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German Pages 260 Year 2000
THOMAS ROTH
Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 829
Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter
Von
Thomas Roth
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roth, Thomas: Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter / Thomas Roth. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 829) Zugl.: Gießen, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10184-7
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsdienstleistungen Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10184-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die Arbeit wurde i m Juni 1999 abgeschlossen und i m Wintersemester 1999 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Sie entstand während meiner Tätigkeit in Gießen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht I I I . Dem Lehrstuhlinhaber, Herrn Prof. Dr. Wolfram Höfling, Μ . Α., inzwischen Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln, möchte ich herzlich danken. Er hat nicht nur die Anregung zur Bearbeitung dieses Themas gegeben. Als Betreuer der Arbeit hat er mir außerdem die nötige Unterstützung zuteil werden lassen, dabei den M u t zur Eigenständigkeit stets gefördert und darüber hinaus für ein Arbeitsklima gesorgt, das ich als ausgesprochen angenehm und fruchtbar empfunden habe. Mein Dank gilt außerdem Herrn Professor Dr. Klaus Lange, Professur für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre sowie Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofs, für die zeitnahe Erstellung des Zweitgutachtens sowie dem Bundesministerium des Innern für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Für ihre Unterstützung und Geduld möchte ich nicht zuletzt meiner Ehefrau, Mattina Roth, ganz herzlich Dank sagen. Köln, im August 2000
Thomas Roth
Inhaltsverzeichnis § 1 Einführung, Erkenntnisinteresse und Gang der Untersuchung
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§ 2 Verhältnis der Sätze des Art. 101 GG zueinander A. Recht auf den gesetzlichen Richter und Verbot von Ausnahmegerichten B. Recht auf den gesetzlichen Richter und Gesetzesvorbehalt für Gerichte für besondere Sachgebiete
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§ 3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung A. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „Richter" I. Einbeziehung bestimmter Richterfunktionen 1. Ergänzungsrichter und am Eröffhungsbeschluß beteiligter Richter 2. Berichterstatter 3. Vorbereitender und beauftragter Richter II. EuGH als „gesetzlicher Richter" im Sinne des Grundgesetzes B. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich" I. Recht auf den „verfassungsmäßigen" Richter 1. Einbeziehung sonstigen Verfassungsrechts a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts b) Kritik an der Ausweitung des Gewährleistungsbereichs 2. Einbeziehung richterspezifischen Verfassungsrechts II. Weitere Ausweitungsbestrebungen III. Verfahren zur Bestimmung ehrenamtlicher Richter
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten A. Leistungsrechtliche Dimension - der Anspruch auf eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung I. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG - Grundrecht aus der Hand des Gesetzgebers .... 1. Grundrechtsdogmatische Begrifflichkeiten und Argumentationstopoi a) Natürliche Freiheiten und leistungsrechtliche Freiheitsbereiche - Problematik der Bestimmung grundrechtlicher Anspruchsobjekte und Anspruchsinhalte aa) Natürliche Freiheit als „externes" Schutzobjekt abwehrrechtlicher Grundrechtspositionen bb) Vorbehalte gegen konkrete Anspruchsinhalte leistungsrechtlicher Grundrechtspositionen (1) Ausgangslage (2) Unbestimmtheit des Schutzgegenstandes (3) Finanzierbarkeit konkreter Anspruchsinhalte (4) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beim Ausgleich grundrechtsimmanenter Interessengegensätze b) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als institutionelle Garantie c) Ausgestaltung oder Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs - Notwendigkeit einer Grenzziehung
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Inhaltsverzeichnis 2. Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers - Bestimmtheitsgebot als Optimierungsgebot oder Untermaßverbot? a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Literatur im Überblick b) Inhalt der Ausgestaltungspflicht c) Differenzierung der Bestimmtheitsanforderungen nach der normanwendenden hoheitlichen Gewalt d) Ergebnis zum Inhalt der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Gesetzgeber a) Grundrechtsschranken des Rechtes auf den gesetzlichen Richter aa) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schranke des vorbehaltlos gewährleisteten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bb) Insbesondere: Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes und Recht auf den gesetzlichen Richter im Spannungsfeld des Rechtsstaatsprinzips b) Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke 4. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Vorbehalt des formellen Gesetzes a) Vorbehalt des formellen Gesetzes im Verhältnis zur Geschäftsverteilung der Gerichte b) Vorbehalt des formellen Gesetzes im Verhältnis zur Exekutive II. Systematisierung und Bewertung von Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs durch den Gesetzgeber 1. Exekutive und Recht auf den gesetzlichen Richter a) Staatsanwaltschaft und bewegliche Zuständigkeiten aa) Bewegliche sachliche Zuständigkeiten im Gerichtsverfassungsgesetz (1) Steuerung der Zuständigkeitsentscheidung über die „besondere Bedeutung des Falles" und andere unbestimmte Rechtsbegriffe (a) Besondere Bedeutung des Falles (aa) Grundrechtsdogmatische Ausgangslage (bb) Kritik am Rechtfertigungskonzept des Bundesverfassungsgerichts (cc) Verfassungsgüter zur Rechtfertigung der Beeinträchtigungen und Verhältnismäßigkeit (b) Zweckmäßigkeit einer Verhandlung vor dem Jugendgericht (c) Erfordernis besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens (2) Zuständigkeitsbeeinflussung über die Prognose der Straferwartung bb) Bewegliche örtliche Zuständigkeiten im Strafverfahrensrecht ... (1) Gerichtsstandshäufung im Strafverfahren (2) Beweglicher Gerichtsstand des Ermittlungsrichters cc) Zuständigkeitsbeeinflussung durch die Verbindung sowie ein Antragsrecht bei der Verbindung und Trennung von Strafsachen dd) Übernahme der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten
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Inhaltsverzeichnis b) Möglichkeiten der Einflußnahme durch die übrige Exekutive aa) Zuständigkeitsprobleme im Zusammenhang mit den Strafvollstreckungskammern (1) Flexible örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern (2) Zuständigkeit für den Rechtsschutz gegen Gefangenenverlegungen bb) Zuständigkeit der Amtsgerichte bei Einsprüchen gegen Bußgeldbescheide 2. Rechtsprechung und Recht auf den gesetzlichen Richter a) Normen hinsichtlich der Beeinflussung des Rechtsweges und der Zuständigkeit von Gerichten aa) Verweisung an das zuständige Gericht bei eigener Unzuständigkeit oder Unzuständigkeit eines vorinstanzlichen Gerichts (1) Normenbestand und Regelungszusammenhang (2) Ausnahme: Wahlrecht gemäß § 17 a Abs. 2 Satz 2 GVG ... bb) Herbeiführung richterlicher Zuständigkeit in Ausnahmesituationen, Streit- und Konfliktfällen oder bei Unzuständigkeit eines mit der Sache befaßten Gerichts cc) Zulassung von Rechtsmitteln und Annahme von Verfassungsbeschwerden dd) Zurückverweisung des Bundesverfassungsgerichts ee) Zurückverweisung der Rechtsmittelgerichte (1) Beschreibung der rechtlichen Grundlagen (2) Verfassungsrechtliche Bewertung der Vorschriften ff) Abgrenzung der Revisionszuständigkeit zwischen den obersten Landesgerichten und dem Bundesgerichtshof nach § 8 Abs. 2 EGGVG gg) Übernahme von Jugendstrafsachen durch die Jugendkammer nach §41 Abs. 1 Nr. 2 JGG hh) Bestimmung des Gerichtsstandes im Strafverfahren durch das gemeinschaftliche obere Gericht nach § 12 Abs. 2 StPO ii) Trennung verbundener Strafsachen nach § 2 Abs. 2 StPO b) Normen hinsichtlich der Beeinflussung gerichtsinterner Geschäftsverteilung durch Trennung und Verbindung von Verfahren c) Normen hinsichtlich der Veränderung der zahlenmäßigen Besetzung von Spruchkörpern aa) Übertragung von Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung auf Einzelrichter und Rückübertragung bb) Variable Besetzung der Bußgeldsenate bei den Oberlandesgerichten cc) Entscheidungszuständigkeit des Vorsitzenden oder Berichterstatters im vorbereitenden Verfahren dd) Veränderung der Gerichtsbesetzung bei Gerichtsbescheiden oder anderen Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung ... ee) Variable Spruchkörperbesetzungen in Strafsachen (1 ) Umfang beziehungsweise Schwierigkeit einer Sache als Kriterium einer Besetzungsveränderung
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Inhaltsverzeichnis (2) Unterschiedliche Spruchkörperbesetzungen während und außerhalb der Hauptverhandlung 175 3. Recht des Klägers auf Wahl des Gerichtsstandes gemäß § 35 ZPO 178 4. Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im Wiederaufnahmeverfahren durch die Präsidien der Oberlandesgerichte - § 140 a Abs. 2 GVG als Systembruch 179 III. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Maßstab spruchkörperintemer Geschäfts Verteilung der Gerichte 182 1. Spruchkörperinterne Geschäftsverteilung auf der Grundlage von § 21g GVG 183 a) Grundrechtliche Pflicht der Vorsitzenden Richter zur Geschäftsverteilung 183 aa) Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs hinsichtlich der Geschäftsverteilung 183 bb) Grundrechtliche Anforderungen an spruchkörperinteme Geschäftsverteilung 184 (1) Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 185 (2) Bewertung der Plenumsentscheidung 186 (3) Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs 189 (4) Geschäftsverteilungspraxis beim Bundesfinanzhof und Bundesgerichtshof 190 (5) Bewertung der Geschäftsverteilungspraxis 192 b) Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung der verfassungsrechtlichen Anforderungen spruchkörperintemer Geschäftsverteilung 194 c) Begutachtung und grundrechtskonforme Auslegung von § 21 g GVG . 195 aa) Analyse der Gesetzesmaterialien 196 bb) Bewertung der Vorschrift 197 cc) Rechtspolitische Anmerkung 199 2. Zuständigkeitsbestimmung durch Terminierung - Geschäftsverteilung hinsichtlich ehrenamtlicher Richter 199 a) Rechtlicher Rahmen und Praxis der Geschäftsverteilung 200 b) Rechtsprechung und Literatur zur Terminierungspraxis im Überblick . 202 c) Bewertung der Geschäftsverteilungspraxis 204 . Abwehrrechtliche Dimension - Verbot willkürlicher Anwendung von Zuständigkeitsregelungen 206 I. Problemaufriß 207 II. Willkür als Maßstab für Grundrechtsverletzungen der Judikative 208 1. Inhalt des Willkürverbotes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 208 2. Unzulänglichkeiten des Willkürmaßstabes 212 3. Dogmatische Begründung des Willkürverbotes 214 a) Recht auf den gesetzlichen Richter als spezieller Gleichheitssatz oder Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes 215 b) Willkür als Definition „spezifischer Verfassungsverstöße" der Judikative 217 c) Identität zwischen fehlerhafter Gesetzesanwendung und Grundrechtsverstoß 218
Inhaltsverzeichnis
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d) Einschränkung des Prüfungsumfangs zur Funktionsabgrenzung? 219 III. Grundrechtsverletzungen der Exekutive sowie der Gerichte bei der Anwendung von Geschäftsverteilungsplänen 220 § 5 Bundesverfassungsgericht und Recht auf den gesetzlichen Richter A. Probleme im Zusammenhang mit der Wahl der Richter I. Regelung über Amtszeit und Neuwahl der Richter II. Ersuchen um ein Hinausschieben der Neuwahl als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG III. Verzögerung der Neuwahl durch den Bundesrat als Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG B. Variable Spruchkörpergrößen gemäß § 15 Abs. 2 und § 16 Abs. 2 BVerfGG .... C. Wissenschaftliche Mitarbeiter - ein Problem des Rechtes auf den gesetzlichen Richter?
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§ 6 Eckpunkte der Entwicklung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter im Überblick 233 Literaturverzeichnis
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Sachwortverzeichnis
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§ 1 Einführung, Erkenntnisinteresse und Gang der Untersuchung Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umschreibt mit dem Verbot, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ein Prinzip, das neben seiner einfachgesetzlichen Verankerung in § 16 GVG in zahlreichen Landesverfassungen seinen Niederschlag fand 1 und zudem durch internationales Recht2 geschützt wird 3 . Wendet man sich einleitend dem verfassungsrechtlichen Kontext zu, in dem die grundrechtsgleiche 4 Bestimmung steht, so weist diese auf unterschiedliche Weise 1
Art. 20 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Hessen; Art. 86 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Freistaates Bayern; Art. 67 Satz 2 der Verfassung von Berlin; Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz; Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Saarlandes; Art. 6 Abs. 1 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Verfassung verweist auf die Grundrechte des Grundgesetzes; Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg verweist auf die Grundrechte des Grundgesetzes; Art. 4 Abs. 1 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen verweist auf die Grundrechte des Grundgesetzes; Art. 78 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen; Art. 21 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Art. 87 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Thüringen. Enthalten war der Grundsatz auch in Art. 134 Satz 1 der DDR-Verfassung von 1949 und in Art. 101 der DDR-Verfassung von 1974. 2 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), dazu Miehse/Vogler, in: Internationaler Kommentar EMRK, Art. 6 EMRK Rn. 293 f.; Villiger, Handbuch, Rn. 408 ff. und Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK Rn. 122 f. 3 Zur Verankerung des „gesetzlichen Richters" in Verfassungen anderer europäischer und nicht europäischer Staaten siehe bereits Marx, Richter, S. 136ff. und aus neuerer Zeit Eser, in: FS Saiger, S. 247 (258 ff.) sowie Koch, in: FS Nakamura, S. 282 (288 ff.) mit Blick auf die Problematik der Geschäftsverteilung. 4 So die Bezeichnung bei Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 359f.; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Art. 101 GG Rn. 1; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 1 („jedenfalls grundrechtsgleich"). Die Bandbreite der Klassifizierung reicht im übrigen von der Bezeichnung als lediglich institutioneller Rechtsgarantie ohne grundrechtlichen Charakter (Oehler, ZStW 1952,292 [296]), bis zu einer Qualifizierung als (echtem) Grundrecht bzw. Justizgrundrecht, justiziellem Grundrecht, Prozeß- und/oder Verfahrensgrundrecht sowie Hilfsgrundrecht, vgl. Bettermann, AöR 1969,263; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 556; Scupin, Richter, S. 87f.; Henkel, Richter, S. 7; Marx, Richter, S. 61; Hamm, Ablehnung, S. 36; Papier, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 153 Rn.2; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 17; Stern, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 109 Rn.49; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1141. Die außerdem vorkommende Benennung als grundrechtsähnliches Recht ist wohl eher geeignet, weitere Fragen aufzuwerfen, als eine Hilfestellung zur dogmatischen Einordnung der Verfassungsnorm zu geben, siehe Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 6; Stern, Staatsrecht II, S. 916; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 10 („zumindest grundrechts-
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§ 1 Einführung
Verknüpfungen zum Rechtsstaatsprinzip5 der Verfassung auf. Das Recht auf den gesetzlichen Richter wird einerseits als Ausprägung des Rechtsstaatsgebotes angesehen6 und dient andererseits der Verwirklichung anderer rechtsstaatlicher Einzelmerkmale im Sinne eines flankierenden Schutzes. Diese mehrschichtige Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG klingt bereits in einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der grundsätzlichen Feststellung an, die Verfassungsnorm biete, im Einklang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 GG 7 und der in Art. 92 und 97 GG verankerten Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewähr für die Sicherung und Erhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung schlechthin8. ähnlich"); Hill, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 156 Rn. 50 (unter der Überschrift Justizgrundrechte!); Reichl, Richter, S. 53 Fn. 47; Marx, Richter, S. 62 („grundrechtskräftiges grundrechtsähnliches Recht"). Das Bundesverfassungsgericht spricht teils von einem Grundrecht (BVerfGE 14, 156 [161 f.]) oder prozessualen Grundrecht (BVerfGE 28, 314 [323]) und teils von einem grundrechtsähnlichen Recht, das objektives Verfassungsrecht beinhalte (BVerfGE 21,362 [373]; 61, 82 [104]). Ungeachtet der Tatsache, daß im Parlamentarischen Rat darauf hingewiesen wurde, daß im Grundrechtsteil der Verfassung (Art. 1-19 GG) nicht alle Grundrechte zusammengefaßt seien (siehe die Aussage des Berichterstatters von Mangoldt im schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1949, S. 6; zur Entstehungsgeschichte vgl. Stern, Staatsrecht III/l, S. 1460ff. m. N.), erscheint eine Lösung sinnvoll, die einerseits den Gegebenheiten des geltenden Verfassungstextes Rechnung trägt, andererseits weitestmögliche Klarheit hinsichtlich der dogmatischen Behandlung des Rechts gewährleistet. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG befindet sich nicht im Abschnitt: „Die Grundrechte", vielmehr wird das Prinzip verfassungsprozessual den Grundrechten in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG gleichgestellt und enthält (entwicklungsgeschichtlich belegbar) nach seinem abwehrrechtlich formulierten Wortlaut eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung, die sich gegen staatliche Gewaltausübung richtet. Die wesensmäßige Gleichwertigkeit (Starck) aber systematische Selbständigkeit, die bei der Arbeit mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein Denken in grundrechtsdogmatischen Kategorien nach sich zieht, kommt daher am deutlichsten in der Einordnung als „grundrechtsgleiches Recht" zum Ausdruck. Diese Qualifizierung erklärt darüber hinaus die Ausdehnung des personellen Schutzbereichs auf juristische Personen des öffentlichen Rechts. 5 Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz wird bekanntlich nur in Art. 28 Abs. 1 GG ausdrücklich erwähnt, wird aber auch in Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG angesiedelt. Es handelt sich dabei um ein Kompendium unterschiedlicher in der Verfassung ausdrücklich oder nicht ausdrücklich verankerter Konkretisierungen, vgl. dazu nur Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 117ff.; Sobota, Rechtsstaat, S. 19ff. und Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, Band I, § 24 Rn. 69ff. 6 Dazu nur BVerfGE 27,355 (362); 82,159 (194) sowie Sachs, in: Sachs, Art. 20 GG Rn. 52. 7 In der Entscheidung über die Friedensgerichte auf Gemeindeebene im Land Baden-Württemberg aus dem Jahre 1959 wurde dieser Zusammenhang bereits herausgearbeitet, BVerfGE 10,200 (216 ff.); siehe dazu außerdem Kern, JZ 1960,244ff. und Wipfelder, VB1.BW 1982,32 (41). 8 Siehe dazu die Ausführungen im darstellenden Teil des Berichts über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1848 auf der S. 56 zum Kapitel: „Die Rechtspflege", auf die schon Marx, Richter, S. 2 verweist: „Eine unabhängige, unpolitische und rein sachlich eingestellte Rechtspflege ist ein besonders wichtiges Erfordernis und zugleich eine unentbehrliche Bürgschaft des Rechtsstaates." Stern, Staatsrecht III/l, S. 1453 spricht in diesem Zusammenhang vom fundamentalen Charakter des Rechtes auf den gesetzlichen Richter für jede rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit. Es handele sich um konstitutionelles Gerichtsorganisations- und Prozeßrecht, welches zur rechtsstaatlichen Grundausstattung der Gerichte gehöre.
§ 1 Einführung
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kommt in diesem Zusammenhang zunächst die Aufgabe zu, die rechtsstaatliche Funktion der Gerichte zu stärken, die darin besteht, die Rechtsordnung zu wahren9. Diese Funktion wird auf zweierlei Weise vom Prinzip des gesetzlichen Richters flankiert: Als maßgebliche Verfassungsaussage zur rechtsstaatlichen Gerichtsorganisation des Grundgesetzes10 kommt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Aufgabe zu, Objektivität 11 , Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte zu gewährleisten. Im Einklang mit der in Art. 97 GG verankerten Unabhängigkeit der Richter sollen Eingriffe Unbefugter in die Rechtspflege verhindert werden, um die Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche im gerichtlichen Verfahren sachfremder und abträglicher Einflüsse zu entledigen12. Das Ergebnis einer richterlichen Entscheidung soll nicht durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe, etwa die mit Blick auf einen bestimmten Fall vorgenommene, gezielte Auswahl der zuständigen Richter, beeinflußt werden 13. Diesen Anforderungen wird eine Zuständigkeitsordnung gerecht, aus der sich für jeden Einzelfall im voraus die Zuständigkeit von Gerichten und Richtern ermitteln läßt. Unter solchen Bedingungen kann zwar nicht verhindert werden, daß sich ein Richter in einer Sache als befangen oder voreingenommen erweist. Für derartige Konstellationen sind in den Verfahrensordnungen die Vorschriften über den Ausschluß oder die Ablehnung von Richtern vorgesehen. Im Fall einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung hängt es jedoch vom Zufall ab, ob ein mehr oder weniger voreingenommener Richter mit der Sache betraut wird. Die Verwirklichung der soeben beschriebene Aufgabe ist zusätzlich in der Lage, das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unvoreingenommenheit, Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte zu stärken14. Schon aus menschlichen Erwägungen wird man es nicht ausschließen können, daß Betroffene Mißtrauen gegenüber der Motivation des in der Sache entscheidenden Richters hegen. Durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann jedoch zumindest erreicht werden, daß es keine sachliche Basis gibt, hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung von der Möglichkeit einer Manipulation auszugehen15. Dieser Umstand wird sich positiv auf die Auch Oehler, ZStW 1952, 292 (297) hebt hervor, das Gebot gehöre geradezu konstitutiv zu jedem Rechtsstaat. 9 Zu dieser Aufgabe Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 1 ff. 10 Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 1 ff. 11 BVerfGE 82, 159 (194). 12 Kissel, § 1 GVG Rn.2. 13 BVerfGE 4,416f.; 17,299; 22,258; 48,254; 82,96; 82,159 (194); 95, 322 (328ff.), NJW 1997, 1497 (1498). 14 Träger, in: FS Zeidler Band 1, S. 123 (124); zum Vertrauen in den Richter als einer Wurzel des Prinzips siehe bereits Kern, Ausnahme-Gerichte, S. 9. 15 Dazu eindrucksvoll bereits im Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, vom 10. bis 24. August 1948, Kommentierender Teil, S. 93 zu Art. 131: „Unter Ausnahmegerichten sind die durch die Regierung oder Verwaltung für bestimmte Einzelfälle oder Gruppen von Einzelfällen eingesetzten Gerichte zu verstehen, mit denen sich die Gefahr oder der Verdacht verbindet, daß die Gerichtsmitglieder mit einer bestimmten Tendenz ausgewählt werden.
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rechtsstaatliche Verpflichtung der Bürger zum Rechtsgehorsam gerade auch gegenüber solchen Gerichtsentscheidungen auswirken, die erhebliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers beinhalten16. Je größer das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Objektivität der Richter ist, umso höher wird der Grad der Bereitwilligkeit sein, die Autorität der Gerichte zur Entscheidung über die Grenzen der eigenen Freiheitssphäre anzuerkennen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter wird außerdem als Ausprägung des Gerechtigkeitsgedankens verstanden17. Gerichtsurteile sind nicht allein das Ergebnis rein logischer Subsumtionsprozesse. Naturgemäß hängen richterliche Entscheidungen von Wertvorstellungen, Gefühlen, Intelligenz und Vorurteilen der jeweils berufenen Entscheidungsträger ab. Dies gilt nicht nur im Rahmen ausfüllungs- und interpretationsbedürftiger Ermessensbestimmungen und unbestimmter Rechtsbegriffe. Umso wichtiger erscheint es, die Entscheidung über die im Einzelfall zuständigen Richter in ein System einzubinden, welches die Möglichkeit weitestgehend ausschließt, bestimmte Rechtssachen mit Blick auf die persönlichen Dispositionen der Richter zuzuweisen. Insofern läßt sich die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantierte gesetzliche Zuständigkeitsordnung, die aufgrund der allgemeinen Geltung von Normen eine Gleichbehandlung aller Rechtsunterworfenen ohne Ansehen der Person mit sich bringt, als Verwirklichung des in Art. 3 Abs. 1 GG verwurzelten Gedankens der Gerechtigkeit verstehen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" 1* - auch vor dem Gesetz zur Regelung richterlicher Zuständigkeit. Das Prinzip des gesetzlichen Richters wird als echtes Verfahrens- oder Prozeßgrundrecht 19 qualifiziert. Mit dieser Charakterisierung wird nicht nur zum Ausdruck Im Gegensatz dazu steht der „gesetzliche Richter", der durch abstrakte Normen und daher ohne Rücksicht auf die Person der Beteiligten bestimmt ist. 16 Zum Rechtsgehorsam und zum Gewaltverzicht als Korrelat der Wahrung der Rechtsordnung Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Band I, § 13 Rn. 91 ff. 17 Oehler, ZStW 1952,292 (296) spricht ausdrücklich vom „gerechten" Richter. Nach Bruns, NJW 1964, 1884 (1885) bezweckt das Prinzip den Schutz eines obersten Gerechtigkeitsprinzips, nämlich der Würde und der Freiheit des einzelnen. Träger, in: FS Zeidler, S. 123 (125) geht davon aus, „gerechter Richter" bedeute, die materiellen Kriterien des Art. 97 GG in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzubeziehen. Zu dem schwierigen Unterfangen, Gerechtigkeit zu definieren, siehe etwa Dreier, JuS 1996, 580 ff. 18 Zur Gleichheit als Idee der Gerechtigkeit allgemein und den damit verbundenen Problemen einer Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG siehe nur BVerfGE 3,58 (135); 86,81 (87) sowie aus der Literatur: Stern, Staatsrecht III/2, S. 1827 f.; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 124 Rn. 21, 153 bis 157, 250ff., 277; Osterloh, in: Sachs, Art. 3 GG Rn. 1 ff. jeweils mit weiteren Hinweisen. Durch die Allgemeinheit der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung wird demnach die Gleichbehandlung der Rechtsunterworfenen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung verwirklicht. Nur insofern ist der noch zu erwähnenden Ansicht (§ 4 B.II.3.a)) zu folgen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Spezialfall bzw. Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 1 GG ansieht. 19 Zu diesem Zusammenhang Stern, Staatsrecht III/l, S. 1437 ff.; der s., Staatsrecht III/2, S. 1141 ; ders., in: FS Ule, S. 359ff. Siehe auch Goerlich, Verfahrensgarantien, S. 212. Teilweise wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in anderer Umschreibung auch als justizielles Grundrecht bzw.
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gebracht, daß die Verfassungsnorm im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG beziehungsweise dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten allgemeinen Justizgewähranspruch 20 sowie Art. 103 und 104 GG strukturbildend für die Organisation der Gerichte und das Verfahren vor den Gerichten wirkt. Diese Bezeichnung umschreibt auch die Eigenart von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber den sogenannten materiellen Grundrechten, wie der Meinungsfreiheit oder Berufsfreiheit, die darin besteht, den aus der Norm Berechtigten in seiner Rechtsstellung als Prozeßsubjekt oder -objekt zu erfassen. Als Verfahrensgrundrecht ist es in den Dienst der prozessualen Verwirklichung und des prozessualen Schutzes materieller Grundrechte - und anderer subjektiver Rechte21 - gestellt. Die Manipulation gerichtlicher Zuständigkeiten kann zu einer Beeinträchtigung der in materiellen Grundrechten verankerten Freiheitssphäre der Bürger führen. Deutlich wird diese Gefahr etwa anhand der unterschiedlichen Strafgewalt der Amtsund Landgerichte. Eine Beeinflussung des im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Strafgerichts kann zu einer höheren Freiheitsstrafe und daher zu einer intensiveren Beeinträchtigung der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützten Freiheit der Person führen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG soll diesen Zugriff auf die richterliche Gewalt verhindern und wird damit seiner Rolle als „prozessuales Komplementärinstitut" 22 materieller Grundrechte gerecht. Schlägt man den Bogen von der allgemeinen Charakterisierung zum Gewährleistungsbereich des Grundrechts, wird deutlich, daß die allgemeine grundrechtsdogmatische Entwicklung23 zu einer fortwährenden Verfeinerung des Problembewußtseins hinsichtlich der Anforderungen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an die hoheitlichen Gewalten stellt, geführt hat. Seit Bestehen des Grundgesetzes hat sich eine Vielzahl von Autoren mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter im Grundsätzlichen oder mit Blick auf spezielle Problemstellungen befaßt 24. Darüber hinaus sind annä-
justizielle Garantie bezeichnet; zu dieser Qualifizierung siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 956, S. 1465 f. 20 Dazu Papier, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 153 und § 154; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV GG, insbes. Rn. 15 ff. 21 Zur Problematik einer strikten Trennung von formellen und materiellen Grundrechten siehe nur Stern, Staatsrecht III/l, S. 469f., der gerade in bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hervorhebt, daß die geltend gemachte Rechtsposition, das materielle Recht, von spezifischen, innerprozessualen Interessen der Beteiligten überlagert wird. 22 So Stern, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 109 Rn. 49 und Stern, Staatsrecht III/l, S. 1454, 1467. 23 Zur Entwicklung der Grundrechtsauslegung und dem Streit um die richtige Auslegungsmethode siehe nur Stern, Staatsrecht III/2, S. 1648 ff. 24 Zu nennen sind zunächst die Dissertationen von Baader, Zuständigkeitsvorschriften, aus dem Jahre 1952 sowie aus den sechziger und siebziger Jahren in zeitlicher Reihenfolge von Kröger, Bedeutung, 1962 (zu § 24 Abs. 1 Nr. 2,3 GVG); Scupin, Richter, 1963; Gottschalk, Richter, 1965; Gerleit, Recht, 1967; Henkel, Richter, 1968; Marx, Richter, 1969; Kellermann, Probleme, 1971 ; Hamm, Ablehnung, 1973; Stemmler, Befangenheit, 1975 (beide unter dem Gesichtspunkt 2 Roth
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hernd fünfzig Jahre Rechtsprechungspraxis zur richterlichen Zuständigkeitsordnung zu verzeichnen. Dennoch stellen sich im Zusammenhang mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters nach wie vor Fragen von grundlegender Bedeutung, die der folgenden Arbeit ihre Struktur geben und deren Beantwortung im Mittelpunkt der sich anschließenden Ausführungen steht: 1. Welche Richterfunktionen fallen im einzelnen unter das Tatbestandsmerkmal „Richter" und welche rechtlichen Voraussetzungen richterlicher Tätigkeit werden durch die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete „Gesetzlichkeit" garantiert (§3)?
2. Wie läßt es sich grundrechtsdogmatisch umsetzen, daß der Gesetzgeber einerseits verpflichtet ist, durch die Bereitstellung einfachgesetzlicher Zuständigkeitsnormen den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszugestalten, zugleich aber an die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Rechtes auf den gesetzlichen Richter gebunden ist (§ 4 Α. I.)? Mit Beantwortung dieser Frage soll zugleich ein Beitrag zur Struktur der allgemeinen grundrechtsdogmatischen Kategorie der Ausgestaltung erbracht werden. 3. Wie hat der Gesetzgeber seine aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgende Verpflichtung zur gesetzlichen Regelung richterlicher Zuständigkeit in die Tat umgesetzt und wie ist es demzufolge um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der bestehenden Zuständigkeitsnormen bestellt (§ 4 Α.Π.)? Im Zusammenhang mit der Erörterung der gesetzlichen Grundlagen im Gerichtsverfassungsgesetz wird auch die - in den letzten Jahren lebhaft diskutierte - Problematik spruchkörperintemer Geschäftsverteilung Gegenstand der Betrachtung sein (dazu §4 A.III.). der Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Richters) sowie zuletzt Reicht, Probleme, 1994 (zur Verwaltungsgerichtsbarkeit). Darüber hinaus sind die umfangreichen, teils monographieähnlichen Beiträge von Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 ff. zur Unabhängigkeit der Gerichte und dem gesetzlichen Richter sowie im AöR 1967, 496 ff. über das Gerichtsverfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und im AöR 1969,263 ff. mit einer kritischen Betrachtung der in den ersten 23 Bänden veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu erwähnen. Auch ist auf einige Aufsätze und (Festschriften-) Beiträge an dieser Stelle hinzuweisen, die sich durch einen allgemeinen, eher verfassungsrechtlichen Zugriff auf die Problematik des „gesetzlichen Richters" auszeichnen, so Oehler, ZStW 1952,292 ff.; Ostler, JR 1957,454 f.; Schröder,, DRiZ 1959, 321 f.; Arndt, DRiZ 1959, 171 ff.; Schiedermair, DÖV 1960, 6ff.; ders. in: Recht und Gesetz, S. 15 ff.; Erdsiek, NJW 1963, 240ff. (zur Geschäfts Verteilung); Rinck, NJW 1964,1649 ff.; Bruns, NJW 1964,1884 ff.; Joachim,, DRiZ 1965,181 ff.; Schneider, NJW 1968, 96ff.; von Winterfeld, NJW 1972, 1399ff.; Funk, Der Sozialrichter 1972, Iff., 7f., 9ff.; Wipfelder, VB1BW 1982, 33ff.; Träger, in: FS Zeidler, S. 123ff.; Pechstein,, Jura 1998, 197ff. Mit rechtsvergleichendem Ansatz widmen sich der Problematik schließlich Koch, in: FS Nakamura, S. 283 ff. und Eser, in: FS Saiger, S. 247 ff. Zum Recht auf den gesetzlichen Richter in Österreich siehe Berchtold, EuGRZ 1982, 246ff. Nicht aufgeführt werden an dieser Stelle die zahlreichen Kommentierungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beziehungsweise zu den entsprechenden Vorschriften in den Landesverfassungen.
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4. Ist die Annahme dogmatisch zutreffend, wonach den Grundrechtsberechtigten durch die Judikative nur dann der „gesetzliche Richter" entzogen wird, wenn die Gerichte prozessuale Normen über die Zuständigkeit willkürlich fehlerhaft anwenden (§4B.)?
5. Wie sind die Normen über Amtszeit und Neuwahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts und die Anwendung dieser Gesetze grundrechtlich zu bewerten (§5)?
§ 2 Verhältnis der Sätze des Art-101 GG zueinander Art. 101 GG besteht aus zwei Absätzen, von denen der erste wiederum zwei unterschiedliche Sätze beinhaltet. In welchem Verhältnis steht der im Anschluß unter § 3 erörterte Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter zum Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG (dazu A.) beziehungsweise zu dem in Art. 101 Abs. 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt für Gerichte für besondere Sachgebiete (dazu B.)? Lassen sich die Regelungsinhalte voneinander abgrenzen oder gibt es Überschneidungsbereiche?
A. Recht auf den gesetzlichen Richter und Verbot von Ausnahmegerichten Wortlaut und Systematik von Art. 101 Abs. 1 GG spiegeln das Verhältnis der beiden Sätze des Absatzes zueinander nur unzureichend wider 1. Die Regelung des Verbotes von Ausnahmegerichten ist dem Recht auf den gesetzlichen Richter vorangestellt. Daraus könnte geschlossen werden, das Verbot von Ausnahmegerichten enthalte eine inhaltlich eigenständige Normierung, es sei jedenfalls die gegenüber dem nachfolgenden Prinzip des gesetzlichen Richters allgemeine Regelung. Dies ist jedoch nicht der Fall. Ausnahmegerichte zeichnen sich dadurch aus, daß sie in Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit gebildet und zur Entscheidung konkreter beziehungsweise individuell bestimmter Fälle berufen sind2. Die Ga1 Zu den unterschiedlichen Ansichten, die von einer gänzlichen Deckung, einer Überschneidung, einem gegenseitigen Ausschluß bis zum selbständigen Nebeneinanderstehen der beiden Prinzipien reichen siehe bereits Kern, Richter, S. 156 f. 2 BVerfGE 3, 213 (223); 8,174 (182); 10, 200 (212); 14,56 (72). Kern, Richter, S. 234 geht davon aus, daß bei der Schaffung von Ausnahmegerichten ohnehin in aller Regel willkürlich gehandelt werde, da sachgerechte Fälle insoweit kaum denkbar seien; insofern sei das Merkmal der Willkür als Zusatz entbehrlich. Nicht eindeutig wird vielfach die Frage beantwortet, ob Willkür notwendige Voraussetzung ist, um von der Bildung eines Ausnahmegerichtes sprechen zu können, siehe Rinck, NJW 1964, 1649 (1652ff.); Leibholz, Gleichheit, S. 107 f., 183: „Wesen der Ausnahmegerichte ist nur vom Begriff der Willkür her zu erfassen"; Henkel, Richter, S. 88; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 3; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Art. 101 GG Rn. 12; Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Art. 101 GG Rn. 7, der auf das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot zur Abgrenzung der Ausnahmegerichte von den Gerichten für besondere Sachgebiete verweist; Stern, Staatsrecht II, S. 916; ablehnend etwa Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 23; skeptisch auch Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 8. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich entgegen der Annahme von Reichl, Probleme, S. 50 und Leibholz/Rinck/Hes-
Α. Verbot von Ausnahmegerichten
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rantie des gesetzlichen Richters w i l l demgegenüber jeden Eingriff in die Rechtspflege abwehren, der die gesetzliche Zuständigkeitsregelung mißachtet. Sie verbietet daher auch, ein Ausnahmegericht für einen bestimmten Fall einzusetzen, das anstelle des Gerichts tätig wird, welches eigentlich nach der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung zur Entscheidung berufen ist. Jede Errichtung eines Ausnahmegerichts stellt mithin einen Verstoß gegen das Richterentziehungsverbot dar. Umgekehrt wird nicht durch jede Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein Ausnahmegerichtsstand begründet. Dies trifft etwa für die nicht hinreichend genaue Regelung richterlicher Zuständigkeit durch den Gesetzgeber beziehungsweise die - willkürlich - fehlerhafte Anwendung einfachgesetzlicher Zuständigkeitsvorschriften durch die Rechtsprechung zu 3 . Das Verbot, Ausnahmegerichte zu errichten, ist daher, i m Gegensatz zur Regelungssystematik des Art. 101 Abs. 1 GG, ein Anwendungs- oder Spezialfall des Prinzips des gesetzlichen Richters 4 . Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte vermag diese Feststellung zu stützen. Bereits die Art. 62 und 63 der charte constitutionelle française vom 04.06.1814 weisen das Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten als Folgerung des Verbotes
selberger nicht eindeutig entnehmen, daß Willkür Tatbestandsvoraussetzung der Errichtung eines Ausnahmegerichtes darstellt. Willkür als Merkmal wird entweder überhaupt nicht erwähnt, BVerfGE 3,213 (223); 10, 200 (212) oder aber ausdrücklich als dem allgemeinen Gleichheitssatz zugehörig klassifiziert, BVerfGE 8,174 (182f.). Lediglich BVerfGE 14,56 (72f.) verknüpft eine Prüfung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter mit dem Willkürbegriff, der wiederum in eine Definition eingebunden wird, die in Abgrenzung zum „gesetzlichen Richter" auf Ausnahmegerichte zugeschnitten scheint. Im Herrenchiemseer Verfassungskonvent hatte man den Gesetzgeber als Gefährdung des „gesetzlichen Richters" offensichtlich noch nicht im Auge. Ausdrücklich genannt werden nur Regierung und Verwaltung, siehe S. 93 des Kommentierenden Teils des Berichts. 3 Einzelheiten unter § 4 Α. I. und II., S. 62ff. bzw. § 4 B., S. 206ff. 4 So bereits Anschütz, Verfassung, Art. 105 WRV, S. 489; Menzel, Ausnahmegerichte, S. 111 ff.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 179f.; Kern, Richter, S. 32, 45 (zur französischen Verfassung) und S. 234,244f. zu Art. 105 WRV sowie Oehler, ZStW 1952,292 (302); Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 572; Kuhfuß, Sondergerichtsbarkeit, S. 79ff.; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 17; Hill, in: Isensee/ Kirchhof, Band VI, § 156 Rn. 50; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 23; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 29; Marx, Richter, S. 63; Neubauer, Begründung, S. 63; Gerleit, Recht, S. 112ff.; Rinck, NJW 1964, 1649 (1652f.). Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Art. 105 WRV, S. 121 beurteilt das Verhältnis der in das GG übernommenen Sätze des Art. 105 WRV zueinander differenzierter. Das Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten gehe im Richterentziehungsverbot deshalb nicht auf, weil es möglich sei, Ausnahmegerichte für künftig erwachsende Fälle zu errichten, für die demnach ein Richter, dem sie entzogen werden könnten, noch gar nicht existiere. Er verkennt bei dieser Argumentation jedoch, daß für einen solchen Fall entweder der Gesetzgeber seiner aus Art. 105 WRV folgenden Verpflichtung, die Zuständigkeit der Gerichte für jeden denkbaren Streitfall im voraus abstrakt-generell zu normieren, nicht nachgekommen ist, den Betroffenen demnach durch die Verweisung an ein Ausnahmegericht den „gesetzlichen Richter" entzieht; oder aber die Exekutive hat eine gerichtliche Zuständigkeit ohne gesetzliche Zuständigkeit geschaffen, also einen Richter, dem es an der erforderlichen Gesetzlichkeit mangelt.
§ 2 Verhältnis der Sätze des Art. 101 GG zueinander
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aus, daß niemand seinem natürlichen (gesetzlichen) Richter entzogen werden darf 5. Daran anschließend spiegeln auch Absatz 2 des § 175 der Paulskirchenverfassung vom 28.03.18496 sowie Art. 7 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.01.18507, durch die Reihenfolge der Sätze, das Stufenverhältnis der beiden Prinzipien zueinander treffend wider. Das Verbot von Ausnahmegerichten ist die Konsequenz des Verbotes der Entziehung des gesetzlichen Richters. Erst § 16 GVG stellte die Weichen für die Systematik des Art. 101 Abs. 1 GG. Das Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten wurde dem Richterentziehungsverbot vorangestellt. Ein Blick in die Motive des Regierungsentwurfs eines Gerichtsverfassungsgesetzes8 erhellt jedoch, daß das Verbot von Ausnahmegerichten nur vorangestellt wurde, um die durch das Reichsgesetz eingeführte Bindung der einzelstaatlichen Gesetzgebung an diese Norm zum Ausdruck zu bringen, nicht jedoch, um ein grundlegend gewandeltes Verständnis beider Prinzipien zueinander zu dokumentieren. Das Verbot von Ausnahmegerichten war nicht mehr allein an die Verwaltung gerichtet. Auch willkürliche Einflußnahmen der Gesetzgebung der Einzelstaaten auf die gerichtliche Zuständigkeit sollten von diesem Zeitpunkt an ausgeschlossen werden. Da das Verbot von Ausnahmegerichten im Recht auf den gesetzlichen Richter enthalten ist, hätte man es weder in der Weimarer Reichsverfassung noch im Grundgesetz ausdrücklich erwähnen müssen9. Legt man den Inhalt von Art. 101 Abs. 1 GG zugrunde, ließe sich das Verhältnis der beiden Sätze zueinander in folgender Systematik und mit folgendem Wortlaut zutreffend zum Ausdruck bringen: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Daher ist die Errichtung von Ausnahmegerichten verboten" 10.
5
Art. 62: Nul ne pourra être distrait de ses juges naturels. Art. 63: Il ne pourra en consequence (!) être créé des commissions et tribunaux extraordinaires. Siehe zu diesem Sachverhalt Kern, Richter, S. 37. 6 § 175: ... Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sollen nicht stattfinden. 7 Art. 7: Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft. 8 Siehe Hahn, Materialien, Erste Abteilung, S. 64. 9 Kuhfuß, Sondergerichtsbarkeiten, S. 82; Kern, Richter, S. 151,234. Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Landes Saarland vom 15.12.1947 enthält nur das Richterentziehungsverbot. 10 Auf ähnliche Weise bringen die bereits erwähnte charte constitutionelle française von 1814 sowie Art. 58 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29.05.1874 die Beziehung der beiden Aussagen zum Ausdruck, indem es dort heißt:" Niemand darf seinem verfassungsmäßigen Richter entzogen und es dürfen daher (!) keine Ausnahmegerichte eingeführt werden". In systematisch korrekter Reihenfolge stehen beide Prinzipien auch in den Verfassungen Liechtensteins vom 05.10.1921 (Art. 331), Luxemburgs vom 17.10.1868 (Art. 86), des Landes Hessen vom 01.12.1946 (Art. 20 Abs. 1), der Freien Hansestadt Bremen vom 21.10.1947 (Art. 6 Abs. 1 und 2), des Landes Rheinland-Pfalz vom 18.05.1947 (Art. 6 Abs. 1) und des Freistaates Sachsen vom 27.05.1992 (Art. 78 Abs. 1).
Β. Gesetzesvorbehalt für Gerichte für besondere Sachgebiete
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B. Recht auf den gesetzlichen Richter und Gesetzes vorbehält für Gerichte für besondere Sachgebiete Nach der i m zurückliegenden Abschnitt vorgenommenen Interpretation schließt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG das Verbot von Ausnahmegerichten ein. Wie verhalten sich jedoch das Recht auf den gesetzlichen Richter und Art. 101 Abs. 2 GG zueinander, wonach Gerichte für besondere Sachgebiete 11 nur durch Gesetz errichtet werden können? I m Gegensatz zu Ausnahmegerichten, die in Abweichung zur gesetzlichen Zuständigkeit für einen Einzelfall oder für einzelne Personen und Gruppen gebildet werden 12 , sind Gerichte für besondere Sachgebiete solche, deren Zuständigkeit abstrakt-generell im voraus normiert wird. Sie sind, wie schon aus ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit geschlossen werden kann, „gesetzlicher Richter" i m Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Da viele Bereiche des menschlichen Daseins einer zunehmenden Spezialisierung unterliegen, erscheint es sachgerecht, auch auf dem Gebiet der Rechtsprechung eine auf Spezialisierung beruhende Arbeitsteilung vorzunehmen, um mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten 13 . Vor diesem Hintergrund sind unter Gerichten für besondere Sachgebiete solche - auf Länderebene 14 einzurichtende - Gerichte zu verstehen, die, an Stelle der allgemein zuständigen Gerichte, für bestimmte sachlich umschriebene Gruppen von Rechtsfällen („besondere" Fälle) zuständig sind 1 5 . 11 Der nicht selten synonym verwendete Begriff „Sondergerichte" (siehe etwa Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 41; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 572; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 32) wurde bewußt nicht in den Verfassungstext aufgenommen, um sich von dem in der nationalsozialistischen Zeit mißbrauchten und daher in Mißkredit geratenen Ausdruck zu distanzieren, siehe den Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee 1948, Kommentierender Teil, S. 93. Zur Geschichte des Begriffs „Sondergerichte" und den Schwierigkeiten einer Abgrenzung der Ausnahmegerichte von den Sondergerichten unter der WRV siehe Hug , Sondergerichtsbarkeiten, S. 54ff. Zu den Sondergerichten in den Jahren 1919-1933 siehe Kern, Gerichtsverfassungsrecht, S. 176ff. sowie Kern, in: Anschütz/Thoma, Zweiter Band, S. 495 ff. Zu der Sondergerichtsbarkeit im Nationalsozialismus siehe nur Müller, in: Spuren des Unrechts, S. 17 ff. Zu der Frage, ob die Gerichte für besondere Sachgebiete begrifflich den Gegensatz zu den ordentlichen Gerichten oder aber den im GG verankerten „allgemeinen" Gerichten bilden siehe bereits Schiedermaier, DÖV 1960, 6 (9) sowie Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 24, der darauf hinweist, daß die in Art. 95 GG benannten Fachgerichtsbarkeiten nicht als „Sondergerichte" im Sinne von Art. 101 bezeichnet werden sollten. 12 Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 572. 13 Vgl. Rinck, NJW 1964,1459 (1653); Wassermann, in: Altemativkommentar, Art. 101 GG Rn. 32. 14 Die Bundesgerichte werden durch das Grundgesetz (Art. 92,93,95, 961, II, IV) abschließend aufgezählt. Siehe den Wortlaut des Art. 92: „... durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte...". Dazu auch BVerfGE 10,200 (212f.); 26, 186 (192). 15 So bereits der Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1948, Kommentierender Teil, S. 93. Siehe auch BVerfGE 10, 200 (212f.); 26, 186 (192ff.); 27, 355
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§ 2 Verhältnis der Sätze des Art. 101 GG zueinander Indem die Verfassung also positiv regelnd die Einführung sachlich orientierter
Spezialgerichte legitimiert, bringt sie zugleich negativ ausgrenzend zum Ausdruck, daß eine Sonderung nach Personengruppen verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist 1 6 . Die negativen Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus 17 haben dazu geführt, die Entscheidung über die Errichtung von „besonderen" Gerichten ausschließlich dem parlamentarischen Gesetzgeber zu übertragen 18 . Der Begriff des Errichtens wird dabei weit ausgelegt 19 . Sowohl die Ordnung der Zuständigkeit der Gerichte, der Instanzenzug, die Zusammensetzung der Spruchkörper als auch die Regelung der Auswahl, der Ernennung, der Dauer der Amtszeit und des Verfahrens werden als so wesentlich für den Charakter einer Gerichtsbarkeit angesehen, daß sie allein dem Parlamentsgesetzgeber vorbehalten bleiben sollen und einer Delegation an die Exekutive zur Regelung durch Rechtsverordnung gemäß Art. 80 Abs. 1 GG nicht zugänglich sind 2 0 . Der in Art. 101 Abs. 2 GG verankerte Vorbehalt des Gesetzes überschneidet sich mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter insofern, als auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Entscheidung über richterliche Zuständigkeiten an einen parlamentarischen Willensakt bindet 2 1 . Das Prinzip des gesetzlichen Richters verlangt für jede A r t von (361 f.); 71, 162 (178). Zu den gemäß Art. 101 Abs. 2 GG zulässigen, bestehenden Gerichten siehe etwa die Aufzählung bei Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 42; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 24; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 14. 16 BVerfGE 26, 186(192). Zieht die Schaffung einer gerichtlichen Zuständigkeit für ein besonderes Sachgebiet notwendig die Begrenzung auf einen bestimmten Personenkreis nach sich (bspw. beim anwaltlichen und ärztlichen Berufsrecht), liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 2 GG vor, solange nicht solche Gerichte für die Rechtsangelegenheit dieser Personengruppen schlechthin (Zivil- und Strafsachen) zuständig wären, BVerfGE 26,186 (192f.). Siehe auch BVerfGE 18, 241 (257); 22, 42 (47); 27, 355 (361 f.); 71, 162 (178), zu der Berufsgerichtsbarkeit. 17 Sondergerichte wurden auf der Grundlage einer Blankettermächtigung beliebig von der Exekutive eingesetzt, um politische Gegner strafrechtlich zu verfolgen, dazu etwa Müller, Juristen, S. 158ff.; ders., Rechtsstaat, S. 85f.; Wagner, in: Justiz, S. 189 (244ff.; 257ff.). 18 Bereits die Äußerung des Vorsitzenden des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, Schmid , in der 25. Sitzung vom 09.12.1948 bringt die Zielsetzung deutlich zum Ausdruck: „...Es handelt sich darum, daß man zum Beispiel Jugendgerichte oder Mietgerichte nicht einfach durch eine Verordnung des Justizministers errichten kann, sondern daß man hierfür ein Gesetz erlassen muß." (Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/1949, S. 196). 19 Sowohl Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 574 als auch Mant, Richter, S. 64 halten für ausschlaggebend, daß der Begriff des Gesetzes im GG regelmäßig im strengen Wortsinne verwendet wird. Unter Gesetz sei demnach nur das Parlamentsgesetz und nicht die Rechtsverordnung zu verstehen. 20 BVerfGE 18,241 (257); 22,42 (48); 27,355 (362f.), jeweils mit Beispielen eines Verstoßes gegen den Gesetzesvorbehalt aus Art. 101 Abs. 2 GG. Zum Umfang des Vorbehaltes siehe auch Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 574 und Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn.43f. 21 Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 544; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 4; Stern, Staatsrecht III/l, S. 361 ; Pieroth, in: Jarass/
Β. Gesetzes vorbehält für Gerichte für besondere Sachgebiete
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Gerichtszuständigkeit, also auch für besondere Gerichte, eine gesetzliche Regelung. Dieser Umstand hat möglicherweise dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht es für zulässig hält, eine Verfassungsbeschwerde, mit der materiellrechtlich eine Verletzung von Art. 101 Abs. 2 GG gerügt wird, prozessual auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu stützen und der Auffassung ist, aus dem Fehlen einer gesetzlichen Grundlage im Sinne von Art. 101 Abs. 2 GG resultiere zugleich ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter 22.
Pieroth, Art. 101 GG Rn. 1; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 1; Kunig, in: von Münch/ Kunig, Art. 101 GG Rn.45. 22 BVerfGE 22,42 (43, 48); 27, 355 (364).
§ 3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung Die Ausführungen zuvor dienten der systematischen Einordnung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Verbot von Ausnahmegerichten und dem Gesetzesvorbehalt für Gerichte für besondere Sachgebiete. Diese noch vergleichsweise allgemeine Ebene der Beschäftigung mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters soll i m folgenden verlassen werden. I m Vordergrund steht nunmehr die grundrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit der Verfassungsbestimmung. Was wird durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i m einzelnen verfassungsrechtlich garantiert? Antwort auf diese Frage gibt der Gewährleistungsbereich des Grundrechts. Er ist der Bereich, den eine Grundrechtsnorm 1 aus der Lebenswirklichkeit als Schutzgegenstand eines bestimmten Normtatbestandes herausschneidet 2. Der Gewährleistungsbereich eines Grundrechts erschließt sich aus einer Auslegung seiner Tatbestandsmerkmale. Orientiert man sich am Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, dessen Normbefehl an alle drei staatlichen Gewalten gerichtet ist 3 und auf dessen Schutz sich alle Verfahrensbeteiligten berufen können 4 , ergeben sich insoweit folgende Fragen: 1
Die wiederkehrende Bezeichnung als Grundrechtsnorm dient lediglich der sprachlichen Vereinfachung; damit sollen keinesfalls die Besonderheiten der Klassifizierung als „grundrechtsgleicher" Gewährleistung negiert werden. 2 So in etwa die Beschreibung bei Müller, Positivität, S. 42 und Hesse, Grundzüge, Rn. 46,69 für den Normbereich. An Stelle der hier verwendeten Bezeichnung Gewährleistungsbereich werden zur Bezeichnung des grundrechtlich geschützten Lebensbereichs außerdem die Begriffe Schutzbereich, Schutzgegenstand, Schutzgut oder Grundrechtstatbestand verwendet, siehe nur Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rn. 195ff.; Stern, Staatsrecht III/2, § 77 und § 78, S. 1817; Höfling, in: FG Batliner, S. 343 ff. Gelegentlich wird Grundrechtstatbestand auch als Oberbegriff verstanden, der sowohl Gewährleistungsbereich als auch Beeinträchtigung und Ausgestaltung mitumfaßt. 3 Bettermann, AöR 1969,263 (287 ff.) bemängelte hingegen noch, daß eine hinreichende Begründung für eine Bindung auch der Judikative vom Bundesverfassungsgericht nicht geliefert worden sei. Allerdings besteht angesichts der eindeutigen Aussage des Art. 1 Abs. 3 GG, der auch auf die grundrechtsgleichen Rechte Anwendung findet, an einer unmittelbaren Geltung auch gegenüber der Rechtsprechung kein Zweifel, siehe dazu nur Stern, Staatsrecht III/l, S. 1468 m. w. N.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 1 GG Rn. 13. 4 Die Grundrechtsberechtigung ist außer für natürliche Personen ausdrücklich anerkannt worden für juristische Personen des Privatrechts (BVerfGE 18,441 [447]; 64,1 [11]), juristische Personen des öffentlichen Rechts (BVerfGE 18,441 [447]; 61, 82 [104f.]; 75,192 [200]), ausländische juristische Personen (siehe bereits BVerfGE 12, 6 [8] zu Art. 103 Abs. 1 GG und BVerfGE 18,441 [447]; 21,362 [373]; 64,1 [11]) sowie nichtrechtsfähige Personenmehrheiten (BVerfGE 82, 286 [295]), nicht hingegen für die beteiligten Richter (BVerfGE 15, 298 [301]). Siehe BVerfG NJW 1998, 293 ff., wo nochmals klargestellt wird, daß nur die Prozeßpartei oder ein Beteiligter in ähnlicher Rechtsstellung die Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im
. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „ i c h "
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In welchem Sinne ist der Begriff „Richter" zu verstehen (dazu A.) und welche Anforderungen an die richterliche Tätigkeit stellt das Merkmal der „Gesetzlichkeit" (dazu B.)?
A. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „Richter" Das Verständnis des Tatbestandsmerkmals „Richter" hat sich in dem Maße entwickelt, in dem der grundrechtliche Schutzbereich auf die Rechtsprechungstätigkeit und innergerichtliche Organisationstätigkeit der Judikative erstreckt wurde. Diese Entwicklung, die schon früh kritisch hinterfiragt wurde 5 , nahm ihren Ausgang in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1954. Die einfachgesetzliche und gerichtsorganisatorische Ausformung der richterlichen Zuständigkeitsordnung, so das Gericht, sei unter dem Grundgesetz verfeinert und vervollkommnet worden. Dies habe zur Folge, daß auch Maßnahmen der Gerichtsorganisation 6 , nämlich die in den §§ 21 äff. G V G verankerte innergerichtliche Verteilung der Geschäfte auf die Spruchkörper sowie Einzelrichter und die spruchkörperinterne Wege der Verfassungsbeschwerde rügen kann. Im zugrundeliegenden Fall wurde einer Bürgeraktion als Unterzeichnerin eines Volksbegehrens in Bayern eine Berufung auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verwehrt, da sie an dem Verfahren gegen den sich anschließenden Volksentscheid vor dem BayVerfGH, gegen das sie sich richtete, nicht formell beteiligt war. Zum personellen Gewährleistungsbereich siehe außerdem BVerfG NVwZ 1998, 387f. Dieses Ergebnis entspricht dem Schutzzweck der Verfassungsnorm, alle der Justizgewalt in einem Gerichtsverfahren als Verfahrensbeteiligte Unterworfene vor Manipulationen der zur Entscheidung berufenen Richterpersonen zu bewahren. Daher können auch Antragsberechtigte im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG dem „gesetzlichen Richter" entzogen werden, BVerfGE 82,286 (296 f.); anders noch BVerfGE 46,34 (36) und Kunig,, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 11. Eröffnet der Gesetzgeber durch die Rechtsordnung den Rechtsweg für Verfahrensgegenstände, an denen auch juristische Personen des öffentlichen Rechts und ausländische juristische Personen beteiligt sind, erscheint es, auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung, folgerichtig, das Verfahrensgrundrecht auch zugunsten dieser Verfahrensbeteiligten anzuwenden. Gewisse Ungereimtheiten in Ansehung des auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG analog oder sinngemäß anwendbaren Art. 19 Abs. 3 GG, der eine Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen auszuschließen scheint, müssen der Besonderheit der „formellen" Justizgrundrechte weichen. Siehe dazu bereits Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 3 GG Rn. 30, der die Norm insofern einschränkend auslegen will, da die Einschränkung bei den „materiellen" Grundrechten zu Recht auf die Tatsache zu stützen sei, daß die ausländischen juristischen Personen sich insofern weitgehend staatlicher Kontrolle entzögen, was bei den Justizgrundrechten gerade nicht der Fall sei. Siehe dazu weiterhin Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 116 Rn. 83 und Rn. 57 ff. m. w. N., wo vor allem rechtsstaatliche Erwägungen für eine Anwendung ins Feld geführt werden sowie Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 11 und Stern, in: FS Ule, S. 359 (367). 5 Bettermann, AöR 1969, 263; ähnlich kritisch zur innergerichtlichen Erstreckung des Gebotes bereits Bruns, NJW 1964, 1884ff.; Dinslage, DRiZ 1965, 12ff.; Bohlmann, DRiZ 1965, 149ff. sowie zuletzt Eser y in: FS Saiger, S. 247 (248). 6 BVerfGE 3, 359 (364); 4, 412 (416), seither ständige Rechtsprechung BVerfGE 17, 294 (299); 22, 254 (258); 25, 336 (346); 30,149 (152); 48, 246 (254); 82, 286 (298).
