Erwählung aus Liebe, Gottes Gebote, und Gottes Güte und Treue, sind die Grundpfeiler des Beziehungsverhältnisses zu Israel. Indem Gott das Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit und eine Liebesbeziehung mit ihm aufgerichtet hat, stellen alle bisherigen Beziehungsformen, wie bspw. unterdrückende Herrschaftsverhältnisse, keine Option mehr dar.38 Allerdings kommt auch Gottes leben36

37 38

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. hierzu Cohen 1991, 6. Vgl. dazu Assmann 2015, 254–255.

240 dige Autorität mit einem Anspruch daher. Sie beansprucht, allein den Weg zum guten und sozial gerechten Leben zu vermitteln und stellt das angerufene Gegenüber vor die Wahl. Freie Wahl bedeutet aber auch Freiheit zur Repulsion. Gottes Liebeserwählung Israels, des kleinsten aller Völker (Dtn 7,7), ist als Beziehungsangebot auf die Erwiderung der Liebe angewiesen. Gottes Liebesangebot in Dtn ist ein Lebensangebot, denn es geht einher mit der Erwiderung der liebenden Zuneigung, die sich in der Anerkennung und Einhaltung der göttlichen Gebote äußert und die lebendige Autorität dahinter anerkennt. Die Gebote verkörpern die schlechthin wichtigen, starken Wertungen der Gemeinschaft. In der maximal geöffneten Zugewandtheit zu Gott werden die lebensermöglichenden und beziehungsstiftenden Dynamiken der göttlichen Gebotsvorgabe radikal-relational deutlich. Gottes liebende Erwählung hat bleibende Gültigkeit, aber die Erwiderung dieser Liebe ist von Generation zu Generation zu erneuern. Sie bleibt ein normativer Beziehungsauftrag, den es immer wieder neu zu realisieren, dialogisch anzuverwandeln gilt. Die Übereinstimmung mit den starken Wertungen muss in jeder Generation neu verhandelt werden. Stimmen sie mit den schwachen Wertungen jeder/s Einzelnen überein, fördert das ihre Selbstwirksamkeitserwartung und steigert die Chance auf resonante Weltbeziehungen in stabilen resonanten Bezugsfeldern. Diese Weltbeziehungen werden nach biblischem Zeugnis durch fortgesetzten Dialog realisiert, der ähnliche Verhaltensweisen aufweist, die Menschen für ihre liebende Zuneigungsbekundung wählen. So heißt es bei Hos 11,4 (Bsp. 2.6): „Mit menschlichen Seilen zog ich sie, mit Banden der Liebe, und ich war für sie wie einer, der die Backen der Kinder emporhebt, und ich streckte mich aus nach ihnen und gab ihnen zu essen.“39 Eine die Grundbedürfnisse stillende Zuwendung ist an diesem Bild zärtlichen Entgegenkommens abzulesen. Wie eine Mutter (oder ein Vater) ihren Kindern zu essen gibt und damit ihr (Über)Leben sichert, sich nach ihnen ausstreckt und ihnen Gutes tut, so handelt auch Gott am Volk. Diese Bande der Liebe enthalten verschiedene Aspekte liebender Zuwendung. Fürsorge ist nur eine Facette einer leidenschaftlichen Verbundenheit neben Treue, Stabilität, Verbindlichkeit und Güte, die Beziehungsleben ermöglichen. Und zu dieser Ermöglichung von Beziehung gehört wesentlich die Freiheit. 39

Übersetzung der Verfasserin.

241 Liebe kann nicht erzwungen werden, sie kann nur freiwillig geschenkt und nicht als eine zu empfindende Emotion geboten werden. So wie Gott in Freiheit das Volk erwählt und ihm leidenschaftliche Zuneigung und Fürsorge entgegenbringt, so muss auch das Volk in Freiheit entscheiden können, ob es diese Liebe erwidert. Diese Freiheit ist aber nur da zu erreichen, wo wirkliche Freiheit im Lebensvollzug herrscht. Daher ist die Exodus-Erzählung fundamental wichtig, weil sie die Voraussetzungen der freien Antwort auf Gottes Liebesangebot ermöglicht. Erst dort, wo das Volk frei ist von unterdrückenden und ausbeuterischen Herrschaftsverhältnissen, kann eine in Freiheit begründete gegenseitige (Liebes)Beziehung entstehen.40 Dass auch im Hld Motive der Exodus-Erzählung aufgegriffen sind, wird an Hld 1,9 deutlich.41 Im Vergleich der Geliebten mit einer Stute an Pharaos Wagen wird lexemisch, motivisch und metaphorisch die rettende Befreiungstat Gottes am Schilfmeer evoziert. In Ex 15,19 (Bsp. 6.2), dem Loblied Moses, heißt es: „Denn es kam Pharaos Pferd mit seinem Wagen und mit seinen Reitern ans Meer und JHWH brachte zurück über sie das Wasser des Meeres, aber die Kinder Israel gingen auf dem Trockenen mitten durch das Meer.“42 Die Exodus-Erzählung ist eine Erzählung, die für das Volk Israel in seiner Beziehung zu JHWH, seinem Gott, identitätsstiftende Bedeutung hat.43 Bei jedem Pessach Fest, das in der Synagoge einer bestimmten Liturgie folgt, werden auch Passagen aus dem Hld verlesen (vgl. Kapitel I.2.2.).44 Die Exodus-Erzählung wird beim gemeinsamen Mahl am Sederabend zu Pessach in jüdischen Familien aktualisiert. Die Bestandteile des Mahls sollen allesamt an die Zeit der Sklaverei in Ägypten erinnern und an die Vorbereitungen zum Auszug an dem Abend, an dem die zehnte Plage vollstreckt wurde, die Tötung aller Erstgeborenen im Land. Die Israeliten wurden von dieser Plage verschont, indem sie das Blut eines geschlachteten 40

41 42

43 44

Vgl. Kessler 2017, 155f. Vgl. auch Appendix VII.2., Bsp. 6.1; 13.2; (24.1); 56.5. Übersetzung der Verfasserin. Im Targum zum Hohelied (aramäische Übersetzung und Auslegung des Hlds) werden zehn Lieder der HB aufgeführt. Das Loblied Moses wird als zweites, das Hld als neuntes genannt. Gollancz 1908, 15; 17. Müllner 2013, 64. Das Hld ist eine der fünf Festrollen (Megilloth). Zur Pessach Liturgie und ungefähren Zeitangabe, seit wann sie in der Synagoge verwendet wurde, vgl. Hopf 2018, 140; Damohorská 2019, 246; 256. Vgl. auch Müllner 2013, 86.

242 Lammes an ihren Türpfosten aufbrachten und die so gekennzeichneten Häuser „übersprungen“ wurden (pāsaḥ; Ex 12,13).45 Bis heute stellen die Kinder in jüdischen Familien beim gemeinsamen Pessach-Mahl Fragen, die in Ex 12,26 und 13,14 bereits vorgezeichnet sind.46 Durch dieses Ritual aktualisieren jede Jüdin und jeder Jude zu Pessach die Verbundenheit mit dem eigenen Volk, dessen identitätsstiftender Auszugserzählung und der von Gott gewirkten Rettung. In dialogischer Anverwandlung des biblischen Textes und in der Durchführung der Rituale, kann so das Pessach Fest als Aktualisierung des normativen Beziehungsauftrags verstanden werden, welche alle resonanten Bezugsfelder stabilisiert. Während in der Exodus-Erzählung die Israeliten trockenen Fußes durch das Schilfmeer gingen, gibt es aber auch Lebensumstände, die nicht von solchen Wundern geprägt sind. Ps 66,12 weiß zu berichten, dass es Situationen im Leben geben kann, wo durch Feuer und Wasser hindurchgegangen werden muss, wenngleich auch hier die Erfahrung der Rettung durch Gott nicht ausbleibt. Im Kontext strömender Wassermassen und Feuersbrunst lässt sich dazu auch Hld 8,6-7a in Verbindung mit Jes 43,2-3 (Bsp. 54.5) als Zeugnis leidenschaftlicher Zuneigung Gottes lesen. Fast gleichlautend heißt es im Hld und bei Jes: 6

Setz mich als ein Siegel auf dein Herz, als ein Siegel auf deinen Arm, weil stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie Scheol ist Leidenschaft, ihre Flammen sind Feuerflammen, eine Flamme Jahs. 7 Große Wasser, sie vermögen die Liebe nicht zu löschen, und Ströme überfluten sie nicht. 2

Wenn du durchs Wasser gehst – mit dir bin ich, und in Strömen – sie überfluten dich nicht. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen und die Flamme wird dich nicht verzehren. 3Denn ich bin JHWH, dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser.47

Das Hld beschreibt die Liebe, die sich in ihrer Leidenschaft als Feuerflamme JHWHs entpuppt und auch die stärksten Fluten überdauert. Nahezu gleichlautend entspricht diese Art der Liebe auch der Beziehung Gottes zu Israel bei Jesaja. Israel ist das geliebte Gegenüber, und die Beziehung zwi45

46 47

Die Pessach Liturgie ist umfassend aufbereitet auf https://www.hagalil.com/pessach/ Müllner 2013, 79ff. Übersetzung der Verfasserin.

243 schen Gott und Volk ist die Liebe. Weil Gott liebt, ist Leben möglich. Die Liebe in dieser Beziehung kann von nichts überwältigt, ausgelöscht oder aufgelöst werden. Die Stürme des Lebens werden kommen, Fluten werden hereinbrechen und zu überwältigen drohen, aber in der Beziehung zwischen Menschen und Gott, im Wirkungsbereich der liebenden Fürsorge Gottes, warten nicht Ertrinken und Verbrennen, sondern Rettung und Erlösung. Diese liebende Zugewandtheit gilt nicht nur Israel, sondern, vermittelt durch den Bund Gottes mit Abraham, allen Völkern, die Gott mit Segen und Beziehungsangeboten bedacht und angerufen hat. So werden auch heutige Interpretationsgemeinschaften in dieses leidenschaftliche Erlösungswerk mit hineingenommen.48 Doch Gott verfügt laut den Propheten auch über einen Wesenszug, der als Flamme der Leidenschaft einen zerstörerischen Aspekt in die Beziehungsgestaltung mit hineinbringt. Gott will für Israel einzig sein. Es soll mit keiner anderen Gottheit eine liebende Beziehung eingehen, es soll sein Herz nicht an andere verschenken. Die Exklusivität der Liebesbeziehung wird auch im Hld an verschiedenen Stellen deutlich, bspw. wo die Geliebte über ihren Geliebten sagt: „Mein Geliebter ist blendend und rötlich, herausragend unter Zehntausend“ (Hld 5,10) oder „wie ein Apfelbaum zwischen Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter zwischen den Söhnen“ (Hld 2,3). Oder wo der Geliebte über seine Geliebte sagt: „Wie Lotos zwischen den Dornen, so ist meine Liebste zwischen den Töchtern“ (Hld 2,2) oder: „eine ist sie, meine Taube, meine Makellose“ (Hld 6,9). Dennoch, wie bereits in Kapitel III.2.2.1. beschrieben, wohnt der Exklusivität auch ein inklusives Moment inne, weil die Liebenden nicht nur für sich allein leben, sondern in sozialen Kontexten, die die radikal-relationistische Selbst-Welt-Beziehung auch in der intimen Liebesbeziehung nicht völlig ausklammert. So wie Gott zwar Israel erwählt hat, aber letztlich alle Menschen zu sich ziehen will, so sind auch die Liebenden des Hlds nie nur ausschließlich an Beziehung zueinander interessiert, sondern haben auch ihren sozialen Kontext und ihre Lebensumwelt im Kontext ihrer Liebesbeziehung im Blick, mal affirmierend und mal kritisch hinterfragend.49 48

49

Vgl. Kessler 2017, 124f.; 259f. Das Gebot der Fremdenliebe ist in diesem Kontext ebenfalls zu nennen (Lev 19,33-34) und vgl. auch das Buch Rut, die Erzählung über eine Fremde, die zur Ahnfrau König Davids wird. Vgl. zur konstellativen Anthropologie auch Müllner 2013, 83–84.

244 Die erotische Affizierung, die vom Liebeswerben Gottes um sein geliebtes Volk ausgeht, richtet sich auf das Leben, auf Leben ermöglichende Beziehungsgestaltung. Gott wird als derjenige dargestellt, der allein alles Nötige zum guten Leben bereitstellt. Das zu erkennen ist die Aufgabe derer, die sich Gott in Liebe zuwenden. Im Lebensvollzug entlang der Gebote wird dies deutlich. Sollten jedoch fremde Götter angebetet und abweichende Wege verfolgt werden, dann wirkt sich die Konsequenz daraus lebensfeindlich, zerstörerisch aus und wird mit einer anderen Seite Gottes illustriert, die an ein Szenario eifersüchtigen Liebesstreits erinnert. Es heißt in Dtn 4,24 (Bsp. 54.3): „Denn JHWH, dein Gott, ist ein Feuer, das verzehrt, ein Gott der Leidenschaft [ʾēl qannāʾ].“50 Die biblischen Texte bezeugen, dass gutes Leben nicht außerhalb der Beziehung zu Gott möglich ist. Daher wird mit allen Mitteln dafür geworben, die lebenspendende Beziehung zu Gott aufrecht zu erhalten. Die erotische Affizierung durch die Leidenschaftlichkeit der Sprache ist allein auf fortgesetzten Dialog ausgerichtet. Um nach diesem Verständnis lebendig zu sein, braucht es die Beziehung zu Gott. Gottes Liebe und Zuwendung, Gottes Leidenschaft und Eifer, werden allesamt als Bemühungen beschrieben, die radikale Relationalität zwischen Gott und der gesamten Schöpfung zu verdeutlichen. In Beziehung zu Gott kann keine Flamme die Menschen verbrennen, aber Gott als Flamme der Leidenschaft setzt alles in Brand. So konstatiert Hld 8,6 folgerichtig, dass Liebe stark ist wie der Tod und Leidenschaft, die Flamme Jahs, unerbittlich wie Scheol (das Totenreich). Hier werden die Aussagen aus Ps 66,12 und Jes 43,2-3 im Hld aufgenommen und können als radikal relationale Aussage gelesen werden: Wasser und Feuer sind einerseits als Naturphänomene bedrohlich und zerstörerisch, aber Wasser ist auch lebensnotwendig und aus verbrannter Erde wächst neues Leben hervor. Im Hld steht die Erotik dem Tod als Lebenslust gegenüber. Sie hält die Widersprüche und Repulsionen des Lebens insofern in Schach als ihre Kräfte zumindest ebenbürtig sind. Wo Tod ist, kann auch Leben entstehen, wo Zerstörung wütet, wächst neues Leben hervor. Die Liebe ist die Kraft, die es mit allen Widrigkeiten des Lebens aufnehmen kann, sogar mit der äußersten Widrigkeit, dem Tod, weil sie in ihrer ero-

50

Übersetzung der Verfasserin. Zu den Bedeutungen von q-n-ʾ vgl. Markl 2015.

245 tischen Affizierung ein Gegenkonzept zu dieser letzten Instanz drohender Verstummung der Weltbeziehung bietet.51 Die Lebendigkeit des Hlds, die durch die erotische Affizierung in die maximale Öffnung des Selbst gegenüber der Welt führt, wird in den intertextuellen Bezügen fortgesetzt und verknüpft die Lebendigkeit der erotischen Affizierung, die den Lesenden entgegenkommt, mit dem Ereignis der Liebe Gottes. Gottes Liebe ereignet sich in den biblischen Texten, denn dass „Gott liebt ist reinste Gegenwart … Seine Liebe wandelt in immer frischem Trieb durch die Welt.“52 Die bezeugte Gottesbeziehung in den Texten verfügt über eine erotische Attraktion und Ereignis-Dynamik, die in fortgesetzter Aktualisierung im Dialog mit den Lesenden anverwandelt werden und Veränderungspotential entfalten kann. In Hld 5,4 findet sich für diese Zusammenhänge ein besonders eindrückliches Beispiel. Im Kontext der Tür-Szene (Hld 5,2-6), die sich zu nächtlicher Stunde abspielt, versucht der Geliebte zunächst mit drängenden Worten voller Leidenschaft und Ungeduld, zur Geliebten ins Schlafgemach vorzudringen. Während sie mit rhetorischen Fragen antwortet, die entweder seine Leidenschaft verstärken oder ihren Unwillen zum nächtlichen Rendezvous ausdrücken sollen, versucht der Geliebte mit der Hand durch eine Öffnung der Tür nach innen zu greifen, um sich so Einlass zu verschaffen. Als die Geliebte dies erkennt, wallen in ihr plötzlich heftigste Gefühlsregungen auf und sie spricht, wörtlich übersetzt: „meine Eingeweide lärmten wegen ihm.“ (Hld 5,4). Zweifellos ist hiermit eine positive innere evtl. auch sexuelle Erregung gemeint, die dazu führt, dass die Geliebte in Bewegung gesetzt wird, zur Tür läuft und den Geliebten nun doch einlassen will.

51

52

Miskotte behauptet: „Gott ist nach Israels Glauben eben so: willkürlich, ‚amoralisch‘ in seiner Wahl, alles gebend und viel fordernd, eifersüchtig, brennend vor Nähe, gewaltig in seiner Treue, frei in seinem Ruf, innig in seiner Umarmung, furchtbar in seiner Abweisung. Aber das wird nicht nur bezeugt durch eine Reihe dichterischer Bildworte; die Liebe selbst, die Liebe, wie sie im Leben blüht, ist das eigentliche Bild, ist der Abglanz des Wesens der Welt, die göttlich ist; und die göttliche ‚Welt‘ ist ja in Bewegung, sie ist ein kontingentes Geschehen, ein Gehen, ein Aufsuchen des Geliebten, ein Mitnehmen und Segnen des Partners, ein Erfüllen, Krönen und Schmücken des Volkes, das, zu seinem Dienst bereit, den Martergang und Siegeszug der Geschichte mit ihm angetreten hat.“ Miskotte 1995, 272. Rosenzweig 2018, 183.

246 Im Buch des Propheten Jeremia 31,20 (Bsp. 40.4) wird beschrieben, wie Gott ähnliche innere Erregung kundtut in Hinblick auf Israel (Efraim). Dort heißt es: „Ist der Sohn mir lieb, Efraim, ja Lieblingskind? Denn so oft wie ich gesprochen habe über ihn, so gewiss werde ich seiner gedenken, fortwährend. Weil meine Eingeweide lärmen wegen ihm, werde ich mich gewiss seiner erbarmen, spricht JHWH.“53 Die Liebe und Zuneigung zu Israel (Efraim), bewegt Gott innerlich aufs Heftigste. Wie die Geliebte im Hld kann Gott laut Jeremia nicht an sich halten, sondern muss handeln. Beide erleben einen inneren Aufruhr, der die Intensität der Zuneigung zum geliebten Gegenüber illustriert. Wie eine Mutter wendet sich Gott Israel zu, was sich insbesondere durch das geäußerte Erbarmen zeigt (raḥēm ʾraḥᵃmennû), ein Wort, das in einer anderen Vokalisierung Gebärmutter (ræḥæm) bedeutet. Gott erscheint in diesem Kontext als Mutter, die ihren Sohn Efraim (Israel) liebt und eine besondere Bindung zu ihm hat. Die Metapher der Gebärmutter als physisches Organ wird abstrahiert zu einer Haltung: 'Womb' is the vehicle; 'compassion', the tenor. To the responsive imagination, this metaphor suggests the meaning of love as selfless participation in life. The womb protects and nourishes but does not possess and control. It yields its treasure in order that wholeness and well-being may happen. Truly, it is the way of compassion.54

Dass Gottes Eingeweide wegen seines Lieblingskindes lärmen drückt aus, dass die freie Wahl der Liebe zu diesem kleinsten aller Völker, Gott fortgesetzt zum Erbarmen drängt. Die innere Erregung beim Gedanken an das Volk, in der Begegnung mit ihm und in der Trennung von ihm, treibt Gott zum Handeln. Die Trennung wird nicht einfach hingenommen, sondern mit einer leidenschaftlichen Suchbewegung beantwortet. Auch die Geliebte im Hld geht im weiteren Verlauf auf die Suche nach ihrem Geliebten, damit die Beziehung fortgesetzt werden kann. Den Antrieb dazu erhalten beide aus der heftigen inneren Gefühlsregung, der leidenschaftlichen Zuneigung zum geliebten Gegenüber. Wie Gott sich im Bild der Mutter leidenschaftlich erbarmt, so ist die Geliebte im Hld leidenschaftlich (sexuell) erregt. Die lärmenden Eingeweide werden in zwei verschiedenen Situationen in erotisch affizierender Weise miteinander in Verbindung gebracht. So wird er53

54

Übersetzung der Verfasserin. Trible 1991, 33. Zum Vergleich mit Hld ebd., 44-45.

247 kennbar, wie der kanonische Resonanzraum menschliche Erfahrungen emotionaler, körperlicher und seelischer Art in Beziehung zu setzen versteht, um Gottes Leidenschaft auf vielfältige Weise zu illustrieren und auf sie zu verweisen.55 Göttliche Liebesbekundungen sind auf diese Weise im gesamten Kanon zu finden. In der Liebesbeziehung der Liebenden des Hlds werden sie in der Durchlässigkeit der resonanten Bezugsfelder sichtbar. Die intertextuellen Bezüge, die durch die Wortwahl des Hlds erinnert und assoziiert werden, vertiefen das Verständnis für die leidenschaftlichen Dynamiken von Liebesbeziehungen. Diese Liebe beinhaltet neben den Liebesbekundungen, der Erwählung, Fürsorge und Freiheit, auch den Segen Gottes, der sich an der Fruchtbarkeit, am Sattwerden, sprich, an der Fülle des Lebens ablesen lässt. Ein Beispiel für diesen segensvollen Aspekt der Liebe verdeutlicht der intertextuelle Bezug zwischen Hld 7,12-14, und Lev 26,3-5.9-12 (Bsp. 52.7): 12

Lauf, mein Geliebter, wir wollen hinausgehen aufs Feld, wir wollen übernachten in den Dörfern. 13Wir wollen früh aufstehen zum Weinberg, wir wollen sehen, ob der Weinstock gesprosst hat, die Blüten geöffnet sind, die Granatäpfel blühen, dort gebe ich dir meine Liebe. 14Die Alraunen geben ihren Duft und über unseren Türen sind alle auserlesenen, neue auch alte; mein Geliebter, (sie) hatte ich für dich gesammelt. 3

Wenn ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gebote beachtet, und ihr sie tut, 4da werde ich euch Regen geben zu seiner Zeit und das Land wird seinen Ertrag geben und die Bäume des Feldes werden ihre Frucht bringen. 5Und die Dreschzeit wird euch reichen bis zur Weinlese und die Weinlese wird reichen bis zur Aussaat und ihr esst euer Brot zur Sättigung und bleibt in Sicherheit in eurem Land. … 9 Und ich wende mich zu euch und mache euch fruchtbar und vermehre euch, und ich stehe zu meinem Bund mit euch. 10Und ihr esst das alte Altgewordene und das Alte von vorher werdet ihr hinausbringen (für) das Neue. 11Und ich setze meine Wohnung in eure Mitte und ich werde euch nicht verabscheuen. 12Und ich gehe in eurer

55

Collins bescheinigt den Interaktionsritualen zwischenmenschlicher Sexualität größten Erfolg im „social bonding“ und hält sie für den stärksten Mechanismus zur Etablierung einer Liebesbeziehung (Collins 2004, 230ff.). Insofern dient sie in ihrer Qualität intimer Verbindlichkeit als Vehikel oder Vergleichspunkt für die Gottesbeziehung.

248 Mitte und ich bin für euch Gott und du wirst sein für mich zum Volk.56

Im Bild der blühenden Natur des Hlds, in der Überprüfung der Fruchtstände, die sich bereits als Prüfung der Bereitschaft für den Liebesgenuss offenbart hat (vgl. Kapitel III.1.1.2.), kommt den Lesenden die Fülle und Fruchtbarkeit des Landes entgegen, die seit jeher mit dem Segen Gottes verbunden ist (vgl. ebd.). Dass die Geliebte dem Geliebten ihre Liebe inmitten der aufbrechenden Blütezeit der Natur schenken will, ist Ausdruck intensivster Lebenslust und maximal geöffneter Zugewandtheit. Inmitten des aufbrechenden Lebens ist auch der Liebesakt Zeichen der Lebendigkeit und frohmachenden Fülle, die durch die Gleichzeitigkeit neuer und alter Alraunen (Aphrodisiaka) angedeutet wird. In Lev 26,3-5.9-12 verheißt Gott Regen und Segen in Fülle, so dass die Menschen, die in enger Verbindung mit Gott leben und erkannt haben, dass das gute Leben darin besteht, Gottes Gebote zu befolgen und sich danach auszurichten, keinen Mangel leiden. Im Gegenteil. Es wird eine Fülle prophezeit, die sich auch da noch vom Alten nährt, wo das Neue schon zur Verfügung steht. Gott sagt zu, in der Mitte der Menschen zu gehen, in ihrer Mitte zu wohnen, ihnen nicht repulsiv zu begegnen, sondern die Bundestreue aufrecht zu erhalten und die Fürsorge nicht zu unterbrechen. In dieser überbordenden Fülle an leiblicher und geistlicher Zuwendung drückt sich Gottes Liebe aus. Die Bilder der Lebenslust evozieren Freude, hoffnungsvolle Zuversicht, gar Sorglosigkeit. Wen Gott versorgt, der braucht sich nicht zu sorgen, das ist die Botschaft dieses Beziehungsangebotes. Gott schafft die Rahmenbedingungen für Beziehung, Wachstum und Fülle, die die Menschen kreativ und im Beziehungsmodus frei gestalten sollen.57 Das wiederum setzt das Hld ins Bild. Es inszeniert die Fülle des Landes und des Lebens als Ausdruck der liebenden und leidenschaftlichen Zugewandtheit der Liebespaare zueinander, als Ausdruck ihrer durch die ereignishafte Dynamik der Liebe verwandelten Selbst-Weltbeziehungen. Damit werden die Liebesbeziehungen als segensvolles Miteinander mit der Schöpfung, der Natur, den Tieren, den sozialen Gemeinschaften illustriert, währ56

57

Übersetzung der Verfasserin. Als „Kreislauf des Segens“ bezeichnet Kessler den Zusammenhang zwischen „Tun der Gerechtigkeit“, also der Umsetzung der göttlichen Gebote im täglichen Leben, und der fürsorglichen Zuwendung gegenüber den „Armen,“ die Israel aufgrund der eigenen Geschichte aufgetragen ist. Kessler 2017, 258.

249 end gleichzeitig der Ereignis-Charakter dieser Liebesdynamik auf die intertextuell bezeugte Qualität der Zuwendung Gottes zurückverweist. Im Dialog mit den biblischen Texten werden auf diese Weise auch die Lesenden selbst erotisch affiziert. Gelesene oder gehörte Lebenslust evoziert auch in den Lesenden und Hörenden selbst Transformationskräfte, die deren Selbst-Welt-Beziehungen verändern. Die kanonische Lektüre gelangt von der Lebenslust und Lebensfülle des Liebespaares im Hld zu den sie ermöglichenden Dynamiken der Beziehungsgestaltung, zur Lebenslust schenkenden und Leben ermöglichenden Schöpfungskraft Gottes. Diese wiederum ist im Rahmen der Tora, der Weisung zum guten, gottgerechten Leben, als Einhaltung der Gebote und Satzungen formuliert, die das Fundament schlechthin wichtiger, starker Wertungen bilden und zur persönlichen Stellungnahme aufrufen. Jede/r muss sich zu diesem normativen Beziehungsauftrag verhalten, damals wie heute, in aktualisierender Zustimmung oder Ablehnung, in Halbherzigkeit oder Indifferenz. Die jeweilige Antwort entscheidet darüber, ob Resonanz und damit Veränderung möglich bleibt oder ob der Beziehungsmodus verstummt und Stillstand hervorgerufen wird.58 Im kanonischen Resonanzraum ist die Entfaltung der Transformationskraft an den Dialog gebunden. Werden die biblischen Erzählungen in den Interpretationsgemeinschaften nicht dialogisch aktualisiert, droht der Resonanzverlust. Dann werden die Texte zu toten Buchstaben, die weder erotisch affizieren und Lebenslust und Lebendigkeit wecken noch Transformationskraft entfalten. Die bisher angeführten intertextuellen Bezüge zeugen von leidenschaftlichem Bemühen um fortgesetzten Dialog. Liebe, Leidenschaft und lebendige Zugewandtheit öffnen als erotische Affizierung das horizontale für das vertikale Bezugsfeld und lassen in den Liebesdynamiken zwischen den Liebenden den Beziehungsraum Gottes zu den Menschen erkennen. Gott macht sich dadurch ansprechbar, erfahrbar. Trifft es zu, dass es in der Vorstellungswelt der HB keinen Bereich gibt, mit dem Gott nicht in Beziehung steht, dann gilt dies auch für die zwischenmenschliche Liebesbeziehung. Was im Hld sprachlich ausgedrückt wird, evoziert Beziehungsgefüge aus dem kanonischen Kontext, die das im Hld Gesagte weiter vertiefen. An der Liebesbeziehung der Liebenden, ihrer Freude, Fülle, Ero58

Vgl. ebd., 174f.

250 tik, Offenheit und Leidenschaft werden die weiteren Dimensionen dieser Liebes- bzw. Lebenshaltung offenbar. Wer liebt und geliebt wird, ist verändert in die Welt gestellt. Die weitreichendste Aussage, die das Hld zur Liebe und ihrer Bedeutung im Angesicht des Todes trifft (Hld 8,6-7), greift die rettenden und lebensermöglichenden Qualitäten Gottes auf, die sich im Beziehungsmodus aktualisieren. Die Begegnung zwischen Lesenden, Interpretierenden und Gott(es Wort) im dialogischen, kanonischen Resonanzraum, stärkt die Selbstwirksamkeitserwartung der Lesenden. Die Anleitung zu gelingender Beziehung, die die biblischen Texte enthalten, lässt die Lesenden mit der Erwartung in den Dialog mit den Texten eintreten, dass sich ihnen der Kanon als Resonanzraum erschließt. Gottesbegegnung als Partizipation an und Interaktion mit der ereignishaften Dynamik der leidenschaftlichen Liebe wird dialogisch aktualisierbar. In allen Liebesbeziehungen kann es dennoch auch zu (Kommunikation)Störungen im Beziehungsraum kommen, die die wechselseitigen Resonanzerfahrungen unterbrechen. Sie werden weder im Hld noch im Kanon der HB verschwiegen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Konsequenzen von Repulsion als Resonanzblockade und als Gegensatz zur liebevollen Gegenseitigkeit zwischenmenschlicher und göttlich-menschlicher Beziehungen sind daher Thema des nächsten Kapitels.

251 5. Beziehungsleiden als Repulsionserfahrung Die intertextuellen Bezüge in diesem Kapitel zum zwischenmenschlichen und göttlichen Beziehungsleiden umfassen verschiedene Aspekte wie Ablehnung, erfolglose Kommunikationsbemühungen und Aufforderungen zur Umkehr.59 Nach dem vorherigen Kapitel über die Anleitung zu liebevoller Gegenseitigkeit bilden die Beziehungsleiden die Kehrseite der kanonisch bezeugten Beziehungsgeschichte(n) und werden als Repulsionserfahrungen oder als Resonanzblockaden beschreibbar. Wie in zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es auch in der Beziehung Gottes zu den Menschen Kommunikationsstörungen, Enttäuschungen, Abkehr und Leid. Diese Repulsionserfahrungen60 werden nicht verschwiegen. Nicht im Hld und nicht in den intertextuellen Bezügen, die mehrheitlich aus dem Buch Jesaja stammen. Dass dem so ist, mag wenig überraschen, ist doch das Jesajabuch wie kein anderes damit beschäftigt, einerseits die Treue Gottes zum Volk zu betonen, und andererseits das Scheitern der Beziehung zu illustrieren, jedoch nicht ohne auf die zukünftige Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen hinzudeuten.61 Das Hld gibt an einigen Stellen Erfahrungen wieder, die aus der Liebesbeziehung kein ungetrübt harmonisches Miteinander machen. In realistischer Weise werden Enttäuschung, Zurücksetzung und Ablehnung geschildert. Die Störungsdynamiken ergeben sich durch äußere Umstände oder persönliches Fehlverhalten. Wie schon zuvor sind zwischenmenschliche Erfahrungen im Hld und göttlich-menschliche Erfahrung in den intertextuellen Bezügen auch in dieser Hinsicht ähnlich eindrücklich beschrieben. 59

60

61

Vgl. Appendix VII.2., Bsp.: 1.1; 17.7; 19.1; 21.1; 21.2; 40.1; 40.2; 40.4; 42.1; 42.2; 42.5; 43.1; 43.3; 43.4; 48.1; 48.3; 50.3; 51.1; 51.2; 54.6; 56.2. Die Aufforderung zur Umkehr ist an sich nicht repulsiv, erklärt sich aber auf dem Hintergrund einer vollzogenen Repulsion als Aufforderung zur Umkehr in den Beziehungsmodus. Sie ist somit an der Schnittstelle zwischen Repulsionserfahrung und Wiederherstellung von Beziehung angesiedelt. Repulsion ist bei Rosa inhaltlich vielseitig. Nicht damit gemeint sind Widerspruch, Widersprüchlichkeit bzw. Widerspruchsfähigkeit, da diese für einen Dialog wichtig sind. Repulsion stellt vielmehr „verletzende oder feindliche Abstoßung der Welt“ dar (Rosa 2018a, 326–327). Repulsion kann auch „Ekel“ oder „Abneigung“ bedeuten (ebd., 194). Vgl. Berges und Beuken 2016, 48–49.