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§ 3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
Aufgabenverteilung gemäß § 21g GVG, dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfielen. Auf dieser Grundposition einer Bindung der Gerichte an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufbauend, läßt sich die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auf zwei Leitgedanken zurückführen: (1) Richter ist nach ständiger Rechtsprechung nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und von dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern auch der zur Entscheidung im Einzelfall berufene Richter 7. Diese Auslegung ist im Grundsatz ohne Widerspruch geblieben8. Sie entspricht dem Normzweck, bei dessen Ermittlung die Bedeutung der individuellen Richterpersönlichkeit für die Entscheidungsfindung 9 zu berücksichtigen ist, sowie der verfassungsrechtlichen Durchdringung des zunehmend feingliedriger gewordenen Systems zur Regelung richterlicher Zuständigkeit in der Praxis 10. (2) Nicht gleichermaßen reibungslos verlief die funktionale Durchdringung der richterlichen Betätigung, womit die Frage verbunden ist, welche der verschiedenen Aufgaben, die Richtern übertragen werden können, dem Prinzip des gesetzlichen Richters unterfallen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, so das Bundesverfassungsgericht, gelte für jede Art staatlicher Gerichtsbarkeit und für jede den Gerichten übertragene Aufgabe 11. Mit dieser Betonung der ausschließlichen Bindung staatlicher Gerichts7
BVerfGE 4,412 (416f.); 17, 294 (298f.); 18, 65 (69); 19, 52 (59); 40, 356 (361). Siehe nur Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 12; Degenhart, in.' Sachs, Art. 101 GG Rn. 6; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 11 ; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 2; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 13; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 18. Lediglich Bruns, NJW 1964,1884 (1888) will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht weiter wirken lassen, als bis zur Organpersönlichkeit Spruchkörper. Ablehnend auch die Stellungnahme des Justizministers des Landes Baden-Württemberg in BVerfGE 18,65 (68) und die fünf Präsidenten der oberen Bundesgerichte in einer Stellungnahme zur spruchkörperintemen Geschäftsverteilung im Jahre 1959, wiedergegeben bei Sangmeister, StJ 1993,79 (80 f.), die ebenfalls davon ausgehen, daß bei Kollegialgerichten nur das Kollegium, nicht hingegen der einzelne Richter „gesetzlicher Richter" sei. 9 Zur Bedeutung der einzelnen Richterperson siehe Richter, JZ 1961,658 ff.; Eichberger, in: Umbach/Clemens, § 15 a BVerfGG Rn. 35 ff. 10 Vgl. zum letztgenannten BVerfG NJW 1995, 2704. 11 Dies wurde ausdrücklich entschieden: für den Richter, der Termin zur Hauptverhandlung anberaumt, BVerfGE 4,412 (417 f.); den Vorprüfungsausschuß des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 19,88 (92) sowie das Bundesverfassungsgericht selbst, BVerfGE 23,288 (317f.); 64, 1 (18 ff.); die Richter in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, BVerfGE 21,139 (144); den Untersuchungsrichter, BVerfGE 25, 336 (346f.); den Revisionsrichter, BVerfGE 30, 165 (168); 63, 77 (89); die Jugendschöffen nach dem JGG, BVerfGE 31, 181 (183); die ehrenamtlichen.Richter, BVerfGE 48, 300 (317); den Vorsitzenden Richter am Truppendienstgericht, BVerfGE 40, 268 (271); den EuGH, BVerfGE 73,339 (366ff.); 75,223 (231 f.); 82,159 (192); die Landesverfassungsrichter, BVerfGE 82, 286 (296f.) und BVerfG NJW 1998, 293 ff., wo allerdings verdeutlicht wird, daß aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder eine Rüge der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dann nicht mehr mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsge8
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barkeit ist zwar klargestellt, daß weder private Gerichte 12 noch andere, nichtrichterliche hoheitliche Betätigungen13 Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berühren. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Frage, welche der verschiedenen Aufgaben im Detail in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fallen, mit dieser Grundaussage nicht zufriedenstellend zu beantworten ist. Hinsichtlich einiger Tätigkeitsbereiche besteht keine Einigkeit, ob sie unter das Tatbestandsmerkmal „Richter" zu subsumieren sind.
I. Einbeziehung bestimmter Richterfunktionen Eine detailgenaue Beschreibung der Tätigkeit von Richtern der verschiedenen Gerichtszweige wäre nur unzureichend vorgenommen, wollte man einzig die Befugnis anführen, eine Rechtssache alleinverantwortlich oder im Rahmen eines Spruchkörpers zu entscheiden. Die Verfahrensordnungen weisen vielmehr eine Anzahl unterschiedlicher Funktionen im Rahmen der Rechtsprechungstätigkeit aus, die von einzelnen Richtern wahrgenommen werden. Zu denken ist etwa an den in § 169 StPO erwähnten Ermittlungsrichter, den in § 197 GVG und § 87 a Abs. 3 VwGO angesprochenen Berichterstatter oder den Ergänzungsrichter gemäß § 192 Abs. 2 GVG. Da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Richterperson Geltung beansprucht, so könnte man folgern, unterliegen all diese Funktionen den gleichen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Regelung der Zuständigkeit. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Reichweite des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist hinsichtlich bestimmter richterlicher Funktionen außerordentlich umstritten. Weder der Ergänzungsrichter noch der am Eröffhungsbeschluß beteiligte Richter, so wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 14 gedeutet, seien Richter, deren Zuständigkeitsbestimmung Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berühre 15. Vielmehr soll eine Zuweisung dieser Aufgaben in Ansehung des konkreten Falles in das Ermessen der verantwortlichen Organe richterlicher Selbstverwaltung gestellt sein (dazu 1.). Ob darüber hinaus die Berichterstatterfunktion dem Gewährleistungsbereich von rieht geltend gemacht werden kann, wenn sie sich auf ein Verfahren des Landesverfassungsgerichts bezieht, in dem eine landesverfassungsrechtliche Streitigkeit in der Sache abschließend entschieden wird; die Richter der ehemaligen DDR, die nach dem Einigungsvertrag zur Rechtsprechung ermächtigt sind, BVerfG DtZ 1991, 408. 12 Hierunter fallen etwa die Schiedsgerichte nach §§ 1025 ff. ZPO und § 14 PartG. 13 Siehe zum „gesetzlichen Verwaltungsbeamten" Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 18 und Mußgnug, Recht, sowie zum „gesetzlichen Rechtspfleger" BVerfGE 56, 110 (127) sowie BayVerfGH NJW 1982, 1746. Zur analogen Anwendung der §§ 22ff. StPO für eine Ablehnung und Ausschließung von Staatsanwälten siehe Arloth, NJW 1983,207 ff. Zum „gesetzlichen Prüfer" im Rahmen von Prüfungsausschüssen für den Zugang zur Beamtenlaufbahn siehe BVerwGE 30, 172 (178). Zu den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen siehe BVerfGE 77, 1 (42). 14 BVerfGE 30,149 (156); siehe auch BVerfGE 78, 331 (337 f.). 15 So Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 15; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GGRn.2.
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Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfällt 16, ist Bestandteil eines vor allem in den letzten Jahren lebhaft geführten Diskurses über die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung bei Gericht (dazu 2.). Nicht gleichermaßen im Mittelpunkt der Diskussion steht die Zuteilung der Funktion eines beauftragten und vorbereitenden Richters durch die Vorsitzenden der Spruchkörper, ein Komplex, der sich mit der Berichterstatterproblematik teilweise überschneidet (dazu 3.).
1. Ergänzungsrichter und am Eröffnungsbeschluß beteiligter Richter Die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatte eine Verfassungsbeschwerde zum Gegenstand, die gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gerichtet war 17. Die Beschwerde basierte auf folgender, komprimiert wiedergegebener Argumentation: Der Senatspräsident des Spruchkörpers, der den zweiten Wiederaufnahmeantrag des Beschwerdeführers abgelehnt habe, sei gemäß § 23 Abs. 2 StPO kraft Gesetzes von der Mitwirkung in dem Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen gewesen, da er als Ergänzungsrichter der Hauptverhandlung beigewohnt hätte. Die Mitwirkung dieses ausgeschlossenen Richters am Wiederaufnahmeverfahren stelle einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar 18. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts schloß sich der Meinung des Beschwerdeführers allerdings nicht an. Der Ergänzungsrichter, wie auch der am Eröffnungsbeschluß beteiligte Richter, wirke nicht, wie es § 23 Abs. 2 StPO voraussetze, bei der Entscheidung mit. Er unterfalle dieser gesetzlichen Ausschlußregelung daher nicht. Vereinzelt wird diese Entscheidung seither als Beleg dafür herangezogen, daß der Senat die genannten richterlichen Aufgabenbereiche nicht in den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einbezieht19. Ob dieser Schluß die Entscheidung des Ge-
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Berichterstatter bezeichnet ein Mitglied des Spruchkörpers, der zum großen Teil nur beiläufig vom Gesetz erwähnt wird (§ 197 S. 3 GVG; § 388 und § 389 Abs. 3 ZPO; §§ 324 Abs. 1, 351 Abs. 1 StPO; § § 87 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1,87 a Abs. 3,87 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 VwGO) und dessen Aufgabe bspw. im Zivilprozeß darin besteht, die eingehenden Klagen zu bearbeiten, nämlich Akten zu lesen, den Sachverhalt herauszuarbeiten, rechtliche Schlüsse zu ziehen, den Aktenvortrag im Rahmen der Beratung zu halten und das Urteil zu entwerfen. Siehe die Beschreibung bei Schellhammer, Zivilprozeß, Rn. 726, 1504. 17 Der Fall hat Schlagzeilen weniger wegen des Entscheidungsinhalts verursacht als aufgrund der Tatsache, daß es um die Verurteilung des ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, zu einer Zuchthausstrafe wegen landesverräterischer Beziehung ging, siehe BGHSt 10, 163 ff. 18 Siehe zu den Einzelheiten BVerfGE 30, 149 (149ff.). Zur Problematik der Einbeziehung der Anforderungen von Art. 97 GG in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe die Ausführungen unter § 3 B.I., S. 45 ff. 19 Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 15; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 2.
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richts zutreffend auf den Punkt bringt, ist bei genauer Betrachtung der Aussagen des Gerichts indes fraglich. Eingangs der Begründetheitsprüfung 20 verdeutlicht der Senat zunächst, zu den Normen, die das Recht auf den gesetzlichen Richter einfachgesetzlich ausgestalteten, zählten auch die Vorschriften über den Ausschluß und die Ablehnung von Richtern. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seien jedoch keine Vorgaben zu Einzelheiten solcher Regelungen, etwa zu einem Katalog erforderlicher Ausschließungs- und Ablehnungsgründe, zu entnehmen. Zur Sicherung von Unparteilichkeit und Neutralität der Richter fordere das Grundgesetz lediglich, den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einzuräumen, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen. Ausdrücklich offengelassen wird insbesondere, ob in bestimmten Konstellationen eine Ablehnungsmöglichkeit unzureichend erscheint und ein Ausschluß kraft Gesetzes erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich das Gericht 21 ausführlich mit der Interpretation der gesetzlichen Ausschlußregelung in § 23 Abs. 2 StPO, insbesondere mit der Bedeutung des Begriffs „mitgewirkt". Die Ausführungen enden mit dem Ergebnis, daß nur der Richter mitgewirkt habe, der an der tatsächlichen Feststellung und den rechtlichen Folgerungen unmittelbar beteiligt gewesen sei, demnach das Urteil mit zu verantworten habe22, wovon allerdings, so der Senat, sowohl bei Ergänzungsrichtern als auch bei am Eröffnungsbeschluß beteiligten Richtern keine Rede sein könne23. Das Gericht betont also an keiner Stelle, Ergänzungsrichter und am Eröffnungsbeschluß beteiligte Richter stellten Funktionen dar, die nicht den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an eine gesetzliche Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit unterfallen. Gegenstand der Ausführungen des Gerichts ist vielmehr ausschließlich die Frage, welche inhaltlichen Maßstäbe das Prinzip des gesetzlichen Richters für die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Ablehnungs- und Ausschließungsvorschriften durch die Legislative aufstellt. Nicht die Frage, ob Ergänzungsrichter und am Eröffnungsbeschluß beteiligte Richter „gesetzliche Richter" sind, beschäftigt das Gericht. Vielmehr geht es einzig um das Problem, ob Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt, daß diese Funktionen dem gesetzlichen Ausschließungsgrund des § 23 Abs. 2 StPO, genauer: dem Begriff „mitwirken", unterfallen 24. Im übrigen schließt das Gericht die beiden Funktionen auch nicht von dem Erfordernis aus, eine Ablehnung wegen Befangenheit zu ermöglichen 25. Damit bringen die Richter zum 20
BVerfGE 30,149 (152f.). BVerfGE 30,149(153ff.). 22 BVerfGE 30, 149 (155 ff.). 23 Andere Ansicht die abweichende Meinung in BVerfGE 30, 157 (162ff.). Siehe auch BVerfGE 30, 165 (167ff.), insbesondere die abweichende Meinung auf den Seiten 169ff., die den Revisionsrichter ebensowenig unter § 23 Abs. 2 StPO subsumieren will. 24 So wird das Urteil wohl auch von LeibholzlRincklHesselberger, Art. 101 GG Rn. 134 und Arzt, NJW 1971,1112ff. verstanden, der auf der S. 1115 betont, daß in jedem Fall ein abstrakter Ablehnungsgrund bestehen müsse. 25 BVerfGE 30, 149 (153). 21
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Ausdruck, daß beide Funktionen der richterlichen Unabhängigkeit unterfallen, die nach der Rechtsprechung des Gerichts durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert wird 26 . Die beiden Richterfunktionen nicht vom Gewährleistungsbereich der Verfassungsnorm auszuschließen, steht im Einklang mit einer am Schutzzweck orientierten Auslegung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Grundrechtsberechtigten sind hinsichtlich einer Manipulation der Richterpersonen, die als Ergänzungsrichter und am Eröffnungsbeschluß beteiligter Richter tätig sind, schutzwürdig 27. Der am Eröffnungsbeschluß beteiligte Richter trifft gegenüber den Beschuldigten die Entscheidung, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht und daher die Eröffnung des Hauptverfahrens zu beschließen ist 28 . Angesichts der weitreichenden, möglicherweise existenziellen Folgen eines strafprozessualen Hauptverfahrens erscheint es verfassungsrechtlich geboten, die von einer solchen Folge Betroffenen vor einer Einflußnahme auf die zur Entscheidung berufene Richterperson zu schützen. Die Eigänzungsrichter wiederum wohnen der Verhandlung bei und haben im Falle einer Verhinderung eines Richters für diesen einzutreten. Potentiell ist ein Ergänzungsrichter daher jederzeit der gegenüber den Prozeßbeteiligten entscheidende Richter, wie dessen enge Anbindung an den Verfahrens verlauf bestätigt. Die Verfahrensbeteiligten sind vom Wirken eines solchen Richters ab dem Zeitpunkt, in dem dieser in das Verfahren eintritt, in gleichem Maße betroffen, wie durch die Tätigkeit eines hauptamtlichen Richters. Diese Umstände rechtfertigen es, die Funktion des Ergänzungsrichters in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzubeziehen.
2. Berichterstatter Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die Reichweite des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich der von Richtern wahrzunehmenden Aufgaben steht die Problematik der Berichterstatterbestimmung 29. Eine abstrakt-generelle Vörausbestimmung der Zuständigkeit in den spruchkörperinternen Geschäftsverteilungsplänen wird häufig für verfassungsrechtlich entbehrlich gehalten. Sofern es sich um einen nicht überbesetzten Spruchkörper handele oder der Spruchkörpervorsitzende seiner aus § 21 g Abs. 2 GVG resultierenden Pflicht zur Einteilung der mitwirkenden Richter eines überbesetzten Spruchkörpers nachgekommen sei, unterliege er in der Auswahl der Berichterstatter keinerlei gesetzlichen
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Dazu unter § 3 B.1.2., S.50ff. Siehe auch Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 15; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 15; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 14. 28 Siehe §203 StPO. 29 Die Problematik der Berichterstatterbestimmung betrifft den Bereich spruchkörperinterner Umsetzung der Vorgaben des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Justiz auf dem Gebiet richterlicher Selbstverwaltung. Diese Thematik wird im späteren unter dem Gliederungspunkt § 4 A. III., S. 182ff. im einzelnen aufgegriffen. 27
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Bindungen. Er dürfe diesen vielmehr im Einzelfall nach seinem Ermessen bestimmen30. Bevor auf die Frage eingegangen wird, ob diese Auffassung Zustimmung verdient, ist auf einen Umstand hinzuweisen, der das Verständnis der Diskussion allgemein erschwert. Die dogmatisch zentrale Frage, ob die Berichterstattertätigkeit überhaupt dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfällt oder ob zwar der Gewährleistungsbereich einschlägig ist, ein Entscheidungsfreiraum des Vorsitzenden dennoch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, wird zumeist nur unzureichend beantwortet. Dies resultiert offenbar aus der Tatsache, daß sich Rechtsprechung und Literatur in der Regel auf einfachgesetzlicher Ebene mit der Auslegung von § 21 g Abs. 1 und Abs. 2 GVG befassen. Dabei entsteht gelegentlich der Eindruck, als beeinflusse die überkommene Auslegung der Norm des Gerichtsverfassungsgesetzes die Inhaltsbestimmung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Zur Klarstellung sei hervorgehoben, daß § 21 g GVG eine einfachgesetzliche Ausprägung der verfassungsrechtlichen Vorgaben von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt, nämlich die zentrale Norm der spruchkörperinternen Vervollständigung des Prinzips gesetzlicher Zuständigkeitsbestimmung. Als einfachgesetzliche Bestimmung ist § 21 g GVG demnach an die Direktiven des Grundrechtes auf den gesetzlichen Richter gebunden. § 21 g GVG ist entweder eine verfassungsgemäße Ausgestaltung oder Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beziehungsweise läßt sich verfassungskonform auslegen. 30
So zumindest im Ergebnis oder aus dem Zusammenhang folgend aus der Rechtsprechung BGH NJW 1967,1622 (1623), BGHSt 21,250 (255); BGH vom 26.06.1973,5 StR 212/73, S.4; BGH MDR 1980, 843f.; BGH NJW 1993,1569 (1597), ZIP 1993, 613ff. mit Anm. von Felix (Vorlagebeschluß des X. Zivilsenats an die Vereinigten Großen Senate des BGH) sowie dessen Entscheidung BGH (VGS) NJW 1994,1735 (1738), BB 1994, Beilage 11, S. 1 ff. mit Anm. von Felix, NStZ 1994, 443 ff. mit Anm. von Katholnigg und die Entscheidung des X. Senats aufgrund der geänderten Grundsätze nach der Entscheidung der VGS, BGH NJW 1995, 332ff.; BGH NJW 1995,403 f.; BVerwG NJW 1967,642 (643), BVerwGE 24,315 (317) zu § 8 VwGO a. F.; Β FH BB 1992, 254 (255); Β FH NJW 1992, 1061 (1062) und 1062 (1064); BFH NVwZ 1996, 102f.; BFH NVwZ-RR 1997, 74; OVG Hamburg NJW 1994, 274. Aus der Literatur sprechen sich namentlich gegen den „gesetzlichen Berichterstatter" aus: Westphal/Ule, DVB1. 1964, 979 (981 und 983); Koebel, JZ 1965, 244f.; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band, 2. Halbband, S. 555; Marx, Richter, S. 48; Kleinknecht, JZ 1965,113 (162); Laum, DRiZ 1969,79 (80f.); Kolb, Rechtsnatur, S. 128 Fn. 346; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 15 („wohl nicht"); Leibholz/R inck/H esse Iberger, Art. 101 GG Rn. 378 f.; Kissel, § 21 g GVG Rn. 14; Koch, in: Gräber, § 4 FGO Rn. 23f.; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 21 g GVG Rn. 4f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21 g GVG Rn. 1; Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 21 g GVG Rn. 1; Gummer, in: Zöller, § 21 g GVG Rn. 1 f.; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, § 21 g GVG Rn. 2,4; Wolf, in: Münchener Kommentar, § 21 g GVG Rn. 4; Eser, in: FS Saiger, S. 247 (254); Kopp/Schenke, § 4 VwGO Rn. 20 ff.; Kopp, NJW 1991,1264f.; Stelkens, NVwZ 1991,209 (215), wonach lediglich für den Berichterstatter gem. § 87 a Abs. 3 VwGO anderes gelten soll. Dieser unterscheidet sich jedoch von den Berichterstattern im allgemeinen Sinne dadurch, daß er anstelle des Vorsitzenden entscheidet. Gegen eine Vorausbestimmung sprechen sich zudem aus die Präsidenten der oberen Bundesgerichte in einer Stellungnahme zu Entwürfen bzw. Vorentwürfen des § 8 VwGO und § 44 a ArbGG aus dem Jahre 1959, abgedruckt bei Sangmeister, SU 1993, 79 ff. sowie List (Präsident des BFH a. D.), DStR 1992, 697 (699, 700f.) und Felix, BB 1991, 2413 (2415). 3 Roth
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Oder die Norm erfüllt die Vorgaben von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht und ist infolgedessen verfassungswidrig. Voraussetzung zur Beantwortung dieser Fragen ist jedoch, daß Klarheit über die Reichweite des Schutzbereichs des Rechtes auf den gesetzlichen Richter besteht. Nur wenn feststeht, daß die Funktion des Berichterstatters eine dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallende richterliche Funktion darstellt, kann die verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes beziehungsweise der Normanwendung einsetzen. Soweit ersichtlich, findet sich bis in die neunziger Jahre keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sich ausdrücklich mit der Berichterstatterbestimmung in regulär besetzten Spruchkörpern befaßt oder die Konstellation betrifft, daß der Vorsitzende eines überbesetzten Spruchkörpers eine Geschäftsverteilungsregelung auf der Basis von § 21 g Abs. 2 GVG getroffen hat. Allerdings kann bereits aus den übrigen Entscheidungen zur senatsinternen Geschäftsverteilung auf die Haltung der beiden Senate gegenüber dieser Frage geschlossen werden. Der Zweite Senat hat wiederholt betont, daß schon die senatsinterne Aufgabenverteilung, einschließlich des Rechtes zur Auswahl der Berichterstatter 31, in überbesetzten Spruchkörpern keiner den jeweiligen Verfahren vorausgehenden, abstrakt-generellen Festlegung bedürfe, daß der Vorsitzende im Gegenteil nach seinem Ermessen zu handeln befugt sei32. Dies muß umso mehr hinsichtlich solcher Spruchkörper gelten - so wird man die Entscheidungen weiterdenken müssen - , deren Besetzung die in den Verfahrensvorschriften vorgesehene Zahl von Richtern nicht überschreitet. In diesen Fällen stehen dem Vorsitzenden keine Variationen hinsichtlich der Aufgabenverteilung, abgesehen von der Berichterstatterbestimmung, offen. Sofern diese Rechtsprechung allerdings auf eine Weise interpretiert wird, als beziehe der Zweite Senat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt nicht auf den einzelnen Richter innerhalb eines Spruchkörpers 33, so widerspricht dies den wörtlichen Ausführungen in den genannten Entscheidungen. Dort wird gleichbleibend hervorgehoben, „gesetzlicher Richter" im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei neben Gericht und Spruchkörper auch der im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richter 34; die Verteilung der Aufgaben innerhalb der Spruchkörper erfolge jedoch - der Rechtstradition und dem überkommenen Verständnis des Gebotes folgend - durch die jeweilige Entscheidung des Vorsitzenden35.
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BVerfGE 69, 112(121). BVerfGE 18, 344 (351 f.) - allerdings lag dieser Entscheidung noch § 69 GVG a. F. zugrunde, der lediglich lautete: innerhalb der Kammer verteilt der Vorsitzende die Geschäfte auf die Mitglieder; BVerfGE 22, 282 (286); 69, 112 (120f.); vgl. auch BVerfG (Dreierausschuß) DRiZ 1970, 269. 33 So ausdrücklich Fichte, SGb 1996,93 (94) und BVerfG (Erster Senat) DStR 1995,1466ff. 34 BVerfGE 18, 344 (349); 69, 112 (120). 35 BVerfGE 18, 344 (351); 22, 282 (286); 69, 112 (120f.). 32
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Der Erste Senat widerspricht zwar der soeben skizzierten Rechtsansicht in einem Vorlagebeschluß an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts 36. Auch diese Entscheidung mahnt jedoch lediglich die Änderung der Rechtsprechung zur Geschäftsverteilung in überbesetzten Spruchkörpern an. Dies wiederum läßt auf die ablehnende Haltung des Senats gegenüber dem Erfordernis einer abstrakt-generellen Berichterstatterbestellung in regulär besetzten Spruchkörpern schließen. Die vom Ersten Senat herbeigeführte Plenumsentscheidung37 schafft schließlich Klarheit über die Rechtsansicht des Gerichts. Eine schriftliche Manifestierung der Berichterstatterbestellung durch den Vorsitzenden im voraus bedarf es nach Auffassung des Plenums nur in zwei Fällen. Wenn entweder der Berichterstatter zugleich der zur Entscheidung berufene Einzelrichter ist oder wenn in einem überbesetzten Spruchkörper die Zusammensetzung der für die jeweilige Sache zuständigen Sitzoder Spruchgruppe an die Person des Berichterstatters anknüpft. Soweit jedoch die Zusammensetzung der Sitzgruppe nicht von der Bestimmung des Berichterstatters abhänge, sei die Zuweisung keine Frage des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, den Vorsitzenden verbleibe vielmehr ein Entscheidungsspielraum. Diese ablehnende Haltung gegenüber dem „gesetzlichen Berichterstatter" ist nicht ohne Kritik geblieben38. Bei gebotener Beachtung des Schutzzwecks von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird man zur Klärung der beschriebenen Kontroverse folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben: Zunächst kann kein Zweifel bestehen, daß die im Mittelpunkt stehende Verfassungsnorm in all den Fällen rechtliche Wirkung entfaltet, in denen nach der spruch36
§ 16 Abs. 1 BVerfGG, § 48 Abs. 1 GeschOBVerfG. BVerfG DStR 1995,1466ff.; siehe auch Zärban, MDR 1995,1202ff. 37 BVerfGE 95, 322 (330f.), NJW 1997, 1497 (1498f.), EuGRZ 1997, 114 (116), JuS 1997, 844f., DVB1. 1997, 765. Kritisch zur Plenarentscheidung Sangmeister, NJW 1998, 721 ff. 38 Eingeleitet wurde die Kritik von Katholnigg, NJW 1992,2256 (2258 f.); ders., § 21 g GVG Rn. 1; ders. in den Anmerkungen zu BGH (VGS) NStZ 1994,443 (446f.). Siehe weiterhin Wiebel, BB 1995, 1197 (1200), dessen Argumentation in erster Linie auf Art. 97 GG gestützt ist; Schneider, BB 1995,1430f.; Felix, BB 1995,1665; Kissel , DRiZ 1995,125 (129), der aus Gründen der „gerichtsintemen Demokratie" die gleichberechtigte Mitwirkung aller Mitglieder des Kollegiums bei der Bestimmung des Berichterstatters jedenfalls für wünschenswert hält. Auch Schorn! Stanicki, Präsidialverfassung, S. 186 kritisieren die ad-hoc-Bestellung, ohne jedoch eine andere Vorgehensweise für verfassungsrechtlich geboten zu halten. Bedenken klingen ebenfalls an bei Leisner, NJW 1995, 285 (287 f.) und Sangmeister, NJW 1995, 289 (298), die sich beide mit der Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des BGH, NJW 1994,1735 auseinandersetzen. Auch in der verfassungsrechtlichen Kommentar- und Handbuchliteratur kann aus dem Zusammenhang vereinzelt zumindest auf eine Neigung zum „gesetzlichen Berichterstatter" geschlossen werden. Siehe Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 16,46 f., der betont, daß der Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sich auch auf vorbereitende (!) Tätigkeiten erstreckt; Wassermann, in: Altemativkommentar, Art. 101 GG Rn. 27; Degenhart, in: Isensee/ Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 22 a. E.; ders., in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 16. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 2 geht davon aus, daß auch die Tätigkeit als Berichterstatter vom Schutzbereich umfaßt ist. 3*
§ 3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
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körperinternen Regelung in überbesetzten Spruchkörpern durch die Bestellung des oder der Berichterstatter zugleich über die Zusammensetzung des Spruchkörpers entschieden wird 39 . Die Geschäftsverteilung in überbesetzten Spruchkörpern unterfällt unstreitig dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dies muß auch gelten, wenn die Bestimmung des Spruchkörpers mit der Berichterstatterfestlegung verknüpft wird. „Gesetzlicher Richter" ist darüber hinaus der Berichterstatter, der zugleich, anstelle des Spruchkörpers oder des Vorsitzenden, zur Entscheidung berufen ist, so wie es in § 155 Abs. 3 und Abs. 4 SGG40, § 87 a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO 41 sowie § 79 a Abs. 3 und Abs. 4 FGO 42 vorgesehen ist. In diesen Fällen tritt der Berichterstatter den Prozeßbeteiligten alleinverantwortlich als entscheidungsbefugter Richter gegenüber. Diskussionswürdig sind daher nur die Konstellationen, in denen Berichterstatter bestimmt werden, deren Aufgabe ausschließlich die Vor- beziehungsweise Aufbereitung von Fällen ist, die später durch den Spruchkörper entschieden werden. Nur in diesen Fällen läßt sich argumentieren, eine Bestimmung des Berichterstatters von Fall zu Fall sei unbedenklich, da die Entscheidungbefugnis allein in der Verantwortung des gesamten Spruchkörpers verbleibe und der Berichterstatter lediglich arbeitsorganisatorische Vorbereitungen treffe. Stellt man mit der Mehrheit der Stimmen43 einzig oder zumindest entscheidend auf die Rechtslage ab, scheint das Ergebnis klar. Die Rolle des Berichterstatters erschöpft sich in der Vorbereitung der Akten, dem Vortragen der Sache und dem Entwurf des Urteils 44. Alle an der Entscheidung mitwirkenden Richter bleiben zur umfassenden Vorbereitung und Beschäftigung mit der Sache verpflichtet. Der Spruchkörper insgesamt zeichnet für das Urteil verantwortlich. Aus dieser Perspektive ist es folgerichtig, den Parteien ein verfassungsrechtlich begründetes Interesse auf Festlegung dieser nur vorbereitenden, aus der Arbeitsorganisation innerhalb des Spruchkörpers resultierenden Tätigkeit nicht einzuräumen.
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Dazu BVerwG NJW 1968,811 (812f.); BGH (VGS) NJW 1994,1735 (1738); BGH NJW 1995,403 f.; Kissel, § 21 g GVG Rn. 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 21 g GVG Rn. 3. 40 BSG NJW 1996, 2181 f.; Fichte, Sgb 1996, 93 (95). 41 Kopp!Schenke, § 4 VwGO Rn. 22, § 87 a VwGO Rn. 10 mit weiteren Nachweisen; Kopp, NJW 1991, 1264f. Siehe auch Redeker/von Oertzen, § 87a VwGO Rn.7; Ortloff, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann, § 87 a VwGO Rn. 25; Geiger, in: Eyermann, § 87 a VwGO Rn. 4 und Schmid, in: Sodan/Ziekow, § 87 a VwGO Rn. 4, die mit Kopp/Schenke zutreffend daraufhinweisen, daß demzufolge eine Spruchkörperinterne Geschäftsverteilungsregelung gemäß § 4 VwGO i. V. m. § 21 g GVG erforderlich ist, wonach eine Bestimmung der zuständigen Berichterstatter nach abstrakt-generellen Kriterien erfolgt. 42 Siehe Tipke/Kruse, § 79 a FGO Tz. 3. Zu den genannten Normen siehe außerdem unter § 4 A.II.2.c)cc), S. 168 ff. 43 Die im folgenden wiedergegebenen Argumente spiegeln zusammengefaßt die Meinung der auf Seite 33, Anmerkung 30 aufgeführten Autoren wider. Exemplarisch sei auf Kissel, § 21 g GVG Rn. 14 verwiesen. 44 Siehe Kissel, § 194 GVG Rn. 8.
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Allerdings zwingt eine am Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG orientierte Betrachtung richterlicher Tätigkeit, die tatsächlichen Umstände des Arbeitsalltags von Richtern mit in die Überlegungen einzubeziehen45. Es entspricht wohl nahezu gängiger Praxis der Zivilkammern der Landgerichte, daß lediglich der Berichterstatter und der Spruchkörpervorsitzende Einsicht in die Akten eines Falles haben. Dies hat zur Folge, daß der Beisitzer des Spruchkörpers in der Regel auf die durch den Berichterstatter im Rahmen der Beratung gemäß §§ 194 ff. GVG mitgeteilten Tatsachen angewiesen ist 46 . Diese Darstellung ist naturgemäß durch die von Person zu Person unterschiedliche Wahrnehmung sowie durch das Vorverständnis und die Wertungen des mitteilenden Richters vorgeprägt. Dieser Befund wirkt sich im Strafprozeß weniger gravierend aus. Durch das Prinzip der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit des Verfahrens ist gewährleistet, daß alle Spruchkörpermitglieder den Gang des Verfahrens unmittelbar mitverfolgen können47. Dadurch wird ein relativ gleichmäßiger Informationsgrad aller Spruchkörpermitglieder garantiert. Demgegenüber ermöglicht § 137 Abs. 3 ZPO für das Zivilverfahren eine weitreichende Außerkraftsetzung des Mündlichkeitsprinzips, § 128 Abs. 2 und 3 ZPO lassen sogar eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu. Unter diesen Umständen ist der Informationsvorsprung der aktenkundigen Richter gegenüber den nicht aktenkundigen Mitgliedern des Spruchkörpers erheblich. Dieser deutliche Überhang an Kenntnis der Umstände des zur Entscheidung anstehenden Falles auf Seiten des Berichterstatters birgt die Gefahr der maßgeblichen Einflußnahme auf die Entscheidung desjenigen Richters in sich, der aufgrund der mitgeteilten Tatsachen des Berichterstatters zu entscheiden hat. Darüber hinaus könnte eine natürliche Hemmschwelle bestehen, dem besser vorbereiteten Kollegen inhaltlich entgegenzutreten oder, entgegen üblicher Praxis innerhalb der Spruchkörper, Einblick in die Akten zu verlangen. Dies könnte zur Festigung der beschriebenen Umstände beitragen. Den Schilderungen von Richtern des Bundesgerichtshofs läßt sich entnehmen, daß dem Berichterstatter bei der Bearbeitung tatsächlich und rechtlich schwieriger, arbeitsaufwendiger Sachen, aufgrund des Informationsvorsprungs gegenüber den Kollegen, ein maßgeblicher Einfluß auf die Entscheidungsfindung zukommt48. Eine hohe Ar-
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Insoweit kann natürlich nur auf Äußerungen und Beobachtungen von Beteiligten zurückgegriffen werden. Um ein aussagekräftiges Bild der Situation bei Gericht zu erhalten, wäre eine rechtstatsächliche Untersuchung, etwa durch Befragung von Richtern, notwendig. 46 Siehe Däubler, JZ 1984,355; Doehring, NJW 1983, 851 ff.; von Stackelberg, MDR 1983, 364ff.; Herr, NJW 1983,2131; ders., MDR 1983, 634 einhellige Praxis..."; Schultz, MDR 1983, 633; siehe auch BGH MDR 1980, 843. 47 Siehe § 244 Abs. 2 und § 261 StPO. Zu den Prinzipien der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit im Strafverfahren siehe nur Roxin, Strafverfahrensrecht, §§ 15, 16 und 44. 48 So die Argumentation etwa bei Katholnigg, § 21 g GVG Rn. 1; Wiebel, BB 1995, 1197 (1199); Schneider, BB 1995, 1430f.; siehe auch Kissel, § 21 g GVG Rn. 14; ders., DRiZ 1995, 125 (128 f.).
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beitsbelastung sowie eine fortschreitende Notwendigkeit, sich fachlich zu spezialisieren, sind geeignet, zur Verschärfung dieser Situation beizutragen. Daß auch der Gesetzgeber sich des Einflusses von Berichterstattern auf die Entscheidungsfindung des Gerichts bewußt war, zeigt ein Blick auf die Vorschriften über die Beratung innerhalb der Spruchkörper im Gerichts Verfassungsgesetz. Nach § 197 GVG stimmt der Berichterstatter innerhalb des Spruchkörpers zuerst ab. Sinn der Reihenfolge der Abstimmung ist es, die Stimmabgabe desjenigen Richters an den Anfang zu stellen, der den größten Überblick und die größte Aktenkenntnis besitzt49. Soweit sich die Entscheidung eines Spruchkörpers jedoch faktisch maßgeblich nach den Vorbereitungen des Falles durch den Berichterstatter richtet, kann dies nicht ohne Auswirkungen auf die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bleiben. In dem Umfang, indem die Gefahr besteht, daß der Berichterstatter die Entscheidung des Spruchkörpers maßgeblich beeinflußt, sollte die Zuweisung dieser Funktion in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einbezogen werden 50. Da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die möglichst genaue abstrakt-generelle Vorausbestimmung der für den Einzelfall zuständigen Richterperson fordert, hat dies zur Konsequenz, daß die Spruchkörpervorsitzenden verpflichtet sind, in den Geschäftsverteilungsplänen Kriterien festzuschreiben, aus denen sich im voraus ermitteln läßt, welcher Richter in welchem Fall als Berichterstatter fungiert 51. Dem Prinzip des gesetzlichen Richters lassen sich, dies sei abschließend hervorgehoben, ausschließlich Vorgaben für den Modus der Zuständigkeitsbestimmung der Berichterstatter durch den Spruchkörpervorsitzenden entnehmen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet hingegen nicht, wie vereinzelt angenommen wird, daß der Richter bestimmte persönliche Eigenschaften aufweist. Der nicht aktenkundige, schlecht informierte Beisitzer soll nach dieser Auffassung kein geeigneter Richter im
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Zu diesem Sinn der Vorschrift Kissel, § 197 GVG Rn. 2; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, §197 GVG Rn. 1. 50 Gefahren werden auch für die richterliche Unabhängigkeit der Berichterstatter aus Art. 97 GG gesehen, die durch die erhebliche Gestaltungsmacht des die Berichterstatter frei bestimmenden Vorsitzenden belastet wird, siehe dazu Wietel, BB 1995,1197ff.; Kissel, DRiZ 1995, 125 (129); Felix, BB 1995,1665 ff.; Koch, in: FS Nakamura, S.281 (29). Siehe auch Piska, Geschäftsverteilung, S. 85ff., der zu Art. 87 Abs. 3 Satz 1 Bundesverfassungsgesetz der Republik Österreich die Ansicht vertritt, alle senatsintemen Funktionsträger der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Vorsitzende, Referenten, Stimmführer) seien im voraus zu bestimmen, da eine unterschiedliche Behandlung der rechtlichen Grundlage entbehre. 51 Inwieweit die einfachgesetzliche Grundlage der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, § 21 g GVG, diesen Anforderungen entspricht beziehungsweise wie die Vorschrift im Lichte von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszulegen ist, wird im Zusammenhang der Darstellung der leistungsrechtlichen Dimension des Schutzbereichs erörtert. In diesem Kontext wird auch die Geschäftsverteilungspraxis auf der Basis von § 21 g GVG in den Mittelpunkt gerückt werden, siehe dazu die Ausführungen unter dem Gliederungspunkt §4 A.III. 1., S. 183ff.
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Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sein52. Wie später im Detail begründet werden wird 53 , beschränkt sich der Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf die gesetzliche Bestimmung der richterlichen Zuständigkeit. Auch der weniger gut informierte Richter ist „gesetzlicher Richter", sofern seine Zuständigkeit gesetzlich geregelt ist.
3. Vorbereitender und beauftragter Richter Eine ähnliche Problemkonstellation wie bei den Berichterstattern ergibt sich bei anderen Richterfunktionen, die durch den Spruchkörpervorsitzenden, zur Vorbereitung und Förderung der Entscheidung durch das Gericht 54, an einzelne Mitglieder des Spruchkörpers delegiert werden. So ermächtigen § 273 Abs. 2 und § 524 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., Abs. 2 ZPO den Vorsitzenden, zur Vorbereitung des Termins zur mündlichen Verhandlung im ersten Rechtszuge beziehungsweise zur Vorbereitung der Entscheidung des Berufungsgerichts, bestimmte, beispielhaft im Gesetz genannte, Maßnahmen zu treffen. Erwähnt werden etwa die Aufforderung an die Parteien zur Vorlage von Urkunden, zur Ergänzung oder Erläuterung der Schriftsätze und die Ladung von Zeugen und Sachverständigen. Ausgehend von § 355 Abs. 1 Satz 2 ZPO ermöglichen außerdem eine Reihe von Bestimmungen der Zivilprozeßordnung 55 die Übertragung der Beweisaufnahme an ein beauftragtes Mitglied des Prozeßgerichts 56. Sofern die Berichterstatteraufgabe und die Tätigkeit als beauftragter Richter zusammenfallen, kommt es zur Überschneidung der beiden Problembereiche 57. Auch hinsichtlich dieser Aufgaben stellt sich die Frage, welche Gründe dafür und welche dagegen sprechen, sie unter den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Folge zu subsumieren, daß die Zuständigkeit einer gesetzlichen beziehungsweise geschäftsplanmäßigen Vorausbestimmung bedarf 58. 52 Siehe Däubler, JZ 1984, 355 (358); von Stackelberg, MDR 1983, 364 (365); Doehring, NJW 1983, 851 (852) und die Gegenmeinung von Schulz, NJW 1983, 633 f. und Herr, NJW 1983, 2131; ders., MDR 1983, 634f. 53 Dazu die Ausführungen unter dem Gliederungspunkt § 3 Β. I., S. 45 ff. 54 Davon zu unterscheiden sind Bestimmungen, die es ermöglichen, selbständige Entscheidungen eines Spruchkörpermitgliedes anstelle (!) des Spruchkörpers herbeizuführen, siehe etwa § 524 Abs. 3 und § 349 Abs. 2 ZPO. In diesen Fällen entscheidet der einzelne, spruchkörperangehörige Richter alleinverantwortlich und abschließend. Diese Tätigkeiten unterfallen daher ohne Zweifel dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. 55 Gemeint sind § 361 Abs. 1, § 372 Abs. 2 1. Alt., § 375 Abs. 1 1. Alt., Abs. 1 a, § 402, § 434 1. Alt. und §451 ZPO. 56 Die Normen der ZPO über die Beweisaufnahme durch einen beauftragten Richter sind gemäß §§ 98, 96 Abs. 2 VwGO für den Verwaltungsprozeß entsprechend anzuwenden; siehe außerdem die Verweisung auf die ZPO in § 82 FGO. 57 Zu dieser wohl gängigen Praxis siehe Prütting, in: Münchener Kommentar, § 273 ZPO Rn. 13 mit Anm. 31; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, § 524 ZPO Rn. 5.; Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 24. 58 Ablehnend für den beauftragten Richter Albers, in: Baumbach/Lauterbach, § 21 g GVG Rn. 4, der wie beim Berichterstatter eine Einzelfallbestimmung für ausreichend erachtet; ebenso
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Die Antwort ist auch hier aus dem Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu gewinnen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter soll die Grundrechtsberechtigten davor bewahren, daß der Spruchkörpervorsitzende über die Auswahl eines Richters für einen konkreten Fall die Entscheidung des Gerichts in eine bestimmte Richtung beeinflußt. Ist die Tätigkeit des vorbereitenden und beauftragten Richters für die Entscheidung des Spruchkörpers von solcher Bedeutung, vermag sie die Entscheidung auf eine Art und Weise zu prägen, daß eine Einflußnahme auf die Richterperson, die diese Funktion ausübt, verhindert werden sollte? Rechtlich betrachtet scheint das Ergebnis klar. Die genannten Tätigkeiten haben lediglich vorbereitenden Charakter, sie leisten nur einen Teilbeitrag zu der Entscheidung, die durch den Spruchkörper in seiner Gesamtheit zu fällen ist und nur diesem zugerechnet wird. Dieser erläßt die Entscheidung, die den Namen aller Mitglieder trägt 59. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Zuteilung der Aufgaben von Fall zu Fall als ein verfassungsrechtlich unbedenklicher Akt interner, entscheidungsvorbereitender Arbeitsorganisation. Wie bei der Berichterstattertätigkeit dürfen allerdings auch bei der Bewertung der Aufgabe eines vorbereitenden und beauftragten Richters die tatsächliche Bedeutung einer vorbereitenden Maßnahme für die spätere Entscheidung des Spruchkörpers und der soziale Kontext, in dem sich die Entscheidungsfindung abspielt, nicht außer acht gelassen werden. Man wird nicht bestreiten können, daß etwa die durch eine Beweisaufnahme ermittelten Tatsachen oder die Ladung bestimmter Zeugen und Sachverständiger für die spätere Entscheidung des Gerichts, die auch auf diese Tatsachen gestützt wird, von Einfluß sind. Diesem Zweck dient die vorbereitende Tätigkeit. Ein Vergleich mit der Funktion des Berichterstatters, auf dessen Zuständigkeitsbestimmung Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach der hier vertretenen Ansicht unter bestimmten Bedingungen Anwendung findet 60, wird jedoch verdeutlichen, daß die Gefahr einer Beeinflussung der Spruchkörperentscheidung hinsichtlich der Tätigkeit des beauftragten und vorbereitenden Richters nicht in verfassungsrechtlich relevantem Maße besteht. Die Aufgabe des Berichterstatters besteht in der Vorbereitung der Akten, dem Vortragen der Sache und dem Entwurf des Urteils. Diese Arbeiten sind die Basis der Entscheidung des Richterkollegiums. Der Einfluß des Berichterstatters bezieht sich demnach unmittelbar auf die abschließende Entscheidung des Gerichts. Hinsichtlich dieser Entscheidung soll verhindert werden, daß die zuständigen Richter bewußt ausgeWolf\ in: Münchener Kommentar, § 21 g GVG Rn. 3 f. Eine Zuweisung durch den Spruchkörpervorsitzenden von Fall zu Fall hält ebenfalls für ausreichend Kissel, § 21 g GVG Rn. 14; ders., DRiZ 1995,125 (129), der seine Argumentation auch darauf stützt, daß in den Fällen der § 223 Abs. 1 und 2, § 524 Abs. 1 2. Alt. ZPO, in denen eine Übertragung durch das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung erfolgt, ein Akt der Rechtsprechung, nicht der Gerichtsverwaltung vorliege. Zustimmend für § 524 ZPO Seide, NJW 1973, 265 (267). 59 Siehe § 300 Abs. 1, § 303 sowie § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO. 60 Siehe dazu die Ausführungen zum vorhergehenden Gliederungspunkt 2., S. 32ff.
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wählt werden. Der Tätigkeit des vorbereitenden und beauftragten Richters kommt demgegenüber kein annähernd vergleichbarer Einfluß auf die Entscheidungsfindung zu. Die Aufforderung zur Ergänzung oder Erörterung von Schriftsätzen, die Ladung von Zeugen und die Beweisaufnahme sind Bausteine eines Gesamtverfahrens. Sie bedürfen jeweils der anschließenden Erörterung und Bewertung durch den Spruchkörper im Kontext der im Verfahren zutage tretenden Tatsachen. Die Möglichkeit des Berichterstatters, die Entscheidung des Spruchkörpers maßgeblich zu beeinflussen, resultiert in erster Linie aus seiner, im Vergleich zu den übrigen Beisitzern, überlegenen Kenntnis des Falles, die er sich durch dessen Aufbereitung bis hin zum Entwurf einer Entscheidung angeeignet hat. Einen vergleichbaren Wissensvorsprung, der es ermöglichte, die Spruchkörperentscheidung zu prägen, besitzt der vorbereitende oder beauftragte Richter nicht. Dessen Aufgabe ist jeweils nur auf Teilaspekte des Verfahrens beschränkt und bewegt sich im Vorfeld des Entscheidungsprozesses. Sie vermag daher die Entscheidungsfindung des Spruchkörpers nicht in gleichem Umfang wie die Vorbereitung des Falles durch den Berichterstatter zu prägen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erforderlich, die Verfahrensbeteiligten davor zu schützen, daß der Spruchkörpervorsitzende den beauftragten oder vorbereitenden Richters von Fall zu Fall auswählt. Die Zuweisung dieser Aufgaben unterfällt demnach nicht dem Schutzbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter.
II. EuGH als „gesetzlicher Richter" im Sinne des Grundgesetzes An den Umständen, unter denen der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) seine Aufgabe wahrnimmt, wird vereinzelt auf eine Weise Kritik geübt61, die den Eindruck erwecken könnte, als werde der Status des Gerichtshofs als Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Zweifel gezogen62. Wie sich im folgenden zeigen wird, sind solche Zweifel jedoch bereits im Ansatz verfehlt. 61
In diesem Zusammenhang soll der von Riegel, NJW 1975, 1049 (1053 f.) eingenommene Standpunkt vernachlässigt werden, wonach den Parteien eines Vorlageverfahrens gemäß Art. 177 EGV (Art. 234 EGV in der durch den am 01.05.1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam eingeführten Numerierung der Vertragsvorschriften) aufgrund des rein objektiven Charakters des Verfahrens keinerlei prozessuale Befugnisse eingeräumt würden. Insofern könnten die Verfahrensbeteiligten einen Verstoß gegen die subjektive Rechtsposition des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht rügen. Konnte man sich insofern noch auf Judikate des Bundesverfassungsgerichts aus der Anfangszeit stützen (BVerfGE 2,79 [91]), so erscheint diese Auffassung nach der Klarstellung durch das Gericht überholt. Siehe dazu einerseits BVerfGE 40, 356 (361 f.) zur Richtervorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG sowie BVerfGE 82, 286 (296f.) zur abstrakten Normenkontrolle. Auch Verfahrensbeteiligte, deren Sache rechtswidrig dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof nicht vorgelegt wird, genießen den Grundrechtsschutz aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Siehe dazu auch Kirchhof,\ DStR 1989, 551 (553). 62 Zum EuGH als Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe allgemein Vedder, NJW 1987, 526ff.; Zimmermann, in: FS Doehring, S. 1033ff.; Lenz, in: Zusammenwirken, S. 1 ff.; ders., NJW 1994, 2063ff.; Kirchhof DStR 1989, 551 ff.; Haller, JuS 1996, 209ff. Zum Verhältnis der europäischen Gerichte mit Zugang für Einzelpersonen zu Art. 101 GG siehe Austerhoff\ Gerichte.
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Ausgangspunkt der kritischen Betrachtungen63 ist die im Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts 64 zum Ausdruck gebrachte und durch das Plenum inzwischen bestätigte65 Rechtsauffassung, wonach sich die abstrakt-generelle Vorausbestimmung des zur Entscheidung berufenen Richters 66 bis auf die unterste Stufe der einzelnen Richterperson erstreckt. Danach ist jeder Vorsitzende überbesetzter Spruchkörper verpflichtet, vor Beginn des Geschäftsjahres Kriterien festzulegen, aus denen sich ermitteln läßt, welche Mitglieder des Spruchkörpers in welchen Verfahren Recht sprechen werden. Eben diesen Anforderungen entspreche die Geschäftsverteilung beim EuGH, so die Kritiker, in weiten Teilen nicht 67 . In der Tat beruht die Entscheidung, ob letztlich das Plenum des Gerichtshofs oder eine Kammer tätig wird, in welcher zahlenmäßigen Besetzung die Aufgaben wahrgenommen werden beziehungsweise welche der Kammern im Einzelfall zur Entscheidung berufen ist, letztlich auf einer Ermessensentscheidung. Nach Art. 9 VerfO soll der Gerichtshof zwar Kriterien festlegen, nach denen sich in der Regel die Verteilung der Rechtssachen auf die Kammern richtet. Eine solche Festlegung ist jedoch, soweit ersichtlich, nicht erfolgt 68. Wenngleich die Richter, die neben dem Berichterstatter tätig werden, mittlerweile anhand von Listen nach dem Dienstalter zugeordnet werden 69, richtet sich diese Auswahl letztlich nach der Person des Berichterstatters, welcher gemäß Art. 9 § 2 VerfO durch den Präsidenten, nach der Eingangsbearbeitung durch die Kanzlei und ohne abstrakt-generelle Vorausbestimmung, festgelegt wird 70 . Eine gesetzliche Vorausbestimmung der zuständigen Richter, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entspräche, findet beim EuGH demnach nicht statt.
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Mößlang, EuZW 1996,69 ff. Kritisch etwa auch Koenig/Sander, EG-Prozeßrecht, Rn. 62. Vorlagebeschluß an das Plenum, BVerfG NJW 1995, 2703 ff. 65 BVerfGE 95, 322ff, (Plenum) NJW 1997,1497ff. 66 Einzelheiten dazu im Anschluß unter § 3 B., S. 44ff. sowie unter § 4 Α., S. 61 ff. 67 Zu den Einzelheiten der gemäß Art. 188 Abs. 1 Satz 2 EGV (Art. 245 in der durch den Vertrag von Amsterdam zum 01.05.1999 eingeführten Numerierung der Vertragsvorschriften) erlassenen Verfahrensordnung des EuGH vom 19.06.1991(AB1.EG L 176 vom 04.07.1991, S. 7 und L 383 vom 19.12.1992, S. 117; AB1.EGC54 vom 04.03.1995, S. 2 sowie AB1.EGC65 vom 06.03.1999, S. 1 ff., insbes. S. 8), vor allem zu den Besetzungsregeln für die Kammern siehe Ehlermann/Bieber, Kapitel I A 83-1A 84; Grzybek, Rechtsschutz, S. 78 ff.; Mößlang, EuZW 1996, 69 (70); RengelinglMiddekelGellermann, Rechtsschutz, Rn. 614ff. und Dörr; in: Sodan/Ziekow, EVR Rn. 38 ff., insbesondere Rn. 47. Einschlägig sind insoweit die Art. 9, § 2-4 und Art. 25-28 VerfO. 68 Die Entscheidung hat immerhin die Beantwortung der Frage zum Inhalt, ob das Plenum mit 13 Richtern in Vollsitzung tätig wird oder das,»kleine" Plenum mit 11,9 oder 7 Richtern tagt und ob die Kammern mit 3, 4 bzw. 7 Richtern besetzt sein werden (siehe Art. 165 EGV bzw. Art. 221 EG V/Amsterdam). Zu den unterschiedlichen Spruchkörpem und deren Besetzung siehe nur Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz, Rn. 33ff; Geiger, Art. 165 Rn. 3 ff.; Dörr, in: Sodan/Ziekow, EVR Rn. 44 ff. 69 AB1.EG Nr. C 54 vom 04.03.1995, S. 2. 70 Dies widerspricht den vom Ersten Senat des BVerfG NJW 1995,1703 (1704f.) gewonnenen und vom Plenum des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 95, 322 (328 ff.), NJW 1997, 1497 (1498 f.) bestätigten Anforderungen. 64
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Wenn die gerichtsinterne Geschäftsverteilung beim EuGH nicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht, so wohl die von Mößlang angenommene Konsequenz, könnte die Bindungswirkung der Entscheidungen des EuGH, die das Bundesverfassungsgericht auf die aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entwickelten Kriterien stützt, in Frage gestellt werden. Die angedeutete Folgerung entbehrt allerdings der Grundlage, wenn man zwei Gesichtspunkte strikt voneinander unterscheidet: Die statusbezogene Anerkennung des EuGH als Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und die Bindung des Gerichts an die Verfassungsnorm, insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an die Zuständigkeitsbestimmung im Wege der Geschäfts Verteilung. Im ersten Fall geht es um die Ausweitung des Schutzbereichs der Verfassungsbestimmung zu Gunsten der Grundrechtsträger, in dem die richterliche Zuständigkeit des Gerichtshofs eine verfassungsrechtliche Absicherung erfährt. Im zweiten Fall geht es um die Frage, ob der Gerichtshof seinerseits, eine Bindung an das Grundgesetz unterstellt, durch die Geschäftsverteilung gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt. Die an dieser Stelle aufgegriffene Kritik wendet sich nur gegen die als verfassungsrechtlich unzulänglich qualifizierte Geschäftsverteilung des EuGH. Wie immer man dessen Geschäftsverteilungspraxis rechtlich bewerten will, eine solche Bewertung ist jedenfalls ohne Aussagegehalt für die Frage des Gerichtsstatus und der Bindungswirkung seiner Entscheidungen. Genausowenig wie etwa der Bundesgerichtshof durch eine verfassungswidrige Geschäftsverteilung seinen Gerichtsstatus verlöre, könnte ihn der Gerichtshof durch eine Geschäftsverteilung verlieren, die den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht entspricht. Auch ein verfassungswidrig handelndes Gericht ist ein Gericht im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 71 . 71 Die Supranationalität der Europäischen Gemeinschaften ist auch bei der Frage zu berücksichtigen, welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Geschäftsverteilung des Europäischen Gerichtshofs gelten. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit aller Mitgliedstaaten macht es einerseits notwendig, verfassungsrechtliche Standards aller Partner zu berücksichtigen und aufeinander abzustimmen. Zugleich aber hindert sie auch, den verfassungsrechtlichen Vorgaben eines Partners in jeder Hinsicht zum Durchbruch zu verhelfen, siehe Gündisch, Rechtsschutz, S. 135. Zur rechtsvergleichenden Untersuchung der entsprechenden Garantien auf staatlicher Ebene bei der Ermittlung von Inhalt und Grenzen der „Gemeinschaftsgrundrechte" siehe nur Pernice, in: Grabitz/Hilf, Art. 164 EGV Rn. 57 ff. Dörr, in: Sodan/Ziekow, EVR Rn. 47; Grzybek, Grundrechte, S. 83 und Wichard, EuZW 1996, 305 f., weisen in diesem Zusammenhang daraufhin, daß die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit nicht den strengen Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterliegt. Im geschriebenen Gemeinschaftsrecht kommt der Begriff des „gesetzlichen Richters" nicht vor, genausowenig, wie das Prinzip bislang durch den Gerichtshof als Bestandteil des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechtes ausdrücklich anerkannt wurde. Siehe Pernice , in: Grabitz/Hilf, Art. 164 EGV, wo bei den Ausführungen zu den einzelnen Grundrechten auf den „gesetzlichen Richter" nicht eingegangen wird. Zu der grundsätzlichen Frage, ob es zur Anerkennung eines Gebotes als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts einer positiven Feststellung und inhaltlichen Konturierung durch den Europäischen Gerichtshof bedarf, siehe Grzybek, Rechtsschutz, S. 85, der diese Frage
§ 3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
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B. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich" I m zurückliegenden Kapitel wurde aufgezeigt, welche Richterfunktionen unter den grundrechtlichen Schutzbereich fallen. Der Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist allerdings nur vollständig umschrieben, wenn auch Klarheit darüber besteht, was unter dem Tatbestandsmerkmal der „Gesetzlichkeit" zu verstehen ist. I m Grundsatz unbestritten ist zunächst, daß damit die abstrakt-generelle Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit gewährleistet wird. Der zur Verwirklichung dieser Anforderungen notwendige Bestand von Rechtssätzen umfaßt nicht nur die einfachgesetzlichen Normen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der unterschiedlichen Verfahrensordnungen über den Rechtsweg und die sachliche und örtliche Zuständigkeit von Gerichten, sondern auch die gerichtsinternen und spruchkörperinternen Geschäftsverteilungspläne. 101 Abs. 1 Satz 2 GG begnügt sich allerdings nicht mit einer irgendwie gearteten Regelung der Zuständigkeit. U m eine Manipulation der zur Entscheidung berufenen Richterpersonen durch die hoheitlichen Gewalten auszuschließen, verlangt das Bundesverfassungsgericht vielmehr, daß sich aus der richterlichen Zuständigkeitsordnung für jeden erdenklichen Fall so genau wie möglich ermitteln läßt, welches Gericht und welche Richter zur Entscheidung berufen sind 72 . bejaht, und kritisch zu dieser Annahme die Rezension durch Szczekalla, DVB1.1995,383 (384) m. w. N. Auch findet sich in einigen Rechtsordnungen - meist solchen mit kontinuierlicher demokratischer Tradition - ein zur bundesdeutschen Haltung gegenüber den Anforderungen an senatsinterne Geschäftsverteilung völlig konträrer Standpunkt. Die Vorstellung einer manipulativen Beeinflussung des eigenen Spruchkörpers wird als femliegend betrachtet. Zum Anspruch auf den „gesetzlichen Richter" in den einzelnen Rechtsordnungen der Staaten der Europäischen Gemeinschaften und dem Europäischen Gemeinschaftsrecht siehe Grzybek, Rechtsschutz, S. 71 ff. Zum EuGH siehe Mößlang, EuZW 1996, 69 (70f.); Stotz, EuZW 1995, 749; EuGH EuZW 1995,668 (670) - Antwort des EuGH auf die Rüge der fehlerhaften Besetzung der Kammer durch die deutsche Bundesregierung - mit Anmerkungen von Szczekalla, EuZW 1995, 671 f.; RengelinglMiddekelGellermann, Rechtsschutz, Rn. 616 sowie die Äußerung eines früheren Präsidenten des Gerichtshofs in den Anmerkungen zu BGH (VGS) JZ 1994, 1174 (1179). Exemplarisch sei auf Henkel, England, S. 13 ff. und S. 68 ff. verwiesen, der zunächst darauf hinweist, daß im englischen Verfassungsrecht weder eine geschriebene, noch eine ungeschriebene Verankerung des Rechtes auf den gesetzlichen Richters existiert. Zudem bleibe etwa den Clerks in der Praxis ein weitgehender Freiraum zur täglichen (!) Verteilung der Rechtssachen auf die Justices. Ermessensentscheidungen ohne abstrakt-generelle Vorgaben bis zur Einzelperson des Richters seien dabei respektiert. Recht pragmatisch ist man sich offenbar der Einflußnahme der Richterperson auf die Rechtsprechung bewußt, vertraut indes auf eine sachgerechte Ausübung der Kompetenzen. 72 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe BVerfGE 2, 307 (319 f.); 6,45 (50f.); 17,294 (298 f.); 19,52 (59f.); 22,254 (258); 30,149 (152)f.); 31,145 (163 f.); 40, 268 (271); 48,246 (253); 63,77 (79); 82,286 (298); 95,322 (327 f.), NJW 1997,1497 ff. Grund-
Β. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich"
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Wie sich die dogmatische Struktur der soeben umschriebenen Pflicht zur Ausgestaltung der richterlichen Zuständigkeitsordnung im Detail darstellt und was auf dieser Basis unter einer möglichst genauen Regelung zu verstehen ist, bleibt dem nachfolgenden Kapitel über die leistungsrechtliche Dimension des Grundrechts vorbehalten73.
I. Recht auf den „verfassungsmäßigen" Richter Mit der Garantie einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung ist der Gewährleistungsinhalt von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht abschließend umschrieben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutzbereich des Grundrechts erheblich ausgedehnt. Ungeachtet der grundsätzlichen Anerkennung im Schrifttum 74, ist diese Ausweitung deshalb bemerkenswert, weil sie sich vom überkommenen Verständnis des Rechtes auf den gesetzlichen Richter sowie der Zielsetzung, die mit der Aufnahme des Artikels in das Grundgesetz verfolgt wurde, deutlich entfernt hat.
1. Einbeziehung sonstigen Verfassungsrechts Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verleiht dem Grundrechtsberechtigten nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch ein Recht darauf, daß nur Gerichte bestehen, die in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entsprechen. „Gesetzlicher Richter" ist danach nicht nur der gesetzlich zuständige, sondern auch der verfassungs- und gesetzmäßige Richter. a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Im einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG um folgende Anforderungen der Verfassung erweitert: (1) Der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 92 1. Halbsatz GG verankerte Gewaltentrennungsgrundsatz, so das Gericht, verlange, daß die Rechtsprechung durch besondere, von der Exekutive und Legislative zu unterscheidende staatliche Organe ausgeübt werde. Dies habe zur Folge, daß eine personelle Verflechtung von Gerichsätzlich zustimmend etwa Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 16; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 5 und bereits Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Erster Band, Art. 105 WRV S. 111 sowie Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 562. 73 § 4 A.I., S. 61 ff. 74 Siehe etwa Kern, JZ 1960, 244ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 13; Marx, Richter, S. 17f.; Reicht, Richter, S. 59f.; Barbey, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 74 Rn. 60f.; LeibholzlRincklHesselberger, Art. 101 GG Rn. 131 ff., 400; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 5; schwankend Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 11 f. Zur Unparteilichkeit im speziellen Stemmler, Befangenheit, S. 13 ff.; Hamm, Ablehnung, S.53ff.; Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 113f. und Träger, in: FS Zeidler, S. 123 (125f.).
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3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
ten mit Verwaltungsbehörden unzulässig sei. Eine solche verfassungswidrige Verflechtung traf für die sogenannten Gemeindefriedensgerichte des Landes BadenWürttemberg zu, die mit Gemeindebeamten besetzt wurden 75. Auch der Einsatz von Vorstandsmitgliedern der Landwirtschaftskammern als landwirtschaftliche Beisitzer bei den Amtsgerichten in ihrer Funktion als Landwirtschaftsgerichte erster Instanz in Rheinland-Pfalz 76 wurde als mit Art. 20 Abs. 2 und Art. 92 GG unvereinbar eingestuft. Demgegenüber hat das Gericht die Unabhängigkeit der Berufsgerichte der Ärztekammern gegenüber Verwaltung und Gesetzgebung anerkannt77. Den Schritt zur Ausweitung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG über eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung hinaus vollzogen die Richter auf folgende Weise: Wenn die Einrichtung eines Gerichts gegen das Prinzip der Gewaltentrennung verstoße, so seien nicht nur Art. 20 Abs. 2 und Art. 92 GG verfassungsrechtliche Maßstabsnormen. Auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fordere die Einrichtung von Gerichten, deren Unabhängigkeit gegenüber den anderen hoheitlichen Gewalten gewährleistet sei. Eine Verletzung des Prinzips der Gewaltentrennung bedinge daher einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter 78. (2) Hinsichtlich der Einrichtung von Berufsgerichten der Ärztekammern in Rheinland-Pfalz 79 und der Berufung ehrenamtlicher Beisitzer in der Sozialgerichtsbarkeit 80 hat das Bundesverfassungsgericht noch grundsätzlicher argumentiert. Art. 92 GG, dessen verfassungsrechtlicher Inhalt in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzubeziehen sei, verlange, daß die Rechtsprechungstätigkeit ausschließlich durch staatliche Gerichte ausgeübt werde. Ein Gericht könne jedoch nur dann als staatlich angesehen werden, wenn die Bindung an den Staat auch in personeller Hinsicht gesichert sei. Dies bedinge, daß dem Staat bei der Auswahl des Richterpersonals ein entscheidendes Bestimmungsrecht verbleiben müsse. Auch das zahlenmäßige Verhältnis von ehrenamtlichen Laienrichtern zu Berufsrichtern in der Sozialgerichtsbarkeit sei an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen. Dem Gesetzgeber stehe allerdings insoweit ein Ermessensspielraum zu, der auch dann noch eingehalten sei, wenn ehrenamtlichen Richtern ein zahlenmäßiges Übergewicht zukomme81. (3) Das Prinzip des gesetzlichen Richters soll darüber hinaus die in Art. 97 GG verankerte Unabhängigkeit der Richter schützen82. Dies hat zur Folge, daß die einfachgesetzlichen Ablehnungs- und Ausschließungsgründe, die der richterlichen Unabhängigkeit zur Durchsetzung verhelfen, durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG abgesichert 75
Siehe BVerfGE 10, 200 (213, 216). Siehe BVerfGE 54, 159 (166, 172). 77 Siehe BVerfGE 18, 241 (254). 78 Siehe BVerfGE 10, 200 (213, 216); 18, 241 (254); 54, 159 (166, 172). 79 BVerfGE 18, 241 (253 f.). 80 BVerfGE 27, 297 (320). 81 BVerfGE 27, 297 (320). 82 BVerfGE 10,200 (213); 14,156 (162); 23,321 (325); 27,312(319); 54,159(172); 60,175 (214); 82, 286 (298); BVerfG DVB1. 1991, 1139; BVerfG NJW 1992, 2075 f. 76
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werden 83. Zur Begründung dieser Schutzbereichsausweitung schließt das Bundesverfassungsgericht offenbar von einer Umschreibung des Wesens von Gerichten auf den Schutz dieser Wesenszüge durch die Norm, in der die Begriffe „Gericht" oder „Richter" zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Dies kommt zum Ausdruck, wenn das Gericht in diesem Zusammenhang davon spricht, die genannten Begriffe setzten notwendig voraus, daß richterliche Tätigkeit von am Gerichtsverfahren unbeteiligten Dritten ausgeübt werde 84. Wenn die Begriffe „Richter" und „Gericht" Unabhängigkeit begriffsnotwendig voraussetzen, so muß man das Gericht offenbar verstehen, garantiert auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, in dessen Tatbestand das Wort „Richter" Aufnahme gefunden hat, die richterliche Unabhängigkeit. Zur persönlichen Unabhängigkeit, die das Gericht im Prinzip des gesetzlichen Richters verankert sieht, wird auch die in Art. 97 Abs. 2 GG geregelte, grundsätzlich hauptamtliche und planmäßig endgültige Anstellung gerechnet. Daraus zieht das Bundesverfassungsgericht die Konsequenz, Richter auf Probe, Richter kraft Auftrags oder abgeordnete Richter dürften nicht in unbegrenztem Umfang zur Rechtsprechungstätigkeit herangezogen werden. Eine Rechtfertigung für eine Abweichung vom Grundsatz der hauptamtlichen und endgültig planmäßigen Anstellung ergebe sich etwa aus der Notwendigkeit, Richternachwuchs heranzubilden oder aus sonstigen zwingenden Gründen 85. (4) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG soll schließlich eine wirksame Ernennung zum Richter garantieren 86.
83 BVerfGE 4,412 (416); 21,139 (145f.); 23,85 (91); 23,321 (326); 30,149 (152f.); 40,268 (271); 82, 286 (298); BVerfG NJW 1998, 369f. Siehe auch BFH NJW 1998,478 ff. zu § 51 FGO; BVerwG NJW 1998,323 ff. zu § 54 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 42ff. ZPO; SächsVerfGH NJW-RR 1999, 287f.; LG Darmstadt NJW-RR 1999, 289 f. 84 Siehe BVerfGE 3,377 (381); 4, 331 (346); 14,56 (69); 18,241 (255); 21,139 (145 f.); 27, 312 (322); 60, 175 (214) - hierin kommt auch der Gewaltentrennungsaspekt erneut zum Ausdruck. 85 BVerfGE 14,156 (162ff). Siehe auch BVerfGE 4, 321 (345) und Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 635 ff. § 29 Satz 1 DRiG n.F., der bis 28.02.1998 die Mitwirkung von zwei nicht hauptamtlichen Richtern ermöglichte, wird von der Rechtsprechung mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ebenfalls (verfassungskonform) restriktiv ausgelegt. Siehe dazu BVerfG NJW 1998,1053 f., wo auf die Fortgeltung der in BVerfGE 14, 156 ff. entwickelten Grundsätze auch vor dem Hintergrund der Neufassung des § 29 Satz 1 DRiG hingewiesen wird und BVerwG NJW 1997,674f., BayVBl. 1997, 25f.; BGHZ 130, 304ff., NJW 1995, 2791 f.; OLG Frankfurt am Main OLGZ 1994,247, MDR 1993,1010; BayVGH (Az.: 10 Β 96.1967), siehe dazu den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 22.05.1997, S. 39 und VGH Kassel NVwZ-RR 1998, 269f. Zur Besetzung der OLG-Senate der neuen Bundesländer mit nicht hauptamtlichen Richtern unter Berücksichtigung von § 3 RPflAnpG siehe BVerfG DtZ 1996,175 f.; BGH DtZ 1997,66f. 86 BVerfG NJW 1992, 2075; noch offengelassen bei BVerfGE 3, 255 (259). Ausdrücklich abgelehnt hat das Bundesverfassungsgericht hingegen die Relevanz einer falschen besoldungsrechtlichen Eingruppierung eines Richters für die Garantie des gesetzlichen Richters, siehe BVerfGE 23, 321 (325).
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Sieht man von diesen Einzelpunkten ab, zu denen sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich geäußert hat, so ist die Frage nach dem Inhalt des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG damit nicht abschließend beantwortet. Nimmt man das Bundesverfassungsgericht beim Wort, wonach nur solche Gerichte, die in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entsprechen, Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sind, so ergibt sich ein Gewährleistungsbereich, der über den vorab skizzierten deutlich hinausgeht. Eine solche Umschreibung bezieht die gesamte Verfassung als Prüfungsmaßstab in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein. Dies hätte materiellrechtlich und verfassungsprozessual weitreichende Konsequenzen. Gesetze verstießen nicht nur dann gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie die richterliche Zuständigkeit nicht hinreichend exakt vorausbestimmten, sondern auch dann, wenn es etwa an der Gesetzgebungskompetenz mangelte oder wenn die Normen mit irgendeiner anderen Bestimmung des Grundgesetzes kollidierten. Ob die Einbeziehung der gesamten Verfassung als Prüfungsmaßstab der Intention des Gerichts entspricht, ist jedoch fraglich. Der Kreis der in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzubeziehenden Verfassungsbestimmungen verengt sich, wenn das Bundesverfassungsgericht unter den Anforderungen des Grundgesetzes, denen ein Gericht in jeder Hinsicht entsprechen muß, ausschließlich die Regelungen des Grundgesetzes verstehen will, welche Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit im funktionellen Sinne konstituieren. Gerichte, die in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entsprechen, wären danach Gerichte, die in jeder Hinsicht den Anforderungen entsprechen, die das Grundgesetz an die Errichtung von Gerichten und den Status von Richtern stellt. Um bei dem oben gebildeten Beispiel zu bleiben: Ein Gesetz zur Gerichtsverfassung oder Gerichtsorganisation, das nicht mit den Normen über die Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 ff. GG) in Einklang zu bringen wäre, verstieße nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Normen über die Gesetzgebungskompetenz betreffen nicht die im Grundgesetz verankerten Anforderungen an Gerichte oder den funktionellen Status der Richter. Die Ausweitung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkte sich in diesem Fall auf die Normen der Verfassung, die die Merkmale der Gerichte und des Richterstatus normieren, nämlich Art. 92 und 97 GG 87 . Die soeben verdeutlichte Ungewißheit im Umgang mit der Frage, welche Haltung das Gericht letztlich gegenüber dieser Problematik einnimmt, wären praktisch unbedeutsame Gedankenspiele, wenn es nicht selbst zur Verunsicherung beigetragen hätte. Einerseits fördert das Gericht durch bestimmte Äußerungen die Annahme, es selbst wolle die Verfassung insgesamt zum Prüfungsmaßstab erheben. In der Entscheidung aus dem Jahre 195988, die seither als Beleg für die eigene Rechtsansicht zi-
87 Mit dieser Tendenz wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgelegt durch Barbey, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 74 Rn. 59ff; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 8; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 5. 88 BVerfGE 10, 200 (213 ff.).
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tiert wird 89 , führt das Gericht nicht nur aus, das Gesetz über die Friedensgerichte sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und die Entscheidungen der Gerichte verletzten daher das Recht der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen Richter. Es stützt die Unvereinbarkeit zusätzlich auf das Prinzip der Gewaltenteilung. Auch wenn man berücksichtigt, daß auch Art. 92 GG, auf den das Gericht verweist, als Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verstanden90 wird, unterstützt das Bundesverfassungsgericht durch diese Judikate die Annahme, es wolle auch Verfassungsbestimmungen über Art. 92 und Art. 97 GG hinaus in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einbeziehen. Sieht man andererseits von dieser, nicht völlig eindeutigen Bezugnahme auf das Prinzip der Gewaltenteilung ab, hat das Gericht tatsächlich jedenfalls in keinem Fall andere, als die aus Art. 92 und 97 GG folgenden Maßstäbe in die Untersuchung eines Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters einbezogen. b) Kritik an der Ausweitung des Gewährleistungsbereichs Ungeachtet der beschriebenen Zweifel hinsichtlich des Standpunktes des Bundesverfassungsgerichts sieht sich die Extensivierung des Schutzbereichs auf die gesamte Verfassung erheblichen Einwänden ausgesetzt. An der Ausweitung des Schutzbereichs ist daher auch von Beginn an Kritik geübt worden 91, die im Ergebnis zutrifft. Es kann kein Zweifel bestehen, daß eine richterliche Zuständigkeitsnorm nicht nur an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen ist, sondern auch im übrigen dem Grundgesetz entsprechen muß. Dies folgt aus der Bindung aller hoheitlicher Gewalt an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG beziehungsweise aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Vorrang der Verfassung. Doch hat ein solcher Verstoß gegen sonstiges Verfassungsrecht keinen inhaltlichen Bezug zum Regelungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Problematik erinnert an die grundrechtsdogmatische Konstruktion des grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltes der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG sowie deren Verhältnis zu den speziellen Freiheitsrechten 92. Hier wie dort wird die gesamte Verfassung letztlich Maßstab der Grundrechtskonformität einer gesetzlichen Regelung. Hier wie dort entwickelt sich aus einer auf das einschlägige
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Siehe BVerfGE 14, 156 (162); 23, 321 (325); 82, 286 (298). Dazu nur Detterbeck, in: Sachs, Art. 92 GG Rn. 1; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 92 GG Rn. 1. 91 Siehe bereits Bettermann, AöR 1969,263 (267 ff.), der den Ausschluß und die Ablehnung von Richtern als verfassungsrechtlich gerechtfertigten Eingriff in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ansieht; ders., AöR 1967,496 (507); Marx, Richter, S. 15f.; Henkel, Richter, S. 12,160ff.; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 18 f. (differenzierter noch die Vorauflage, Rn. 17); Wipfelder, VB1.BW 1982, 33 (41). 92 Dazu etwa Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rn. 368 ff. und 382 ff.; zum grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt eingehend Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 369ff. mit umfassenden Nachweisen. 90
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Grundrecht gestlitzen Verfassungsbeschwerde 93 die Nachprüfung der allseitigen Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung94. In diesen Folgen erschöpfen sich indes die Gemeinsamkeiten beider Sachverhalte. Im übrigen verdeutlichen die fundamentalen dogmatischen Unterschiede beider Bereiche, wie wenig tragfähig sich die Ausweitung in Bezug auf das Prinzip des gesetzlichen Richters darstellt. Erneut: auch grundrechtsbeschränkende Gesetze aufgrund eines Gesetzes Vorbehaltes, die gegen sonstiges Verfassungsrecht verstoßen, stellen eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Beeinträchtigung des betroffenen Grundrechts dar 95. Die gesamte Verfassung wird dadurch letztlich Maßstab einer Grundrechtsprüfung. Voraussetzung ist jedoch immer - die besondere Problematik des weiten Schutzbereichs der allgemeinen Handlungsfreiheit nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts muß an dieser Stelle vernachlässigt werden 96 - , daß die gesetzliche Regelung den spezifischen Freiheitsbereich, den eine grundrechtliche Gewährleistung als schützenswert normiert, beeinträchtigt, sich also gegen die Grundrechtsausübung wendet. All dies ist bei einem Gesetz zur Regelung richterlicher Zuständigkeit gerade nicht der Fall. Weder beinhaltet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einen zu Grundrechtsbeeinträchtigungen ermächtigenden Gesetzesvorbehalt97; der Gesetzgeber ist im Gegenteil, als Ausdruck der leistungsrechtlichen Dimension des Grundrechts, verpflichtet, den Gewährleistungsbereich durch die Bereitstellung einer gesetzlichen Zuständigkeitsordnung auszugestalten. Noch soll nach der Ansicht des Bundesverfassungsgericht eine Beeinträchtigung des „eigentlichen" Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die exakte Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit, Voraussetzung für die Ausweitung des Prüfungsmaßstabes sein.
2. Einbeziehung richterspezifischen Verfassungsrechts Einer gesonderten Betrachtung soll die bereits erwähnte Einbeziehung von Art. 92 und insbesondere Art. 97 GG in den Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter unterzogen werden. Diese Bestimmungen über den verfassungsrechtlichen Richterstatus haben mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gemeinsam, daß sie 93
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG. Zu dieser Folge bereits Marx, Richter, S. 15f. und Henkel Richter, S. 160ff. sowie Wassermann ι, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 11 und besonders deutlich Leibholz/Rinck/ Hesselberger, Art. 101 GG Rn.400 mit Verweis auf BVerfGE 10,212: „Auch wenn ein Gesetz, das die Errichtung von Gerichten vorsieht, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, verletzen die Entscheidungen dieser Gerichte das Recht auf den gesetzlichen Richter." 95 Siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 36. 96 Seit dem „Elfes-Urteil", BVerfGE 6, 32 (36ff), ständige Rechtsprechung, siehe etwa BVerfGE 54, 143 (146); 80, 137 (152ff.); Murswiek, in: Sachs, Art. 2 GG Rn. 42ff. sowie die Kritik in der abweichenden Meinung des Richters Grimm BVerfGE 80, 164 ff. und bei Hesse, Grundzüge, Rn. 426ff. 97 Zum besonderen Verhältnis von grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und Leistungsrechten siehe Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 385 ff. 94
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zum Regelungskomplex Rechtsprechung gehören, der durch die gleichlautende Überschrift vor Art. 92 GG hervorgehoben wird. Im Gegensatz etwa zum Gewaltentrennungsprinzip stehen Art. 92 und 97 GG dem Prinzip des gesetzlichen Richters daher sachlich näher. Dies könnte der Anknüpfungspunkt sein für die Annahme, die verfassungsrechtlich gewährleistete Unabhängigkeit der Richter sei - zusätzlich - in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankert. Die früheren Gewährleistungen des Prinzips des gesetzlichen Richters, allen voran Art. 105 WRV 98 , an die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dogmengeschichtlich anknüpft, erschöpften sich in der Garantie der nicht willkürlich bestimmten, sondern gesetzlich festgelegten gerichtlichen Zuständigkeit. Auch aus den Materialien zur Entstehung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben sich keine Anhaltspunkte, die auf einen Gewährleistungsbereich schließen lassen, der über die Garantie einer gesetzlichen Zuständigkeitsregelung hinausgeht99. Andererseits hat sich, wie das Bundesverfassungsgericht betont100, die Bestimmung des Inhalts einer Verfassungsnorm auch an den veränderten realen Gegebenheiten des Ausschnitts der Lebenswirklichkeit zu orientieren, zu deren Regelung sie bestimmt ist 101 . So kann eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände wahrgenommen werden oder bekannte Tatbestände im Zuge neuer Entwicklungen in veränderter Bedeutung erscheinen. Unter diesen Voraussetzungen könnte sich das Verständnis von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf eine Weise gewandelt haben, daß es erforderlich erscheint, weitere, neue Verhaltensanforderungen an die Normadressaten zu stellen 102 . Haben sich demnach Aufgabe und Status der Rechtsprechung unter dem Grundgesetz auf eine Weise entwickelt, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG über eine gesetzliche Zuständigkeitsbestimmung hinaus auch die Unabhängigkeit der Richter gewährleisten sollte103? Angesichts des klaren Wortlauts - Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt ausdrücklich nur die „Gesetzlichkeit" und nicht die „Unabhängigkeit" des Richters - sowie des Regelungszusammenhangs der Verfassung ist es zweifelhaft, ob 98
Siehe §6, S. 233 ff. Siehe Doemming/Füsslein/Matz, AöR 1951, 1 (739) sowie den Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Kommentierender Teil, S. 93. 100 Siehe BVerfGE 2, 380 (401); 3,407 (422); 7,342 (351); 59, 336 (356f.); 74,297 (350f., 354); 34, 269ff., 288 ff. zum Wandel der Fakten des Normbereichs bzw. zur Möglichkeit eines Bedeutungswandels einer Norm auf Grund faktischer Änderungen der tatsächlichen Umstände. 101 Dazu Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 41 ff.; Müller, Normstruktur, S. 184ff.; ders., Methodik, S.270ff. 102 Zu einer solchen Öffnung der Verfassung „in die Zeit hinein" und zu den Schwierigkeiten einer Erfassung des Phänomens sowie den verfassungsrechtlichen Grenzen eines Verfassungswandels umfassend Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254ff.; Badura, in: Isensee/Kirchhof, Band VII, § 160 Rn. 13ff. und Roßnagel, Der Staat 1993, 551 ff. 103 Siehe Barbey , in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 74 Rn. 59 ff., der die Einbeziehung mit den erweiterten Anforderungen an den funktionsrechtlichen Richterstatus unter dem Grundgesetz begründet. 99
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3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
eine solche erweiterte Auslegung eine sachgerechte und erforderliche Anpassung des Normbefehls an geänderte Umstände darstellt. Schließlich widmet die Verfassung der richterlichen Unabhängigkeit und den übrigen richterlichen Statusmerkmalen mit Art. 92 und 97 GG eigene, spezielle Regelungen. Will man entgegen den klaren Vorgaben in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG Verstöße gegen Art. 97 GG verfassungsprozessual absichern, bleibt nur der Weg einer Verfassungsänderung. Ein Weg, der auch Raum für eine Auseinandersetzung über die Notwendigkeit einer Aufnahme von Art. 97 GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ließe und den normativen Vorgaben der Verfassung Rechnung trüge. Wenngleich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 97 GG dem gemeinsamen Ziel dienen, eine unabhängige, sachliche Justiz zu garantieren und dadurch zugleich das Vertrauen in die Justiz zu fördern, sind es letztlich dennoch Normen mit spezifischem, eigenem Regelungsgehalt. Daß unterschiedliche Normen teilweise gleichen Zielen dienen und einem übergeordneten, gemeinsamen Regelungszusammenhang angehören, ist in der Verfassung keine Seltenheit. So werden unter anderem das Grundrecht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Rechtsschutzgewährleistung bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt, gemeinsam mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, als Elemente des Rechtsstaatsprinzips verstanden, die die Qualität des gerichtlichen Rechtsschutzes ausmachen und prägend für einen allgemeinen Rechtsschutzstandard unter dem Grundgesetz sind 104 . Dennoch garantiert Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zugleich die gesetzliche Regelung richterlicher Zuständigkeit oder Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zusätzlich ein Recht auf rechtliches Gehör vor den Gerichten. Die teilweise gemeinsame Zielsetzung der verschiedenen Normen rechtfertigt es nicht, materielle Gehalte der einen in den Schutzbereich der anderen Norm zu übertragen, solange eine inhaltliche Abgrenzung der Gewährleistungsbereiche auf so deutliche Weise gelingt, wie dies bei Art. 97 GG im Verhältnis zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Fall ist 105 . Letztlich verfängt auch der Vorwurf nicht, die Reduzierung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Anforderung der Gesetzlichkeit im eigentlichen Sinne sei allzu formal, ja verdiene es für sich genommen nicht, in die Verfassung aufgenommen zu werden. 106 Ist es doch gerade das mit einer negativen Konnotation versehene „Formale", welches die Bedeutung und rechtsstaatliche Errungenschaft des Prinzips des gesetzlichen Richters ausmacht. Die perfekte gesetzliche Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit hat den Zweck, eine Manipulation der Richterbank auszuschließen. Die damit verbundenen Anforderungen an eine hinreichend genaue gesetzliche Bestimmung richterlicher Zuständigkeit bieten ohnehin ausreichend Zündstoff, in104
Dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19IV GG Rn. 18. Zu den Problemen einer Überschneidung der Gewährleistungsbereiche von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG siehe nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19IV GG Rn. 19. 106 So Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 13; ähnlich im Ansatz Marx, Richter, S. 18; Wassermann, in: Altemativkommentar, Art. 101 GG Rn. 11 sowie Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 112ff. 105
Β. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich"
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dem sie die hoheitlichen Gewalten vor nicht leicht zu erfüllende Aufgaben stellen, so daß von einer „leichten Kost" zu reden die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Realität nur unzutreffend widerspiegelt. Als Beleg mag ein Hinweis auf die sogenannten beweglichen Zuständigkeiten im Strafverfahren 107 oder die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung der Gerichte 108 genügen, wo die Problematik der formalen Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich einer möglichst exakten Bestimmung richterlicher Zuständigkeiten besonders deutlich zutage tritt.
II. Weitere Ausweitungsbestrebungen Die beschriebene Ausdehnung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist bereits für sich genommen fraglich. Diese Anreicherung des Gewährleistungsinhalts mit den rechtlichen Maßstäben anderer Verfassungsnormen zeichnet darüber hinaus für eine Entwicklung verantwortlich, die in der Gänze einer klar konturierten Auslegung der Verfassungsbestimmung entgegenwirkt. In der Fortentwicklung der extensiven Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gesetzlichkeit werden die Grenzen zum Rechtsstaatsprinzip sowie zu Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG weitgehend verwischt 109. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG soll neben körperlichen und persönlichen Merkmalen 110 der handelnden Richter auch die Effektivität und Leistungsfähigkeit der Justiz in unterschiedlichsten Ausprägungen gewährleisten. Nicht nur die Garantie eines qualifizierten Berufsrichtertums überhaupt und gewisse Mindestanforderungen an qualifizierte Spruchkörper 111 werden dem Prinzip des gesetzlichen Richters zugeschrieben. Auch die erforderliche Sachkunde und ein bestimmter Grad an Aktenkenntnis soll durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet werden - der „nicht informierte Richter" als „ungesetzlicher Richter" 112 . Den Anforderungen des Grundrechts werde darüber hinaus nur derjenige Richter ge107
Siehe § 4 Α. II. 1. a), S. 108ff. Dazu unter § 4 A.III., S. 182ff. 109 Die naturgemäß bestehenden verfassungsrechtlichen Verbindungslinien zu sonstigen Prozeß- und Verfahrensgrundsätzen sollen mit dieser Aussage allerdings keineswegs bestritten werden, siehe dazu nur Stern, Staatsrecht III/l, S. 1471 Fn. 252f. m. w. N. 110 Siehe bereits Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 60, ablehnend zu der Frage, ob Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG die Gewähr biete, daß ein Richter über die allgemeine Befähigung zum Richteramt hinaus eine besondere innere Beziehung oder besondere Befähigung besitze, die ihn für den jeweiligen speziellen Gerichtszweig geeignet erscheinen lasse. Ablehnend zu persönlichen Eignungsmerkmalen eines Richters etwa BVerfG NJW 1992,2075, wonach Mängel in der psychischen oder physischen Konstitution eines Richters nicht dem Schutz des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen und ausdrücklich Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 2 a, der darauf verweist, daß solche Merkmale nicht den Schutzzweck der Verfassungsnorm berührten, sondern an Art. 103 Abs. 1 GG bzw. dem Anspruch auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren zu messen seien. 111 So Nix, NJ 1992, 451. 112 Siehe Däubler, JZ 1984, 355 (358); Doehring, NJW 1983, 851 (852); von Stackeiburg, MDR 1983,364 (365); kritisch Schulz, MDR 1983,633 f.; Herr, NJW 1983,2131; ders., MDR 1983, 634f. 108
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3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
recht, der die erforderliche Wahrnehmungsfähigkeit für eine verantwortliche Entscheidung aufbringe, was weder bei einem schlafenden, übermüdeten oder überlasteten Richter 1 1 3 noch unter bestimmten Umständen bei einem blinden oder tauben Richter 1 1 4 der Fall sei. Sogar die richterliche Verweisung ohne Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts neben Art. 103 Abs. 1 GG zugleich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G 1 1 5 . In den Kontext einer angeblich durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Effektivität und Fairneß des Rechtsschutzes 116 werden schließlich folgende Gewährleistungen gestellt: die Erreichbarkeit des Richters in angemessener Zeit 1 1 7 ; die Entscheidungsfindung in zumutbarer Z e i t 1 1 8 (Stichwort: „formelle Justizverweigerung" 119 , worunter neben der Verzögerung auch die Nichterledigung einer Rechtssache verstanden wird) und die Abwehr
113 Siehe BVerwG NJW 1986, 2721 ff., DÖV 1986, 437 f.; Kissel , § 16 GVG Rn. 45, 47; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 13; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 309; ablehnend Günther, MDR 1990, 875. 114 Siehe BVerfG NJW 1992, 2075, ausdrücklich ablehnend zum blinden Richter; BVerfGE 20, 52 (55), zu Art. 103 Abs. 1 GG; BGHSt 4, 191 (193) (nur bei Beweisaufnahme durch Augenschein); BGHSt35,164ff.; BSGE23,184ff. (nur bei Beweisaufnahme durch Augenschein). Differenzierend Kissel, § 16 GVG Rn. 45 f. mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur und Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 309; Wolf,\ Gerichtsverfassungsrecht, § 7 I V S. 71; Hanack, JZ 1972, 313 (315) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH (nur bei Beweisaufnahme durch Augenschein). 115 BVerfGE 61, 37 (41); zustimmend Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn.8. 116 Dazu allgemein BVerfGE 44, 353 (374); Kissel , § 16 GVG Rn. 50 (gleichzeitig [!] soll, je nach systematischem Schwerpunkt [!] Art. 103 Abs. 1 GG betroffen sein), Rn. 60ff., 73; Schilken,, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310; Kloepfer, JZ 1979, 209 (213). 117 Kissel, § 16 GVG Rn. 61 ff. m. N. Siehe allgemein hierzu BGHSt 27, 334 (335). 118 BVerfGE 3, 359 (364) mit Verweis auf Kern, Richter, S. 203; gegen diesen Verweis Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (529); Kissel , § 16 GVG Rn. 60ff. mit Nachweisen. Siehe auch BVerfGE 53, 152 (162f.) zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Koepsell/Fischer-Tobies, DB 1992,1370 (1372), die aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einen Anspruch auf Beachtung der sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine richtige Entscheidung der Gerichte ableiten, was auch eine zeitgerechte Entscheidung bedinge. Außerdem führe eine bewußte Nichterledigung von Fällen, die nach bestimmter Zeit zur Zuständigkeit einer anderen Kammer führe, zur Entziehung des „gesetzlichen Richters". Siehe weiterhin Reichl, Richter, S. 65. Ablehnend hingegen bereits Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (559); ders., AöR 1969,263 (277). Zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und das Rechtsstaatsprinzip wegen überlanger Verfahrensdauer siehe EGMR NJW 1997, 2809ff.; EGMR NJW 1998, 2961; BVerfG NJW 1997,2811 ff. Auch nach Kloepfer, JZ 1979,209 (213) soll eine erhebliche Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch Verzögerung eines Gerichtsverfahrens zu einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG führen. Siehe auch BGH NJW 1996,1159f. zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und einer Verfahrensverzögerung, die durch eine sukzessive Entscheidung von Ablehnungsgesuchen in der Reihenfolge des Eingangs der Gesuche entstehen kann. 119 Mit der Frage, ob Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Maßstäbe für die richterliche Justizverweigerung liefert, befaßt sich außerdem Hummer, Justizgewährung, S. 153ff.
Β. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich"
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unsachgemäßer, unzumutbarer Zugangserschwernisse zu den Gerichten 120, etwa durch Befristungen 121. Mit dieser Aufzählung ist das Ende der Anreicherung des Gewährleistungsbereichs keineswegs erreicht. Auch der gegen sein Gewissen judizierende Richter sei von Verfassungs wegen von seinem Richteramt entpflichtet und sei daher nicht mehr „gesetzlicher Richter" 122 . Sogar zur Vorverurteilung durch die Medien bei Berichterstattungen über anhängige Gerichtsverfahren wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine Aussage abgerungen123. Das Prinzip des gesetzlichen Richters räume dem durch die Norm Begünstigten zudem das Recht ein, sich vor Gericht durch einen, generell frei wählbaren, Rechtsanwalt vertreten zu lassen124. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleiste auch, so wird behauptet, die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei schuldloser Fristversäumung 125. Sogar die Verpflichtung zur Einhaltung einer Wartefrist vor Erlaß eines Versäumnisurteils oder einer Ordnungshaft wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entnommen126. Selbst die einfachgesetzliche Ausgestaltung der gerichtlichen Verfahrenskosten und der Prozeßkostenhilfe soll sich nach Vorgaben des Richterentziehungsverbotes richten müssen127 - ein Ende derartiger Ausweitungen scheint nicht in Sicht. Die aufgelisteten, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zugeschriebenen Ausprägungen führen in ihrer Gesamtheit dazu, das Recht auf den gesetzlichen Richter zu einer kaum einen Wunsch offenlassenden Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch optimale Richterpersönlichkeiten unter Einbeziehung eines idealen, ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens auszuweiten. Ein derart vielschichtiger Ansatz, der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zur Generalklausel der hoheitlichen Aufgabe Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit umwandeln möchte und damit zu einer Art „prozessualem Muttergrundrecht" mutieren läßt, unterliegt jedoch grundlegenden Bedenken. Aufgabe der Verfassungsrechtsdogmatik ist es nicht zuletzt, zur Rationalisierung des grundrechtlichen Argumentationsprozesses beizutragen. Ein Argumentationsprozeß, der eine Strukturierung und sachgerechte Gegenüberstellung der widerstreitenden Interessen ermöglicht, fordert klare Konturen bei der Bestimmung grund120
Kissel, § 16 GVG Rn. 73; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310, Rn. 32f. und Rn. 98; Kloepfer, JZ 1979,209 (213). Siehe auch BVerfGE 22,49 (81 f.) zu Art. 19 Abs. 4 GG. 121 Kissel § 16 GVG Rn. 76ff. mit Nachweisen; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310. Siehe auch BVerfGE 40, 42 (44) zu Art. 103 Abs. 1 GG. 122 So Lisken, NJW 1997, 34f. in der Auseinandersetzung mit dem OLG Karlsruhe NJW 1996, 606. 123 So offenbar Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 3; ausdrücklich ablehnend Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn.2; kritisch Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 12. 124 Kissel § 16 GVG Rn. 75 mit Nachweisen; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310. Allgemein zu diesem Kontext BVerfGE 34, 293 (300f.); 39, 156 (163). 125 Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310. Siehe auch BVerfG NJW 1993, 847 zu Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG. 126 Kissel § 16 GVG Rn. 78 m. N.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310. Siehe auch BVerwG NJW 1979, 1619 zu Art. 103 Abs. 1 GG und OLG Frankfurt NJW 1978, 285. 127 So Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 310.
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3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
rechtlicher Gewährleistungsinhalte und Augenmaß bei der Anpassung und Weiterentwicklung der Schutzbereiche. Davon ist eine derart weitreichende, die Systematik der Verfassung teils außer acht lassende Ausweitung indes weit entfernt 128. Bestimmte Problemkonstellationen unterfallen dem Gewährleistungsbereich spezieller Verfahrensgrundrechte. Dies trifft etwa für das Problem der Aufnahmefähigkeit von Richtern 129 zu, das in unmittelbarem Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 1 GG steht und gilt gleichermaßen für Art. 19 Abs. 4 GG, der verfassungsrechtlichen Maßstabsnorm für Fragen der Effektivität des Rechtsschutzes130. Insofern ist es schon im Ansatz verfehlt, auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zusätzlich zurückzugreifen 131. Auch der schlafende, vorurteilsbehaftete, schlecht informierte, weniger intelligente, langsam arbeitende, gegen sein Gewissen judizierende,... Richter ist „gesetzlicher Richter", sofern der Gesetzgeber die Zuständigkeit den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechend normiert hat. Wenn gleichzeitig nach erforderlichen Kriterien für eine Eingrenzung der zunächst eingeleiteten Ausweitung des Gewährleistungsbereichs gesucht wird, mag dies als Beleg dafür dienen, daß ein solcher Ansatz kontraproduktiv ist. Sofern in diesem Zusammenhang für eine erforderliche Grenzziehung zwischen Beeinträchtigung und Nichtbeeinträchtigung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anlehnung beim Willkürverbot gesucht wird 132 , ist dies wenig sachgerecht. Das Willkürverbot, mangels klarer Konturen ohnehin ständiger Gegenstand von Auseinandersetzungen, wirft bereits als Grenze für einen Eingriff der Judikative in die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Gesetzlichkeit eine Reihe von Fragen auf 133 . Es ist daher nicht hilfreich, auf der Basis dieser Kategorie eine Begrenzung der Ausweitung des Schutzbereichs von der Eingriffsseite her vorzunehmen 134.
128 Ebensowenig besagt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wie noch von Oehler, ZStW 1952, 292 (302) angenommen und bereits zutreffend von Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (558f.) und Henkel, Richter, S. 127ff. abgelehnt, etwas zum strafrechtlichen Legalitätsprinzip bzw. dessen Aufweichung durch das Opportunitätsprinzip und zum Institut der Begnadigung. Legalität, also Gesetzlichkeit verlangt das Verfassungsprinzip lediglich auf dem Gebiet der gerichtlichen Zuständigkeitsordnung, begründet hingegen kein Rechtsprechungs- oder Strafmonopol der Gerichte. 129 Dazu nur Degenhart, in: Sachs, Art. 103 GG Rn. 33; Riiping, in: Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 1 GG Rn. 53 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 103 Abs. 1 GG Rn. 94ff. 130 Siehe nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV GG Rn. 262 ff. 131 Ähnlich die Kritik zumindest andeutungsweise bei Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 12. Bedenken klingen auch bei Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 286 an. 132 So etwa Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 286. 133 Dazu näher unter § 4 B., S. 206ff. 134 Die geäußerten Bedenken gelten gleichermaßen für Vorschläge, die die Abwehrfunktion des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG von der Dauer des Umstandes, etwa der Verzögerung einer richterlichen Entscheidung, abhängig machen wollen, so etwa Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 72.
Β. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich"
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I I I . Verfahren zur Bestimmung ehrenamtlicher Richter Die bislang thematisierte Ausweitung des Schutzbereichs des Rechtes auf den gesetzlichen Richter ist nicht das einzige Problem, das sich in diesem Zusammenhang stellt. Die Reichweite des Tatbestandsmerkmals der Gesetzlichkeit bedarf hinsichtlich einer weiteren Frage der Konturierung. Welche Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes beziehungsweise anderer, spezialgesetzlicher Regelungen über die Beteiligung ehrenamtlicher Richter an der Rechtsprechung135, gehören zu den Normen, die an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen sind, da sie den „gesetzlichen (Laien-) Richter" konstituieren? Die Problematik soll anhand der im Gerichtsverfassungsgesetz geregelten Gewinnung der Schöffen für die Strafgerichtsbarkeit bei den Amtsgerichten verdeutlicht werden. Der Auslosung der Reihenfolge, an der die Schöffen an den im voraus für das Jahr festgelegten Sitzungstagen teilnehmen136, geht ein mehrstufiges, im folgenden verkürzt dargestelltes Verfahren unter Beteiligung verschiedener Gremien voraus: Zunächst ist auf der Grundlage der §§ 32 ff. GVG durch die Gemeinden, unter Beachtung unterschiedlicher Kriterien, wie etwa Alter, Beruf und soziale Stellung, eine Vorschlagsliste für Schöffen zu erstellen, welche die Grundlage der von einem Ausschuß137 gemäß § § 42 f. GVG vorzunehmenden Wahl der ehrenamtlichen Richter darstellt. Wie sich aus § 44 GVG ergibt, werden aus den Namen der gewählten Schöffen beim zuständigen Amtsgericht Schöffenlisten erstellt. Auf der Basis dieser Liste erfolgt die eingangs erwähnte, per Losverfahren bewirkte Zuteilung der Schöffen auf die Sitzungstage. Unterfallen all diese Vorschriften dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG? Nach dem Schutzzweck des Grundrechts, eine Einflußnahme auf die im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richterperson durch eine abstrakt-generelle Vorausbe-
135 Die in diesem Kontext verfaßten Ausführungen und gewonnenen Ergebnisse sind entsprechend auf die strukturell vergleichbaren Regelungen über die ehrenamtlichen Richter in den jeweiligen Prozeßordnungen zu übertragen. Die dort normierten Vorgaben weisen ebenso, von kleineren Abweichungen im Detail abgesehen, ein dreistufiges Verfahren zur Bestimmung der ehrenamtlichen Richter aus: nach zunächst von diversen Institutionen erstellten Vorschlagslisten (durch den Präsidenten des Gerichts, § 25 FGO oder etwa die Gewerkschaften bzw. Arbeitgebervereinigungen, § 14 SGG oder § 20 ArbGG), erfolgt eine Wahl (§§ 22 ff. FGO; §§ 29, 26 VwGO) bzw. Berufung (§§ 14 SGG, 20 ArbGG) der ehrenamtlichen Richter, auf die wiederum eine Verteilung der Richter (meist durch das Aufstellen einer Liste, siehe etwa §§27 FGO; 31, 39, 43 ArbGG; 30 VwGO) auf Sitzungstage oder Spruchkörper folgt. Zum Verfahren der Berufung der ehrenamtlichen Richter bei den Arbeitsgerichten und dabei möglicherweise auftretenden Problemen mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe Β erger-D elhey, DRiZ 1988,121 ff. Zur Wahl der ehrenamtlichen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit siehe Klenke, NVwZ 1998, 473 ff. 136 Siehe § 45 GVG. 137 Siehe § 40 GVG. Zur Pflicht des Ausschusses, eine fehlerhafte Wahl zu wiederholen siehe BGH NStZ-RR 1999,49f.
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3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
Stimmung richterlicher Zuständigkeit zu verhindern 138, sind die beschriebenen Vorschriften folgendermaßen einzuordnen. So wenig wie die Berufungsvoraussetzungen für ehrenamtliche Richter den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berühren, stellen die Normen, die eine Beachtung sozialer Kriterien bei der Aufstellung der Vorschlagslisten durch die Gemeinden vorsehen, ein Problem des Rechtes auf den gesetzlichen Richter dar. Eine Einflußnahme auf die später im Einzelfall tätige Richterperson erscheint in diesem frühen Stadium, vor der Festlegung der einzelnen Schöffen auf die jeweiligen Sitzungstage durch Losverfahren und bevor die zu erwartetenden Rechtsfälle nach der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung dem zur Entscheidung berufenen Gericht zufallen, ausgeschlossen. Lediglich eine Einflußnahme auf die Auswahl der Personen als solche, ohne Ansehen der späteren Rechtssachen, zu deren Mitwirkung sie berufen sein werden, erscheint möglich, indem etwa ausschließlich Personen einer bestimmten politischen oder religiösen Anschauung in die Vorschlagsliste Aufnahmefinden. Allerdings würde selbst eine solche Einflußnahme eine Einigung aller, zumindest der Mehrzahl der Beteiligten voraussetzen. In diesem frühen Stadium der Schöffenauswahl drohen den Verfahrensbeteiligten demnach keine Gefahren, deren Abwehr das Prinzip des gesetzlichen Richters dient. Das Gesagte gilt gleichermaßen für die Regelungen, die bei der Schöffenwahl eine sozial, geschlechtlich, beruflich und altersmäßig ausgewogene Berücksichtigung der Bevölkerungsgruppen fördern sollen139. Auch in diesem Stadium, das dem Vorfeld einer Zuteilung der Schöffen auf Sitzungstage und Spruchkörper zugehört, ist die Einflußnahme auf die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter ausgeschlossen, so daß ein Verstoß gegen die genannten Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht berührt. Einzig der entscheidende und letzte Akt in der Kette der Schöffenauswahl, die Verteilung der Schöffen auf die Sitzungstage140, verwirklicht die Zielrichtung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, eine Zuständigkeitsbestimmung ohne Ansehung der Richterperson beziehungsweise eines bereits feststehenden Sachverhaltes. Nicht 138 Auf diesen Schutzzweck stellen bei Beurteilung der an dieser Stelle behandelten Problematik ebenso ab BVerfG NJW 1982,2368f.; BVerfG NVwZ 1989,141 f.; BVerwG NJW 1982, 219; BFHE 168, 508 (510f.). 139 Diese Vorschriften werden auch von Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 2 a nicht als Regelungen zur Bestimmung des „gesetzlichen Richters" angesehen. Zweifelnd, jedoch im Ergebnis offenlassend BVerfG DtZ 1992,281 (282) zu §§ 36 Abs. 2,42 Abs. 2,77 Abs. 2 Satz 1 GVG. 140 Siehe etwa BAG NJW 1997,2133 f. wo ein Verstoß gegen den „gesetzlichen Richter" festgestellt wurde, da der wegen § 39 ArbGG erlassene Geschäftsverteilungsplan des Gerichts dem Vorsitzenden bzw. der Kammer Ermessen bei der Heranziehung der ehrenamtlichen Richter zu den Sitzungen einräumte. Siehe außerdem BAG NZA 1998,1301 ff., ablehnend zum sogenannten Domino-Effekt, wonach Fehler bei der Heranziehung der ehrenamtlichen Richter in einer Sache dazu führen, daß in den Folgeterminen in allen anderen Sachen der gesetzliche Richter nicht gewahrt ist.
Β. Interpretation des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich"
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ohne Grund ist gerade und nur dieser Verfahrensschritt zwingend als öffentliches Losverfahren ausgeformt, ein Verfahren bei dem es dem Zufall überlassen bleibt, in welcher Reihenfolge die Schöffen an den Sitzungen des folgenden Jahres teilnehmen werden. A l l e vorhergehenden Schritte, sowohl die Aufstellung der Vorschlagslisten als auch die Erstellung der Schöffenliste, erfolgen durch Wahlakte oder durch Berufungen 1 4 1 . Sie fordern also eine bewußte Entscheidung für und gegen bestimmte Personen. Dies ist deshalb mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unbedenklich, weil ein solches Vorgehen in diesem Stadium hinsichtlich einer Manipulation der Rechtsprechung unverdächtig scheint, eine Einflußnahme der Richterbank hinsichtlich eines konkreten Rechtsstreit jedenfalls nicht ermöglicht. Fehler beim Aufstellen der Vorschlagslisten 142 , rechtliche Mängel bei der Konstituierung des Ausschusses durch Wahl 1 4 3 beziehungsweise bei der sich anschließen-
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Siehe etwa §§ 14 SGG, 20 ArbGG. Ebenso BVerfG NVwZ 1996, 160 zu §§ 28, 29 VwGO (Fehler in einer Vorschlagsliste); BGHSt 22, 122 (123f.); 30, 255 (256f.). Wohingegen BGHSt 38, 47 (51) § 36 GVG als Vorschrift zur Bestimmung des „gesetzlichen Richters" ansieht, deren willkürliche Verletzung gegen die Verfassung verstoße; OLG Jena NStZ 1994,252 zu § 35 JGG; Kissel, § 36 GVG Rn. 14, § 39 GVG Rn. 1 ; Katholnigg, § 36 GVG Rn. 7, teilweise differenzierend in Fußnote 7 am Ende; Kissel, in: Karlsruher Kommentar, § 36 GVG Rn. 7, anders jedoch bei § 36 Abs. 3 GVG. Es handelt sich jeweils um Äußerungen zur Auswirkung eines solchen Fehlers auf die Besetzung des Gerichts mit Blick auf eine Revision gemäß § 338 Nr. 1 StPO. Entscheidender Gesichtspunkt soll danach sein, daß sich dieser Teil des Verfahrens außerhalb der Einflußsphäre des Gerichts abspielt. Zu § 43 Abs. 1 ArbGG, der die Berufung ehrenamtlicher Richter bei den Arbeitsgerichten betrifft siehe Berger-Delhey, DRiZ 1988, 121 (122f.). 143 Anderer Ansicht ist das BVerfGE 31,181 (183 f.). Das Gericht geht davon aus, daß auch die Vorschriften über die Schöffenwahl der Bestimmung des „gesetzlichen Richters" dienen. Die fehlende Beschlußfähigkeit des Ausschusses gemäß § 40 Abs. 4 GVG soll danach zur Unwirksamkeit der Wahl gemäß § 40 GVG (§ 35 JGG) und zugleich zu einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG führen. Zustimmend etwa Kissel , § 43 GVG Rn. 20f. Andererseits betont das BVerfG NJW 1982, 2368 f. unter Bezugnahme auf den Zweck des Verfassungsprinzips, daß dem Schöffenwahlausschuß lediglich eine vorbereitende Funktion bei der Bestimmung des „gesetzlichen Richters" zukomme. Dies bedeute eine Reduzierung der für die Verfassungsnorm relevanten Fehler auf solche, die eine Gefahr der Einflußnahme auf die Frage, welcher Schöffe mit welcher Sache befaßt werde, mit sich brächten. Eine Spezifizierung der so einzustufenden Fehler wird indes nicht vorgenommen. Auf dieser Linie bewegt sich auch BVerfG NVwZ 1989,141 f., wonach Fehler bei der Schöffenwahl nur dann verfassungsrechtlich bedenklich sein sollen, wenn sie die Zusammensetzung der Richterbank im Einzelfall als manipuliert erscheinen lassen können. Dies sei allerdings nicht der Fall, wenn im Ausschuß statt des zuständigen Präsidenten der Vizepräsident des Gerichts tätig geworden sei. Ebenso das der Verfassungsbeschwerde vorausgehende Urteil des BVerwG NVwZ 1988,724 f., wonach von einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur gesprochen werden könne, sofern ein Fehler so schwerwiegend sei, daß von einer Wahl im Rechtssinne nicht mehr die Rede sein könne. Zur Aufstellung der Vorschlagslisten zur Wahl ehrenamtlicher Richter bei den Verwaltungsgerichten siehe Schnellenbach, NVwZ 1988, 703 ff. Einschränkend zu Verfassungsverstößen durch Fehler bei der Wahl der Vertrauenspersonen gemäß § 40 Abs. 3 GVG auch BGH NJW 1988, 3164f. und BayOblG BayVBl. 1989, 475 f. Dazu weiterhin Kissel , § 40 GVG Rn. 18 ff. und ausführlich Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 40 142
60
3 Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung - Tatbestandsauslegung
den Schöffen w ä h l 1 4 4 sind demnach nicht am Prinzip des gesetzlichen Richters zu messen. Die richterliche Zuständigkeitsordnung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, mit den daraus folgenden grundrechtlichen Leistungspflichten, gestaltet der Gesetzgeber nur mit den Vorschriften über die Auslosung der Schöffen auf die jeweiligen Sitzungstage aus 1 4 5 . Inwieweit die Normen über die ehrenamtlichen Richter eine hinreichend genaue Vorausbestimmung der Zuständigkeit garantieren und wie die Geschäftsverteilungspraxis bei Gericht zu bewerten ist, wird an späterer Stelle beantwortet 146 .
GVG Rn. 9 ff. mit der Bewertung einzelner Fehler aus der Rechtsprechungspraxis, jeweils mit weiteren Nachweisen. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich erscheint es jedoch, Auswirkungen solcher Fehler auf den „gesetzlichen Richter" mit dem Hinweis auf eine (analoge) Anwendung des § 21 b Abs. 6 Satz 2 und 3 GVG einzugrenzen, so aber etwa BGHSt 26,206 (209) und Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 40 GVG Rn. 9; Katholnigg, § 40 GVG Rn. 6. Diese einfachgesetzliche Regelung vermag nach dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung den normgeprägten Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur auszuformen, sofern sie selbst vor den Vorgaben der Verfassungsnorm Bestand hat. 144 Siehe hingegen zu Fehlem bei der Wahl von ehrenamtlichen Richtern und deren Auswirkungen auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG BGHSt 33,41 ff. und BGH NJW 1984,2839 mit Besprechung von Weis und Meyer, NJW 1984, 2804f.; BFH BFH/NV 1994, 27; BAG NZA 1998, 1301 ff. Siehe außerdem Vogt/Kurth, NJW 1985,103 ff. sowie BGHSt 33,126 (127 ff.) und NJW 1985, 926 f. zur „Frankfurter Schöffen wähl". Dort wurde anstelle einer Wahl eine Auslosung vorgenommen, was für sich genommen und von der klaren Vorgabe des Gesetzes einmal abgesehen (§ 42 GVG) ein objektives Verfahren darstellt. Da bei einem solch schwerwiegenden Fehler eine Wahl im Rechtssinne nicht stattgefunden habe, seien, so der BGH, die ausgelosten Personen keine „gesetzlichen Richter" geworden. 145 Wenig sachgerecht erscheint es, das Merkmal der Willkür heranzuziehen, um wesentliche von irrelevanten Fehlem des Verfahrens zur Gewinnung der Schöffenrichter zu unterscheiden, wie etwa von Schäfer; in: Löwe/Rosenberg, § 40 GVG Rn. 10; Kissel, in: Karlsruher Kommentar, § 40 GVG Rn. 3 vorgeschlagen. Willkür wird im Bereich der Rechtsprechung als Abgrenzungskriterium eines Verfassungsverstoßes von (nur) einfachgesetzlichen Normverstößen durch die Fachgerichte herangezogen und wird mit der funktionellen Abgrenzung der Fachgerichte zur Verfassungsgerichtsbarkeit begründet. Schon auf diesem Feld sieht es sich allerdings Bedenken ausgesetzt, wie im späteren (§ 4 Β., S. 206ff.) noch dargelegt werden wird. Eine Übertragung dieses Kriteriums auf die nicht rechtsprechende Tätigkeit im Verfahren der Berufung ehrenamtlicher Richter läßt sich nicht begründen. 146 § 4 A. III. 2., S. 199ff.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten Im zurückliegenden Kapitel über den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wurde eine Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Grundrechts vorgenommen um zu klären, was unter den Begriffen des Richters und der Gesetzlichkeit zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt soll nunmehr verdeutlicht werden, wie die Schutzwirkung des Verfassungsprinzips auf der Basis der vorgenommenen Tatbestandsauslegung umgesetzt wird. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entfaltet seine normative Wirkung in zwei unterschiedlichen Dimensionen, einer leistungsrechtlichen und einer abwehrrechtlichen Dimension. Diesen Wirkdimensionen entsprechen zwei Arten subjektiver Berechtigungen. Notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Schutzwirkung des Grundrechts ist zunächst, daß der Gesetzgeber eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung bereitstellt. Diese Normen werden ergänzt durch die gerichtsinternen und spruchkörperinternen Geschäftsverteilungspläne der Gerichte. Damit ist die leistungsrechtliche Dimension, die den status positivus des Grundrechtsberechtigten 1 bezeichnet, angesprochen. Die leistungsrechtliche Dimension beschreibt den Anspruch der Grundrechtsberechtigten auf die gesetzliche Regelung richterlicher Zuständigkeit (dazu
Α.). Zum Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen beinhaltet die Verfassungsnorm aber auch, wie es dem Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entspricht, ein Abwehrrecht, das sich aus dem status negativus ableitet. Mit dieser Garantie sollen Verstöße gegen die bestehende richterliche Zuständigkeitsordnung abgewehrt werden. Im Mittelpunkt der Diskussion um die abwehrrechtliche Dimension steht die Problematik der Grundrechtsverletzung durch die Judikative bei fehlerhafter Anwendung prozessualer Zuständigkeitsnormen (dazu B.).