252 Im Hld ist das Beziehungsleiden überwiegend aus Sicht der Geliebten geschildert. Das Beziehungsleiden des Geliebten ist demgegenüber leicht zu überlesen (Hld 4,9; 5,6; 6,5; 8,7b). In jedem Fall können die intertextuellen Bezüge in diesem Kapitel zwei Sachverhalte verdeutlichen: Erstens ist das Beziehungsleiden, wie die Liebe, etwas Wechselseitiges, was den radikal relationalen Ansatz, der bisher in den Beziehungskonstellationen erkennbar war, auch hierin bestätigt. Zweitens ist Beziehungsleiden als Repulsionserfahrung eine Durchgangsstation im Transformationsprozess.62 Jesaja beschreibt Gott als leidend. Gott leidet in der Beziehung zu Israel, das sich zunehmend von Gott entfremdet hat. Diese Beziehungsstörung ist aus Gottes Perspektive das Erfahren und Erleiden einer repulsiven, also abstoßenden Haltung des Volkes, das sich von Gott und seinen Vorgaben zum guten Leben ab- und anderen Gottheiten und Lebensvollzügen zugewendet hat. Zwischen Enttäuschung, Schmerz, Eifersucht und Hoffnung rangieren die Gefühlsäußerungen, die Gott zugeschrieben werden. Diese Jesaja-Texte übernehmen die Perspektive Gottes. Sie nehmen am göttlichen Beziehungsleiden Anteil und vermitteln dessen emotionale Dimensionen. Die Emotionen werden durch menschliche Sprache und in realistischen Lebensverhältnissen dargestellt und den Lesenden nahegebracht. Die Beziehung zwischen dem Propheten und Gott, erinnert dabei an die Liebesbeziehung der Liebenden im Hld, weil sie vor erotisch affizierender Sprache nicht zurückschreckt und damit sowohl die Intensität der Beziehung als auch den geteilten und gemeinsam empfundenen Schmerz ausdrückt. Dazu zwei Beispiele: Die Geliebte äußert ihr Verlangen nach dem Geliebten: „Auf meinem Bett in den Nächten suchte ich den, den mein Verlangen liebt, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht.“ (Hld 3,1). Ebenso zeugt Jes 26,9 von der Sehnsucht des Sprechenden nach Gott, wenn es heißt: „Mein Verlangen verlangt nach dir in der Nacht, ja, mit meinem Herz in meiner Mitte suche ich dich“63 (Bsp. 21.1). In dieser höchst affizierten und erotisch aufgeladenen maximalen Öffnung auf das geliebte Gegenüber hin, werden innerliche Vorgänge beschrieben, die beide Male zu einer Suchbewegung führen. Die Liebesbeziehung der Liebenden des Hlds und die Liebesbeziehung des Sprechenden zu Gott ist von permanenter, intensiver und körperlich erfahrbarer Sehnsucht nach Gemeinschaft (bei Jesaja synonym für Gerechtigkeit) geprägt. 62

63

Rosa 2018a, 322–327. Übersetzung der Verfasserin.

253 In diesen Kontext sehnsüchtigen Beziehungswunsches ist denn auch einer der prominentesten Bezüge zum Hld, das Weinberglied in Jes 5,1-7 (Bsp. 1.1), zu setzen. Hierin wird nicht nur die Anrede, die auch die Geliebte im Hld für ihren Geliebten permanent verwendet, für Gott benutzt (dôdî), sondern der Prophet konfrontiert die Lesenden mit der Vergeblichkeit der Liebesbemühungen Gottes bzw. mit der Verunmöglichung von Resonanz durch repulsives Verhalten.64 1

Ich will jetzt singen für meinen Geliebten, ein Lied meines Geliebten über seinen Weinberg; einen Weinberg hatte mein Geliebter auf einem Hügel, fruchtbar und fett. 2Und er grub ihn um, befreite ihn von Steinen und pflanzte Reben, und er baute einen Turm in seiner Mitte und hub auch eine Kelter aus in ihm, und er wartete darauf, dass er Trauben hervorbrachte, aber er brachte faule Trauben. 3Und nun, Bewohner Jerusalems, und Männer Judas, richtet nun zwischen mir und zwischen meinem Weinberg. 4Was war noch zu tun für meinen Weinberg und ich habe es nicht getan für ihn? Warum hoffte ich, dass er Trauben hervorbringt, aber er brachte faule Trauben hervor? 5Und nun, ich will euch jetzt sagen, was ich tun werde mit meinem Weinberg, ich entferne seine Hecken und er wird verbrannt, seine Mauern werden durchbrochen und er wird niedergetrampelt. 6Und ich lasse ihn wüst liegen, er wird nicht zurückgeschnitten und nicht gehackt, und Dornen und Disteln wachsen, und den Wolken befehle ich ohne Regen zu regnen auf ihn. 7Denn der Weinberg JHWHs der Heerscharen ist das Haus Israel und die Männer Judas, eine Pflanzung seines Wohlgefallens, und er wartete auf Rechtspruch, aber siehe: Blutvergießen! Auf Gerechtigkeit, aber siehe: Aufschrei!65

Die Weinberge im Hld fangen zu Beginn des Frühlings gerade an zu sprossen und zu blühen und geben Grund zur Hoffnung auf einen guten Ertrag. Dennoch gibt es auch hier Bedrohungen durch Füchse, die die Weinberge zerstören (Hld 2,15) und die harte Arbeit im Weinberg wird mitunter dazu genutzt, die Geliebte von ihrem freizügigen Lebensstil abzuhalten (Hld 1,6).66 Zuweilen ist die Geliebte selbst metaphorisch als Weinstock 64

65 66

Zu den Motiven des Weinbergs im Hld vgl. Hld 1,6; 2,15; 7,13; 8,11-12 und insbesondere die Ausführungen zu Wein, Weinberg, Weinstock in Kapitel III.1.1.2. Übersetzung der Verfasserin. Die Füchse, die in Hld 2,15 den Weinberg zu zerstören drohen, können mit Ez 13,3-5 (Bsp. 19.1) intertextuell gelesen werden. Hier sind die Füchse in Trümmern ein Bild für

254 in Szene gesetzt, von dessen köstlichen Trauben (Brüsten) der Geliebte in Verzückung kostet (Hld 7,9). Hingegen ist der Weinberg Gottes bei Jesaja eine Katastrophe und trägt nur faule Trauben. Trotz der sorgfältigsten (Beziehungs-)Arbeit und (Beziehungs-)Pflege, gibt es keinen Ertrag. Gottes Bemühungen um sein geteiltes Volk sind vergeblich, denn die Lebensordnung, die Gott vorgibt, wird mit Gewalt, Unrecht und leidvollem Geschrei beantwortet. Das Volk blüht und entfaltet sich nicht in der fürsorglichen Beziehung mit Gott, sondern hat sich abgewandt und in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Während das Hld Jes 5,1 aufzunehmen scheint, und die positive Seite gedeihlicher Weinbergpflege in Bildern beglückender Liebesbeziehungen beschreibt, wird die vergebliche Mühe um den Weinberg bei Jesaja dadurch nur noch deutlicher. Im Weinberglied überschneiden sich die Stimme des Propheten und das von ihm übermittelte Gotteswort permanent. Gottes Stimme wird zu des Propheten Stimme und beide versuchen, das geliebte Gegenüber zu erreichen. Die Enttäuschung und Frustration über das Scheitern der Beziehung, die Erfahrung der Repulsion durch das eigene geliebte Volk, trifft beide hart und bis ins Mark. Die Reaktion auf diese Ablehnung illustriert in Bildern der Zerstörung und Verwüstung das Verstummen der Resonanz. Der verwüstete Weinberg wird als Metapher für die verwüstete Beziehung zwischen Gott und den Menschen greifbar.67 Jegliches Leben ist aus dieser Beziehung gewichen, weil Ungerechtigkeit und Gewalt das Leben verunmöglichen. In dieser lebensfeindlichen Atmosphäre ist zunächst einmal keine Fortsetzung des Beziehungslebens möglich. Auch Hld 5,4-7 schildert repulsive Erfahrungen, die die Geliebte dem Geliebten zufügt, und die sie von ihm und den Wächtern der Mauern erleidet. Hld 5,4-7 soll exemplarisch verdeutlichen, wie die teilweise weibliche Metaphorik in den intertextuellen Bezügen aus Jesaja, Gottes Beziehungsleiden an den Menschen nachvollziehen lässt.68 Die verstörende Gewalterfah-

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die zerstörerische Selbstgerechtigkeit und fehlgeleitete Prophetie der Propheten Israels, die den (geistlichen) Zerfall des Volkes nicht zu verhindern imstande waren. Gleichzeitig dient die Metaphorik als Ankündigung der drohenden Verwüstung des gesamten Landes durch die Besatzungsmacht der Assyrer. Vgl. Berges und Beuken 2016, 60–61. Zur Anhäufung weiblicher Metaphorik in Jes bemerkt Fischer: „Da mit dem Weiblichen elementare Grundfunktionen und -bedürfnisse der Menschen angesprochen werden, muß der Eine Gott auch diese ansprechen und integrieren. JHWH läßt sich nicht nur im

255 rung in Hld 5,7 deutet durch ihre intertextuellen Bezüge zu Jeremia und Jesaja auf die Situation ganz Israels hin. Sie illustriert die Konsequenzen der Repulsion. Die Tür-Szene, die sich in Hld 5,2-6 abspielt, wurde bereits im vorherigen Kapitel beschrieben. Im Fortgang der Szene eilt die Geliebte zur Tür und muss erschüttert feststellen, dass ihr Geliebter verschwunden ist. Die Reaktion darauf ist verheerend: „Ich hatte geöffnet, ich, für meinen Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgedreht und war weggegangen; mein Verlangen war hinausgegangen mit seinem Reden, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht, ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht.“ (Hld 5,6). Die Geliebte ist außer sich über das Verschwinden ihres Geliebten. Die Intensität ihrer Gefühlsregungen wird durch die rastlose Suche und das Rufen unterstrichen. Die Geliebte ist verlassen, zurückgestoßen, abgelehnt. Diese Repulsionserfahrung ähnelt der Gottesklage über die nicht vorhandene Dialogund Beziehungsbereitschaft des Volkes in Jes 54,6-8 (Bsp. 42.2): 5

Denn dein Herr, der dich gemacht hat, JHWH der Heerscharen ist sein Name, und dein Erlöser ist der Heilige Israels, Gott der ganzen Erde wird er genannt. 6Denn wie eine verlassene Frau und im Geist betrübt, ruft dich JHWH, und wie eine junge Frau, die abgelehnt wurde, spricht dein Gott. 7In einem kurzen Moment habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln. 8In einem Ausbruch des Zorns habe ich mein Antlitz einen Moment lang verborgen vor dir, aber mit ewiger Güte erbarme ich mich deiner, spricht dein Erlöser, JHWH.69

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Bild eines Mannes beschreiben, sondern auch in dem einer Frau … Die Metaphernsprache für Gott kann und muß gerade deswegen weibliche und männliche Bilder benutzen, um sicherzustellen, daß JHWH jegliche menschliche Erfahrung und Verfaßtheit, ja sämtliche innerweltliche Realität, die einer Gottesmetapher zum Vergleichspunkt werden kann, transzendiert.“ Fischer 2007, 255. Übersetzung der Verfasserin. In den Versen Jes 54,1-17 (außer 16) werden durchweg die Personalsuffixe der 2. P. Sg. fem. verwendet, weil die Angeredete, die Stadt Zion/Jerusalem ist, die als „Frau, Mutter, Braut“ angesprochen wird, Berges und Beuken 2016, 187. Fischer schreibt zur Metapher der Stadt als Frau/Tochter: „In den prophetischen Schriften werden häufig Länder und Städte als Frauen angesprochen. Die Vorstellung kommt offensichtlich aus dem westsemitischen Kulturkreis (das Wort für »Stadt« ist dort grammatikalisch weiblich), wo sie mit der Stadtgöttin in Zusammenhang steht. Israel übernimmt zwar diese Metaphorik, nicht aber die dahinterstehende Göttinnen

256 Wird Gott als verlassene, betrübte, abgelehnte Frau beschrieben, die vergeblich ruft oder ist es die Stadt, das Volk darin, zu dem Gott spricht wie zu einer abgelehnten Frau? Beides ist möglich und verdeutlicht, wie realistisch Gottes Beziehungsleiden in zwischenmenschlich nachvollziehbarer Weise geschildert wird. Weil Gott den Schmerz der Ablehnung kennt, kann sich Gott mit denen solidarisieren, die selbst Schmerz erfahren und erleiden. Jedoch in diesem Schmerz zu verweilen, ist keine Option. Ist Gottes Liebe „Ereignis und reinste Gegenwart,“70 dann kann sie sich nur da entfalten, wo Trennung und Schmerz überwunden werden. Das Bemühen um Wiederherstellung der Resonanz, des Beziehungsmodus, hat oberste Priorität. Wie die Geliebte im Hld verliert Gott keine Zeit, sondern macht sich sofort auf den Weg, sich zu erbarmen, Beziehung wiederherzustellen, Dialog wieder aufzunehmen. Aber die Repulsion hat noch weitere Konsequenzen, die auf dem Weg bis zur Wiederherstellung von Beziehung erlitten werden müssen. Während die Geliebte ihren Geliebten in Hld 3,1-4 schon einmal suchte, die Wächter befragte und ihn dann froh und glücklich in die Arme schließen konnte, endet die erneute Suche mit einem Gewaltakt: „Die Wächter fanden mich, die umhergehen in der Stadt, sie schlugen mich, sie verwundeten mich, sie nahmen weg meinen Überwurf von mir, die Wächter der Mauern.“ (Hld 5,7). Dieser Vers im Hld ist die einzige Stelle, an der physische Gewalt beschrieben wird. Die Geliebte wird zum Opfer einer ohne Grund dreinschlagenden Mauerwache. Viele Versuche, diesen Vers in irgendeiner Weise nachvollziehbar zu interpretieren, können nicht über den verstörenden Einbruch von Gewalt in die Liebesgedichte hinwegtrösten.71 Bei Jesaja finden sich drei intertextuelle Bezüge, die Wortwahl, Thema und Motive dieses schwierigen Verses aufgreifen und in den Kontext der Beziehung Israels zu Gott stellen. So heißt es in Jes 1,5b-6 (Bsp. 43.1): „Von der Fußsohle bis zum Kopf, nichts an ihm ist heil. Striemen und Schlag und frische Wunden nicht ausgedrückt und nicht verbunden sind sie

70 71

Vorstellung. Die Konnotationen der Frau-Stadt-Metaphern sind im weiblichen sozialen Geschlecht (gender) begründet: Geborgenheit durch den Schutz innerhalb der Stadtmauern, die nährende Funktion für ihre BewohnerInnen, die in ihr auch ohne Landbesitz Arbeit und Auskommen finden, sowie die prächtigen Bauten, die einer Stadt Schönheit und Glanz verleihen, aber auch das schutzlose Ausgeliefertsein, wenn der Feind in die Stadt eingedrungen ist.“ Fischer 2007, 251–252. Rosenzweig 2018, 183. Gewalt ist an dieser Stelle offensichtlich, kommt aber in Andeutung auch an anderen Stellen im Hld vor, vgl. bspw. Hld 1,6; 3,8; 6,12; 7,1; 8,7.

257 und nicht erweicht mit Öl.“72 In den Versen 1,2-9 ist Gottes Anklage verquickt mit einem „Wehe Ruf über Israel (V. 4-9).“73 Dass die Landsleute des Propheten unter den Folgen des Beziehungsabbruchs zu Gott leiden müssen, wird im Bild eines Verprügelten, dessen Wunden nicht versorgt sind, beschrieben, der deshalb auch keine Heilung finden kann. Der Schmerz der Ablehnung der Beziehung zu Gott wird somit in seiner psychosomatischen Intensität vermittelbar. In Jes 9,12 (Bsp. 43.3) scheint es hingegen um schwarze Pädagogik zu gehen. Es heißt dort: „Und das Volk kehrte nicht um zu dem, der es schlug, und JHWH der Heerscharen suchten sie nicht.“74 In Jes 62,6 (Bsp. 43.4) ist die Funktion der Wächter angesprochen. Sie steht im Kontext zukünftiger Heilsverkündigung und beschreibt die Maßnahmen, die der Prophet ergreift, um Gott zu erreichen und dazu zu bewegen, sich zu erbarmen und Jerusalem wiederherzustellen: „Auf deinen Mauern Jerusalem habe ich Wächter eingesetzt, den ganzen Tag und die ganze Nacht unaufhörlich schweigen sie nicht; sie erinnern an JHWH, keine Ruhe gibt es für sie.“75 Die Gewalt in diesem Hld- und in den Jesaja-Versen ist nicht zu leugnen, aber sie ist vor allem zur Illustration der Beziehungslosigkeit bzw. der Konsequenzen aus der Repulsionserfahrung verwendet. Ist die Erfahrung in der Liebesbeziehung zu Gott geprägt von Liebe, Leben, Fülle, Rettung, Erbarmen und Segen in einem fortgesetzten Dialoggeschehen, das Resonanz ermöglicht, dann ist die Erfahrung außerhalb der Liebesbeziehung zu Gott, die Ablehnung der Beziehung, Elend, Schmerz, Niedergang, Zerstörung und somit repulsive Beziehungsstörung mit nachfolgend verstummender Resonanz. In radikal relationaler Weise werden nicht nur die guten Seiten des Beziehungsgefüges zwischen Menschen und Gott sichtbar, sondern auch die dunklen Seiten der Beziehungslosigkeit, des Dialogabbruchs, der Konsequenzen aus der Repulsion. Gewalt wird hierbei nicht gerechtfertigt oder gutgeheißen, allenfalls wird sie im Kontext alttestamentlicher Weis72

73 74

75

Übersetzung der Verfasserin. Berges und Beuken 2016, 53. Übersetzung der Verfasserin. Der Prophet bringt die Bedrückung des Nordreiches Israel mit dem syrisch-efraimitischen Krieg zusammen und interpretiert die Konsequenzen aus dem kriegerischen Bündnis im Bruderkrieg gegen Juda als erzieherische Reaktion Gottes. Vgl. Berges und Beuken 2016, 74–75. Übersetzung der Verfasserin.

258 heit als legitimes Erziehungsmittel verstanden (vgl. Spr 3,12), aber sie ist nicht der Endpunkt der Beziehungsstörung. Das Ziel ist die Wiederherstellung von Beziehung. Die Beschreibung der Gewalterfahrung setzt das Beziehungsleiden als körperlich erfahrbaren Schmerz ins Bild (Schläge und Wunden). Es ist eine Illustration der Beziehungsstörung, weil Gewalterfahrung Beziehung unterbricht, aussetzt oder auflöst. Dem scheinen die prophetischen Schriften entgegenwirken zu wollen, indem sie Gott nicht nur als Beziehungspartner des guten Lebens, sondern auch als solchen in schmerzhaften Lebensphasen beschreiben. Wenn Gewalterfahrung, Repulsion und Beziehungsstörung nicht aus dem Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Menschen ausgeschlossen werden, dann bleibt ihre Überwindung und die Wiederherstellung von Beziehung weiterhin möglich, weil sich die Repulsion nicht zur völligen Entfremdung auswachsen kann. Die Verbindung wird nicht dauerhaft getrennt, sondern kann wieder aufgenommen werden. Es geht hierbei nicht um gewaltverherrlichende Argumentation, sondern um die Anerkennung einer Lebensrealität, in der zerstörerische und lebensfeindliche Aspekte nicht ausgeblendet werden. Sie werden vielmehr thematisiert und erlitten. In der Schilderung der Gewalt in Hinblick auf die Gewalterleidenden, wird Gewalt nicht legitimiert, sondern in ihrer ganzen Hässlichkeit und Verabscheuungswürdigkeit deutlich. Sie bringt die Probleme menschlicher Lebenswirklichkeit auf den Punkt, um, im besten Fall, eine Gewissensprüfung v.a. bei den Aggressoren, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, zu bewirken.76 Am Kanonisierungsprozess ist zudem ablesbar, dass sich gewisse Gottesvorstellungen, über die Zeit und durch die Erfahrungen der Interpretationsgemeinschaft, gewandelt haben. Diese redaktionskritischen Erkenntnisse können den Wechsel der Gewaltmetaphorik hin zur Sprache der Liebesbeziehung nachvollziehen helfen, indem sie sie in Bezug zu ihren geschichtlichen Kontexten setzen. So ist die Inszenierung Gottes bei Jesaja als eiferund rachsüchtiger Ehemann im Kanonisierungsprozess früher anzusiedeln, da „die intensivsten Texte über die Liebesbeziehung zwischen Gott und Volk offenkundig später und als Kontrapunkte zum ersten Metaphernkomplex entstehen. Dementsprechend finden sich die Bilder von … Braut und

76

Vgl. Fischer 2021a, 164–165.

259 Bräutigam vor allem im nachexilischen Tritojesaja.“77 Der biblische Text in seiner Endgestalt zeugt selbst von einem inneren Transformationsprozess, der über die Zeit im Dialog zwischen Texten und Interpretationsgemeinschaften stattgefunden hat. Die Gottesbeziehung verändert sich, weil die Interpretationsgemeinschaft die Lebens- und Gotteserfahrungen auch in den sie konstituierenden Texten reflektiert und verarbeitet. Auf diese Weise hat sie sich kritisch mit der eigenen Tradition, der eigenen Geschichte und den eigenen Gottesbildern in sich verändernden Lebensumständen auseinandergesetzt. Dennoch bleiben beide Darstellungen nebeneinander bestehen. Ihre Widersprüche sollen auch nicht diachron aufgelöst werden, sondern laden zum Dialog ein darüber, welche Gottesvorstellungen in gegenwärtiger Aktualisierung der Texte berühren, bewegen oder Repulsion erzeugen und warum. Dass Gott nicht selbst der Gewaltherrscher ist, aber zulässt, dass die Konsequenzen der Repulsion des Volkes zu Beziehungsstörungen und lebensfeindlichen Umständen werden, trägt zum Leid auf beiden Seiten bei. Ist aber als Konsequenz aus der Ermöglichung zur Freiheit und zur freien Wahl zur Liebe oder zur Repulsion als Selbst-Welt-Beziehungs-Entscheidung notwendig und ernst zu nehmen. Die Gottesbeziehung soll keine Echokammer sein, sondern echter Dialog. Daher wird Gott auch als leidenschaftlich enttäuscht über die Repulsion des geliebten Volkes inszeniert. Gleichwohl behält Gott dennoch in allem die Oberhand, denn die Hoffnung auf Wiederherstellung der Beziehung und Neuordnung der Lebensumstände sowie neu gespendeten Segen und Frieden in einer gerechten Gesellschaft, kann im biblischen Kontext nur um den Preis des Festhaltens an einem Gott errungen werden, der Leid nicht nur zulässt, sondern durch das Leid hindurch hilft. Das ganze Leben verbleibt auf diese Weise in all seinen Aspekten und Konsequenzen innerhalb des Wirkungsbereiches Gottes. Integration und Transformation der Repulsionserfahrung gehören daher zur Wiederherstellung der Liebesbeziehung dazu. Gott legt dabei den Finger genau auf den wunden Punkt, wo menschliches Verhalten und Handeln sich von dem entfernt, was zum Ereignis der Liebe gehört. Mit leidenschaftlichem Engagement deckt Gott Zusammenhänge des Schuldigwerdens auf. 77

.

Ebd., 165.

260 Gott kritisiert die Menschen in ihren Handlungsweisen, und „korrigiert den Missbrauch menschlicher Freiheit und setzt der den Menschen zerstörenden Autonomie … Grenzen.“78 Die erfahrene und erlittene resonanzblockierte Lebenswirklichkeit bleibt genauso mit Gott in Verbindung, wie die liebend zugewandt resonante. Auch dies spiegelt sich im Hld wider, wenn die Geliebte in Hld 5,8 den Töchtern Jerusalems aufträgt, ihren Geliebten in ihrem Auftrag zu suchen und ihm mitzuteilen, dass sie liebeskrank sei. Die Tür, die zuvor für die Begegnung verschlossen blieb, wird in anderer Hinsicht für erneute Begegnung und den Dialog zur Überwindung der Repulsionserfahrung geöffnet. Aus heutiger Sicht sind Gewaltszenarien äußerst behutsam zu behandeln, denn weder soll Gott als Aggressor und Gewaltherrscher legitimiert noch in Gottes Auftrag oder nach Gottes Vorbild Gewalt gegen andere gerechtfertigt werden. Die Reden von Gottes Zorn, Strafe und Gericht bleiben dem modernen Verständnis weitgehend unverständlich, weil sie ethisch-moralischen Ansprüchen aufgeklärter Vernunft nicht genügen. Dennoch ist auch die (post)moderne Realität von Gewalterfahrungen durchzogen, die nicht nur mit Prädispositionen, Bildungsmangel und sozialem Status zu erklären sind.79 Das Leiden an und unter der Gewalt ist aus biblischer Sicht zwar Lebensrealität, aber aus Gottes Sicht nicht die gebotene Lebensart. An unerwarteter Stelle wird dieser Zusammenhang auf seine ursprüngliche Resonanzblockade zurückgeführt und gewährt Einblick in den biblischen Versuch, die condicio humana zu verstehen. Die Geliebte sagt: „Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen.“ (Hld 7,11). Im Allgemeinen ist in der Kommentarliteratur zu lesen, dass diese Aussage der Geliebten eine Umkehrung oder Auflösung des Strafspruchs gegen die Frau aus der Eden-Erzählung ist.80 Die ersten Menschen essen verbotener Weise vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und stören damit die Bezieh78

79

80

Dietrich und Link 2015, 181. In diesem Kontext möchte ich auf die mikro-soziologische Studie von Collins 2008 hinweisen, in der sich der Fokus nicht auf gewalttätige Individuen richtet, sondern auf Strukturen, Situationen und Interaktionen, in denen gewalttätige Handlungen auftauchen und Muster erkennbar werden. Dies lässt sich mit der Vorstellung von Mechanismen der „strukturellen Sünde“ in der Welt verbinden, die die ausführenden Gewalttäter nicht entschuldigt, aber das Problem der Gewalt auch nicht nur einseitig auf Individuen abwälzt, sondern durch die strukturellen Zusammenhänge alle Gemeinschaftsmitglieder in die Verantwortung nimmt. Vgl. Zimmermann 2016, Abschnitt 5.3. Vgl. v.a. Trible 1991, 160; 1993, 118–120.

261 ung zu Gott nachhaltig. Die negativen Konsequenzen aus dieser Beziehungsstörung sind für Frau und Mann enorm. In Gen 3,16 (Bsp. 51.1) heißt es: „Zu der Frau sprach er: Sehr vervielfacht wird deine Mühsal und deine Empfängnis; mit Schmerz wirst du Kinder gebären und nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, aber er wird über dich herrschen.“81 Leidenschaftliches Verlangen wird mit Herrschaft beantwortet, ein schreckliches Beziehungsgefälle. So sehr die wohltuende Egalität des leidenschaftlichen Verlangens im Hld zwischen Geliebter und Geliebtem eine Wiederherstellung ursprünglich herrschaftsfreier Verhältnisse wie vor der Verfehlung gegen Gottes Gebot propagiert, so ist doch auch die andere Stelle in Genesis, an der die gleiche Verbform auftaucht, nicht zu vernachlässigen. Im Kontext der vorherigen Intertexte aus Jesaja trägt sie noch weitere Erklärungen zum Verhältnis von Gewalt, Repulsion und Gottesbeziehung bei. In Gen 4,6-7 (Bsp. 51.2) befindet sich Kain, der erste Nachkomme von Eva und Adam, in einer prekären Situation. Wörtlich übersetzt hat ihn ein Brennen ergriffen. Er ist emotional entbrannt, weil Gott die dargebrachte Gabe seines Bruders Abel angesehen hat, aber nicht die seine.82 Er ist kurz davor, die erste Gewalttat der Genesis-Erzählungen zu begehen als Gott mit ihm das Gespräch sucht: „6Und JHWH sprach zu Kain: Warum ärgerst du dich und warum fällt dir dein Gesicht (hinab)? 7Ist es nicht (so), wenn du gut bist, hebt es sich, aber wenn du nicht gut bist, liegt der sündige Zustand vor der Tür und nach dir ist sein Verlangen, aber du sollst über ihn herrschen.“83 Kain ist nicht in der Lage über diesen sündigen Zustand zu herrschen, der fürderhin als Gewalt einen traurigen Triumphzug durch die Menschheitsgeschichte antritt. Als erster Nachkomme Evas und Adams ist Kain der erste, der die Welt vor der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr kennt. Er ist unter den Vorzeichen der Konsequenzen in die Welt gestellt, die seine Eltern durch 81

82

83

Übersetzung der Verfasserin. Das Verb ḥ-r-h wird in der Grundbedeutung mit „entbrennen“ wiedergegeben, hat eine starke Affinität zu Wut, Zorn und Ärger und kommt dreiundneunzigmal im AT vor. Einmal auch in Hld 1,6 (die wutentbrannten Brüder der Geliebten). TLOT, Vol. 2, 473475; vgl. auch HALOT, Vol. 1, 351; NIDOTTE, Vol. 2, 260-262. Meine Übersetzung habe ich hier absichtlich im maskulinen Genus belassen, um die exakte lexemische Entsprechung zu Hld 7,11 hervorzuheben. Das hebräische Wort für „Sünde“ (ḥattā͗ t) ist allerdings eine feminine Form, auf diese Unstimmigkeit weist der kritische Textapparat der BHS hin.

262 die Beziehungsstörung zu Gott erlitten haben. Er ist anders in die Welt gestellt als sie. Er findet die Welt als feindlichen, repulsiven Ort vor und trägt die volle Härte des Strafspruchs gegen Adam, weil er Ackerbauer ist. In Gen 3,17-19 hatte Gott Adam die zukünftige Lebensbeschwernis als Konsequenz des Gebotsübertritts eröffnet: 17

Und zu Adam sprach er: Dass du gehört hast auf die Stimme deiner Frau und gegessen hast von dem Baum, von dem ich dir befahl und sprach: Nicht sollst du davon essen – verflucht ist die Ackererde um deinetwillen, mit Mühsal sollst du von ihr essen alle Tage deines Lebens, 18und Dornen und Disteln bringt sie hervor für dich, und du sollst das Kraut des Feldes essen. 19Im Schweiß deines Gesichts wirst du Brot essen bis zu deiner Rückkehr zur Ackererde, denn von ihr bist du genommen, denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.84

Diese tägliche Mühsal des Lebens ist ein schweres Los. Der biblische Text versucht eine Antwort darauf zu finden, inwiefern diese Lebensrealität mit Gott zusammenhängt, der als die Schöpfung geschaffen war, befand, dass alles sehr gut war (Gen 1,31). Es geht nicht darum, einen Schuldigen zu suchen. Es geht vielmehr darum ein Verständnis dafür zu bekommen, wie Gott mit einer gestörten Beziehung umgeht, wie Gott an den Menschen festhält, durch alle Lebenssituationen hindurch. Gott lässt weder Eva und Adam sterben, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, noch gibt Gott Kain auf, auch dann nicht, als dieser die Gewalttat gegen den eigenen Bruder begangen hat.85 Kain ist nicht in der Lage mit der Ablehnung seiner Gabe durch Gott umzugehen. Im Dialog mit Gott wird Kain vor der drohenden Verschärfung der Beziehungsstörung zu Gott gewarnt. Gott versucht, Kain den Umgang mit Repulsion zu ermöglichen. Das fallende bzw. sich hebende Gesicht macht den Grundkonflikt deutlich: Wer nichts Gutes im Sinn hat, der senkt den Blick, richtet sein Augenmerk nicht mehr auf das Gegenüber, sondern ist nur auf sich selbst und die eigene Emotion fixiert. Kann der Blick nicht mehr gehoben, also dem Gegenüber frei und offen begegnet werden, wächst sich die Beziehungsstörung zu einem Beziehungsabbruch aus. Ohne Blickkontakt, ohne einander in den Blick zu nehmen, kann es keinen Beziehungs84

85

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. Dietrich und Link 2015, 152–153; Kessler 2017, 109–114.

263 modus geben. Dieser gelingt nur, wenn die Gesichtszüge nicht entgleiten, sondern Beziehung als ein aufeinander ausgerichtetes und einander zugewandtes Geschehen bestehen bleibt. Das zeigt sich in bemerkenswert eindrücklicher Weise am gegenseitigen Blick in die Augen, weil sich „im und durch den Blick einerseits das Herz des Menschen offenbart, während es andererseits durch eben diesen Blick auch berührt und in Bewegung versetzt wird.“86 Was Gott bei Kain versucht, ist die Aufrechterhaltung des Dialogs, des Beziehungsmodus unter drohendem Resonanzverlust. Dieser Zusammenhang kann auch heute noch nachvollzogen werden, wenn moderne Menschen die Erfahrung machen, dass die Seele (oder die Psyche) und mit ihr das ganze Wesen eines Menschen durch einen Blick (oder auch einen Anblick) berührt werden und damit in Bewegung geraten kann, dass also selbst ein einziger Blick eine gewaltige Resonanzwirkung auszulösen vermag, und zwar auch und gerade in Situationen, in denen die Weltbeziehung eines Subjekts tendenziell verstummt oder versteinert erscheint.87

Da Kain den Blickkontakt mit Gott vermeidet, bleibt er mit seinem Ärger allein. Die vor der Tür lauernde Gewalt wird nicht von ihm beherrscht und errichtet eine Resonanzblockade auch gegen den (An)Blick des Bruders.88 In dieser Erzählung wird die condicio humana dramatisch bewusst. Die ganze biblische Urgeschichte von Gebotsverfehlung und Brudermord macht unmissverständlich klar, dass die Menschen nicht grundsätzlich aus der Beziehung zu Gott herausgefallen sind, denn Gott versorgt Eva und Adam bei ihrem Austritt aus dem Garten Eden mit Kleidung (Gen 3,21), und Gott beschützt Kain auch nach seiner Gewalttat noch davor, selbst einen gewaltvollen Tod zu finden (Gen 4,15). Dennoch versinnbildlicht die Konsequenz aus diesen Repulsionen eine bleibende Option zur Resonanzblockade, die droht, sich zu dauerhafter Entfremdung auszuwachsen: „Alle Menschen sind Bild Gottes, alle stehen unter Gottes Segen, alle sind zur 86

87

88

Rosa 2018a, 116. Ebd., 118. Diese Aussage findet sich bestätigt, wo der Geliebte zur Geliebten sagt: „Du hast mein Herz weggenommen, meine Schwester, Braut, du hast mein Herz weggenommen mit einem [Blick] von deinen Augen, mit einem Edelstein von deiner Halskette“ (Hld 4,9). Vgl. Rosa 2018a, 121. Resonanzblockade ist hier als eine absichtlich hergestellte Vermeidung des Blickkontakts zu verstehen.