A. Leistungsrechtliche Dimension - der Anspruch auf eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung Historisch betrachtet diente die Gewährleistung des gesetzlichen Richters der Abwehr willkürlicher Eingriffe der Exekutive in die richterliche Entscheidungszustän1
Zu dieser Unterscheidung der Funktionen der Grundrechte, die einem bestimmten Zustand des einzelnen gegenüber dem Staat entsprechen siehe Jellinek, System, S. 87,94 ff.; aufgegriffen etwa von PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 57 ff.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
digkeit2. Unter dem Grundgesetz folgte das verfassungsrechtliche Interesse einer Verlagerung der realen, dem Verfassungsprinzip drohenden Gefährdungspotentiale. Im Rechtsstaat grundgesetzlicher Prägung sind Einwirkungen der Exekutive auf die Zuständigkeit von Gerichten unter Mißachtung gesetzlicher Zuständigkeitsregelungen von untergeordneter Bedeutung. Vor allem der Gesetzgeber verdrängte die Exekutive aus dem Zentrum des Interesses. Insbesondere dessen Pflicht, den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich durch ein System von parlamentsgesetzlichen Regeln auszugestalten, beschäftigt seither Rechtsprechung und Literatur. Diese Erkenntnis zugrundelegend, sind im Anschluß in einem allgemeinen Teil die dogmatischen Grundlagen der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers zu entwickeln (dazu I.), um auf dieser Basis jene einfachgesetzlichen Regelungen richterlicher Zuständigkeit zu systematisieren und zu untersuchen, die als Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzustufen sind (dazu II.). Die Geschäftsverteilung der Gerichte erfolgt auf der Grundlage einfachgesetzlicher Ermächtigungsnormen, so daß auch diese Problematik die Frage berührt, inwieweit der Gesetzgeber die Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umgesetzt hat. Da die Gerichte allerdings im Rahmen der Geschäfts Verteilung an Stelle des Gesetzgebers tätig werden und aus diesem Umstand spezifische Problemstellungen resultieren, wird dieses Thema, am Beispiel der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, eigenständig erörtert (dazu III.).
I. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Grundrecht aus der Hand des Gesetzgebers Die verfassungsrechtliche Bewertung einfachgesetzlicher Bestimmungen richterlicher Zuständigkeit hängt in erster Linie vom Bewertungsmaßstab einer solchen Untersuchung ab. Grundgerüst des Bewertungsmaßstabs grundrechtlicher Sachverhalte sind wiederum die grundrechtsdogmatischen Begrifflichkeiten und Argumentationsmuster, in die der zu bewertende Sachverhalt eingepaßt wird. Daher wird ein Abschnitt vor die Klammer des allgemeinen Teils der Dogmatik der legislativen Ausgestaltungspflicht gezogen, in dem grundrechtsdogmatische Begrifflichkeiten und Argumentationstopoi, die in Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Verwendung finden, erörtert werden (dazu 1.). Sodann ist, ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, darzulegen, welchen grundrechtlichen Vorgaben der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schutzbereichs unterliegt (dazu 2.). Schließlich ist zu erörtern, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber richterliche Zuständigkeit weniger genau regeln darf als es möglich wäre und welche Schranken der Legislative bei derartigen Beeinträchtigungen auferlegt sind (dazu 3.). Das Bundesverfassungsgericht entnimmt dem Prinzip des gesetzlichen Richters endlich einen Vorbehalt des formellen Gesetzes für besonders bedeut2
Siehe § 6, S. 233ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
same Zuständigkeitsregelungen3. Die Untersuchung dieses vermeintlichen Gewährleistungsinhalts wird an das Ende der Ausführungen zur Ausgestaltungspflicht gestellt (dazu 4.).
1. Grundrechtsdogmatische Begrifflichkeiten und Argumentationstopoi Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gehört zu den grundrechtlichen Leistungsrechten. Die Norm verlangt vom Gesetzgeber die gesetzliche Regelung richterlicher Zuständigkeit. Die Frage, ob überhaupt beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen Leistungsgrundrechte Ansprüche insbesondere gegen den Gesetzgeber begründen können, ist seit längerem Gegenstand grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Diskussionen4. Diese soeben noch allgemein umrissene Frage erweist sich auch in bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als zentral, da die Legislative Adressat der Forderung ist, die Zuständigkeit der Gerichte gesetzlich zu regeln. Daher erscheint es hilfreich, den Hintergrund der allgemeinen Diskussion um die Anspruchsbegründung leistungsrechtlicher Grundrechte ein wenig zu erhellen und zugleich auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu projezieren (dazu a)). Sodann ist der Frage nachzugehen, ob die Charakterisierung des Prinzips des gesetzlichen Richters als institutionelle Garantie etwas zur grundrechtsdogmatischen Klärung des Inhalts der Ausgestaltungspflicht beizutragen vermag (dazu b)). Schließlich sollen die grundrechtsdogmatischen Elementarbegriffe der Ausgestaltung und der Beeinträchtigung grundrechtlicher Gewährleistungsbereiche im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG voneinander abgegrenzt werden (dazu c)). a) Natürliche Freiheiten und leistungsrechtliche Freiheitsbereiche Problematik der Bestimmung grundrechtlicher Anspruchsobjekte und Anspruchsinhalte
-
Die Begründung eines klar umrissenen Anspruchsinhalts leistungrechtlicher Grundrechte sieht sich vor allem dem Einwand ausgesetzt, im Gegensatz zu dem vergleichsweise eindeutig zu umschreibenden Schutzobjekt abwehrrechtlicher Freiheitsrechte, sei ein klar zu bestimmendes Anspruchsobjekt bei den Leistungsrechten regelmäßig nicht auszumachen5. Je weniger es jedoch gelingt, ein solches grundrechtliches Anspruchsobjekt eindeutig zu definieren, so könnte man die grundrechtsdogmatische Ausgangslage umschreiben, um so weniger spricht dafür, den Grund-
3 Siehe dazu an dieser Stelle nur BVerfGE 2,307 (319 ff.); 24,155 (165 f.); 27,18 (34 f.) und BVerfG NVwZ 1993, 1079 (1080). 4 Dazu nur Stern, Staatsrecht III/l, S. 690ff. 5 Siehe zu diesem Zusammenhang Stern, III/l, S. 695ff. m. N.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
rechtsberechtigten konkrete Leistungsansprüche gegenüber dem Gesetzgeber einzuräumen. Das Problem einer exakten Bestimmung des Anspruchsobjektes und des daraus resultierenden leistungsrechtlichen Anspruchsinhalts (dazu bb)) erfährt hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seine maßgebliche Prägung zusätzlich durch den spezifischen Charakter des Grundrechts. Es gehört zu den Grundrechten mit sogenanntem normgeprägtem Gewährleistungsbereich. Welcher Natur die Schwierigkeiten sind, konkrete Leistungsansprüche gegen den Gesetzgeber bei solchen Leistungsgrundrechten abzuleiten, läßt sich anhand eines Vergleichs mit einem Typus von Grundrechten verdeutlichen, deren Freiheitsbereiche sich, im Gegensatz zum Prinzip des gesetzlichen Richters, ohne den Rückgriff auf rechtliche Regelungen beschreiben lassen, den sogenannten natürlichen Freiheiten (dazu aa)). aa) Natürliche Freiheit als „externes" Schutzobjekt abwehrrechtlicher Grundrechtspositionen Bei den meisten Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs bereitet die Definition des Schutzobjekts keine nennenswerten Probleme. Deren abwehrrechtlich geprägter Gewährleistungsbereich knüpft an Umstände an, die der Tatsachen weit entlehnt sind. So handelt es sich etwa bei der körperlichen Unversehrtheit und dem Leben gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, bei der Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG beziehungsweise der in Art. 8 Abs. 1 GG geregelten Versammlung um reale, tatsächliche Begebenheiten oder Aktivitäten, deren Existenz nicht in Abhängigkeit von der Aufnahme der dahinter stehenden Güter in Grundrechtsbestimmungen der Verfassung stehen. Die soeben umschriebenen Freiheitsbereiche mögen zur tatsächlichen Verwirklichung im gesellschaftlichen Leben letztlich ohne staatlich geschaffene und gewährleistete Voraussetzungen nicht auskommen6. Insofern vermag deren Bezeichnung als „natürliche Freiheiten" 7, nämlich Freiheitsrechte, die der Mensch seiner Natur nach, also ohne Abhängigkeit von freiheitskonstituierender staatlicher Tätigkeit besitzt, die realen Umstände des Grundrechtsgebrauchs nicht gänzlich zutreffend zu beschreiben. Sogenannte natürliche Freiheiten, wie etwa das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, lassen sich, im Gegensatz etwa zur Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG, zumindest gedanklich auch ohne staatliche Maßnahmen vorstellen und sind insofern keine staatlich verliehenen Rechtspositionen. Die Entfaltung ihrer Freiheitswirkung ist unabhängig von rechtlichen Regelungen und erst die Aufnahme der genannten Begriffe in das Grundgesetz macht sie zu (Verfassungs-) Rechtsbegriffen. Im Grunde bedarf es diesbezüglicher Verhaltensmodi keiner
6 Zu diesem Umstand Hesse, in: FG Smend, S. 71 (86f.); Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 70f. m. w. N. sowie Lübbe-Wolf\ Eingriffsabwehrrechte, S. 81 ff. 7 Zum Charakter natürlicher Freiheiten und dem Unterschied zu konstituierten Rechtspositionen Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
Rechtsordnung, es ist dem Menschen vielmehr natürlich gegeben, seinen Aufenthalt hier oder dort zu nehmen oder sich zu versammeln. Die vergleichsweise problemlose Bestimmbarkeit des Schutzgegenstandes einer Grundrechtsposition erleichtert es wiederum, den abwehrrechtlichen Normbefehl zu definieren. Dem Gesetzgeber ist es prima facie verboten, die körperliche Unversehrtheit zu beeinträchtigen, eine Meinungsäußerung zu verbieten oder zu bestrafen oder eine Versammlung aufzulösen. bb) Vorbehalte gegen konkrete Anspruchsinhalte leistungsrechtlicher Grundrechtspositionen Worin unterscheiden sich „natürliche Freiheiten" und das Recht auf den gesetzlichen Richter hinsichtlich der Bestimmung des grundrechtlichen Anspruchsobjektes und -inhaltes? Die Frage beantwortet sich über die Struktur leistungsrechtlicher Grundrechte und normgeprägter leistungsrechtlicher Grundrechte im besonderen (dazu (1)), zu denen auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zählt. Diese Beschaffenheit ist wiederum Ansatzpunkt für die Vorbehalte, die gegen eine Begründung klar umrissener Ansprüche gegen den Gesetzgeber vorgebracht werden (dazu (2)-(4)). (1) Ausgangslage Gänzlich anders als bei den „natürlichen Freiheiten" ist die Ausgangssituation bei Grundrechten mit normgeprägtem Schutzbereich, die den grundrechtlichen Leistungsrechten zuzurechnen sind8. Leistungsverpflichtende Grundrechtsbestimmungen des status positivus waren, neben den als klassisch bezeichneten Abwehrrechten des Bürgers, bereits in den Verfassungen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts verankert 9. Dabei handelte es sich nahezu durchgängig um grundrechtliche Bestimmungen, die bereits in den wörtlichen Umschreibungen des Tatbestandes die Leistungsverpflichtung des Staates gegenüber den Bürgern klar zu erkennen gaben. Rechte dieser Kategorie, also Grundrechte mit ausdrücklich leistungsverpflichtendem Inhalt, sind im Grundgesetz selten. So enthalten beispielweise Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. und Art. 6 Abs. 4 GG die ausdrückliche Verpflichtung des Staates, den Schutz der Menschenwürde und der 8
Zur Diskussion um grundrechtliche Leistungsrechte siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 690 ff. Aus der Frankfurter Paulskirchenverfassung vom 28.03.1849 ist nur hinzuweisen auf den § 155 Abs. 1 : die Sorge für die Schulbildung der Jugend und § 157 Abs. 2: die freie Gewähr des Unterrichts an Unbemittelte sowie den Entschädigungsanspruch bei widerrechtlicher Haft in § 138 Abs. 5. Aus der Weimarer Reichsverfassung sei nur auf Art. 119 Abs. 1 und 2: Schutz von Ehe und Familie und Art. 142: Schutz und Pflege von Wissenschaft und Kunst sowie Art. 161: die Schaffung eines Sozialversicherungssytems hingewiesen. Zu weiteren leistungsrechtlich geprägten Grundrechtsbestimmungen in den genannten und weiteren frühkonstitutionellen Verfassungen siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 690 mit Anmerkung 1. 9
5 Roth
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Mütter zu gewährleisten. Art. 48 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG vermitteln einen Anspruch auf den erforderlichen Urlaub beziehungsweise auf rechtliches Gehör 10. Der vergleichsweise karge textliche Befund hat dazu beigetragen, daß die Diskussion um grundrechtliche Leistungsrechte des Grundgesetzes sich in erster Linie als eine Diskussion um Grundrechtstheorien und Grundrechtsfunktionen und deren Prägung einer maßgeblichen Grundrechtsauslegung hinsichtlich solcher Normen darstellt 11, deren Wortlaut eine Leistungsverpflichtung nicht zu entnehmen ist. Eine besondere Gruppe der im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen grundrechtlichen Leistungsrechte sind solche, deren Anspruchsinhalte auf die Bereitstellung von Normen durch den Gesetzgeber gerichtet sind. Normen, die den Freiheitsgebrauch, den das jeweilige Grundrecht zu schützen berufen ist, erst ermöglichen. Grundrechtliche Leistungsrechte mit normgeprägtem Gewährleistungbereich sind dadurch charakterisiert, daß deren Schutzobjekte nicht der sozialen Wirklichkeit entnommen sind, sondern durch die Rechtsordnung konstituiert werden. Der Grundrechtsberechtigte wird erst durch die vom Gesetzgeber geschaffenen Regelungen in die Lage des Grundrechtsgebrauchs versetzt. Das Grundrecht erhält in diesen Fällen durch die Legislative die erforderliche Substanz, um die beabsichtigte Schutzwirkung entfalten zu können. Zu den leistungsrechtlichen Grundrechten mit ausgestaltungsbedürftigem Gewährleistungsbereich, zu denen etwa das Recht auf Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG, die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 und 3 GG 12 , das Recht auf Eigentum und das Erbrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 GG, der Grundsatz rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG sowie die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Rechtsschutzgarantie zu rechnen sind13, gehört auch das Recht auf den gesetzlichen Richter 14. Um die Grundrechtsberechtigten schützen zu können, 10 Zu nennen sind weiterhin folgende Grundgesetzbestimmungen: Art. 6 Abs. 5; Art. 7 Abs. 4 Satz 3; Art. 104 Abs. 2 Satz 2; Art. 104 Abs. 3 Satz 1 2. Hs.; Art. 104 Abs. 4; Art. 116 Abs. 2 Satz 1 ; Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Eine Aufzählung weiterer Grundrechtsnormen, deren Norminhalt eine Leistungsverpflichtung nahelegt beziehungsweise ermöglicht, findet sich bei Stern, Staatsrecht III/l, S. 707. 11 Zu dieser Problematik hinsichtlich grundrechtlicher Leistungsrechte siehe etwa Stern, Staatsrecht III/l, S. 690ff.; Alexy, Theorie, S. 454ff. und allgemein Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff. 12 Dazu an dieser Stelle nur Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn. 6,30,71 ff. und Bauer, in: Dreier, Art. 9 GG Rn. 46ff., 84ff. 13 Zur grundrechtlichen Gewährleistung der Vertragsfreiheit als kompetentieller Freiheit siehe Höfling, Vertragsfreiheit. Zur Ausgestaltung des Rechtsweges im Rahmen von Art. 19 Abs. 4 GG siehe Huber, in: von Mangoldt/Klein, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 391,449 ff. 14 Zur Notwendigkeit der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber und den damit verbundenen grundrechtsdogmatischen Problemen sowie zum Typus „rechtserzeugter" Grundrechte siehe BVerfGE 89,28 (35). Aus der reichhaltigen Literatur siehe Müller, Elemente, S. 104; ders., Positivität, S. 63ff.; Alexy, Theorie, S. 300ff.; Schwabe, Probleme, S. 143ff.; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 20ff.; Krebs, Vorbehalt, S. 81 f., 90; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1298ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 111 Rn. 51; ders., § 115 Rn. 139ff.; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 121 Rn. 4f. und 38ff., der den Begriff der „Grundrechtsprägung" einführt; ders., Band V, § 122 Rn. 9ff.; ders., Übermaß, S. 106f.; Jarass, AöR 1985, 363 (390ff.); ders., AöR 1995,345 (367 ff.). Vor allem aber ist mi Herzog, in: FS Zeidler, S. 1415 ff. und Nierhaus, AöR
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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setzt der Gewährleistungsbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wie schon dem Tatbestandsmerkmal der Gesetzlichkeit zu entnehmen ist, eine Leistung des Gesetzgebers voraus. Die Leistung besteht aus der Bereitstellung eines Bestandes von Normen, der eine gesetzliche Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit ermöglicht - ohne Gesetze gibt es keinen „gesetzlichen Richter". Der leistungsrechtliche Charakter, der bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in der besonderen Konstellation der Normgeprägtheit des Gewährleistungsbereichs zutage tritt, ist die Ursache dafür, daß dem Gesetzgeber nur mit Zurückhaltung präzise Verpflichtungen auferlegt werden. Für diese Zurückhaltung werden im wesentlichen drei, teilweise miteinander verwobene, Gründe angeführt, die allerdings, wie sich zeigen wird, in bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht tragen: 1. Die Unbestimmtheit des Anspruchsgegenstandes leistungsrechtlicher Grundrechtsbestimmungen (dazu (2)). 2. Das Problem, die Verwirklichung solcher Ansprüche zu finanzieren (dazu (3)). 3. Die Erhaltung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beim Ausgleich gegenläufiger Interessen, die im Gewährleistungsbereich der Grundrechte angelegt sind (dazu (4)). (2) Unbestimmtheit des Schutzgegenstandes Zunächst zur Frage der Bestimmtheit des Schutz- oder Anspruchsgegenstandes des Rechtes auf den gesetzlichen Richter. Es war zu sehen, daß die sogenannten natürlichen grundrechtlichen Freiheiten sich in der Regel auf das im Grunde klar umrissene Schutzobjekt der natürlichen Freiheit des Menschen in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zurückführen lassen. Demgegenüber können grundrechtliche Leistungsrechte allgemein nicht auf einen solchen externen Gegenstand, der durch die Verfassungsnorm aufgegriffen wird, zurückgeführt werden. Dies hat zur Folge, daß die tatbestandliche Fassung der meisten Leistungsrechte den Inhalt der daraus resultierenden Leistungsverpflichtungen nur unvollkommen wiedergibt. Dieser Befund läßt sich zunächst anhand der Diskussion um eine besondere Kategorie der Leistungsrechte verdeutlichen, der sogenannten sozialen Grundrechte, 1991, 72 ff. hinzuweisen, beide zu den „Grundrechten aus der Hand des Gesetzgebers"; siehe femer Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 209 ff. Häberle, Wesensgehalt, S. 180ff. geht mit seinem „institutionellen Grundrechtsverständnis" weit über den hier zugrundeliegenden Problemkomplex hinaus, indem er den Gesetzgeber umfassend zur Ausgestaltung der Grundrechte befugt sieht. Häberle versteht unter Ausgestaltung den Gesamtzustand der Normierung im Bereich der Grundrechte. Zu den dogmatischen Unklarheiten, die aus der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs Ausgestaltung resultieren siehe nur Alexy, Theorie, S. 300ff. 5'
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
wie etwa das Recht auf Arbeit, auf Wohnung oder das Recht auf Bildung 15 , die im Grundgesetz bislang keine Berücksichtigung fanden. Welchen grundrechtlich verankerten Anspruch gewährt ein Recht auf Arbeit oder Bildung? Ist damit die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Arbeitsplätzen an sich gemeint oder das Recht eines jeden Einzelnen auf den von ihm konkret gewünschten Arbeitsplatz? Welcher Grad von Bildung wäre durch ein solches Grundrecht garantiert und auf welchem Wege wäre ein solcher Anspruch zu befriedigen? Der konkrete Leistungsumfang einer solchen Gewährleistung läßt sich nur unzureichend fixieren. Darüber hinaus sind unterschiedliche Wege zur Erfüllung solcher Ansprüche denkbar. Die Beschaffenheit dieser Grundrechte erschwert es, klar umrissene Ansprüche gegenüber dem Gesetzgeber abzuleiten. Aber auch hinsichtlich solcher Grundrechte des status positivus, die ausdrücklich in den Verfassungstext Aufnahme fanden, läßt sich belegen, daß dem Gesetzgeber und den übrigen Grundrechtsverpflichteten selten detaillierte Verhaltensweisen abverlangt werden. So erschließen sich Umfang und Inhalt der Ansprüche eines Petenten aus Art. 17 GG nur, wenn im Wege der Interpretation genauer analysiert wird, welchen Umfang der Erledigung einer Petition das Grundrecht garantiert. Fällt darunter nur eine Verpflichtung zur Entgegennahme der Eingabe oder auch zur Prüfung und vorschriftsmäßigen Erledigung der Petition beziehungsweise zur Darlegung der Gründe im Falle einer Ablehnung der Petition16? Art. 17 GG benennt lediglich das Recht, sich an die zuständigen Stellen und die Volksvertretung wenden zu dürfen. Auch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert dem Grundrechtsberechtigten ausdrücklich nur, daß ihm bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt der Rechtsweg offensteht. Selbst wenn mit der Eröffnung des Rechtsweges selbstverständlich die Wirksamkeit des Rechtsschutzes verbunden ist, um einen in seinen Rechten verletzten Bürger tatsächlich schützen zu können17, bleibt unklar, was unter Wirksamkeit im Detail zu verstehen ist. Welche Rechtswege offenstehen und auf welche Weise die Wirksamkeit rechtlichen Schutzes jenseits von Mindestanforderungen zu gewährleisten ist, ist offen und kann Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht unmittelbar entnommen werden. Schließlich vermag der in Art. 6 Abs. 4 GG verankerte Anspruch der Mütter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft 18 die Unsicherheiten über das Maß der zu erbringenden Leistungen, die aus der tatbestandlichen Fassung vieler Leistungsrechte resultieren, zu verdeutlichen. Bereits eine Definition der Begriffe Schutz und Für15
Zur verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Diskussion über diese im Grundgesetz bislang nicht verankerten Rechte siehe nur Martens, VVDStRL 1972,7 (11 f. und 30 f.); Häberle, VVDStRL 1972, 43 (90ff.); Isensee, Der Staat 1980, 367ff. und Alexy, Theorie, S. 454 ff. 16 Zu dieser umstrittenen Frage BVerfGE 2, 225 (230); 13, 54 (90) und Rauball, in: von Münch/Kunig, Art. 17 GG Rn. 14. 17 Zur Bestimmung des Anspruchsinhalts von Art. 19 Abs. 4 GG Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19IV GG Rn. 229 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19IV GG Rn. 60ff.; Huber, in von Mangoldt/Klein, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 449 ff. und BVerfGE 65, 1 (70); 81, 123 (129). 18 Dazu von Münch, in: von Münch/Kunig, Art. 6 GG Rn. 48 ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
sorge beinhaltet erheblichen Spielraum. Die Begiffe sind darüber hinaus offen für die Methoden zur Verwirklichung des durch sie beschriebenen Zieles. Schutz und Fürsorge kann auf unterschiedliche Weise gewährleistet werden. Art. 6 Abs. 4 GG enthält demnach keine eindeutigen Vorgaben hinsichtlich der Methoden und des Umfangs der zu erbringenden Leistungen. Bei den Leistungsrechten mit normgeprägtem Gewährleistungsbereich, zu denen Art. 19 Abs. 4 GG zählt, verschärft die spezifische Struktur dieser Rechte die Schwierigkeiten, den Anspruchsgegenstand und -inhalt eindeutig zu definieren. Der Gesetzgeber wird in diesen Fällen ausdrücklich verpflichtet, den grundrechtlichen Anspruchsinhalt durch einfachgesetzliche Regelungen zu fixieren. Dies geschieht beim Recht auf den gesetzlichen Richter durch die Normierung der richterlichen Zuständigkeiten und bei der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie durch die Regelung des Zugangs zu den Gerichten und der Reichweite einer inhaltlichen Kontrolle durch die Gerichte 19. Die Kombination, unbestimmter Anspruchsgegenstand und Pflicht, den Gewährleistungsbereich auszugestalten, hat dazu geführt, dem Gesetzgeber grundsätzlich nur ein Mindestmaß an grundrechtlich verbürgter Leistungsverpflichtung abzuverlangen20. Die Legislative muß den Grundrechtsgebrauch durch einfachgesetzliche Normen lediglich ermöglichen, die gesetzgeberische Leistung muß demnach geeignet sein, den grundrechtlichen Schutz zu gewährleisten21. Oberhalb dieser Geeignetheitsschwelle ist der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs hingegen frei 22 . Auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bezogen würde dies bedeuten, daß den Grundrechtsberechtigten lediglich ein Anspruch gegen den Gesetzgeber zustünde, richterliche Zuständigkeit überhaupt gesetzlich zu regeln und keine Zuständigkeiten unberücksichtigt zu lassen. Die inhaltliche Qualität dieser Regelungen, die Frage, wie genau sich aus ihnen die Zuständigkeit im voraus bestimmen ließe, obläge weitgehend der Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Ein klar umrissener, grundrechtlich be19
Siehe Huber, in: von Mangoldt/Klein, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 391, 449ff. Zur Problematik der Begründung solcher Ansprüche siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 695 ff. 21 Abweichende Ansicht noch Höfling, Vertragsfreiheit, S. 32 ff., der, unter Rückgriff auf die Prinzipientheorie der Grundrechte (Alexy, Theorie, S. 75 ff.), für die grundrechtliche Vertragsfreiheit annahm, die Ausgestaltungspflicht beinhalte eine optimale Verwirklichung des Prinzips, diese Auffassung inzwischen allerdings ausdrücklich zurückgenommen hat, siehe Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn. 6 mit Anmerkung 19 sowie Rn. 77 ff. Die Ausgestaltungspflicht ist danach für solche Betätigungen, die ohne normative Ausübungshilfen nicht auskommen, lediglich durch das Untermaßverbot begrenzt. 22 Diese Ausgestaltungskonzeption liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, daß die ausgestaltungsbedürftigen Grundrechte, in Anlehnung an die Dogmatik zur Eigentumsgarantie der Weimarer Reichs Verfassung, als Institutsgarantien angesehen werden. Zur Entwicklung der Diskussion und den grundrechtsdogmatischen Konsequenzen siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 859ff. Zum Verhältnis dieser dogmatischen Kategorie mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe die Ausführungen unter Gliederungspunkt b), S. 73 ff. im Anschluß. 20
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
gründeter Anspruch gegen den Gesetzgeber auf Erstellung perfekter Regelungen, aus denen sich die richterliche Zuständigkeit für jeden Fall eindeutig im voraus ermitteln ließe, bestünde hingegen nicht. Die soeben aufgezeigte Konsequenz kann indes nur gezogen werden, wenn die Ungenauigkeit hinsichtlich des Anspruchsgegenstandes von Leistungsgrundrechten mit normgeprägtem Gewährleistungsbereich auch auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zutrifft. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wortlaut und teleologische Auslegung der Norm ermöglichen es vielmehr, den Schutzgegenstand von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG klar herauszuarbeiten und-daraus abgeleitet - Inhalt und Umfang der Leistungsverpflichtung des Gesetzgebers exakt zu bestimmen. Die Grundrechtsbestimmung soll verhindern, daß die Verfahrensbeteiligten der Gefahr einer Manipulation der Richterbank durch die hoheitliche Gewalt ausgesetzt werden, indem von Fall zu Fall entschieden wird, welche Richter zuständig sind. Sie verlangt daher die rechtssatzmäßige Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeiten. Um das Ziel einer Verhinderung von Einflußnahmen auf die Richterbank zu erreichen, muß die Zuständigkeitsordnung notwendig von einer bestimmten Beschaffenheit sein. Sie muß einen höchstmöglichen Standard an Genauigkeit aufweisen und darf demzufolge weder Lücken in der richterlichen Zuständigkeit lassen, noch vermeidbare Entscheidungsspielräume bei der Anwendung der Zuständigkeitsgesetze vorsehen. Ein geringerer Standard an Genauigkeit kann eine Manipulation nicht verhindern und verfehlt daher das Ziel von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterscheidet sich insoweit grundlegend vom Grundrecht auf Rechtsschutz. Hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG kann das Ziel, Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu garantieren, auf verschiedene Weise verwirklicht werden. Der Begriff der Effektivität des Rechtsschutzes ist darüber hinaus seiner Natur nach partiell interpretationsoffen. Effektivität kann weder ausschließlich nach zeitlichen Gesichtspunkten, also der Dauer von Gerichtsentscheidungen, noch allein nach deren inhaltlicher Qualität bemessen werden, sie muß vielmehr beide Kriterien miteinander verknüpfen. Auf dieser Basis wird nur ein Kernbestand an Rechtsschutzgewährleistung für grundrechtsfest gehalten, im übrigen hingegen dem Gesetzgeber lediglich die Ausgestaltung angemessenen, geeigneten Rechtsschutzes abverlangt23. Die Ausgangslage bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist eine andere. Die Manipulation richterlicher Zuständigkeit kann nur durch Normen verhindert werden, aus denen sich für jeden erdenklichen Einzelfall im voraus ermitteln läßt, welches Gericht beziehungsweise welche Richter zuständig sind. Die Gesetzlichkeitsanforderung ist gemessen am Zweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keiner anderen Interpretation zugänglich. Die Berücksichtigung von Interessen, die einer perfekten richterlichen Zuständigkeitsordnung zuwiderlaufen, etwa die Arbeits23
Siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19IV GG Rn. 4 f.; Huber, in: von Mangoldt/ Klein, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 462ff. und Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19IV GG Rn. 60ff, 73 ff. und 80 ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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effektivität bei Gericht, sind im Schutzbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter nicht angelegt. Ein geringerer Genauigkeitsstandard, der eine Einflußmöglichkeit auf die Richterbank zur Folge hat, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, ausschließlich das Ziel von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu verwirklichen. Insofern muß vielmehr nach Gründen außerhalb des Rechtes auf den gesetzlichen Richter gesucht werden, um eine solche, ungenaue Zuständigkeitsregelung zu rechtfertigen. (3) Finanzierbarkeit
konkreter Anspruchsinhalte
Hinsichtlich der Leistungsgrundrechte im allgemeinen basieren die Vorbehalte dagegen, den Gesetzgeber zur Erfüllung klar umrissener Leistungen zu verpflichten, allerdings nicht nur auf der Unbestimmtheit des Anspruchsobjekts beziehungsweise Schutzgegenstandes. In der Zurückhaltung gegenüber einer Auferlegung solcher grundrechtsunmittelbarer Ansprüche drückt sich auch das Spannungsverhältnis zwischen einem leistungsstaatlichen Verständnis der Grundrechte und nur in begrenztem Umfang verfügbaren Staatsfinanzen aus, die lediglich einen eingeengten Handlungsspielraum bieten. Da Haushaltsmittel nicht unbegrenzt verfügbar seien, könnten grundrechtliche Leistungsansprüche nur unter Beachtung des im Rahmen konjunktureller Entwicklungen finanziell absolut und im Verhältnis zu den sonstigen staatlichen Aufgaben relativ Möglichen und Angemessenen verwirklicht werden 24. Der Gesetzgeber sei zur Setzung von Prioritäten bei der Erfüllung unterschiedlicher staatlicher Aufgaben gezwungen. Es liegt in der Konsequenz dieser Ansicht, der Legislative einen erheblichen Gestaltungsfreiraum bei der Präzisierung grundrechtlicher Leistungsansprüche einzuräumen25. Diese Bedenken treffen auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu. Anders als hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG, führt die Garantie eines Leistungsanspruchs in Form eines hohen Maßes an Genauigkeit bei der gesetzlichen Bestimmung richterlicher Zuständigkeit nicht zu einer spürbaren finanziellen Mehrbelastung der öffentlichen Haushalte. Wollte man hinsichtlich der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt dem Gesetzgeber einen hohen Standard, gar Optimales abverlangen, wäre eine Erweiterung der bestehenden Gerichte mit Neueinstellungen von Richtern unumgänglich. Dies wiederum würde zu einer erheblichen Mehrbelastung der Haushalte des Bundes und der Länder führen. Die angemessene Ausgestal24
Zu diesem Zusammenhang Stern, Staatsrecht III/l, S. 716ff.; Martens, VVDStRL 1972,7 (30 f.). Grundsätzlich kritisch gegenüber einem solchen Vorbehalt hinsichtlich Staatsleistungen überhaupt nunmehr Leisner, Leistungsfähigkeit. 25 Zu den Leistungsgrundrechten und ihrer Finanzierbarkeit siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 716ff. und Jarass, AöR 1995, 345 (368f., 374); ders., AöR 1985, 363 (388f.); Dreier, in: Dreier, Vorb. Art. 1 GG Rn. 50 f. Bei der leistungsrechtlichen Dimension setzen auch die Argumente von Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19IV GG Rn. 60 zur Rechtsweggarantie an. Ähnlich etwa Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn. 5 f. mit Anmerkung 19 zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit und deren kompetentiellen Gewährleistungsdimensionen.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
tung wirksamen Rechtsschutzes, die über ein Mindestmaß an geeigneten Rechtsschutzmöglichkeiten hinausgeht, unterliegt daher auch aus diesem Grunde dem Ermessen des Gesetzgebers26. Eine solche Auswirkung ist jedoch nicht zu erwarten, wenn man dem Gesetzgeber hinsichtlich der Genauigkeit der richterlichen Zuständigkeitsbestimmung an Stelle eines Mindeststandards einen Höchststandard abverlangt. Aus Kostengesichtspunkten ist es von untergeordneter Bedeutung, ob der zuständige Richter durch die Gesetze eindeutig bestimmt wird oder ob die Normen es ermöglichen, daß etwa die Staatsanwaltschaft oder der Spruchkörpervorsitzende Einfluß auf die zur Entscheidung berufenen Richterpersonen nehmen. Die Ausgestaltung des Prinzips des gesetzlichen Richters führt auch bei optimaler Umsetzung der Genauigkeitsanforderungen nicht zu einem, haushaltspolitisch spürbaren, höheren Personalbedarf bei den Gerichten. Gleiches gilt für die Frage, ob den Vorsitzenden Richtern bei der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung ein Ermessensspielraum verbleiben darf oder eine exakte schriftliche Vorausbestimmung erforderlich ist 27 . (4) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beim Ausgleich grundrechtsimmanenter Interessengegensätze Im zurückliegenden Abschnitt wurde deutlich, daß die Vielzahl staatlicher Aufgaben bei einem nur begrenzten finanziellen Rahmen der Grund dafür ist, dem Gesetzgeber einen - in Bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings nicht anzuerkennenden - Gestaltungsspielraum zuzusprechen. Dieser Gestaltungsspielraum, der einer Anerkennung klar definierter Leistungsverpflichtungen entgegensteht, ist noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Dem Gesetzgeber wird ein solcher Freiraum auch zuerkannt, sofern es im Rahmen der leistungsrechtlichen Dimension eines Grundrechts um den Ausgleich zwischen gleichgeordneten Grundrechtsträgern oder zwischen sonstigen Interessengegensätzen geht, die im Gewährleistungsbereich angelegt sind28. Ein solcher Ausgleich ist etwa bei der Ausgestaltung der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit 29 oder der Inhaltsbestimmung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG 30 erforderlich, wo der Gesetzgeber grundrechtsimmanent zur Gewichtung und Entscheidung über gegenläufige rechtliche Interessen unterschiedlicher Rechtssubjekte berufen ist. Im Falle der Koalitionsfreiheit ist an die gegenläufigen Interessenlagen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände sowie die Konflikte zwischen den Koalitionen und der individuellen Koalitionsfreiheit zu erin-
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Zum Gestaltungsermessen des Gesetzgebers im Rahmen der rechtlichen Ausgestaltung von Art. 19 Abs. 4 siehe nur Schultze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19IV GG Rn. 60 und 70ff. 27 Siehe dazu unter §4 A.III., S. 182ff. 28 Siehe etwa BVerfGE 84,212 (226) zur Koalitionsfreiheit. 29 Dazu Bauer, in: Dreier, Art. 9 III GG Rn. 85 ff. 30 Zur Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG siehe Wendt, in: Sachs, Art. 14 GG Rn.54ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
nern. Dieser Ausgleich hat sich am Verhältnismäßigkeitsprinzip 31 zu orientieren, ohne daß dem einzelnen Grundrechtsträger konkrete Leistungsansprüche gegenüber dem Gesetzgeber zuerkannt würden. Die Eigentumsgarantie steht im Spannungsfeld der freien Verfügbarkeit des Eigentums durch den Eigentümer und der Sozialpflichtigkeit. Eigentum verpflichtet (Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG) und soll nach Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Auch die Abwägung zwischen diesen widerstreitenden Interessen hat unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen 32. Im übrigen bleibt die Ausgestaltung der Eigentumsordnung dem Gesetzgeber überlassen. Für die Anerkennung einer derartigen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist jedoch kein Raum, soweit es um die Erfüllung der aus dem Prinzip des gesetzlichen Richters folgenden leistungsrechtlichen Verpflichtung geht. Anders als bei der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit oder der Inhaltsbestimmung des Eigentums, spielt ein solcher Ausgleich zwischen kollidierenden Interessen bei der Ausgestaltung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keine Rolle. Es bleibt als Ergebnis festzuhalten, daß die Gründe, die dagegen sprechen, aus grundrechtlichen Leistungsrechten konkrete Ansprüche gegen den Gesetzgeber abzuleiten, hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zutreffen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist ein Leistungsgrundrecht, dessen hinreichend definierbarer Schutzgegenstand es ermöglicht, Inhalt und Ausmaß der grundrechtlichen Leistungsverpflichtungen des Gesetzgebers klar zu umreißen. b) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als institutionelle
Garantie
Solche Grundrechte, die - zumindest auch - konstituierte Rechtspositionen in ihrem Bestand gegen eine Beseitigung durch die staatliche Gewalt schützen, werden als institutionelle Garantien oder Institutsgarantien bezeichnet beziehungsweise unter dem Oberbegriff der Einrichtungsgarantien zusammengefaßt 33. Da Art. 101 Abs. 1 31
Siehe BVerfGE 88,102 (115) und Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn 130ff. und 139ff. Dazu BVerfGE 58,300 (334f.); 74,203 (214); Wendt, in: Sachs, Art. 14 GG Rn. 54ff. und 72 ff. sowie Ery de, in: von Münch/Kunig, Art. 14 GG Rn. 62. 33 Den Oberbegriff bildet die dogmatische Kategorie der Einrichtungsgarantien, die in öffentlich-rechtliche institutionelle Garantien und privatrechtliche Institutsgarantien unterfallen. Diese Kategorien wurden bereits zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung entwickelt, zunächst von Wolff, \ in: FG Kahl, S. 3 ff. und Triepel, Goldbilanzverordnung, S. 15 ff. (zur Eigentumsgarantie). Carl Schmitt, zunächst in Verfassungslehre, S. 170 f., dann in Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), abgedruckt in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140ff., hat maßgeblich zur Verbreitung der Kategorie beigetragen. Aus der Weimarer Zeit ist zudem auf Klein, Institutionelle Garantien, hinzuweisen. Unter dem Grundgesetz wurden die Kategorien aufgegriffen vor allem von Scheuner, in: Recht-Staat-Wirtschaft, Vierter Band, S. 88ff.; Abel, Einrichtungsgarantien und von SchmidtJortzig, Einrichtungsgarantien sowie aus dem Blickwinkel der Koalitionsfreiheit von Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 13 ff. Siehe aus neuerer Zeit etwa Waechter, Die Verwaltung 1996,47 ff.; Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 94ff. und zur Entwicklung insgesamt Stern, Staatsrecht III/l, S. 751 ff. 32
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Satz 2 GG eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung garantiert, wird dem Grundrecht ebenfalls eine objektivrechtliche institutionelle Garantie entnommen, die meist als Ergänzung des subjektivrechtlichen Gehaltes verstanden wird 34 . Nach einer gängigen Kurzdefinition sind institutionelle Garantien öffentlichrechtliche Einrichtungen, wobei der Begriff der Einrichtung meist einen bestimmten, bestehenden Normenkomplex und durch diese Normen geregelte Lebensverhältnisse bezeichnet. Der Fortbestand dieser Einrichtung wird in ihren wesensmäßigen Kernbereichen garantiert und somit dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen35. Auf diese Weise verstanden, könnte eine in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte institutionelle Garantie als zusätzliche Schranke des Gesetzgebers bei der Normierung richterlicher Zuständigkeit angesehen werden 36. Der Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wäre für diesen Fall im Sinne der Garantie eines quantitativen und qualitativen Minimums an gesetzlicher Zuständigkeitsordnung vor zu weitgehenden Beeinträchtigungen durch den Gesetzgeber geschützt. Dieser Bestandsschutz einer richterlichen Zuständigkeitsordnung wurde bislang ausschließlich abwehrrechtlich umschrieben. Verändert man lediglich die Sichtweise auf das Problem, so ließe sich die Garantie eines Mindeststandards an gesetzlichen Regelungen jedoch auch im Sinne einer leistungsrechtlichen Garantie verstehen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als institutionelle Garantie vermittelte für diesen Fall einen Anspruch gegen den Gesetzgeber, ein Minimum an Gesetzen zur Verankerung der richterlichen Zuständigkeit bereitzustellen. In der Tat wurde den Einrichtungsgarantien von Anfang an nicht nur eine negatorische Wirkung im Sinne eines Beseitigungsschutzes, sondern auch ein leistungsrechtlicher Charakter zugesprochen. Sie sollten danach auch positives staatliches Handeln zur Gewährleistung des Fortbestandes einer funktionsfähigen Einrichtung gebieten37. 34 So bereits Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Erster Band, Art. 105 WRV S. 111 mit Verweis auf Carl Schmitt und Scheuner, in: Recht-Staat-Wirtschaft, Vierter Band, S. 88 (92f.), der aus Art. 97,98 und 101 GG eine institutionelle Garantie der Stellung der Richter entnimmt; Schlochauer, Öffentliches Recht, S. 48 (nennt nur das Verbot von Ausnahmegerichten); Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (557); Oehler, ZStW 1952, 292 (296f.), der in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur eine institutionelle Garantie enthalten sieht; Marx, Richter, S. 59f.; Gottschalk, Richter, S. 27; Maunz,, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 5; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 1; Stern, Staatsrecht II, S. 916; ders., Staatsrecht III/l, S. 1466; Reichl, Richter, S. 51 f. Ablehnend hingegen Abel, Einrichtungsgarantien, S. 85 und Henkel, S. 8ff.; kritisch auch Scupin, Richter, S. 87 f., der davon ausgeht, Art. 101 GG könne entweder nur ein Grundrecht oder eine institutionelle Garantie enthalten; siehe auch BVerfGE 48, 246 (254f.). 35 Zur Definition der Einrichtungsgarantien und den begrifflichen Festlegungen siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 791; Dreier, in: Dreier, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 68. 36 Zu den Einrichtungsgarantien als Schranken-Schranke siehe beispielsweise Stern, Staatsrecht III/l, S. 708 und Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 70ff., 275. 37 Zu diesem Zusammenhang Stern, Staatsrecht III/l, S. 708 f. und aus der Zeit der Weimarer Reichsverfassung Schmitt, Verfassungslehre, S. 170; ders. in: Anschütz/Thoma, S. 572 (596); Klein, Institutionelle Garantien, S. 130, 134ff., 165.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
Ist eine auf diese Weise verstandene institutionelle Garantie hilfreich zur Bestimmung von Inhalt und Umfang der Pflicht des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG? Gegen einen solchen Nutzen spricht, daß die dogmatische Kategorie der Einrichtungsgarantie von undeutlicher Beschaffenheit ist 38 . Nicht nur die Begründung institutioneller Garantien an sich, sondern auch die Einbindung einer solchen Gewährleistung in den überkommenen grundrechtsdogmatischen Ordnungsrahmen bereiten Schwierigkeiten. Ungeachtet der Tatsache, daß Definitionen nicht selten zwangsläufig abstrakt formuliert sind, offenbaren bereits die angebotenen Umschreibungen, wie schwierig es zu sein scheint, die Merkmale dieser Kategorie klar zu umreißen. So umschreibt Schmidt-Jortzig Einrichtungsgarantien als: „gesteigerte, verfassungsgesetzliche Fixierungen von bestimmten, rechtlich wie tatsächlich determinierten Faktoren grundlegend und eigengewichtig ordnender Funktionen für das verfaßte Gemeinwesen"39.
Nach Stern wiederum ist eine Einrichtungsgarantie gegeben, „wenn die in ihr enthaltenen Objektivationen (Einrichtungen, Organisationsgebilde und rechtliche Grundfiguren) durch Normenkomplexe und tatsächliches Wirken formiert und abgrenzbar vorgefunden werden und im gewährleistenden Verfassungsrechtssatz so ausgestaltet sind, daß sie gewährleistet sein sollen, d. h. aufgrund ihrer historischen Verwurzelung und ihres Eigenwertes auch für die Zukunft des Gemeinschaftslebens besondere Stabilität und Kontinuität erhalten sollen"40.
Diese relativ offenen und mit unbestimmten Tatbestandsmerkmalen versehenen Definitionen lassen die Schwierigkeiten einer Benennung anerkennungswürdiger Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes und die Probleme einer dogmatischen Einordnung dieser Kategorie bereits erkennen. Hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im speziellen sticht hervor, daß Angaben zum Gegenstand einer solchen institutionellen Garantie entweder gänzlich fehlen oder im Falle einer Erwähnung voneinander abweichen, sich zumindest aber als unpräzise herausstellen. Bereits die häufig als grundlegend qualifizierten Ausführungen Carl Schmitts zu Art. 105 WRV im Rahmen der Erwägungen zu den institutionellen Garantien der Reichsverfassung offenbaren Ungenauigkeiten. Anfänglich benennt Schmitt* 1, im Zuge einer Aufzählung der in der Reichsverfassung seiner Meinung nach enthaltenen institutionellen Garantien, sowohl das Verbot von Ausnahmegerichten als auch
38 Siehe Bettermann, DVB1. 1963, 41 (42) der hinsichtlich der institutionellen Garantie der Rundfunkfreiheit, die das Bundesverfassungsgericht im Femsehurteil, BVerfGE 12,205 ff., begründete, den „Nebel des Institutionellen" beklagt. 39 Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien, S. 32. 40 Stern, Staatsrecht III/l, S. 791. 41 Schmitt, Verfassungslehre, S. 171.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 105 WRV. In der Kommentierung zum Inhalt und der Bedeutung der Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung 42 qualifiziert der Autor sodann Art. 105 als Teil der in Art. 102 f. WRV institutionell garantierten unabhängigen Rechtspflege. Demgegenüber bezieht er sich in einem anderen Beitrag 43 ausschließlich auf die in Art. 102 bis 104 WRV garantierte institutionelle Garantie des unabhängigen Richtertums, ohne Art. 105 WRV zu erwähnen. Der genaue Gegenstand einer derart umschriebenen institutionellen Garantie läßt sich aus diesen Äußerungen kaum ermitteln. Diese wechselhaften Ausführungen können als beispielhaft für das spätere Aufgreifen einer in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten institutionellen Garantie gelten. Scheuner 44 sieht in Art. 97,98 und 101 GG gemeinsam „die Stellung der Richter als öffentlich-rechtlicher Einrichtung" institutionell verbürgt. In diesen Zusammenhang läßt sich auch die Kommentierung von Kunig stellen, der in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG „die Institution des Richters im Rahmen der Zuständigkeitsordnung der deutschen Gerichtsbarkeit" institutionell gewährleistet sieht45. Schmidt-Jortzig sieht demgegenüber, unter ausschließlicher Bezugnahme auf Art. 92 Hs. 1 GG und Art. 97 Abs. 1 GG, in diesen Normen „die institutionelle Garantie einer unabhängigen Gerichtsbarkeit" verankert 46. Sofern die Gerichtsbarkeit im Sinne von Art. 92 und 97 GG oder das Richtertum als solches, jeweils in der Gestalt einer öffentlichrechtlichen Einrichtung des Staates, angesprochen wird, so ist einer solchen Sichtweise entgegenzuhalten, daß das Prinzip des gesetzlichen Richters keinen derartigen Gewährleistungsinhalt aufweist. Die Norm beinhaltet, wie schon in anderem Zusammenhang ausgeführt 47, keinen Regelungsgehalt, der die Gerichtsbarkeit als Institution unmittelbar konstituiert. Auch wenn das Wort Richter zum Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gehört, ist der spezifische Schutzgehalt der Verfassungsnorm auf die Gewährleistung einer gesetzlichen Zuständigkeit richterlichen Handelns beschränkt. Insoweit sind vielmehr die Art. 92 ff. GG, insbesondere Art. 92 und 97 GG, einschlägig. Die institutionelle Garantie der unabhängigen Gerichtsbarkeit oder des Richtertums sollte daher erforderlichenfalls ausschließlich auf diese Normen gestützt werden.
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Schmitt, in: Anschütz/Thoma, § 101 S.596. Schmitt, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 (150). 44 Scheuner, in: Recht-Staat-Wirtschaft, Vierter Band, S. 88 (93). 45 Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 1. 46 Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien, S. 32, 62. 47 Siehe die Ausführungen zur Einbeziehung sonstigen undrichterspezifisehen Verfassungsrechts in den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unter dem Gliederungspunkt § 3 B.I., S. 45 ff. 43
Α. Leistungsrechtliche Dimension
Läßt sich dem Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter folglich keine institutionelle Garantie der Gerichtsbarkeit oder des Richtertums entnehmen, so bleibt als Gegenstand einer institutionellen Verbürgung „die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geforderte und vorausgesetzte, rechtlich verfaßte richterliche Zuständigkeitsordnung als grundlegende, verfassungsrechtlich verankerte Einrichtung der Rechtsordnung"48,
auf die tatsächlich in den meisten Fällen mehr oder weniger deutlich Bezug genommen wird 49 . Klarstellend sei zunächst hervorgehoben, daß mit einer solchen Verbürgung nicht der Erhalt eines status quo gemeint sein kann, in der Form, daß die gegenwärtige gesetzliche Zuständigkeitsordnung in ihrem Bestand vor Veränderungen verfassungsrechtlich abgesichert würde 50. Gesetzesänderungen bleiben dem Gesetzgeber unbenommen, solange er sich am Leitbild von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG orientiert, die richterliche Zuständigkeit möglichst eindeutig zu regeln. Insoweit ist dem Gesetzgeber durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG lediglich verboten, durch eine Neuregelung die Manipulation eines bestimmten, zur Zeit der Änderung bereits anhängigen Verfahrens zu betreiben. Im übrigen kann eine Änderung gesetzlicher Zuständigkeitsbestimmungen für die Zukunft zu einer Änderung der richterlichen Zuständigkeit für bereits anhängige Gerichtsverfahren führen, ohne daß die Legislative durch eine solche Norm gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstieße. Eine solche Änderung verletzt das Prinzip des gesetzlichen Richters nur dann, wenn sie nicht zugleich eine unbestimmte Vielzahl gleichgelagerter, zukünftiger Fälle erfaßt 51 und daher als Manipulation eines bestimmten Einzelfalles anzusehen ist.
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Zu dieser Definition Scheunen in: Recht-Staat-Wirtschaft, Vierter Band, S. 88 (93). Siehe Gottschalk, Richter, S. 27; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 5; Stern, Staatsrecht II, S.916; ders., Staatsrecht III/l, S. 1466; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 1. Dogmatisch fragwürdig sind die Ansichten, die die institutionelle Garantie im Sinne einer Garantie der Zuständigkeitsordnung zugunsten der Richter verstehen und daraus jedem Richter den Anspruch auf den eigenen Fall und die eigenen Parteien entnehmen, so Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (557); Marx, Richter, S. 59f. 50 Diese Annahme liegt aber der Kritik von Henkel, Richter, S. 8 ff. und Abel, Einrichtungsgarantien, S. 85 zugrunde, die deshalb eine institutionelle Garantie ablehnen. 51 So im Ergebnis einhellig BVerfGE 24,33 (54f.); BFH DB 1970,715; BVerwG NJW 1979, 1374. Siehe auch OLG Hamm NJW 1977, 860; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (572); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 23 f.; Kröger, Richter, S. 9; Henkel, Richter, S. 125; Stern, Staatsrecht III/l, S. 612; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 16; Klein, in: Schmidt-B leibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 9; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 3; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 292 fordert insoweit eine kritische Prüfung; Kissel, § 16 GVG Rn. 31. Anders hingegen Menzel, Ausnahmegerichte, S. 74,91 ff. der von einem Verbot jeglicher Änderung mit Rückwirkung ausgeht, da insoweit immer die Vermutung willkürlichen Handelns durch den Gesetzgeber bestehe. 49
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Da sich eine absolute Bestandsgarantie nicht begründen läßt, könnte einer institutionellen Garantie der rechtlich verfaßten richterlichen Zuständigkeitsordnung die Aufgabe zufallen, für einen qualitativen Mindeststandard an Gesetzen Sorge zu tragen oder eine gesetzliche Zuständigkeitsregelung überhaupt zu gewährleisten und dadurch den Schutzbereich des Grundrechts vor einer zu weitreichenden Verdrängung zu schützen52. Angesichts der in Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Bindung der Legislative an die Verfassung sowie der auf dieser Basis entwickelten Grundrechtsdogmatik kann jedoch hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Verankerung einer derartigen Einrichtungsgarantie verzichtet werden 53. Mit der Etablierung von Einrichtungsgarantien in der Weimarer Reichsverfassung wurde von Beginn an das Ziel verfolgt, die Beseitigung bestimmter Einrichtungen der Verfassung im Wege nicht verfassungsändernder Gesetzgebung zu verhindern 54. Angesichts der im Grundgesetz etablierten, verfassungsrechtlichen Sicherungsinstrumente gegen zu weitgehende Grundrechtsbeeinträchtigungen des Gesetzgebers erscheint die Annahme, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthalte eine solche institutionelle Garantie, entbehrlich 55. Gesetzliche Bestimmungen, die nicht ein Mindestmaß an gesetzlicher Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit vorsehen, dürften ohnehin die Hürden des Prinzips der Verhältnismäßigkeit zu nehmen nicht in der Lage sein, oder, sollte dies im Einzelfall gelingen, verfassungsrechtliche Akzeptanz genießen. Eine ähnliche Funktion zur Absicherung eines verfassungsrechtlichen Mindeststandards erfüllt die Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG 56 mit ihrer Zielsetzung, die Substanz der Grundrechte vor dem Zugriff des Gesetzgebers zu bewahren57. 52 So etwa Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 5, der durch die institutionelle Garantie lediglich eine generelle Regelung überhaupt gewährleistet sieht. 53 So deutlich etwa Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 88 mit Anmerkung 71 und Rn. 695 zu Art. 14 GG und der darin enthaltenen Institutsgarantie. Ipsen bezweifelt, insbesondere wegen der bestehenden Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und des Anwendungsbereichs des Übermaßverbotes, den Nutzen der Kategorie der Einrichtungsgarantie. 54 So ausdrücklich Schmitt, Verfassungslehre, S. 170,173 und Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Erster Band, Art. 105 WRV S. 111, der auf Schmitts Verfassungslehre verweist. 55 Dabei soll nicht näher auf die Frage eingegangen werden, ob nicht das Vorliegen einer Grundrechtsnorm die Annahme der zusätzlichen Verankerung einer institutionellen Garantie bereits grundsätzlich ausschließt. Siehe etwa Abel, Einrichtungsgarantien, S. 46 ff.; S cupin, Richter, S. 87f.; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 19, 25; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 III GG Rn. 97. 56 Dazu allgemein Schneider, Wesensgehalt; Häberle, Wesensgehalt, insbesondere S. 234ff.; Herbert, EuGRZ 1985, 321 ff.; zur Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 2 GG auf die grundrechtsgleichen Rechte, insbesondere Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe nur Dreier, in: Dreier, Art. 19 I I GG Rn. 6; Denninger, in: Alternativkommentar, Art. 19 Abs. 2 GG Rn. 2; Krebs, in: von Münch/ Kunig, Art. 19 GG Rn. 19; Stern, Staatsrecht III/2, S. 878 ff.; Herbert, EuGRZ 1985,321 (323). 57 Dies setzt allerdings voraus, daß man Art. 19 Abs. 2 GG im Falle der Annahme einer lediglich relativen Wirkung neben dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit noch eine eigene Bedeutung zuerkennt. Zur absoluten oder relativen Theorie des Wesensgehalts und der Frage des Verhältnisses von Übermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie siehe nur Dreier, in: Dreier, Art. 19 II Rn. 11 ff. mit ausführlichen Hinweisen zur einschlägigen Literatur. Demgegenüber sieht Herzog, in: FS Zeidler, Band 2, S. 1415 (1423 ff.), verdeutlicht am Beispiel von Art. 14 GG, den
Α. Leistungsrechtliche Dimension
Selbst wenn man die institutionelle Garantie nicht als Schranken-Schranke verstehen will, sondern allgemein als objektivrechtliche Garantie eines einfachgesetzlich geschaffenen oder zu schaffenden Normenkomplexes ansieht, erweist sich eine solche Annahme nach der hier vertretenen Konzeption des leistungsrechtlichen Gehalts von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als überflüssig. Das Recht auf den gesetzlichen Richter garantiert ohnehin jedem Grundrechtsberechtigten die Bereitstellung eines einfachgesetzlichen Normenbestandes, der den zuständigen Richter möglichst eindeutig bestimmt. Einer zusätzlichen institutionellen Verankerung dieser normativen Direktiven bedarf es daher nicht. Wegen der verfassungsrechtlich verankerten Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und der veränderten grundrechtsdogmatischen Rahmenbedingungen unter dem Grundgesetz kann auf die Gewährleistung einer institutionellen Garantie durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG demnach verzichtet werden 58. c) Ausgestaltung oder Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs Notwendigkeit einer Grenzziehung
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Die Unterscheidung zwischen „natürlichen Freiheiten" 59, die in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat wirken, und leistungsrechtlichen Grundrechten mit normgeprägtem Gewährleistungsbereich eignet sich nicht nur, um die Problematik der Bestimmung des Anspruchsinhalts leistungsrechtlicher Grundrechte zu verdeutlichen. Sie kann darüber hinaus genutzt werden, um die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die auftreten, wenn man zwischen beeinträchtigendem und nicht beeinträchtigendem Handeln des Gesetzgebers unterscheiden will. „Natürliche Freiheiten" nehmen Bezug auf externe, der Tatsachenwelt entlehnte Schutzobjekte, etwa das Leben, die Versammlung von Menschen oder die Meinungsäußerung einer Person. Bei diesen Rechten ist es grundsätzlich ohne nennenswerte Probleme möglich, Regelungen, die den Freiheitsgebrauch beschränken, als solche zu qualifizieren, beispielsweise das Unterstrafestellen bestimmter Meinungsäußerungen oder ein Verbot bestimmter Versammlungen. Eine vergleichbar eindeutige Grenzziehung zwischen beeinträchtigenden und nicht beeinträchtigenden Gesetzen gestaltet sich demgegenüber bei den normgeprägten Leistungsrechten, zu denen das Recht auf den gesetzlichen Richter gehört, weitaus schwieriger. Die Schutzwirkung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat zur notwenAusweg hin zu einer Bindung des Gesetzgebers bei ausgestaltungsbedürftigen Schutzbereichen in Art. 19 Abs. 2 GG. Ablehnend hingegen Nierhaus, AöR 1991, 72 (107 f.). 58 Dazu Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien, S. 61, der dafür plädiert, die Kategorie nur für „Nicht-Grundrechte" beizubehalten; kritisch insoweit auch Dreier, in: Dreier, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 68 f.; ablehnend zur Institutsgarantie am Beispiel von Art. 14 GG Alexy, Theorie, S. 442,444; eher kritisch auch Schwabe, Probleme, S. 275 f.; sehr kritisch zu den Einrichtungsgarantien überhaupt Waechter, Die Verwaltung 1996,47 ff. 59 Dazu unter § 4 Α. 1.1. a), S. 63 f.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
digen Voraussetzung, daß der Gesetzgeber den Gewährleistungsbereich durch Regelung der richterlichen Zuständigkeit konstituiert. An dieser Stelle scheint sich ein grundrechtsdogmatisches Dilemma zu offenbaren. Einerseits wird der Gesetzgeber durch die Verfassung verpflichtet, den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszugestalten, indem er Zuständigkeitsnormen bereitstellt, ohne die eine Gesetzlichkeit im Sinne des Grundrechts nicht verwirklicht werden kann. Andererseits bindet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG den Gesetzgeber. Die Norm bietet Schutz vor Eingriffen der Legislative in den Schutzbereich, richtet sich demnach auch an das Verfassungsorgan, dessen Tätigwerden den Grundrechtsgebrauch ermöglicht. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung, den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszugestalten, bei gleichzeitiger, unmittelbarer Bindung an die Vorgaben des Grundrechts - scheinbar ein Zirkelschluß. Es wird sich jedoch zeigen, daß die Grundrechtsbindung und die Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang zu bringen sind. Dafür ist es notwendig, möglichst eindeutig zu definieren, welchen Inhalt die Pflicht der Legislative zur Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs hat. Mit der Bestimmung des Inhalts der Ausgestaltungspflicht wird zugleich eine Grenze gezogen, jenseits derer der Gesetzgeber den Schutzbereich nicht mehr ausgestaltet, sondern eine Beeinträchtigung vornimmt 60. Der Unterschied zwischen Nichtbeeinträchtigung und Beeinträchtigung ist grundrechtsdogmatisch betrachtet ein fundamentaler. Mit ihm beantwortet sich die Frage, ob der Gesetzgeber bei seinem Handeln den spezifischen, verfassungsrechtlichen Begründungs- und Rechtfertigungsanforderungen an Grundrechtsbeeinträchtigungen unterliegt, um zu beantworten, ob die zunächst verbotene Beschränkung des Freiheitsrechts letztlich mit den Vorgaben der Verfassung in Einklang zu bringen ist 61 .
2. Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers - Bestimmtheitsgebot als Optimierungsgebot oder Untermaßverbot? Aus den Ausführungen der zurückliegenden Seiten lassen sich die beiden maßgeblichen Gesichtspunkte einer inhaltlichen Bestimmung der Ausgestaltungspflicht herausfiltern: Zunächst ist bedeutsam, daß die Vorbehalte gegen eine Anerkennung konkreter leistungsrechtlicher Ansprüche der Grundrechtsberechtigten gegenüber dem Gesetz-
60 Zur allgemeinen grundrechtsdogmatischen Unterscheidung zwischen Grundrechtsbegrenzung und Grundrechtsausgestaltung siehe Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 104 ff. sowie S. 180 ff. 61 Zur Notwendigkeit dieser Grenzziehung auch bei der Ausgestaltung normgeprägter Grundrechte siehe Alexy, Theorie, S. 300ff.; PierothlSchlink, Grundrechte, Rn. 209ff.; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 34ff., sowie Bauer, in: Dreier, Art. 9 GG Rn. 47.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
1
geber hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zutreffen 62. Es wurde insbesondere deutlich, daß der Schutzgegenstand des Rechts auf den gesetzlichen Richter hinreichend bestimmt ist, um daraus konkrete Leistungsansprüche zu entwickeln. Es ist außerdem aus grundrechtsdogmatischer Sicht notwendig, die Grenze zwischen den Gesetzen, die den Gewährleistungsbereich ausgestalten und solchen Normen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beeinträchtigen, möglichst eindeutig zu ziehen. Wie läßt sich vor diesem Hintergrund die Pflicht des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG definieren? Der Gesetzgeber könnte einerseits verpflichtet sein, einen Bestand von Rechtssätzen bereitzustellen, welche die richterliche Zuständigkeit lediglich mit einem Mindestmaß an Genauigkeit regelten. Dabei wären gesetzliche Freiräume der Exekutive und Judikative bei der Anwendung solcher Gesetze, in Form von Ermessensvorschriften und unbestimmten Rechtsbegriffen, in relativ weitem Umfang als zulässige Ausgestaltung anzusehen. Man könnte die Grenze, die durch eine solche Verpflichtung gezogen würde, in Anlehnung an die grundrechtsdogmatische Kategorie zur Bestimmung grundrechtlicher Handlungspflichten, als Untermaßverbot bezeichnen. Der Gesetzgeber müßte Normen zur Verfügung stellen, die zur Regelung richterlicher Zuständigkeit zumindest geeignet wären 63. Gegen das Untermaß verbot verstießen nur solche Normen, die - vermeidbare - Lücken im System richterlicher Zuständigkeit offenbarten oder etwa sich widersprechende Bestimmungen enthielten. Dem steht ein Höchstmaß an Genauigkeit der gesetzlichen Vorabbestimmung gegenüber, das als Optimierungsgebot bezeichnet werden kann. Gesetzliche Ungenauigkeiten in Form von Ermessensspielräumen der Staatsanwaltschaft oder Judikative bei der Bestimmung der Zuständigkeit im Einzelfall beziehungsweise in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen wären als Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu qualifizieren. Bevor die Frage beantwortet wird, an welchem Wert sich der Gesetzgeber zu orientieren hat (dazu b)), soll ein Blick auf die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur zu dieser Frage geworfen werden (dazu a)), da diese den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung bilden.
62
Siehe dazu die Ausführungen zuvor unter Gliederungspunkt § 4 Α. 1.1. a)bb), S. 65 ff. Zum Untermaß verbot siehe BVerfGE 88,203 (254 f.) und in der gleichen Entscheidung auf den Seiten 338 ff., insbes. S. 340, die abweichende Ansicht der Richter Mahrenholz und Sommer; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 111 Rn. 165 f.; Dietlein, ZG 1995,131 ff., der sich insbesondere auf den Seiten 139 ff. kritisch mit dem dogmatischen Nutzen des Untermaß verbotes bei grundrechtlichen Leistungspflichten des Gesetzgebers auseinandersetzt sowie Borowski, Grundrechte, S. 119ff. und S. 151 ff. m. w. N. 63
6 Roth
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Literatur im Überblick Das Bundesverfassungsgericht scheint auf den ersten Blick einen hohen Grad an Genauigkeit zu verlangen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung, die Zuständigkeit eines jeden Richters möglichst eindeutig im voraus zu regeln. Die Normen dürfen dabei nicht mehr als nach dem Regelungskonzept notwendig unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und dem Normanwender kein Einzelfallermessen im Sinne eines echten Wahlrechts zwischen verschiedenen Zuständigkeiten einräumen64. Unvermeidliche Ungenauigkeiten in der gesetzlichen Zuständigkeitsbestimmung sollen allerdings mit den verfassungsrechtlichen Direktiven in Einklang stehen. Als unvermeidlich werden solche Ungenauigkeiten angesehen, die der in der Verfassung angelegten Differenzierung der Gerichtszweige, der föderativen Struktur der Gerichtsorganisation, der Zahl der Spruchkörper und Richter Rechnung tragen sowie solche, die wechselnde Arbeitsbelastung und Leistungsfähigkeit der Richter, unvorhersehbare Umstände eines Ausscheidens, Krankheit, Verhinderung, Urlaub oder einen Wechsel von Richtern berücksichtigen 65. Betrachtet man jedoch im Detail, welche Genauigkeitsanforderungen das Bundesverfassungsgericht stellt, so wird deutlich, daß dem Gesetzgeber keineswegs ein hohes Maß an Bestimmtheit abverlangt wird. Die Relativierung des Bestimmtheitsgebotes66, die sich in den vorab dargestellten Aussagen des Gerichts, wonach unvermeidliche Ungenauigkeiten als zulässig erachtet werden, bereits tendenziell abzeichnet, setzt sich fort. Dies geschieht in einer Weise, die von einer verfassungsrechtlichen Bindung des Gesetzgebers an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ungleich weniger übrig läßt, als die Forderung, „so genau wie möglich" gesetzlich festzuschreiben, welche Gerichte im Einzelfall zuständig sind, es vermuten läßt67. Das Gericht begründet die verfassungsrechtliche Zulässigkeit weniger exakter Zuständigkeitsbestimmungen mit der Aufgabe des Gesetzgebers, das bei der Regelung richterlicher Zuständigkeit zwangsläufig auftretende Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zu lösen68. Die Vorhersehbarkeit rich64
Siehe zum folgenden BVerfGE 6,45 (50f.); 9, 223 (226ff); 17, 294 (298f.); 19, 52 (59); 22,254 (258 ff.); 25, 336 (346ff.); 30,149 (152); 40,268 (271); 48,246 (253); 63,77 (79); 82, 286 (298 ff.); BVerfG NJW 1995, 2703 ff., MDR 1995, 1202, DStR 1995, 1466ff., JuS 1996, 355 f. und zuletzt BVerfGE 95, 322 (329 ff.), NJW 1997, 1497 (1498 f.), DVB1. 1997, 765 (766f.), EuGRZ 1997, 114(115f.). « BVerfGE 6,45 (50f.); 17,294 (299f.); 18, 344 (349); 20, 336 (344); 25, 336 (364ff.); 31, 145 (163 f.); BVerfG NJW 1997, 1497 (1499). 66 Zu dem in der Verfassung verankerten allgemeinen Bestimmtheitsgebot siehe aus neuerer Zeit Papier/Möller, AöR 1997, 178 ff. 67 Zu dieser Erkenntnis siehe Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 25 f., nach dessen Meinung im Ergebnis nur noch ein Willkürverbot verbleibt. 68 BVerfGE 9, 223 (226f.); 19, 52 (59f.); 20, 336 (344); so auch Gottschalk, Richter, S. 36; Henkel Richter, S. 17f.; ähnlich Gerleit, Recht, S. 117; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 10; Leibholz/Rinck!Hesselberger, Art. 101 GG Rn. 116.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
terlicher Zuständigkeit wird dabei als Ausprägung der Rechtssicherheit angesehen. Rechtssicherheit insofern, als die Verfahrensbeteiligten bei exakter Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit nicht im ungewissen darüber bleiben, vor welchem Gericht ihre Sache verhandelt werden wird. Dem Prinzip materieller Gerechtigkeit soll es demgegenüber entsprechen, bei der Zuständigkeitsbestimmung die Besonderheiten des Rechtsgebietes zu berücksichtigen und dem Einzelfall gerecht zu werden. In erster Linie versteht das Bundesverfassungsgericht unter materieller Gerechtigkeit jedoch die Verwirklichung des Grundsatzes der Effektivität des Rechtsschutzes. Diesem Prinzip könne, zu Lasten der Genauigkeit der Gesetze, bei Erlaß der Zuständigkeitsregelungen Rechnung getragen werden. Auf dieser Grundlage soll ein Freiraum bei der Bestimmung des im Einzelfall zuständigen Richters selbst dann nicht ausgeschlossen sein, wenn eine exaktere Vorausbestimmung möglich wäre. Sofern ein solcher Entscheidungsfreiraum einem Richter eingeräumt wird, so soll dies mit weniger Bedenken verbunden sein, als wenn der Staatsanwaltschaft oder der übrigen Exekutive Gelegenheit gegeben wird, auf die Zuständigkeit von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen. Der Grund für das größere Vertrauen, welches das Bundesverfassungsgericht der Judikative entgegenbringt, liegt in der durch Art. 97 GG garantierten richterlichen Unabhängigkeit69. Indem das Gericht die Bestimmtheitsanforderungen auch von der Besonderheit des vom Gesetzgeber ausgewählten Regelungskonzeptes abhängig macht70, wird der Legislative eine Einschätzungsprärogative übertragen. Unter Bestimmtheit ist dann nur noch das Maß an Genauigkeit zu verstehen, welches das jeweilige Regelungssystem zuläßt. Nimmt man die Freiräume hinzu, die dem Gesetzgeber verbleiben, wenn dieser nach dem Konzept des Bundesverfassungsgerichts auch das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes in die Erwägungen mit einbezieht, i. e. wie genau die richterliche Zuständigkeit in den Gesetzen zu verankern ist, gewinnt diese Einschätzungsprärogative an Erheblichkeit. Damit geht eine deutliche Zurücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte einher, die eine inhaltliche Kontrolle der Bereiche, die der Einschätzung des Gesetzgebers unterliegen, weitgehend ausspart. Tatsächlich hat das Gericht bislang in keinem Fall - teils erhebliche - Ungenauigkeiten in der gesetzlichen Bestimmung richterlicher Zuständigkeit mit dem Makel der Verfassungswidrigkeit versehen.
Ein solches Spannungsverhältnis tritt beim Nebeneinander und Miteinander zahlreicher Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht selten auf, siehe dazu bereits Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 278ff., Sobota, Rechtsstaat, S. 19ff. und Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, Band I, § 24 Rn. 91 ff. Näheres anschließend unter Gliederungspunkt 3.a)bb), S. 95ff. 69 Siehe BVerfGE 9, 223 (226f.), 20, 336 (343ff.), 22, 254 (259ff.); 25, 336 (346f.); BVerwGE 72, 59 (62). 70 Siehe zuletzt BVerfGE 95, 322 (330). 6*
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Ein Wandel in der soeben beschriebenen Auffassung des Gerichts schien sich in einem Vorlagebeschluß des Ersten Senates an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts abzuzeichnen. Darin betont der Senat, effektiver Rechtsschutz und Prinzip des gesetzlichen Richters dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Grundgesetz gebiete vielmehr effektiven Rechtsschutz durch den „gesetzlichen Richter" 71 . Nimmt man diese Aussage beim Wort, die im Zusammenhang mit der Problematik senatsinterner Geschäftsverteilung getroffen wurde, so scheint der Senat damit folgende grundrechtsdogmatische Konsequenz ziehen zu wollen: Eine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Form einer ungenauen Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit kann nicht mit einem Verweis auf den verfassungsrechtlichen Auftrag zur Verwirklichung des Prinzips effektiven Rechtsschutzes gerechtfertigt werden. Effektivität wird vielmehr auch durch die Anforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter definiert. Der Beschluß des Plenums des Bundesverfassungsgerichts brachte schließlich Klarheit über die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts. Die apodiktisch klingende Formulierung des Ersten Senats zum Verhältnis von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und der Effektivität des Rechtsschutzes wird darin nicht aufgegriffen. Statt dessen wird inhaltlich auf die frühere Rechtsprechung zum Inhalt des Bestimmtheitsgebotes Bezug genommen72. Daß die Genauigkeitsanforderungen sich nach Auffassung des Gerichts auch weiterhin danach bemessen, wie sich die gesetzliche Zuständigkeitsregelung auf die Effektivität des Rechtsschutzes auswirkt, bringt das Plenum deutlich zum Ausdruck: „Das Gebot des Art. 10112 GG, den im Einzelfall zur Mitwirkung berufenen Richter so genau wie möglich zu bestimmen, hat zur Folge, daß überall dort, wo dies nach dem gewählten Regelungskonzept ohne Beeinträchtigung der Effektivität der Rechtsprechungstätigkeit möglich ist, diese Bestimmung anhand von Kriterien zu erfolgen hat, die subjektive Wertungen weitgehend ausschließen"73.
Nur dort, wo die Effektivität des Rechtsschutzes keine Beeinträchtigung erfährt, verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach dieser Aussage ein Höchstmaß an gesetzlicher Genauigkeit, um Einflußnahmen auf die zur Entscheidung im Einzelfall berufenen Richterpersonen auszuschließen. Es muß demzufolge weiterhin davon ausgegangen werden, daß die früheren Aussagen des Gerichts zu den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an die Legislative die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Problematik zutreffend widerspiegeln. Trotz der beschriebenen Schwächung der Schutzwirkung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stößt die Auslegung des Merkmals einer möglichst genauen Bestimmung
71 BVerfG NJW 1995,2703 (2705), DStR 1995,1466ff., JuS 1996,355 f. und Zärban MDR 1995, 1202 ff. 72 Siehe BVerfGE 95, 322 (329f.), NJW 1997, 1497 (1498). 73 BVerfGE 95, 322 (330), NJW 1997, 1497 (1498).
Α. Leistungsrechtliche Dimension
richterlicher Zuständigkeit im Grundsatz auf breite Anerkennung im Schrifttum 74. Allerdings werden auch grundsätzliche Einwände gegen den dogmatischen Ansatz des Gerichts erhoben75. So wird etwa moniert, das vom Gesetzgeber aufzulösende Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit räume der Legislative bei der Beurteilung, welche Genauigkeit möglich sei, einen mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu vereinbarenden Entscheidungsspielraum ein. Ein Entscheidungsspielraum, der den spezifischen Regelungsgehalt der Verfassungsnorm auf die Kontrolle gesetzgeberischer Willkür reduziere 76. Insgesamt erhellt eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Schrifttums, daß die grundrechtsdogmatischen Strukturen der jeweiligen Argumentation meist nur unzureichend zutage treten. Wo der vom Gesetzgeber auszugestaltende Freiheitsbereich endet und die Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs beginnt, bleibt dabei letztlich offen. Eine Herausarbeitung dieser grundrechtsdogmatischen Grundelemente wird nicht mit der hinreichenden Deutlichkeit vollzogen77, die für eine sachgerechte und durchschaubare Gegenüberstellung und Gewichtung der Interessen erforderlich wäre. Muß man das Bundesverfassungsgericht einschließlich der dem Gericht folgenden Stimmen so verstehen, daß ein Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, der im Ergebnis zu einer weniger genauen Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit führt, den Inhalt der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers darstellt und demzufolge nicht den Rechtfertigungsanforderungen einer Grundrechtsbeeinträchtigung unterliegt? Welche „Gegen-Gründe" kommen sodann als ausgleichsfähige Güter im Rahmen der Ausgestaltung in Frage? Sofern die Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung bejahend zu beantworten ist, welchen „Schranken" unterliegt der Gesetzgeber in einem solchen Falle? Zudem: auf welchem Wege, auf welche dogmatisch-argumentative Weise wird der Ausgleich vorgenommen? Oder ist im Gegenteil jede gesetzliche Ungenauigkeit eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG? Wenn dem so sein sollte, ist eine solche Beschränkung überhaupt verfassungsrechtlich zulässig? Bejahendenfalls, unter welchen Voraussetzungen soll eine solche Ver74
So bereits Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (558, 562); Marx, Richter, S. 23; Henkel, Richter, S. 17f.; Kellermann, Probleme, S. 236 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 25 ff. und Reichl, Richter, S. 46,56; Hill, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 156, Rn. 51; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 18 ff.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Art. 101 GG Rn. 111 ff.; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 101 GG Rn. 8bff; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 15; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn.5ff, Rn. lOff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 7; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 556. 15 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1065 f.; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 25 f. Siehe außerdem die Nachweise im Rahmen der Untersuchung der einzelnen Zuständigkeitsgesetze unter Gliederungspunkt § 4 A.II., S. 107ff. 76 So Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 25. 77 Zur ähnlich gelagerten Problematik bei Art. 9 Abs. 3 GG siehe Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn.6, 30, 7Iff.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
kürzung des Freiheitsbereichs den Vorgaben der Verfassung entsprechen? Auf all diese Fragen findet sich bislang keine befriedigende Antwort. Vor diesem Hintergrund soll eine Dogmatik der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers entwickelt werden, welche die argumentativen Schichten der Auseinandersetzung hinsichtlich dieser Problematik deutlicher hervortreten läßt, um den grundrechtlichen Argumentationsprozeß hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rationeller zu gestalten78. b) Inhalt der Ausgestaltungspflicht Die Lösung des Zielkonfliktes zwischen einer perfekten Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit sowie der Effektivität des Rechtsschutzes79 ist nicht Gegenstand der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Relativierung der Anforderungen an den Gesetzgeber, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslegung des Merkmals einer möglichst genauen gesetzlichen Regelung eingeleitet hat, ist im Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht angelegt. Ziel der Norm ist es, durch abstrakt-generelle Vorausbestimmung jeder richterlichen Zuständigkeit, eine Einflußnahme auf die zur Entscheidung berufenen Richterpersonen schon im Ansatz zu verhindern. Dies ist nur zu verwirklichen, wenn sich die richterliche Zuständigkeit für jeden denkbaren Einzelfall aus den Gesetzen im voraus ermitteln läßt. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt dem Gesetzgeber demnach das Höchstmaß an Genauigkeit bei der gesetzlichen Bestimmung richterlicher Zuständigkeit ab. Nur dadurch läßt sich ein umfassender grundrechtlicher Schutz vor Manipulationen der Richterbank garantieren. Dem Regelungsgehalt der Verfassungsnorm ist kein Anhaltspunkt zu entnehmen, wonach dem Gesetzgeber im Zuge der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs, also im Stadium der „Grundrechtsförderung", die Befugnis zur Abwägung möglicherweise gegenläufiger rechtsstaatlicher Prinzipien übertragen wird. Im Gegenteil - das Prinzip des gesetzlichen Richters ist auf Optimierung des freiheitsgewährenden Gehaltes der Norm ausgerichtet 80. Jedes geringere Maß an Verwirklichung der Freiheitssphäre durch den Ge78
Zu diesen methodischen Anforderungen siehe Alexy, Theorie, S. 300ff. sowie Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 172 ff. 79 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch die gleichmäßige Verteilung der Arbeitslast auf die Richter herausgestellt, ein Konflikt der im Rahmen der Geschäftsverteilung innerhalb der Gerichte auftritt. Siehe dazu etwa die Hinweise bei Felix, in: FS Gaul, S. 97 (128) Anmerkung 111 und Zärban, MDR 1995,1202 (1205) mit Anmerkungen 26ff. zu den Äußerungen des Präsidenten, des Vizepräsidenten und anderer Vorsitzender Richter des BGH anläßlich der Pressekonferenz des BGH vom 14.05.1992. Vereinzelt werden dabei dem „gesetzlichen Richter" als Ziele sogar die rasche Entscheidung, die gute Entscheidung und die gleichmäßige Belastung im Senat entgegengehalten, dazu Kerscher in der Süddeutschen Zeitung vom 02./03.05.1992, Seite 9, der eine Äußerung des Senatsvorsitzenden am BGH, Hagen, wiedergibt. 80 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Darstellung der Prinzipientheorie bei Alexy, Theorie, S. 71 ff. und 300ff., insbesondere dessen Unterscheidung zwischen Regeln und Prin-
Α. Leistungsrechtliche Dimension
setzgeber, also jede vermeidbare Ungenauigkeit der gesetzlichen Zuständigkeitsbestimmung, kann sich demnach nicht auf die Pflicht zur Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berufen. Jedes Zurückdrängen der Genauigkeit zur Verwirklichung sonstiger Prinzipien stellt sich als rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung des grundrechtlichen Gewährleistungsbereichs dar 81. Zur Umschreibung einer derart verstandenen Ausgestaltungspflicht kann die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlange vom Gesetzgeber eine möglichst eindeutige gesetzliche Vorausbestimmung, aufgegriffen werden. Unter „möglichst eindeutig" ist - grundrechtsdogmatisch zutreffend gedeutet - dann jedoch nicht mehr zu verstehen, daß der Gesetzgeber die richterliche Zuständigkeit lediglich so eindeutig regeln muß, wie er es nach einer Abwägung des Prinzips des gesetzlichen Richters mit dem Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes für sachgerecht hält. Die Definition zielt im Gegenteil allein auf die normativen Direktiven von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ab und verlangt dem Gesetzgeber das Höchstmaß an Genauigkeit ab, das seinen Fähigkeiten entspricht. Öffnet er gesetzliche Entscheidungsfreiräume zur Bestimmung richterlicher Zuständigkeit von Fall zu Fall, so können solche Ungenauigkeiten in der Zuständigkeitsordnung nicht als möglichst eindeutige Regelung eingestuft werden. Der Gesetzgeber kann sich hinsichtlich solcher Gesetze nicht auf die Ausgestaltungspflicht berufen. Ein derart verstandenes Optimierungsgebot weicht von dem ab, was hinsichtlich anderer leistungsrechtlicher Grundrechtspositionen, deren Gewährleistungsbereich ebenso einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung bedarf, angenommen wird. Dort ist die Legislative im Rahmen der Ausgestaltung lediglich verpflichtet, den Grundrechtsgebrauch zumindest zu ermöglichen und keine unzweckmäßigen Regelungen bereitzustellen. So sollen etwa Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG dem Gesetzgeber nur einen Kernbestand an Regelungen abverlangen, die die freien Zusammenschlüsse handlungsermöglichend in die allgemeine Rechtsordnung einfügen 82. Art. 6 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG setzen ebenso nur einen Kernbestand zipien als unterschiedliche Arten von Normen. Danach sind Regeln Normen, die jeweils nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden. Prinzipien sind demgegenüber als Optimierungsgebote zu verstehen, die von ihrem Charakter her generell in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können, die es jedoch gebieten, daß der Regelungsgegenstand relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten in einem möglichst hohen Maße realisiert werden. In diesem Sinne wäre wohl Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Prinzip anzusehen. Zur Prinzipienlehre Alexys und deren Bedeutung für die Grundrechtslehre, siehe nur Stern, Staatsrecht III/l, S. 501 ff. und Dreier, in: Dreier, Vorb. Art. 1 GG Rn. 40. Zur Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten allgemein und zu Alexy siehe weiterhin Lerche, in: FS Stern, S. 197 ff. Ähnlich für die grundrechtliche Vertragsfreiheit Höfling, Vertragsfreiheit, S. 34ff., der inzwischen jedoch ausdrücklich anderer Auffassung ist, siehe Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn. 6 mit Anmerkung 19 und Rn. 77 ff. 81 Zumindest im Ansatz Übereinstimmung bei Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 26. 82 BVerfGE 19, 303 (321 f.); 50, 290 (368); 84, 372 (378f.). Siehe auch Höfling, in: Sachs, Art. 9 GG Rn. 5 f., 36,71 ff. und Löwer, in: von Münch/Kunig, Art. 9 GG Rn. 20 ff. Ausführlich zur Koalitionsfreiheit Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 83 ff.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
an Normen voraus, um die wesentlichen Elemente des Familien- und Elternrechts gegen Veränderung durch Ausgestaltung zu schützen83. Schließlich garantiert Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtssuchenden keine optimale gerichtliche Kontrolle 84, sondern läßt dem Gesetzgeber einen erheblichen Freiraum bei der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs 85. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben beschränken sich auf für die Rechtssuchenden zweckmäßige, geeignete und zumutbare Regelungen, wodurch allein unangemessen hohe Hindernisse des Zugangs zu den Gerichten ausgeschlossen werden 86. Auch etwa die Verkürzung des Instanzenzuges wird nicht als Grundrechtseingriff gewertet, sondern als eine Frage der Abwägung zwischen divergierenden Prinzipien, begrenzt durch das Verbot willkürlichen Handelns, angesehen87. Der gravierende Unterschied zu der hier vertretenen Auslegung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG besteht darin, daß auch gesetzliche Regelungen, die keinen optimalen Rechtsschutz oder kein Höchstmaß an freier Koalitionsbetätigung garantieren, dennoch als Ausgestaltungen eingestuft werden und daher keine Beeinträchtigungen der grundrechtlichen Gewährleistungsbereiche darstellen88. Demgegenüber sind ungenaue Bestimmungen der richterlichen Zuständigkeit niemals Ausgestaltungen. Jede Abweichung vom Gebot optimaler Vorausbestimmung stellt vielmehr eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Wie läßt sich diese unterschiedliche Behandlung begründen? Die strukturelle Verschiedenheit der genannten Grundrechte zum Prinzip des gesetzlichen Richters 89 rechtfertigt den eigenständigen dogmatischen Weg, der hier eingeschlagen wird. Die Gewährleistungsbereiche der vorab angeführten Grundrechte spiegeln, im Unterschied zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, nahezu beispielhaft die Vorbehalte gegen die Begründung exakter Leistungsverpflichtungen des Gesetzgebers wider. Art. 9 Abs. I 9 0 und Abs. 3 GG 91 sowie Art. 6 Abs. 1 GG 92 umschreiben mit der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit beziehungsweise mit den Rechtsinstituten der Ehe 83 BVerfGE 76, 1 (41); 80, 81 (92); 84, 168 (180); Schmitt-Kemmler, in: Sachs, Art. 6 GG Rn. 27, 50; Gröschner, in: Dreier, Art. 6 GG Rn. 19; Pauly, NJW 1997, 1955. 84 BVerfGE 40, 272 (275); 77, 275 (284); 88, 118 (123 ff.). 85 Siehe Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19IV GG Rn. 60ff.; Krüger, in: Sachs, Art. 19 GG Rn. 133 sowie Huber, in: von Mangoldt/Klein, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 462 ff. 86 Siehe BVerfGE 41, 23 (26); 60, 253 (269). 87 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV GG Rn. 14 und 179; siehe auch Jarass, AöR 1995, 345 (369). 88 Zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit siehe BVerfGE 50, 290 (354f., 368f.); 58, 233 (247); 84,212 (228); 92,26 (38,41,44). Zu Art. 103 Abs. 1 siehe BVerfGE 67,208 (211 f.); 74,1 (5). Zu Art. 19 Abs. 4 siehe BVerfGE 60, 253 (269); 77, 275 (284). Zu Art. 6 Abs. 1 siehe BVerfGE 81,1 (6f.) und zur Rundfunkfreiheit BVerfGE 73, 118 (166). 89 Siehe die Ausführungen unter §4 A.I. 1.a)bb), S. 65ff. 90 Zur Ausgestaltung der Vereinigungsfreiheit an dieser Stelle BVerfGE 50, 290 (355). 91 Zur Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit siehe BVerfGE 50, 290 (368); 58, 233 (247); 88, 103(115). 92 Zur Gestaltungsfreiheit siehe nur BVerfGE 31, 58 (69f.); 62, 323 (330); 81,1 (7).
Α. Leistungsrechtliche Dimension
und der Familie grundrechtliche Schutzobjekte, deren deflatorische Offenheit es nicht erlaubt, dem Gesetzgeber über einen Mindeststandard hinaus konkrete Vorgaben für die rechtliche Ausgestaltung zu machen. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegt zudem in der Tatsache begründet, daß sich aus dem Wesen dieser Schutzobjekte das Erfordernis ergibt, einen Ausgleich teils gegenläufiger Interessen im Rahmen der Ausgestaltung vorzunehmen. Elternrechte und Rechte der Kinder, Rechte der Ehepartner, Rechte der Koalition und Rechte einzelner Koalitionsangehöriger sowie kollidierende Rechte verschiedener Koalitionen bedürfen des Ausgleichs, um einen angemessenen Grundrechtsschutz aller Grundrechtsträger zu ermöglichen. Auch die durch Art. 19 Abs. 4 GG 93 geforderte rechtliche Ausgestaltung des Zugangs zu den Gerichten und einer wirksamen Kontrolle durch die Gerichte läßt vielfältige geeignete Regelungsmöglichkeiten zu, zwischen denen der Gesetzgeber zur Erreichung der Zielvorgaben der Norm wählen kann. Darüber hinaus stellt sich im Zusammenhang mit einer Verwirklichung der Anspruchsinhalte von Art. 19 Abs. 4 GG durch den Gesetzgeber94 unmittelbar das Problem der Finanzierbarkeit eines hohen Rechtschutzstandards. Daß die dogmatische Ausgangslage in bezug auf das Prinzip des gesetzlichen Richters eine grundlegend andere ist, wurde beschrieben95. Aus dem klar definierbaren Schutzgegenstand von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG resultiert eine eindeutige leistungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, die einzig die Erfüllung des grundrechtlichen Schutzzwecks gewährleistet. Die öffentlichen Haushalte unterliegen keiner spürbaren finanziellen Mehrbelastung, wenn dem Gesetzgeber ein Höchstmaß an Genauigkeit bei der Bestimmung richterlicher Zuständigkeit abverlangt wird. Eine Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, insbesondere zum Ausgleich tatbestandsimmanter Interessenkonflikte, ist im Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schließlich nicht angelegt. c) Differenzierung der Bestimmtheitsanforderungen nach der normanwendenden hoheitlichen Gewalt Für die Bestimmung des Inhalts der Ausgestaltungspflicht ist schließlich die Annahme von Bedeutung, hinsichtlich der Genauigkeitsanforderungen sei danach zu unterscheiden, welche hoheitliche Gewalt die Normen anwendet. Ein gesetzlicher Entscheidungsfreiraum bei der Bestimmung richterlicher Zuständigkeit sei gewichtigeren Bedenken ausgesetzt, wenn er der Exekutive eingeräumt werde. Er sei demgegenüber eher zulässig, sofern die Judikative Gelegenheit erhalte, auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen96. 93
Zur Ausgestaltung von Art. 19 Abs. 4 GG siehe BVerfGE 60, 253 (269); 77, 275 (284). §4 A.I. l.a)bb)(3), S.71f. 95 Siehe vor allem die Ausführungen unter § 4 Α. 1.1. a)bb), S. 65 ff. 96 Siehe BVerfGE 20, 336 (342ff.) zu § 354 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. In diesem Zusammenhang werden auch die vergleichbaren Vorschriften, etwa § 95 Abs. 2 BVerfGG und § 565 Abs. 1 94
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Zur Begründung dieser Unterscheidung wird einerseits auf den Anlaß der Aufnahme des Prinzips des gesetzlichen Richters in frühere Verfassungsurkunden verwiesen97. Da es zu diesen Zeiten ausschließlich darum gegangen sei, zu verhindern, daß die Exekutive die Zuständigkeit der Gerichte manipulierte, entfalle auch hinsichtlich der Nachfolgevorschrift des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Makel des sachwidrigen Eingriffs von außen, wenn die Einflußmöglichkeit der Judikative selbst obliege98. Das zweite Standbein der Argumentation ist die Tatsache, daß Richter, im Gegensatz zur Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft und der übrigen Exekutive, gemäß Art. 97 GG persönliche und sachliche Unabhängigkeit genießen99. Dieser Umstand rechtfertige einen Vertrauensvorschuß gegenüber der Judikative. Es ist allerdings zweifelhaft, ob eine solche Differenzierung sich als tragfähig erweist. Die Verfassungsnorm schützt, auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 GG, die Grundrechtsberechtigten vor Einflußnahmen auf die zur Entscheidung berufenen Richterpersonen aus allen drei denkbaren Richtungen hoheitlicher Gewaltausübung. Um solche Manipulationen bereits im Ansatz auszuschließen, ist der Gesetzgeber verpflichtet, durch genaue gesetzliche Regelungen vorbeugend tätig zu werden. Weicht der Gesetzgeber von dieser Forderung ab, ist es aus Sicht des Rechtsunterworfenen grundsätzlich unerheblich, von welcher Seite die Grundrechtsgefährdung ausgeht. Die Einflußnahme durch Organe der Rechtsprechung ist auch nicht etwa deshalb weniger bedenklich, weil Richter persönliche und sachliche Unabhängigkeit genießen. Ungeachtet der Schwierigkeiten einer Beurteilung persönlicher Motive und sozialer Begebenheiten spricht einiges für die Ansicht, die persönliche Nähe zwischen den Richtern eines Gerichts oder Spruchkörpers und die daraus resultierenden Kenntnisse über den persönlichen und fachlichen Hintergrund der einzelnen Personen berge sogar ein höheres Gefahrpotential in sich, Faktoren in die Entscheidung einfließen zu lassen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu verhindern gerade berufen ist, als eine entsprechende Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Eine fehlende oder bestehende Weisungsabhängigkeit darf jedenfalls kein maßgebliches Kriterium zur Begründung oder Ablehnung von Freiräumen zur Bestimmung richterlicher Zuständigkeit darstellen. Die Ausweitung des Schutzbereichs auf den Innenbereich der Justiz ist eine Errungenschaften der grundrechtlichen Entwicklung des Richterentziehungsverbotes unter dem Grundgesetz. Schließlich sollte die tatsächliche Entwicklung seit dem Jahre 1949 nicht aus den Augen verloren werden. Von Seiten der
ZPO als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft. Siehe außerdem BVerfGE 25, 336 (346 f.) zur Vorschrift des § 186 Abs. 1 und Abs. 2 StPO - Bestimmung des Untersuchungsrichters durch den Präsidenten des BGH; BVerwGE 72,59 (62) zum Spielraum der Oberwaltungsgerichte bei der Bestimmung der eigenen Besetzung durch das Entlastungsgesetz sowie Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 7; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 10; ders., in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 19 f. 97 Siehe §6, S. 233 ff. 98 So ausdrücklich Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 20. 99 Siehe BVerfGE 25, 336 (346f.) und Degenhard in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 75 Rn. 19f.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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Justiz droht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wie an späterer Stelle der Arbeit verdeutlicht werden wird, keine geringere Gefahr als von Seiten der Exekutive100. Ohne Ansehung der zur Entscheidung berufenen hoheitlichen Gewalt greift folglich jede Unbestimmtheit der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung in den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein. Prüft man die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines solchen Eingriffs, kommt es nicht darauf an, welcher hoheitlichen Gewalt die Freiräume verbleiben. Eine Differenzierung, welche die Zulässigkeit gesetzlich eingeräumter Einflußnahmen auf die Richterperson nach den zur Normanwendung bestimmten staatlichen Organen unterscheidet, ist mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Einklang zu bringen. d) Ergebnis zum Inhalt der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers Faßt man die auf den zurückliegenden Seiten gewonnenen Erkenntnisse zusammen, ergibt sich hinsichtlich der Frage nach dem verfassungsrechtlichen Inhalt der Pflicht des Gesetzgebers, den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auszugestalten, folgendes: (1) Das Recht auf den gesetzlichen Richter fordert von der Legislative im Hinblick auf die Genauigkeit die optimale normative Vorausbestimmung einer jeden richterlichen Zuständigkeit. Diese Optimierung umfaßt gleichermaßen die einzelnen Normen wie auch das vom Gesetzgeber gewählte Regelungssystem. Systembedingte Ungenauigkeiten sind nicht etwa deshalb unbedenklich, weil dem Gesetzgeber bei der Wahl des Regelungssystems ein Freiraum verbliebe. (2) Jedes Zurückbleiben hinter dem skizzierten Maßstab stellt eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs dar, die besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt. Die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Rechtssicherheit und Effektivität des Rechtsschutzes und ein Zurückdrängen der Genauigkeitsanforderungen zu Gunsten des zuletzt genannten Rechtsgutes ist nicht Inhalt der Ausgestaltung. Eine solche Auflösung gehört vielmehr auf das dogmatische Feld der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen. (3) Normative Freiräume der Judikative sind schließlich in gleichem Umfang verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt und rechtfertigungsbedürftig wie Einflußmöglichkeiten der Exekutive.
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Siehe unter § 4 Α. II. 2., S. 139 ff. zu den einfachgesetzlichen Bestimmungen, die an die Judikative gerichtet sind sowie unter § 4 A. III., S. 182ff. zur Problematik der spruchkörperinternen Geschäfts Verteilung.
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Gesetzgeber Im Abschnitt zuvor wurde mit der Definition des Inhalts der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers der Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verdeutlicht. Damit wurde zugleich die Grenze zwischen Ausgestaltung und Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs gezogen. Mit einer Umschreibung der beiden Kategorien Ausgestaltung und Beeinträchtigung sind jedoch nicht alle Gesichtspunkte angeschnitten, die zu einer Dogmatik des Grundrechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gehören. Sie ist erst vollständig, wenn auch Klarheit darüber besteht, welche Rechtsgüter (Gegen-Gründe) allgemein als Schranken von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Frage kommen (dazu a)aa)). Nahezu durchgängig wird, wie sich bei der Begutachtung der gesetzlichen Zuständigkeitsbestimmungen im einzelnen zeigen wird 101 , zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Einflußmöglichkeiten auf das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes zurückgegriffen. Dieses Verfassungsgut soll daher einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden (dazu a)bb)). Allerdings steht das Grundrecht auch im Falle einer Einschränkung nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber unterliegt vielmehr bei der Beeinträchtigung des Grundrechts seinerseits verfassungsrechtlichen Schranken (dazu b)). a) Grundrechtsschranken
des Rechtes auf den gesetzlichen Richter
Die Voraussetzungen einer Einschränkung grundrechtlicher Bestimmungen richtet sich in erster Linie danach, welche Begrenzungsvorbehalte der Tatbestand der Verfassungsnorm vorsieht. Man unterscheidet insoweit zwei Typen von Grundrechten 102 . Die erste Gruppe bilden Rechte mit einfachem oder qualifiziertem Gesetzesvorbehalt, die nach dem Wortlaut Begrenzungen des Gewährleistungsbereichs durch oder aufgrund eines Gesetzes zulassen und teilweise zusätzliche, also qualifizierte Anforderungen an eine Begrenzung stellen. So ermöglicht etwa Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG, als Beispiel eines einfachen Gesetzes Vorbehaltes, die Beschränkung des Brief- Postumi Fernmeldegeheimnisses auf Grund eines Gesetzes, ohne die Beschränkung an weitere Bedingungen zu knüpfen. Demgegenüber erlaubt der qualifizierte Gesetzesvorbehalt von Art. 11 Abs. 2 GG die Einschränkung der Freizügigkeit nur unter den im Gesetz ausdrücklich erwähnten Voraussetzungen.
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§4 A.II., S. 107ff. Zum folgenden ausführlich Stern, Staatsrecht III/2, S. 369 ff. sowie Krebs, Vorbehalt, S. 66 ff. und Wülfing, Gesetzes vorbehalte, S. 26 ff. Zu den Grundrechtsschranken siehe weiterhin Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 122. 102
Α. Leistungsrechtliche Dimension
In die zweite Gruppe finden Grundrechte Aufnahme, deren tatbestandliche Umschreibung eine Beschränkung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes nicht vorsieht. Es handelt sich dabei um sogenannte vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, wie sie in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG mit der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit verankert sind. Im Zuge der grundrechtsdogmatischen Entwicklung wurde erkannt, daß es notwendig ist, auch vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten Schranken zu ziehen. Solche Beeinträchtigungen wurden jedoch unter enge Voraussetzungen gestellt103. Zur Beschränkung von Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt ist jeder legitime Gemein wohlgrund geeignet, der nicht den Vorgaben der Verfassung zuwiderläuft. Demgegenüber führt der Vorrang der Verfassung dazu, daß vorbehaltlose Grundrechte nur solchen Gütern weichen müssen, die rechtlich betrachtet auf gleicher Rangstufe stehen, nämlich Grundrechte Dritter und sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter. Für die Beantwortung der Frage nach den Schranken des Rechtes auf den gesetzlichen Richter kommt es demnach darauf an, welcher der beiden Kategorien von Grundrechten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angehört. aa) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schranke des vorbehaltlos gewährleisteten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Eine Analyse des textlichen Befundes ergibt, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält, der den grundrechtlichen Freiheitsgebrauch ausdrücklich unter den Vorbehalt von Beschränkungen durch oder aufgrund eines Gesetzes stellt. Auch die Pflicht zur Ausgestaltung des Schutzbereichs durch den Gesetzgeber umfaßt, wie ausgeführt, ausschließlich den Auftrag, den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich im Sinne einer optimalen Schutzwirkung zu konstituieren, nicht hingegen rechtfertigt sie eine Verkürzung des Freiheitsbereichs. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird folglich vorbehaltlos gewährleistet. Der Vorrang der Verfassung gebietet es demnach, wie auch bei den übrigen Grundrechten ohne ausdrücklich in der Verfassung vorgesehene Begrenzungsklauseln, daß Beeinträchtigungen des grundrechtlichen Gewährleistungsbereichs nur durch der gleichen Rangstufe angehöriges, kollidierendes Verfassungsrecht möglich sind 104 . 103
Siehe dazu und zum folgenden BVerfGE 28,243 (261); 30,173, (193 ff.); 32,98 (107); 47, 46 (76); 67,213 (228); 83,130 (138); 84,212 (228) und Stern Staatsrecht III/2, S.515ff.; Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 277 ff. sowie Dreier; in: Dreier, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 88 f. Zu den dogmatischen Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsrechte insgesamt siehe die gleichnamige Dissertation von Misera-Lang sowie Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 148 ff. 104 Dazu aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 28, 243 (260f.); 32, 98 (108); 44, 37 (49f.); 57, 70 (99); 75, 329 (379); 83,130 (139). Zustimmend die obersten Bundesgerichte BVerwGE 37, 265 (267 ff.); 83, 358 (365); BSG 61, 159 (165); BGHSt 37, 55 (62); BGHZ 84, 237 (238). Aus der grundsätzlich zustimmenden, im einzelnen auch teilweise kritischen Literatur siehe Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 258 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 663 ff.; von Münch, in: von
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten Als Grundlage einer solchen, durch Gesetz vermittelten Beschränkung kommen zunächst die übrigen Grundrechtsbestimmungen der Verfassung in Frage. Daneben können sich Beschränkungen aus nichtgrundrechtlichen, verfassungsrechtlich geschützten Gütern ergeben 105 . N i m m t man die normativen Aussagen des Grundgesetzes ernst, wonach der Verfassungsgesetzgeber bei der Formulierung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte eine Beschränkung dieser Rechte nicht i m Auge hatte, ist es darüber hinaus erforderlich, daß der Gesetzgeber zunächst alle zulässigen Möglichkeiten ausschöpft, um eine Güterkollision zu verhindern. Das Aufeinanderprallen der Prinzipien muß daher unvermeidlich, mit einer Förderung der betreffenden Einrichtung oder des relevanten Rechtsgutes, das zur Einschränkung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG herangezogen wird, notwendig verbunden sein 1 0 6 . Zudem muß bei realistischer Einschätzung der Umstände ein Konflikt auch tatsächlich bestehen 107 . Von einer abwägungsbedürftigen Kollisionslage zwischen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und dem - zur Begründung einer Beeinträchtigung in erster Linie herangezoge-
Münch/Kunig, Vorb. Art. 1-19 GG Rn. 57; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 122 Rn. 14, 23f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 257ff., 325ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art.1 GG Rn. 37 ff. Nach anderer Ansicht stellt sich die Frage nach kollidierendem Verfassungsrecht als Eingriffsrechtfertigung bei ausgestaltungsbedürftigen Grundrechten nicht. Eine Lösung der hier erörterten Probleme wird insoweit im Rahmen der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Ausgestaltung gesucht, siehe Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 25; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 12; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 857; zweifelnd Jarass, AöR 1995, 345 (367 f.; 373 ff. mit Anmerkung 123 wo eingeräumt wird, daß eine Zuordnung der Figur des kollidierenden Verfassungsrechts zur Ausgestaltung ein grundrechtsdogmatischer Systembruch wäre, da in diesem Fall die Figur des kollidierenden Verfassungsrechts bei verschiedenen Grundrechten auf unterschiedlichen Ebenen berücksichtigt würde). 105 Die exakte Bestimmung dieser Güter bereitet in den Fällen Probleme, in denen es nicht um Befugnisnormen geht, die ausdrücklich im Text der Verfassung ihren Niederschlag finden, sondern um Rechtsgüter, die aus dem Kontext der Verfassung entwickelt werden. In diesem Zusammenhang sind Bedenken angebracht, wenn Gemeinschaftsgüter und Rechtsprinzipien aus einer pauschalen Zusammenschau unterschiedlichster Bestimmungen des Grundgesetzes entwickelt werden und mit verfassungsrechtlicher Dignität ausgestattet werden, ohne sich auf den konkreten rechtlichen Inhalt der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes zu konzentrieren. Auch bundesstaatliche Kompetenzvorschriften, deren Zweck in der Abgrenzung der Handlungsbereiche von Bund und Ländern liegen sowie bloße Ermächtigungsvorschriften beziehungsweise Organisationsregelungen sind grundsätzlich kein tauglicher Anknüpfungspunkt zur Herleitung von Grundrechtsbegrenzungen. Ihr Regelungsgehalt erschöpft sich in der Bestimmung bestimmter Zuständigkeiten oder der Ermächtigung zur Einführung jeweils genannter Regelungen. So aber etwa BVerfGE 28,243 (260f.) zur Errichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, die aus Art. 12 a Abs. 1, 73 Nr. 1, 87 a Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitet wird oder BVerfGE 69, 1 (21 ff.), wo die „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung" und daraus folgend wiederum die „Errichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr" zusätzlich auf Art. 87 a insgesamt und 115 b GG gestützt wird. Kritisch zu alledem die abweichende Meinung in BVerfGE 69,1 (58 ff.) und Dreier, in: Dreier, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 88; Sachs, in: Sachs, Vor Art. 1 GG Rn. 94 ff.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 37 ff. Siehe außerdem Eser, in: FS Saiger, S. 247 (251). 106 Dazu Stern, Staatsrecht ÌII/2, S. 559; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 38. 107 Siehe BVerfGE 77, 240 (255); 81, 278 (293) und Stern, Staatsrecht III/2, S. 559f.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
nen - Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes kann also beispielsweise nur dann ausgegangen werden, wenn eine Zuständigkeitsordnung im Strafverfahren ohne die sogenannten beweglichen Zuständigkeiten108 tatsächlich zu einer Minderung der Effektivität des Rechtsschutzes führen würde 109. Eine mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kollidierende Verfassungsbestimmung ist auch, wie bereits von Bettermann zutreffend festgestellt wurde 110 , die in Art. 97 GG verankerte Unabhängigkeit der Richter. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert, entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, nicht zugleich die in Art. 97 verankerte Neutralität der Richter 111. Die einfachgesetzlichen Vorschriften über den Ausschluß und die Ablehnung von Richtern, die der verfassungsrechtlich verankerten richterlichen Unabhängigkeit zur Durchsetzung verhelfen sollen, sind demnach keine Ausgestaltungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Im Gegenteil verändert eine auf Antrag durch das Gericht entschiedene Ablehnung von Richtern die Besetzung einer Richterbank im Einzelfall 112. Die Beurteilung, ob die Umstände eine Besorgnis der Befangenheit begründen, obliegt dem Gericht, das über das Ablehnungsgesuch zu entscheiden hat. Diese Einflußmöglichkeit auf die Besetzung der Richterbank führt folglich dazu, daß die entsprechenden Gesetze als verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter einzustufen sind. An der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung kann allerdings im Ergebnis kein Zweifel bestehen. bb) Insbesondere: Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes und Recht auf den gesetzlichen Richter im Spannungsfeld des Rechtsstaatsprinzips Untersucht man die einfachgesetzliche Zuständigkeitsordnung unter der Fragestellung, welche Gründe angeführt werden, um Möglichkeiten der Einflußnahme auf die richterliche Zuständigkeit im Einzelfall zu rechtfertigen, so stößt man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf ein und dieselbe Antwort. In unterschiedlichen Umschreibungen wird im Kern stets auf das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes113 Bezug genommen114. Der Effizienzgedanke wird dabei gelegentlich mit dem 108
Siehe dazu unter § 4 Α. II. l.a), S. 108f. Ob dies der Fall ist, hängt wiederum maßgeblich davon ab, wie Effektivität in diesem Zusammenhang zu definieren ist. Das Verhältnis der beiden Verfassungsprinzipien steht im Mittelpunkt der Ausführungen zum anschließenden Gliederungspunkt. 110 Bettermann, AöR 1969,263 (269f.). 111 Siehe unter Gliederungspunkt § 3 Β. I.2., S. 50ff. 112 Zur Ablehnung von Richtern siehe die § § 24 ff. StPO sowie Roxin, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 7ff. 113 Als Unterfall ist die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege anzusehen, siehe dazu BVerfGE 19, 342 (347 ff.); 74,257 (262); 77, 65 (76); 80, 367 (375 f.) und die pointierte Kritik an der Weite und Unbestimmtheit des Begriffs etwa von Hassemer, StV 1982, 275 ff. und Limbach, in: FS Posser, S. 321 ff. Zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als sekundärem Staatsziel siehe außerdem Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Band III, § 57 Rn. 118 mit Anmer109
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Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Ziel materieller Gerechtigkeit in Verbindung gebracht 115. Die Anforderungen, die an verfassungsrechtliche Schranken des Rechtes auf den gesetzlichen Richters zu stellen sind, werfen insoweit folgende Fragen auf: (1) Wie läßt sich das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes verfassungsrechtlich verankern? Eine solche Verankerung ist Voraussetzung einer Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da nur Güter von Verfassungsrang dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht Schranken ziehen können. (2) Welche inhaltlichen Anforderungen an den Rechtsschutz lassen sich sodann dem Effektivitätsgedanken entnehmen? Nur mit Beantwortung dieser Frage wird deutlich, ob und in welcher Gestalt von einem Kollisionsverhältnis dieses Prinzips mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter ausgegangen werden kann. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verortung des Effektivitätsgedankens läßt sich vergleichsweise problemlos beantworten. Zu den einzelnen Ausprägungen des in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG angesprochenen Rechtsstaatsprinzips, die nicht ausdrücklich in der Verfassung geregelt sind, zählt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestimmte Garantien eines rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens. Auch außerhalb des Bereichs von Art. 19 Abs. 4 GG, wo ausdrücklich der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt gewährleistet wird, ist es danach rechtsstaatlich geboten, daß der Staat gerichtlichen Rechtsschutz für Streitigkeiten zwischen Privatpersonen sicherstellt. Diese rechtsstaatliche Pflicht ist nicht rein formal im Sinne der Gewährung eines irgendwie gearteten Rechtsschutzes zu verstehen. Vielmehr gilt sowohl hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG 1 1 6 als auch in bezug auf die allgemeine rechtsstaatliche Justizgewährleistung das Gebot wirkungsvollen Rechts-
kung 179. Allgemein zur Effizienz der Rechtspflege im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips siehe Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 441 ff. und Sobota, Rechtsstaat, S. 200ff., 405 f. und 513. 1,4 Siehe an dieser Stelle nur BVerfGE 95,322 (330ff), EuGRZ 1997,114(116), NJW 1997, 1497 (1498), DVB1.1997,765 (766) und BVerfG NJW 1998,743 (744), wo indirekt auf die Effektivität der Rechtsprechungstätigkeit im Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Bezug genommen wird sowie BVerfG NJW 1995, 2703 (2705), DStR 1995, 1466 (1468); Zärban, MDR 1995,1202 (1203,1205) zum Verhältnis von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und dem Prinzip effektiven Rechtsschutzes; vergleiche außerdem Wiebel, BB 1995, 1197 (1199) mit Blick auf die Berichterstatterbestimmung in den Senaten des BGH. Eine ausführliche Schilderung des Verhältnisses von Effektivität und Funktionsfähigkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Prinzip des gesetzlichen Richters findet sich zudem bei Kissel , § 16 GVG Rn. 60 ff. m. w. N. Im übrigen wird auf die Nachweise im Rahmen der Untersuchung der einfachgesetzlichen Zuständigkeitsnormen (§4 A.II., S. 107ff.) verwiesen. 115 Siehe die Ausführungen und Belege zu § 4 Α. 1.3. a)bb), S. 95 ff. 1,6 Siehe BVerfGE 35,263 (274); 35, 382 (401); 40, 272 (275); 60, 253 (269); 61, 82 (111). Zum Gebot der Wirksamkeit des gerichtlichen Verfahrens hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG siehe außerdem Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV GG Rn. 262 ff.; Papier, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 154 Rn. 15. Zu Art. 19 Abs. 4 GG als verfassungsrechtlicher Grundlage zur Steigerung der Rechtsprechungseffizienz im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit siehe Pitschas, ZRP1998,96 ff. und die Replik von Geiger, ZRP 1998, 252 ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
schutzes117. Nach dem Bundesverfassungsgericht ergibt sich der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz außerdem bereits aus den materiellen Grundrechten, um deren Durchsetzung es vor Gericht geht118. Steht demnach mit dem Rechtsstaatsprinzip beziehungsweise Art. 19 Abs. 4 GG sowie den materiellen Grundrechten die verfassungsrechtliche Grundlage der Garantie effektiven Rechtsschutzes fest, bleibt der Inhalt des Prinzips zu klären. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter effektivem Rechtsschutz in einem rechtsstaatlichen Verfahren, daß grundsätzlich eine umfassende Sach- und Rechtsprüfung gewährleistet sein muß 119 . Resultat eines solchen Verfahrens soll eine verbindliche 120, nötigenfalls vollstreckbare, 121 Entscheidung sein. Es handelt sich dabei um Anforderungen, die Rechtsschutz aus Sicht der Rechtsunterworfenen verläßlich erscheinen lassen und demnach zugleich dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit 122 dienen. Schließlich ist neben den genannten inhaltlichen auch eine zeitliche Komponente zu beachten. Gerichtliche Entscheidungen müssen innerhalb eines angemessenen Zeitraumes ergehen123. Offenbart bereits diese vielschichtige Definition die Schwierigkeiten einer trennscharfen Subsumtion, so wird sich im folgenden zeigen, daß die Weite des Rechtsstaatsprinzips, mit seinen teils gegenläufigen Interessen124, es kaum ermöglicht, eindeutige Konturen zu entwickeln, anhand derer überprüft werden könnte, ob der Gesetzgeber durch eine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG tatsächlich die Effektivität des Rechtsschutzes zu fördern in der Lage ist. Eine solche Gegenläufigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien besteht bereits hinsichtlich der im Mittelpunkt der Diskussion stehenden Gegenpole, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einerseits und Effektivität des Rechtsschutzes andererseits. Denn auch das Recht auf den gesetzlichen Richter wird als spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsgebotes verstanden125. Die Verschiedenartigkeit und teils unterschiedliche Zielrichtung sei117
Zur allgemeinen rechtsstaatlichen Verankerung siehe BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 88,118 (123 f.); 91,176 (181) sowie Dütz, Gerichtsschutz, S.95ff. und Hummer, Justizgewährung, S. 46 ff. 118 BVerfGE 24, 367 (401); 45, 297 (322); 52, 380 (389); 89, 340 (342). 119 BVerfGE 54, 277 (291); 84, 366 (369); 85, 337 (345); BVerfG EuGRZ 1995, 76 ff. 120 BVerfGE 54,277 (291); 85,337 (345); 88,118 (124) und im speziellen hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 60, 253 (269 f.). 121 Siehe Sachs, in: Sachs, Art. 20 GG Rn. 111. 122 Dazu nur Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 390 und 396 ff. 123 BVerfGE 60, 253 (269); 88, 118 (124). Siehe außerdem EGMR NJW 1997, 2809ff. sowie EGMR NJW 1998, 2961, EuGRZ 1997, 31 Off. zur Frage, wann eine Verfahrensdauer vor einem Verfassungsgericht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstößt. 124 Zu den Einzelgehalten und deren Verhältnis zueinander siehe Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 15f., 122f., 130ff.; Sobota, Rechtsstaat, S. 19ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII Rn. 21ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 781ff. und Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, Band I, § 24 Rn. 2ff. und 69 ff. 125 Siehe nur BVerfGE 27,355 (362); 82,159 (194) und Sachs, in: Sachs, Art. 20 GG Rn. 52. 7 Roth
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ner Elemente126 führt dazu, daß die unterschiedlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips nicht jeweils optimal zur Geltung gebracht werden können. Dem Gesetzgeber kann von der Verfassung insoweit kein klar umrissenes Handlungsprogramm vorgegeben werden. Das Problem, den verfassungsrechtlichen Inhalt eines rechtsstaatlichen, effektiven Rechtsschutzes im Sinne klarer Handlungsvorgaben an den Gesetzgeber zu bestimmen, ist allerdings nicht allein durch die fehlende Kompatibilität der verschiedenen Elemente des Rechtsstaatsprinzips bedingt. Die Schwierigkeiten werden durch den Umstand verschärft, daß der Begriff der Effektivität selbst ein relativer Begriff ist 127 und insofern unterschiedlichen Deutungen Raum bietet. Hinzu kommt, daß nicht nur die Elemente des Rechtsstaatsgebotes, sondern auch die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Einzelmerkmale des Prinzips effektiven Rechtsschutzes einen sich teilweise widersprechenden Gehalt aufweisen. So kann etwa eine schnelle gerichtliche Entscheidung zu Lasten einer umfangreichen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung gehen und umgekehrt. Effektiver Rechtsschutz erschöpft sich demnach nicht in quantitativen Höchstleistungen. Die Geschwindigkeit von Entscheidungen soll vielmehr nicht zu Lasten der Qualität der Rechtsprechung gehen. Schließlich trägt zur Undurchsichtigkeit der Situation bei, daß das Beschleunigungsgebot nicht nur dem Effektivitätsgedanken zugerechnet, sondern zugleich als Merkmal der Rechtssicherheit angesehen wird. Die Gewährleistung von Rechtssicherheit128 wird wiederum als Element des Rechtsstaatsprinzips verstanden, das neben das Effektivitätsgebot tritt. Diese Gemengelage unterschiedlicher, nicht in jedem Fall kompatibler Einzelgehalte, die auch als „Janusköpfigkeit des Rechtsstaatsprinzips'4 bezeichnet wird 129 , sowie die sich teilweise widersprechenden Einzelausprägungen des Gebotes effektiven Rechtsschutzes führen zwangsläufig dazu, den Prinzipien keine eindeutig und unverrückbar feststehenden Anweisungen an den Gesetzgeber zu entnehmen. Sie wirken vielmehr im Sinne miteinander teilweise konkurrierender, variabler Zielvorgaben. Eine hinreichend praktikable Rangfolge der verschiedenen Einzelgehalte des Rechtsstaatsprinzips besteht demnach nicht. Unter diesen Umständen liegt die Gefahr einer Hinwendung zu Zweckmäßigkeitserwägungen nahe, um im Einzelfall dennoch einem bestimmten Element zu Lasten eines anderen zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Gefahr wird auch im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den Gesetzgeber deutlich130, wo es nicht selten vor126 Siehe Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 278ff. und Sobota, Rechtsstaat, S. 19ff. zum diffusen Gesamtgehalt des Prinzips und zu Definitionsversuchen. 127 Siehe Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.442, der darauf hinweist, daß Effektivität maßgeblich vom Einzelfall, insbesondere den im Spiel befindlichen Grundrechten abhängig ist. 128 Dazu nur Sachs, in: Sachs, Art. 20 GG Rn. 75 ff. 129 Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 278ff.; siehe auch Limbach, in: FS Posser, S. 321 (328). 130 Siehe die Ausführungen zu den einzelnen Gesetzen unter dem Gliederungspunkt §4 Α. II., S. 107 ff.