264 verantwortungsvollen Herrschaft in der Welt berufen, alle stehen aber auch in der Gefahr, in Gewalt zu versinken und die Erde dadurch zu ‚verderben‘.“89 Gewalt ist das Gegenteil davon, einander in den Blick zu nehmen. Sie ist die aktive Abstoßung des Gegenübers, um das Berührt-Werden zu unterbinden. Die persönliche Sozialität, die bewusst macht, dass alle Handlung und alles Verhalten immer auch Auswirkungen auf andere hat, wird im Blick nach unten, in der Vermeidung des Blickkontakts als Verweigerung dieser Sozialität und Abwendung vom Gegenüber greifbar.90 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Sehen der am häufigsten vorkommende Sinneseindruck in der Bibel ist.91 Das kann im Kontext resonanztheoretischer Überlegungen nicht überraschen, denn „im Blick eines Menschen offenbart sich dessen (momenthafte und grundsätzliche) Weltbeziehung:“92 Weil der gehetzte, brechende, leere, traurige, abwesende, abweisende oder verschlossene, aber auch der strahlende, glückliche, gütige, liebevolle, entgegenkommende, wohlwollende Blick des anderen auf diese Weise gleichsam von Natur aus und unwillkürlich darauf angelegt ist, in uns und zwischen uns eine entsprechende Resonanzwirkung zu erzeugen – es sei denn, unser eigener, aufnehmender Blick ist leer oder verschlossen, weil wir (zumindest vorübergehend) resonanzunfähig geworden sind oder unsererseits eine forciert repulsive Weltbeziehung einnehmen –, kommt die Verletzung oder Tötung eines anderen ‚Augenträgers‘ in gewisser Weise stets einer Selbstbeschädigung gleich, sie erzwingt eine entfremdende Resonanzblockade. … Weil im Blick des anderen immer ein stummer ‚Anruf‘ liegt …93

In der Verweigerung des Blickkontakts, im Abwenden vom Gegenüber, sind die Grundbedingungen resonanter Weltbeziehung aufgehoben. Die Verweigerung des normativen Beziehungsauftrags wirkt sich in der Beziehung zur/m Nächsten aus. Die Ablehnung der biblisch bezeugten radikal 89

90

91 92 93

Kessler 2017, 121. Rosa verweist im Kontext eines „ethisch verpflichtenden Blicks“ auf die Ethik von E. Lévinas, „für den die Verletzbarkeit und Wehrlosigkeit, die das Gesicht beziehungsweise das Antlitz eines Menschen enthüllt, eine unbedingte, primordiale Verpflichtung für ein Subjekt erzeugt.“ Rosa 2018a, 120. Vgl. Kapitel III.2.1.2. Rosa 2018a, 115. Ebd., 121.

265 relationalen Lebensweise von Schöpfung-Geschöpfen-Schöpfer, führt in der Konsequenz zum Verstummen der resonanten Bezugsfelder. Indem das Hld auf diese beiden Bibeltexte Bezug nimmt, stellt es ein wechselseitiges Erfüllen des Verlangens zwischen Frau und Mann in Aussicht, während es sie gleichzeitig warnt: Wo das Verlangen in Eifersucht umschlägt, können mögliche Resonanzblockaden und Repulsion entstehen, die das Miteinander gefährden. Aber welchen Ausweg gibt es aus der Repulsion? Auch hier bleiben die biblischen Schriften eine Antwort nicht schuldig. In nahezu tiefenpsychologisch aufdeckender Weise werden intertextuelle Bezüge bedeutsam, die sich unter zwei Aspekten mit der Überwindung von Repulsion beschäftigen: Konfrontation und Umkehr. Es heißt: „Kehr um, kehr um, Schulamit, kehr um, kehr um, lass uns dich ansehen; was werdet ihr sehen an Schulamit, als einen Tanz der Doppellager?“ (Hld 7,1). Im Kontext des Hlds sind diese Verse einigermaßen rätselhaft. Es ist das erste Mal, dass ein Name der Geliebten genannt wird (statt: Liebste, Schwester, Braut, Taube etc.). Überdies deuten dessen Konsonanten auch noch auf den Namen Salomo und die Bedeutung Frieden hin.94 Im Vers zuvor äußert die Geliebte, dass sie dessen nicht gewahr war, dass ihr Verlangen sie als Streitwagen ihres edlen Volkes eingesetzt hatte (Hld 6,12). Im Kontext dieser militärischen Referenzen wurde bereits in Kapitel III.2.1.1. gedeutet, dass die Geliebte hier beschrieben wird, wie sie bereit ist, alles für die Liebe zu riskieren. Ihre Entschlossenheit, alles für die Liebe in die Waagschale zu werfen, wird mit kriegerischen Attributen verdeutlicht. Womöglich drückt dies einen inneren Kampf aus, den die Geliebte mit sich selbst oder den Erwartungen ihres Umfelds ausgefochten hat. In jedem Fall ist ihr am Ende ein großer Sieg beschieden, der in dem einzigartigen Bekenntnis des Verlangens ihres Geliebten nach ihr mündet (Hld 7,11). Auf diesem Hintergrund wird die Erwähnung des Doppellagers nachvollziehbar. Es ist derselbe Ausdruck, mit dem ein Ort bezeichnet wird, an dem Jakob mit seiner Familie, seinen Mägden, Knechten und allem Vieh lagert. Ihm gegenüber lagert Gottes Heer. Jakob befindet sich auf dem Weg zurück in seine Heimat, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen: „Und Jakob ging seinen Weg und die Engel Gottes begegneten ihm. Und Jakob sagte, als er 94

Es ist ein Wortspiel mit der Wurzel š-l-m und unterschiedlicher Beugung und Vokalisierung. šelomoh (Salomo), šulammît (Name der Geliebten) und šālôm (Frieden, Wohlergehen etc.).

266 sie sah: Das ist das Heerlager Gottes. Und er gab dem Ort den Namen maḥanājîm (Doppellager).“95 (Gen 32,2-3, Bsp. 48.1). Das Doppellager ist eine Wortschöpfung, die im biblischen Text Jakob zugeschrieben wird, als er aus Mesopotamien (Paddan-Aram) zurückkehrte nach Kanaan. Auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, dem er den Segen des Erstgeborenen betrügerisch abgenommen hatte, war Jakob zu seinem Onkel nach Paddan-Aram geflüchtet, der Gegend, in der auch die Familie seiner Großeltern Sara und Abraham vor dem Einzug nach Kanaan vorübergehend sesshaft wurde (in Haran; Gen 11,31). Dort, unter der Verwandtschaft, suchte sich Jakob eine Frau, wurde von seinem Onkel ausgetrickst und zuerst mit dessen älterer Tochter Lea verheiratet, obwohl er eigentlich um die jüngere, um Rahel, geworben hatte. Zusammen mit den Mägden der Schwestern, Silpa und Bilha, die stellvertretend für ihre Herrinnen von Jakob schwanger werden, gebären die Frauen insgesamt zwölf Söhne, die namentlichen Stammväter der zwölf Stämme Israels (Gen 30). Nach vielen Jahren, in denen die Familie und die Viehherden sich vergrößert hatten, will Jakob wieder zurückkehren in seine Heimat, wenn auch in Furcht vor der Reaktion seines Bruders. Unterwegs, noch vor der Überquerung des Flusses Jabbok, sieht Jakob das Heerlager Gottes und kämpft in derselben Nacht mit einem Unbekannten. Dieser Kampf geht zugunsten von Jakob aus, wenn er auch eine Hüftverletzung davonträgt, aber er behält die Oberhand und bekommt einen neuen Namen: Jisrāʾēl, denn er hat mit Gott und Menschen gekämpft und gesiegt (Gen 32,25-29). Jakob nennt diesen Kampfschauplatz Penîʾēl, weil er Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen hat und sein Leben verschont wurde (Gen 32,31). Diese Begegnung scheint in zweierlei Hinsicht eine Umkehr zu sein. Einerseits rein geografisch und andererseits in der Herzenshaltung. Jakob macht sich auf den Rückweg in die Heimat zu seiner Familie, und er wird mit dem begangenen Unrecht aus seiner Vergangenheit konfrontiert. Er bittet Gott, die Versprechen wahr zu machen und ihn vor seinem Bruder zu schützen. Gleichzeitig weiß er wohl, dass seine Tat nicht recht war, und Gott vor diesem Unrecht nicht einfach die Augen verschließt. In der Gottesbegegnung erkämpft sich Jakob seinen Segen, auf den er im Grunde keinen Anspruch mehr hat, den er aber braucht, um gut leben zu können. Weil Gott das weiß, lässt er sich in der Erzählung darauf ein und ermöglicht so 95

Übersetzung der Verfasserin.

267 einen Transformationsprozess, der die geografische Umkehr mit der befreienden Wirkung von Vergebung zusammenbringt. Jakob hat den Kampf mit sich selbst, mit seiner Vergangenheit ausgefochten im Angesicht Gottes und kann nun befreit in eine friedvolle Zukunft gehen. Die Wiederherstellung der Beziehung zu seinem Bruder wird durch diesen Bewältigungsprozess vorbereitet.96 Dass Jakob Gott derart nahekommen kann, dass er Gottes Gesicht ansieht und überlebt, ist ein weiteres Indiz dafür, wie Gott mit den Beziehungsstörungen und Repulsionen der Menschen umgeht. Gott sieht ihnen ins Gesicht. In diesem Blick, in diesem Anblick, werden Schuld und Unrecht aufgedeckt und die Täter und Täterinnen werden konfrontiert. Das Ziel ist die Umkehr, ein im biblischen Kanon sich häufig wiederholendes Motiv, und eines, das durch den gleichen Hld Vers 7,1 beim Propheten Ezechiel seinen Widerhall findet: „Und er sprach zu ihnen: So wahr ich lebe, Spruch meines Herrn JHWH, wenn ich Gefallen haben werde am Tod des Bösewichts, anstatt dass er umkehrt von seinem bösen Weg und lebt! Kehrt um, kehrt um, von euren bösen Wegen, denn wozu wollt ihr sterben, Haus Israel?“97 (Ez 33,11, Bsp. 48.3). Schuld und Verfehlung an sich sind nicht der Grund, warum Beziehung zu Gott gestört ist, sondern die Abwendung der Menschen von Gott. Anstatt die Konfrontation und Richtigstellung des verfehlten Handelns zu suchen, suchen die Menschen in den biblischen Erzählungen Ausflüchte und das Weite, um dem (An)Blick Gottes aus dem Weg zu gehen. In der Entfernung von Gott erfolgt die Entfremdung, und schließlich der Beziehungsabbruch. Der biblische Terminus dafür ist der Tod, der sozial-geistliche Tod, der Gemeinschaft von Menschen und Gott zerstört. Resonanz lässt sich dann nicht mehr befördern, der Dialog ist unterbrochen, die Kommunikationsbemühungen bleiben erfolglos, die Affizierung kann nicht mehr erfolgen, weil die Beziehungsbereitschaft nicht vorhanden ist. Selbstwirksamkeitserwartungen sinken gegen null. Wer nicht erreichbar ist, erwartet auch nicht, andere erreichen zu können. Lebenslust versiegt, maximale Öffnung degeneriert zur maximalen Schließung und führt zur Abkehr vom Welt-Gegenüber. 96

97

Vgl. Fischer 2002b, 179-183. Übersetzung der Verfasserin.

268 Weil Repulsion in die Entfremdung und zum Beziehungsabbruch führen kann, wehrt sich Gott nach biblischem Zeugnis mit allen Mitteln und lässt die Propheten nicht müde werden, immer wieder zur Umkehr, also zur Rückkehr in die Beziehung zu Gott aufzurufen. Die Repulsionserfahrungen sind als Bestandteil der Lebensrealität damals wie heute nicht zu leugnen, aber sie sind nicht zur dauerhaften Verunmöglichung von Beziehungsleben bestimmt, sondern sollen Passagen sein, deren Resonanzblockade auch wieder aufgehoben werden soll. Dass das Hld trotz aller erotischen Affizierung, Freude, Fülle und Leidenschaft auch die Dimensionen des Beziehungsleidens nicht unterschlägt und in seinen intertextuellen Bezügen auf deren ganze Schwere und Not hinweist, spricht dafür, dass keine menschliche Erfahrungsdimension aus der Beziehung zu Gott ausgeschlossen ist. Selbst in der drohenden oder vollzogenen Entfremdung erweist sich Gott noch als ansprechbares Gegenüber, und will ins Leben, ins Beziehungsleben zurückführen. Das eigentliche Ziel ist daher die Wiederherstellung von Beziehung, die als Transformationsprozess verstanden werden kann. Davon zeugen das Hld und die intertextuellen Bezüge im nächsten Kapitel.

269 6. Wiederherstellung von Beziehung als Transformationsprozess Die intertextuellen Bezüge in diesem Kapitel zur Wiederherstellung von Beziehung umfassen verschiedene Aspekte wie (wieder) gelingende Kommunikation, Heil(ung), Friede, Jubel, der die gesamte Schöpfung einschließt.98 Die Repulsionserfahrungen, die im vorherigen Kapitel als Durchgangsstation beschrieben wurden, steuerten bereits zwei Elemente des Transformationsprozesses auf dem Weg zur Wiederherstellung von Beziehung bei: Konfrontation und Umkehr. Der Umgang mit Schuld und Verfehlung und die Wiederherstellung von Beziehung ist daher nicht nur im Hld, sondern im gesamten Kanon ein weit verbreitetes Thema. War die Tür-Szene in Hld 5,6 zuvor Teil der Repulsionserfahrung, ist sie durch die gleichen Lexeme auch auf die Wiederherstellung von Beziehung hinweisend. Inmitten der Repulsion ist die Option zur Wiederherstellung von Beziehung bereits mitenthalten. Wo die Geliebte im Hld noch vergeblich nach ihrem Geliebten gerufen und gesucht hat, stellt der Prophet in Jes 58,9a (Bsp. 42.3) die Kommunikation in der erneuerten Beziehung zwischen Gott und Volk in Aussicht: „Dann wirst du rufen und JHWH wird antworten, du wirst um Hilfe rufen, und er wird sagen: Hier bin ich!“99 Keine Entfremdung, keine Repulsion, sondern Zuwendung bestimmt nun das Bild wiederhergestellter Beziehung, die das Leiden hinter sich gelassen und überwunden hat. Das ist möglich, weil Konfrontation mit den Verfehlungen und Umkehr zu Gott gelingen können, wenn ein „Exodus aus den eigenen Egoismen“100 erfolgt, also der selbstzentrierte Blick sich hebt. Die Wiederherstellung der Beziehung mit Gott ist an die Wiederherstellung der Sozialität gebunden. Die Umkehr zu Gott ist gleichzeitig die Zuwendung zur/m Nächsten: „Wer der Unterdrückung der Armen ein Ende macht, sein Brot mit den Hungrigen teilt, dem geht in der Dunkelheit ein Licht auf.“101 Es ist der erhellende und erhellte Blick, der symbolisch für die Wiedergewinnung der rechten Perspektive, für das gottgerechte Leben steht. In Jes 65,24 (Bsp. 42.4) wird eine gelingende Kommunikation sogar noch auf die 98

99 100 101

Vgl. Appendix VII.2., Bsp.: 3.1; 3.3; 3.4; 3.5; 3.6; 8.1; 9.2; 10.1; 15.2; 15.3; 23.4; 24.3; 29.1; 29.2; 31.1; 35.2; 35.5; 35.7; 39.4; 42.3; 42.4; 45.2; 49.2; 56.3; 56.7. Übersetzung der Verfasserin. Berges und Beuken 2016, 201. A.a.O.

270 Spitze getrieben, wenn es im Kontext der Verheißung eines neuen Jerusalem heißt: „Und es wird sein, noch nicht rufen sie, und ich, ich werde antworten, solange sie reden, werde ich hören.“102 In dreifacher Hinsicht tragen diese Verse Transformationsprozesse in sich: Zum einen in kanonischer Hinsicht. Beide Verse gehören zum Bestand des nachexilisch verfassten Tritojesaja, die mit der Rückkehr der Exilierten nach Israel und Juda und mit dem Wiederaufbau des Tempels zusammenhängen. Sie geben ein transformiertes Gottesbild wieder und beschreiben die Rückkehr zu einem vergebenden und neues Beziehungsleben ermöglichenden Gott.103 Zum anderen vermitteln die Verse Transformationsprozesse, weil sie die Bedingungen der Wiederherstellung von Beziehung benennen, die einerseits in der Konfrontation und Umkehr und andererseits in der Wiederaufnahme der Kommunikation bestehen. Der Selbst-Welt-Bezug, der sich von der Abwendung zur Hinwendung, von der Vereinzelung zur Sozialität, von der Repulsion zur Resonanz verändert hat, illustriert, wie affizierender Dialog wieder aufgenommen wird.104 Schließlich wird in der aktualisierenden Interpretation dieser Verse für die Lesenden ein Transformationsprozess deutlich, der ihre eigenen SelbstWelt-Beziehungen betrifft. Die Texte bezeugen, dass eine Wiederherstellung gestörter Beziehungen möglich ist. Sie affizieren die Lesenden und stärken in der Übereinstimmung mit den starken Wertungen und dem normativen Beziehungsauftrag deren Selbstwirksamkeit. So können auch sie erwarten, in ihren Weltbeziehungen andere zu erreichen und zu berühren, weil sie selbst erreicht, berührt und bewegt worden sind. Gleichzeitig ko102

103 104

Übersetzung der Verfasserin. Zur Gruppe derer, die sich durch sozial gerechtes Leben und Gebotstreue zu JHWH bekennen, zählen nicht nur die frommen Israeliten, sondern alle Frommen aus allen Völkern. Vgl. Jes 65,1: „Ich wurde gesucht von denen, die nicht fragten (nach mir), ich wurde gefunden von denen, die mich nicht suchten; ich sprach ‚Hier bin ich! Hier bin ich!‘ zu einer Nation, die nicht meinen Namen anruft.“ (Übersetzung der Verfasserin; Appendix VII.2., Bsp. 21.2) „JHWH ist nicht nur im Buch Jesaja, sondern in der Bibel überhaupt sowohl ein Gott im Wandel als auch ein Gott des Wandels.“ Berges und Beuken 2016, 48–49. Oder anders ausgedrückt: „JHWH, der Gott, der sich Israel auserwählt hat und ihm treu bleibt, obwohl dieses Volk ihn verschmäht, offenbart sein Engagement in Gericht und Heil bzw. besser: in einem Heil, das durch die Schule des Gerichts hindurch gegangen ist. Diese notwendige Verbindung heißt ‚Gerechtigkeit.‘ Sie betrifft die sozialen Verhältnisse in Israel, aber auch die Beziehung zu den Völkern. Die Verwirklichung dieses Heiles zeichnet JHWH aus und wird letztendlich zu seiner Anerkennung führen.“ Berges und Beuken 2016, 39.

271 variiert die Welt, sowohl die Text-Welt als auch die Umwelt des Selbst. Die eigene Veränderung verändert auch den Blick auf die Welt. Beziehungsstörungen können bewältigt und Beziehung wiederhergestellt werden, Repulsion wird transformiert, Resonanz wieder möglich. Eine ereignishafte, heilvolle Wiederherstellung von Beziehung wird an anderer Stelle mit größter Freude ausgedrückt, die sich im Jubel der gesamten Schöpfung widerspiegelt. Das Hld ist neben seiner Qualität als Liebeslied, auch ein Loblied auf die Schöpfung, die sich in Flora, Fauna und Naturphänomenen permanent zum Vergleich mit der Schönheit und Lebendigkeit der Liebenden anbietet. Indem die Liebenden einander zur Welt werden, wird auch der Blick auf die Welt ein anderer. Er wird zu einem Blick, der von Liebe durchdrungen ist und die Naturwahrnehmung durch die erotisch aufgeladene Selbst-Welt-Beziehung in das Beziehungsgefüge der Liebenden integriert. In Hld 2,1 wird die Selbstaussage der Geliebten im intertextuellen Bezug zu Jes 35,1-2 mit dem Loblied auf die Schöpfungskraft Gottes assoziiert. Die Erwiderung des Geliebten, im Aufgreifen des Naturvergleichs der Geliebten, verweist durch den intertextuellen Bezug zu Jes 35,1-2 (Bsp. 8.1) auf eine prophetische Heilszusage und zuversichtliche Zukunftsvision: „1Ich bin eine Lilie des Scharon, ein Lotos der Täler. 2Wie Lotos zwischen den Dornen, so ist meine Liebste zwischen den Töchtern.“ (Hld 2,1-2). 1

Es freuen sich die Wildnis und die Wüste, und es jauchzt die Steppe und sie wird blühen wie eine Lilie. 2Sie wird in Fülle blühen und sie wird jauchzen, auch wird Jubel und Gesang sein; die Herrlichkeit des Libanon wird ihr gegeben, die Majestät von Karmel und Scharon, sie werden sehen die Herrlichkeit JHWHs, die Majestät unseres Gottes.105

Die Lilie (ḥaḇaṣṣælæt) kommt in der gesamten HB nur an diesen beiden Stellen vor. Sowohl das Hld als auch die Jesaja-Verse strotzen nur so vor Erotik. Lebenslust wird an der Üppigkeit der Vegetation, an der Lebendigkeit spendenden Lotosblume, der Einzigartigkeit der Geliebten, dem Erblühen der Steppe, dem Jubel über das Leben und der Schönheit und Majestät der Täler und Berge entfaltet. Wer möchte nicht in dieser Fülle jauchzen 105

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. dieselben Jes-Verse in Appendix VII.2., Bsp. 49.2 als intertextuellen Bezug zu Hld 7,6-7.

272 und in Gesang ausbrechen? Der vibrierende Draht zur Welt, der sich in Resonanzmomenten bildet, ist an dieser Stelle besonders deutlich zu erkennen. Die Natur ist Zeugin der Herrlichkeit JHWHs, und der Prophet prophezeit die Wiederherstellung des Landes, das zuvor verwüstet war durch Krieg, Zerstörung und Plünderei. Die Geliebte im Hld und die Steppe bei Jesaja, die wieder erblüht, werden beide mit einer Lilie verglichen. Die Geliebte vergleicht sich mit Lilie und Lotos, die in der üppigen und fruchtbaren Scharon Ebene bzw. in den Tälern wachsen. Die Üppigkeit dieses Vegetationsvergleichs vermittelt die erotische Aufladung der Selbstaussagen, die den Geliebten zur Stellungnahme einladen. In der Tat pflichtet er ihr bei, dass sie in ihrer Blüte, Frische und Lebendigkeit aus der Masse ihrer Altersgenossinnen hervorsticht, die, im Vergleich zu ihr, wie Dornen wirken. Dornen wachsen in der Steppe oder auf nicht bewirtschafteten Äckern. Sie sind stets Zeichen einer lebensfeindlichen Umwelt oder einer vernachlässigten Kulturlandpflege.106 Insofern könnte es kaum deutlicher sein, weshalb der Geliebte seine Geliebte allen anderen Frauen vorzieht. Sie stellt für ihn das Leben dar, das Leben in Opposition zu allem Lebensfeindlichen. Die Steppe, die blühen soll, wie eine Lilie, obgleich sie sonst nur voller Dornen und lebensunwirtlicher Bedingungen ist, verdeutlicht im intertextuellen Bezug in Jesaja die Konsequenzen des göttlichen Eingreifens: Leben kehrt dorthin zurück, wo kein Leben ist; Schönheit und Herrlichkeit werden in und von der Natur wahrnehmbar. Was Gott wiederherstellt ist nicht nur die Beziehung zu den Menschen, sondern auch zur verwüsteten Schöpfung. Und die wiederhergestellte Schöpfung dient wiederum zum Vergleichspunkt für die Qualitäten des Volkes, das sich in Beziehung zu Gott als blühend, lebendig und standhaft erweisen soll: „Ich werde wie Tau sein für Israel, und es soll blühen wie Lotos, und es soll seine Baumwurzeln schlagen wie der Libanon.“107 (Hos 14,6, Bsp. 9.2). Die belebende und regenerative Kraft, die mit dem Tau und dem Lotos ausgedrückt werden, sind die erotischen Komponenten des Beziehungsmodus, der durch die Trans106

107

Häusl und Aßmann 2018, 155; Riede 2020, Abschnitt 2. Übersetzung der Verfasserin. Vgl. dieselben Hos-Verse in Appendix VII.2., Bsp. 39.4 als intertextuellen Bezug zum Hld: „Ich bin schlafend, aber mein Herz ist wachend, Stimme meines Geliebten, er klopft an: Öffne mir, meine Schwester, meine Liebste, meine Taube, meine Makellose, denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken nachtfeucht.“ (Hld 5,2).

273 formation der vorherigen Repulsion in Aussicht gestellt ist.108 Wenn Volk und Gott wieder in einen wechselseitigen Dialog eintreten und einander affizieren lassen, kann sich das vertikale Bezugsfeld erneut stabilisieren, was metaphorisch als Wurzeln schlagen ausgedrückt ist und auf die kontinuierliche Verbindung zur göttlichen Lebensquelle anspielt. Das Hld evoziert mit seiner Wortwahl diese intertextuellen Verbindungen und bringt so die Selbstaussage und Zuschreibung der Liebenden mit der Zusage eines Erblühens von Land und Leuten zusammen, die in Jesaja den Exilierten für ihre Rückkehr ins Land und ihre Rückkehr in die Beziehung zu Gott prophezeit wird. Das Jauchzen und die große Freude über die Rückkehr der Exilierten ist in Jes 55 Thema.109 Hld 2,8 evoziert durch die Wortwahl die Verbindung zu Jes 55,12 und den Jubel über die Wiederherstellung von Land und Leuten, die letztlich Gott bewirkt. In Hld 2,8 ist es der sich nahende Geliebte, der mit froher Botschaft über den hereinbrechenden Frühling zur Geliebten kommt und sie zum Aufbruch in die blühende Natur einlädt: „Stimme meines Geliebten, siehe, er kommt, springt über die Berge, hüpft über die Hügel“ und weiter: „Steh auf, meine Liebste, meine Schöne und lauf los! Die Blüten werden gesehen im Land, die Zeit des Singens ist eingetroffen“ (Hld 2,10b.12a). In Jes 55,12 (Bsp. 15.3) heißt es entsprechend: „Denn mit Freude werdet ihr ausziehen und in Frieden gebracht werden; die Berge und die Hügel werden vor euch ausbrechen in Gesang und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen.“110 Dass dieses Auszugs-Motiv wiederum an den Exodus erinnert, ist sicher kein Zufall. Nachdem die Israeliten in einem fremden Land als Fremde gelebt hatten, sollen sie nun zurückge108

109

110

Hos 12-14 beschäftigt sich mit der Abkehr des Volkes von Gott sowohl gesellschaftlich als auch im Kult und wird durch seinen Götzendienst (Verehrung anderer Götter außer JHWH) in die Katastrophe geführt (Eroberung Israels durch die Assyrer 722 v.Chr.), aus der es nur durch Konfrontation mit der eigenen Schuld, Einsicht und Umkehr wieder herauskommt. Gott sagt für diesen Fall die heilvolle Wiederherstellung Israels zu (Frevel und Zenger 2016, 639–641). Vgl. auch Jes 54,10, Appendix VII.2., Bsp. 15.2: „Wenn die Berge weichen und die Hügel wanken werden, wird aber meine Güte nicht von dir weichen, noch wird der Bund meines Friedens wanken, spricht JHWH, dein Erbarmer.“ Übersetzung der Verfasserin. Jes 55 besticht durch seine „völkeroffene Perspektive,“ in der „das Nahesein Gottes bzw. seines Heiles eine zentrale Rolle“ spielt. Berges und Beuken 2016, 193.

274 bracht werden in das gelobte Land. Die Wiederherstellung der Beziehung der Menschen zu Gott steht damit ebenfalls in Aussicht. In der Aufarbeitung der Ereignisse, in der Überwindung der Repulsion, erschließen sich neue Lebensmöglichkeiten. Wo Gott die Menschen wieder erreicht und sie sich erreichen lassen, wird etwas in Bewegung gesetzt, dessen Ergebnis nicht vorausberechnet werden kann, aber das stets einen Veränderungsprozess beinhaltet, der sich der Freude und dem Leben entgegenstreckt. In erotisch affizierender Weise schlägt das Hld auch eine Brücke zu den Freuden und der Fülle heilvoller und wiederhergestellter Beziehung zwischen Gott und dem Volk, in Hinblick auf die weiblichen Brüste. Diese werden im Hld an verschiedenen Stellen erwähnt (vgl. Kapitel III.2.1.3.). Die Geliebte sagt von sich selbst: „Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme, folglich war ich in seinen Augen wie eine, die Frieden fand.“ (Hld 8,10). Wie schon zuvor (vgl. Kapitel IV.5.) wird die Geliebte mit einer Stadt assoziiert, mit der über das Wort Frieden (šālom) die Verbindung zu Jerusalem (jerūšālaim) offensichtlich wird.111 Durch die Wortwahl evoziert das Hld die Verse in Jes 66,10-13 (Bsp. 29.2): 10

Freut euch an Jerusalem und jauchzt über sie, alle die sie lieben. Freut euch mit ihr, mit Freude, alle, die trauerten über sie. 11Damit ihr saugt und zufrieden seid an der Brust ihrer Tröstungen, damit ihr aufsaugt und euch erfreut an der Fülle ihrer Herrlichkeit. 12Denn so spricht JHWH: Siehe, ich spanne Frieden zu ihr aus, wie einen Fluss, und wie einen überfließenden Strom die Herrlichkeit der Nationen, und ihr werdet saugen. Auf der Hüfte werdet ihr getragen, und auf den Knien werdet ihr geschaukelt. 13Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und mit Jerusalem werdet ihr getröstet sein.112

In weiblicher Metaphorik wird Jerusalem als Mutter derer beschrieben, die ihr in Liebe zugetan sind. Die wie Kinder an ihrer Brust die Tröstungen aufsaugen, die die vorherige Trauer über ihre Zerstörung und die Exilierung 111

112

Jerusalem lässt sich übersetzen als „Gründung Schalems“ und geht zurück auf eine ugaritische Gottheit und einen entsprechenden Gründungsmythos, der in ägyptischen Texten aus dem 19.-18. Jh. v.Chr. erwähnt wird. Spätere Namen: ú-ru-sa-lim (14.-13. Jh. v.Chr.) oder ur-sa-lim-mu (8 Jh. v.Chr.) tauchen in außerbiblischen Quellen auf (Bieberstein 2016, Abschnitt 2.1.) Die Stadt war als heilige Götterstadt also bereits vor der Besiedelung durch die Hebräer bekannt und ließ sich im Hebräischen als „Gründung des Friedens“ übersetzen (so v.a. in späterer Midrasch-Erklärung, vgl. Abramsky 2007). Übersetzung der Verfasserin.

275 überwinden helfen. Die Mutter-Metapher ist erotisch aufgeladen und wird gleichzeitig für Jerusalem und für Gott gebraucht. Während die LiebhaberInnen der Stadt an ihrer Brust und an der Herrlichkeit der Nationen saugen, und über die vorherigen Entbehrungen und Demütigungen getröstet werden, wird das innige Verhältnis Gottes zu den Menschen als mütterliche Zuwendung beschrieben, die das Kind auf der Hüfte trägt, auf den Knien schaukelt und tröstet, wie es nur eine Mutter kann. Diese vor Zärtlichkeit und intimer inniglicher Zuneigung überfließenden Verse sind tatsächlich wie Ströme wohltuender Befriedung, und ein Bild für Sättigung, Zufriedenheit, Freude und Ruhe. Die Rückkehr nach Jerusalem, der Wiederaufbau von Stadt und Tempel, und die psycho-somatische Erbauung der Menschen gehören zum wiederherstellenden Beziehungsmodus. Die radikale Relationalität, die durch die Repulsion unterbrochen, aber nicht aufgehoben wurde, wird nun in ein Verhältnis geführt, das enger nicht sein könnte, nämlich das zwischen Mutter und Kind. Dieses gewandelte Beziehungsverhältnis ist das Ergebnis des zuvor durchlaufenen Transformationsprozesses, in dem das Gottesverhältnis der Menschen und das Menschenverhältnis Gottes sich verändert haben. „JHWH ist in diesem letzten Kapitel nirgends mehr der Eheherr der Frau Zion.“113 In der Durchbrechung dichotomer, geschlechtsspezifischer Strukturen, ermöglicht die Mutter-Metaphorik eine neue Annäherung zwischen Menschen und Gott. Sie transformiert vorherige Vorstellungen und Muster in neue Perspektiven der Beziehungsgestaltung. Gott ist im Bild der Mutter nicht allein für die Israeliten da, sondern für alle, die sich Gott in liebender, kindlicher Zuwendung nähern. In dieser Beziehungskonstellation wird die Selbst-Welt-Beziehung als Ganzes transformiert. Durch die metaphorische Betonung vorwiegend weiblicher Lebensund Liebesbezüge, wird die radikale Relationalität von Selbst und Welt in der Beziehung der Menschen zu Gott transformiert.114 113

114

Fischer 2007, 256. Fischer merkt in Hinblick auf die weibliche Metaphorik in Jes ab Kapitel 49 an, dass der Eindruck entstehe, „daß die Beziehung zwischen JHWH und der Tochter Zion jene zwischen Mutter und Tochter ist,“ (ebd., 253). Dies korrespondiert gut mit der häufigen Erwähnung des Mutterhauses im Hld und der generellen Betonung weiblicher Lebensbezüge. Es könnte vermutet werden, dass das Hld diese Metaphorik topologisch aufgreift, die bei Jesaja für eine programmatische Öffnung und Weitung des Gottesbildes und der Gottesliebe steht.

276 Gott ist Schöpfungskraft, Bräutigam, Ehemann, liebende Gegenwart, gerechter Richter und eben auch Mutter. Gott ist allen alles. Das verändert die Art und Weise, wie die Menschen in die Welt gestellt sind und lässt deutlich werden, dass keine Lebenssituation und kein Lebenskontext nicht mit Gott in Verbindung gebracht und von Gott zurechtgebracht werden kann. In jeder Situation erscheint Gott als das jeweilig benötigte Gegenüber und zeigt sich in unterschiedlichen Qualitäten stets dialogbereit und affizierend, damit sich ein Beziehungsmodus etabliert, der zum guten Beziehungsleben in allen resonanten Bezugsfeldern führt. Das wird im nächsten und letzten Beispiel noch einmal deutlich. In Hld 3,9-11 werden die Lesenden mit einem königlichen Festzug überrascht. Es geht um die Sänfte Salomos und die Feierlichkeiten einer königlichen Hochzeit. In kanonischer Lesart wird ein komplexer Zusammenhang offenbar, der sich durch verschiedene intertextuelle Bezüge erschließen lässt. Die kursiv gedruckten Worte markieren die lexemischen, inhaltlichen bzw. motivischen Übereinstimmungen zwischen den Texten und offenbaren eine Gemeinsamkeit: der König des Friedens auf seinem Hochzeitszug im Hld hat Ähnlichkeit mit JHWH, der unterwegs ist im Auftrag heilvoller Wiederherstellung von Beziehung zu den Menschen. Es heißt im Hld: „9Eine Sänfte machte sich der König Salomo von Holz des Libanon. 10Ihre Säulen machte er aus Silber, ihre Bespannung aus Gold, ihren Sitz aus Purpur, ihre Mitte legte er aus mit Liebe von den Töchtern Jerusalems.“ (Hld 3,9-10). In der Tora gibt es zwanzig Nennungen von Säulen, die sich alle auf das Zeltheiligtum beziehen.115 Die Wolken- und Feuersäule, in der Gott den Israeliten den Weg durch die Wildnis weist, kommt insgesamt zehnmal in der HB vor.116 Dass die Sänfte Salomos aus der Wildnis heraufkommt (minhammidbār, Hld 3,6) ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, verweist dies doch auf die Wanderung der Israeliten von Ägypten ins gelobte Land und die permanente Wegweisung und Begleitung durch Gott in den säulenhaften Naturphänomenen. Gott geht dem Volk voran, wenn es dem gelobten Land entgegenzieht, und Gott ist mitten unter ihm, wenn es rastet. Wie Salomos Sänfte im Hld umgeben ist von Helden Israels, die ihn beschützen (Hld 3,7), so umgibt auch Gott das Volk (Ps 125,2, Bsp. 23.8).

115

116

Achtzehnmal in Ex und zweimal in Num: Ex 27,10-12.14-16; 35,11.17; 36,38; 38,1012.14-15.19; 39,33.40; 40,18; Num 3,36; 4,31 (Bsp. 24.1). Ex 13,212; 14,24; Num 12,5; 14,142; Dtn 31,15; Ps 99,7; Neh 9,122 (Bsp. 24.1).

277 Einen weiteren Hinweis auf das Zeltheiligtum gibt ein textiles Material, das eine bestimmte Farbe aufweist und in Salomos Sänfte ausgelegt ist. Purpur wird insgesamt achtunddreißigmal in der HB erwähnt. Achtundzwanzigmal zählt es zu den purpurfarbenen textilen Materialien, die zur Herstellung von Zeltbahnen und Vorhängen im Zeltheiligtum und zur Herstellung des Efods (Teil des Priestergewands) verwendet wurden.117 In 2 Chr 2,13; 3,14 (Bsp. 24.2) findet sich Purpur im Kontext des Tempelbaus unter Salomo. Also insgesamt dreißigmal im Kontext von Gottes Wohnung. Schließlich ist auch das Zedernholz des Libanon als hauptsächliches Baumaterial für den salomonischen Tempel ein weiterer Aspekt (vgl. 2 Chr 2,7, Bsp. 24.4), an den die Sänfte Salomos im Hld erinnert. So weist die Beschreibung der Sänfte intertextuelle Bezüge zu Zeltheiligtum und Tempel auf. Die Figur des König Salomo als König des Friedens und Wohlergehens evoziert eine Beschreibung des liebevoll zugewandten Gottes JHWH. Doch damit nicht genug. Die Beschreibung des anschließenden Festzugs mit seinen zahlreichen Verweisen auf Tora und Schriften, findet ihren Höhepunkt kanonischer Lesart im intertextuellen Bezug zu Jes 62. Die Töchter Zions werden im Hld aufgefordert, den Festzug König Salomos anzusehen: „Geht hinaus und seht an, Töchter Zions, den König Salomo mit Krone, es krönte ihn seine Mutter am Tag seiner Hochzeit und am Tag der Freude seines Herzens.“ (Hld 3,11). Lexemisch, inhaltlich und motivisch erinnert dieser Vers an Jes 62,1-5 (Bsp. 24.3), wo es heißt: 1

Um Zions willen werde ich nicht schweigen und um Jerusalems willen werde ich nicht still sein, bis hervorbricht wie Strahlen ihre Gerechtigkeit, und ihre Rettung wie eine brennende Fackel. 2Und die Nationen sehen deine Gerechtigkeit, und alle Könige deine Herrlichkeit, und du wirst gerufen bei einem neuen Namen, der vom Mund Gottes genannt wird. 3Und du bist eine prachtvolle Krone in der Hand JHWHs und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. 4Nicht länger wird gesagt werden zu dir: Verlassene, und zu deinem Land wird nicht länger gesagt werden: Verödet, denn du wirst gerufen: Freude an ihr, und dein Land: Vermählte, denn Freude hat JHWH an dir und dein Land wird vermählt werden. 5Denn wie ein 117

Ex 25,4; 26,1.31.36; 27,16; 28,5-6.8.15.33; 35,6.23.25.35; 36,8.35.37; 38,18.23; 39,13.5.8.24.29; Num 4,13 (Bsp. 24.2).

278 junger Mann eine junge Frau heiratet, werden sich dir deine Kinder verheiraten, und die Freude des Bräutigams über seine Braut: so freut sich Gott über dich.118

In diesen Versen wird die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und Volk und zwischen Volk und Land im Kontext von Krönung und Hochzeit aufgegriffen. Zwei Ereignisse, die im antiken Israel sicherlich zu den freudenvollsten gehörten, da sie mit großen Hoffnungen für die Zukunft einhergingen. Gott wird als derjenige beschrieben, der die Krone und das Diadem in Händen hält, und der Stadt einen neuen Namen gibt. Gott hält die Stadt und alle BewohnerInnen wie königliche Machtinsignien in der eigenen Hand. Gott verleiht der Stadt einen neuen Namen. Dadurch wird die erneuerte Beziehung zwischen Gott und Menschen versinnbildlicht. In liebender Zuwendung und Treue, im Bild der Hochzeit, werden sich die Menschen mit ihrem Land und ihrer Stadt vermählen, d.h. in enger Beziehung und in liebender Fürsorge miteinander leben. In diese Freude stimmt Gott ein, indem er sich mit einem Bräutigam bei einer Hochzeit und dessen Freude über seine Braut vergleicht. Diese Freude über die wieder gelingende Beziehung mit dem Volk wird mit der Hochzeitsfreude gleichsetzt, die durch die Zions-Bezeichnung die völker-offene Perspektive, die nun auch für Stadt und Land gilt, einnimmt.119 Resonanztheoretisch ausgedrückt gibt JHWH kund, dass der Dialog mit den Menschen nicht mehr abreißen soll. Die Möglichkeit auf die Anrufung zu antworten soll erhalten bleiben und ist nicht begrenzt auf ein bestimmtes Gegenüber. Grundlage der Antwortbeziehung soll die Gerechtigkeit sein. Sie äußert sich als starke Wertung im Vollzug des normativen Beziehungsauftrags, der sich als Lebenshaltung erweisen soll. In Übereinstimmung mit dieser starken Wertung wird die Selbstwirksamkeitserfahrung und -erwartung all derer gefördert, die sich von der Anrufung Gottes berühren lassen. Wer selbst von diesem Dialog affiziert wurde, kann erwarten, auch andere im Dialog zu affizieren. Die gleichzeitig einsetzende Transformation offenbart den gewandelten Selbst-Welt-Bezug, der sich durch die Rettung aus der Repulsion zu einem erneuerten radikal-relationalen Beziehungs- bzw. Liebesverhältnis entwickelt hat und weiterentwickelt.120 In allen resonanten 118

119 120

Übersetzung der Verfasserin. Vgl. Berges und Beuken 2016, 212. Wischnowsky schreibt: „Die Würde der Frau Zion verdankt sich ihrer exklusiven personalen Beziehung zu Jahwe, der die Zerstörung des Tempels und ihrer Bauwerke, die

279 Bezugsfeldern wird die wiederhergestellte Beziehung als Transformationsprozess deutlich: Im diagonalen Bezugsfeld in der Beziehung zum einst verödeten Land, das nun wieder bewirtschaftet und gepflegt wird und zur Stadt, die wiederaufgebaut wird. In erneuerter Gemeinschaft der Rückkehrenden leben die Menschen zusammen (horizontal). Zu Gott ist ein erneuertes, transformiertes Beziehungsverhältnis möglich (vertikal), welches die Selbstwirksamkeitserwartung fördert (Bezugsfeld des Selbst). Wiederherstellung von Beziehung nach Repulsionserfahrungen wird so nicht nur innerbiblisch-kanonisch zu einem Resonanzgeschehen, sondern kann auch gerade in der aktualisierenden Anverwandlung im Lese- oder Auslegungsprozess der Interpretationsgemeinschaften seine transformativen Kräfte entfalten. Neue Möglichkeiten zur Beziehungsgestaltung können angeregt werden. Erkenntnisse über die interdependente Konstituierung von Selbst-Welt-Beziehungen werden gewonnen, die eine radikale Relationalität gewahr werden lassen, die sich in die eigenen Lebensbezüge hinein verlängert. Die Affizierungen im Hld und seinen kanonischen Dialogpartnerinnen übertragen sich auf die Lesenden und führen in dialogischer Weise immer tiefer in eigene Beziehungsgefüge hinein. Unter diesen Vorzeichen entdeckt sich die Interpretationsgemeinschaft selbst als leidenschaftlich Angeblickte, deren Repulsionserfahrungen die Wiederherstellung von Beziehung nicht verhindern können. 7. Zwischenfazit Kapitel IV. hat verdeutlicht, dass die kanonische Lesart des Hlds eine resonanztheoretisch auswertbare Lesart ist. Der Kanon selbst hat sich als Deportation des Königs und ihrer Bevölkerung letztlich nichts anhaben können, wenn Jahwe diese Beziehung erneuert. Weil Jahwe seine Stadt so liebt … Theologisch entscheidend bleibt, dass diese Annahme erst möglich wird durch Schuldaufweis und Schuldannahme. So wird daran festgehalten, dass Jahwes zerstörender Zorn kein Akt der Willkür war, sondern begründet in der vorgängigen Untreue Jerusalems selbst. Jahwe ist ein gerechter Gott. Jerusalems erneute Annahme und abschließende Erhöhung zur königlichen Braut Jahwes, zur Freudenbotin und Lichtgestalt verdankt sich seiner Gnade. Erst sie lässt die Stadt teilhaben an Gottes Offenbarung als König der Welt und hebt sie eschatologisch in die Rolle der Heil vermittelnden Gottesstadt.“ Wischnowsky 2006, Abschnitt 4.

280 Resonanzraum erschließen lassen, in dem sich durch die intertextuellen Bezüge und die Leser*innen-Perspektive in vielfältiger Weise der dialogische Beziehungsraum eröffnet. Antwortbeziehungen zwischen Texten und Interpretierenden sowie Optionen zur aktualisierenden Anverwandlung der Gottesbegegnungen und -erfahrungen konnten herausgearbeitet werden. Sie alle ließen Transformationsprozesse erkennen, die dafür Sorge tragen, dass in steter Verwandlung von Selbst und (Text)Welt Resonanzerfahrung möglich bleibt. Sie kann immer wieder neue Formen annehmen, je nachdem, welches Bezugsfeld in den Blick rückt, welcher Art die Anrufung aus dem Text ist oder welche Fragen an die Begegnung mit dem Text herangetragen werden. Der Kanon bleibt auf diese Weise ein Resonanzerfahrungen ermöglichender Dialogpartner auf dem Weg zum guten Beziehungsleben. Während Kapitel III. bereits die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Hld und anderen Texten der HB sowie die differenziert wahrzunehmenden Implikationen konstellativer Anthropologie aufgezeigt hat, wurde in Kapitel IV. mit der kanonischen Lesart des Hlds die Dimension transformativer Beziehungsentwicklung in den Fokus gerückt. Die Zusammenschau der Liebesdynamiken der Liebenden im Hld verdeutlichte einen intertextuell nachweisbaren Zusammenhang zwischen den Ausdrucksformen der Leidenschaft der Liebenden im Hld und den Beschreibungen des Liebesverhältnisses Gottes zu den Menschen im biblischen Kanon. Dabei wurde eine Vielfalt an Ausdrucksformen liebender Zuneigung beobachtet, die sich geschlechtsspezifischer Zuweisung insofern entzieht als die dichotome Rollenverteilung in der Liebesbeziehung (wie sie in der klassisch allegorischen Auslegung üblich ist) aufgehoben wird. Die intertextuellen Bezüge verdeutlichten, dass Gottes Beziehungsverhalten nach dem biblischen Zeugnis sowohl weibliche als auch männliche Ausdrucksformen liebender Zuwendung annimmt. Gott lässt sich darin nicht auf eine bestimmte Form festlegen, sondern vereint die verschiedenen Ausdrucksformen in der persönlichen und personalen Beziehung zu den Menschen zu einer vielgestaltigen und vielschichtigen Liebesweise. Was die biblisch-anthropologische Lesart des Hlds verdeutlichte, war die komplexe Konstellation der Liebenden auf dem Hintergrund natürlicher, kultureller, sozialer, religiöser und individuell-konstitutiver Zusammenhänge. Während dadurch bereits die radikale Relationalität der Liebenden im Kontext ihrer Umwelt und ihres religiösen Umfeldes zu erkennen war, hat sich die Bedeutung dieser konstellativen Existenz in der kanonischen

281 Lesart vertieft. Hierbei kamen nicht nur im weiteren Kontext beschreibbare Beziehungskonstellationen in den Blick, wie bspw. jene zwischen Gott und Propheten, Gott und Erzeltern oder Gott und Israel, sondern auch der Kanon selbst wurde als Produkt konstellativer und transformativer Dynamiken erkennbar und als Resonanzraum beschreibbar. Auf diesem Hintergrund ließen sich die intertextuellen Bezüge zum Hld systematisieren und griffen verschiedene Aspekte von Beziehung auf, die als leidenschaftlich-erotische Affizierung, Umgang mit Repulsionserfahrung und Wiederherstellung von Beziehung benennbar und beschreibbar wurden. Durch die Beschreibung grundlegender Bedingungen von Beziehungsstörungen und Möglichkeiten zur Wiederherstellung von (Liebes)Beziehungen trat die condicio humana nach biblischer Sichtweise ebenso in den Blick, wie die Elemente radikal-relationistischer Selbst-Weltbeziehungen, besonders in Hinblick auf die repulsiven Beziehungsstörungen. Durch die Dimension des Beziehungsleidens scheint die Einordnung und Bedeutung von Resonanzerfahrungen und ihrer positiven Wirkung auf die Gestaltung eines guten Beziehungslebens besonders deutlich zu werden. Repulsion als Durchgangsstation zwischen initialer Leidenschaft, Beziehungsstörung und Wiederherstellung leidenschaftlicher Beziehung wurde zudem in ihrer Wechselseitigkeit als Beziehungsleiden sichtbar, unter dem Menschen und Gott gleichermaßen zu leiden haben. Die Leidenschaft in ihrer erotischen Affizierung stellt die Grundlage für das zwischenmenschliche Beziehungsverhältnis und das zwischen Gott und Menschen dar, während das Beziehungsleiden als Repulsionserfahrung ernstgenommen wird. Die Dimension der Wiederherstellung von Beziehung als neues, Beziehungsleben ermöglichendes Ergebnis von Transformationsprozessen ist das Ziel der Liebesbewegungen. Das Hld selbst zeugt von dieser Wirkmacht der sich ständig erneuernden, Beziehung herstellenden Dynamik des Aufeinander-Bezogenseins. In der Unmittelbarkeit des Jetzt und Hier, der gegenwärtig erfahrbaren Liebe, verweist es gleichzeitig auf andere Texte im Kanon, die diese Liebesdynamiken in all ihrer Komplexität und Vielfalt in verschiedenen Kontexten reflektieren, erklären und vertiefen. Das Hld wird auf diese Weise zur Vorlage für eine von Liebe durchdrungene Lebenshaltung, die sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen und sozialen Kontexten in vielfältiger Weise auswirkt und in ihrer leidenschaftlichen, radikalen Relationalität auf Gott bezogen bleibt.

283

V. Das Hohelied als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee Ausgehend vom Text des Hlds wurde in dieser Arbeit zunächst ein Überblick über die lange Geschichte der Hld-Auslegung mit ihren verschiedenen Schwerpunkten gegeben. Zusammen mit dem Kapitel zur Datierung und Autorenschaft wurde deutlich, dass sich das Hld in jeglicher Hinsicht der Eindeutigkeit entzieht. Eine Kategorisierung der Hld-Auslegung nach einem Entweder-oder-Prinzip muss folgerichtig scheitern. Vielmehr scheint die gesamte Komposition einer Sowohl-als-auch-Relation zu folgen: Das Hld ist eine literarische Einheit und eine Sammlung einzelner Lieder, deren Entstehungszeit und redaktionelle Bearbeitung nicht genau festgelegt werden können. Es kann von mehreren mehr oder weniger prominenten, weiblichen und/oder männlichen AutorInnen geschrieben worden sein. Seine Auslegung kann sowohl wörtlich als auch in kanonischer und vielfältiger anderer Weise erfolgen. Für die einen ist das Hld nahezu pornografische Literatur, für die anderen idyllische Bukolik. Die Tradition der Hld-Auslegung, v.a. auf jüdisch-rabbinischer Seite, kannte stets mehrere Auslegungsvarianten und sah keinen Widerspruch darin, sie nebeneinander stehen zu lassen. Während die einen die Kanonizität des Hlds kritisch hinterfragen, steht dies für andere nicht zur Debatte. Das Hld kann als literarisches Werk und als inspiriertes Gotteswort gelten. Es kann in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung von Königen und Königinnen, von Hirten und Hirtinnen, von Stadt und Land, von Gegenständen, Tieren, Arbeit und Vergnügen, von Freude und Fülle, Essen und Trinken, von Düften und (An)Blicken u.v.m. handeln und wurde unter diesen Aspekten auch bereits vielfach untersucht und analysiert. Das Hld gehört zur jüdischen Pessach-Liturgie in der Synagoge, ist das „Allerheiligste“ (Rabbi Akiva) was die HB an Schriften zu bieten hat und wurde unzählige Male neu verdichtet, vertont und auf andere Weise künstlerisch interpretiert. Es war das Lieblingsbuch mittelalterlicher MystikerInnen, und einzelne Verse daraus werden auch heute noch gerne bei kirchlichen Trauungen verwendet. All dies spricht dafür, dass das Hld sich nicht nur seit jeher, sondern auch heute noch, eine eigene Stimme bewahrt hat, um mit seinen Dialogpartner*innen fortgesetzt in einer Antwortbeziehung sein zu können. In die-

284 ser Polyphonie der Hld-Auslegungen zeigte sich allerdings eine gleichbleibende Qualität des Hlds. Es beschreibt als Liebeslied und Zeugnis von Liebesbeziehung für sich genommen, und in seiner intertextuellen Verbundenheit mit anderen kanonischen Schriften, ein höchst komplexes Resonanzgeschehen. Dies gilt sowohl für die Liebenden innerhalb der Text-Welt als auch für die Begegnung der Lesenden und Interpretierenden mit dem Text. Um dieses Resonanzgeschehen zu beschreiben, war die Entwicklung von interdisziplinären Analyse-Methoden erforderlich. Die Parameter der Resonanz, die resonanten Bezugsfelder und eine resonanztheoretisch formulierte Definition von Erotik wurden mit dem konstellativen Personbegriff und mit der kanonischen Lesart des Hlds verknüpft. Das Ergebnis der Analyse kann wie folgt zusammengefasst werden: Im Verlauf der Arbeit wurde deutlich, dass die Liebe oder besser die Liebesdynamiken im Hld neue Selbst-Welt-Beziehungen erschließen. SelbstWelt-Beziehungen, die es nur gibt, weil die Liebenden einander und der Welt in Liebe zugewandt sind. In mehrdeutiger Wortwahl drückt das Hld diesen – die resonanten Bezugsfelder übergreifenden – Sachverhalt aus und evoziert neben den zwischenmenschlichen Klängen der Liebe auch transzendente. In den im Hld erwähnten Sozialbeziehungen der Liebenden wurde deutlich, dass auch sie eine Mehrfachfunktion erfüllen. Sie dienen als Übermittler von Normen und Werten der Gesellschaft, nach denen entsprechend zu handeln ist oder die zum kritischen Hinterfragen anregen. Gleichzeitig ist der Sozialverbund auch der Ort, an dem ein Ich erst zum Ich wird, weil es Anderen/m begegnet. Sogar die Selbstwirksamkeit wird an dieser Stelle aus jeglicher Individuation herausgelöst, denn nur ein Ich, welches selbst erreicht und berührt wird und auch andere zu erreichen und zu berühren vermag, kann selbstwirksam sein und handeln. So ist also auch das Bezugsfeld des Selbst letztlich auf Relationalität hin angelegt. Das Resonanzgeschehen im Hld bleibt aber nicht bei den zwischenmenschlichen Beziehungen stehen. Die Liebenden wenden sich maximal geöffnet auch der Flora und Fauna zu. In der durch die Liebe geweiteten Lebenswelt werden Tiere, Pflanzen und Naturphänomene zu Begleitern der Liebesbeziehung der Liebenden, mit ihrer Dynamik und ihren affizierenden Attributen. Die Integration der Umwelt in die Beziehung der Liebenden befördert einen wertschätzenden Umgang mit all ihren Komponenten, da sie, wie das geliebte Gegenüber, kostbar sind und gepflegt werden wollen.

285 Unter dem Eindruck dieser Beziehungszusammenhänge muss die Welt sich notwendigerweise erweitern. Sie wird schlicht zu klein für die vielfältigen Beziehungsgefüge, die sich in der Liebesbeziehung der Liebenden im Hld zeigen. Dies wird u.a. auch daran erkennbar, dass die geografischen Bezeichnungen einerseits das Land in einer immensen Größe und Ausdehnung markieren, aber andererseits keine wirklichen Orte beschreiben, sondern abstrakte Räume, die die Begrenzung der Realität aufheben. In diesen neu entstehenden und sich weiter ausdehnenden Resonanzräumen werden auch Repulsionserfahrungen als zum Transformationsprozess zugehörig erlebbar. Sie sind die Meilensteine im Prozess der Gestaltung der Liebesbeziehung, da sich an ihnen Kontinuität erweist. Eine Kontinuität allerdings, die sich in fortgesetzter Transformation der Selbst-Welt-Beziehungen ausdrückt, ausdrücken muss, weil sich die Grenzen des Beziehungsleidens ebenfalls ausdehnen. Sogar das äußerste Leid, das im Angesicht des Todes immer auch Verstummung von Weltbeziehung mit sich bringt, verliert seinen Schrecken im Angesicht der Liebe, dem (An)Blick des geliebten Gegenübers. In der durch Liebe und Leidenserfahrung geweiteten Welt, in ihren sozialen, natürlichen, kulturellen und religiösen Dimensionen, tritt eine persönliche Gottheit in den Blick. Deren Liebesdynamiken zeigen sich im Umgang mit einem gruppensozialen Gegenüber in resonanztheoretischer Qualität und erotischer Affizierung auf vielfältige Weise. Gott ist in der Liebesbeziehung allen alles. Die Liebesweisen der Liebenden im Hld verweisen in ihrer Gesamtheit auf die göttliche Liebesweise, die Geschlechtsunterschiede bzw. Rollenzuschreibungen transzendiert. Gott ist Mutter und Bräutigam. Gott ist abgelehnte junge Frau und Erbarmer. Gott ist König und Weinbergbesitzer. Gott ist treu und dennoch wandelbar. Gott ist ewig anrufend und geduldig wartend. Gott ist leidenschaftliche Flamme und verzehrendes Feuer. Gott ist Trösterin und Lebensspenderin. So wie die Liebesbeziehung Gottes zu den Menschen verschiedene Facetten und Entwicklungsstadien beleuchtet, so wird auch die Liebesbeziehung der Liebenden in ihrem Transformationspotential entfaltet. Die neuen Selbst-Welt-Beziehungen, die in der Liebesbeziehung der Liebenden entstanden sind, die sich weiterentwickeln und transformieren, sind gleichzeitig Begegnungsraum mit Gott. Dieser erschließt sich jedoch nicht zwangsläufig. Er scheint zwar inmitten der Liebesdynamiken der Lieben-

286 den auf, aber er bleibt stets nur ein Eintrittsangebot, denn Liebe kann als Resonanzgeschehen weder gemacht noch erzwungen werden. Sie bleibt unverfügbar. Die Anrufung des liebenden Gottes, das Lebens- und Liebesangebot, braucht eine Antwort. Wird das Angebot jedoch angenommen, setzt sich die Liebesgeschichte fort. In aktualisierender Anverwandlung der Text-Welt erschließt sich heutigen Leser*innen das komplexe Resonanzgeschehen der Liebe wie einst. Es affiziert sie, berührt und bewegt sie, transformiert ihre Selbst-Welt-Beziehung und stellt sie verändert in die Welt. In mutiger Entschlossenheit wirbt das Hld für eine maximal geöffnete Zugewandtheit zur Welt im Angesicht möglicher repulsiver Störungen. Es sichert gerade auch in seinen intertextuellen Bezügen eine stets mögliche Wiederherstellung von Beziehung zu, die in letzter Instanz von Gott selbst verbürgt ist. Da Resonanz durch ihre Dialogizität Gemeinschaft schafft und immer wieder neu ermöglichen möchte, ist sie in der heutigen Zeit als ein ganzheitliches Konzept von Selbst-Welt-Beziehungen verstehbar und richtet sich vehement gegen alle Tendenzen, die Gemeinschaft und Gesellschaft zersetzen und utilitaristisch verzwecken wollen. Als Soziologie der Weltbeziehung ist Resonanz kritische Anfrage an die Verhältnisse und Mechanismen moderner Gesellschaften. Das Hld hat sich also schlussendlich als Beitrag zur Radikalisierung der Beziehungsidee erwiesen: Im Transformationsprozess, der mit der Textbegegnung seinen Anfang nimmt und sich in den Lebensbezügen der Leser*innen und Interpretationsgemeinschaften fortsetzt, verändert sich nicht nur das lesende und interpretierende Selbst, sondern auch die (Text)Welt. Womöglich ist diese veränderte Form von Weltbeziehung, die Rosa mit der Resonanztheorie erahnbar machen möchte, hierin zu finden. In der Begegnung mit einem erotischen Bibeltext. Einem Text, der nicht nur ein zeitloses Thema anthropologischer Verfasstheit aufgreift, und dessen radikale Relationalität betont, sondern auch der „namenlos gewordenen Sehnsucht,“1 dem Beziehungswunsch und der Liebe zu Gott, leidenschaftlichen Ausdruck verleiht.

1

Rosa 2018a, 737.

287

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309

VII. Appendix 1. Intertextuelle Bezüge des Hohelieds nach der Einheitsübersetzung (2017) Hld 1,1 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,9 1,15 2,1 2,2 2,3 2,5 2,6 2,8 2,14 2,15 3,1 3,2 3,3 3,6 3,8 3,9 3,10 4,1 4,3 4,4 4,5 4,8 4,10 4,11 4,12 4,15 4,16 5,1 5,2 5,9 5,11 5,15 6,8 7,6 7,8 7,11

AT 1 Kön 5,12; Ps 72,1; 127,1 Ps 45,8.18; 133,2; Koh 7,1; 9,8 Ps 45,15-18 Jes 3,16ff.; Jer 6,2; Ps 120,5; Ez 27,21 Jes 5,1-7 Dtn 6,5; 30,6 Ex 14,9 Gen 29,17 Jes 35,2 2 Kön 14,9 Ri 9,15; Hos 14,6-8 Hos 3,1; 2 Sam 13 Spr 5,20 Jes 52,7 Gen 12,11; 24,16; 26,7 Ri 15,4; Klgl 5,18; Hos 2,14 Spr 7,17; 2 Sam 13,5; Ijob 33,15; Jes 57,2.7.8 Spr 7 Jes 62,6 Hos 13,15; Ex 13,21-22 1 Makk 9,39 1 Kön 6,31 Est 1,6; Jer 10,9 Gen 31,25; 24,65 Jos 2,18 Ez 27,10-11 Ez 16,7 Jes 49,18; 61,10; Jer 7,34 Tob 7,12.15; Gen 12,13.19 Ps 19,11; Ex 3,8; Hos 14,7 Gen 2-3 Spr 5,16; 23,27 Gen 2,7.16.17; 3,1.8 Koh 9,7-10 Offb 3,20 Gen 1,26-27 Dan 2,31-32 1 Sam 9,2 1 Kön 11,3 Ri 16,13f.; Koh 7,26 Ps 92,13; Sir 24,14 Gen 3,16

310 8,1 8,2 8,6 8,7 8,8 8,11-12

Spr 6,30 Ri 4,18f.; Jdt 12,20; Est 7,1ff.; Spr 9,5 Gen 38,18; Jer 22,24 Jes 43,1-2 Ez 16,7-14 Jes 7,23; 1 Kön 11,3

Intertextuelle Bezüge insgesamt: 118 (gezählt sind Einzelverse; ganze Kapitelangaben und ff. zählen als 1). Verse im Hld ohne intertextuelle Angaben in der EÜ: 1,2.8.10-14.16-17 2,4.7.9-13.16-17 3,4-5.7.11 4,2.6-7.9.13-14 5,3-8.10.12-14.16 6,1-7.9-12 7,1-5.7.9.10.12-14 8,3-5.9-10.13-14

311 2. Tabelle der intertextuellen Bezüge des Hohelieds in der Hebräischen Bibel Bsp. 1a

Vers Hld 1,1-2.6 vgl. auch weitere Weinberg Erwähnungen in

1b

Hld 1,14

1c

Hld 8,11-12

1.1

Jes 5,1.7

1.2

Jes 7,23

1.3

Koh 2,4-10 Zu allen markierten Wörtern vgl. Hld 1,1.4.5.6.8.12.14; 2,3.7.15; 3,5.7.9.10.11; 4,12.9.12-13.15-16; 5,2.4.8.12.16; 6,2.4.5-6.11; 7,5.6.7.9.13; 8,4.6.7.10.11-13

2

Hld 1,3 Vgl. auch zur Liebe/lieben Hld 1,4.7; 2,4.5.7; 3,15.10; 5,8; 7,7; 8,4.6.72 (18mal). In der Erzeltern-Erzählung in Gen 29 findet sich eine Häufung des Wortes lieben. Dort geht es darum, dass Jakob Rahel liebt, ihre Schwester Lea aber ungeliebt ist und wie diese ungleichen Liebesbeziehungen zum Kampf um Nachkommen und zum Alraunen-Handel für eine Nacht mit Jakob führen (vgl. Bsp. 52.6) Gen 29,18.20.30.32. Am häufigsten finden sich Formen des Wortes lieben in der Tora im Buch Deuteronomium (insgesamt 22mal). Das Gebot, Gott zu lieben, findet sich 10mal: Dtn 6,5; 11,1.13.22; 19,9; 30,6.16.20; Jos 22,5; 23,11. Gott liebt das Volk, die Väter und die Fremdlinge Dtn 4,37; 7,8.13; 10,15.18; 23,6, daher soll auch das Volk Fremdlinge lieben Dtn 10,19 und Gott Dtn 5,10; 7,9;

2.1

Übersetzung (sofern nicht anders angegeben, Übersetzung d. Verf.in) der Lieder für/von/nach Salomo. 2Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn besser als Wein ist deine Liebe(skunst). 6Ihr sollt mich nicht ansehen, die ich schwärzlich bin, es hat mich gebräunt die Sonne. Die Söhne meiner Mutter waren zornig mit mir. Sie setzten mich ein, zu hüten die Weinberge. Meinen Weinberg, der meiner ist, habe ich nicht gehütet. 14Ein Büschel Henna ist mein Geliebter für mich an Weinbergen EnGedis. 11Einen Weinberg hatte Salomo in Baal-Hamon, er gab den Weinberg an Hüter, ein Mann bringt mit seiner Frucht tausend Silberstücke. 12Mein Weinberg, der meiner ist, ist vor mir, die Tausend sind für dich, Salomo, und zweihundert für die Hüter seiner Frucht. 1Ich will jetzt singen für meinen Geliebten, ein Lied meines Geliebten über seinen Weinberg; einen Weinberg hatte mein Geliebter in Keren (o. auf einem Hügel), fruchtbar und fett. 7Denn der Weinberg JHWHs der Heerscharen ist das Haus Israel und die Männer Judas, eine Pflanzung seines Wohlgefallens, und er wartete auf Rechtspruch, aber siehe: Blutvergießen! Auf Gerechtigkeit, aber siehe: Aufschrei! Und es geschieht an jenem Tag, werden alle Orte, wo tausend Weinstöcke sein werden zu tausend Silberstücken, zu Dornen und zu Unkraut. 4Groß waren meine Werke, ich baute mir Häuser und pflanzte mir Weinberge. 5Ich machte mir Gärten und Parks und pflanzte in ihnen Bäume allerlei Frucht. 6Ich machte mir Wasserteiche, um mit ihnen den Wald zu bewässern, die sprossenden Bäume. 7Ich kaufte Knechte und Mägde und (ihre) Kinder in meinem Haus waren mein. Auch riesige Rindviehherden und Kleinvieh waren mein, von allen, die es gab (die größten) vor Jerusalem. 8Ich sammelte mir auch Silber und Gold und königlichen Besitz und Ländereien; ich verschaffte [wörtlich: machte] mir Sänger und Sängerinnen und die Wonnen der Menschensöhne: Frauen über Frauen. 9Ich wurde groß und übertraf alle, die da waren in Jerusalem, ja sogar meine Weisheit blieb mir. 10Und alles, was meine Augen begehrten, hielt ich nicht zurück von ihnen, nicht versagte ich meinem Herzen alle Freuden, die mein Herz fröhlich machten von all meinen Mühsalen; dies war mein Anteil von all meinen Mühsalen. Für den Geruch sind deine Salböle angenehm, Salböl ausgegossen ist dein Name, deshalb liebten dich junge Frauen. 1Lied

312

2.2

2.3

10,12; 13,4. In Dtn 15,16 geht es um die Liebe eines Sklaven zu seinem Herrn und in Dtn 21,15-16 um die Liebe bzw. Nicht-Liebe in Polygamien. 6Denn ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott; dich erwählte Dtn 7,6-9 JHWH, dein Gott, zu sein für ihn zum Eigentumsvolk von allen Völkern, die auf der Erde sind. 7Nicht weil ihr zahlreich seid von allen Völkern, hängt JHWH an euch, und hat euch erwählt, denn du bist das kleinste von allen Völkern, 8sondern weil JHWH euch liebt und weil er den Eid bewahrt, den er euren Vätern geschworen hat; JHWH hat euch herausgeführt an der starken Hand und er hat dich erlöst aus dem Haus der Knechtschaft aus der Hand Pharaos, dem König von Ägypten. 9Und wisse, dass JHWH dein Gott ist, er ist Gott, der Gott der Treue, der Bewahrer des Bundes und der Güte, für die, die ihn lieben und seine Gebote bewahren für tausend Generationen. 1 Sam 18,3 Und es schlossen Jonatan und David einen Bund, bei seiner Liebe zu ihm wie sein Leben.