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kommt, daß Einflußnahmemöglichkeiten auf die richterliche Zuständigkeit mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet werden, ohne daß hinreichend deutlich würde, ob das Gebot effektiven Rechtsschutzes im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip als Grundlage einer solchen Argumentation angesehen wird. Da das Rechtsstaatsprinzip einschließlich des Gebotes effektiven Rechtsschutzes den beschriebenen Mangel an klaren Konturen aufweist, wird der Legislative bei der Verwirklichung der einzelnen Gehalte folgerichtig ein Einschätzungsfreiraum zugestanden, der lediglich im Gebot angemessener Gewichtung der unterschiedlichen Belange seine verfassungsrechtliche Grenze erfährt. In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes heißt es dazu in aller Deutlichkeit: „Das Rechtsstaatsprinzip gibt nicht im einzelnen vor, wie der Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung einerseits und dem subjektiven Interesse des Rechtssuchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz andererseits zu lösen ist. Es ist Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Verfahrens die einander widerstreitenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen In sachlicher Hinsicht muß der Gesetzgeber dabei allerdings, wie ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, die betroffenen Belange angemessen gewichten"131.
Was bedeuten diese Aussagen über den Entscheidungsspielraum der Legislative für die Frage der Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den Gesetzgeber zur Förderung des Prinzips effektiven Rechtsschutzes? Dem Gesetzgeber kommt eine Einschätzungsprägorative bei der Beantwortung der Frage zu, ob eine Kollision zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters und dem Gebot wirksamen Rechtsschutzes besteht, ob also gesetzlich vorgesehene Einflußmöglichkeiten auf die richterliche Zuständigkeitsordnung tatsächlich die Wirksamkeit des Rechtsschutzes fördern. Lediglich offensichtlich ungeeignete Regelungen erfüllen diese Anforderungen nicht. Bewegt sich der Gesetzgeber innerhalb des vorgegebenen Rahmens, kann eine Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter nicht schon mit der Einschätzung für verfassungsrechtlich unzulässig erklärt werden, die ungenaue Bestimmung richterlicher Zuständigkeit sei ungeeignet, den Effizienzgedanken zu fördern. Gleiches gilt für die Frage der Vermeidbarkeit einer solchen Kollision. Die Entscheidung des Gesetzgebers muß auf dieser Grundlage akzeptiert und zur Basis der sich anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung gemacht werden. Vor diesem Hintergrund wird der Gesetzgeber in der Regel davon ausgehen dürfen, daß solche Normen, die es der Exekutive oder den Gerichten ermöglichen, von Fall zu Fall auf die richterliche Zuständigkeit einzuwirken, geeignet sind, die Effektivität des Rechtsschutzes zu fördern 132. Regelmäßig wird es darum gehen, die Ver131
BVerfGE 88, 118 (124f.). Dogmatisch betrachtet ist allerdings zu beachten, daß das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes nur in seiner objektivrechtlichen Ausprägung zur Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Frage kommt. Nicht zulässig wäre es im Falle von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hinsichtlich der Verfahrensbeteiligten, denen subjektivrechtlich sowohl ein Recht auf den ge132
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fahren zu beschleunigen, etwa durch die Verbindung und Trennung von Rechtssachen 1 3 3 beziehungsweise die Übertragung von Entscheidungszuständigkeiten auf den Einzelrichter eines Spruchkörpers 134 . b) Prinzip der Verhältnismäßigkeit
als Schranken-Schranke
Beschränkungen des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den Gesetzgeber unterliegen ihrerseits verfassungsrechtlichen Grenzen, die eine zu weitgehende Beeinträchtigung verhindern und jenseits derer Beeinträchtigungen des Prinzips des gesetzlichen Richters verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind. Die weitgehende dogmatische Parallelisierung des Prozeßgrundrechts Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit den materiellen Grundrechten sowie die gleichermaßen bestehende Zielsetzung der Sicherung der Grundrechte vor dem Zugriff des Gesetzgebers hat zur Folge, daß die Schranken-Schranken, die für die materiellen Grundrechte gelten, auch hinsichtlich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter Anwendung finden 135. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Es stellt die zentrale verfassungsrechtliche Schranke von Grundrechtsbeeinträchtigungen dar und ist das maßgebliche verfassungsrechtliche Instrumentarium,
setzlichen Richter als auch auf effektiven Rechtsschutz zusteht, beide Grundrechtspositionen gegeneinander auszuspielen. 133 Siehe unter §4 A.II. l.a)cc), S. 128ff. bzw. §4 A.II.2.b), S. 160ff. 134 Siehe unter § 4 Α. II. 2. c) aa), S. 164ff. 135 Zur Anwendung der Schranken-Schranken auf die grundrechtsgleichen Rechte siehe die nicht immer einheitliche Rechtsprechung des BVerfGE 2,121 f., wohl zustimmend zur Anwendung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG auf Art. 104 Abs. 1,2 GG; BVerfGE 3, 248 (252f.), zustimmend zur Anwendung von Art. 19 Abs. 1,2 auf Art. 103 Abs. 3 GG; BVerfGE 3,359 (363); 12,6 (8), zur Anwendung von Art. 19 Abs. 3 GG auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 GG; BVerfGE 21, 362 (373), eher ablehnend zur Anwendung von Art. 19 GG auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 GG. Allgemein zustimmend Menger; in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 1 GG Rn. 75; Stern, Staatsrecht III/2, S.727f.; ders., in: FS Ule, 359 (371 f.); Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 1 GG Rn. 15; Denninger, in: Alternativkommentar, Art. 19 Abs. 1 GG Rn.4ff.; Krüger, in: Sachs, Art. 19 GG Rn. 12; Neubauer, Begründung, S.43. Art. 19 Abs. 1 GG spielt dabei praktisch keine Rolle, da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorbehaltlos gewährleistet wird, vom Regelungsbereich des Art. 19 Abs. 1 GG daher nicht umfaßt wird, siehe Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 1 GG Rn. 15; Dreier, in: Dreier, Art. 191 GG Rn. 11 mit Anmerkung 30. Über die sogenannte Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG dürften dem verfassungsändernden Gesetzgeber in bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wohl enge Grenzen gezogen sein, da das Recht auf den gesetzlichen Richter ein unverzichtbarer Grundsatz des dem Rechtsstaatsprinzip zugehörigen Prinzips gerichüichen Rechtsschutzes ist, siehe dazu Stern, StaatsrechtIII/2, S. 1123ff., insbesondere S. 1125; Evers, in: Bonner Kommentar, Art. 79 Abs. 3 GG Rn. 204; Lücke, in: Sachs, Art. 79 GG Rn. 32. Zu diesem Ergebnis gelangt man wohl auch unter Zugrundelegung der Ansichten, die die Existenz personell und sachlich unabhängiger Gerichte für unantastbar halten, sofern man die Gehalte von Art. 92 und 97 GG zugleich mit der herrschenden Meinung in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert sieht, siehs Maunz/Dürig, in: Maunz/ Dürig, Art. 79 Abs. 3 GG Rn. 48; Bryde, in: von Münch/Kunig, Art. 79 GG Rn. 43.
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um Konfliktlösungen bei Güterkollisionen im grundrechtlichen Bereich herbeizuführen 136. Projeziert man die Prüfungssystematik des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie sie vom Bundesverfassungsgericht entwickelt137 und von der Literatur inhaltlich übernommen wurde 138 , auf Beschränkungen des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, so sind an eine verfassungsrechtlich gerechtfertigte Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs durch den Gesetzgeber folgende Anforderungen zu stellen: (1) Gesetze, die das Recht auf den gesetzlichen Richter beschränken, müssen das Ziel verfolgen, andere Grundrechte oder sonstige mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kollidierende Verfassungsgüter zu fördern 139. (2) Die Beeinträchtigung muß geeignet sein, das Ziel der gesetzlichen Regelung zu erreichen, nämlich die Förderung beziehungsweise Verwirklichung des zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Widerspruch stehenden Verfassungsgutes. Da die Beurteilung der Geeignetheit zu einem großen Teil von Prognosen abhängt, kommt der politische Gestaltungsfreiraum des parlamentarischen Gesetzgebers zum tragen 140. Je komplexer, vielschichtiger und unüberschaubarer die zu beurteilenden Verhältnisse sich darstellen, umso weitreichender ist ein Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers anzuerkennen, mit dem eine Zurücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrollintensität korrespondiert 141. Die Geeignetheit ist demnach zu bejahen, solange 136
Siehe dazu BVerfGE 30, 292 (316f.); 34, 238 (245); 41, 29 (51); 67, 157 (173); 81, 278 (292); 83, 130 (143) und Hesse, Grundzüge, Rn. 72, 317f. zur „praktischen Konkordanz" der widerstreitenden Interessen. Ausführlich zum Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei Grundrechtsbeeinträchtigung Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot; Stern, Staatsrecht III/2, S. 625 ff., 656f., 775 ff.; Huster, Rechte, S. 67 ff.; Schnapp, JuS 1983,850ff.; zur Struktur der Abwägung von Grundrechten allgemein neuerdings Jansen, Der Staat 1997,27 ff. Kritisch zu einer zu weitreichenden Anwendung des Abwägungsgebotes etwa Leisner, Abwägungsstaat; ders., NJW 1997, 636ff.; dazu wiederum Gassner, NJW 1998, 119f. Zu den historischen Ursprüngen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht und der Übernahme des Prinzips in das Recht der Europäischen Gemeinschaften beziehungsweise Entwicklungen im französischen und englischen Recht siehe außerdem die Dissertation von Heinsohn, Verhältnismäßigkeit. 137 Siehe nur BVerfGE 30, 292 (316); 37, 1 (21 ff.); 39, 210 (230f.); 51, 193 (208); 67, 157 (173); 81, 156 (189), wo die drei Elemente des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, nämlich die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne mehr oder weniger deutlich angesprochen werden. 138 Siehe etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 269ff., 279ff.; Manssen, Staatsrecht, Rn. 619ff.; Ipsen, Staatsrecht, Rn. 169ff.; Stein, Staatsrecht, S.238ff. 139 Zur Kontrolle der verfassungsrechtlichen Legitimität von Ziel und Maßnahme des Gesetzgebers, die häufig als Unterpunkt der Geeignetheitsprüfung aufgefaßt wird siehe Stern, Staatsrecht III/2, S. III und Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 279ff., 346. 140 Zum Prognosespielraum des Gesetzgebers im Rahmen der Beurteilung der Geeignetheit einer Maßnahme und der daraus resultierenden eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz siehe nur BVerfGE 25,1 (13); 39, 210 (230); 47, 89 (131); 76, 220 (240); 83, 1 (22) und Stern,, Staatsrecht III/2, S. 777ff. 141 Siehe BVerfGE 36, 1 (17); 50, 290 (335); 77, 84 (107); 86, 90 (109).
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nicht nachgewiesen wird, daß eine Förderung des Zieles der Grundrechtsbegrenzung offensichtlich nicht zu erreichen ist. Diese Umkehr der Begründungslast, mit der die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hinsichtlich einer Eignung der Maßnahmen einhergeht, bedarf allerdings einer Abstufung mit Blick auf die Bedeutung des betroffenen Rechtsgutes und die Intensität der jeweiligen Grundrechtsbeeinträchtigung 142 . Je gravierender danach die Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter ausfällt, umso enger wird der Einschätzungsspielraum der Legislative hinsichtlich der Geeignetheit der gewählten Mittel und umso intensiver muß die Eignung der gesetzgeberischen Maßnahme auf den Prüfstand gestellt werden. (3) Der Gesetzgeber darf sein Ziel darüber hinaus nicht mit weniger belastenden aber gleich geeigneten Maßnahmen erreichen können. Die Begrenzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG muß demnach erforderlich (notwendig) sein. Der auf diese Weise umschriebene Grundsatz des mildesten Mittels beinhaltet die beim Merkmal der Geeignetheit bereits erwähnte Schwierigkeit, die Eignung verschiedener, miteinander zu vergleichender Mittel zu prognostizieren. Darüber hinaus hängt die Beurteilung der Intensität unterschiedlicher Maßnahmen wesentlich von der Wahl der Kriterien zur Bestimmung der Stärke eines Eingriffs ab. Dies hat zur Folge, daß auch die Prüfung der Erforderlichkeit häufig auf eine Evidenzkontrolle reduziert ist. Nur wenn demnach eindeutig feststeht, daß eine gleich geeignete, jedoch weniger belastende Maßnahme möglich ist, kann das vom Gesetzgeber gewählte Mittel als nicht erforderlich qualifiziert werden 143. (4) Schließlich muß eine Abwägung der kollidierenden Interessen unter Berücksichtigung der Ziele des Gesetzgebers vorgenommen werden. Am Ende dieser - meist zentralen - Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Zumutbarkeit, Angemessenheit, Proportionalität) 144 muß das Ergebnis stehen, daß die Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, gemessen an dem durch die gesetzliche Regelung zu erzielenden Nutzen, hinnehmbar erscheint.
4. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Vorbehalt des formellen Gesetzes Mit der auf den Seiten zuvor unterbreiteten Darlegung, welchen Anforderungen der Gesetzgeber bei der Bestimmung richterlicher Zuständigkeit unterliegt und wie Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, scheint die Dogmatik der leistungsrechtlichen Dimension der Verfassungsbestimmung abgeschlossen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Ausgestaltungspflicht der Legislative um ein Merkmal erwei-
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Siehe BVerfGE 73,40 (92). Siehe BVerfGE 17, 232 (244f.); 25, 1 (19f.); 49, 24 (58). Dazu BVerfGE 9, 338 (345); 15, 226 (234); 30, 292 (316); 55, 159 (165); 71, 183 (197); 83, 1 (19f.). 143
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tert, dessen Einbindung in den grundrechtsdogmatischen Kontext Schwierigkeiten bereitet. Da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine gesetzlich geregelte Zuständigkeitsordnung verlangt, könnte man annehmen, daß sowohl formelle Gesetze, also Parlamentsgesetze, als auch materielle Gesetze, nämlich Rechtsverordnungen, in jeder Hinsicht diesen Anforderungen genügen. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Annahme allerdings nicht gefolgt. Vielmehr entnimmt das Gericht, mit Parallelen zur nicht unumstrittenen sogenannten Wesentlichkeitslehre 145, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unmittelbar einen Vorbehalt des Parlamentsgesetzes, dessen Wirkkraft in zwei Richtungen ausstrahlt. a) Vorbehalt des formellen Gesetzes im Verhältnis zur Geschäftsverteilung der Gerichte Zunächst wird das Verhältnis des Parlamentsgesetzgebers zur richterlichen Selbstverwaltung betont, deren Geschäftsverteilungspläne eine einfachgesetzliche Regelungen ergänzen. Im Gesamtregelungssystem aus formellen Gesetzen und Geschäftsverteilungsplänen, so das Gericht, seien die fundamentalen Zuständigkeitsbestimmungen durch formelles Gesetz vorzunehmen und dürften demzufolge nicht den Gerichten überlassen bleiben146. Es ist jedoch zweifelhaft, ob es insofern notwendig ist, den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG um einen Vorbehalt des Parlamentsgesetzes zu erweitern. Eine Grenzziehung zwischen den Bereichen, die durch formelles Gesetz zu regeln sind und solchen, die einer Festlegung durch die Gerichte zugänglich sind, ergibt sich ohnehin aus der Natur der Sache. Bis hinunter zur Ebene der sachlichen, örtlichen und instanziellen Zuständigkeit muß die Regelung durch Gesetz erfolgen 147 . Die Verteilung der Aufgaben auf die zuständigen Spruchkörper und die Aufgabenzuteilung innerhalb der Spruchkörper wiederum ist nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen in den §§ 21 e ff. GVG Aufgabe der Gerichtspräsidien beziehungsweise der Spruchkörpervorsitzenden. Solche Regelungen unterliegen im übrigen den gleichen Genauigkeitsanforderungen wie Gesetze zur Normierung richterli145 Danach ist der Gesetzgeber gehalten, in grundlegenden normativen Bereichen, vor allem im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, sofern sie einer staatlichen Regelung zugänglich sind, siehe BVerfGE 34, 165 (192 f.); 41, 251 (259); 47, 46 (78); 49, 89 (126); 58, 257 (268); 61, 260 (275); 77, 170 (230f.); 83, 130 (142). Zur Kritik der Literatur an einer fehlenden verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Basis sowie an der dogmatischen Unschärfe siehe nur Ramsauer, in: Alternativkommentar, Art. 80 GG Rn. 27 ff. mit umfassenden Nachweisen in den Anmerkungen 69ff.; Bryde, in: von Münch/Kunig, Art. 80 GG Rn. 4, 21 ff. 146 BVerfGE 19,52(60); siehe auch BVerfG NVwZ 1993,1079 (1080) zur Geschäftsordnung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. 147 Zur soweit ersichtlich einzigen Ausnahme, § 140 a Abs. 2 GVG, siehe die Ausführungen unter Gliederungspunkt §4 A.II.4., S. 179ff.
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eher Zuständigkeit148. Weder wäre die Regelung sachlicher Zuständigkeiten durch Geschäftsverteilungsplan zulässig, noch eine gerichtsinterne, gar eine spruchkörperinterne Geschäftsverteilung durch Gesetz sinnvoll und praktikabel. Den Gesetzgeber würden solche Detailregelungen hinsichtlich aller Gerichte seines Zuständigkeitsbereichs überfordern 149. Die soeben beschriebene Grenze zwischen gesetzlicher und gerichtsoiganisatorischer Zuständigkeitsbestimmung läßt sich darüber hinaus im Bestimmtheitsgebot von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verorten. Richterliche Zuständigkeitsbestimmungen, die einer Festlegung durch Gesetz zugänglich sind und dennoch der Gerichtsverwaltung zur Regelung übertragen werden, erfüllen nicht die Genauigkeitsanforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, wonach die Zuständigkeit der zur Entscheidung berufenen Richter so genau wie möglich durch Gesetz (!) zu regeln ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es entbehrlich, den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG um einen Vorbehalt des formellen Gesetzes zu erweitern. b) Vorbehalt des formellen Gesetzes im Verhältnis zur Exekutive Auch das Verhältnis des Gesetzgebers zur Exekutive ist nach dem Bundesverfassungsgericht dadurch gekennzeichnet, daß die grundlegenden Bestimmungen in einem Parlamentsgesetz enthalten sein müssen150. Verwaltungsvorschriften genügen daher in keinem Fall den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Nach Ansicht des Gerichts bleiben dem Gesetzgeber die Errichtung der Gerichte sowie die Bestimmung der Gerichtsbezirke vorbehalten. Solche Organisationsakte ermöglichten den Zugriff auf die persönliche Unabhängigkeit der Richter, da diese gemäß Art. 97 Abs. 2 Satz 3 GG in einem solchen Fall gegen ihren Willen versetzt oder aus dem Amt entfernt werden könnten. Die elementare Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für das Staatswesen lasse deutlich werden, daß eine solche Bestimmung wesensmäßig dem Parlament, als demokratisch am stärksten legitimiertem Verfassungsorgan, vorbehal-
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Dazu eingehend unter § 4 A. III., S. 182ff. Zu diesen praktischen Erwägungen siehe Kissel , § 21 a GVG Rn. 2. Zur ergänzenden Funktion der Geschäftsverteilungspläne siehe BVerfGE 19, 52 (60); 31, 47 (54); 48, 246 (254). '50 Siehe BVerfGE 2,307 (319ff.); 24,155 (165 f.); 27,18 (34f.); BVerfG NVwZ 1993,1079 149
(1080).
Zustimmend Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 23; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn.4; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1061; Gloria, DÖV 1988,849 (852); Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 6a; Marx, Richter, S. 7ff.; Funk, Der Sozialrichter 1972, 1 (4); Reichl, Richter, S. 57; offengelassen bei Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 25. Abweichender Ansicht sind hingegen Bettermann, AöR 1969, 263 (289ff.); ders., in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (545 ff., vor allem S. 561), der jede gesetzliche Regelung für ausreichend erachtet sowie Henkel, Richter, S. 8,21 ; ebenso wohl Scupin, Richter, S. 41. Auch hinsichtlich Art. 105 WRV wurde der Begriff des Gesetzes generell im materiellen Sinne verstanden, siehe Kern, in: Anschütz/Thoma, S.492, ders., Richter, S. 160, 166, 177f.
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ten sei . Demgegenüber könnten Einzelfragen, die sachlich eher dem Kompetenzbereich der Exekutive zuzurechnen seien, der vollziehenden Gewalt übertragen werden. Dies treffe etwa auf die Konzentration örtlicher Zuständigkeit für spezifische Sachbereiche bei einem von mehreren gleichgeordneten Gerichten 152 zu. Zu diesen Einzelfragen rechnet das Gericht auch die Errichtung gemeinsamer Amtsgerichte oder Schöffen- und Jugendschöffengerichte für mehrere Bezirke und zur Entscheidung einzelner Fragen in Abweichung von der allgemeinen, umfassenden Zuständigkeit 153 . Diese erweiterte Auslegung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter versteht sich allerdings nicht von selbst. Zweifel sind in zweierlei Hinsicht angebracht. Sie betreffen einerseits den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wurzeln aber auch im Verhältnis des Rechtes auf den gesetzlichen Richter zu Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG, der Verfassungsnorm über die Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen auf die Exekutive. Zunächst zum Gewährleistungsbereich der Verfassungsnorm. Wenn durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erreicht werden soll, daß die richterliche Zuständigkeit rechtssatzmäßig, also abstrakt-generell festgelegt ist, um zu verhindern, daß Richter von Fall zu Fall für zuständig erklärt werden, so erfüllt auch eine Rechtsverordnung diesen Zweck. Rechtsverordnungen unterscheiden sich, was die Bindungswirkung der normanwendenden Organe und die Möglichkeiten der Präzisierung des zu regelnden Sachverhaltes angeht, nicht von formellen Gesetzen. Warum sollte man, gemessen am Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, den Gesetzgeber auch hinsichtlich der Wahl der Regelungsinstrumentarien - eigene Normierung in einem Parlamentsgesetz oder Delegation der Normsetzungsbefugnis an die Exekutive - einengen? Ansatzpunkt könnten die unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren für Parlamentsgesetze beziehungsweise Rechtsverordnungen sein. In den Verfahrensregelungen werden unterschiedliche Hürden für den Erlaß und die Änderung bestehender Regelungen aufgestellt, was wiederum auf die Möglichkeit einer Manipulation der richterlichen Zuständigkeitsordnung von Einfluß sein könnte154. Die Bestimmungen über das Parlamentsgesetzgebungsverfahren, Art. 76 ff. GG, sehen ein vergleichsweise langwieriges, vielschichtiges Prozedere unter Beteiligung von Bundestag und Bundesrat vor, die oft politisch gegenläufige Interessen verfolgen. Hinzu kommt, daß parlamentarische Gesetzgebungsverfahren weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden und in diesem Zusammenhang auch tat151
Siehe BVerfGE 2, 307 (319f.); 27, 18 (34f.). BVerfGE 27, 18 (34ff.); siehe auch BVerfGE 24, 155 (167) zu § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG i. V. m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, § 26 Abs. 1 Satz 1 StVG. 153 BVerfGE 24, 155 (166f.) zu § 58 Abs. 1 Satz 1 GVG und § 33 Abs. 4 Satz 1 JGG (heute § 33 Abs. 3 Satz 1 JGG) i. V. m. § 24 GVG und § 1 des Gesetzes über Rechtsverordnungen im Bereich der Gerichtsbarkeit vom 01.07.1960. 154 Dieser Begründungsansatz findet sich bei Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 303. 152
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sächlich der Beobachtung vor allem durch die Medien unterliegen. Die Gefahr einer Manipulation richterlicher Zuständigkeiten durch Parlamentsgesetze wird, so könnte man argumentieren, durch die beschriebenen Verfahrenshürden minimiert. Demgegenüber unterliegt die Exekutive bei Erlaß und Änderung von Rechtsverordnungen keinerlei vergleichbaren Anforderungen, sieht man von den Zustimmungserfordernissen gemäß Art. 80 Abs. 2 GG ab. Das Verfahren im übrigen ergibt sich aus den Geschäftsordnungen der Bundes- und Landesregierungen beziehungsweise der Ministerien 155. Danach können Rechtsverordnungen jederzeit durch die Exekutive erlassen oder geändert werden, ohne daß ein dem parlamentarischen Gesetzgebungsprozeß annähernd vergleichbares, öffentlichkeitswirksames Verfahren eingehalten werden muß. Ein Verfahren zum Erlaß oder zur Änderung von Rechtsverordnungen, das sich weitgehend verwaltungsintern abspielt, könnte der Exekutive in größerem Umfange Möglichkeiten bieten, richterliche Zuständigkeiten, etwa durch Veränderung der Grenzen von Gerichtsbezirken, zu manipulieren. Allerdings wird man die Gefahr einer solchen Einflußnahme als sehr gering einschätzen müssen. Auch Rechtsverordnungen werden öffentlich bekanntgemacht. Darüber hinaus würde eine solch offenkundige Mißachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben kaum durch das dichte Netz der Printmedien und Fernsehanstalten fallen und auch der politischen Opposition in den Landtagen oder dem Bundestag nicht entgehen. Der daraus resultierende öffentliche und politische Druck würde eine solche Maßnahme wohl schon im Ansatz zum Scheitern verurteilen. Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist es daher nicht zwingend, einen Vorbehalt des formellen Gesetzes in den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufzunehmen. Ungeachtet der Frage, ob eine Rechtssetzungsdelegation tatsächlich zu nennenswerten Gefährdungen für das Prinzip des gesetzlichen Richters führen kann, erscheint es ohnehin sachgerecht, Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG als verfassungsrechtliche Maßstabsnorm für die beschriebene Problematik anzusehen. Die Bestimmung regelt die Voraussetzungen, unter denen die Legislative Rechtssetzungbefugnisse auf die Exekutive delegieren darf 5 6 . In die Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung fließen daher auch Gesichtspunkte ein, die den sachlichen und rechtlichen Hintergrund des Gegenstandes betreffen, dessen - weitergehende - Normierung der Exekutive übertragen wird. Vor diesem Hintergrund sollte die Frage, ob eine Übertragung von Regelungsbefugnissen an die Exekutive im Bereich der richterlichen Zuständigkeit zu erhöhten Manipulationsgefahren führt, nicht unmittelbar im Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verortet werden und im Sinne einer anspruchsbegründenden Grundrechtsgewährleistung verstanden werden, sondern le-
155 Siehe etwa § § 15 ff. der Geschäftsordnung der Bundesregierung und §§ 9 ff. der Geschäftsordnung der Landesregierung Nordrhein-Westfalens. 156 Dazu etwa Bryde, in: von Münch/Kunig, Art. 80 GG Rn. 1 ff.
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diglich als verfassungsrechtlich relevanter Gesichtspunkt in die Auslegung von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG einfließen. Die Konsequenz des aufgezeigten Weges ist, daß die Problematik der Manipulationsgefahren die Anwendung von Art. 80 Abs. 1 GG 1 5 7 beziehungsweise der entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen 158 im Sinne einer Vorwirkung prägt. Nur im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Leitlinien einer Grenze der Übertragung einer Regelungsbefugnis an die Exekutive ist danach eine Delegation der Rechtssetzungsbefugnis an den Verordnungsgeber zulässig. Sofern man im Zuge der Delegation erhöhte Risiken einer Manipulation der richterlichen Zuständigkeit annimmt, führt die Berücksichtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter im Rahmen der Auslegung von Art. 80 Abs. 1 außerdem zu hohen Anforderung an die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage 159. Je gravierender danach die Auswirkungen einer Rechtssetzungsdelegation auf das Prinzip des gesetzlichen Richters einzuschätzen sind, umso bestimmter muß die parlamentsgesetzliche Delegationsnorm formuliert sein.
II. Systematisierung und Bewertung von Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs durch den Gesetzgeber Die Ausführungen auf den zurückliegenden Seiten galten dem dogmatischen Hintergrund von Inhalt und Grenzen der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Danach ist die Legislative verpflichtet, die richterliche Zuständigkeit so eindeutig wie möglich durch Gesetz zu regeln. Darauf aufbauend wurde verdeutlicht, daß ungenaue gesetzliche Zuständigkeitsnormierungen eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen. Solche Beeinträchtigungen sind verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn sie der Förderung anderer Grundrechtspositionen sowie sonstigen, in der Verfassung normierten Gütern dienen und die Grenzen des Prinzips der Verhältnismäßigkeit wahren. Anhand dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe soll nunmehr untersucht werden, welche der bestehenden Zuständigkeitsregelungen Beeinträchtigungen des Gewähr157 Zum weithin ungeklärten Verhältnis zwischen Parlaments vorbehält im Sinne der Wesentlichkeitslehre und den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG siehe aus neuerer Zeit Cremen AöR 1997, 248 (260ff.) und Nierhaus, in: FS Stem, S. 717 ff. 158 Art. 61 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 47 der Verfassung von Berlin; Art. 118 der Verfassung des Landes Hessen; Art. 57 der Verfassung des Landes Mecklenburg-^Vorpommern; Art. 70 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen; Art. 110 der Verfassung für Rheinland-Pfalz; Art. 75 der Verfassung des Freistaates Sachsen. 159 Zu diesen, das Bestimmtheitserfordernis des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ergänzenden Kriterien siehe nur BVerfGE 58,257 (277 f.); 62,203 (210); BVerwGE 68,69 (72); 89,121 (131 f.) und Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 24, der insoweit zusätzlich Art. 97 GG zur Begründung heranzieht.
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leistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen und welche dieser Beeinträchtigungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sind. Die im Gerichtsverfassungsrecht und den unterschiedlichen Prozeßordnungen enthaltenen Gesetze lassen sich in einem ersten Zugriff nach den vorrangigen Normadressaten160 unterscheiden. Dies ergibt eine Aufteilung in einerseits Bestimmungen, die es - in erster Linie - der Exekutive, einschließlich der Staatsanwaltschaft, ermöglichen, auf die richterliche Zuständigkeit einzuwirken (dazu 1.). Andererseits lassen sich Normen herausfiltern, die der Judikative Freiräume zur Festlegung des zuständigen Gerichts oder Richters bieten (dazu 2.). Sodann wird mit § 35 ZPO eine Vorschrift in den Mittelpunkt gerückt, die nicht an eine bestimmte hoheitliche Gewalt gerichtet ist, sondern allgemein dem Kläger im Zivilprozeß gestattet, den Gerichtsstand zu wählen (dazu 3.). In § 140a Abs. 2 GVG wird die Festlegung der örtlichen Zuständigkeit der Gerichte im Wiederaufnahmeverfahren in Strafsachen dem Präsidium des Oberlandesgerichts übertragen. Wie diese untypische Kompetenzübertragung zu bewerten ist, wird in einem gesonderten Abschnitt beantwortet (dazu 4.).
1. Exekutive und Recht auf den gesetzlichen Richter Die Gesetze zur Regelung richterlicher Zuständigkeiten enthalten eine Reihe von Bestimmungen, die es der Exekutive ermöglichen, Einfluß auf das von Fall zu Fall zuständige Gericht beziehungsweise die von Fall zu Fall zuständigen Richter zu nehmen. Die weitaus größere Zahl der Vorschriften richtet sich an die Staatsanwaltschaft (dazu a)). Vereinzelte Normen sind an die übrigen Exekutivorgane adressiert (dazu b)). a) Staatsanwaltschaft
und bewegliche Zuständigkeiten
In den Normen, die das Strafverfahren konstituieren, namentlich das Gerichtsverfassungsgesetz, die Strafprozeßordnung und das Jugendgerichtsgesetz sowie im Ordnungswidrigkeitenrecht gibt es eine Anzahl von Regelungen, die eines gemeinsam haben: Sie räumen der Staatsanwaltschaft die Befugnis ein, zwischen mehreren sachlich oder örtlich zuständigen Gerichten zu wählen oder auf die personelle Besetzung des Gerichts Einfluß zu nehmen. Die Entscheidungsfreiheit ist dabei mehr oder weniger rechtlich gebunden. Die in diesen Gesetzen normierten richterlichen Zuständigkeiten stehen demnach nicht unverrückbar fest. Sie sind beweglich im Sinne einer Abhängigkeit von der Entscheidung der zuständigen Anklagebehörde zwischen verschiedenen Zuständigkeitsalternativen.
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Soweit sie eine Einflußnahme durch unterschiedliche staatliche Organe vorsehen, etwa durch die Staatsanwaltschaft oder die Gerichte, werden die Normen nur an der Stelle untersucht, die den Schwerpunkt der Einflußnahme auf die im Einzelfall zuständigen Gerichte bildet. Auf Gemeinsamkeiten von Vorschriften, die verschiedenen Gliederungspunkten untergeordnet sind, wird an geeigneter Stelle hingewiesen.
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Der Streit um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Vorschriften hat Tradition. Er wird seit Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität geführt 161 und erfährt seine maßgebliche Prägung durch zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen prozeßrechtliche Bestimmungen als mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar angesehen wurden 162. Der sich anschließenden Darstellung der Normen liegt eine gleichbleibende Struktur zugrunde. Die jeweils in Gruppen sachlich zusammengefaßten Gesetze werden in einem ersten Schritt in einem Maße erläutert und in den prozeßrechtlichen Kontext gestellt, wie es für die Beantwortung der an dieser Stelle relevanten Frage notwendig erscheint: In welchem Ausmaß ermöglichen die Gesetze die Beeinflussung richterlicher Zuständigkeiten im Einzelfall und mittels welcher rechtlicher Instrumentarien werden die Einflußmöglichkeiten bewirkt? Sogleich im Anschluß an den beschreibenden Teil werden die Vorschriften, die Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen, summarisch auf ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung hin untersucht. aa) Bewegliche sachliche Zuständigkeiten im Gerichtsverfassungsgesetz Die Palette der einschlägigen Normen im Gesetz über die Gerichtsverfassung ist breit. Die rechtlichen Instrumentarien, die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden, sind dabei unterschiedlicher Natur. Der weitaus größte Teil der Vorschriften enthält unbestimmte Rechtsbegriffe, über deren Auslegung die Anklagebehörde Einfluß auf die Zuständigkeitsbestimmung nimmt (dazu (1)). Eine kleinere Gruppe von Regeln knüpft die Frage, welches Gericht mit der Sache betraut wird, an die Prognose der Straferwartung durch die Staatsanwaltschaft (dazu (2)).
161 Zu den „beweglichen Zuständigkeiten" in der Strafprozeßordnung und dem Gerichtsverfassungsgesetz insgesamt siehe an dieser Stelle bereits Kern, Richter, S. 176f.; Menzel, Ausnahmegerichte, S. 105; Baader, Zuständigkeitsvorschriften, S. 90; Henkel, Richter, S. 23 ff.; Gottschalk, Richter, S. 39ff; Scupin, Richter, S. 81 ff.; Marx, Richter, S. 24f. und S. 97ff.; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (563 ff.); ders., AöR 1969, 263 (294ff.); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn.28ff. Aus neuerer Zeit sei hingewiesen auf Müller, Rechtsstaat, S. 127 ff.; Engelhardt, DRiZ 1982,418ff.; Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849ff; Herzog, StV 1993, 609ff. und Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, vor § 1 StPO Rn. 2; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 16 GVG Rn. 7 ff. 162 Siehe BVerfGE 9, 223 (227 ff.) aus dem Jahre 1959 zu § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG und BVerfGE 22, 254 (261) aus dem Jahre 1967 zu § 25 Nr. 3 GVG. Auf gleicher Linie BGHSt 9, 367 ff.; 13, 297 ff. und 21, 268 (271).
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(1 ) Steuerung der Zuständigkeitsentscheidung über die „besondere Bedeutung des Falles " und andere unbestimmte Rechtsbegriffe Einige Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes geben der Staatsanwaltschaft und dem Generalbundesanwalt Gelegenheit, über die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe auf die Zuständigkeit der Amtsgerichte, Landgerichte oder Oberlandesgerichte Einfluß zu nehmen. Die Normen können nach den unbestimmten Rechtsbegriffen, die sie beinhalten, in Gruppen aufgeteilt werden. (a) Besondere Bedeutung des Falles Die folgenden Vorschriften steuern die Zuständigkeitsentscheidung über die unbestimmten Rechtsbegriffe der besonderen Bedeutung des Falles oder über inhaltlich vergleichbare Umschreibungen: (1) §24 Abs. 1 Nr. 3 GVG in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 2 3. Alt. GVG 163 gibt der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, die Zuständigkeit der Amtsgerichte abzuwenden, indem sie Anklage bei der zuständigen Strafkammer des Landgerichts erhebt. (2) In §74 a Abs. 2 GVG in Verbindung mit § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1,2 und 3 GVG wird für den Generalbundesanwalt die Voraussetzung geschaffen, Strafsachen von der Landesstaatsanwaltschaft zu übernehmen und dadurch die Zuständigkeit des Staatsschutzsenates beim Oberlandesgericht herbeizuführen. (3) § 120 Abs. 2 Satz 2 GVG, § 142 a Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit Abs. 3 GVG sowie § 142 a Abs. 4 GVG 164 ermöglichen schließlich der Anklagebehörde des Bundes, im Falle von § 120 Abs. 2 Satz 2 GVG Strafsachen an die Staatsschutzkammer des Landgerichts oder das Amtsgericht und hinsichtlich der Regelung in § 142 a GVG an die Landesstaatsanwaltschaft abzugeben. Im Falle von § 142 a GVG wird die Zuständigkeit des Landgerichts durch die Abgabe an die Staatsanwaltschaft des Landes präjudiziert.
163 Zu diesen Vorschriften siehe die Erläuterungen bei Kissel , § 24 GVG Rn. 9 ff. und § 74 GVG Rn. 4; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 24 Rn. 13 ff. und § 74 Rn. 1 ff. Die Geschichte und Entwicklung der „beweglichen" Zuständigkeitsregelung für Amtsgerichte und Strafkammern, insbesondere die Entwicklung des § 24 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 bzw. § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG werden ausführlich nachgezeichnet von Kröger, Bedeutung, S. 20ff. und Baader, Zuständigkeitsvorschriften, S. 30 ff. 164 Zu diesen Vorschriften siehe die Kommentierungen von Kissel , § 74 a GVG Rn. 10 f. ; § 120 GVG Rn. 2ff.; § 142a GVG Rn. 2ff., vor allem Rn. 13; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 74a GVG Rn. 7 f.; Schäfer IH arms, in: Löwe/Rosenberg, § 120 GVG Rn. 6; Schäfer/Boll, in: Löwe/ Rosenberg, § 142 a Rn. 5 ff.; zu § 120 und § 142 a GVG siehe auch Kühl, NJW 1987,737 (746f.).
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(aa) Grundrechtsdogmatische Ausgangslage Allen Konstellationen ist gemeinsam, daß die Anklagebehörde von einer „besondere Bedeutung des Falles" ausgeht oder daß nach Meinung des Generalbundesanwalts eine besondere Bedeutung nicht mehr vorliegt und der Fall aus diesem Grunde an die Staatsanwaltschaft des Landes abgegeben wird. Lediglich im Falle von § 142 a Abs. 2 Nr. 2 GVG geht es auch um die Einschätzung anderer unbestimmter Rechtsbegriffe. Die Abgabe an die Landesstaatsanwaltschaft erfolgt nach dieser Norm in „Sachen von minderer Bedeutung". Die Abgabe unterbleibt hingegen, sofern eine der gesetzlichen Rückausnahmen greift, die Tat nämlich „in besonderem Maße die Interessen des Bundes berührt" (§ 142 a Abs. 3 Nr. 1 GVG) oder es „im Interesse der Rechtseinheit geboten ist, daß der Generalbundesanwalt die Tat verfolgt" (§ 142 a Abs. 3 Nr. 2 GVG). Mit den beschriebenen Gesetzen erfüllt der Gesetzgeber nicht das ihm von Verfassungs wegen abverlangte Höchstmaß an Genauigkeit. Die Normen erlauben der Anklagebehörde, von Fall zu Fall auf die Zuständigkeit der Gerichte einzuwirken. Nach der hier zugrundeliegenden Dogmatik stellen demnach alle aufgeführten Gesetze Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Dies gilt nicht nur für die Gesetze, die, wie § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG, ausdrücklich dasjenige Gericht bezeichnen, dessen Zuständigkeit die Staatsanwaltschaft herbeiführen kann, sondern auch für die Vorschriften, die lediglich die Abgabe an eine andere Anklagebehörde oder die Übernahme von einer anderen Staatsanwaltschaft ermöglichen. Vordergründig betrachtet handelt es sich bei diesen Gesetzen nur um die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Staatsanwaltschaften, nicht zwischen Gerichten. Insofern scheint der Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, der sich lediglich mit der Gesetzlichkeit der Richter und nicht der Anklagebehörden auseinandersetzt, nicht einschlägig zu sein. Bei einer solchen, verkürzten Betrachtungsweise würde jedoch außer acht gelassen, daß durch die Abgabe an eine andere Anklagebehörde die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts, bei dem die Anklage später erhoben werden kann, präjudiziert wird. Übernimmt der Generalbundesanwalt etwa Strafsachen von der Landesstaatsanwaltschaft gemäß § 74 a in Verbindung mit § 120 Abs. 2 Satz 1 GVG, so ändert sich im Falle einer Anklage des Generalbundesanwalts die Zuständigkeit des Gerichts. Nicht mehr das ursprünglich zuständige Landgericht gemäß § 74 a GVG, sondern das Oberlandesgericht ist zur Entscheidung berufen. Auch die Normen über die Abgabe und Übernahme von Fällen durch die Staatsanwaltschaft führen demnach, ohne unmittelbar die gerichtliche Zuständigkeit zu regeln, in der Konsequenz zu einer gesetzlichen Beweglichkeit richterlicher Zuständigkeiten. Auch sie beeinträchtigen daher den Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter.
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(bb) Kritik am Rechtfertigungskonzept des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht 165 räumt zwar hinsichtlich § 24 Abs. 1 Nr. 3 G V G und § 74 Abs. 1 Satz 2 G V G ein, daß sich eine Regelung denken lasse, die dem Grundgedanken des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG besser gerecht werde. Dennoch haben die Richter einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verneint. Die Entscheidung, die vielfach Zustimmung erfahren hat 1 6 6 , ist auf die übrigen beweglichen Zuständigkeiten des Gerichtsverfassungsgesetzes übertragbar, da es im Kern um die Auslegung und verfassungsrechtliche Überprüfung der gleichen rechtlichen Konstellation geht. Über die Beurteilung des Vorliegens oder NichtVorliegens einer besonderen Bedeutung des Falles, einer Sache von minderer Bedeutung oder der anderen unbestimmten Rechtsbegriffe wird der Staatsanwaltschaft gestattet, auf die sachliche Zuständigkeit der Gerichte von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen. Die Erwägungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Normen begründet, können aus grundrechtsdogmatischer Sicht nicht restlos überzeugen. Daher mag es nicht überraschen, daß die Kritik an den zentralen Aussagen des Gerichts über die Jahrzehnte hinweg aufrecht erhalten wurde 1 6 7 . 165 Siehe zum folgenden BVerfGE 9,223 (227 ff.) und zusätzlich BVerfGE 22,254ff. zu § 25 Nr. 3 GVG a. F. 166 Von der Verfassungsmäßigkeit der Normen, die eine Bewertung der besonderen Bedeutung des Falles durch die Staatsanwaltschaft vorsehen, gehen aus BGHSt 9,223 (227); 13,297; 21, 268 (271); BGH NJW 1958,918; BGH NJW 1968,710 (712); BGH NStZ 1988,189; Kröger, Bedeutung, S. 194ff.; Henkel, Richter, S. 52 äußert zumindest rechtspolitische Bedenken; Marx, Richter, S. 29 mit Anmerkung 98, S. 90; Gottschalk, Richter, S. 38 ff. (insbesondere S. 57); Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 15; Rieß, GA 1976, 1 (7ff.); Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 16 GVG Rn. 7ff. und § 24 GVG Rn. 14ff.; § 74 GVG Rn. 2; § 74a GVG Rn. 8; § 120 GVG Rn. 6; § 142 a GVG Rn. 14 und 18; Kissel , § 24 GVG Rn. 9; § 74 a GVG Rn. 10; § 120 GVG Rn. 2 und 5; § 142a GVG Rn. 13; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 24 GVG Rn. 5ff. (bei verfassungskonformer Auslegung); § 120 GVG Rn. 3; Kissel , in: Karlsruher Kommentar, § 24 GVG Rn. 5; Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 74 a GVG Rn. 3; Hannich, in: Karlsruher Kommentar, § 120 GVG Rn. 3; Schoreit, in: Karlsruher Kommentar, § 142a GVG Rn. 5; Katholnigg, § 24 GVG Rn. 5; § 74a GVG Rn. 3; § 120 GVG Rn. 2; § 142a GVG Rn. 3 und 5. 167 Bereits Baader, Zuständigkeitsvorschriften, S. 90; Oehler, ZStW 1952, 292 (295f., 304f.); Bockelmann, GA 1957, 357 (360ff.); Scupin, Richter, S. 81ff. und Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (563 ff.); ders., AöR 1969,263 (294 ff.) hielten die §§24 Abs. 1 Nr. 2 und 74 Abs. 1 Satz 2 GVG für verfassungswidrig oder äußerten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften. Woesner, NJW 1961, 533 (534) fordert eine spezifizierte Regelung als Ersatz für den Begriff der „besonderen Bedeutung des Falles". Zweifel äußern auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 7 Rn. 9ff. und Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849ff. Innerhalb der verfassungsrechtlichen Literatur lassen sich folgende kritische Stimmen ausmachen: Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 28ff.; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28, nach dessen Ansicht Regelbeispiele womöglich eher der Ziel Vorstellung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechen; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 12; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, § 75 Rn. 19; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 7. Nach Hill, in: Isen-
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Dabei soll nur am Rande erwähnt werden, daß bereits der historische Hintergrund der Aufnahme der beweglichen Zuständigkeiten in das Strafverfahrensrecht Anlaß genug sein könnte, über deren verfassungsrechtliche Dignität nachzudenken. Die beweglichen Zuständigkeiten nahmen ihren Ausgang in den Entlastungsgesetzen168 und Notverordnungen des Zeitraumes von 1915 bis zum Beginn des Nationalsozialismus169. In die Zeit des Nationalsozialismus fielen insbesondere die Zuständigkeitsverordnung vom 21. Februar 1940170 sowie die Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942171. Bis auf die Sondergerichte und die in der Verordnung von 1940 verankerte völlige Wahlfreiheit der Anklagebehörde, wurde dieser Bestand an beweglichen Zuständigkeiten mit dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950172 beibehalten. Dieser Umstand wird zum Anlaß genommen, eine Beseitigung dieser für rechtsstaatlich unzulänglich gehaltenen Zuständigkeitsregelungen zu verlangen 173. Ungeachtet dieser rechtsstaatlich betrachtet wenig schmeichelhaften Entstehungsgeschichte ist die Kritik an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zunächst bei der Annahme anzusetzen, eine Freiheit zur Wahl zwischen Amts- und Landgericht im eigentlichen Sinne bestehe nicht. Das Kriterium der besonderen Bedeutung des Falles enthalte kein Ermessen, sondern unbestimmte Rechtsbegriffe, bei deren Vorliegen die Anklagebehörde verpflichtet sei, beim Landgericht anzuklagen. Es ist dem Gericht zwar zuzugeben, daß eine solche Auslegung die Einflußmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft verringert. Bestünde ein Entscheidungsspielraum, der trotz Vorliegens einer besonderen Bedeutung des Falles zusätzlich Raum für Ersee/Kirchhof, § 156 Rn. 52 lassen sich die §§24 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 GVG noch rechtfertigen, solange man, wie das Bundesverfassungsgericht, von gerichtlich überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffen ausgeht. Bedenken gegen die §§ 120 und 142a äußert auch Kühl, NJW 1987, 737 (746f.). Nach Dencker, StV 1987,117 (118f.) verstößt § 120 Abs. 2 Nr. 2 GVG gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Anders als bei § 74 a GVG sei die Zuständigkeit erst begründet, wenn die Staatsanwaltschaft die Verfolgung übernehme. Die Zuständigkeit hänge daher von einem gerichtlich nicht überprüfbaren Akt der Exekutive ab. Das Gericht könne eine fehlende Übernahme beispielsweise nicht ersetzen. Darüber hinaus bringe die breite Skala, die vom Oberlandesgericht bis zum Amtsgericht reiche, eine erhebliche Unsicherheit der Betroffenen mit sich. 168 Entlastungsverordnung vom 07.10.1915 (RGBl. I, S. 631), Gesetz zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 21.10.1917 (RGBl. I, S. 1037), Gerichtsentlastungsgesetz vom 11.03.1921 (RGBl. I, S. 229). 169 Emminger-Verordnung vom 04.01.1924 (RGBl. I, S. 15), die Verordnung vom 06.10.1931 (RGBl. I, S. 537,563) und die Verordnung vom 14.06.1932 hinsichtlich der Wahlbefugnis zwischen Schöffengericht und großer Strafkammer, nach Wiedereinführung der erstinstanzlichen Strafkammer (RGBl. I, S. 285). 170 Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften (RGBl. I, S. 405) mit Durchführungsverordnung (RGBl. I, S. 489). Siehe dazu auch § 6, S. 279ff. 171 RGBl. I,S. 508. 172 BGBl. I,S. 455. 173 Siehe Schmidt, MDR 1958, 721 ff.; Oehler, ZStW 1952, 292ff.; Scupin, Richter, S. 82; Müllen Rechtsstaat, S. 128 f. sowie Herzog, StV 1993, 609 (611 f.). 8 Roth
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messenserwägungen der Anklagebehörde über die Frage ließe, ob vor dem Landgericht angeklagt wird oder nicht, so wäre die richterliche Zuständigkeit offener, als es auf der Basis einer Verweisungspflicht nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts der Fall ist. Dennoch beseitigt diese Interpretation eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht. Schließlich handelt es sich bei der Umschreibung der besonderen Bedeutung des Falles um unbestimmte Rechtsbegriffe, die offen sind für unterschiedlichste Erwägungen 174. Ähnliches gilt für die Frage, ob eine Sache von minderer Bedeutung vorliegt, ob eine Sache in besonderem Maße die Interessen des Bundes berührt oder ob es im Interesse der Rechtssicherheit geboten erscheint, daß der Generalbundesanwalt die Tat verfolgt 175 . Im allgemeinen wird einer Sache eine besondere Bedeutung zugesprochen, wenn sie sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen heraushebt176. Dabei sollen in erster Linie das Ausmaß der Rechtsverletzung oder die Auswirkungen der Straftat auf die Allgemeinheit ausschlaggebend sein 177 . Die Bandbreite der für eine besondere Bedeutung im Detail als maßgeblich erachteten Kriterien reicht von dem Umstand, daß ein Strafverfahren die Politik berührt oder ein am Strafverfahren Beteiligter eine hervorgehobene Stellung im öffentlichen Dienst innehat178, über generalpräventive Gesichtspunkte, die mit einem Verfahren in Verbindung gebracht werden 179, bis zu der Annahme eines Gerichts, ein besonderes Bedürfnis an einer alsbaldigen grundsätzlichen Entscheidung durch den Bundesgerichtshof sei ausschlaggebend, obwohl die Lösung schwieriger Rechtsfragen in der Regel eine besondere Bedeutung nicht begründe 180. Der Struktur nach ähnlich offen gestaltet sich die Interpretation der Umschreibung „Strafsachen von minderer Bedeutung". Dabei soll es sich um solche Fälle handeln, die sich von durchschnittlichen Strafsachen, etwa in Hinblick auf den Umfang der Sache, die Schwere des Rechts Verstoßes oder die Bedeutung für den Täter oder die Verletzten, unterscheiden. Der Ausdruck soll jedenfalls nicht gleichzusetzen sein mit dem Begriff des minder schweren Falles aus dem materiellen Strafrecht 181.
174 Die Inhaltsleere dieser Merkmale wird von Schmidt, MDR 1958,721 (725); Bettermann, AöR 1969, 263 (295 f.); Grünwald, JuS 1968, 452 (454, 458) sowie Herzog, StV 1993, 609 (611) moniert. 175 So die Umschreibung in § 142 a Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 GVG. 176 Zur Definition Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 24 GVG Rn. 6. 177 Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 24 GVG Rn. 14. 178 Siehe BayOblG JMB1.1953,185 f., wo es um die Beleidigung des Bayerischen Innenministers ging. 179 OLG Köln NJW 1970 260 (261). 180 LG Nürnberg-Fürth NJW 1988, 2311 (2313). Zu weiteren Beispielen siehe Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 24 GVG Rn. 15; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 24 GVG Rn. 6. 181 Schäfer/Boll, in: Löwe/Rosenberg, § 142 a GVG Rn. 14 und Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, §25 GVG Rn. 5.
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Indem der Staatsanwaltschaft die Beurteilung darüber übertragen wird, ob im Einzelfall aus den Umständen auf eine besondere Bedeutung geschlossen werden kann, bleibt aus der Sicht der Verfahrensbeteiligten folglich eine nicht unerhebliche Ungewißheit darüber, welches Gericht zur Entscheidung des Falles berufen sein wird. Diese Ungenauigkeit in der richterlichen Zuständigkeitsordnung bedarf als Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ebenso einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, wie es hinsichtlich eines Ermessensspielraumes der Fall wäre. Die Beschränkung der staatsanwaltschaftlichen Einflußmöglichkeit, die aus der verfassungskonformen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts resultiert, mindert lediglich die Intensität der Beeinträchtigung. Dieser Umstand spielt lediglich für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung eine Rolle. Zur Rechtfertigung genügt auch nicht der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, eine mißbräuchliche Ausnutzung der beweglichen Zuständigkeiten werde dadurch verhindert, daß das Landgericht ohnehin auf der Grundlage von § 209 Abs. 1 StPO die Anklagepraxis der Staatsanwaltschaft kontrolliere und das Hauptverfahren beim Amtsgericht eröffne, wenn es dessen Zuständigkeit nach Einreichen der Anklage für gegeben halte. Die Gerichte sind gleichermaßen wie die Staatsanwaltschaft an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebunden. Überträgt man die Beurteilung der besonderen Bedeutung eines Falles demnach - ob im Wege der Kontrolle der Anklagebehörde oder nicht ist dabei unerheblich - auf die Gerichte, so wird das Problem lediglich verlagert. Auch diese Möglichkeit, auf die richterliche Zuständigkeit von Fall zu Fall einzuwirken, bedarf als Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung 182. Vor diesem Hintergrund ist daher zunächst die grundrechtsdogmatisch vorrangige Frage zu beantworten, auf welche mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kollidierenden Verfassungsgüter der Gesetzgeber die umschriebenen Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter stützen kann. (cc) Verfassungsgüter zur Rechtfertigung der Beeinträchtigungen und Verhältnismäßigkeit Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stehen zwingende rechtsstaatliche Bedürfnisse einer katalogmäßigen Zuweisung aller Straftaten an Gerichte einer bestimmten Ordnung entgegen. Zu Zeiten, in denen noch engere Strafrahmen für systemgerecht gehalten wurden, so die Richter, sei eine Aufteilung der Zuständigkeiten der Strafgerichte nach Delikten noch ohne nennenswerte Probleme möglich gewesen. Bei den weiten Strafrahmen des modernen Strafrechts bedürfe es jedoch häufig noch innerhalb der gesetzlichen Straftatbestände einer Aufteilung um zu erreichen, daß jeder Beschuldigte durch das am besten geeignete Gericht die verfahrensmäßige 182 Siehe zu diesem Umstand bereits Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 29 und Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849 (851).
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Behandlung erfahre, die der Tat angemessen sei. Außerdem könne damit eine Überforderung von Einzelrichtern und Schöffengerichten verhindert werden. Es entspreche dem Gerechtigkeitsempfinden, bedeutendere Sachen, insbesondere bei schwereren Straftaten, schon in erster Instanz höheren Gerichten zuzuweisen183. Bei der Spannweite der bestehenden Strafrahmen werde eine gerechte Strafzumessung nur ermöglicht, wenn das mit der Sache befaßte Gericht sowohl den denkbar mildesten, als auch den denkbar schwersten Verstoß ahnden könne184. Es entspreche dem Bedürfnis der Praxis, im Interesse eines sachgerechten und ökonomischen Einsatzes der unterschiedlich besetzten und leistungsfähigen Spruchkörper, daß nicht alle Delikte katalogisiert bei einem bestimmten Gericht verhandelt würden, ohne Rücksicht auf die Schwere des Delikts, die Schuldform und die Schwere der Folgen einer Tat 185 . Im Kern wird in diesen Äußerungen auf zwei - mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kollidierende - Verfassungsgüter Bezug genommen. Zunächst wird das Gebot gerechter Strafzumessung angesprochen, als Grundgedanke des materiellen Strafrechts und Ausdruck materieller Gerechtigkeit. Das Bundesverfassungsgericht sieht dieses Prinzip verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip sowie in der aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen verankert 186. Die Ziele, eine Überlastung von Einzelrichtern und Schöffengerichten zu verhindern sowie die verschiedenen Spruchkörper sachgerecht und ökonomisch einzusetzen, lassen sich unter den rechtsstaatlichen Begriff der Effizienz des Rechtsschutzes subsumieren187. Auch wenn der Gesetzgeber die beweglichen Zuständigkeiten unter diesen Umständen auf Güter von Verfassungrang stützen kann, so vermag die Begründung, warum die Ausweitung der Strafrahmen eine flexible Gestaltung der Zuständigkeit in der Weise gebietet, wie sie § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG vorsieht, nicht restlos zu überzeugen 188 . Die Kritik ist zunächst gegen die dogmatische Grundkonzeption zu richten, die sich in der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts widerspiegelt. Sofern darin zum Ausdruck gebracht wird, die jeweils gegebenen Strafrahmen seien eine Vorbedingung der Bestimmung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, so befindet sich eine solche Argumentation in einer grundrechtsdogmatischen Schieflage. Die Diskussion muß vielmehr bei der Grundrechtsbestimmung als Maßstabsnorm ihren Ausgang nehmen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt eine möglichst 183
BVerfGE 9, 223 (227); 22, 254 (258 ff.). Siehe Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 16 GVG Rn. 7ff. m. N.; BGHSt 9, 367ff.; 13, 297 ff.; 21, 268 (271). 185 Kissel, § 24 GVG Rn. 9. 186 Siehe BVerfGE 6,389 (439); 20,323 (331); 45,187 (259f.); 80,244 (255); 86,288 (313); BVerfG NJW 1994, 2219. 187 Siehe § 4 A.I.3.a)bb), S.95ff. 188 Siehe die Kritik bei Bockelmann, GA 1957, 357 (364ff.) sowie Herzog, StV 1993, 609 184
(611).