2.4

1 Sam 20,17

Und wiederum ließ Jonatan David schwören bei seiner Liebe zu ihm, wie die Liebe (zu) seinem Leben liebte er ihn.

2.5

2 Sam 1,26

2.6

Hos 11,4

3

Hld 1,4

3.1

Jes 25,9

3.2

Jes 26,7-8

3.3

Jer 31,3-5

3.4

Joël 2,21-23

3.5

Ps 31,8

3.6

Ps 118,24

Zutiefst betroffen bin ich über dich, mein Bruder Jonatan, wunderbar bist du für mich über die Maßen. Außergewöhnlich war deine Liebe für mich, von der Liebe der Frauen. Mit menschlichen Seilen zog ich [JHWH] sie, mit Banden der Liebe, und ich war für sie wie einer, der die Backen der Kinder emporhebt, und ich streckte mich aus nach ihnen und gab ihnen zu essen. Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen; der König brachte mich (in) seine Zimmer, wir wollen jauchzen und uns freuen an dir, wir erinnern uns deiner Liebe(skunst) ohne Wein; aufrichtig liebten sie dich. Und an jenem Tag wird gesagt: Siehe, unser Gott ist das (hier), wir haben auf ihn gewartet und er hat uns gerettet, das ist JHWH, wir haben auf ihn gewartet, wir wollen jauchzen und uns freuen an seiner Rettung! 7Der Weg für den Gerechten ist gerade, gerade ist der Pfad der Gerechtigkeit, du machst den Weg frei. 8Ja, (auf) dem Weg deines Gerichts haben wir auf dich gewartet, JHWH, aber nach deinem Namen, nach deiner Erinnerung verlangte die Lebenskraft. 3Von jeher zeigt JHWH sich mir: Und (mit) ewiger Liebe liebte ich dich, deshalb ziehe ich dich (mit) liebender Güte. 4Ich werde dich wieder aufbauen und du sollst aufgebaut werden, junge Frau Israel, du wirst wieder geschmückt (mit) deinen Tamburinen und gehst hinaus mit fröhlichem Tanz. 5Du wirst wieder Weinberge pflanzen in den Bergen Samarias, die Pflanzer pflanzen und freuen sich. 21Fürchte dich nicht, Erde, jauchze und freue dich, denn Großes wird JHWH für dich tun.22Fürchtet euch nicht, Tiere des Feldes, denn es grünen die Weiden in der Wildnis, dass der Baum seine Früchte trägt, Feigenbaum und Weinstock bringen ihren Ertrag.23Und (ihr) Kinder Zions, jauchzt und freut euch an JHWH, eurem Gott, denn er gibt euch den Lehrer zur Gerechtigkeit und lässt herabkommen für euch den Regen, Frühregen und Spätregen wie zuvor. Ich will jauchzen und mich freuen an deiner Güte, denn du hast meine Bedrängnis gesehen, du hast gewusst von den Bedrängnissen meines Lebens. Dies ist der Tag, den JHWH gemacht hat, wir wollen jauchzen und uns freuen an ihm.

313 4

Hld 1,5.7

4.1

Jes 40,11

4.2

Ez 34,11.14-15

4.3

Ps 45,8

4.4

Ps 104,1-2

5

Hld 1,8

5.1

Jes 32,18

5.2

Jes 40,3-4

5.3

Jes 54,2

5.4

Ez 37,26-27

6

Hld 1,9

6.1

Ex 14,17-18

6.2

Ex 15,19

7

Hld 1,9-17

5Schwarz

bin und schön, Töchter Jerusalems, wie Zelte Kedars, wie Vorhänge Salomos. 7Sage mir, den meine Lebenskraft liebt, wo wirst du weiden, wo wirst du lagern am Mittag? Warum soll ich sein, wie eine Eingehüllte bei den Herden deiner Gefährten. Wie ein Hirte seine Herde weidet, wird er [JHWH] mit seinem Arm die Lämmer sammeln, an seinem Busen wird er sie tragen, die Säugenden wird er leiten. 11Denn so spricht der Herr, JHWH: Siehe, ich (bin), und ich frage nach meiner Herde und kümmere mich um sie. 14Auf guter Weide werde ich sie weiden und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein, dort werden sie lagern, auf gutem Weideplatz, und fette Weide werden sie beweiden, auf den Bergen Israels. 15Ich werde meine Herde weiden, und ich werde sie lagern, spricht der Herr, JHWH. Gerechtigkeit hast du [König] geliebt und gehasst die Boshaftigkeit, deshalb hat dich Gott, dein Gott, gesalbt, mit Freudenöl von deinen Gefährten. 1Mein Leben segne JHWH, JHWH, meinen Gott; du bist überaus großartig geworden, mit Pracht und Majestät hast du dich bekleidet. 2In Licht gehüllt wie (in) ein Gewand – ausgespannt die Himmel wie Zeltbahnen. Wenn du es nicht weißt für dich, Schöne unter Frauen, folge für dich in den Trittspuren der Herde und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten. Und mein Volk wird wohnen an Weiden des Friedens und in sicheren Wohnungen und an stillen Ruhestätten. 3Eine Stimme ruft: In der Wildnis bereitet den Weg JHWHs, bahnt in der Wüste eine Straße für unseren Gott. 4Jedes Tal wird emporgehoben und jeder Berg und Hügel wird eingeebnet, und es wird sein: das Zerklüftete wird zur Ebene und das Aufgeraute zur Geradheit. Vergrößere den Ort deines Zeltes und die Zeltbahnen deiner Wohnungen spanne aus, spare nicht; verlängere deine Seile und deine Pflöcke stärke. 26Und ich werde mit ihnen einen Bund des Friedens machen, ein ewiger Bund wird es sein mit ihnen; und ich werde sie setzen und vermehren, und ich werde mein Heiligtum in ihre Mitte setzen, für immer. 27Und meine Wohnung wird über ihnen sein, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Als meine Stute an Wagen Pharaos stelle ich dich mir vor, meine Liebste. 17Und ich, siehe, ich verhärte das Herz Ägyptens, und sie werden hinter ihnen herkommen, und ich verherrliche mich an Pharao und an all seinen Armeen, mit seinen Wagen und seinen Reitern. 18Und Ägypten soll wissen, dass ich JHWH bin, wenn ich mich verherrlicht habe an Pharao, an seinen Wagen und seinen Reitern. Denn es kam Pharaos Pferd mit seinem Wagen und mit seinen Reitern ans Meer und JHWH brachte zurück über sie das Wasser des Meeres, aber die Kinder Israel gingen auf dem Trockenen mitten durch das Meer. 9Als meine Stute an Streitwagen Pharaos stelle ich dich mir vor, meine Liebste.10Schön sind deine Wangen mit Schmuckgehängen, dein Hals

314

7.1

1 Kön 10,1-5.911.21.23-28

8 8.1

Hld 2,1 Jes 35,1-2

mit Perlenketten. 11Schmuckgehänge aus Gold machen wir für dich, mit Kügelchen aus Silber. 12Solange er, der König, zu Tisch ist, verströmt meine Narde ihren Duft. 13Ein Bündel Myrrhe ist mein Geliebter für mich, zwischen meinen Brüsten er. 14Ein Büschel Henna ist mein Geliebter für mich an Weinbergen En-Gedis. 15Sieh, du bist schön, meine Liebste, sieh, du bist schön, deine Augen sind Tauben. 16Sieh, du bist schön, mein Geliebter, und wonnevoll, und unser Bett ist grün. 17Balken unseres Hauses sind Zedern, unsere Dachsparren sind Wacholder. 1Und als die Königin von Saba die Kunde von Salomo vernahm, kam sie, um Salomo mit Rätselfragen zu prüfen. 2Und sie kam nach Jerusalem mit sehr großem Gefolge, mit Kamelen, die Spezerei [Balsam; Anm.d.Verf.in] trugen und viel Gold und Edelsteine. Und als sie zum König Salomo kam, redete sie mit ihm alles, was sie sich vorgenommen hatte. 3Und Salomo gab ihr Antwort auf alles, und es war dem König nichts verborgen, was er ihr nicht hätte sagen können. 4Da aber die Königin von Saba alle Weisheit Salomos sah und das Haus, das er gebaut hatte, 5und die Speisen für seinen Tisch und die Sitzordnung seiner Großen und das Aufwarten seiner Diener und ihre Kleider und seine Mundschenken und seine Brandopfer, die er in dem Hause des Herrn opferte, stockte ihr der Atem, 9Gelobt sei der Herr, dein Gott, der an dir Wohlgefallen hat, sodass er dich auf den Thron Israels gesetzt hat! Weil der Herr Israel lieb hat ewiglich, hat er dich zum König gesetzt, dass du Recht und Gerechtigkeit übst. 10Und sie gab dem König hundertzwanzig Zentner Gold und sehr viel Spezerei und Edelsteine. Es kam nie mehr so viel Spezerei ins Land, wie die Königin von Saba dem König Salomo gab. 11Auch brachten die Schiffe Hirams, die Gold aus Ofir einführten, sehr viel Sandelholz und Edelsteine. 21Alle Trinkgefäße des Königs Salomo waren aus Gold, und alle Gefäße im Libanon-Waldhaus waren auch aus lauterem Gold; denn das Silber achtete man zu den Zeiten Salomos für nichts. 23So war der König Salomo größer an Reichtum und Weisheit als alle Könige auf Erden. 24Und alle Welt begehrte, zu sehen, damit sie die Weisheit hörten, die ihm Gott in sein Herz gegeben hatte. 25Und jedermann brachte ihm jährlich Geschenke, silberne und goldene Geräte, Kleider und Waffen, Spezerei, Rosse und Maultiere. 26Und Salomo brachte Wagen und Gespanne zusammen, sodass er tausendvierhundert Wagen und zwölftausend Gespanne hatte, und er legte sie in die Wagenstädte und zum König nach Jerusalem. 27Und der König brachte es dahin, dass es in Jerusalem so viel Silber gab wie Steine und Zedernholz so viel wie wilde Feigenbäume im Hügelland. 28Und man brachte Salomo Pferde aus Ägypten und aus Koë; und die Kaufleute des Königs kauften sie aus Koë zu ihrem Preis. 111Aber der König Salomo liebte viele ausländische Frauen: die Tochter des Pharao und moabitische, ammonitische, edomitische, sidonische und hetitische – 2aus solchen Völkern, von denen der Herr den Israeliten gesagt hatte: Geht nicht zu ihnen und lasst sie nicht zu euch kommen; sie werden gewiss eure Herzen ihren Göttern zuneigen. An diesen hing Salomo mit Liebe. (LU17) Ich bin eine Lilie des Scharon, ein Lotos der Täler. 1Es freuen sich die Wildnis und die Wüste, und es jauchzt die Steppe und sie wird blühen wie eine Lilie. 2Sie wird in Fülle blühen und sie wird jauchzen, auch wird Jubel und Gesang sein; die Herrlichkeit des

315

9 9.1

9.2 10a 10b

10c

10.1 10.2 10.3

10.4 11a 11b 11c

11.1

Libanon wird ihr gegeben, die Majestät von Karmel und Scharon, sie werden sehen die Herrlichkeit JHWHs, die Majestät unseres Gottes. Hld 2,2 Wie Lotos zwischen den Dornen, so ist meine Liebste zwischen den Töchtern. Das Wort für Lotos šôšan kommt insgesamt 17mal in der HB vor. In 1 Kön 7,19.22.26 und 2 Chr 4,5 werden die Säulen des salomonischen Tempels bzw. das „eherne Meer“ mit Lotos-Applikationen verziert bzw. in Form eines Lotos gegossen. Die Erwähnungen in den Ps 45,1; 60,1; 69,1; 80,1 beziehen sich ausschließlich auf die Angabe einer bestimmten Melodie oder Spielart für den vorzutragenden Psalm. Die Vorkommnisse in Hld 2,1-2.16; 4,5; 5,13; 6,2-3; 7,3 stellen den Lotos in Zusammenhang mit seiner Bedeutung im AO (vgl. Kap. 3.1.2.1.). Hos 14,6 Ich [JHWH] werde wie Tau sein für Israel, und es soll blühen wie Lotos, und es soll seine Baumwurzeln schlagen wie der Libanon. 3Wie ein Apfelbaum zwischen Bäumen des Waldes, so ist mein GeliebHld 2,3 ter zwischen den Söhnen. Nach seinem Schatten sehnte ich mich und ich verweilte und seine Früchte waren süß für meinen Gaumen. 13Der Feigenbaum reift Frühfeigen, und die Weinstöcke BlütenknosHld 2,13 und pen, sie verströmen Duft, steh auf, meine Liebste, meine Schöne und lauf los! 9Ich sagte: ich werde an der Palme hinaufklettern, ich werde ihre Hld 7,9.13 Fruchtstiele ergreifen, und es sollen dann deine Brüste sein wie Trauben des Weinstocks, und der Duft deiner Nase wie Äpfel. 13Wir wollen früh aufstehen zum Weinberg, wir wollen sehen, ob der Weinstock geblüht hat, die Blüten geöffnet sind, die Granatäpfel blühen, dort gebe ich dir meine Liebe. Hos 14,8 Sie [Israel] werden zurückkehren, verweilend in seinem [JHWHs] Schatten, sie werden (wie) Getreide gedeihen und sie werden blühen wie der Weinstock, der erinnert an den Wein des Libanon. Joël 1,12 Der Weinstock ist vertrocknet und der Feigenbaum ist verschmachtet, auch Granatapfel, Palme und Apfelbaum und alle Bäume des Feldes sind vertrocknet; beschämt ist die Freude der Menschenkinder. 8Gott der Heerscharen, bring uns zurück und lass leuchten dein AngePs 80,8-12 sicht, so werden wir gerettet werden. 9Einen Weinstock [Israel] aus Ägypten hast du herausgerissen, hast Nationen vertrieben und ihn gepflanzt, 10du hast den Weg/Raum bereitet vor ihm und ihn Wurzeln schlagen lassen, und er erfüllte das Land. 11Die Berge waren bedeckt von seinem Schatten und von seinen Ästen die Zedern Gottes; 12er streckte seine Zweige aus bis zum Meer und bis zum Strom seine Triebe. Ps 121,5 JHWH ist dein Hüter, JHWH ist dein Schatten über deiner rechten Hand. Hld 2,4 Er brachte mich ins Haus des Weines und sein Banner über mir – Vgl. auch Liebe. Hld 5,10 Mein Geliebter ist blendend und rötlich, herausragend unter Zehntausend. 4Schön bist du, meine Liebste, wie Tirza, schön wie Jerusalem, überwälHld 6,4.10 tigend wie Bannertragende. 10Wer ist sie, die herabschaut wie die Morgendämmerung, schön wie der Mond, strahlend wie die Sonne, überwältigend wie Bannertragende. Vgl. Num 1,52; 2,2-3.10.17-18.25.31.34; 10,14.18.22.25; Ps 20,6. Der Aufbruch des Volkes Israel bei der Wüstenwanderung und ihre Anordnung um das Heiligtum erfolgten nach Stämmen, die ihre jeweiligen Standarten/Banner hatten.

316 12 12.1

Hld 2,5 Vgl. Hld 2,3; 7,9; 8,5 2 Sam 6,19

12.2

Spr 25,11

13a 13b 13.1

Hld 2,6 und Hld 8,3 Gen 48,13-14

13.2

Ex 14,22.29

14a

14b

Hld 2,7; 3,5 Vgl. Bsp. 16.2. Ohne Gazellen u. Hirschkühe: Hld 8,4

14.1

Gen 24,3.7.9.37

14.2

Jes 52,1-3

15

Hld 2,8

15.1

Jes 35,4-6

Versorgt mich mit Rosinenkuchen, erfrischt mich mit Äpfeln, weil ich liebeskrank bin. Und er [David] verteilte an das ganze Volk und die ganze Menge Israels, vom Mann bis zur Frau, für jeden einen Brotkuchen und einen Dattelkuchen und einen Rosinenkuchen und es ging das ganze Volk, jeder in sein Haus. 11Goldene Äpfel in silbernen Skulpturen, (so ist) ein Wort gesprochen, zu seiner Zeit. Seine Linke unterhalb von meinem Haupt, und seine Rechte umarmt mich. Seine Linke unter meinem Haupt und seine Rechte umarmt mich. 13Und Josef nahm sie beide, Efraim mit seiner Rechten zur Linken Israels und Manasse mit seiner Linken zur Rechten Israels und er brachte sie zu ihm. 14Da streckte Israel seine Rechte aus und legte sie auf das Haupt Efraims, aber er war der Jüngere, und seine Linke auf das Haupt Manasses, er überkreuzte seine Hände, denn Manasse war der Erstgeborene. 22Und die Kinder Israels kamen in die Mitte des Wassers auf trockenem Grund und das Wasser war für sie eine Mauer zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken. 29Und die Kinder Israels gingen auf trockenem Grund in die Mitte des Wassers und das Wasser war für sie eine Mauer zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei Gazellen oder Hirschkühen des Feldes, wenn ihr aufstört und wenn ihr aufweckt die Liebe bis es ihr beliebt. Ich beschwöre euch Töchter Jerusalems, was stört ihr auf, was weckt ihr auf die Liebe, bis es ihr beliebt? 3Und ich [Abraham] lasse dich [Knecht] schwören bei JHWH, dem Gott des Himmels und dem Gott der Erde, dass du nicht eine Frau nimmst für meinen Sohn von den Töchtern der Kanaaniter, in deren Mitte ich wohne. 7JHWH, der Gott des Himmels, der mich genommen hat aus dem Haus meines Vaters und aus meinem Heimatland, der zu mir gesprochen hat und mir geschworen hat und sagte, deinen Nachkommen werde ich dieses Land geben, er wird seinen Engel vor dir her senden und du nimmst eine Frau für meinen Sohn von dort. 9Und der Knecht legte seine Hand unter die Hüfte Abrahams, seines Herrn, und er schwor ihm wegen dieser Sache. 37Und mein Herr hat mich schwören lassen und sagte du sollst keine Frau für meinen Sohn nehmen von den Töchtern Kanaans, in deren Land ich wohne. 1Erwache, erwache, trage deine Macht, Zion, trage Gewänder deiner Herrlichkeit Jerusalem, heilige Stadt, denn nicht noch einmal wird er dich wieder betreten, der Unbeschnittene und der Unreine. 2Schüttle ab den Staub, steh auf, Gefangene Jerusalem, öffne die Stricke deines gefangenen Halses, Tochter Zion. 3Denn so spricht JHWH: Ihr seid nicht zu kaufen und nicht mit Silber zu lösen. Stimme meines Geliebten, siehe, er kommt, springt über die Berge, hüpft über die Hügel. 4Sagt zu den ängstlichen Herzen: Seid stark, fürchtet euch nicht. Siehe, euer Gott! Rache wird kommen, Vergeltung Gottes; er wird kommen

317 und euch retten! 5Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden und die Ohren der Tauben werden geöffnet werden. 6Denn wie ein Hirsch wird der Lahme springen und die Zunge des Stummen wird frohlocken, weil Wasser in der Wildnis hervorbricht und Ströme in der Wüste. Wenn die Berge weichen und die Hügel wanken werden, wird aber meine Güte nicht von dir weichen, noch wird der Bund meines Friedens wanken, spricht JHWH, dein Erbarmer. Denn mit Freude werdet ihr ausziehen und in Frieden gebracht werden; die Berge und die Hügel werden vor euch ausbrechen in Gesang und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen. Hört nun das, was JHWH sagt: Steh auf, streite (vor) den Bergen, die Hügel werden deine Stimme hören. Vergleichbar ist mein Geliebter mit einer Gazelle oder mit dem Jungen der Hirsche. Siehe, er steht hinter unserer Mauer, starrt durch die Fenster, blickt durch die Gitter.

15.2

Jes 54,10

15.3

Jes 55,12

15.4

Mi 6,1

16a

Hld 2,9

16b

Hld 2,17

Solange der Tag heranweht und die Schatten fliehen, gehe umher und gleiche du, mein Geliebter einer Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen.

16c

Hld 8,14

16d

Fliehe, mein Geliebter, und gleiche du einer Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den Balsambergen. Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle, die weiden an Lotos.

Vgl. auch Hld 4,5 Etw. abweichend Hld 7,4 Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle. Vgl. 1 Kön 5,1-4. In Vers 3 werden einige Tiere aufgezählt, die auf dem Speiseplan des König Salomo standen und in Menge vorhanden waren, darunter auch Gazellen und Hirsche. In diesen Tagen des Überflusses und des Friedens im und um das Land, steht diese Aufzählung für den umfassenden Schalom. 18Deine Quelle wird gesegnet sein und du wirst dich freuen an der Frau Spr 5,18-19 Vgl. Bsp. 14a deiner Jugend, 19die liebliche Hirschkuh und anmutige Gemse; ihre Brüste werden dich allezeit sättigen, an ihrer Liebe wirst du dich fortwährend berauschen. Jes 40,18 Und mit wem wollt ihr Gott vergleichen? Und welches Ebenbild wollt ihr ihm gegenüberstellen? Jes 40,25 Und wem wollt ihr mich vergleichen, wem ich gleich wäre? Spricht der Heilige. Jes 46,5 Mit wem wollt ihr mich vergleichen und gleichstellen und ähnlich machen, dass wir gleich wären? 10Mein Geliebter antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Liebste, Hld 2,10-13 meine Schöne, und lauf los! 11Denn siehe, der Winter ist vorbei, der Regen verschwand, er ist gegangen. 12Die Blüten werden gesehen im Land, die Zeit des Singens ist eingetroffen und die Stimme der Turteltaube wird gehört in unserem Land. 13Der Feigenbaum reift Frühfeigen, und die Weinstöcke Blütenknospen, sie verströmen Duft, steh auf, meine Liebste, meine Schöne und lauf los! Gen 12,1 Und da sprach JHWH zu Abram: Lauf los aus deinem Land und aus deiner Heimat und aus dem Haus deines Vaters, in ein Land, dass ich dir zeigen werde.

16e 16.1

16.2

16.3 16.4 16.5 17

17.1

318 17.2 17.3 17.4 17.5

17.6 17.7 17.8

18 18.1

18.2

19 19.1

2

Gen 22,2

Und er [JHWH] sprach: Nimm jetzt deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Isaak, und lauf los ins Land Morija und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde. Dtn 16,22 Und du sollst dir keine Bildsäule aufstellen, die JHWH, dein Gott, vgl. Lev 26,1 hasst. Dtn 18,15 Einen Propheten aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, wie ich, wird Vgl. Dtn 18,18 JHWH, dein Gott, aufstellen, auf ihn sollt ihr hören. 17Du [JHWH] hast festgesetzt alle Grenzen des Landes; Sommer und Ps 74,17.19 Winter, du hast sie geformt. 19Gib nicht den wilden Tieren das Leben deiner Turteltaube, das Leben deiner Elenden, vergiss es nicht für immer. Jes 6,8 Und ich hörte die Stimme des Herrn und er sprach: Wen werde ich senden und wer wird losgehen für uns? Und ich sprach: Siehe, mich, sende mich! Jer 8,7 Sogar der Storch in den Himmeln kennt seine Zeiten und die Turteltaube und die Schwalbe und der Kranich, halten sich an die Zeit ihres Kommens, aber mein Volk kennt das Recht JHWHs nicht. Von den insgesamt 14 Nennungen der Turteltaube in der HB haben 10 Nennungen einen Bezug zum Opferkult. Turteltauben konnten im Sühneritus und im Reinigungsritus geopfert werden, vgl. Lev 1,14; 5,7.11; 12,6.8; 14,22.30; 15,14.29; Num 6,10. In Gen 15,9 gehören Turteltauben zu den zweigeteilten Opfergaben, die Abraham für den Bundesschluss mit Gott darbrachte. Hld 2,14 Meine Taube, in den Spalten der Felsen, im Versteck der Felswand, lass mich sehen deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist angenehm und deine Gestalt ist schön. 19Und sie werden hereinkommen in Felsenhöhlen und in Erdlöcher vor Jes 2,19-21 dem Schrecken JHWHs und vor der Pracht seiner Majestät, mit der er aufsteht, das Land zu schrecken. 20An jenem Tag wird die Menschheit ihre silbernen Götzen, und ihre goldenen Götzen, die sie gemacht haben, um sie anzubeten, den Fledermäusen2 hinwerfen, 21um hereinzukommen in die Spalten der Felsen und die Felsklüfte vor dem Schrecken JHWHs und vor der Pracht seiner Majestät, mit der er aufsteht, das Land zu schrecken. 28Verlasst die Städte und wohnt im Felsen, Bewohner Moabs, und seid Jer 48,28-31 wie die Taube, die an den Rändern des Abgrunds nistet. 29Wir haben gehört (vom) Stolz Moabs, sehr stolz (ist es), von seinem Hochmut, seiner Arroganz und seinem Stolz und der Erhebung seines Herzens. 30Ich kenne, spricht JHWH, seine Unverschämtheit und nicht recht sind seine Prahlereien und nicht recht haben sie getan. 31Deshalb werde ich um Moab klagen und wegen ganz Moab werde ich aufschreien, um die Männer von Kir-Heres werde ich trauern. Hld 2,15 Fangt für uns Füchse, junge Füchse zerstören Weinberge, aber unsere Weinberge blühen. 3So spricht der Herr, JHWH: Wehe den törichten Propheten, die hinter Ez 13,3-5 ihrer Geisteshaltung hergehen, aber ohne zu sehen. 4Wie Füchse in Trümmern, Israel, werden deine Propheten sein. 5Ihr seid nicht

ḥafarpārāh ist in seiner Bedeutung umstritten. Es werden Maulwurf, Spitzmaus oder eine Fledermausart vorgeschlagen. Da das Wort ein Hapaxlegomenon ist, fehlen Vergleichsmöglichkeiten. Angesichts der Geografie im betreffenden Vers plädiere ich für eine Fledermaus- oder Vogelart, da die anderen Tiere nicht so recht in den bergigen Lebensraum passen wollen, der hier angesprochen ist. So auch: HALOT, Vol. 1, 341.

319

20a

Hld 2,16-17

20b

Vgl. umgekehrte Reihenfolge in Hld 6,3

20.1

Gen 15,10

21

Hld 3,1-2

21.1

Jes 26,9

21.2

Jes 65,1

22a

22b

Hld 3,4 Verstärktes Motiv mit Wehen, Gebären findet sich in Hld 8,5

22.1

Gen 3,16

22.2

Jes 13,8

22.3

Jes 21,3

23

Hld 3,6-8

23.1

Ex 17,11.13

23.2

Ex 30,34-36

hingegangen zu den Rissen und habt eine Mauer gebaut um das Haus Israel, um standzuhalten am Tag des JHWH. 16Mein Geliebter ist mein und ich bin sein, der da weidet in Lotos. 17Solange der Tag heranweht und die Schatten fliehen, gehe umher und gleiche du, mein Geliebter, der Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen. Ich bin meines Geliebten und mein Geliebter ist mein, der weidet an Lotos. Und er [Abraham] holte ihm [Gott] diese alle [Opfertiere] und zerteilte sie in der Mitte und legte sie jede Hälfte ihrer anderen gegenüber, aber die Vögel zerteilte er nicht. 1Auf meinem Bett in den Nächten suchte ich den, den meine Lebenskraft liebt, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. 2Ich will aufstehen, jetzt, und ich will umhergehen in der Stadt, in den Straßen und auf den Plätzen; ich will den suchen, den ich liebe, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht. Mein Verlangen verlangt nach dir in der Nacht, ja, mit meinem Herz in mir suche ich dich, denn mithilfe deiner Gerichte für die Erde, lernen die Bewohner der Welt Gerechtigkeit. Ich wurde gesucht von denen, die nicht fragten (nach mir), ich wurde gefunden von denen, die mich nicht suchten; ich sprach: Hier bin ich! Hier bin ich! zu einer Nation, die nicht meinen Namen anruft. Kaum war ich an ihnen vorbeigegangen, da fand ich den, den ich liebe, ich hielt ihn und ließ ihn nicht los, bis dass ich ihn brachte ins Haus meiner Mutter und ins Zimmer meiner Empfängnis. Wer ist sie, die heraufkommt aus der Wildnis, auf ihren Geliebten gelehnt? Unter dem Apfelbaum störte ich dich auf, dort lag in Wehen mit dir deine Mutter, dort lag sie in Wehen, sie hat dich geboren. Zu der Frau sprach er [JHWH]: Sehr vervielfacht wird deine Mühsal und deine Empfängnis; mit Schmerz wirst du Kinder gebären und nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, aber er wird über dich herrschen. Und sie sind bestürzt, und Schmerzen und Wehen halten sie fest, wie eine Gebärende mühen sie sich; einer wendet das Gesicht dem anderen zu – sie werden verblüfft sein, ihre Angesichter sind entflammt. Darum füllten sich meine Lenden mit Qualen, Schmerzen hielten mich fest, wie Schmerzen einer Gebärenden; ich krümme mich, um nicht zu hören, ich bin bestürzt, nicht zu sehen. 6Was ist das, heraufkommend aus der Wildnis wie Rauchsäulen, umgeben von Duft, Myrrhe und Weihrauch von allen aromatischen Pulvern der Händler? 7Siehe, sein Sofa, das Salomos, 60 Helden umgeben es, von den Helden Israels. 8Sie alle tragen ein Schwert, sind geübt im Krieg; jeder hat sein Schwert auf seiner Seite, wegen des Schreckens in den Nächten. 11Und es geschah, als Mose seine Hand erhob, da war Israel stark, und als er seine Hand sinken ließ, da war Amalek stark. 13Und Josua besiegte Amalek mit des Schwertes Schneide. 34Und es sprach JHWH zu Mose: Nimm dir Gewürze: Stakte, und Räucherklaue und Galbanum Gewürze und reinen Weihrauch, jedes zu jedem (gleich) soll es sein. 35Und mache daraus Räucherwerk, das Duft-

320

23.3

23.4

23.5 23.6 23.7 23.8 23.9

24

24.1

24.2

24.3

Werk eines Salbenmischers, gesalzen, rein, heilig. 36Und zerstoße es zu Pulver und lege davon vor das Zeugnis im Zelt der Begegnung, denn dort werde ich mich mit dir treffen, hochheilig soll es sein für euch. Ex 32,27 Und er sprach zu ihnen: So spricht JHWH, der Gott Israels: Es setze jeder sein Schwert auf seine Seite, durchstreift und kehrt um von Tor zu Tor im Lager und erschlagt jeder seinen Bruder, und jeder seinen Freund und jeder seinen Nachbarn. 3Und viele Völker gehen und sagen: Geht und lasst uns hinaufziehen Jes 2,3-4 zum Berg JHWHs, zum Haus des Gottes Jakobs, er wird uns lehren von seinen Wegen und wir wollen gehen in seinen Pfaden, denn von Zion geht die Weisung aus und das Wort JHWHs von Jerusalem. 4Und er richtet zwischen den Nationen und er entscheidet was recht ist für viele Völker, und sie schmieden ihre Schwerter zu Pflugmessern und ihre Speere zu Winzermessern, nicht wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden Krieg nicht mehr lernen. 2Und sogar über die Knechte und über die Mägde werde ich meinen Joël 3,2-3 Geist ausgießen an jenem Tag. 3Und ich werde Wunder geben in den Himmeln und im Land: Blut und Feuer und Rauchsäulen. Ps 45,4 Gürte dein Schwert auf die Seite, Held, deine Pracht und deine Majestät. 5Du [Gottesfürchtige/r] wirst dich nicht fürchten wegen des Schreckens Ps 91,5.9a der Nacht, vor dem Pfeil, der am Tag fliegt. 9Denn du, JHWH, bist meine Zuflucht Ps 125,2 Jerusalem, Berge umgeben es und JHWH umgibt sein Volk von jetzt an bis in Ewigkeit. 23Und Salomo setzte sich auf den Thron JHWHs als König nach David, 1 Chr 29,23-25 seinem Vater, und er hatte Gedeihen; und ganz Israel hörte auf ihn. 24Und alle Obersten und die Helden und auch alle Söhne des Königs David, sie unterwarfen sich Salomo, dem König. 25JHWH machte Salomo überaus groß vor den Augen ganz Israels und er verlieh ihm königliche Pracht, wie sie es nicht gegeben hat unter allen Königen vor ihm in Israel. 9Eine Sänfte machte sich der König Salomo von Holz des Libanon. Hld 3,9-11 10Ihre Säulen machte er aus Silber, ihre Bespannung aus Gold, ihren Sitz aus Purpur, ihre Mitte legte er aus mit Liebe von den Töchtern Jerusalems. 11Geht hinaus und seht an, Töchter Zions, den König Salomo mit Krone, es krönte ihn seine Mutter am Tag seiner Hochzeit und am Tag der Freude seines Herzens. In der Tora gibt es 20 Nennungen der Säulen des Zeltheiligtums (18mal in Ex und 2mal in Num: Ex 27,10-12.14-16; 35,11.17; 36,38; 38,10-12.14-15.19; 39,33.40; 40,18; Num 3,36; 4,31). Die Wolken- und Feuersäule, in der Gott den Israeliten den Weg durch die Wüste weist, kommt insgesamt 10mal in der HB vor (Ex 13,212; 14,24; Num 12,5; 14,142; Dtn 31,15; Ps 99,7; Neh 9,122). Purpur wird insgesamt 38mal in der HB erwähnt. 28mal zählt es zu den textilen Materialien, die zur Herstellung von Zeltbahnen und Vorhängen im Heiligtum und zur Herstellung des Efods (Teil des Priestergewands) verwendet wurden (Ex 25,4; 26,1.31.36; 27,16; 28,5-6.8.15.33; 35,6.23.25.35; 36,8.35.37; 38,18.23; 39,1-3.5.8.24.29; Num 4,13). In 2 Chr 2,13; 3,14 findet sich Purpur im Kontext des Tempelbaus unter Salomo. Also insgesamt 30mal im Kontext von Gottes Wohnung. 1Um Zions willen werde ich [JHWH] nicht schweigen und um JerusaJes 62,1-5 lems willen werde ich nicht still sein, bis hervorbricht wie Strahlen ihre Gerechtigkeit und ihre Rettung wie eine brennende Fackel. 2Und die Nationen sehen deine Gerechtigkeit und alle Könige deine Herrlichkeit, und du wirst gerufen bei einem neuen Namen, der vom Mund Gottes

321

24.4

2 Chr 2,7

24.5

2 Chr 7,1.3

25a

Hld 4,1

25b

Hld 6,5

25.1

Ex 35,25-26

25.2

Num 32,24-27

25.3

Dtn 34,1-5

26a

Hld 4,2

26b

Hld 6,6

genannt wird. 3Und du bist eine prachtvolle Krone in der Hand JHWHs und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. 4Nicht länger wird gesagt werden zu dir: Verlassene, und zu deinem Land wird nicht länger gesagt werden: Verödet, denn du wirst gerufen: Freude an ihr, und dein Land: Vermählte, denn Freude hat JHWH an dir und dein Land wird vermählt werden. 5Denn wie ein junger Mann eine junge Frau heiratet, werden sich dir deine Kinder verheiraten, und die Freude des Bräutigams über seine Braut: so freut sich Gott über dich. Und schicke [Hiram] mir [Salomo] Zedern-, Zypressen und Sandelholz vom Libanon, weil ich weiß, dass deine Knechte wissen, das Holz des Libanon zu schlagen und siehe, meine Knechte sind mit deinen Knechten. 1Und als Salomo sein Gebet beendet hatte, da kam Feuer herab von den Himmeln und verzehrte das Brandopfer und die Schlachtopfer und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte den Tempel. 3Und alle Kinder Israels sahen das herabkommende Feuer und die Herrlichkeit JHWHs über dem Tempel, und sie verbeugten sich mit dem Gesicht zum Boden auf das Pflaster, und sie priesen und dankten JHWH, weil er gut ist, weil seine Güte für immer ist. Sieh, du bist schön, meine Liebste, sieh, du bist schön, deine Augen sind Tauben von dort hinter deinem Schleier; dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die vom Berg Gilead herablaufen. Wende deine Augen weg von mir, sie, die mich bestürzen, dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herablaufen vom Gilead. 25Und alle Frauen weisen Herzens, spannen mit ihren Händen, und sie brachten das Gesponnene, das blaue und das purpurne, den roten Karmesin und das Leinen. 26Und alle Frauen, deren Herz erhoben war mit Weisheit, spannen Ziegenhaar. 24Baut euch Städte für eure Kinder und Hürden für eure Schafe, und das Versprechen aus eurem Mund sollt ihr tun. 25Und es sprachen die Kinder Gad und die Kinder Ruben zu Mose und sagten: Deine Knechte werden tun, wie es mein Herr gebietet. 26Unsere Kinder, unsere Frauen, unsere Viehherden und alle unsere Tiere werden dort sein, in den Städten Gileads. 27Und deine Knechte werden hinüberziehen, alle zum Kampf gerüstet vor JHWH zur Schlacht, wie mein Herr es anordnete. 1Und Mose ging hinauf von den Ebenen Moabs zum Berg Nebo, den Gipfel des Pisga, der vor Jericho ist, und JHWH zeigte ihm das ganze Land von Gilead bis Dan. 2Und ganz Naftali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis zum weiten Meer. 3Und den Negev und die Tal-Ebene Jerichos, die Palmenstadt, bis nach Zoar. 4Und JHWH sagte zu ihm: Dies ganze Land, von dem ich geschworen habe, dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob, da ich sprach zu deinen Nachkommen, ich will es (euch) geben, ich habe es dich sehen lassen mit deinen Augen, aber du sollst nicht hinübergehen. 5Und Mose starb dort, der Knecht JHWHs im Land Moab, nach dem Wort JHWHs. Deine Zähne sind wie eine Herde Geschorener, die heraufkommen von der Schwemme, die alle Zwillinge tragen und beraubt von Nachkommen ist keines an ihnen. Deine Zähne sind wie eine Schafherde, die heraufkommt von der Schwemme, die alle Zwillinge tragen und beraubt von Nachkommen ist keines an ihnen.

322 26c 26d 26.1

Hld 4,5 Mit leichter Abweichung: Hld 7,4 Gen 31, 21.24.26.29.38.4144

26.2

Gen 38,12-16.27

26.3

Ex 29,1.3-4

26.4

Jes 53,6-7

Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle, die weiden an Lotos. Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle. er [Jakob] floh und alle, die bei ihm waren, und er stand auf und überquerte den Strom und setzte sein Angesicht gen Berg Gilead. 24Und Gott kam zu Laban, dem Aramäer, im Traum in der Nacht, und er sprach zu ihm: Hüte dich, damit du nicht Worte mit Jakob sprichst, von Gutem bis zu Bösem. 26Und da sprach Laban zu Jakob: Was hast du getan? Du hast mein Herz bestohlen und hast meine Töchter weggeführt wie Kriegsgefangene. 29Die Macht ist in meiner Hand, euch Böses zu tun, aber der Gott eurer Väter sprach gestern zu mir und sagte: Hüte dich, damit du nicht Worte mit Jakob sprichst, von Gutem bis zu Bösem. 38Jakob zu Laban: Diese zwanzig Jahre bin ich bei dir, deine Mutterschafe und deine Ziegen waren ihrer Nachkommen nicht beraubt und die Schafböcke deiner Herden habe ich nicht gegessen. 41Diese zwanzig Jahre bin ich in deinem Haus, habe dir gedient vierzehn Jahre um deine zwei Töchter und sechs Jahre um deine Herden und du hast meinen Lohn zehn Mal verändert. 42Wenn nicht der Gott meines Vaters, der Gott Abrahams und die Furcht Isaaks mit mir gewesen wären, dann hättest du mich jetzt mit leeren Händen weggeschickt. Meine Demut und meiner Hände Arbeit hat Gott gesehen und hat gestern entschieden. 43Und Laban antwortete und sprach zu Jakob: Die Töchter sind meine Töchter und die Kinder sind meine Kinder und die Herden sind meine Herden und alles, was du siehst, es ist mein. Aber für meine Töchter, was werde ich tun für sie? 44Und nun komm, lass uns einen Bund machen, ich und du und Gott als Zeuge zwischen mir und zwischen dir. 12Und es geschah, als die Tage viele geworden waren, da die Tochter Schuas gestorben war, die Frau Judas, da war Juda getröstet und ging hinauf zu den Schafscherern seiner Herden, er und Hira, sein Freund, der Adullamiter, nach Timna. 13Und es wurde Tamar berichtet und gesagt: Siehe, dein Schwieger-vater geht hinauf nach Timna zur Schur seiner Herde. 14Da legte sie ihre Witwengewänder ab von sich und sie bedeckte sich mit einem Schleier und verhüllte sich und setzet sich an das Tor in Enaim, auf dem Weg nach Timna … 15Und Juda sah sie und dachte, sie sei eine Prostituierte, weil sie ihr Gesicht verhüllt hatte. 16Und er bog ab zu ihr von dem Weg und sprach: Komm jetzt, lass mich eingehen zu dir!, weil er nicht wusste, dass sie seine Schwiegertochter war… 27Und es geschah zu der Zeit ihrer Niederkunft, da hatte sie Zwillinge in ihrem Bauch. 1Und nach diesen Worten sollst du [Mose] ihnen tun, um sie zu heiligen als Priester für mich [JHWH], nimm einen jungen Stier und zwei makellose Schafböcke. 3Und lege sie [andere Opfergaben] in einen Korb und bringe sie in dem Korb dar und den Stier und die zwei Schafböcke. 4Und Aaaron und seine Söhne bringe zum Eingang des Zeltes der Begegnung und wasche sie mit Wasser. 6Wir alle irrten umher wie (Kleinvieh)Herden, jeder wandte sich auf seinen Weg, aber JHWH ließ ihn [Gottesknecht] treffen unser aller Verdrehung (Übertretung); 7er wurde unterdrückt und er wurde gedemütigt und er öffnete seinen Mund nicht, wie ein Schaf, das zur Schlachtung 21Und

323

27a

Hld 4,3

27b

Hld 6,7

27.1 27.2

27.3

28a 28b

gebracht wird. Und wie ein Mutterschaf im Angesicht seiner Scherer, war er stumm und öffnete seinen Mund nicht. Wie eine karmesinrote Schnur sind deine Lippen, und dein Mund ist reizvoll; wie Spalten des Granatapfels sind deine Wangen von dort hinter deinem Schleier.

Wie Spalten des Granatapfels sind deine Wangen von dort hinter deinem Schleier. Gen 38,28 Und es geschah, in ihrer [Tamars] Niederkunft, da streckte einer die Hand heraus, und die Hebamme nahm sie und band einen Karmesinfaden um seine Hand und sprach: Dieser ist zuerst herausgekommen. Bei den insgesamt 32 Nennungen von Granatäpfeln in der HB, wird die Anzahl im Hld (6mal) nur vom Buch Exodus übertroffen (8mal) und bezieht sich ausschließlich auf die Applikationen an den Gewändern der Priester für das Zeltheiligtum (Ex 28,33.342; 39,24.252.262). In den Königs- und Chronikbüchern beziehen sich die Nennungen der Granatäpfel ausschließlich auf die Verzierungen am Interieur des Tempels, den Salomo erbauen ließ (1 Kön 7,18.20.422; 2 Kön 25,17; 2 Chr 3,16; 4,132; Jer 52,224). Weitere Nennungen von Granatbäumen: Num 13,23;20,5; Dtn 8,8; 1 Sam 14,2; Joël 1,12; Hag 2,19. 1Geh hinab und setze dich in den Staub, junge Frau, Tochter Babel! Jes 47,2 Setze dich auf die Erde ohne Thron, Tochter der Chaldäer, denn nicht länger werden sie zu dir sagen: Weichliche und Zarte. 2Nimm den Mühlstein und mahle Mehl, decke deinen Schleier auf, entblöße das Gewand, decke auf die Schenkel, durchquere Ströme. 3Es wird aufgedeckt deine Nacktheit, so wird deine Schande gesehen, Rache werde ich nehmen und Menschen nicht verschonen. 4Er ist unser Erlöser, JHWH der Heerscharen ist sein Name, der Heilige Israels. Hld 4,4 Wie ein Turm Davids ist dein Hals, erbaut zum Arsenal, tausend Turm als Vgl. mit Schilde hängen an ihm, alle Rundschilde der Helden. Hals/ Nase/ Brüsten Hld 7,5 Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm; deine Augen sind Teiche in Heschbon, vorm Tor Bath-Rabbim, deine Nase ist wie der Libanonturm hinblickend nach Damaskus.

28c

Hld 8,9-10

28.1

Jes 2,11-18

28.2

Ez 27,1-11.17-18

9Wenn

sie eine Mauer ist, werden wir auf ihr eine Silberwehr bauen, und wenn sie eine Tür ist, werden wir Zederplanken auf ihr (fest)binden. 10Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme, folglich war ich in seinen Augen wie eine, die Frieden fand. 11Die stolzen Augen der Menschen werden erniedrigt und gebeugt wird der Stolz der Männer. Und hoch erhaben ist JHWH, er allein, an jenem Tag, 12denn es ist ein Tag JHWHs der Heerscharen über alles Stolze, Hohe und über alles Hochmütige, da es erniedrigt wird, 13und über alle Zedern des Libanon, die hohen und die überhöhten und über alle Eichen Baschans. 14Und über alle hohen Berge und über alle überhöhten Hügel, 15und über alle hohen Türme und über alle verstärkten Mauern, 16und über alle Tarsisschiffe und über alle begehrenswerten Werke. 17Und der Stolz des Menschen wird gebeugt und der Hochmut der Männer wird gebeugt und hoch erhaben ist JHWH, er allein, an jenem Tag. 18Und die Götzen werden vollständig verschwinden. 1Und es geschah das Wort JHWHs zu mir folgendermaßen: 2und du Menschensohn, erhebe ein Klagelied auf Tyrus 3und sage zu Tyrus, die sitzt am Eingang des Meeres und Handel treibt mit Völkern hin zu vielen Küsten, so spricht der Herr, JHWH: Tyrus, du sagst: Ich bin vollkommen an Schönheit. 4Im Herzen der Meere sind deine Grenzen,

324

28.3

Ps 48,13-15

28.4

Ps 61,4

28.5

Spr 18,10

28.6

2 Chr 32,5

29a 29b

Hld 4,5 Mit leichter Abweichung: Hld 7,4

29c

Hld 8,10

29.1

Jes 60,15-16

29.2

Jes 66,10-13

erbaut haben sie dich in vollkommener Schönheit. 5Mit Wacholder aus Senir bauten sie alle Planken, Zedern vom Libanon nahmen sie, um den Mast herzustellen auf dir. 6Aus Eichen von Baschan machten sie deine Ruder, dein Deck machten sie aus Elfenbein und Buchsbäumen von der Küste Zyperns. 7Bestickter Byssus aus Ägypten war dein Segel und war für dich dein Banner und blauer Purpur von der Küste Elischas war dein Sonnensegel.8Die Bewohner Sidons und Arwads waren deine Ruderer, deine Weisen, Tyrus, die in dir waren, sie leiteten dich. 9Die Ältesten von Gebal und ihre Weisen waren in dir und dichteten deine Beschädigungen ab. Alle Schiffe des Meeres und ihre Seeleute waren in dir, um deine Waren einzutauschen. 10Perser und Lud und Put waren in deiner Armee, deine Kriegsmänner; Schilde und Helme hängten sie in dir auf, sie gaben dir majestätischen Glanz. 11Die Söhne Arwads und dein Heer waren auf deinen Mauern ringsum und die Gammaditer waren auf deinen Türmen. Ihre Schilde hängten sie an deine Mauern ringsum, sie machten deine Schönheit vollkommen. 17Juda und das Land Israel, sie waren deine Händler, mit Weizen von Minnit, Mehl und Honig und Öl und Balsam gaben sie dir im Tauschhandel. 18Damaskus trieb Handel mit dir um eine Vielzahl deiner Güter und um eine Fülle an Schätzen, um Wein aus Helbon und Wolle aus Zachar. 13Geht um Zion herum und umkreist sie, zählt ihre Türme; 14Richtet euer Herz auf ihren Schutzwall und wandelt durch ihre Festungen, damit ihr (es) erzählen könnt der nächsten Generation. 15Denn das ist Gott, unser Gott, für immer und ewig, er wird uns führen bis zum Tod. Denn du [JHWH] warst mir eine Zuflucht, ein starker Turm, vor dem Feind. Der Name JHWHs ist ein starker Turm; zu ihm wird der Gerechte laufen und wird hochgehoben. Und er [Hiskija] war entschlossen und baute alle Mauern auf, die zerbrochen waren und er zog Türme hoch und außerhalb noch eine Mauer, und er verstärkte den Millo der Stadt Davids und er machte Waffen in großer Zahl und Schilde. Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle, die weiden an Lotos. Deine zwei Brüste sind wie zwei Junge, Zwillinge der Gazelle. Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme, folglich war ich in seinen Augen wie eine, die Frieden fand. 15Während deines Verlassen-Seins und des Hasses, da zog nichts und niemand hindurch, aber ich [JHWH] mache dich zum Stolz für immer, zur Freude von Generation zu Generation. 16Dann saugst du die Milch der Nationen und die Brust der Könige wirst du saugen, und du erkennst, dass ich, JHWH, dein Retter bin, und dein Erlöser, der Mächtige Jakobs. 10Freut euch an Jerusalem und jauchzt über sie, alle die sie lieben. Freut euch mit ihr, mit Freude, alle die trauerten über sie. 11Damit ihr saugt und zufrieden seid an der Brust ihrer Tröstungen, damit ihr aufsaugt und euch erfreut an der Fülle ihrer Herrlichkeit. 12Denn so spricht JHWH: Siehe, ich spanne Frieden zu ihr aus, wie einen Fluss und wie einen überfließenden Strom die Herrlichkeit der Nationen und ihr werdet saugen. Auf der Hüfte werdet ihr getragen und auf den Knien werdet ihr

325

30 30.1

30.2

30.3

31 31.1

32 32.1

geschaukelt. 13Wie eine/n, die/den seine Mutter tröstet so werde ich euch trösten und mit Jerusalem werdet ihr getröstet sein. 6Solange der Tag heranweht und die Schatten fliehen, gehe ich hin zum Hld 4,6-7 Myrrhe-Berg und zum Weihrauch-Hügel. 7Alles an dir ist schön, meine Liebste, und Makel sind keine an dir. Das Wort m-w-m kommt nur insgesamt 21mal in der HB vor. In der Tora hat es vor allem kultischen Bezug. Es regelt, dass Menschen mit einem Makel sich nicht dem Heiligtum nähern dürfen und dass Opfertiere makellos sein müssen, um als wohlgefälliges Opfer für Gott qualifiziert zu sein: Lev 21,17-18.21.23; 22,20-21.25; 24,19-20; Num 19,2; Dtn 15,21; 17,1; 32,5. Ijob 11,15; 31,7 und Spr 9,7 können in einem weisheitl. Kontext gelesen werden. 25Und wie Absaloms war keines Mannes Schönheit in ganz Israel so 2 Sam 14,25-27 sehr zu preisen. Von der Sohle seines Fußes bis zu seinem Kopf, war kein Makel an ihm. 26Und wenn er seinen Kopf rasierte, das geschah von Zeit zu Zeit, dass er rasierte, denn schwer war es auf ihm, da rasierte er es. Und das Haar von seinem Kopf wog zweihundert Schekel, nach dem königlichen Gewicht. 27Und es wurden Absalom drei Söhne geboren und eine Tochter und ihr Name war Tamar. Sie war eine Frau von schöner Erscheinung. 3Und der König sprach zu Aschfenas, dem Obersten seiner Eunuchen, Dan 1,3-5 dass er ihm bringe von den Söhnen Israels, von den königlichen Familien und von den Adligen, 4Jünglinge, an denen gar kein Makel war und von guter Erscheinung und begabt mit aller Weisheit und ausgestattet mit Wissen, verständig im Lernen und die die Kraft haben, zu stehen im Palast des Königs und sie zu lehren die Schrift und die Sprache der Chaldäer. 5Und der König wies ihnen eine Tagesration zu von seiner täglichen königlichen Portion und vom Wein seiner Feste und sie wurden unterrichtet, drei Jahre und am Ende standen sie vor dem König. Hld 4,8 Mit mir vom Libanon, Braut, mit mir vom Libanon komm; reise von der Spitze Amana, von der Spitze Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden. 6Und der Wolf verweilt beim Lamm und der Leopard wird niederliegen Jes 11,6-9 mit dem Zicklein und das Kalb und der junge Löwe und das Mastvieh sind beisammen und ein kleines Kind treibt sie an. 7Kuh und Bär werden zusammen grasen, ihre Jungen werden sich niederlegen, und der Löwe, wie das Rind, wird Stroh fressen. 8Und der Säugling spielt über dem Loch der Kobra und nach der Höhle der Viper streckt das Kind seine Hand aus. 9Und es wird nichts Böses getan und nichts wird zerstört auf meinem heiligen Gebirge, denn angefüllt ist das Land mit Erkenntnis JHWHs, wie Wasser das Meer bedeckt. Hld 4,9 Du hast mein Herz weggenommen, meine Schwester, Braut, du hast mein Herz weggenommen mit einem von deinen Augen, mit einem Edelstein von deiner Halskette. 1Und es geschah danach, dass Absalom, Sohn Davids, eine schöne 2 Sam 13,1-2.6-10 Schwester hatte und ihr Name war Tamar, und Amnon, Sohn Davids, liebte sie. 2Und Amnon litt Qualen, bis er krank wurde wegen Tamar, seiner Schwester, denn sie war eine junge Frau. Und es war in Amnons Augen unmöglich etwas zu tun, um sie zu kosten. 6Und da legte sich Amnon nieder und war krank, und es kam der König, um ihn zu sehen, und Amnon sprach zum König: Lass jetzt Tamar, meine Schwester, kommen und lass sie vor meinen beiden Augen Kuchen backen und ich will essen aus ihrer Hand. 7Und David sandte zu Tamar in ihr Haus und sprach: Geh jetzt in das Haus deines Bruders Amnon und bereite für ihn das Essen zu. 8Und Tamar ging in das Haus

326

33 33.1

34 34.1

35a

ihres Bruders und er lag danieder. Da nahm sie den Teig und knetete und backte vor seinen Augen und bereitete die Kuchen zu. 9Und sie nahm die Pfanne und schüttete sie vor ihm aus, aber er weigerte sich zu essen. Und Amnon sprach: Geht hinaus ihr alle von mir! Und alle gingen hinaus von ihm. 10Und Amnon sprach zu Tamar: Bring das Essen ins Zimmer, und ich werde essen aus deiner Hand, und Tamar nahm die Kuchen, die sie gemacht hatte und brachte sie zu Amnon, ihrem Bruder, in das Zimmer. Hld 4,10 Was ist deine Liebe schön, meine Schwester, Braut, was ist deine Liebe besser als Wein, und der Duft deiner Öle als alle Gewürze. Von den insgesamt 58 Vorkommnissen des Wortes r-w-ḥ (Duft, Geruch), entfallen 8mal auf das Hld (1,3.12; 2,13; 4,10-112; 7,9.14) und 37mal auf den Kontext des Opferkultes. Hier ist stets vom „lieblichen oder wohlgefälligen Geruch“ die Rede, den ein korrekt dargebrachtes Opfer für Gott darstellt. Angefangen bei Noah in Gen 8,21. Die meisten Nennungen finden sich in der Tora (Ex 29,18.25.41; Lev 1,9.13.17; 2,2.9.12; 3,5.16; 4,31; 6,8.14; 8,21.28; 17,6; 23,13.18; 26,31; Num 15,3.7.10.13-14.24; 18,17; 28,2.6.8.13.24.27; 29,2.6.8.13.36). In Gen 27,273 erkennt Jakob seinen vermeintlichen Sohn Esau am Geruch der Kleider, in denen sich allerdings Jakob dem blinden Vater präsentierte, um sich den Segen des Erstgeborenen zu erschleichen. In Ex 5,21 ist die einzig negative Bedeutung des Geruchs erwähnt, wo es darum geht, dass das Volk Israel beim Pharao stinkend gemacht wurde, also durch Moses Forderungen die Arbeitslast auf das Volk noch erhöht wurde. Im Kontext der Götzenopfer taucht der liebliche Geruch auch auf: Ez 6,13; 16,19; 20,28. Und wenn Israel sich als Nation metaphorisch selbst Gott als Opfer darbringt, das er als lieblichen Geruch bezeichnet, wendet Gott sich dem Volk liebevoll zu und nimmt es (wieder) an (Ez 20,41; Hos 14,7). In Jer 48,11 bezieht sich der Geruch auf Moab. In Ijob 14,9 ist vom Duft des Wassers die Rede. Hld 4,11 Wabenhonig tropfen deine Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder ist wie der Duft Libanons. Milch und Honig kommen 20mal in der HB vor: Ex 3,8.17; 13,5; 33,3; Lev 20,24; Num 13,27; 14,8; 16,13-14; Dtn 6,3; 11,9; 26,9.15; 27,3; 31,20; Jos 5,6; Jer 11,5; 32,22; Ez 20,6.15. Stets die Bezeichnung für das verheißene Land (Land, in dem Milch und Honig fließen), das JHWH seinem Volk zugedacht und verheißen hat seit Abraham, Isaak und Jakob. (Umgekehrte Reihenfolge zu Hld). Hld 4,12 Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle.

35b

Hld 4,15

35.1

Jes 12,3-4

35.2

Jes 41,18.20

35.3

Jes 44,3

35.4

Jes 45,8

Quelle, Gärten, Brunnen lebendigen Wassers und sie strömen vom Libanon. 3Und ihr werdet Wasser holen mit Freude von den Quellen der Rettung 4und werdet sagen an jenem Tag: Preist JHWH, ruft an seinen Namen, macht bekannt bei den Völkern seine Taten, erinnert (daran), dass sein Name hoch erhoben ist. 18Ich werde Ströme aus den Höhen öffnen und inmitten der Täler Quellen. Ich werde die Wildnis zum Wasserteich machen und das trockene Land zum hervorquellenden Wasser. 20Damit sie sehen und erkennen und bedenken und verstehen miteinander, dass die Hand JHWHs dies getan hat, und der Heilige Israels es erschuf. Denn ich werde Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das trockene Land, ich werde meinen Geist gießen auf deine(n) Saat (Samen) und meinen Segen auf deine Nachkommen. Tropft, ihr Himmel, von oben und ihr Wolken strömt Gerechtigkeit, die Erde wird sich öffnen und Früchte des Heils tragen und zugleich wird Gerechtigkeit hervorsprossen, ich, JHWH, habe sie erschaffen.

327 35.5

Jes 58,11

35.6

Joël 4,18

35.7

Spr 5,15-19

36a

Hld 4,13.16

36b

Hld 7,14

36.1

Gen 24,53 Vgl.Bsp.14.1

37

Hld 4,14

37.1

Ex 30,23-25

37.2

Ps 45,8-9 Vgl. Hld 1,7; 5,5

38

Hld 5,1

38.1

Jes 55,1

39

Hld 5,2-3

Und JHWH leitet dich immerzu und sättigt deine Lebenskraft in der Trockenheit und er wird deine Knochen stark machen, dann bist du wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, die an Wasser nicht versiegt. Und es wird geschehen an jenem Tag wird süßer Wein von den Bergen tropfen, und die Hügel laufen über von Milch, und alle Flüsse Judas laufen (voller) Wasser und eine Quelle fließt aus dem Haus JHWHs und tränkt das Tal Schittim. 15Trinke Wasser aus deiner Zisterne und Strömendes aus der Mitte deines Brunnens. 16Deine Quelle wird überfließen nach draußen auf die Straßen, Wasserbäche. 17Sie werden für dich sein, für dich allein und nicht für Fremde bei dir. 18Deine Quelle wird gesegnet sein und du wirst dich freuen an der Frau deiner Jugend, 19die liebliche Hirschkuh und anmutige Gemse; ihre Brüste werden dich allezeit sättigen, an ihrer Liebe wirst du dich fortwährend berauschen. 13Deine Schösslinge sind ein Park Granatäpfel mit auserlesener Frucht, Henna mit Narde. 16Erwache Nordwind und komm Südwind, durchwehe meinen Garten, seine Gewürze sollen strömen, mein Geliebter soll kommen zu seinem Garten, und er soll seine auserlesene Frucht essen. 14Die Alraunen geben ihren Duft und über unseren Türen sind alle auserlesenen, neue auch alte; mein Geliebter, (sie) hatte ich für dich gesammelt. Und der Knecht zog heraus silbernen Schmuck und goldenen Schmuck und Kleider und gab sie Rebekka und Auserlesenes gab er ihrem Bruder und ihrer Mutter. Narde und Safran, Kalmus und Zimt mit allen Weihrauch-Hölzern, Myrrhe und Aloe, mit allen Spitzengewürzen. 23Und du, nimm dir beste Gewürze, flüssige Myrrhe 500 (Schekel), und Zimtgewürz, die Hälfte davon, 250 (Schekel), und Kalmus 250 (Schekel), 24und Kassia 250 nach dem Schekel des Heiligtums und Olivenöl ein Hin. 25Und mache daraus heiliges Salböl, der Salbenbereiter Salbenbereitungsarbeit; diese Salbenbereitung wird ein heiliges Salböl sein. 8Gerechtigkeit hast du geliebt und gehasst die Boshaftigkeit, deshalb hat dich Gott, dein Gott, gesalbt mit Freudenöl von deinen Gefährten. 9Myrrhe und Aloe, Kassia sind alle deine Gewänder, aus Elfenbein-Palästen erfreuen dich Instrumente. Ich kam zu meinem Garten, meine Schwester, Braut, ich pflückte meine Myrrhe mit meinem Gewürz, ich aß meinen Wabenhonig mit meinem Honig, ich trank meinen Wein mit meiner Milch; esst Freunde, trinkt und werdet liebestrunken. Herbei alle Durstigen, lauft zum Wasser und diejenigen, die kein Geld haben, lauft und esst und lauft und kauft ohne Geld und ohne Kaufpreis, Wein und Milch. 2Ich bin schlafend, aber mein Herz ist wachend, Stimme meines Geliebten, er klopft an: Öffne mir, meine Schwester, meine Liebste, meine Taube, meine Makellose, denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken nachtfeucht. 3Ich habe mein Gewand ausgezogen wie werde ich mich bekleiden? Ich habe meine Füße gewaschen, wie werde ich sie beschmutzen?

328 39.1

Gen 3,21

39.2

Gen 37,23-24

39.3

Gen 43,24

39.4 40

Hos 14,6 Vgl. Hld 2,2.3; 4,10. s. Bsp. 9.2 Hld 5,4

40.1

Jes 16,11

40.2

Jes 63,15

40.3

Jer 4,19

40.4

Jer 31,20

41

Hld 5,5

41.1

Ps 45,9

41.2 41.3

Spr 7,17 Est 2,12c

42

Hld 5,6

42.1

Jes 50,2a

42.2

Jes 54,6-8 Wenig lexemische, dafür inhaltliche und motivische Übereinstimmung.