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genaue Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgericht und Landgericht. Sofern der Gesetzgeber durch ein System von weiten Strafrahmen und flexibler Zuständigkeitsregelung von diesen grundrechtlichen Vorgaben abweicht, handelt es sich um Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, die ihrerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfen. Über diese dogmatischen Unzulänglichkeiten hinaus, ist auch die inhaltliche Begründung des Gerichts kritikwürdig. Wenn dieses die Ansicht vertritt, es sei aus rechtsstaatlichen Erwägungen unverzichtbar, eine flexible Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Amtsgerichten und Landgerichten vorzunehmen, die nicht darauf basiere, den Gerichten bestimmte Delikte zuzuweisen, sondern - auch - eine Aufgliederung innerhalb der Tatbestände vorzunehmen, so ist damit zunächst nur eine Begründung für die Normen geliefert, die, wie § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG und § 25 Nr. 2 GVG, die Zuständigkeit von der prognostizierten S trafer Wartung abhängig machen. Warum, unter Außerachtlassung der Strafrahmen, zusätzlich danach unterschieden werden soll, ob eine besondere Bedeutung des Falles gegeben ist oder nicht, wird auf der Basis dieser Erwägungen jedoch nicht hinreichend deutlich. In Bezug auf § 142 a GVG besteht das Anliegen des Gesetzgebers schließlich darin, dem Generalbundesanwalt zu ermöglichen, auf die einheitliche Rechtshandhabung hinzuwirken sowie die zentrale Ermittlungstätigkeit der Bundesanwaltschaft in Staatsschutzstrafsachen zu erhalten. Um eine Überlastung der Justizbehörde zu verhindern, sieht das Gesetz jedoch die Möglichkeit vor, weniger bedeutsame Fälle an die Staatsanwaltschaft abzugeben189. Nach den allgemeinen Ausführungen zu den Grundrechtsschranken von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 190 , wird man dem Gesetzgeber auch insoweit nicht absprechen können, sich auf eine Förderung des Prinzips der Effektivität des Rechtsschutzes berufen zu können. Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob alle in den beschriebenen Normen enthaltenen Möglichkeiten, auf die richterliche Zuständigkeit von Fall zu Fall einzuwirken, verhältnismäßige Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen. Angesichts der beschriebenen inhaltlichen Vagheit, die insbesondere das Merkmal der besonderen Bedeutung des Falles aufweist, haben die Einflußmöglichkeiten der Anklagebehörde und der Gerichte auf die Frage, welches Gericht im Einzelfall zur Entscheidung berufen ist, ein gravierendes Ausmaß. Aus der Sicht eines Verfahrensbeteiligten wird die Schutzfunktion des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, die sich verwirklicht, wenn im voraus Gewißheit über das zuständige Gericht besteht, erheblich zurückgedrängt. Es ist fraglich, ob die Vorteile für die Effektivtät des Rechtsschutzes, die sich aus den beweglichen Zuständigkeiten ergeben, in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Beeinträchtigungen stehen. Dem Prinzip des gesetzlichen Richters käme eine stärkere Berücksichtigung zuteil, wenn der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der besonderen Bedeutung des Falles 189 190
Siehe Schäfer/Boll, in: Löwe/Rosenberg, § 142a GVG Rn. 2f. §4A.I.3.a),S.92ff.
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durch Aufzählungen oder Regelbeispiele konkretisieren würde, um die Entscheidung der Anklagebehörde in größerem Umfang als bisher rechtlich anzubinden und dadurch die Vorhersehbarkeit richterlicher Zuständigkeit zu erhöhen. (b) Zweckmäßigkeit einer Verhandlung vor dem Jugendgericht Nach § 26 Abs. 2 GVG und § 74 b Satz 2 GVG m ist die Entscheidung, ob in Jugendschutzsachen vor den Jugendgerichten angeklagt wird oder die Sache bei den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten verbleibt, unter anderem an die Beurteilung der Staatsanwaltschaft gebunden, ob eine Verhandlung vor dem Jugendgericht „aus sonstigen Gründen zweckmäßig erscheint". Nur für diesen Fall oder wenn in dem Verfahren Kinder oder Jugendliche als Zeugen benötigt werden, soll die Staatsanwaltschaft Anklage bei den Jugendgerichten erheben. Ob im Einzelfall das Jugendgericht oder das allgemeine Strafgericht zuständig ist, läßt sich anhand dieser Bestimmungen nur ungenau im voraus ermitteln. Die Anklagebehörde entscheidet über die Zuständigkeit von Fall zu Fall auf der Basis von Zweckmäßigkeitserwägungen. Noch dazu wird die Staatsanwaltschaft nach dem Wortlaut der Norm nicht zwingend zur Anklage bei den Jugendgerichten verpflichtet. Hält sie es für zweckmäßig, so „soll" sie lediglich Anklage erheben, eine Umschreibung, die in begrenztem Umfang Ausnahmen zuläßt. Die Normen stellen daher eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Im Einklang mit der Bewertung der übrigen beweglichen Zuständigkeiten, wird § 26 Abs. 2 GVG im Ergebnis meist als verfassungsgemäß eingestuft 192. Der Zweck der Norm besteht darin, in geeigneten Fällen die besondere Sachkunde und Erfahrung der Jugendgerichte zu nutzen. Es soll verhindert werden, daß die Jugendgerichte durch eine Anklagepraxis, mit der ungeeignete Fälle vor die Jugendgerichte gelangen, an ihrer eigentlichen Aufgabe, über Verfehlungen Jugendlicher und Heranwachsender zu entscheiden, gehindert werden 193. Im Mittelpunkt steht daher das Ziel, eine wirkungsvolle Aufgabenerfüllung durch die Jugendgerichte zu gewährleisten. Damit wird auf das Verfassungsgebot der Effizienz des Rechtsschutzes Bezug genommen.
191 Zu den Vorschriften über die Anklage bei den Jugendgerichten siehe Kissel , § 26 GVG Rn. 6ff. und § 74b GVG Rn. 3; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 26 GVG Rn. 8 und § 74b GVG Rn. 1 f. 192 Siehe bereits Gottschalk, Richter, S. 57. Aus neuerer Zeit kann verwiesen werden auf Kissel, in: Karlsruher Kommentar, § 26 GVG Rn. 1 ; Kissel, § 26 GVG Rn. 9; Katholnigg, § 26 GVG Rn. 2, der allerdings hervorhebt, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Pflicht der Anklagebehörde zur Anklage bei den Jugendgerichten besteht. Siehe auch BGHSt 13,297 ff., wo die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 9,223 ff.) nicht als Bruch zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt wird. 193 Siehe Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 26 GVG Rn. 2 und 6.
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Obwohl der Entscheidungsfreiraum demnach auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückgeführt werden kann ist es zweifelhaft, ob die Norm eine verhältnismäßige Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt. Die verfassungsrechtlichen Bedenken194 stützen sich in erster Linie auf den Umstand, daß Zweckmäßigkeitserwägungen zum Anknüpfungspunkt einer Zuständigkeitsentscheidung gemacht werden, womit der Staatsanwaltschaft ein Ermessensspielraum eröffnet wird. Hinzu kommt, daß § 26 Abs. 2 GVG auch für den Fall, daß die Anklagebehörde eine Verhandlung vor dem Jugendgericht für zweckmäßig hält, eine Anklage vor diesem Gericht nicht zwingend, sondern nur für die Regel vorschreibt. Insofern enthält die Bestimmung eine noch weitergehende Ungenauigkeit als § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG und die übrigen zuvor untersuchten Verfahrens Vorschriften, die nach verfassungskonformer Auslegung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen keinen Spielraum lassen. Andererseits fällt zu Gunsten einer Verhältnismäßigkeit von § 26 Abs. 2 GVG ins Gewicht, daß die unbestimmten Rechtsbegriffe, die Grundlage einer Zuständigkeitsentscheidung sind, eine exaktere Definition ermöglichen, als das Kriterium der besonderen Bedeutung des Falles. Dies garantiert ein höheres Maß an Vorhersehbarkeit der Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft. Die Interpretation der Zweckmäßigkeit muß sich am Ziel von § 26 Abs. 2 GVG orientieren. Danach kommt es für eine Anklage darauf an, ob es die Umstände des Einzelfalles notwendig erscheinen lassen, daß ein Gericht mit besonderer Sachkunde und Erfahrung in Jugendsachen sich des Falles annimmt. Allerdings verbleibt der Anklagebehörde auch auf der Basis dieser Auslegung ein nicht unerheblicher Einschätzungsspielraum. Die vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken gelten gleichermaßen für eine rechtliche Verknüpfung der zuvor untersuchten Verfahrensgesetze. Namentlich § 26 Abs. 2 GVG und § 74 b Satz 2 GVG in Zusammenhang mit § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG 195 verbinden hinsichtlich bestimmter Konstellationen die Auslegung des Merkmals der besonderen Bedeutung des Falles mit der erwähnten Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft, ob eine Verhandlung vor dem Jugendgericht aus sonstigen Gründen zweckmäßig erscheint. Damit wird der Anklagebehörde die Entscheidung übertragen, ob an Stelle der Strafkammer die Jugendkammer beim Landgericht in einer Jugendschutzsache zuständig ist. Wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von § 26 Abs. 2 und § 74b Satz 2 GVG sowie § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG für sich genommen zweifelhaft erscheint, so gilt dies aus den gleichen Gründen für eine Kombination beider Beeinträchtigungen. 194
Für verfassungswidrig halten die Norm Henkel, Richter, S. 36f.; Marx, Richter, S. 29 mit Anmerkung 97; Moller, MDR 1966, lOOff.; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (564); Achenbach,, in: FS Wassermann, S. 849 (853); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 31; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 7. 195 Verweisung in § 26 Abs. 1 Satz 2 GVG und § 74 Abs. 1 Satz 1 GVG. Zu diesen Konstellationen siehe neben den oben angegebenen Kommentierungen zu § 24, § 26 und § 74 b GVG noch Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 26 GVG Rn. 9.
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(c) Erfordernis besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens Nach §74c Abs. 1 Nr. 6,2. Halbsatz GVG 196 hängt die sachliche Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer beim Landgericht hinsichtlich der dort aufgezählten Delikte davon ab, ob zur Beurteilung des Falles „besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind". Die Beurteilung, ob die Voraussetzungen dieser unbestimmten Rechtsbegriffe vorliegen, obliegt bis zur Erhebung der Anklage der Staatsanwaltschaft. Wie schon hinsichtlich § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG verdeutlicht wurde, geht mit der Einreichung der Anklageschrift die Möglichkeit der Einflußnahme auf das Gericht über. Bejaht die allgemeine Strafkammer das Vorliegen der Voraussetzungen von § 74c GVG, so legt sie die Akten gemäß § 209 Abs. 2 StPO, durch Vermittlung der Anklagebehörde, der Wirtschaftsstrafkammer zur Entscheidung vor. Umgekehrt eröffnet die Wirtschaftsstrafkammer gemäß § 209 Abs. 1 StPO das Hauptverfahren vor der allgemeinen Strafkammer, sofern sie besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens zur Beurteilung des Falles für nicht erforderlich hält. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens ist die Prüfung der Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer allerdings gemäß § 6 a StPO197 an den Einwand des Angeklagten gebunden, was hinsichtlich dieser Konstellation eine Manipulation des zuständigen Gerichts gegen den Willen des Grundrechtsträgers ausschließt. Der Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft und der Gerichte bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe stellt eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar, die jedoch allgemein für unbedenklich gehalten wird 198 . Der Gesetzgeber verfolgt mit § 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG das Ziel, zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, wo sich das Gericht mit den teils komplizierten Mechanismen des modernen Wirtschaftslebens und einer besonderen Intelligenz und Raffinesse der Täter auseinandersetzen muß, Richter mit Spezialwissen einzusetzen, die die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen im Wirtschaftsleben besitzen199. Wenn Wirtschaftsstrafsachen in der Hand von Richtern liegen, die besondere Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Sektor des Wirtschaftslebens besitzen und diese laufend erweitern und vertiefen, so ermöglicht dies eine schnelle und sachgerechte Ab-
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Zu dieser Vorschrift allgemein nur Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 74c GVG Rn. 1 ff. In Verbindung mit § 225 a, § 269 und § 270 StPO. 198 Kissel , § 74 c GVG Rn. 4 f. hat trotz der Unbestimmtheit keine Bedenken, da eine richterliche Kontrolle der Beurteilung der Staatsanwaltschaft gewährleistet sei und das Rangverhältnis der Gerichte durch die §§ 74e GVG, 209, 225 a und 269, 270 StPO klargestellt sei. Der unbestimmte Rechtsbegriff dürfe außerdem allein nach den Erfordernissen für die Erledigung des Verfahrens ausgelegt werden. Katholnigg, § 74 c GVG Rn. 2 hält das Merkmal als objektives Kriterium mit dem Charakter eines unbestimmten Rechtsbegriffs für eine tragfähige Zuständigkeitsabgrenzung. Siehe auch Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 74 c GVG Rn. 5 f. und Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 74c GVG Rn. 5. 199 BT-Drs. VI/2257, S. 1; Kissel § 74c GVG Rn. 1 sowie OLG Koblenz, NStZ 1986, 327. 197
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wicklung der Fälle 200 . Die Legislative kann sich zur Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung demnach auf das Verfassungsgut der Effektivität des Strafrechtsschutzes stützen. Im Vergleich zum Zuständigkeitskriterium der besonderen Bedeutung des Falles, wo es außerordentlich schwierig ist, die inhaltsbestimmenden Merkmale dieser unbestimmten Rechtsbegriffe hinreichend exakt zu umschreiben, wird zudem deutlich, daß die Definition des Erfordernisses besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens deutlichere Konturen aufweist. Zuständigkeitsentscheidungen im Rahmen von § 74 c GVG sind besser vorhersehbar als etwa im Falle von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG. Diesem Umstand kommt bei der Frage, ob § 74 c GVG als verhältnismäßige Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen ist, eine maßgebliche Bedeutung zu. (2) Zuständigkeitsbeeinflussung über die Prognose der Straferwartung Gemessen an der Bedeutung, die den bislang untersuchten Vorschriften in der verfassungsrechtlichen Diskussion beigemessen wurde, hat man den folgenden Gesetzen kein vergleichbares Interesse zuteil werden lassen. Es geht um Regelungen im Gerichtsverfassungsgesetz und dem Jugendgerichtsgesetz, deren Anwendung, je nach prognostizierter Straferwartung durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte, eine unterschiedliche sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte zur Folge hat. 1. Hinsichtlich des Gerichtsverfassungsgesetzes ist auf zwei Vorschriften hinzuweisen: a) § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG wird nur vereinzelt in die Aufzählung beweglicher Zuständigkeiten aufgenommen 201. Die Norm schließt die Zuständigkeit der Amtsgerichte aus, sofern im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder eine Unterbringung in der SicherheitsVerwahrung zu erwarten ist. Für die soeben genannten Konstellationen wird, wie sich aus § 74 Abs. 1 Satz 1 GVG entnehmen läßt, die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet. b) § 25 Nr. 2 GVG 202 grenzt im Zusammenspiel mit § 28 GVG die konkrete Entscheidungszuständigkeit zwischen dem Schöffengericht und dem Einzelrichter beim Amtsgericht danach ab, ob bei Vergehen eine höhere Strafe als Freiheitsstrafe von zwei Jahren zu erwarten ist.
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Siehe BT-Drs. VI/670, S. 3; Kissel , § 74c GVG Rn. 1. So etwa Kissel , § 24 GVG Rn. 9. 202 Zu dieser Bestimmung, die mit Wirkung vom 01.03.1993 neugefaßt wurde, siehe aus Sicht der normanwendenden Gerichte Schäfer, DRiZ 1997, 168 ff.; Neuhaus, StV 1995,212ff. und Kissel, § 25 GVG Rn. 4f. Aus der Rechtsprechung siehe BGH NJW 1997, 204ff. 201
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Die Norm wird unterschiedlich ausgelegt. Die in diesem Zusammenhang vertretene Ansicht 203 , daß auch nach der Neuregelung dieser Vorschrift die verfassungskonforme Auslegung von § 25 Nr. 2 c GVG (a. F.) durch das Bundesverfassungsgericht 204 heranzuziehen sei, verdient keine Zustimmung. Nach der alten Fassung der Norm war dem Amtsrichter die alleinige Entscheidung übertragen bei Vergehen, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage zum Einzelrichter erhoben hatte und keine höhere Strafe als Gefängnis von einem Jahr zu erwarten war. Der erste Teil der Tatbestandsvariante las sich als Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft hinsichtlich einer Anklage beim Einzelrichter. Nur um diesen Ermessenspielraum einzugrenzen und die Anklagebehörde auf die Anwendung rechtlich überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriffe festzulegen, erweiterte das Gericht den Normtext dergestalt, daß die Staatsanwaltschaft Anklage beim Einzelrichter nur bei „Sachen von minderer Bedeutung" erheben durfte. Würde man diese Auslegung auf § 25 Nr. 2 GVG in der jetzigen Fassung übertragen, hieße dies, das Ziel der damaligen Auslegung in sein Gegenteil zu verkehren. Die Wendung „wenn die Staatsanwaltschaft Anklage beim Strafrichter erhebt" ist im Tatbestand der Norm nicht mehr enthalten. Die jetzige Formulierung, ohne Ermessensspielraum der Anklagebehörde, hat der Gesetzgeber, vor dem Hintergrund der Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, mit dem Ziel einer verfassungsrechtlich eindeutigen gesetzlichen Grundlage der Strafrichterzuständigkeit beim Amtsgericht gewählt205. Ergänzte man den Tatbestand von § 25 Nr. 2 GVG nunmehr um das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „minderen Bedeutung der Sache", würde das Gesetz um ein unbestimmtes Element angereichert, zu Lasten des Grades an gesetzlicher Bestimmtheit richterlicher Zuständigkeit. Eine solche Auslegung wäre, worauf Fischer 206 zutreffend hinweist, keine an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG orientierte verfassungskonforme Auslegung von § 25 Nr. 2 GVG, sondern ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Die Auslegung der Norm hat sich nach dem Wortlaut zu richten und grenzt demnach die Zuständigkeit des Strafrichters von der des Schöffengerichts allein nach der Straferwartung ab 207 . Die Ungenauigkeit in der Zuständigkeitsbestimmung liegt bei beiden Normen in dem Umstand begründet, daß die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Land- und Amtsgericht einerseits sowie Strafrichter und Schöffengericht andererseits von einer Prognose der zu erwartenden Rechtsfolgen einer Tat durch die Staatsanwaltschaft bei Klageerhebung abhängig gemacht wird. Die Normen richten sich darüber hinaus an 203 AG Höxter MDR 1994, 1139f.; SiegismundIWickern, wistra 1993, 136 (137); Fuhse, NStZ 1995,165 (166f.); Hohendorf, NJW 1995,1454 (1458); Schäfer, DRiZ 1997,168 (169). 204 BVerfGE 22, 254 (260ff). 205 Siehe BT-Drs. 12/1217, S.46. 206 NJW 1996, 1044 (1045). 207 So OLG Oldenburg MDR 1994,1139; OLG Hamm StV 1995,182f. und StV 1996,300f.; OLG Düsseldorf NStZ 1996,206f.; Fischer, NJW 1996,1044 (1045); Neuhaus, StV 1995,212 (213); Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 25 GVG Rn. 3; Kissel , in: Karlsruher Kommentar, § 25 GVG Rn. 5; Katholnigg, § 25 GVG Rn. 3. Offengelassen wird die Frage im Beschluß des BGH NJW 1997, 204ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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die Gerichte und verlangen bei der Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 207 StPO eine überschlägige Prognoseentscheidung aufgrund der allgemeinen Strafzumessungsgründe und unter Berücksichtigung der gesamten Ermittlungseigebnisse 208 . Hält das Gericht danach die Zuständigkeit eines Gerichts niedrigerer oder höherer Ordnung für gegeben, eröffnet es gemäß § 209 StPO im ersten Fall das Hauptverfahren vor diesem Gericht oder legt dem Gericht höherer Ordnung, durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft, die Akten zur Entscheidung vor. Das Ausmaß der Einflußmöglichkeiten wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß eine Vielzahl von Straftatbeständen, von denen nur beispielhaft § 263 Abs. 1 und § 266 Abs. 1 StGB erwähnt werden sollen, relativ weite, die Straferwartung von zwei beziehungsweise vier Jahren überschreitende Strafrahmen aufweisen. Hinzu kommt, daß die Prognose, welche Rechtsfolgen hinsichtlich einer bestimmten Strafsache, zumal in einem noch relativ frühen Stadium des Verfahrens, zu erwarten sind, naturgemäß von Unsicherheit geprägt ist. Die Möglichkeiten, je nach Prognose der Straferwartung unterschiedliche Zuständigkeiten herbeizuführen, stellen demnach Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Im Zuge der Erörterung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG und der anderen Normen des Gerichtsverfassungsgesetzes, die eine Zuständigkeitsentscheidung von der besonderen Bedeutung des Falles abhängig machen, wurde bereits verdeutlicht, daß mit der Zuständigkeitsabgrenzung je nach prognostizierter Straferwartung das Prinzip gerechter Strafzumessung gewährleistet werden und die Effizienz des Rechtsschutzes gefördert werden soll 209 . Beide Ziele sind Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips. Über die Tatsache hinaus, daß der Gesetzgeber sich zur Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG damit auf kollidierende Verfassungsgüter berufen kann, wird man § 24 Abs. 1 Nr. 2 und § 25 Nr. 2 GVG für verhältnismäßig halten können. Im Vergleich zu der relativ offenen Beurteilung einer besonderen Bedeutung des Falles, ist die Zuständigkeitsentscheidung anhand der Prognose der Straferwartung von zwei oder vier Jahren beziehungsweise der anderen, in § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG aufgeführten Folgen, zumindest in einem Maße vorhersehbar, der die Beeinträchtigung des Rechts auf den gesetzlichen Richter als verhältnismäßig erscheinen läßt. 2. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 JGG ist der Jugendrichter - und nicht das Jugendschöffengericht - zuständig für Verfehlungen Jugendlicher, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach diesem Gesetz zulässige Nebenstrafen und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind und der Staatsanwalt Anklage beim Strafrichter erhebt 210. Der erste Halbsatz der Norm erinnert an § 24 Abs. 1 Nr. 2 und § 25 Nr. 2 GVG. Hier wie dort wird die Zuständigkeitsabgrenzung an eine von der Staatsanwaltschaft vor208
Kissel, § 24 GVG Rn. 7 und § 25 GVG Rn. 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 24 GVG Rn. 4. Siehe die Ausführungen zum vorstehenden Gliederungspunkt (l)(a), S. 110f. 210 Zum Verständnis der Norm sei auf die Erläuterungen von Eisenberg, § 39 JGG Rn. 8 und Β runner!Dolling, § 39 JGG Rn. 7 verwiesen. 209
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
zunehmende Prognose der Straferwartung gekoppelt. Nach dem Wortlaut des zweiten Halbsatzes von § 39 Abs. 1 Satz 1 JGG hängt die Entscheidung über die sachliche Zuständigkeit des Jugendrichters allerdings zusätzlich von einer Ermessensentscheidung der Anklagebehörde ab, die keinerlei rechtlichen Maßstäben unterworfen wird. Liegen die im ersten Teil des Satzes beschriebenen Voraussetzungen vor, kann die Staatsanwaltschaft Anklage beim Strafrichter erheben oder, wahlweise, nach ihrem Ermessen, die Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts herbeiführen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 JGG). Man wird § 39 Abs. 1 Satz 1 JGG allenfalls dann für verhältnismäßig halten können, wenn man die Norm - übergangsweise - verfassungskonform auslegt. Die Staatsanwaltschaft ist demnach verpflichtet, Anklage beim Jugendrichter zu erheben, sofern sie die in § 39 Abs. 1 Satz 1 JGG aufgeführten Rechtsfolgen prognostiziert 211. Es ist allerdings zweifelhaft, ob eine solche Interpretation des Normtextes, angesichts des eindeutigen Wortlautes der Vorschrift, nicht die Grenzen der Auslegung von Gesetzen überschreitet 212. Ziel sollte daher die Änderung des Wortlautes sein. Ein eindeutig formulierter § 39 Abs. 1 Satz 1 JGG könnte etwa lauten: „Der Jugendrichter ist zuständig für Verfehlungen Jugendlicher, die der Staatsanwalt beim Strafrichter anzuklagen hat, sofern nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, nach diesem Gesetz zulässige Nebenstrafen und Nebenfolgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind..."
bb) Bewegliche örtliche Zuständigkeiten im Strafverfahrensrecht Die zurückliegenden Erörterungen haben gezeigt, daß aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft, auf die richterliche Zuständigkeit von Fall zu Fall einzuwirken, nicht davon gesprochen werden kann, der Gesetzgeber habe die sachlichen Zuständigkeit der Gerichte so genau wie möglich geregelt. Diese Erkenntnis setzt sich hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit der Gerichte im Strafverfahren fort. Gefahr droht dem Recht auf den gesetzlichen Richter zunächst von den Regelungen der Strafprozeßordnung und des Jugendgerichtsgesetzes, die zu einer Anhäufung verschiedener Gerichtsstände führen (1)). Eine Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Zuständigkeiten zu variieren, bietet darüber hinaus die Norm über die örtliche Zuständigkeit des Ermittlungsrichters (2)).
211 So der Vorschlag von Eisenberg, § 39 JGG Rn. 8. Im übrigen werden keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm erhoben, siehe Schoreit, in: Diemer/Schoreit/Sonnen, § 39 JGG Rn. 5; Ostendorf § 39 JGG Rn. 3; Brunner/Dölling, § 39 JGG Rn. 7. 212 Zum Wortsinn als Grenze der Auslegung siehe nur Larenz, Methodenlehre, S. 320ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
(1) Gerichtsstandshäufung
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im Strafverfahren
Das Strafverfahrensrecht enthält eine Anzahl unterschiedlicher örtlicher Zuständigkeiten, die in keiner Rangordnung zueinander stehen, sondern wahlweise herbeigeführt werden können: 1. Die Gerichtsstandshäufung 213 in den §§ 7 bis 77 und § 13 Abs. 1 StP0 2H gibt der Anklagebehörde Gelegenheit, zwischen dem Gerichtsstand des Tatortes (§ 7 StPO), des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes (§ 8 StPO), des Ergreifungsortes (§ 9 StPO) und des Zusammenhangs (§ 13 Abs. 1 StPO) zu wählen, ohne rechtliche Maßstäbe einer solchen Wahl vorzusehen. 2. In diesen Zusammenhang können auch § 42 Abs. 1 und Abs. 2 JGG 215 gestellt werden. Danach sind in Jugendsachen, neben den in der Strafprozeßordnung vorgesehenen örtlich zuständigen Gerichten, auch zuständig: der Richter, dem die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben für den Beschuldigten obliegen (§ 42 Abs. 1 Nr.l JGG); der Richter, in dessen Bezirk sich der auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG) und der Richter, dem die Aufgabe des Vollstreckungsleiters obliegt, solange der Beschuldigte eine Jugendstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 JGG). Allerdings unterscheidet sich §42 JGG von den Gerichtsständen der Strafprozeßordnung dadurch, daß in § 42 Abs. 2 JGG die Entscheidungsfreiheit der Anklagebehörde durch die Vorgabe einer Rangordnung der Gerichtsstände rechtlich eingebunden wird. Die Staatsanwaltschaft soll nach Möglichkeit vor dem Richter Anklage erheben, dem die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben obliegen, solange aber der Beschuldigte eine Jugendstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat, vor dem Richter, der die Aufgaben des Vollstreckungsleiters wahrnimmt. Liegt keine der genannten Konstellationen vor, verbleibt es bei dem Wahlrecht der Staatsanwaltschaft zwischen § 42 Abs. 1 Nr. 2 JGG und den übrigen, eingangs beschriebenen Gerichtsständen. Der Bundesgerichtshof 216 und ein beträchtlicher Teil der Stimmen in der Literatur 217 halten diese Wahlmöglichkeit für verfassungsrechtlich zulässig. Die variable 2,3 Zur Gerichtsstandshäufung und der Wahl der Staatsanwaltschaft siehe an dieser Stelle nur die Erläuterungen von Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 7 StPO Rn. 1 ff., insbes. Rn. 17 ff. 214 Siehe auch den Gerichtsstand des Tatortes in Binnenschiffahrtssachen gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 Binnenschiffahrtsgesetz. 215 Zu diesen Bestimmungen nur Eisenberg, § 42 JGG Rn. 5 ff. und Ostendorf § 42 JGG Rn. 4 ff. 216 Siehe BGHSt 9,367 (368); 10,391 (392); 13,297 (289); 21,212 (215); 21,247 (249); 21, 268 (271); 26, 374. 217 Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 15 hält die §§ 7ff. StPO für verfassungsgemäß, solange das Ermessen nach sachlichen, justizgemäßen Erwägungen ausgeübt wird. Siehe auch Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 7 StPO Rn. 41 f.; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 16 GVG Rn. 7 ff., insbes. Rn. 10 a; Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar, § 7 StPO Rn. 2; Pfeiffer, § 7 StPO Rn. 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 7 StPO Rn. 10; Paulus, in: KMR, § 7
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§
Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Gerichtsstandsregelung wird dabei mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet. Das Verfahren wäre unpraktisch, so die verkürzt wiedergegebene Argumentation, wenn eine Gerichtsstandswahl nicht bestünde218. Dieser Auffassung kann im Ergebnis nicht gefolgt werden. Die Regelung über die Gerichtsstandshäufung ist unverhältnismäßig und verstößt daher gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 219 . Man wird dem Gesetzgeber unter Zugrundelegung der Praktikabilitätserwägungen zwar zugestehen müssen, sich zur Rechtfertigung der Entscheidungsfreiräume auf das Verfassungsprinzip der Effektivtät des Rechtsschutzes stützen zu können. Die Wahlfreiheit mag sich aus diesem Blickwinkel auch als sinnvoll erwiesen haben. Diese Erwägungen stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den Folgen, die die beschriebenen Wahlzuständigkeiten für die Schutzfunktion von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zeitigen. Vergleicht man die Gerichtsstandregelungen mit den übrigen Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, so stechen zwei Umstände hervor, die sie als unzumutbare Beeinträchtigung erscheinen lassen. Es sind dies die Vielzahl der Gerichtsstände, zwischen denen gewählt werden kann und die Tatsache, daß eine solche Wahl einzig auf der Basis außerordentlich beschränkt nachprüfbarer Zweckmäßigkeitserwägungen erfolgt. Beide Gesichtspunkte zusammen eröffnen der Anklagebehörde weitreichende Manipulationsmöglichkeiten. Aus Sicht der Verfahrensbeteiligten ist es nach den gesetzlichen Grundlagen offen, welches der möglichen Gerichte von Fall zu Fall zur Entscheidung berufen sein wird. Eine derart gravierende Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist allenfalls zu rechtfertigen, wenn eine exaktere Zuständigkeitsbestimmung ohne einen entsprechenden Entscheidungsfreiraum nachweislich zu untragbaren Nachteilen für die Effektivität des Rechtsschutzes führen würde. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit eine gesetzlich vorgegebene Rangordnung der Gerichtsstände derartige Auswirkungen zur Folge hätte.
StPO Rn. 14, mit der Einschränkung, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei jedenfalls dann verletzt, wenn die Staatsanwaltschaft von der auf Erfahrungen beruhenden sachlichen Zweckmäßigkeit ohne sachlichen Grund, also willkürlich, abweicht und sich das angegangene Gericht nicht für örtlich unzuständig erklärt. Katholnigg, § 16 GVG Rn. 5 hält die §§ 7 ff. StPO zwar für problematisch, dennoch für gerechtfertigt, da eine andere sinnvolle Regelung kaum zu finden sei. 218 Siehe nur Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 7 StPO Rn. 20 ff. m. N. und Eisenberg, § 42 JGG Rn. 15 zu den Kriterien bei § 42 JGG und dem Verhältnis zu den Gerichtsständen der StPO. 219 Für verfassungswidrig oder zumindest verfassungsrechtlich bedenklich halten die Bestimmungen Lemke, in: Heidelberger Kommentar, § 7 StPO Rn. 6 und Rudolph/, in: Systematischer Kommentar, Vor § 7 StPO Rn. 8 f. Siehe außerdem Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (564f.); Bockelmann, GA 1957, 357 (360ff.); Schmidt, Lehrkommentar Teil I, S. 308 f.; Scupin, Richter, S. 81 ff.; Marx, Richter, S. 30 und 90; Hamann/Lenz, Art. 101 GG Anmerkung Β 2 c; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 32; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 12; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, § 75 Rn. 19; Hill, in: Isensee/Kirchhof, § 156 Rn. 52; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 101 GG Rn. 7; Müller, Rechtsstaat, S. 127ff.; Engelhardt, DRiZ 1982, 418 (419); Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849 (855 ff.); Herzog, StV 1993,609 (612); Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 331; Pieroth! Schlink, Grundrechte, Rn. 1066.
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(2) Beweglicher Gerichtsstand des Ermittlungsrichters Nach §162 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 StPO 220 kann die Staatsanwaltschaft die örtliche Zuständigkeit der Amtsgerichte für richterliche Untersuchungshandlungen durch den Ermittlungsrichter beeinflussen. Die Bedeutung dieser Regelungen für das Prinzip des gesetzlichen Richters wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche grundsätzliche Regelung § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO trifft. Danach muß die Staatsanwaltschaft erforderliche richterliche Untersuchungshandlungen jeweils bei dem Amtsgericht beantragen, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist. Handelte es sich dabei um die einzige Regelung, so wäre der „gesetzliche Untersuchungsrichter" eindeutig im voraus bestimmt. Von dieser Bestimmung sehen die Sätze 2 und 3 jedoch Ausnahmen vor. Zunächst ist die Staatsanwaltschaft nach § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO befugt, Untersuchungshandlungen, die eigentlich bei dem für jede einzelne Untersuchung gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO örtlich zuständigen Amtsgericht zu beantragen wären, bei dem Ermittlungsrichter zu beantragen, der dem Amtsgericht angehört, in dessen Bezirk die ermittelnde Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat. Ein solcher Antrag setzt voraus, daß die Staatsanwaltschaft richterliche Anordnungen für die Vornahme von Untersuchungshandlungen in mehr als einem Bezirk für erforderlich hält und führt zu einer Konzentration verschiedener örtlicher Zuständigkeiten auf das Amtsgericht am Sitz der ermittelnden Staatsanwaltschaft. Eine Ausnahme von der soeben geschilderten Konzentration der Gerichtsstände gilt sodann nach § 162 Abs. 1 Satz 3 StPO für richterliche Vernehmungen sowie für Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft den Untersuchungserfolg durch eine Verzögerung für gefährdet erachtet, eine Verzögerung, die durch einen Antrag bei dem nach § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO zuständigen Ermittlungsrichter eintreten würde. Nach dieser Regelung wird es der Anklagebehörde daher ermöglicht, richterliche Anordnungen für Untersuchungshandlungen in mehr als einem Bezirk dennoch getrennt bei den einzelnen Amtsgerichten zu beantragen, in deren Bezirk die jeweilige Handlung vorzunehmen ist. Obwohl § 162 StPO als Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzustufen ist, wurde dieser variablen Zuständigkeitskonzentration bislang unter diesem Blickwinkel kaum Beachtung geschenkt. Sieht man von einzelnen kritischen Stimmen ab 221 , verwundert es daher kaum, daß der Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur ausnahmsweise erwähnt wird 222 . Die Beeinträchtigung von Art. 101 220
Zu diesen Bestimmungen siehe vorerst Rieß, in: Löwe/Rosenberg, § 162 StPO Rn. 22 ff.; Achenbach, in: Altemativkommentar, § 162 StPO Rn. 8 ff. 221 Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849 (858f.). 222 Beispielhaft sei auf Rieß, in: Löwe/Rosenberg, § 162 StPO Rn. 22ff.; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 162 StPO Rn. 9 U Müller, in: Karlsruher Kommentar, § 162 StPO Rn. 11 f. verwiesen. Einzige Ausnahme bildet Achenbach, in: Altemativkommentar, § 162 StPO Rn. 11 f., der mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine restriktive Auslegung der Norm fordert. An
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Abs. 1 Satz 2 GG liegt in dem Einschätzungsspielraum, den die Staatsanwaltschaft bei der Beurteilung der Erforderlichkeit im Sinne von Satz 2 besitzt, vor allem aber in der Ausnahme von der Zuständigkeitskonzentration im zweiten Halbsatz von § 162 Abs. 1 Satz 3 StPO. Über eine Prognose, ob der Untersuchungserfolg durch eine Verzögerung gefährdet würde, wenn die Staatsanwaltschaft den Antrag bei dem Gericht stellte, in dessen Bezirk sie ihren Sitz hat, wird der Anklagebehörde die Möglichkeit eingeräumt, zwischen zwei potentiell zuständigen Amtsgerichten zu entscheiden; zwischen dem Amtsgericht, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist (§ 162 Abs. 1 Satz 1 StPO) und dem Amtsgericht, in dessen Bezirk die Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat (§ 162 Abs. 1 Satz 2 StPO). Den Zweck dieser Beeinträchtigungen teilt die Norm durch die rechtlichen Kriterien, an die eine Wahlmöglichkeit der Staatsanwaltschaft gebunden wird, ausdrücklich mit. Es geht um die Sicherung des Untersuchungserfolges und damit letztlich um die Förderung der Effizienz der Strafverfolgung und des Rechtsschutzes. Die Abweichung von der Zuständigkeit wird neben sonstigen Fällen der Dringlichkeit für erforderlich gehalten, sofern die Staatsanwaltschaft etwa so weit vom Dienstort entfernt ermittele, daß ein Antrag bei dem Gericht, in dessen Bezirk sie ihren Sitz habe, eine zeitliche Verzögerung mit sich bringe, die den Untersuchungserfolg gefährden könne 223 . Unter diesen Umständen erscheinen die Zuständigkeitsentscheidungen der Anklagebehörde in einem Maße vorhersehbar, um § 162 StPO als verhältnismäßige Beeinträchtigung einstufen zu können. cc) Zuständigkeitsbeeinflussung durch die Verbindung sowie ein Antragsrecht bei der Verbindung und Trennung von Strafsachen Einige Vorschriften der Strafprozeßordnung 224 und des Jugendgerichtsgesetzes geben der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, selbständige Strafsachen zu verbinden. Andere Regelungen knüpfen die Verbindung von Strafsachen oder die Trennung verbundener Sachen durch das Gericht zwingend an einen Antrag der Anklagebehörde. Die genannten Maßnahmen führen zumindest für einen Teil der Rechtsunterworfenen zur Änderung der ursprünglichen sachlichen beziehungsweise örtlichen Zuständigkeit. Im einzelnen geht es um folgende Normen: (1) $ 2 Abs. 1 StPO und § 13 Abs. 1 StPO stellen die Verbindung von zusammenhängenden Strafsachen 225 in das Ermessen der Staatsanwaltschaft. Ein Zusammenstelle des „Erachtens" der Staatsanwaltschaft in Satz 3 der Norm soll die richterlich überprüfbare objektive Sachlage entscheidend sein. 223 Siehe Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 162 StPO Rn. 11. 224 Die §§ 2 ff. StPO gelten gemäß § 46 Abs. 1 OWiG sinngemäß auch für das Bußgeldverfahren. 225 Zur Verbindung und Trennung zusammenhängender Strafsachen siehe die Dissertation von Rosenmeier, Verbindung, sowie Kost, Verbindung, vor allem die Seiten 142ff.; Dünnebier,
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hang besteht nach § 3 StPO bei mehreren Straftaten einer Person (persönlicher Zusammenhang) oder einer Strafsache gegen mehrere Beteiligte (sachlicher Zusammenhang)226. (2) Auch nach § 4 Abs. 1 StPO 227 beruht die Verbindung oder Trennung von Strafsachen, die zu einer Änderung der sachlichen Zuständigkeit führt, auf einer Ermessensentscheidung des Gerichts, das von Amts wegen tätig werden kann. Allerdings sieht die Norm neben der Antragsmöglichkeit des Angeklagten auch ein Antragsrecht der Staatsanwaltschaft vor. Mit diesem Initiativrecht kann die Anklagebehörde auf die richterliche Zuständigkeit nach eigenem Ermessen Einfluß nehmen. (3) Bezüglich der örtlichen Zuständigkeit im Strafverfahren hängt gemäß § 13 Abs. 2 und Abs. 3 StP0 22S eine Verbindung und Trennung von Strafsachen von einer in das Ermessen der Gerichte gestellten Vereinbarung oder, falls eine Vereinbarung nicht zustande kommt, von der Entscheidung eines Gerichts ab. Anders als hinsichtlich § 4 StPO können die Gerichte jedoch nicht von Amts wegen entscheiden. Sie sind vielmehr im Falle des § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO von den Anträgen der Anklagebehörden abhängig und können auch hinsichtlich § 13 Abs. 2 Satz 2 StPO nur auf Initiative eines Angeschuldigten oder der Staatsanwaltschaft tätig werden. (4) § 103 Abs. 1 und Abs. 2 JGG 229 verweisen schließlich für eine Verbindung von Strafsachen gegen Jugendliche und Erwachsene auf die Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts. Sie enthalten jedoch die zusätzliche, das Ermessen steuernde Voraussetzung, daß eine Verbindung „zur Erforschung der Wahrheit" oder „aus anderen wichtigen Gründen" geboten sein muß. § 103 Abs. 2 Satz 1 JGG bestimmt darüber hinaus die regelmäßige Zuständigkeit des Jugendgerichts. Nur sofern danach die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts in Betracht kommt 230 oder eine der in § 103 Abs. 2 Satz 2 JGG beschriebenen Konstellationen vorliegt, sind für den Fall einer Verbindung von Strafsachen gegen Jugendliche und Erwachsene die in diesen Bestimmungen genannten Gerichte für allgemeine Strafsachen zuständig. Die Entscheidungen über eine Verbindung oder Trennung von Strafsachen werden im Rahmen von § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 und Abs. 2 StPO ausschließlich auf der Basis von gesetzlich nicht näher spezifizierten Zweckmäßigkeitserwägungen gefällt. Nur § 103 JGG enthält ermessensleitende Kriterien. Die Regelungen ermöglichen damit ein breites Feld von Variationen sachlicher beziehungsweise örtlicher Zuständigkeiten. Unter Umständen wird durch die Verbindung auch gleichzeitig eine JR 1975, 1 ff. und Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 2 StPO, vor allem die Rn. 18ff. und § 13 StPO Rn. 1 bis 17. 226 Zum Begriff des Zusammenhangs siehe Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 3 StPO Rn. 4 ff. 227 Zu dieser Norm siehe Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 4 StPO Rn. 21 f. 228 Zu dieser Bestimmung an dieser Stelle nur Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar, § 13 StPO Rn. 3 ff. 229 Dazu Eisenberg, § 103 JGG Rn. 9ff. und Fahl, NStZ 1983, 309ff. Die Norm gilt gemäß § 112 Satz 1 JGG entsprechend für Verfahren gegen Heranwachsende. 230 Siehe § 102 Satz 1 JGG und § 120 Abs. 1 und 2 GVG. 9 Roth
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Änderung der sachlichen Zuständigkeit und des Gerichtsstandes bewirkt 2 3 1 . Die Normen stellen folglich Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Trotz des erheblichen Entscheidungsfreiraumes, den die Bestimmungen den Anklagebehörden sowie den Gerichten ermöglichen, werden § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 und Abs. 2 StPO von der Rechtsprechung 232 und einem Großteil der L i teratur 233 für verfassungsrechtlich zulässig gehalten. Zur Rechtfertigung wird auf den Gesichtspunkt prozessualer Zweckmäßigkeit verwiesen, der ausdrücklich in § 2 Abs. 2 StPO verankert ist. Eine Trennung oder Verbindung könne prozeßökonomische Vorteile bringen und diene insoweit der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege 2 3 4 . Selbst wenn die Flexibilität, die von diesen Vorschriften ausgeht, zu einer Steigerung der Effizienz des Rechtsschutzes beitragen mag und daher auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückgeführt werden kann, ist die Verhältnismäßigkeit der Normen zweifelhaft. Die Intensität der Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, auf die sich die verfassungsrechtlichen Bedenken stützen und die für eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit von entscheidender Bedeutung ist, läßt sich mit den Normen über die Gerichtsstandshäufung im Strafverfahren vergleichen 235 . Wie dort wird auch
231 Zur Frage, welche Vorschriften für diesen Fall Anwendung finden, die §§ 2 bis 4 StPO oder die Regelungen über die örtliche und sachliche Zuständigkeit in Kombination, siehe nur Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 2 StPO Rn. 1 und § 13 StPO Rn. 3 mit weiteren Nachweisen. Für die Frage des „gesetzlichen Richters" ist entscheidend, daß es in jedem Fall bei einer Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft bleibt. 232 Siehe BGHSt 10,130 (132ff.). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit den beschriebenen Normen ausdrücklich befassen, existieren nicht. Den Zweck einer Verbindung erläutert BVerfGE 45, 354 (359). 233 So Pfeiffer, § 2 StPO Rn. 2; Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 2 StPO Rn. 18 f.; § 4 Rn. 21 f.; § 13 StPO Rn. 25 fordert hinsichtlich § 4 StPO zumindest die Ergänzung eines normativen Tatbestandsmerkmals; Paulus, in: KMR, § 2 StPO Rn. 1 ff.; Rudolphi, in: Systematischer Kommmentar, § 2 StPO Rn. 8 (verschärfte Kontrolle der Ermessensausübung erforderlich); Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 2 StPO Rn. 2; § 13 StPO Rn. 3 ff.; Lemke, in: Heidelberger Kommentar, § 2 StPO Rn. 6 räumt zwar eine mögliche „Berührung" von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein, hält § 2 dennoch für „wohl nicht verfassungswidrig". Dästner, in: Altemativkommentar, § 2 StPO Rn. 2 und § 13 StPO Rn. 2 erkennt die geäußerten Bedenken gegen den Spielraum der Staatsanwaltschaft zwar teilweise an. Da sich eindeutige Kriterien aber nicht aufstellen ließen und der „gesetzliche Richter" auch keinen absoluten Vorrang vor Spezialprävention und Verfahrensökonomie besitze, seien die Regelungen im Ergebnis nicht zu beanstanden. Für eine Verfassungsmäßigkeit spricht sich wohl auch Kost, Verbindung, S. 145ff. aus. Dästner, RuP 1981, 18 (20f.) weist daraufhin, ohne die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen ausdrücklich zu bewerten, daß die Einfügung normativer Tatbestandsmerkmale keinen praktischen Gewinn mit sich bringe, da deren Vorliegen oder NichtVorliegen leicht zu begründen sei. Ähnliche Bedenken äußert auch Dünnebier, JR 1975, 1 (4). 234 Siehe BVerfGE 45, 354 (359); Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar, § 2 StPO Rn. 1 sowie Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 2 StPO Rn. 18, § 4 StPO Rn. 21, wo eine Ergänzung von § 4 StPO um ein normatives Tatbestandsmerkmal befürwortet wird. 235 Dazu unter §4 A.II. l.bb)(l), S. 125ff.
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hier, von § 103 JGG abgesehen, eine Bewirkung unterschiedlicher richterlicher Zuständigkeiten gänzlich dem Ermessen der Anklagebehörde sowie den Gerichten überantwortet. Ermessensentscheidungen sind ihrer Natur nach kaum vorhersehbar und nur in sehr begrenztem Umfang einer rechtlichen Nachprüfung zugänglich. Stellt man Zuständigkeitsentscheidungen einzig in das Ermessen hoheitlicher Gewalt, ohne weitere rechtliche Maßstäbe vorzusehen, so werden die Verfahrensbeteiligten erheblichen Manipulationsgefahren ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund sind Zweckmäßigkeitserwägungen, ohne den Nachweis zu erbringen, daß die Effektivität des Rechtsschutzes nachhaltig und gravierend in Mitleidenschaft gezogen würde, sofern man die Verbindung und Trennung von Verfahren an engere rechtliche Maßstäbe bände, nicht von ausreichendem Gewicht, um die Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als zumutbar einstufen zu können236. Einzige Ausnahme bildet § 103 JGG. Die Norm engt das Ermessen ein, indem eine Verbindung zur Erforschung der Wahrheit oder aus anderen wichtigen Gründen geboten sein muß. Angesichts der interpretatorischen Offenheit dieser Umschreibungen ist es allerdings fraglich, ob man die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Normen im Ergebnis anders beurteilen kann, als hinsichtlich der Vorschriften über eine Verbindung und Trennung von Verfahren in der Strafprozeßordnung. dd) Übernahme der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten § 42 Abs. 1 Satz 1 OWiG enthält eine Regelung, die an die vorab beschriebenen Vorschriften über die Verbindung von Strafsachen in der Strafprozeßordnung erinnert. Danach kann die Staatsanwaltschaft bis zum Erlaß des Bußgeldbescheides die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit übernehmen, wenn sie eine Straftat verfolgt, die mit der Ordnungswidrigkeit zusammenhängt. Nach der mit unbestimmten Rechtsbegriffen versehenen, ermessenslenkenden Vorschrift des § 42 Abs. 2 OWiG soll sie die Verfolgung nur übernehmen, wenn dies zur Beschleunigung des Verfahrens oder wegen des Sachzusammenhangs oder aus anderen Gründen für die Ermittlungen oder die Entscheidung sachdienlich erscheint. Sofern die Staatsanwaltschaft, nach einer Übernahme gemäß § 42 OWiG, im Verlaufe des Verfahrens wegen der Straftat öffentliche Klage erhebt, bestimmt wiederum § 64 OWiG, daß die Klage auf die Ordnungswidrigkeit zu erstrecken ist, sofern die Ermittlungen hierfür genügenden Anlaß bieten. Die in dieser Norm verankerte Möglichkeit, auf die richterliche Zuständigkeit einzuwirken, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß § 68 OWiG für Einsprüche gegen Bußgeldbescheide eigentlich die Zuständigkeit des Amtsgerichts festschreibt. 236
Übereinstimmend Oehler, ZStW 1952,292 (304); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 32; Rosenmeier, Verbindung, S. 130 bis 149 und S. 164; Dünnebier, JR 1975, 1 ff.; Müller, Rechtsstaat, S. 127 ff.; Fahl, NStZ 1983,309f. fordert zumindest eine restriktive Auslegung des § 103 JGG dahingehend, daß die Wahrheitsfindung nur durch eine Verbindung möglich sein darf; Achenbach, in: FS Wassermann, S. 849 (857f.); Herzog, StV 1993, 609 (612). 9*
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Durch eine Klageerhebung nach § 64 OWiG wird jedoch unter Umständen die Zuständigkeit des Landgerichts (§ 24 Abs. 1, § 74 Abs. 1 GVG) oder des Oberlandesgerichts (§ 120 GVG) begründet. Eine Übernahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 OWiG ermöglicht demnach letztlich eine Änderung der sachlichen Zuständigkeit des Gerichts nach dem Ermessen der Staatsanwaltschaft, ein Ermessen, das allerdings bei Vorliegen eines Zusammenhangs gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 OWiG durch die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 42 Abs. 2 OWiG eingeengt wird. Stellt § 42 OWiG, wie einhellig behauptet wird 237 , eine verhältnismäßige, also verfassungsrechtlich gerechtfertigte Beschränkung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter dar? Sucht man zur Beantwortung dieser Frage zunächst nach Verfassungsgütern, die als ranggleiche Rechtsgüter dem vorbehaltlos gewährleisteten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entgegengehalten werden können, bleibt auch in diesem Falle nur der Rückgriff auf die Förderung der Effizienz des Rechtsschutzes. Aufschluß über die Motive des Gesetzgebers gibt zunächst § 42 Abs. 2 OWiG. Dort werden ausdrücklich die Beschleunigung des Verfahrens und der Sachzusammenhang als entscheidungslenkende Kriterien hervorgehoben. Allgemein wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, eine Übernahme könne ermöglichen, daß mehrfache Vernehmungen erspart und Ermittlungsorgane entlastet würden. Ziel der Norm sei es, ein angemessenes Verfahren und eine Entscheidung durch ein geeignetes Gericht herbeizuführen 238. Legt man zugrunde, daß dieser Entscheidungsfreiraum dem Verfassungsgut der Effektivität des Rechtsschutzes dient, so könnte für eine Verhältnismäßigkeit der Norm sprechen, daß, im Unterschied zu den Regeln über die Gerichtsstandhäufung sowie über die Verbindung oder Trennung von Strafsachen, lediglich ein Wahlrecht eingeräumt wird, das, zu Gunsten der Vorhersehbarkeit richterlicher Zuständigkeit, in § 42 Abs. 2 OWiG durch eine „Soll-Bestimmung" näher präzisiert wird. Andererseits erweisen sich die ermessenslenkenden Umschreibungen von § 42 Abs. 2 OWiG bei näherer Betrachtung als vage. Dies kommt insbesondere in der Auffangklausel, wonach die Staatsanwaltschaft die Verfolgung übernehmen soll, wenn dies aus sonstigen Gründen für die Ermittlung oder die Entscheidung sachdienlich erscheint, zum Ausdruck. Sachdienlichkeitserwägungen sind naturgemäß unterschiedlichen, nur schwer abgrenzbaren Argumenten zugänglich und hängen maßgeblich von individueller Einschätzung ab. Aus Sicht der Verfahrensbeteiligten ist es demnach nur schwer vorhersehbar, in welchen Fällen die Staatsanwaltschaft die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit, mit der Folge einer möglichen Änderung der richterlichen Zuständigkeit, übernehmen wird. Unter diesen Bedingungen bleiben Zweifel an der Verhältnismäßigkeit von § 42 OWiG.
237 Lampe, in: Karlsruher Kommentar, § 42 OWiG Rn. 24; Kurz, in: Karlsruher Kommentar, § 64 OWiG Rn. 6; Göhler, § 42 OWiG Rn. 24; Rotberg, § 42 OWiG Rn. 10; Rebmann/Roth/Herrmann, § 42 GVG Rn. 10. 238 Siehe Göhler, § 42 OWiG Rn. 16,24.
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b) Möglichkeiten der Einflußnahme durch die übrige Exekutive Bislang wurden die beweglichen Zuständigkeiten erörtert, die in erster Linie in Zusammenhang mit der Staatsanwaltschaft stehen. Von eher untergeordneter Bedeutung sind demgegenüber solche Vorschriften, die der übrigen Exekutive Gelegenheit zur Einwirkung auf das im Einzelfall zur Entscheidung berufene Gericht geben; untergeordnet sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch ihrer verfassungsrechtlichen Relevanz. Die Untersuchung beschränkt sich auf zwei Bereiche, die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern sowie die örtliche Zuständigkeit der Amtsgerichte bei Einsprüchen gegen Bußgeldbescheide. aa) Zuständigkeitsprobleme im Zusammenhang mit den Strafvollstreckungskammern Im Kontext der Entscheidungszuständigkeit der Strafvollstreckungskammern bei den Landgerichten ergeben sich zwei Probleme. Es handelt sich einerseits um die gesetzliche Regelung der örtlichen Zuständigkeit der Kammern in der Strafprozeßordnung (dazu (1)). Zweitens geht es um die Rechtsgrundlagen und den sich daraus ergebenden Rechtsweg bei einer Verlegung von Gefangenen im Strafvollzug (dazu (2)).
(1) Flexible örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern Die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern, die als besondere Spruchkörper bei den Landgerichten eingerichtet werden, ergibt sich aus § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO 239 in Verbindung mit § 78 a und § 78 b GVG 240 . Für die im Gesetz genannten Entscheidungen, etwa über eine nachträgliche Strafaussetzung zur Bewährung, ist danach die Strafvollstreckungskammer örtlich zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befaßt wird, aufgenommen ist. Die Zuständigkeit des Gerichts knüpft demnach an eine Maßnahme der Vollzugsbehörden an, die gemäß §§ 139 ff. StVollzG für den Vollzug der Freiheitsstrafen und der Sicherungsverwahrung zu sorgen haben. Dies wäre mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als unbedenklich anzusehen, solange die Einweisungen aufgrund eines bereits bestehenden Vollstreckungsplanes (siehe § 152 StVollzG) unabänderlich zu Beginn der Strafe oder Maßregel erfolgen würden. Für diesen Fall bliebe es bei der Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in der der Verurteilte für den gesamten Zeitraum untergebracht ist. Nach § 8 Abs. 1 StVollzG kann der Gefangene 241 jedoch, 239 Zu dieser Vorschrift allgemein Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 462 a StPO Rn. 10 ff. und Paulus, in: KMR, § 462a StPO Rn. 14ff. 240 Siehe auch § 463 Abs. 1 StPO und § 110 StVollzG. 241 Die Norm gilt gemäß § 130 StVollzG entsprechend für Sicherheitsverwahrte.