42.3

Jes 58,9a

42.4

Jes 65,24

Und da machte JHWH, Gott, für Adam und seine Frau Gewänder aus Fell/Leder und bekleidete sie. 23Und es geschah als Josef zu seinen Brüdern kam, da zogen sie ihm, dem Josef, sein Gewand aus, das bunte Gewand, das er trug. 24Und sie nahmen ihn und warfen ihn in eine Zisterne und die Zisterne war leer, kein Wasser war in ihr. Und der Mann [Diener Josefs] führte die Männer [Josefs Brüder] in das Haus Josefs und gab ihnen Wasser und sie wuschen ihre Füße und er gab ihren Eseln Futter. Ich [JHWH] werde sein wie Tau für Israel, es soll erblühen wie Lotos, und seine Wurzeln schlagen wie der Libanon. Mein Geliebter streckte seine Hand von dem Loch aus, und meine Eingeweide lärmten wegen ihm. Darum sind meine Eingeweide wegen Moab wie eine Kastenleier, sie lärmen, und meine Mitte (mein Inneres) wegen Kir-Heres. Schau vom Himmel (herab) und sieh von deiner heiligen Wohnstatt und deiner Herrlichkeit: Wo sind deine Leidenschaft und deine Macht? Das Lärmen deiner Eingeweide und dein Erbarmen hältst du zurück von mir. Meine Eingeweide, meine Eingeweide, ich liege in Wehen! Die Wände meines Herzens – es lärmt in mir mein Herz! Ich kann nicht schweigen, wenn meine Seele den Klang des Schofarhorns hört: Alarm – Krieg! Ist der Sohn mir lieb, Efraim, ja Lieblingskind? Denn so oft wie ich gesprochen habe über ihn, so gewiss werde ich seiner gedenken, fortwährend. Weil meine Eingeweide lärmen wegen ihm, werde ich mich gewiss seiner erbarmen, spricht JHWH. Ich stand auf, ich, zu öffnen für meinen Geliebten, und meine Hand tropfte Myrrhe, und meine Finger überfließende Myrrhe auf die Griffe des Querriegels. Myrrhe und Aloe, Kassia sind alle deine Gewänder, aus Elfenbein-Palästen erfreuen dich Instrumente. Besprengt habe ich mein Bett (mit) Myrrhe, Aloe und Zimt. Denn so erfüllten sie die Tage ihrer Verschönerung: 6 Monate mit Myrrhenbalsam und 6 Monate mit Balsam und mit Salben der Frauen. Ich hatte geöffnet, ich, für meinen Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgedreht und war weggegangen; mein Verlangen war hinausgegangen mit seinem Reden, ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht, ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht. Warum kam ich und kein Mann war da? Ich rief, aber niemand antwortete. Ist etwa meine Hand zu kurz zur Erlösung? Oder ist etwa nicht Kraft in mir zu erretten? 5Denn dein Herr, der dich gemacht hat, JHWH der Heerscharen ist sein Name, und dein Erlöser ist der Heilige Israels, Gott der ganzen Erde wird er genannt. 6Denn wie eine verlassene Frau und im Geist betrübt, ruft dich JHWH, und wie eine junge Frau, die abgelehnt wurde, spricht dein Gott. 7In einem kurzen Moment habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln. 8In einem Ausbruch des Zorns habe ich mein Antlitz einen Moment lang verborgen vor dir, aber mit ewiger Güte erbarme ich mich deiner, spricht dein Erlöser, JHWH. Dann wirst du rufen und JHWH wird antworten, du wirst um Hilfe rufen, und er wird sagen: Hier bin ich! Und es wird sein, noch nicht rufen sie, und ich, ich werde antworten, solange sie reden, werde ich hören.

329 42.5

Jes 66,3b-4

42.6

Jer 7,13

42.7

Jer 29, 12-13

42.8 42.9

Jer 31,22 h-m-q kommt hier und in Hld 7,2 vor Jer 33,3

42.10

Jer 35,17

43

Hld 5,7 Wächter auch in Hld 3,3 Jes 1,5b-6

43.1 43.2 43.3

Jes 3,23 rᵉdı̂ d kommt hier u. in Hld 5,7 vor Jes 9,12

43.4

Jes 62,6

44

Hld 5,10-16

44.1

Ez 28, 12-13

3bSo

haben sie gewählt ihren (eigenen) Weg und mit ihren Abscheulichkeiten erfreuen sie ihre Seelen. 4Auch ich werde wählen mit ihrem Mutwillen und ihre Angst bringe ich über sie, weil ich gerufen habe, aber niemand antwortete, ich habe geredet aber sie haben nicht gehört, und sie taten, was in meinen Augen böse ist, und mich hat nicht erfreut, was sie wählten. Und nun, weil ihr getan habt alle diese Taten, Spruch JHWHs, und ich geredet habe zu euch, beharrlich, und geredet habe, und ihr nicht gehört habt, und ich rief euch, aber ihr habt nicht geantwortet. Und ihr ruft mich an und kommt und betet zu mir, und ich höre auf euch; und ihr sucht mich und ihr findet, weil ihr sucht, mit eurem ganzen Herzen. Bis wann drehst du dich hin und her, Tochter des Rückenzudrehens? Denn JHWH schafft Neues im Land: das Weibliche umgibt den Mann. Rufe zu mir [JHWH] und ich werde dir antworten, und ich werde dir verkünden Großes und Unfassbares, das du nicht kennst. Darum so spricht JHWH, Herr der Heerscharen, Gott Israels: Siehe, ich bringe über Juda und über alle Bewohner Jerusalems all das Unglück, das ich geredet habe über sie, weil ich geredet habe zu ihnen und sie haben nicht gehört, und ich habe ihnen zugerufen, aber sie haben nicht geantwortet. Die Wächter fanden mich, die umhergehen in der Stadt, sie schlugen mich, sie verwundeten mich, sie nahmen weg meinen Überwurf von mir, die Wächter der Mauern. Von der Fußsohle bis zum Kopf, nichts an ihm [Israel] ist heil. Striemen und Schlag und frische Wunden nicht ausgedrückt und nicht verbunden sind sie und nicht erweicht mit Öl. Die Handspiegel und die Hemden und die Turbane und die Überwürfe. Und das Volk kehrte nicht um, zu dem, der es schlug, und JHWH der Heerscharen suchten sie nicht. Auf deinen Mauern Jerusalem habe ich Wächter eingesetzt, den ganzen Tag und die ganze Nacht unaufhörlich schweigen sie nicht; sie erinnern an JHWH, keine Ruhe gibt es für sie. 10Mein Geliebter ist weiß und rötlich, herausragend unter Zehntausend 11Sein Haupt ist reines Gold, seine Locken Dattelrispen, schwarz wie ein Rabe.12Seine Augen sind wie Tauben an Wasserläufen, badend in Milch, sie sitzen in Fassungen. 13Seine Wangen sind wie Balsambeete, Türme aromatischer Kräuter, seine Lippen sind Lotos, sie tropfen überfließende Myrrhe. 14Seine Hände sind Goldrollen, besetzt mit Topas, sein Bauch ist eine Elfenbeinplatte, saphirbedeckt. 15Seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf Goldsockeln, seine Erscheinung ist wie der Libanon, auserlesen wie Zedern. 16Sein Gaumen ist Süßigkeit und alles an ihm ist begehrenswert; das ist mein Geliebter und das ist mein Freund, Töchter Jerusalems. 12Menschensohn, erhebe ein Klagelied über den König von Tyrus und sage ihm: So spricht der Herr, JHWH: Du warst das vollendete Siegel, voller Weisheit und vollkommen an Schönheit; 13du warst in Eden, dem Garten Gottes; aus Edelsteinen jeder Art war deine Decke: Karneol, Topas und Jaspis, Türkis, Onyx und Nephrit, Saphir, Rubin und Smaragd;

330

44.2

44.3 45

45.1

45.2

46

46.1

46.2 46.3

und Arbeit in Gold waren deine Ohrringe und deine Perlen an dir; am Tag als du geschaffen wurdest, wurden sie bereitet. (ELB) 6Und sie [die Sonne] geht hinaus wie ein Bräutigam aus seinem Zimmer Ps 19,6.9-11.15 und freut sich wie ein Mächtiger, ihren Kurs zu laufen. 9Die Gesetze JHWHs sind richtig, sie erfreuen das Herz, die Gebote JHWHs sind rein, sie machen die Augen hell. 10Die Furcht Gottes ist lauter, sie besteht für immer. Die Urteile JHWHs sind Wahrheit, sie sind gerecht allesamt. 11Sie sind begehrenswerter als Gold und viel reines Gold und sie sind süßer als Honig und Wabenhonig. 15Lass zum Wohlgefallen sein, die Worte meines Mundes und das Grübeln meines Herzens vor dir, JHWH, mein Fels und mein Erlöser. Klgl 4,7 Ihre [Jerusalems] Nasiräer waren weiß wie Schnee, wie Milch, rötlich ihre Körper wie Korallen, wie Saphir ihre Erscheinung. 1Wohin ist dein Geliebter gegangen, Schöne unter Frauen, wohin hat Hld 6,1-2 Zur Suche vgl. Hld sich dein Geliebter gewandt? Und wir werden ihn suchen mit dir. 2Mein 3,1.2; 5,6. Geliebter ist hinabgegangen zu seinem Garten zu den Gewürzbeeten, zu weiden in Gärten und Lotos zu pflücken. Das Wort Garten gan oder Gärten gannim kommt insgesamt 41mal in der HB vor: Gen 2,810.15-16; 3,1-3.8.10.23-24; 13,10; Dtn 11,10; 1 Kön 21,2; 2 Kön 21,18.26; 25,4; Jes 51,3; 58,11; Jer 31,12; 39,4; 52,7; Ez 28,13; 31,8-9; 36,35; Joël 2,3; Hld 4,12.15-5,1; 6,2; 8,13; Koh 2,6; Neh 3,15. 21mal davon ist der Garten Eden oder Garten Gottes gemeint, den Gott geschaffen hat für die ersten Menschen (Gen 2,8.9.10.15.16; 3,1.2.3.82.10.23.24; 13,10; Jes 51,3; Ez 28,13; 31,82.9; 36,35; Joël 2,3; 9mal kommt der Garten im Hld vor: 4,122.15.162; 5,1; 6,22.11; 8,13. 4mal ist vom Garten des Königs die Rede (2 Kön 25,4; Jer 39,4; 52,7; Neh 3,15), 2mal von einem Kräutergarten Dtn 11,10; 1 Kön 21,2; . 3mal ist ein Garten als Begräbnisstätte von den Königen Manasse und Amon erwähnt (2 Kön 21,182.26). Der Vergleich des erlösten Volkes Israel mit einem bewässerten Garten findet sich in Jes 58,11; Jer 31,12. In Koh 2,5 werden nicht näher bezeichnete Gärten erwähnt. 3Denn JHWH tröstet Zion, er tröstet all ihre Trümmerstätten und er Jes 51,3-4 macht ihre Verwüstung zu Eden und ihre Wüste zum Garten JHWHs, Freude und Fröhlichkeit werden gefunden werden in ihr, Dankgebet und Stimme des Gesangs. 4Achtet auf mich, mein Volk, und meine Nation, hört auf mich, denn Weisung wird von mir ausgehen und meine Gerechtigkeit wird zum Licht für mein Volk, so verschaffe ich Ruhe. 860 sind sie, Königinnen, und 80 Nebenfrauen und junge Frauen Hld 6,8-9 ohne Zahl. 9Eine ist sie, meine Taube, meine Makellose, eine ist sie für ihre Mutter, rein ist sie für die, die sie gebar; die Töchter sahen sie und nannten sie gesegnet, Königinnen und Nebenfrauen aber priesen sie. Das Wort Königin ist erwartungsgemäß äußerst selten in der Bibel zu finden (insgesamt 35mal in der HB). Die einzigen Erwähnungen beziehen sich neben dem Hohelied auf die Königin von Saba, die Salomo besuchte, seine Weisheit pries und ihn überreich beschenkte, und die Königin Wasti, die Vorgängerin von Königin Ester am Hof des Ahasveros. Mit Ester und ihrer Position als Königin, wird sie zur Retterin ihres Volkes in Bedrängnis. Eine weitere Heilsgeschichte, die sich einfügt in die Befreiungserzählungen Israels. Königin von Saba: 1 Kön 10,1.4.10.13; 2 Chr 9,1.3.9.12; Königinnen Wasti und Ester: Est 1,9.11-12.15-18; 2,22; 4,4; 5,2-3.12; 7,1-3.5-8; 8,1.7; 9,12.29.31. Nur im Hld stehen die Königinnen, wie auch die Töchter Zions/Jerusalems, im Plural. Est 2,17 Und der König liebte Ester von allen Frauen und sie gewann Gunst und Güte vor ihm vor allen jungen Frauen, und er setzte eine königliche Krone auf ihr Haupt, und sie wurde Königin anstelle Wastis. 5Und Rehabeam weilte in Jerusalem, und er baute Städte zur Festung in 2 Chr 11,5.18.2023 Juda.

331 18Und

47

47.1

47.2

48

48.1

48.2

es nahm sich Rehabeam Machalat zur Frau, die Tochter Jerimoths, Sohn des David; (und) Abichail, die Tochter Eliabs, Sohn des Isai. 20Und nach ihr nahm er Maacha, die Tochter Absaloms, und sie gebar ihm Abijah und Attai und Ziza und Schelomit. 21und Rehabeam liebte Maacha, die Tochter Absaloms, von allen seinen Frauen und seinen Nebenfrauen, denn er nahm sich achtzehn Frauen und 60 Nebenfrauen, und er bekam achtundzwanzig Söhne und 60 Töchter. 22Und Rehabeam ernannte zum Prinzen: Abijah, den Sohn Maachas, unter seinen Brüdern, um ihn zum König zu machen. 23Und er war verständig und verteilte von allen seinen Söhnen auf alle Distrikte Judas und Benjamins in alle befestigten Städte, und er gab ihnen Lebensmittel in Fülle und beschaffte eine Vielzahl Frauen. 11Zum Walnussgarten ging ich hinab, anzusehen die grünen Triebe des Hld 6,11-12 Tals, um zu sehen, ob der Weinstock gesprosst hat, die Granatäpfel blühen. 12Ich hatte nicht erkannt, mein Verlangen hatte mich eingesetzt als Streitwagen meines edlen Volkes. 23Und sie [die Kundschafter] kamen bis zum Tal „Traube“ und sie Num 13,23-24.27 schnitten von dort ab den Zweig eines Weinstocks mit einer Traube daran, und sie trugen sie zu zweit an einer Stange, und von den Granatäpfeln und von den Feigen. 24Jenen Ort nannte man Tal Eskol, aufgrund der Traube, die die Kinder Israels von dort abgeschnitten hatten. 27Und sie berichteten ihm und sprachen: Wir kamen in das Land, in das du uns gesandt hast und ja, Milch und Honig fließen in ihm und diese Früchte sind in ihm. 5Wer ist wie JHWH, unser Gott, der hoch oben weilt, 6der sich niederPs 113,5-8 beugt zu sehen, auf die Himmel und auf die Erde? 7Der den Armen vom Staub aufstellt, aus dem Kot erhebt den Bedürftigen, 8um zu sitzen mit den Edlen, mit den Edlen seines Volkes. 1Kehr um, kehr um, Schulamit, kehr um, kehr um, lass uns dich anseHld 7,1-3 hen; was werdet ihr sehen an Schulamit, als einen Tanz der Doppellager? 2Was sind deine Füße schön in den Sandalen, edle Tochter, die Rundungen deiner Schenkel sind wie Schmuckstücke, das Werk von Künstler-Händen. 3Dein Nabel ist eine runde Schale, nicht soll ihr mangeln der Mischwein; dein Bauch ist ein Haufen Weizen, umgrenzt mit Lotos. 2Und Jakob ging seinen Weg und die Engel Gottes begegneten ihm. Gen 32,2-3.8-9 3Und Jakob sagte als er sie sah: Das ist das Heerlager Gottes. Und er gab dem Ort den Namen Machanajim. 8Und Jakob fürchtete sich sehr und ihm war elend, und er teilte das Volk, das bei ihm war, und die Herden und das Vieh und die Kamele in zwei Lager. 9Er sprach: Wenn Esau kommt zu dem einen Lager, um es zu attackieren, dann kann das übrige Lager fliehen. Die doppelte Verwendung der Wurzel š-w-b kommt insgesamt 22mal in der HB vor. In Gen 18,10 wird es von den Boten Gottes verwendet, um die Geburt von Isaak vorauszusagen (wenn ich zurückkehre nächstes Jahr…). Gen 24,5 berichtet von den Überlegungen des Knechtes Abrahams bezüglich der Brautwerbung für seinen Sohn Isaak, ob dieser, falls die Braut nicht mitkommen will, ins Land seiner Eltern zurückkehren soll. In Gen 50,15 fürchten sich Josefs Brüder nach dem Tod des Vaters vor dessen Vergeltung, die nicht eintrifft. In Ex 23,4, Dtn 22,1 und 24,13 wird verlangt, dass derjenige, der ein verirrtes Tier seines Nachbarn sieht, es ihm zurückbringen soll, bzw. der verpfändete Mantel demjenigen zurückgegeben werden soll, damit er sich nachts zudecken kann. In Jos 23,12 wird vor der Verschwägerung mit den fremden Völkern im Land und der Abkehr von Gott gewarnt. In 1 Sam 6,3 geht es um die Bundeslade

332

48.3

48.4

48.5 48.6

49 49.1

49.2

49.3

Gottes sowie in 2 Sam 15,8, wo Ittai mit König David zurückkehrt nach Jerusalem. In 1 Kön 9,6 geht es darum, die Abkehr des Volkes von JHWH zu verhindern durch Gehorsam und Treue gegenüber Gottes Weisungen. In 1 Kön 22,28 und 2 Chr 18,27 prophezeit Micha dem König von Israel, dass er nicht in Frieden nach Jerusalem zurückkehren wird vom Kampf gegen die Syrer. In Jer 30,18 und 48,47, Ez 16,53, Zef 2,7, Ps 68,23 und 85,2 werden verschiedene Aussagen Gottes aufgeführt, die sich alle auf die Beendigung der Gefangenschaft Israels, Judas, Moabs, Samarias durch fremde Eroberer beziehen. In Klgl 2,14 beschwert sich Jeremia in diesem Zusammenhang über die Falschaussagen der Propheten, die nicht zur Umkehr aufgerufen haben. Im Sinne einer geistlichen Umkehr taucht die Wortkombination bei Ezechiel auf: Ez 33,11 Und er sprach zu ihnen: So wahr ich lebe, Spruch meines Herrn JHWH, wenn ich Gefallen haben werde am Tod des Bösewichts, anstatt dass er umkehrt von seinem bösen Weg und lebt! Kehrt um, kehrt um, von euren bösen Wegen, denn wozu wollt ihr sterben, Haus Israel? 7Du sollst nicht weise sein in deinen Augen, fürchte JHWH und wende Spr 3,7-10 dich ab vom Bösen, 8Heilung wird es sein für deinen Nabel und Erfrischung für deine Gebeine. 9Ehre, JHWH mit deinem Reichtum und mit den Erstlingen all deiner Ernte, 10dann wird er deine Speicher füllen mit Überfluss und neuer Wein wird aus deinen Keltern hervorbrechen. Rut 3,7 Und Boaz aß und trank und sein Herz war fröhlich, und er kam, um sich niederzulegen am Ende des [Getreide] Haufens, und sie [Rut] kam heimlich und deckte zu seinen Füßen auf und legte sich nieder. 26Und es war große Freude in Jerusalem. Denn seit den Tagen Salomos, 2 Chr 30,26; 31,56.8 des Sohnes Davids, des Königs von Israel, war nichts wie das in Jerusalem gewesen. 5Und als das Wort bekannt wurde, brachten die Kinder Israels reichlich Erstlingsgaben vom Getreide, neuen Wein und Öl und Honig und von allem Ertrag des Feldes; und den Zehnten von allem brachten sie in Menge. 6Und die Kinder Israels und Judas, die in den Städten Judas wohnten, brachten ebenfalls den Zehnten von den heiligen Gaben, die JHWH, ihrem Gott, geheiligt waren, und sie legten Haufen an Haufen hin. 8Und Hiskija und die Obersten kamen und sahen die Haufen, und sie priesen JHWH und das Volk Israel. 6Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel und die Locken deines Hauptes Hld 7,6-7 Vgl. zu Purpur Hld sind wie Purpur; der König wird gebunden mit den Tressen. 7Was bist 3,10 du schön und was bist du liebreizend, Liebe mit Wonnen. 17Und es geschah als Ahab Elijah sah, sprach Ahab zu ihm: Bist du das, 1 Kön 18,17-20 der Israel Probleme macht? 18Und da sagte er: Nicht ich mache Israel Probleme, sondern du und das Haus deines Vaters, durch euer Verlassen der Gebote JHWHs und das Nachlaufen der Baale. 19Und nun sende hin, versammle zu mir ganz Israel auf den Berg Karmel, die 450 Propheten des Baal, und die 400 Propheten der Aschera, die am Tisch Isebels essen. 20Und Ahab sandte zu allen Kindern Israels und sammelte die Propheten auf dem Berg Karmel. 1Es freuen sich die Wildnis und die Wüste, und es jauchzt die Steppe Jes 35,1-2 (vgl. Bsp. 8.1) und sie wird blühen wie eine Lilie. 2Sie wird in Fülle blühen und sie wird jauchzen, auch wird Jubel und Gesang sein; die Herrlichkeit des Libanon wird ihr gegeben, die Majestät von Karmel und Scharon, sie werden sehen die Herrlichkeit JHWHs, die Majestät unseres Gottes. Jer 50,19 Und ich [JHWH] werde Israel zurückbringen zu seiner Weide, damit es weidet auf Karmel und Baschan und in den Bergen Efraims und Gileads und seine Lebenskraft gesättigt wird.

333 49.4

49.5 49.6 49.7 50 50.1

50.2

50.3

51 51.1

51.2 51.3

Gen 30,38 Wurzel r-h-t, mit anderer Bedeutung: Tränke (3x in HB) Gen 30,41

Und er setzte die Stäbe, die er geschält hatte, in die Tränken, in die Wassertröge, zu denen die Herde kam, um zu trinken, (direkt) vor der Herde, da wurden sie brünstig, wenn sie kamen, um zu trinken.

Und es geschah, dass alles starke Vieh brünstig wurde, wenn Jakob die Stäbe vor den Augen der Herde in die Tränken setzte, so wurden sie brünstig mit den Stäben. Ex 2,16 Und der Priester von Midian hatte sieben Töchter, und sie kamen und schöpften (Wasser) und füllten die Tränken, um die Herden ihres Vaters zu tränken. Koh 2,8 Ich sammelte mir auch Silber und Gold und königlichen Besitz und Ländereien; ich verschaffte (wörtlich: machte) mir Sänger und Sängerinnen und die Wonnen der Menschensöhne: Frauen über Frauen. Hld 7,8 Dieser dein Wuchs gleicht einer Palme, und deine Brüste sind wie Trauben. qomah hat gemeinhin die Bedeutung Höhe (bei Gebäuden oder Gegenständen) oder Statur (körperliches Erscheinungsbild) und kommt insgesamt 25mal mit Suffix in der HB vor. In Gen 6,15 wird es als Höhenangabe der Arche von Noah verwendet. Für die Altäre und den Schaubrottisch des Zeltheiligtums werden die Höhenangaben mit qomah bezeichnet Ex 25,10.23; 27,1; 30,2; 37,1.10.25; 38,1. In 1 Sam 28,20 fällt Saul der Länge nach hin; in 1 Kön 6,2.10.20.23; 7,23.27; 2 Chr 4,1-2; 6,13 geht es um den Tempelbau Salomos und die Gerätschaften für den Tempel, die in ihrer Höhe bezeichnet werden, während es in 1 Kön 7,2 um die Höhe des Libanon Waldhauses geht. In Ez 31,5.14 wird die Großmacht Assur/ihr König mit einem mächtigen Baum verglichen, dessen Wuchs alle anderen Bäume übertraf, aber letztlich zum Niedergang führte wegen Überheblichkeit. 1 Sam 16,7 Und JHWH sprach zu Samuel: Sieh nicht auf seine [Elijabs] äußere Erscheinung und seinen hohen Wuchs, denn ich habe ihn zurückgewiesen, denn nicht wie der Mensch sieht, denn der Mensch sieht mit den Augen, aber JHWH sieht (auf) das Herz. 10Deine Mutter ist wie ein Weinstock, mit deinem Blut an Wassern geEz 19,10-12 pflanzt, fruchtbar und voller Zweige war er vom vielen Wasser. 11Und er bekam starke Äste zu Zeptern, um zu herrschen, und sein Wuchs war hoch bis zwischen die Wolken und er wurde gesehen mit der überhohen Größe seiner Zweige. 12Aber er wurde mit Zorn herausgerissen aus dem Land, er wurde weggeworfen und der Ostwind verdorrte seine Früchte. Die starken Äste wurden abgerissen und vertrockneten, Feuer verzehrte ihn. 10Und dein Gaumen ist wie der gute Wein… – der geht geradewegs in Hld 7,10-11 meinen Geliebten ein, gleitend, macht Lippen schlafend. 11Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen. Gen 3,16 Zu der Frau sprach er [JHWH]: Sehr vervielfacht wird deine Mühsal und tᵉšûqāh kommt insdeine Empfängnis; mit Schmerz wirst du Kinder gebären und nach deigesamt nur 3mal in nem Mann wird dein Verlangen sein, aber er wird über dich herrschen. 6Und JHWH sprach zu Kain: Warum ärgerst du dich und warum entgleider HB vor. Gen 4,6-7 ten deine Gesichtszüge? 7Ist es nicht (so), wenn du gut bist, heben sie sich, aber wenn du nicht gut bist, liegt der sündige Zustand vor der Tür und nach dir ist sein Verlangen, aber du sollst über ihn herrschen. 3Was wir gehört haben und von ihnen wissen, und unsere Väter uns erPs 78,3-4.65-71 . zählt haben, 4werden wir nicht verbergen vor ihren Kindern, der kommenden Generation: die Erzählung von JHWHs Ruhm und seiner Macht und seinen Wundertaten, die er gemacht hat. 65Es erwachte wie vom Schlaf der Herr, wie ein Held ausgenüchtert vom Wein. 66Und er schlug seine Feinde zurück, ewige Schande legte er

334

52

Hld 7,12-14

52.1

Gen 24,23-25

52.2

Rut 1,16

52.3

Rut 3,13

52.4

52.5

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auf sie. 67Und er wies das Zelt Josefs zurück und den Stamm Efraim erwählte er nicht. 68Er erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, den er liebte. 69Und er baute wie die Höhen sein Heiligtum wie das Land, das er gegründet hat auf ewig. 70Und er erwählte David zu seinem Knecht und er nahm ihn von der Schafhürde, 71von den Säugenden weg brachte er ihn zu Hüten sein Volk Jakob und an Israel war sein Besitz. 12Lauf, mein Geliebter, wir wollen hinausgehen aufs Feld, wir wollen übernachten in den Dörfern.13Wir wollen früh aufstehen zum Weinberg, wir wollen sehen, ob der Weinstock gesprosst hat, die Blüten geöffnet sind, die Granatäpfel blühen, dort gebe ich dir meine Liebe. 14Die Alraunen geben ihren Duft und über unseren Türen sind alle auserlesenen, neue auch alte; mein Geliebter, (sie) hatte ich für dich gesammelt. 23Und er [Knecht Abrahams] sprach: Wessen Tochter bist du? Sag es mir bitte? Ist im Haus deines Vaters Raum für uns zu übernachten? 24Und sie [Rebekka] sprach zu ihm: Sogar Stroh und auch Futter in Fülle gibt es bei uns, und auch Raum zu übernachten. 25Und sie aßen und tranken, er und die Männer, die bei ihm waren und sie übernachteten. Am Morgen standen sie auf und er sprach: Sendet mich zu meinem Herrn. Aber Rut sprach [zu Noomi]: Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, umzukehren hinter dir, denn wo du hingehst, werde ich hingehen, und wo du herbergst, werde ich herbergen, dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.

Boas spricht zu Rut: Übernachte heute Nacht und es soll sein am Morgen, wenn er [Verwandter der Noomi] dich lösen wird, gut, er soll lösen, aber wenn er nicht willens ist, dich zu lösen, dann löse ich dich, so wahr JHWH lebt. Bleib bis zum Morgen. Als Ausdruck für Dörfer, kommt kᵉp̱ārim nur 2mal in der HB vor, im Hld und in 1 Chr 27,25. In diesem Kapitel werden die ganzen politisch-wirtschaftlichen und Verwaltungs-strukturen des davidischen Königshofes behandelt. In 1 Chr 27,25 geht es u.a. um Jonatan, den Sohn Ussiiahs, der als oberster Beamter über die Verwaltung der agrarischen Vorräte in den Städten, Türmen und Dörfern gesetzt war. kippurim fällt bei gleichen Konsonanten, aber anderer Vokalisierung, ebenfalls ins Auge. Es kommt nur 8mal in der HB vor und bezeichnet die Sühnung, die mit dem großen Versöhnungstag (Yom Kippur) verbunden ist, der einmal im Jahr stattfindet und zur Entsühnung des Volkes, der Hohepriester und der Altäre (Brandopfer- und Rauchopferaltar) im Zeltheiligtum dient. Ex 29,36; 30,10.16; Lev 23,27-28; 25,9; Num 5,8; 29,11. Diese Sühnung ist als bleibendes Ritual von Gott eingerichtet (Lev 23,27-28), damit die Umgebung geheiligt ist, und Gott dauerhaft inmitten des Volkes wohnen kann (Ex 29,43-46). Ex 30,12-16 spricht vom Sühnegeld, einer einmaligen Abgabe als das Volk gemustert wurde, und dessen Erlös zur Instandhaltung des Zeltheiligtums verwendet wurde. Lev 25,9 legt die Feierlichkeiten des Versöhnungstags zusammen mit dem Feiertag für das Jobeljahr. Einem Jahr, in dem weder Äcker bestellt noch abgeerntet werden (auch alle sieben Jahre nicht), sondern der Boden sich erholen kann und alle Sklaven freigelassen werden müssen und aller gepfändete Besitz zurückgegeben wird (alle 50 Jahre). 14Und Ruben ging (hin) in den Tagen der Weizenernte, und er fand AlGen 30,14-16 raunen auf dem Feld, und er brachte sie zu Lea, seiner Mutter. Da sprach Rahel zu Lea: Gib mir bitte von den Alraunen deines Sohnes. 15Und sie sprach zu ihr: Ist es zu wenig, dass du meinen Mann genommen hast, nun nimmst du auch noch die Alraunen meines Sohnes? Da sagte Rahel: Also wird er mit dir niederliegen heute Nacht (im Tausch) für die Alraunen deines Sohnes. 16Und Jakob kam am Abend vom Feld

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und da ging Lea hinaus zu ihm, um ihn zu treffen und sie sprach: Zu mir wirst du kommen, denn ich habe dich wahrhaftig erworben mit den Alraunen meines Sohnes, und er legte sich nieder mit ihr in dieser Nacht. 3Wenn ihr in meinen [JHWHs] Satzungen wandelt und meine Gebote Lev 26,3-5.9-12 beachtet, und ihr sie tut, 4da werde ich euch Regen geben zu seiner Zeit und das Land wird seinen Ertrag geben und die Bäume des Feldes werden ihre Frucht bringen. 5Und die Dreschzeit wird euch reichen bis zur Weinlese und die Weinlese wird reichen bis zur Aussaat und ihr esst euer Brot zur Sättigung und verweilt in Sicherheit in eurem Land. 9Und ich wende mich euch zu und mache euch fruchtbar und vermehre euch, und ich stehe zu meinem Bund mit euch. 10Und ihr esst das alte Altgewordene und das Alte von vorher werdet ihr hinausbringen (für) das Neue. 11Und ich setze meine Wohnung in eure Mitte und ich werde euch nicht verabscheuen. 12Und ich gehe in eurer Mitte und ich bin für euch Gott und du wirst sein für mich zum Volk. 1Wer gibt dich wie einen Bruder mir, einen Säugling der Brust meiner Hld 8,1-2 Mutter? Werde ich dich draußen finden, werde ich dich küssen, auch werden sie mich nicht verachten. 2Ich werde dich führen, ich werde dich bringen ins Haus meiner Mutter, sie hat mich gelehrt. Ich werde dir zu trinken geben vom Gewürzwein, vom Saft meiner Granatäpfel. Das Wort Säugling taucht insgesamt 12mal in der HB auf: In Num 11,12 beklagt sich Mose bei Gott über die Unzufriedenheit der Israeliten, die in der Wüste jammern und klagen, wegen der bescheidenen Essensversorgung und sich zurückwünschen nach Ägypten. Im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen und der Auslöschung eines Volkes bis zu den Säuglingen, zählen wir 6 Erwähnungen (Dtn 32,25; 1 Sam 15,3; 22,19; Jer 44,7; Klgl 2,11; 4,4). Die übrigen Parallelstellen offenbaren interessante Kontexte: Jes 11,8 Und der Säugling spielt über dem Loch der Kobra und nach der Höhle Vgl. Hld 4,8 der Viper streckt das Kind seine Hand aus. Jes 53,2 Und er [der Gottesknecht] wuchs (heran) wie ein Säugling (oder: eine Vgl. Hld 4,5; 7,4 zarte Pflanze) vor seinem Angesicht [JHWH] und wie eine Wurzel aus dürrer Erde. Weder Hoheit hatte er noch Pracht und als wir ihn sahen, hatte er keine Erscheinung, dass wir ihn begehrt hätten. 14Wer weiß? (Womöglich) wird er [JHWH] umkehren und es sich geJoël 2,14-18 reuen lassen und Segen nach ihm hinterlassen: Speisopfer und Trankopfer für JHWH, euren Gott. 15Blast das Schofar in Zion, heiligt ein Fasten, beruft eine Versammlung ein. 16Versammelt das Volk, heiligt eine Versammlung, versammelt die Ältesten, sammelt die Kinder und die Säuglinge an den Brüsten; der Bräutigam soll herausgehen aus seinem Zimmer und die Braut aus ihrer Kammer. 17Zwischen dem Vorhof und bis zum Altar sollen die Priester weinen, die sich kümmern um JHWH, und sie sollen sagen: hab Mitleid, JHWH, mit deinem Volk, und gib nicht dein Erbteil zur Schande (preis), damit sie zur Spottrede der Nationen werden. Warum sollen sie sagen in den Völkern: Wo ist euer Gott? 18Dann eifert Gott für sein Land und hat Mitleid mit seinem Volk. 2JHWH, unser Herr, wie majestätisch ist dein Name auf der ganzen Ps 8,2-3 Erde, der du deine Pracht gesetzt hast über die Himmel. 3Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du Stärke grundgelegt, damit deine Feinde verstummen, der Feind und der Rächer. Die Verbform tᵉlammᵉḏēnı̂ (sie hat mich gelehrt), gibt es nur im Hld. Insgesamt kommt das Verb l-m-d 86mal in der HB vor und bezieht sich fast ausschließlich auf das Verhältnis zwischen dem, was Gott sagt, seinen Satzungen und Weisungen, und dem Volk, das diese lernen soll, und die sie einander lehren sollen sowie die Ehrfurcht, die sie vor Gott lernen sollen (und was sie nicht lernen sollen von den anderen Völkern im Umgang mit Götzen) Dtn 4,1.5.102.14;

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5,1.31; 6,1; 11,19; 14,23; 17,19; 18,9; 20,18; 31,12-13.19.22; Ps 25,4-5.9; 34,12; 51,15; 60,1; 71,17; 94,10.12; 106,35; 119,7.12.26.64.66.68.71.73.99. 108.124.135.171; 132,12; 143,10. Spr 5,13; 30,3 (berichten von nicht Gelerntem); Koh 12,9; Esra 7,10; 25,7; 2 Chr 17,7.92. Das Wort kommt auch vor im Kontext von Kriegskunst lernen oder nicht mehr den Krieg lernen: Ri 3,2; 2 Sam 1,18; 22,35; Jes 2,4; Mi 4,3; Ps 18,35; 144,1; Hld 3,8; 1 Chr 5,18. Die Propheten leiten an zum Gutes tun und zur Gerechtigkeit, sie erinnern an Gottes Satzungen: Jes 1,17; 26,9-10 und zeigen die negativen Konsequenzen der Verachtung Gottes und des Götzendienstes auf: Jer 2,33; 9,4.13.19; 10,2; 12,163; 13,21; 31,18; 32,332; Ez 19,3.6; Hos 10,11. Das Erlernen anderer Fähigkeiten: Dan 1,4. 13Und der Herr sprach: Denn weil dieses Volk sich naht mit seinem Jes 29,13-14.24 Mund und mit seinen Lippen mich ehrt, aber sein Herz ist weit weg von mir, und ihre Furcht vor meinen Geboten ist menschliche Lehre. 14Deshalb siehe, ich fahre fort wundervoll zu sein mit diesem Volk, höchst wundervoll, und zerstört ist die Weisheit seiner Weisen, und die Verständigkeit seiner Verständigen ist verborgen. 24Und die, die irrenden Geistes sind, erkennen das Verstehen, und die Murrenden werden die Anweisungen lernen. Jes 40,14 Mit wem beriet er [JHWH] und (wer) verstand ihn und lehrte ihn den Vgl. Ijob 21,22 Weg des Rechts und lehrte ihn das Wissen und (wer) zeigte ihm den Weg des Verstehens? Jes 48,17 So spricht JHWH, dein Erlöser, der Heilige Israels: ich, JHWH, dein Gott, lehre dich das Nützliche (Helfende), und führe dich auf dem Weg, den du gehen sollst. Jer 31,34 Und nicht länger werden sie lehren, einer seinen Nachbarn und einer seinen Bruder und sprechen: Erkenne JHWH! Denn sie alle werden mich kennen, von ihren Kleinen bis zu ihren Großen, spricht JHWH, denn ich werde ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Verfehlungen will ich nicht mehr länger gedenken. 6Setz mich als ein Siegel auf dein Herz, als ein Siegel auf deinen Arm, Hld 8,6-7 weil stark wie der Tod ist Liebe, unerbittlich wie Scheol ist Leidenschaft, ihre Flammen sind Feuerflammen, eine Flamme Jahs. 7Große Wasser, sie vermögen die Liebe nicht zu löschen, und Ströme überfluten sie nicht; wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses geben wird in der Liebe, äußerst verachten werden sie ihn. Das Wort für Siegel (ḥôṯām) kommt insgesamt 14mal in der HB vor. In Gen 38,18 begegnen wir erneut der Geschichte von Tamar, die ihren Schwiegervater verkleidet als Prostituierte zum Beischlaf bringt, um schwanger zu werden und als Pfand für seine Bezahlung unter anderem seinen Siegelring von ihm einbehält. In Ex 28,11.21.36; 39,6.14.30 geht es um eine Kunstfertigkeit, die mit Siegelstecherei übersetzt werden kann und sich auf die Juwelen bezieht und das goldene Schild, die zur Ausstattung des Efods des Hohepriesters gehören und von Mose in Auftrag gegeben werden laut Gottes Vorschriften. In 1 Kön 21,8 werden Briefe mit einem Siegel gekennzeichnet und in Jer 22,24 wird metaphorisch angespielt darauf, dass selbst wenn der König von Juda ein Siegelring an Gottes Finger wäre (also Insignien seiner Macht) würde er ihn dennoch von der Hand reißen, also nicht bestehen lassen. In Ijob 38,14, in Gottes Antwort auf Ijobs vorherige Klage, vergleicht Gott die Morgenröte mit Siegelton, der sich verwandelt, wahrscheinlich beim Brennen, denn so verwandelt sich die Morgensonne ebenfalls von rot-orange bis hellgelb. Und in Ijob 41,7 wird die Undurchdringlichkeit des Schuppenpanzers vom Leviathan damit verglichen, dass seine Schilde jeweils einzeln wie versiegelt seien. 21Sprich zu Serubbabel, Statthalter von Juda und sage: Ich erschüttere Hag 2,21-23 die Himmel und das Land. 22Ich stürze den Thron der Königreiche um und zerstöre die Macht der Königreiche der Nationen, und ich stürze die Wagen um und ihre Reiter und die Pferde fallen hin und ihre Reiter, ein jeder durch das Schwert seines Bruders. 23An jenem Tag, Spruch JHWHs der Heerscharen, nehme ich dich Serubbabel, Sohn Schealtiels,

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(als) meinen Knecht, Spruch JHWHs, und ich setze dich ein als Siegel, denn ich habe dich ausgewählt, Spruch JHWHs. Dtn 4,24 Denn JHWH, dein Gott, ist ein Feuer, das verzehrt, ein Gott der Leidenschaft. Jes 26,11 JHWH, erhoben ist deine Hand, niemals werden sie (sie) sehen, sehen werden sie die Leidenschaft des Volkes und beschämt werden, ja, das Feuer wird deine Feinde verzehren. 2Wenn du durchs Wasser gehst – mit dir bin ich, und in Strömen – sie Jes 43,2-3 überfluten dich nicht. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen und die Flamme wird dich nicht verzehren. 3Denn ich bin JHWH, dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser. 5Deshalb, so spricht der Herr, JHWH: Als hätte ich nicht im Feuer meiEz 36,5.7 ner Leidenschaft gesprochen über den Rest der Nationen und über Edom, sie alle, die mein Land gesetzt haben für sich, als Besitz, mit aller Herzensfreude, mit Verachtung des Lebens, damit sie ihre Beute davontragen. 7Deshalb, so spricht der Herr, JHWH, erhebe ich meine Hand (zum Schwur), wenn nicht die Nationen, welche um euch herum sind, ihre eigene Schande tragen werden. 17Und ich [JHWH] werde die Menschen heimsuchen, und sie gehen wie Zef 1,17-18 Blinde, weil sie gegen JHWH gesündigt haben, und ihr Blut wird ausgeschüttet wie Staub und ihr Fleisch wie Mist. 18Auch ihr Silber und ihr Gold wird nicht vermögen sie zu retten, am Tag des Zornes JHWHs, und mit dem Feuer seiner Leidenschaft wird er das ganze Land verzehren. Denn völlige Zerstörung, nur Bestürzung wird er allen Bewohnern des Landes antun. Ps 79,5 Bis wann, JHWH, wirst du zornig sein, für immer? Wie Feuer brennt deine Leidenschaft. Das Wort für verachten b-w-z, kommt insgesamt 32mal in der HB vor (6mal als Eigenname: Gen 22,21; Jer 25,23; Ez 1,3; Ijob 32,2.6; 1 Chr 5,14). Besonders häufig in den Psalmen (5mal) und im Sprüchebuch (10mal): Ps 31,19; 107,40; 119,22; 123,3-4; Spr 1,7; 6,30; 11,12; 12,8; 13,13; 14,21; 18,3; 23,9.22; 30,17; drei weitere Male bei Ijob 12,5.21; 31,34. In der Prophetie des Jesaja für Hiskija, den König von Juda, kommt das Wort verachten 2mal vor: 2 Kön 19,21; Jes 37,22. 1mal kommt b-w-z jeweils in Sach 4,10 und Neh 3,36 vor. 22Und er [ein Freund] kehrte um zu Juda und sprach: Ich habe sie nicht Gen 38,22-23 gefunden, und auch sagen die Leute des Ortes, dass es diese Prostituierte nicht gibt. 23Da sagte Juda: Sie soll sie behalten, damit wir nicht zur Verachtung werden, siehe, ich sandte dies Zicklein und du hast sie nicht gefunden. 1Einen Bund habe ich geschlossen mit meinen Augen, denn wie würde Ijob 31,1.3-4, 3334 ich auf eine junge Frau prüfend blicken? 3Ist nicht Unheil für den Ungerechten, und Missgeschick für die, die Ijob bringt mehrere Beispiele vor Gott, Verfehlungen tun? 4Ist nicht er es, der all meine Wege sieht und meine um seine RechtSchritte zählt? 33wenn ich wie Adam meine Übertretungen verborgen hätte, um in meischaffenheit und Unschuld zu beteunem Busen meine Missetat zu verstecken, 34weil ich mich fürchten ern. In den V. 33würde vor der großen Menge und die Verachtung der Sippschaft mich 34 stellt Ijob rhetobestürzen würde, und ich still wäre und nicht hinausginge zur Tür… rische Fragen Hld 8,8 Unsere Schwester ist jung, und Brüste hat sie keine, was werden wir tun Zu Hld 8,9-10 vgl. für unsere Schwester am Tag, da er spricht mit ihr? Beispiel 28c; Bsp. 28.1-28.6

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Hab 2,1

Auf meinen Wachtposten will ich mich stellen, und ich will Stellung beziehen auf der Befestigungsanlage und Ausschau halten, um zu sehen, was er reden wird mit mir, und was ich zurückbekommen werde auf meine Klage. 2 Ps 87,2-3 JHWH liebt die Tore Zions von allen Wohnungen Jakobs. 3Ehrenhaftes ist von dir geredet, Stadt Gottes (Selah). 13Die verweilt in den Gärten, Gefährten geben acht auf deine Stimme, Hld 8,13-14 lass sie mich hören: 14Fliehe, mein Geliebter, und gleiche du einer Gazelle oder dem Jungen der Hirsche auf den Bergen der Gewürze. Das Wort für beachten, achtgeben, aufmerken q-š-b, kommt insgesamt 55mal in der HB vor. Kein einziges Mal in der Tora, dafür sehr häufig bei den Propheten und in der Weisheitsliteratur (1 Sam 15,22; Jes 10,30; 21,7; 28,23; 32,3; 34,1; 42,23; 48,18; 49,1; Jer 6,10.17.19; 8,6; 23,18; Hos 5,1; Mi 1,2; Sach 1,4; 7,11; Mal 3,16; Ijob 13,6; 33,31; Spr 1,24; 2,2; 4,1.20; 5,1; 7,24; 17,4; 29,12; 2 Chr 20,15; 33,10). Der Kontext dieses Aufmerkens oder Beachtens, steht immer mit Gott in Verbindung (Ausnahmen1 Kön 18,29; 2 Kön 4,31), in den Sprüchen sind es die guten Ratschläge für eine gelingende Lebenspraxis, auf die die Unterwiesenen achtgeben sollen. Ansonsten geht es darum, achtzugeben, aufzumerken auf Gott und sein Wort (daher auch auf die Stimme der Propheten als die Überbringer der Worte Gottes), sich an Gottes Satzungen und Weisungen zu halten, auch um das Gegenteil, die Konsequenzen aus mangelndem Aufmerken und Achtgeben zu ziehen, und es geht darum aufzumerken oder achtzugeben auf das, was Gott tun wird, um das Volk zu erlösen (z.B. die feindlichen Mächte zerschlagen). In einigen Versen wird auch Gott angefleht aufzumerken auf das, was die Betenden erbitten (Jer 18,1819; Ps 5,3; 10,17; 17,1; 55,3; 61,2; 66,19; 86,6; 130,2; 142,7; Dan 9,19; Neh 1,6.11; 9,34; 2 Chr 6,40). Und Gott sagt zu, selbst aufzumerken auf die Bitten und das Flehen des Volkes (2 Chr 7,15). 17So spricht JHWH, dein Erlöser, der Heilige Israels: ich, JHWH, dein Jes 48,17-19 Vgl. Hld 8,2 Gott, lehre dich das Nützliche (Helfende), und führe dich auf dem Weg, den du gehen sollst. 18Dass du acht gehabt hättest auf meine Gebote, so wäre dein Frieden gewesen wie ein Strom und deine Gerechtigkeit wie die Wellen des Meeres, 19und deine Saat wäre gewesen wie Sand und die Nachkommen deines Leibes wie seine Körner, und weder abgeschnitten noch zerstört wäre sein Name vor meinem Angesicht. 3Denn JHWH tröstet Zion, er tröstet all ihre Trümmerstätten und er Jes 51,3-5 macht ihre Verwüstung zu Eden und ihre Wüste zum Garten JHWHs, Freude und Fröhlichkeit werden gefunden werden in ihr, Dankgebet und Stimme des Gesangs. 4Achtet auf mich, mein Volk, und meine Nation, hört auf mich, denn Weisung wird von mir ausgehen und meine Gerechtigkeit wird zum Licht für mein Volk, so verschaffe ich Ruhe. 5Nahe ist meine Gerechtigkeit, meine Rettung ist hinausgegangen und meine Arme werden die Völker richten. Auf mich hoffen die Inseln, und auf meinen Arm warten sie. 20Mein Sohn, gib acht auf meine Worte, zu dem was ich sage, neige Spr 4,20-23 dein Ohr. 21Wende deine Augen nicht ab, bewahre sie inmitten deines Herzens. 22Denn Leben sind sie für die, die sie finden und für all sein Fleisch sind sie Heilung. 23Vor allem behüte, bewahre dein Herz, denn von ihm geht das Leben aus. b-r-ḥ in der Bedeutung fliehen findet sich 63mal in der HB. Es wird sehr viel geflüchtet und das in unterschiedlichen Kontexten. So flüchtet Saras Magd Hagar vor deren schlechter Behandlung (Gen 16,6.8); Jakob flieht vor Esau, dann vor Laban (Gen 27,43; 31,20-22.27; 35,1.7; Hos. 12,13). Mose flieht vor Pharao Ex 2,15 und das Volk vor ihm in Ex 14,5. In Num 24,11 fordert Balak Bileam auf zu entfliehen, bevor er sich vergisst. In Ri 9,21 flieht Jotam vor seinem Bruder Abimelech und in Ri 11,3 flieht Jefta vor seinen Brüdern. In 2 Sam 4,3 fliehen die Beerothiter nach Gittim.

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David flieht gleich mehrmals vor verschiedenen Menschen, die ihm nahestehen. Zum einen flieht er vor Saul (1 Sam 19,12.18; 20,1; 21,11; 22,17.20; 23,6; 27,4 Ps 57,1) und später flieht er vor seinem eigenen Sohn Absalom (2 Sam 15,14; 19,10; 1 Kön 2,7; Ps 3,1), der vorher vor ihm geflohen war (2 Sam 13,34.37-38). Weitere Fluchtgeschichten gibt es in 1 Kön 2,39; 11,17.23.40; 12,2; 1 Chr 8,13; 2 Chr 10,2). Fluchtsituationen bei der Eroberung durch die Babylonier in Jer 4,29; (Ausnahme: 26,21); 39,4; 52,7. Dem Propheten Amos wird die Flucht von einem Kollegen nahegelegt (Am 7,12). Der Prophet Jona flieht vor Gott und seinem Verkündigungsauftrag (Jona 1,3.10; 4,2). Ganz unterschiedliche Flucht-Situationen oder Flucht-Metaphern finden sich in weiteren Versen (Jes 22,3; Ijob 9,25; 14,2; 20,24; 27,22; 41,20; Dan 10,7; Neh 6,11; 13,10.28). 20Zieh hinaus aus Babylon, fliehe von den Chaldäern, mit einer Stimme Jes 48,20-22 Vgl. auch die andeder Freude erzählt, verkündet dies, es gehe hinaus bis ans Ende der Erde, ren Verse aus diesprecht: JHWH hat seinen Knecht Jakob erlöst! 21Und sie hatten keinen Durst, als sie durch die Wüste gingen, Wasser sem Kapitel als Parallelstellen zu Hld aus einem Felsen ließ er fließen für sie, ja, er spaltete den Felsen und da 8,2 floss Wasser. 22Kein Friede, spricht JHWH, für Gottlose. 7Wohin werde ich gehen vor deinem Geist und wohin werde ich fliehen Ps 139,7-10 vor deinem Angesicht? 8Wenn ich aufsteigen würde in die Himmel, dort bist du und wollte ich mich betten im Scheol, siehe, du (bist da)! 9Nähme ich Flügel der Morgendämmerung und verweilte am Ende des Meeres, 10auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich halten.

Sonderfall Ez 16,3-15: In diesen Versen gibt es lexemische und metaphorische Übereinstimmungen. Es wäre zu überprüfen, inwiefern das Hld ein Konter-Narrativ zu den prophetischen Worten entwickelt. 3Und

sage: So spricht der Herr, JHWH, zu Jerusalem: Deine Herkunft und deine Abstammung sind aus dem Land der Kanaaniter; dein Vater war ein Amoriter und deine Mutter eine Hetiterin. 4Und (was) deine Geburt (betrifft): an dem Tag, als du geboren wurdest, wurde deine Nabelschnur nicht abgeschnitten, und du wurdest nicht mit Wasser abgewaschen zur Reinigung und nicht mit Salz abgerieben und nicht in Windeln gewickelt. 5Niemand blickte mitleidig auf dich, um dir eines dieser Dinge aus Mitleid mit dir zu tun, sondern du wurdest auf die Fläche des Feldes geworfen, aus Abscheu vor deinem Leben, an dem Tag, als du geboren wurdest. – 6Da ging ich an dir vorüber und sah dich in deinem Blut zappeln; und zu dir in deinem Blut sprach ich: Bleibe leben! Ja, zu dir in deinem Blut sprach ich: Bleibe leben. 7Zu Zehntausend, wie das Gewächs des Feldes habe ich dich gemacht! Und du wuchsest heran und wurdest groß, und du gelangtest zu höchster Anmut; die Brüste rundeten sich, und dein Haar wuchs reichlich; aber du warst nackt und bloß. 8Und ich ging an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war da, die Zeit der Liebe; und ich breitete meinen (Gewand) Zipfel über dich aus und bedeckte deine Blöße. Und ich schwor dir und trat in einen Bund mit dir, spricht der Herr, JHWH, und du wurdest mein. 9Und ich wusch dich mit Wasser und spülte dein Blut von dir ab und salbte dich mit Öl. 10Und ich bekleidete dich mit Buntwirkerei und beschuhte dich mit Delfinhäuten, ich umwand dich mit Byssus und bedeckte dich mit Seide. 11Und ich schmückte dich mit Schmuck: ich legte Spangen um deine Handgelenke und eine Kette um deinen Hals, 12und ich legte einen reif an deine Nase und Ringe an deine Ohren und (setzte) eine prachtvolle Krone auf deinen Kopf. 13So legtest du goldenen und silbernen Schmuck an, und deine Kleidung (bestand aus) Byssus, Seide und Buntwirkerei. Du aßest Weizengrieß und Honig und Öl. Und du warst sehr, sehr schön und warst des Königtums würdig. 14Und dein Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit; denn sie war vollkommen durch meinen Glanz, den ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, JHWH. 15Aber du vertrautest auf deine Schönheit, und du hurtest auf deinen Ruf hin und gossest deine Hurereien aus über jeden, der vorbeikam: Ihm wurde sie (zuteil). (ELB)

Exegese in unserer Zeit

Kontextuelle Bibelinterpretationen hrsg. von Ute E. Eisen (Gießen/Deutschland), Irmtraud Fischer (Graz/Östereich), Erhard S. Gerstenberger (Marburg/Deutschland)

Marius Nel LGBTIQ + people and Pentecostals An African Pentecostal hermeneutic perspective

This book provides Pentecostals with the necessary equipment and motivation to contribute to one of Africa’s important ethical challenges, LGBTIQ+ people and Africa’s homophobic reaction to them. The study is aimed at Christian believers and pastors, to empower them with relevant information about the issue. The issue is discussed in terms of existing biological, psychological, anthropological, sociological, philosophical and queer theory knowledge, along with a study of the biblical texts, in order to answer the question, what should a responsible African Pentecostal response be towards the LGBTIQ+ issue, and what should Pentecostals’ attitude be towards such people? Bd. 30, 2020, 394 S., 49,90 €, br., ISBN 978-3-643-91248-0

Daniela Feichtinger Josef und die Frau des Potifar Eine exegetische und literaturvergleichende Untersuchung von Gen 39

Sowohl das Thema – die sexuelle Nötigung und Verleumdung eines ausländischen Sklaven – als auch die mit erotischen und ironischen Doppeldeutigkeiten gespickte Sprache machen Gen 39 zu einem außergewöhnlichen Kapitel der Bibel. Die vorliegende Arbeit analysiert die Erzählung und zieht Vergleiche zu biblischen Texten (z.B. über die „fremde Frau“) sowie zu außerbiblischer Literatur (z. B. zur griechischen Komödie). Dabei zeigt sich, dass die Episode weisheitliche und komödiantische Elemente verbindet und womöglich im hellenistischen Ägypten entstanden ist. Bd. 29, 2019, 398 S., 44,90 €, br., ISBN 978-3-643-50880-5

Bernadette J. Brooten Liebe zwischen Frauen Weibliche Homoerotik in hellenistisch-römischer und im frühen Christentum. Ins Deutsche übersetzt von Gerlinde Baumann

Dieses Buch zeigt erstmalig anhand von antiken Quellen, dass sich bereits in früher Zeit Menschen durchaus bewusst waren, dass Frauen einander begehren konnten und dies auch taten. Es untersucht biblische Quellen, griechische Satiren, lateinische Dichtungen und rhetorische Kontroversen, griechische Traumdeutungen, Zaubertafeln, medizinische Handbücher und rabbinisches Schrifttum nach kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie dem, was dazwischen liegt, und geht den Forderungen von Dominanz und Passivität nach. In einem ausführlichen Kommentar zu Römer 1,16-32 wird dargelegt, wie der Apostel Paulus weibliche homoerotische Erfahrungen mit Begriffen und Gender-Vorstellungen seiner Zeit beurteilte. Frühchristliche Apokalypsen und patristische Schriften bestätigen den zeitgenössischen Charakter dieser paulinischen Auslegungen. Das Buch erhielt im englischen Original drei renommierte Auszeichnungen. Bd. 28, 2020, 474 S., 39,90 €, br., ISBN 978-3-643-14071-5

Andrea Fischer Dramen zu „David, Batseba und Urija“ (2 Sam 11) Zur Rezeption hebräischer Erzählkunst in Literatur und Theater – Paul Alberti (1904), Martha Hellmuth (1906) und Emil Bernhard (1919) Bd. 27, 2022, ca. 208 S., ca. 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-14062-3

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Andrea Fischer Königsmacht, Begehren, Ehebruch und Mord – Die Erzählung von „David, Batseba und Urija“ (2 Sam 11) Narratologische Analysen

Die Erzählung von „David, Batseba und Urija“ mit ihren Themen wie Königsmacht, Begehren, Ehebruch und Mord ist eine der spannendsten alttestamentlichen Geschichten und zugleich ein herausragendes Exempel der hebräischen Erzählkunst. Im Mittelpunkt dieser Studie steht die Analyse von 2 Sam 11 anhand narratologischer Kriterien wie Erzählstimme, Perspektive, Handlung, Raum, Zeit und Figuren. Diese ermöglichen eine detaillierte Beschreibung der biblischen Erzählung und zeigen, dass ebenso viel verschwiegen wie erzählt wird. Wie solche Leerstellen und Ambiguitäten die Lektüre des Bibeltextes beeinflussen, wird anhand der Rezeptionsgeschichte der Figuren aufgezeigt. Bd. 26, 2019, 668 S., 39,90 €, br., ISBN 978-3-643-14061-6

Ute E.Eisen; Dina El Omari; Silke Petersen (Hg.) Schrift im Streit – Jüdische, christliche und muslimische Perspektiven Erträge der ESWTR-Tagung vom 2. – 4. November 2016

Gegen das prognostizierte Ende der Religion meldet sich in Gesellschaft und Politik auf den verschiedensten Ebenen die religiöse Frage zurück. Fundamentalistische Rezeptionen heiliger Texte bestimmen dabei oft den Diskurs, woraus Gewalt und Exklusionen von Frauen und anderen gesellschaftlichen Gruppen resultieren. Dies nötigt zu einer Reflexion über Auslegungprinzipien heiliger Texte von Judentum, Christentum und Islam. Die Beiträge dieses Bandes sind interreligiös ausgerichtet und entwickeln unter Einbeziehung ethischer Fragen Alternativen zu einer exkludierenden Lektüre heiliger Schriften. Bd. 25, 2020, 312 S., 39,90 €, br., ISBN 978-3-643-14068-5

Byung Ho Moon Die Ausgrenzung von Fremden im Esra-Nehemiabuch

Durch eine umfassende Analyse der literarischen Struktur des Esra-Nehemiabuchs zeigt Byung Ho Moon auf, dass diese biblische Schrift eine sehr rigorose und exklusive Haltung ‚Fremden‘ gegenüber aufweist. Indem er den beiden Haupt-Erzählsträngen des Konflikts im Esra-Nehemiabuch nachgeht, arbeitet der Autor die sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen dieser fremdenfeindlichen Haltung als ‚Anti-Fremden-Ideologie‘ heraus. Im Anschluss an die inhaltliche Beleuchtung wird diese Anti-Fremden-Ideologie noch einmal aus ideologiekritischer Perspektive betrachtet und auf ihre Entstehungsbedingungen hin befragt. Bd. 24, 2019, 337 S., 39,90 €, br., ISBN 978-3-643-13904-7

Irmtraud Fischer (Hg.) Bibel- und Antikenrezeption Eine interdisziplinäre Annäherung

Die literarischen Stoffe, Rechtstraditionen und materiellen Hinterlassenschaften der Antike und der Bibel waren durch beinahe zwei Jahrtausende hindurch die tragenden Säulen der abendländisch geprägten Kulturtradition. Heute gehören beide nicht mehr zu den zentralen Bildungsgütern. Gleichwohl ist deren Kenntnis die Vorbedingung für ein Verständnis eines Gutteils des europäischen Kulturerbes, das im Aspekt des sog. „Kulturtourismus“ auch wirtschaftliche Bedeutung hat. In dieser interdisziplinären Publikation wird an ausgewählten Beispielen die Frage erörtert, wie Bibel und klassische Antike verstanden, ausgelegt und zur Deutung komplexer (sozial-)politischer Zusammenhänge benützt wurden. Bd. 23, 2014, 440 S., 49,90 €, br., ISBN 978-3-643-50574-3

Yvonne Sophie Thöne Liebe zwischen Stadt und Feld Raum und Geschlecht im Hohelied Bd. 22, 2012, 488 S., 49,90 €, br., ISBN 978-3-643-11633-8

Irmtraud Fischer; Christoph Heil (Hg.) Geschlechterverhältnisse und Macht Lebensformen in der Zeit des frühen Christentums Bd. 21, 2010, 312 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-50218-6

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Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion Befreiende Perspektiven

hrsg. von Prof. Dr. Renate Jost (Hochschule Neuendettelsau), Prof. Dr. Elisabeth Schüssler Fiorenza (Harvard University) und Prof. Dr. Susannah Heschel (Dartmouth College)

Sara Bolze „Auch wenn ich schwach scheine, bin ich stark“ Tamar in Gen 38 und die kanaanäische Frau in Mt 15,21-28 in intersektionaler Perspektive Die interdisziplinäre Arbeit interpretiert zwei Figuren aus beiden biblischen Testamenten mit der sozialwissenschaftlichen Mehrebenenanalyse. Der Fokus liegt auf der Analysekategorie Intersektionalität. Die Arbeit leistet einen Beitrag zum Wachstum von Self-Empowerment und zeichnet ein ermutigendes Bild. Die „Hure“ Tamar in Gen 38 und die kanaanäische „Hündin“ in Mt 15,21-28 verdeutlichen mit ihren lebensspendenden Initiativen, dass es mit Mut, Beharrlichkeit und kreativer Intelligenz möglich ist, Grenzen zu überwinden. Bd. 12, 2022, ca. 168 S., ca. 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-15079-0

Cornelia Schlarb; Gury Schneider-Ludorff; Christine Stradtner (Hg.) Perspektiven Feministischer Theologie und Gender Studies Festschrift für Renate Jost

Der Band vereinigt die Erträge des Symposiums „Perspektiven Feministischer Theologie und Gender Studies“, das die Augustana-Hochschule im Frühjahr 2021 zu Ehren der langjährigen Inhaberin der Professur für Feministische Theologie und Gender Studies, Prof. Dr. Renate Jost, veranstaltet hat. Darüber hinaus verdeutlichen die Beiträge vieler Weg- und Forschungsgefährtinnen und -gefährten die vielfältigen Facetten feministischer Theologie und verweisen auf die ökumenische Weite, internationale Vernetzung, Rezeption und Aktualität feministischer Forschung und Lehre, die gerade für zukünftige Generationen relevant sind und wichtig bleiben werden. Bd. 11, 2021, 250 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-14914-5

Elisabeth Schüssler Fiorenza Kongress der Frauen Religion, Frauen und kyriarchale Macht Bd. 10, 2022, 248 S., 24,90 €, br., ISBN-CH 978-3-643-91289-3

Renate Jost Das göttliche Mädchen Jesus als das Weiblich-Göttliche in Vergangenheit und Gegenwart

Unabhängig davon, wie nahe oder fern Frauen und Männer dem Christentum heute stehen, gehören die Erinnerungen an das engelähnliche Wesen, das am Heiligen Abend auf wundersame Weise den Kindern die Geschenke bringt, zu den schönsten aus der Kindheit. Welche Traditionen und Vorstellungen stehen hinter dem häufig weiblich vorgestellten Christkind? In welcher Beziehung steht es zum biblischen Jesuskind? Wie lässt sich der kindliche Zauber mit einem erwachsenen Glauben in einer säkularen multireligiösen Welt verbinden? Diesen Fragen geht die Autorin in diesem Buch aus einer feministisch-theologischen Perspektive nach. Bd. 9, 2019, 196 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-643-14009-8

Miri Jin Critique and Feminist Theology A Study on the Characteristics of the Critical Feminist Subject and Her/His Action in Elisabeth Schüssler Fiorenza Bd. 8, 2017, 232 S., 34,90 €, br., ISBN 978-3-643-90847-6

Vera-Sabine Winkler Segenstexte – Wege der Befreiung Theo-Poesie konkret Bd. 7, 2016, 190 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-13306-9

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Altes Testament und Moderne

begründet von Hans-Peter Müller (Ý), Michael Welker und Erich Zenger (Ý) herausgegeben in Verbindung mit Andreas Schüle und Bernd Janowski ab Band 24 hrsg. von Prof. Dr. Michaela Bauks (Koblenz), Prof. Dr. Ulrich Berges (Bonn), Prof. Dr. Daniel Krochmalnik (Potsdam), Prof. Dr. Manfred Oeming (Heidelberg)

Rüdiger Bartelmus Das Hohelied – erotische Literatur in der Bibel? Philologische (Vor-)Überlegungen zu einer alttestamentlichen Theologie der Sexualität, ergänzt um einen Seitenblick in die Rezeptionsgeschichte

Erotische Literatur in der Bibel? Viele Menschen – seien es Christen, Juden oder Atheisten – dürften diese Frage spontan mit einem „Nein“ beantworten. Mit Hilfe von fünf Aufsätzen zu Passagen aus dem 1. Kapitel des Hohelieds und einem Aufsatz zur Wahrnehmung des Hohelieds in der Renaissancezeit widerlegt der Autor dieses verbreitete Vorurteil – freilich nicht als Erster: Schon Renaissancekomponisten und -maler hatten den erotischen Charakter der im Hohelied gesammelten Liebesgedichte wieder entdeckt, der im frühen Juden- und Christentum durch allegorische Konstruktionen verdeckt worden war. Bd. 32, 2020, 164 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-14672-4

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Die Auslegungen des Hohelieds entwickeln sich von Polarität zu Pluralität. Diese Arbeit macht einen interdisziplinären Zugang zum Hohelied stark, der Theologie und Soziologie in Dialog bringt. Dabei dient die Resonanztheorie nach Hartmut Rosa als hermeneutischer Schlüssel, der biblisch-anthropologische mit kanonischer Textauslegung zusammenführt. Ergebnis: Das Resonanzgeschehen im und durch das Hohelied entpuppt sich als unverfügbarer und erotisch affizierender Transformationsprozess, der ein radikal-relationistisches Verständnis von SelbstWelt-Beziehungen offenbart.

Dr. phil. Raphaela Swadosch ist Soziologin, Theologin und Pastorin der evangelisch-methodistischen Kirche. Ihre Arbeit entstand im Rahmen der IGS Graz-Erfurt Resonante Weltbeziehungen und sozio-religiöse Praktiken in Antike und Moderne.

978-3-643-15129-2

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