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abweichend vom Vollstreckungsplan, in eine andere Anstalt verlegt werden, wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird oder wenn dies aus Gründen der Vollzugsorganisation oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist. In Krankheitsfällen läßt außerdem § 65 StVollzG eine Verlegung gegen den Willen des Betroffenen zu. Die soeben beschriebene Regelungssystematik ermöglicht den gemäß § 153 StVollzG zuständigen Vollzugsbehörden, durch die Verlegung von Gefangenen, die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer zu verändern, da die Zuständigkeit des Gerichts sich nach der tatsächlichen Unterbringung zum Zeitpunkt der Maßnahme richtet. Genau an dieser Stelle setzt die Kritik an. Dabei sind, zum besseren Verständnis, zwei Phasen der Auseinandersetzung mit § 462 a StPO zu unterschieden, der Zeitraum vor und der Zeitraum nach Erlaß des Strafvollzugsgesetzes: Vor Inkrafttreten des Gesetzes242 richteten sich die verfassungsrechtlichen Bedenken vor allem gegen die fehlende gesetzliche Fundierung der Verlegungsmöglichkeiten eines Gefangenen durch die Strafvollzugsbehörden. Grundlage von Verlegungen waren allein die Vollstreckungspläne und die Dienstvollzugsordnung, eine Verwaltungsvorschrift, wonach auch Belange des Vollzugs oder der Verwaltung eine solche Maßnahme rechtfertigten. Gerade in Zeiten der Überbelegung, so ein gewichtiges Argument der Kritiker 243 , seien Verlegungen zum Belegungsausgleich an der Tagesordnung gewesen. Unter diesen Voraussetzungen bestand eine erhöhte Gefahr für die Gefangenen, eine Verlegung hinnehmen zu müssen, die mit dem Ziel vorgenommen wurde, die Zuständigkeit einer anderen als der ursprünglichen Strafvollstreckungskammer herbeizuführen. Der Erlaß des Strafvollzugsgesetzes gab der Diskussion eine Wende. Es verlangt in § 152 die Regelung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalten in einem Vollstreckungsplan und läßt in § 8 Abs. 1 und § 65 die rechtlich überprüfbare 244 Verlegung eines Gefangenen nur aus den dort normierten Gründen zu. Dies wird meist zum Anlaß genommen, § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO als hinreichend bestimmte Normierung der gerichtlichen Zuständigkeit anzusehen245. § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO knüpfe die örtliche Zuständigkeit an den Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befaßt werde. Dies habe zur Konsequenz, daß die einmal eingetretene Zuständigkeit einer Strafvollstreckungskammer hinsichtlich eines konkreten Anlasses, etwa wenn ein Antrag eines Inhaftierten bei Gericht eingehe oder das
242
16.03.1976 (BGBl. I, S.581). Siehe Treptow, NJW 1975, 1105 (1107f.) und Schmidt, NJW 1975, 1485 (1489). 244 Siehe die §§ 109ff. StVollzG. 245 Siehe Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28; Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 462a StPO Rn. 10f.; Volckart, in: Altemativkommentar, § 462a StPO Rn. 18ff; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, § 462a StPO Rn. 14ff; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 462a StPO Rn. 7 ff. Nach Paulus, in: KMR, §462aStPORn. 16ff. darf angesichts Art. 101 Abs. 1 Satz 2GG von den Vollstreckungsplänen nur aus wichtigem Grund abgewichen werden. 243
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Gericht von sich aus das Verfahren einleite, durch einen Aufenthaltswechsel nicht verändert werden könne246. § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO stellt, im Zusammenhang mit den genannten Normen des Strafvollzugsgesetzes, eine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar 247 . Das Recht auf den gesetzlichen Richter verlangt, die richterliche Zuständigkeit so genau wie möglich gesetzlich vorauszubestimmen. Genauer gesetzlich geregelt als nach den geltenden Bestimmungen wäre die Zuständigkeit der Strafvollstrekkungskammern etwa, wenn die einmal durch Aufnahme in eine Strafanstalt begründete Zuständigkeit auch durch eine Verlegung nicht verändert würde. Für diesen Fall wäre die aus Sicht von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO enthaltene Schwachstelle, nämlich die richterliche Zuständigkeit an die tatsächliche Aufnahme in die Strafanstalt, also einen Akt der Justizvollzugsbehörden, zu binden, beseitigt. Allerdings wird man die Beeinträchtigung für verfassungsrechtlich gerechtfertigt halten müssen. Sinn der wechselnden Zuständigkeit ist es nämlich, die zuständigen Richter der Strafvollstreckungskammern in die Lage zu versetzen, sich persönlich ein Bild von den Haftumständen zu machen, die Grundlage ihrer Entscheidungen sind. Die besonderen Erfahrungen der Strafvollstreckungskammern für die ihnen obliegenden Entscheidungen sollen nutzbar gemacht werden 248. Dies läßt sich umso sachgerechter bewältigen, je eher eine räumliche Nähe zu den Justizvollzugsanstalten gewährleistet ist, in denen die Gefangenen inhaftiert sind, über deren Belange die Richter zu befinden haben. Die Flexibilität der Zuständigkeit ermöglicht daher die praktische Umsetzung des in § 2 StVollzG verankerten Resozialisierungsgedankens im Rahmen des sogenannten BehandlungsVollzugs. Der Resozialisierungsgedanke wird als Ausprägung des durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Inhaftierten verstanden249. Für eine Verfassungsmäßigkeit spricht zudem, daß nach § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO die Zuständigkeit hinsichtlich Entscheidungen, mit denen ein Gericht bereits befaßt ist, durch eine danach vorgenommene Verlegung nicht verändert wird 250 . Vor diesem Hintergrund kann die Gefahr, daß Strafvollzugsbehörden die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer durch eine Verlegung mit Blick auf eine bestimmte Entscheidung manipulieren, als äußerst gering eingestuft werden. Die Möglichkeit einer Einflußnahme bliebe unter dieser Voraussetzung auf solche - seltenen - Konstellationen beschränkt, in denen die Behörde, in Kenntnis eines bevorstehenden Antrags des Inhaftierten oder einer demnächst anstehenden gerichtlichen Entscheidung, jedoch 246
Kissel, § 78 a GVG Rn. 18. Siehe Wassermann, in: Altemativkommentar, Art. 101 GG Rn. 15. 248 Siehe Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 462 a StPO Rn. 1 f. 249 Siehe BVerfGE 33, 1 (7 f.); 35, 202 (235 f.); 45, 187 (238 ff.). 250 Siehe BGHSt 26, 165ff.; 26, 278ff. sowie Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 462a StPO Rn. 21, der daraufhinweist, daß ein Wechsel insofern zu erheblichen Vefahrens Verzögerungen führen könne. 247
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bevor das Gericht mit der Sache befaßt wird, eine Verlegung vornimmt, um die gerichtliche Zuständigkeit zu verändern.
(2) Zuständigkeit für den Rechtsschutz gegen Gefangenenverlegungen Das zweite Problem im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Strafvollstrekkungskammern betrifft die gesetzlichen Grundlagen der Verlegung von Gefangenen nach Beginn des Strafvollzuges und die Auswirkungen einer Anwendung dieser Normen auf die Frage, welches Gericht für den Rechtsschutz gegen eine solche Maßnahme zuständig ist. Die zentrale einfachgesetzliche Bestimmung einer Verlegung von Gefangenen ist § 8 Abs. 1 StVollzG, der eine Verlegung an abschließend aufgeführte Voraussetzungen knüpft. Der Rechtsweg gegen eine Verlegung führt über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung durch die Strafvollstreckungskammer 251, in deren Bezirk sich die beteiligte Vollzugsbehörde befindet, im Wege der Rechtsbeschwerde an den zuständigen Strafsenat des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk die Strafvollstrekkungsbehörde ihren Sitz hat 252 . Wenn dies die einzige Ermächtigung zur Verlegung von Gefangenen wäre, handelte es sich um eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Bestimmung richterlicher Zuständigkeit für den Rechtsschutz gegen Verlegungen. Das im Einzelfall zuständige Gericht ergäbe sich eindeutig aus dem Strafvollzugsgesetz. Allerdings wird neben der Ermächtigung im Strafvollzugsgesetz noch eine weitere Bestimmung zur Verlegung von Gefangenen herangezogen, § 24 der Strafvollstreckungsordnung, eine bundeseinheitliche Verwaltungsvorschrift, die zur Konkretisierung der §§ 449 ff. StPO erlassen wurde 253. Der Rechtsweg ist in diesem Fall ein anderer, als im Falle einer Verlegung nach § 8 StVollzG. Über das Beschwerdeverfahren nach § 21 StrVollStrO gelangt man in das Verfahren gemäß §§ 23 ff. EGGVG und letztlich, nach § 25 Abs. 1 Satz 2 EGGVG, zum Strafsenat des Oberlandesgerichts. Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist Voraussetzung, daß die richterliche Zuständigkeit durch Gesetz geregelt ist. Einzige Ausnahme bilden die Geschäftsverteilungspläne der Gerichte, die im Bereich richterlicher Selbstverwaltung die gesetzlichen Grundlagen vervollständigen. Eine VerwaltungsVorschrift erfüllt diese Voraussetzung keinesfalls 254. Zur Begründung wird man darauf abstellen müssen, daß Verwal251
§§109, 110 StVollzG. §§116, 117 StVollzG. 253 Zur Strafvollstreckungsordnung siehe den gleichnamigen Kommentar von Pohlmann/Jabel/Wolf Zu einem Fall, in dem eine Verlegung aufgrund der Strafvollstreckungsordnung vorgenommen wurde siehe BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) NStZ 1993, 300f. und Wolf/Jabel, NStZ 1994, 63 ff., insbesondere Seite 66. 254 BVerfGE 27, 19 (34). 252
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tungsvorschriften, ungeachtet der Diskussion um die Rechtsnatur sowie die Außenwirkung solcher Regelungen255, jedenfalls keiner Veröffentlichungspflicht unterliegen, die der von formellen Gesetzen und Rechtsverordnungen vergleichbar wäre und auch darüber hinaus eine Änderung keinen vergleichbaren verfahrenstechnischen Hürden unterliegt 256. Die Gefahr, durch eine Verwaltungsvorschrift die gerichtliche Zuständigkeit hinsichtlich eines bestimmten Falles zu manipulieren, ist demzufolge größer als bei einer Regelung durch Gesetz. Schon aus diesem Grunde verstößt die richterliche Zuständigkeitsregelung der Strafvollstreckungsordnung gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die bestehende Doppelregelung ist auch aus Bestimmtheitserwägungen unzulässig. Ab Beginn des Vollzuges sollte für eine Verlegung von Gefangenen ausschließlich das Strafvollzugsgesetz mit seiner Regelung des Rechtsweges einschlägig sein. Nur auf diese Weise wäre eindeutig voraussehbar, welches Gericht für Rechtsbehelfe gegen eine Verlegung zuständig ist. Der Gefangene wäre für diesen Fall nicht der Ungewißheit ausgesetzt, auf welcher Grundlage, entweder der des Strafvollzugsgesetzes oder jener der Strafvollstreckungsordnung, die Verlegung vorgenommen und welches Gericht in der Folge seinen Fall entscheiden wird 257 . bb) Zuständigkeit der Amtsgerichte bei Einsprüchen gegen Bußgeldbescheide § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG 258 beantwortet die Frage, welches Amtsgericht für einen Einspruch gegen Bußgeldbescheide zuständig ist, nicht abschließend. Er koppelt vielmehr die Zuständigkeit des Gerichts an den Sitz der Verwaltungsbehörde. Die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten ergibt sich wiederum in sachlicher Hinsicht aus § 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG und dessen Verweisung auf die speziellen Gesetze, wie etwa § 26 Abs. 1 Satz 1 StVG, die häufig ihrerseits auf Rechtsverordnungen Bezug nehmen; in örtlicher Hinsicht ist § 37 OWiG maßgebend. Ein solches Regelungssystem bestimmt, trotz der vielfältigen Verweise, die Zuständigkeit der Amtsgerichte in Bußgeldsachen so genau wie möglich und stellt daher keine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Zwar wäre eine Einflußnahme auf die im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter durch Verlegung eines Behördensitzes oder Änderung einer Zuständigkeits255
Dazu nur Maurer, Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 2 ff., 15 ff. Siehe Maurer, Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 32 ff. Verwaltungsvorschriften können grundsätzlich formlos ergehen. Grundsätzlich gilt es auch keine Verfahrensvorschriften zu beachten. Eine Bekanntmachung ist nur hinsichtlich der Behörden erforderlich, an die sie gerichtet sind. 257 Wolf!Jabel, NStZ 1994,62 (66). Dies gilt selbst dann, wenn, worauf Wolf und Jabel, NStZ 1994, 63 (66) hinweisen, aufgrund der Geschäftsverteilungspläne der Oberlandesgerichte, die Sachen in der Regel zu demselben Senat gelangen. 258 Zum Regelungsgehalt der Norm siehe Göhler, § 68 OWiG Rn. 3 ff.; Bohnert, in: Karlsruher Kommentar, § 68 OWiG Rn. 6 ff. In der BVerfGE 27, 18 (34ff.) wird die Norm für verfassungsgemäß gehalten. 256
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Verordnung mit Blick auf ein anhängiges oder unmittelbar bevorstehendes Verfahren denkbar. Eine solche Vorgehensweise wäre im Falle einer Behördenverlegung, angesichts des erheblichen Aufwandes, der damit verbunden wäre, praktisch kaum durchführbar. Im übrigen dürfte die Gefahr, daß eine Zuständigkeitsverordnung zur Manipulation eines Einzelfalles geändert wird, als äußerst unwahrscheinlich einzustufen sein. § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG unterliegt im Ergebnis jedenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken259. Die Erörterung von § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG wäre insofern entbehrlich, gäbe nicht die Interpretation der Norm Anlaß zur Kritik. Danach wird die Zuständigkeit des Amtsgerichts durch den Sitz der handelnden Verwaltungsbehörde nicht nur für den Normalfall vorgegeben, in dem das zuständige Verwaltungsorgan gehandelt hat. Auch für die Fälle, in denen die Behörde örtlich und sachlich für die Verfolgung und Ahndung der Ordnungswidrigkeit nicht zuständig war, soll sich die Zuständigkeit des Amtsgerichts dennoch nach dem Sitz dieser Verwaltungsbehörde richten260. In einen Leitsatz umformuliert würde diese Auslegung lauten: „Das zuständige Amtsgericht für Einsprüche gegen Bußgeldbescheide bestimmt sich nach der den Bußgeldbescheid erlassenden Behörde. Es entscheidet das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat".
Legt man § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG auf diese Weise aus, ermöglicht man jedoch der Exekutive die Manipulation der Zuständigkeit des Amtsgerichts. Jede unzuständige Behörde hätte es in der Hand, durch eine Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, über die richterliche Zuständigkeit für den Rechtsschutz gegen diesen Bußgeldbescheid zu entscheiden. Eine solche Auslegung ist nicht mit dem Ziel von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, eine Zuständigkeitsbestimmung durch die Exekutive von Fall zu Fall zu verhindern, in Einklang zu bringen 261.
259
Siehe BVerfGE 27, 18 (36). Zustimmend Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 36. Das gleiche gilt für den § 3 Abs. 1 Nr. 3 VwGO, dazu nur Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 3 VwGO Rn. 5 ff., der für eine Änderung der Abgrenzung der Gerichtsbezirke ein Landesgesetz im formellen Sinne verlangt. In § 1 Abs. 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zur VwGO wiederum wird die örtliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte an die im einzelnen zugeordneten Städte und Landkreise, genauer deren Gemeinde- und Kreisgebiete gekoppelt. § 16, § 17 Abs. 2 HGO bzw. § 14 Abs. 2 LKO ermöglichen schließlich eine Grenzänderung im Einverständnis mit den Gebietskörperschaften durch die Landesregierung oder einen Minister mittels Verwaltungsakt. Eine Grenzänderung zur Manipulation der örtlichen Zuständigkeit eines Verwaltungsgerichts ohne Gesetzesänderung und mit Blick auf ein konkretes anhängiges oder anstehendes Verfahren wäre folglich denkbar. Die Gefahr der Beeinflussung des „gesetzlichen Richters" auf diesem Wege ist jedoch ebenso unwahrscheinlich wie im Falle von § 68 OWiG und kann daher vernachlässigt werden. 260 Siehe Göhler,, § 68 OWiG Rn. 3; Rebmann/Roth,, § 68 OWiG Rn. 2. Meier,, § 68 OWiG Rn. 2 verweist darauf, daß § 67, § 68 und § 89 OWiG die Behörde meinten, die den Bescheid tatsächlich erlassen hat. 261 Zu dieser Kritik auch Bohnert, GA 1987,193 (198 ff.) und Bohnert, in: Karlsruher Kommentar, §68 OWiG Rn. 13 ff.
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Es geht an dieser Stelle nicht darum, der Verwaltung zu unterstellen, sie neige zu einer verfassungswidrigen Anwendung von Gesetzen. Das Augenmerk richtet sich allein auf den Gesetzgeber und dessen Pflicht, schon die Möglichkeit einer Manipulation, ungeachtet einer Einschätzung der Rechtstreue der Exekutive, auszuschließen. Dieser Zweck ist auch für die grundrechtskonforme Auslegung von Zuständigkeitsgesetzen maßgeblich. Dies hat zur Folge, daß solche Regeln auf eine Weise ausgelegt werden müssen, die die Möglichkeit einer Manipulation der Zuständigkeit ausschließt. Für die Zuständigkeit des Amtsgerichts kommt es daher in jedem Fall auf die nach den Gesetzen zuständige Verwaltungsbehörde an, auch wenn tatsächlich eine unzuständige Behörde gehandelt hat. Diesen Anforderungen würde etwa folgender Wortlaut entsprechen: „Bei einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid entscheidet das Amtsgericht, in dessen Bezirk die für den Erlaß des Bußgeldbescheides zuständige Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat."
2. Rechtsprechung und Recht auf den gesetzlichen Richter Bislang war nur von Normen die Rede, die - in erster Linie - der Exekutive ermöglichen, auf die richterliche Zuständigkeit von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen. Die Untersuchung wird im folgenden mit solchen Gesetzen vervollständigt, die der Judikative Entscheidungsfreiräume einräumen. Aus den einschlägigen Bestimmungen lassen sich zunächst solche Gesetze herausgreifen, die den Rechtsweg und die örtliche und sachliche Zuständigkeit von Gerichten betreffen (dazu a)). Sofern einige dieser Vorschriften auch eine Einflußnahme auf die gerichtsinterne Geschäftsverteilung ermöglichen 262, werden sie dennoch umfassend im Kapitel über die Beeinflussung des Rechtsweges und der Zuständigkeit der Gerichte behandelt. Davon sind Normen zu unterscheiden, die es ermöglichen, über eine Verbindung und Trennung von Verfahren, auf die in der gerichtsinternen Geschäftsverteilung verankerte Zuständigkeit der Spruchkörper und einzelner Richter einzuwirken (dazu b)). Schließlich geht es um Regelungen, die die zahlenmäßige Besetzung von Spruchkörpern betreffen (dazu c)). a) Normen hinsichtlich der Beeinflussung des Rechtsweges und der Zuständigkeit von Gerichten Hinsichtlich einiger Normen ist unklar, ob sie den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berühren beziehungsweise ob sie Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter darstellen. Dies gilt zunächst für solche Rege262 So die Vorschriften über die Zurückverweisung der Rechtsmittelgerichte, die unter Gliederungspunkt 2.a)ee), S. 152ff. untersucht werden.
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lungen, die eine Verweisung an das zuständige Gericht bei einer Annahme der eigenen oder der Zuständigkeit des vorinstanzlichen Gerichts vorsehen (dazu aa)). Das Problem stellt sich außerdem in bezug auf die Gesetze, die für bestimmte Ausnahmesituationen, Streit- und Konfliktfälle hinsichtlich einer gerichtlichen Zuständigkeit sowie bei Unzuständigkeit des mit der Sache befaßten Gerichts einem Gericht die Befugnis übertragen, zur Klärung der Situation, die Zuständigkeit eigenständig herbeizuführen (dazu bb)). Gleiches gilt für die Normen über die Zulassung von Rechtsmitteln sowie die Annahme von Verfassungsbeschwerden (dazu cc)). Die übrigen Gesetze lassen sich nach ihrem Regelungsinhalt folgendermaßen gruppieren: die Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht (dazu dd)) sowie die Rechtsmittelgerichte (dazu ee)); die Abgrenzung der Zuständigkeit in zivilrechtlichen Revisionssachen zwischen dem obersten Landesgericht und dem Bundesgerichtshof (dazu ff)); die Herbeiführung der sachlichen Zuständigkeit der Jugendkammer durch die Übernahme von Jugendstrafsachen (dazu gg)); die Gerichtsstandsbestimmung im Strafverfahren durch Übertragung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts (dazu hh)) sowie die gerichtliche Trennung verbundener Strafsachen (dazu ii)). aa) Verweisung an das zuständige Gericht bei eigener Unzuständigkeit oder Unzuständigkeit eines vorinstanzlichen Gerichts ( 1 ) Normenbestand und Regelungszusammenhang Das Gerichtsverfassungsgesetz und die verschiedenen Verfahrensordnungen enthalten Normen, die jeweils eine von zwei unterschiedlichen Konstellationen gerichtlicher Zuständigkeit zur Tatbestands Voraussetzung haben: 1. Das mit der Sache befaßte Gericht hält sich selbst für unzuständig und verweist die Sache daher an das zuständige Gericht. Dieser Gruppe gehören folgende Bestimmungen an: a) die Norm des Gerichtsverfassungsgesetzes über den zulässigen Rechtsweg, § 17a Abs. 2 GVG 263, deren sinngemäße Anwendung auf die örtliche und sachliche Zuständigkeit in den meisten Prozeßordnungen bestimmt wird 264 . Danach verweist 263
Siehe dazu die Dissertation von Kirschbaum, Rechtswegprüfung. Zum Problem der Anwendung der §§ 17 ff. GVG auf summarische Verfahren siehe zuletzt Sennekamp, NVwZ 1997, 642 ff. 264 Siehe die § 173 VwGO, § 155 FGO, § 202 SGG und § 48 Abs. 1 ArbGG. Darüber hinaus erweitern die § 48 Abs. 1 ArbGG, § 83 VwGO, § 70 FGO und § 98 SGG den Anwendungsbereich von § 17 a Abs. 2 GVG insofern, als sie die entsprechende Geltung der Norm auch für die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Gerichte der betroffenen Arbeits-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit aussprechen. Demgegenüber gilt im Zivilprozeß § 281 ZPO.
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das Gericht im Falle der Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtsweges den Rechtsstreit an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Hinsichtlich des Rechtsweges ist der Beschluß für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen wurde, bindend. Die Auswahl zwischen mehreren zuständigen Gerichten eines Rechtsweges obliegt gemäß § 17 a Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz GVG dem Kläger oder Antragsteller. Lediglich wenn diese Wahl unterbleibt, überträgt das Gesetz im 2. Halbsatz der gleichen Bestimmung dem Gericht die Entscheidung über den zulässigen Rechtsweg, indem es seinerseits die Wahl hat zwischen den verschiedenen, zunächst nebeneinander zuständigen Organen der Rechtsprechung; b) § 209 Abs. 1, Abs. 2 StPO, §270 Abs. 1 StPO 265 und § 348 Abs. 1 StPO, welche die Verweisung an das zuständige Gericht niedrigerer oder höherer Ordnung in den unterschiedlichen Stadien des Strafverfahrens durch das mit der Sache befaßte aber unzuständige Gericht regeln; c) §281 Abs. 1 ZPO y wonach in Zivilverfahren im ersten Rechtszug vor den Landgerichten und den Amtsgerichten 266 das Gericht verpflichtet ist, den Rechtsstreit auf Antrag des Klägers an das zuständige Gericht zu verweisen. Sind mehrere Gerichte zuständig, hat der Kläger die Wahl, an die das Gericht bei der Verweisung gebunden ist. Ergänzend kann für den Zivilprozeß auf § 506 ZPO verwiesen werden. Danach verweist das Amtsgericht für den Fall einer nachträglichen sachlichen Unzuständigkeit, die durch die im Gesetz genannten Fälle eintritt, auf Antrag einer Partei an das zuständige Landgericht. 2. Das angerufene Rechtsmittelgericht verweist unter Aufhebung des Urteils die Sache an das zuständige Gericht, sofern das Gericht des vorangehenden Rechtszuges zu Unrecht seine Zuständigkeit angenommen hat. Diese Konstellation liegt § 328 Abs. 2 StPO und § 355 StPO 261 zugrunde. Danach hat im ersten Fall das Berufungsgericht und im zweiten Fall das Revisionsgericht die Sache an das zuständige Gericht der Vorinstanz zu verweisen. Dies unter der Voraussetzung, daß das Gericht des vorangegangenen Rechtszuges sich selbst unzutreffenderweise für zuständig gehalten hat. In diesem Zusammenhang kann zudem auf § 18 Abs. 3 WBO hingewiesen werden, wonach das Truppendienstgericht eine bindende Verweisung an die Verwaltungsgerichte oder Sozialgerichte vornimmt, sofern es deren Zuständigkeit für gegeben hält. 265 Siehe jedoch § 269 StPO, wonach das Gericht sich nicht für unzuständig erklären darf, weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehört. Eine ähnliche Vorrangregelung enthält § 47 a JGG, wonach sich ein Jugendgericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mit der Begründung für unzuständig erklären darf, daß ein Gericht für allgemeine Strafsachen zuständig sei. 266 Dies ergibt sich aus § 495 ZPO. Zusätzlich bestimmt § 504 ZPO, daß das Amtsgericht den Beklagten vor Verhandlung zur Hauptsache auf die sachliche und örtliche Unzuständigkeit hinzuweisen hat. 267 Siehe dazu nur Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, § 355 StPO Rn. 1, der betont, daß die Norm dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter dadurch Rechnung trägt, daß der Revisionsrichter zu der Entscheidung verpflichtet wird, die eigentlich der Tatrichter gemäß § 270 StPO hätte fällen müssen.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Die Gesetze sind keine Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie dienen vielmehr der Wahrung des Prinzips des gesetzlichen Richters. Ausgangslage einer Entscheidung ist jeweils, daß entweder das angerufene Gericht selbst unzuständig ist oder die Vorinstanz des Rechtsmittelgerichts unzuständig war. Mit Unzuständigkeit sind Abweichungen von der verfassungsrechtlich geforderten gesetzlichen Zuständigkeitsordnung umschrieben. Diese Abweichungen sollen durch die Zuständigkeitsbestimmung korrigiert werden. Zusammen mit der ΒindungsWirkung der Verweisungsbeschlüsse268 setzen die Vorschriften demnach das Recht auf den gesetzlichen Richter durch. Sie verfolgen den Zweck, die Verfahrensbeteiligten nicht zu Opfern von Zuständigkeitsstreitigkeiten werden zu lassen269. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Umstand, daß es überhaupt zu Zuständigkeitszweifeln kommt, müssen bei den Zuständigkeitsnormen ansetzen, die gegebenenfalls Anlaß einer Konfliktlösung sind, weil sie klärungsbedürftige Ungenauigkeiten enthalten. (2) Ausnahme: Wahlrecht gemäß § 17a Abs. 2 Satz 2 GVG Die Feststellung, daß die beschriebenen Verweisungsvorschriften keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen, bedarf allerdings hinsichtlich einer Bestimmung der Korrektur. § 17 a Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GVG normiert, daß das mit der Sache befaßte Gericht die Bestimmung des zuständigen Gerichts vornimmt, sofern die Wahl des Klägers oder Antragstellers unterbleibt. Das Gesetz enthält keine Kriterien, etwa in Form einer Vorrangregelung, nach denen diese Bestimmung zur erfolgen hat. Solche Entscheidungsfreiräume hinsichtlich des im Einzelfall zuständigen Gerichts sind Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Gelten die Bedenken, die gegen derartige Einflußmöglichkeiten allgemein erhoben werden, auch für § 17 a Abs. 2 Satz 2 GVG 270 ? Hinsichtlich der Kläger und Antragsteller unterliegt die Norm im Ergebnis keinen grundrechtlichen Bedenken. Voraussetzung einer Auswahl durch das Gericht ist nach § 17 a Abs. 2 Satz 2 GVG nämlich, daß der Kläger oder Antragsteller eine Wahl, auf die das Gericht im Rahmen der Anhörung hinzuweisen hat 271 , nicht vornimmt.
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Siehe § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG. So Kopp/Schenke, § 83 VwGO Rn. 3 hinsichtlich des Verwaltungsprozesses. Siehe auch Wolf, in: Münchener Kommentar, § 17 a GVG Rn. 1 und Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, § 348 StPO Rn. 1, wo darauf hingewiesen wird, daß die betroffenen Vorschriften Rechtswegund Kompetenzstreitigkeiten abbauen sollen. 270 Die im folgenden angeschnittene Problematik wird soweit ersichtlich in der Literatur und Rechtsprechung zu § 17 a Abs. 2 GVG nicht erwähnt, was darauf schließen läßt, daß insoweit keine Bedenken gegen die Norm erhoben werden. 271 Redekerl von Oertzen, Anhang zu § 41 VwGO Rn. 6 und Wolf in: Münchener Kommentar, § 17 a GVG Rn. 16, der daraufhinweist, daß der Kläger oder Antragsteller gegebenenfalls gemäß § 139 ZPO über das Wahlrecht aufgeklärt werden muß. Siehe auch BVerfG NJW 1982, 2367 f., wo auch mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der § 281 ZPO so ausgelegt wird, daß vor Verweisung eine Anhörung der Betroffenen erfolgen muß. 269
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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Diese Verfahrensbeteiligten können die Einflußmöglichkeit des Gerichts demnach abwenden. Hinsichtlich der Beklagten und Antragsgegner ergibt sich jedoch eine andere Sachlage. Ihnen gesteht das Gesetz keine Einflußnahme auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts zu. Dies wäre nur dann als unbedenklich anzusehen, solange die Wahl allein dem Kläger oder Antragsteller überlassen bliebe, wie es etwa in § 35 ZPO hinsichtlich der Gerichtsstände im Zivilprozeß der Fall ist, und dieser als natürliche Person oder juristische Person des Privatrechts nicht an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebunden ist 272 . § 17 a Abs. 2 GVG beläßt es jedoch nicht bei einer Wahlmöglichkeit des Klägers oder Antragstellers. Üben diese ihr Wahlrecht nicht aus, unterliegen Beklagte und Antragsgegner der freien Bestimmung des zuständigen Gerichts durch das mit der Sache befaßte Gericht. Diese Wahlmöglichkeit stellt eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung bereitet allerdings Schwierigkeiten, wäre es doch ohne weiteres möglich, an Stelle der Wahlmöglichkeit Kriterien zu verankern, aus denen sich das Gericht ergäbe, an das im Falle einer Mehrfachzuständigkeit zu verweisen wäre. Zu denken ist in erster Linie an eine Vorrangregel, wonach etwa im Falle einer mehrfachen sachlichen Zuständigkeit das Gericht höherer Ordnung Vorrang genießt oder bei unterschiedlichen örtlichen Zuständigkeiten die räumliche Nähe entscheiden soll. Wenn eine genauere gesetzliche Regelung jedoch möglich ist, so verpflichtet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG den Gesetzgeber, die exaktere Bestimmung vorzunehmen, sofern nicht andere Gründe von Verfassungsrang die Beeinträchtigung rechtfertigen können. Hinter der Wahlfreiheit könnte der Gedanke der Prozeßökonomie stehen, indem das zur Zuständigkeitsbestimmung befugte Gericht, in Kenntnis der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Falles, einzuschätzen hat, welches der Gerichte am ehesten geeignet erscheint, den jeweils vorliegenden Einzelfall zu einer zeitnahen und sachgerechten Entscheidung zu führen. Damit könnte sich der Gesetzgeber zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung auf das rechtsstaatliche Prinzip effektiven Rechtsschutzes berufen. Für diesen Fall kommt es im Ergebnis darauf an, ob man die Beeinträchtigung als verhältnismäßig ansieht.
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Probleme bereitet insoweit die Konstellation, in der grundrechtsgebundene staatliche Organe als Kläger im Zivilprozeß auftreten und ihr Wahlrecht aus § 35 ZPO ausüben. Siehe zu dieser Norm die Ausführungen unter dem Gliederungspunkt § 4 Α. II. 3., S. 178 f.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
bb) Herbeiführung richterlicher Zuständigkeit in Ausnahmesituationen, Streit- und Konfliktfällen oder bei Unzuständigkeit eines mit der Sache befaßten Gerichts Es war zu sehen, daß die Vorschriften über eine Verweisung im Falle der Unzuständigkeit eines mit der Sache befaßten Gerichts - mit einer Ausnahme - keine Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter darstellen. Dieses Ergebnis läßt sich zumindest im Ansatz auf die nunmehr zu untersuchenden Bestimmungen übertragen. Es handelt sich dabei um folgende, inhaltlich weitgehend identische Gesetze der unterschiedlichen Prozeßordnungen: § 36 ZPO 273; § 5 FGG; § 53 VwGO; § 39 FGO; § 58 SGG; § 13 a StPO, § 14 StPO, §15 StPO sowie §19 StPO 214. Diese Normen enthalten zusammengefaßt folgende Tatbestände, die Grundlage einer Zuständigkeitsbestimmung durch die berufenen Gerichte sind: (1) das an sich zuständige Gericht ist im Einzelfall aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen verhindert, die Gerichtsbarkeit auszuüben275; (2) Ungenauigkeiten oder Lücken in der bestehenden Zuständigkeitsordnung führen im Einzelfall dazu, daß die Zuständigkeit des Gerichts ungewiß ist oder den Gesetzen überhaupt nicht entnommen werden kann 276 ; (3) die Zuständigkeit ist zwischen mehreren Gerichten streitig oder es treten Zuständigkeitskonflikte dadurch auf, daß sich entweder verschiedene Gerichte rechts-
273 Dazu Herz, Zuständigkeitsbestimmung, S. 5 ff.; Bornkamm, NJW 1989,2713 ff. sowie zuletzt Kemper, NJW 1998, 3351 ff. und BGH NJW 1999, 1403 f. zur Änderung von § 36 ZPO durch das Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz vom 22.12.1997 (BGBl. I, S. 3224), die am 01.04.1998 in Kraft getreten ist. Eine Ausnahme von der in § 36 Abs. 2 ZPO nunmehr vorgesehenen Verlagerung der Zuständigkeitsbestimmung vom Bundesgerichtshof auf die Oberlandesgerichte besteht nur für das Land Bayern, wo nach § 9 EGZPO i. V. m. § 8 EGGVG, Art. 21,23 Bay AGG VG das Bayerische Oberste Landesgericht in jedem Fall die Zuständigkeitsbestimmung vorzunehmen hat. 274 Siehe BVerfGE 20, 336 (343), wo im Rahmen einer Entscheidung zu § 354 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. auch angedeutet wird, daß § 13 a und § 15 StPO mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sind. 275 Siehe § 53 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, § 39 Abs. 1 Nr. 1 FGO, § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 5 Abs. 1 Satz 2 FGG, § 15 StPO, § 58 Abs. 1 Nr. 1 SGG. 276 Siehe § 53 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 und Abs. 2 VwGO, § 39 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 FGO, § 36 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 ZPO, § 5 Abs. 1 Satz 1 FGG, § 13 a StPO, § 58 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 SGG. In diesen Zusammenhang können auch § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 EGZPO gestellt werden. Siehe zu diesen Normen außerdem die Ausführungen zu § 8 Abs. 2 EGGVG unter Gliederungspunkt § 4 Α. II. 2. a)ff), S. 157f.
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kräftig für zuständig erklärt haben oder verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig war, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben277. Diese Vorschriften stehen von ihrem Grundgedanken her im Dienste des Rechtes auf den gesetzlichen Richter. Sofern eine der beschriebenen Konflikt- und Ausnahmesituationen ihre Ursache in einer Ungenauigkeit oder Lückenhaftigkeit der richterlichen Zuständigkeitsordnung hat, so sind dafür die Zuständigkeitsnormen verantwortlich, die es notwendig machen, Regelungen zur Lösung von Konflikten oder Bereinigung von Gesetzeslücken bereitzustellen. Aufgabe der Konfliktlösungsvorschriften ist es, auftretende Unzulänglichkeiten bei der Ermittlung des zuständigen Gerichts auf der Basis der existierenden Zuständigkeitsordnung aufzufangen oder unvorhersehbare Ausnahmesituationen zu bereinigen. Weder Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gerichten noch gesetzliche Ungenauigkeiten sollen zu Lasten der Verfahrensbeteiligten gehen. Auch wenn demnach diese Art von Auffangvorschriften grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich ist, so ist dennoch Kritik an der Art und Weise angebracht, wie diese Befugnisse im Detail ausgestaltet sind. Die Vorschriften lassen offen, an welches Gericht die Verweisung zur erfolgen hat 278 . Die Auswahl wird in das Ermessen des gemeinsamen nächsthöheren Gerichts gestellt. Dies stellt eine Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter dar, denn der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, genauer zu regeln, welches Gericht in Ausnahme- und Konfliktlösungsituationen zuständig sein soll. Hinsichtlich der unterschiedlichen Tatbestandsvarianten muß dabei zwischen zwei Grundkonstellationen differenziert werden. Keine Probleme bereiten die Fälle, in denen es um einen Zuständigkeitsstreit zwischen Gerichten geht 279 . Das Gericht hat dasjenige Organ der Rechtsprechung als zuständig zu erklären, das nach der Gesetzeslage zur Entscheidung berufen ist. Es verhilft der andernorts verankerten gesetzlichen Zuständigkeitsregelung lediglich zur 277
Siehe § 53 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 VwGO, § 39 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 FGO, § 36 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 6 ZPO, § 5 Abs. 1 Satz 1 FGG, § 14 und § 19 StPO, § 58 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 SGG. 278 Aus dem gleichen Grund hält Kopp/Schenke, § 53 VwGO Rn. 2 die Vorschrift für bedenklich. Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (568 f.) hält alle Vorschriften für verfassungswidrig, die dem Gericht im Ergebnis einen Entscheidungsfreiraum bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts einräumen; kritisch auch Hamann/Lenz, Art. 101 GG Anm. Β 2 c. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 20, 336 (343) bestehen gegen die §§ 13 a und 15 StPO keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Im übrigen wird soweit ersichtlich keine Kritik an diesem Entscheidungsfreiraum der Gerichte geübt. Für eine Verfassungsmäßigkeit von § 36 ZPO in der Fassung vor dem 01.04.1998 sprechen sich ausdrücklich aus Herz, Zuständigkeitsbestimmung, S. 6f.; Bornkamm, NJW 1989, 2713 (2714); Schumann, in: Stein/Jonas, § 36 ZPO Rn. 1. Für eine Verfassungsmäßigkeit von § 53 VwGO etwa Ziekow, in: Sodan/Ziekow, § 53 VwGO Rn. 1. 279 Dies trifft zu auf § 36 Abs. 1 Nr. 5 und 6 ZPO, § 14 und § 19 StPO, § 58 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGG, § 53 Abs. 1 Nr. 4 und 5 VwGO und § 39 Abs. 1 Nr. 3 und 4 FGO. 10 Roth
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Anwendung280. Sollte die in anderen Gesetzen normierte Zuständigkeit vermeidbare Ungenauigkeiten enthalten, muß die Nachbesserung dort ansetzen. Hinsichtlich der Konfliktlösungsvorschriften selbst ist aus der Perspektive von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzig bedeutsam, ob diese Auffangvorschriften ihrerseits hinreichend exakt bestimmen, welches Gericht in den Ausnahmesituationen für zuständig zu erklären ist. Eine andere Situation ergibt sich in bezug auf die Tatbestandsalternativen, hinsichtlich derer es nicht lediglich um die Durchsetzung andernorts normierter Zuständigkeit geht, die vielmehr auf einen Entscheidungsfreiraum des Gerichts hinauslaufen. Dies sind zunächst die Fälle der tatsächlichen und rechtlichen Verhinderung des an sich zuständigen Gerichts oder der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Falle einer Verhandlung vor diesem Gericht. Desweiteren unterfallen diesem Regelungstypus die Konstellationen, in denen eine örtliche Zuständigkeit fehlt oder es ungewiß ist, welches Gericht im Einzelfall zuständig ist. Alle genannten Vorschriften ermächtigen das zur Entscheidung berufene Gericht, auf der Basis von Zweckmäßigkeitserwägungen281, aus einer Vielzahl von Gerichten das zuständige auszuwählen. Auf welche Güter von Verfassungsrang kann sich der Gesetzgeber zur Rechtfertigung dieser Beeinträchtigungen stützen? Die Auswahl des Gerichts nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit282 dient nicht zuletzt dem Ziel, eine sachgerechte und zeitnahe Entscheidung herbeizuführen. Insofern lassen sich die Entscheidungsfreiräume auf das rechtsstaatliche Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes zurückführen 283 . Die Erörterung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung spitzt sich daher auf die Frage der Verhältnismäßigkeit zu. In diesem Zusammenhang spielt eine maßgebliche Rolle, daß die Wahl des zuständigen Gerichts in das rechtlich nicht konkretisierte Ermessen der entscheidungsbefugten Gerichte gestellt wird. Derartige Ermessensspielräume erschweren die Vorhersehbarkeit richterlicher Zuständigkeit in besonderem Maße. Zweckmäßigkeitserwägungen sind kaum berechenbar und einer rechtlichen Nachprüfung nur außerordentlich schwer zugänglich, da sie naturgemäß einen weiten Einschätzungsfreiraum mit sich bringen. Es ist daher fraglich, ob die Beeinträchtigungen in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen, den die Entscheidungsfreiräume für die Effektivität des Rechtsschutzes zeitigen. Um die Beschränkungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu vermeiden, wäre es ausreichend, gesetzlich vorzuschreiben, nach welchen Kriterien die Bewirkung der gerichtlichen Zuständigkeit zu erfolgen hat 284 . So könnte etwa normiert werden, daß im Falle der 280 Siehe Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (567 f.). 281 Dazu nuTZiekow, in: Sodan/Ziekow, § 53 VwGO Rn. 22. 282 Siehe etwa BVerwG NVwZ 1996,998; BGHZ90,155 (159f.); Ziekow, in: Sodan/Ziekow, § 53 VwGO Rn. 22. 283 Zur verfassungsrechtlichen Verortung dieses Prinzips siehe § 4 Α. 1.3. a)bb), S. 95 ff. 284 Teilweise wird eine Bindung des verweisenden Gerichts an den Antrag des Klägers oder Antragstellers angenommen, siehe etwa BGH NJW 1987,438 f., wo ausdrücklich hervorgehoben wird, daß dem Beklagten keine Einflußnahme auf das zu bestimmende Gericht zugestanden wird sowie Bornkamm, NJW 1989, 2713 (2717f.) zu § 36 ZPO. Den Anforderungen von
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Verhinderung des an sich zuständigen Gerichts, die Zuständigkeit auf das Nachbargericht übergeht, das nach seinem Anfangsbuchstaben das nächstfolgende ist 285 . Daß ein solcher Weg gangbar ist, zeigt § 606 Abs. 3 ZPO, wonach in Ehesachen das Amtsgericht Schöneberg in Berlin zuständig ist, sofern die Zuständigkeit eines Gerichts sich nicht aus den vorhandenen Vorschriften ergibt. cc) Zulassung von Rechtsmitteln und Annahme von Verfassungsbeschwerden Im Zusammenhang mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird auch über solche Bestimmungen diskutiert, die ein Rechtsmittel an eine Zulassung durch das Gericht knüpfen. Es handelt sich um folgende Gesetze: § 17a Abs. 4 Satz 4,5 und 6 GVG; § 546 und § 554 b Abs. 1 ZPO; § 124 und § 132 VwGO 286 ; § 64 und § 72 ArbGG; § 144 und § 160 SGG; § 115 FGO 287 ; § 78 Abs. 3 AsylVfG. Verfassungsrechtliche Bedenken werden nur für den Fall erhoben, daß dem Gericht Ermessen bei der Zulassung des Rechtsmittels eingeräumt wird 288 . Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Plenumsbeschluß zu § 554 b Abs. 1 ZPO 289 , in dem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings lediglich am Rande erwähnt wird 290 , im Wege verfassungskonformer Auslegung klargestellt, daß eine Annahme der Revision nicht abgelehnt werden darf, sofern diese im Ergebnis Aussicht auf Erfolg hat. In den Kontext der Zulassung von Rechtsmitteln lassen sich die §93 a und § 93 b BVerfGG einreihen, die das Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht regeln. § 93 a Abs. 2 BVerfGG sieht die Möglichkeit einer Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden vor, die weitgehend in das Ermessen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird, zumal in Fällen, in denen der Kläger oder Antragsteller ein grundrechtsgebundener Hoheitsträger ist, eine gesetzliche Bestimmung des Gerichts, an das die Zuständigkeit übergeht, eher gerecht. 285 Zu diesem Vorschlag Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (569). 286 Zu den Zulassungsrechtsmitteln der VwGO nach dem 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 01.11.1996 siehe tVm Bader, NVwZ 1998, 446ff. 287 Eine vergleichbare Konstellation liegt auch in Bezug auf die Annahme der Berufung gemäß § 313 StPO und der Annahme einer Revision gemäß § 554b ZPO vor. 288 Siehe bereits Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (571), Henkel, Richter, S. 138 und Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 34 sowie aus neuerer Zeit etwa Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 11 ; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28. Siehe außerdem zu § 546 ZPO BGH NJW 1980, 344f., wo Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Prüfungsmaßstab erwähnt wird und Grunsky, in: Stein/Jonas, § 546 Rn. 1 sowie zu § 554b ZPO Grunsky, in: Stein/Jonas, § 554b Rn. 6 f. 289 BVerfGE 54, 277 (285ff.); zu § 554b Abs. 1 ZPO siehe auch BVerfGE 55, 205f. und BVerfG ZIP 1990, 228 (229). 290 BVerfGE 54,277 (292). Siehe Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28 und Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 11. 10*
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der Richter gestellt wird. Gegen diesen Umstand richtet sich die verfassungsrechtliche Kritik 291 . Aus der Perspektive des Rechtes auf den gesetzlichen Richter muß die Problematik der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher Vorschriften allerdings an früherer grundrechtsdogmatischer Stelle ansetzen. Es stellt sich bereits die Frage, die vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassen wird 292 , ob die Regelungen über die richterliche Zulassung von Rechtsmitteln und die Annahme von Verfassungsbeschwerden überhaupt dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen 293. Das Recht auf den gesetzlichen Richter garantiert ausschließlich, daß der Gesetzgeber die Zuständigkeit des einzelnen Gerichts so genau wie möglich vorausbestimmt. Dieser Gewährleistungsinhalt wird von den Regelungen über die Zulassung von Rechtsmitteln jedoch nicht berührt. Wenn etwa § 124 VwGO vorgibt, daß die Berufung der Zulassung durch das Oberverwaltungsgericht bedarf und aus § 132 VwGO zu entnehmen ist, daß den Beteiligten die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zusteht, sofern diese zugelassen wird, so ist die gesetzliche Zuständigkeit hinreichend genau bestimmt. Den Gesetzen ist eindeutig zu entnehmen, daß das Oberverwaltungsgericht sachlich zuständig für Berufungen und das Bundesverwaltungsgericht sachlich zuständig für Revisionen ist. Das gleiche gilt für die in § 115 FGO verankerte Zuständigkeit des Bundesfinanzhofs für Revisionen gegen Urteile eines Finanzgerichts. Auch die sachliche Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs für gemäß § 546 und § 554b Abs. 1 ZPO zuzulassende Revisionen in Zivilstreitigkeiten ist in § 133 Nr. 1 GVG gesetzlich eindeutig geregelt. Schließlich lassen die §§ 93 äff. BVerfGG keinen Zweifel an der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Den Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist damit Genüge getan. Die Frage, inwieweit das für zuständig erklärte Gericht anschließend auch tatsächlich in eine Überprüfung des vorinstanzlichen Urteils eintritt oder die Nichtzulassung im Gegenteil eine solche Überprüfung ausschließt, ist ebensowenig am Maßstab von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen, wie die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung. Insoweit geht es vielmehr um den Zugang zu den Gerichten, um die Reichweite und inhaltliche Dichte gerichtlichen Rechtsschutzes. Damit ist Art. 19
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Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 11; kritisch auch Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GGRn.28. Die übrigen kritischen Stimmen orientieren sich an Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG als verfassungsrechtlicher Maßstabsnorm für die §§ 93 a ff. BVerfGG, siehe etwa Winter, in: Maunz/SchmidtBleibtreu, § 93 a BVerfGG Rn. 25 und Zuck, NJW 1993,2641 (2645 f.). Das Bundesverfassungsgericht sieht ebenfalls Art. 94 Abs. 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG als Maßstabsnormen an und geht demgegenüber von der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Annahmevorschriften aus, siehe BVerfGE 90,22 (24ff.); 91,186 (200); 93, 381 (385) sowie zuletzt BVerfG NJW 1998, 3484f. 292 BVerfG NJW 1999,1390, unter Hinweis auf BVerfGE 67,90 (94 f.) sowie BVerfG FamRZ 1991,295. 293 Bejahend etwa neben den in den Fußnoten zuvor genannten kritischen Stimmen auch Bettermann, in: FS BSG, Band 2, S. 783f.
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Abs. 4 Satz 1 GG für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt 294 beziehungsweise das allgemeine Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausformung einer Gewährleistung staatlichen Rechtsschutzes für alle übrigen Rechtsgebiete295 angesprochen296. Die Regelungen über die Zulassung von Rechtsmitteln oder die Annahme von Verfassungsbeschwerden wären nur dann als Eingriff in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen, wenn darin gesetzliche Ungenauigkeiten darüber enthalten wären, welches Gericht für das Rechtsmittel zuständig ist. § 124 VwGO würde beispielsweise eine solche Beeinträchtigung darstellen, wenn dort geregelt wäre, daß das Verwaltungsgericht, gegen dessen Urteil Berufung eingelegt wird, zwischen verschiedenen Gerichten die Wahl hätte. Solche Wahlmöglichkeiten sind jedoch in den Gesetzen nicht enthalten, so daß sie nicht dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen. dd) Zurückverweisung des Bundesverfassungsgerichts Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG hebt das Bundesverfassungsgericht, sofern es einer Urteilsverfassungsbeschwerde stattgibt, die Entscheidung auf und verweist für den Fall, daß der Rechtweg vor den Fachgerichten vor Einlegung der Beschwerde erschöpft wurde 297 , an ein zuständiges Gericht zurück. Zuständig im Sinne von § 95 Abs. 2 BVerfGG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst jedes sachlich zuständige Gericht. Durch eine solche Auslegung wird die Instanz, in die zurückzuverweisen ist, offengehalten. Es bleibt in das Ermessen der Richter gestellt, ob im Einzelfall eine Zurückverweisung an die Tatsacheninstanz oder die Revisionsinstanz erfolgt. Das Bundesverfassungsgericht erweitert den eigenen Entscheidungsfreiraum allerdings, indem es sich ausschließlich an die Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit gebunden sieht. In Anlehnung an § 354 Abs. 2 StPO sieht es sich von den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit der Gerichte befreit. Eine Verweisung müsse daher nicht an die im Ausgangsverfahren örtlich zuständigen Gerichte erfolgen, es komme auch jedes
294 Dazu an dieser Stelle nur Krüger, in: Sachs, Art. 19 GG Rn. 104 ff. Da Art. 19 Abs. 4 GG für Verfassungsbeschwerden keine Geltung erlangt, kommt die Norm nach BVerfG NJW 1998, 3484 f. nicht als Maßstabsnorm für das Annahmeverfahren in Frage. 295 Siehe BVerfGE 54, 277 (291). 296 Siehe etwa Meyer-Ladewig, § 144 SGG Rn. 6, der ausschließlich Art. 19 Abs. 4 GG als verfassungsrechtliche Maßstabsnorm anspricht. 297 Eine Zurückverweisung kommt nur in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG in Frage. Für die Fälle des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG, im Falle der Erhebung der Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtsweges, will § 95 Abs. 2 BVerfGG eine Zurückverweisung ausschließen, siehe Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 12 Rn. 70; Rennert, in: Umbach/Clemens, § 95 Abs. 2 BVerfGG Rn. 53 und 55; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 27.
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sachlich zuständige Gericht eines anderen Bundeslandes in Frage 298. Schließlich soll sich das Wahlrecht auch auf die gerichtsinterne Geschäftsverteilung erstrecken, was die Möglichkeit eröffnet, an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts zu verweisen 299. Bevor die beschriebenen Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs verfassungsrechtlich begutachtet werden, ist die Möglichkeit zu erörtern, § 95 Abs. 2 BVerfGG grundrechtskonform auszulegen. Diese betrifft in erster Linie das vom Bundesverfassungsgericht angenommene Wahlrecht hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit und der gerichtsinternen Geschäfts Verteilung. Bei gebotener Berücksichtigung der Anforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter ist dabei jener Auslegung der Vorzug zu geben, die den gerichtlichen Entscheidungsfreiraum am stärksten einengt und auf deren Grundlage sich demzufolge am deutlichsten im voraus ermitteln läßt, welches Gericht im Falle einer Zurückverweisung zuständig ist. Jede Interpretation muß dabei allerdings mit dem Wortlaut der Norm in Einklang zu bringen sein. Schon insoweit ist zweifelhaft, ob § 95 Abs. 2 BVerfGG eine Auslegung entspricht, die von den örtlichen Zuständigkeitsnormen und den Geschäftsverteilungsplänen suspendiert. Die Zurückverweisung an ein zwar sachlich zuständiges aber örtlich unzuständiges Gericht oder an einen ursprünglich nicht zuständigen Spruchkörper des sachlich zuständigen Gerichts stellt eine Zurückverweisung an ein örtlich oder dem Geschäftsverteilungsplan nach unzuständiges Gericht dar. Der Wortlaut von § 95 Abs. 2 BVerfGG, nach dem an ein zuständiges Gericht zu verweisen ist, läßt jedoch, mit seiner Betonung des unbestimmten Artikels unter Verweis auf die Gruppe der zuständigen Gerichte, einen Spielraum nur zwischen mehreren Gerichten zu, die nach der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung und den gerichtsinternen Geschäftsverteilungsplänen tatsächlich nebeneinander für den Einzelfall zuständig sind 300 . Die Annahme, die Norm decke auch Verweisungen an Gerichte, die örtlich
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Siehe BVerfGE 4, 412 (424); 12, 113 (132). BVerfGE 46, 202 (213). 300 So bereits Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (570); ders., AöR 1969,263 (302f.); Henkel, Richter, S. 59ff. Kritisch zur Auslegung von § 95 Abs. 2 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht äußern sich auch Maunz, in: Maunz/ Dürig, Art. 101 GG Rn. 35; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 28 und Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 12 Rn. 70. Eine Beschränkung auf Ausnahmefälle, in denen eine sachgerechte Behandlung durch das eigentlich zuständige Gericht nicht zu erwarten ist, fordert Rennert, in: Umbach/Clemens, § 95 BVerfGG Rn. 56. Zweifelnd auch Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 93 GG Rn. 755, der allerdings ein Wahlrecht hinsichtlich der Spruchkörper der Ausgangsgerichte, gestützt auf eine analoge Anwendung etwa von § 354 Abs. 2 StPO für unbedenklich hält. Offengelassen wird die Beantwortung der Frage bei Lechner/Zuck, § 95 BVerfGG Rn. 16. Eine Zurückverweisung an ein zuständiges Gericht hat auch für den Fall zu erfolgen, daß das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wird, zu Unrecht seine Zuständigkeit angenommen hat, siehe Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 28. 299
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und nach dem Geschäftsverteilungsplan nicht zuständig sind, verkehrt demnach den Wortlaut von § 95 Abs. 2 BVerfGG in sein Gegenteil. Spricht demach schon der Wortlaut der Norm gegen das beschriebene Wahlrecht, so ist darüber hinaus die hier vertretene Auslegung, die eine Verweisung ausschließlich an ein zuständiges Gericht erlaubt, diejenige, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerecht wird 301 . Das Bundesverfassungsgericht wird durch eine solche Auslegung an die bestehende Zuständigkeitsordnung gebunden, die Verfahrensbeteiligten werden nicht der Ungewißheit ausgesetzt, ob die Richter an ein zuständiges oder an ein unzuständiges Gericht zurückverweisen. Selbst wenn man § 95 Abs. 2 BVerfGG auf die soeben beschriebene Weise interpretiert, so daß das Bundesverfassungsgericht nicht von den Regelungen über die sachliche und örtliche Zuständigkeit sowie die Geschäftsverteilungspläne befreit wird, bleibt dennoch ein Entscheidungsfreiraum erhalten. Die Norm ordnet ausdrücklich die Verweisung an „ein u zuständiges Gericht und nicht an „das" zuständige Gericht an. Dadurch hat der Gesetzgeber der Tatsache Rechnung getragen, daß ein Akt hoheitlicher Gewalt, etwa ein Verwaltungsakt, neben der erstinstanzlichen gerichtlichen Überprüfung, noch die Berufungs- und Revisionsinstanz zu durchlaufen hat, ehe er im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde vor das Bundesverfassungsgericht gelangt. Durch § 95 Abs. 2 BVerfGG soll dieser Instanzenweg hinsichtlich einer Zurückverweisung offengehalten werden 302. Das Bundesverfassungsgericht kann danach zwischen den verschiedenen Instanzgerichten des Ausgangsverfahren wählen und in einem Fall an das Revisionsgericht zurückverweisen, in einem anderen Fall die Tatsacheninstanz erneut mit der Sache befassen 303. Nach diesen Vorgaben verfährt das Gericht, wenn es Beschwerden gegen Entscheidungen der Gerichte aller drei Instanzen an die erste Instanz zurückverweist 304.
301 Ein Wahlrecht wird man allenfalls für unvorhersehbare Ausnahmefälle, etwa der rechtlichen oder tatsächlichen Verhinderung der zuständigen Gerichte, annehmen können. 302 So wird die Norm einhellig in der Literatur ausgelegt, siehe etwa Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 12 Rn. 70; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 28; Rennert, in: Umbach/Clemens, § 95 BVerfGG Rn. 56. Der dahingehende Wille des Gesetzgebers läßt sich auch aus den Gesetzesmaterialien zu § 95 Abs. 2 BVerfGG erschließen, siehe dazu das Protokoll des Rechtsausschusses des Bundestags, 1. Wahlperiode, Ausschuß-Drs. Nr. 94, VI. Teil S. 66 und VII. Teil S. 80. 303 Für den Fall, daß eine Zurückverweisung auch bei Nichterschöpfung des Rechtsweges gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG anerkannt wird, wird das Ermessen des Gerichts dergestalt eingeschränkt, daß der Rechtsweg durch die Verweisung nicht verkürzt werden darf. Eine solche Verkürzung des Rechtsweges würde etwa vorliegen, wenn bei einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erstinstanzliches Urteil an das Berufungsgericht zurückverwiesen würde, siehe Pestalozza,, Verfassungsprozeßrecht § 12 Rn. 70; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 29; Lechner/Zuck, § 95 BVerfGG Rn. 16; differenziert Rennert, in: Umbach/ Clemens, § 95 Rn. 57. 304 Siehe etwa BVerfGE 79,51 f.: Zurückverweisung an das Amtsgericht bei einer Beschwerde gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts, des Landgerichts und Oberlandesgerichts und BVerfGE 78,58 (59 f.): Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht bei einer Beschwerde ge-
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Dieses Wahlrecht stellt eine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar 305 . Sofern in den entsprechenden Erläuterungen überhaupt Gründe für den Entscheidungsfreiraum genannt werden, handelt es sich durchweg um Praktikabilitätsund Zweckmäßigkeitserwägungen306. In das Verfassungsrecht übersetzt, wird man die damit angeschnittenen Gesichtspunkte im Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes verorten können307. Unter alleiniger Berücksichtigung dieser Zielvorgabe mag der Ermessensspielraum sachdienlich erscheinen. Es ist allerdings fraglich, ob die Regelung im Ergebnis als verhältnismäßig angesehen werden kann, da das Gesetz die Kriterien einer Auswahl des Gerichts offen läßt. An Stelle des rechtlich nicht näher konkretisierten Ermessensspielraums sollte der Normtext des § 95 Abs. 2 BVerfGG um eine strikte Rangfolge der Gerichte, zumindest jedoch um rechtliche Maßstäbe ergänzt werden, was die Wahl des Bundesverfassungsgerichts transparenter erscheinen ließe308. ee) Zurückverweisung der Rechtsmittelgerichte 309 (1) Beschreibung der rechtlichen Grundlagen Neben § 95 Abs. 2 BVerfGG enthalten auch die Normen über die ZurückverWeisung der Rechtsmittelgerichte Entscheidungsfreiräume bei der Bestimmung des von Fall zu Fall zuständigen Gerichts. Aus den Verfahrensordnungen der unterschiedlichen Gerichtszweige geht es um folgende Vorschriften: 1. An die Revisions gerichte richten sich: § 354 Abs. 2 und Abs. 3 StPO; §565 Abs. 1 Satz 2 und § 566 a Abs. 5 Satz 1 ZPO; § 126 Abs. 3 Nr. 2 und §127 FGO; § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1 VwGO sowie § 170 Abs. 2 Satz 2, Absatz 4 Satz 1 SGG.
gen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, Oberverwaltungsgerichts und Bundesverwaltungsgerichts. 305 pur verfassungsrechtlich unbedenklich hält die Norm Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (570). Verfassungsrechtliche Bedenken äußern hingegen Henkel, Richter, S. 59f. und Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28. 306 Siehe Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 95 BVerfGG Rn. 28 unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien und Rennert, in: Umbach/Clemens, § 95 BVerfGG Rn. 57 der betont, daß die Verweisung sich nach Zweckmäßigkeitserwägungen richten sollte. 307 Dazu unter § 4 Α. 1.3. a)bb), S. 95 ff. 308 Siehe Rennert, in: Umbach/Clemens, § 95 BVerfGG Rn. 57 ff., der eine Eingrenzung des Ermessens etwa danach vornimmt, ob es um die Verletzung von Verfahrensgrundrechten oder von materiellen Grundrechten geht. Im ersten Fall soll regelmäßig eine Verweisung an die Instanz erfolgen, der die Grundrechtsverletzung anzulasten ist. 309 Einige dieser Vorschriften ermöglichen nach teilweise vertretener Ansicht zugleich die Beeinflussung der gerichtsinternen Geschäfts Verteilung, in dem den Rechtsmittelgerichten die Wahl zwischen unterschiedlichen Spruchkörpem eingeräumt wird. Die Vorschriften werden dennoch aus Gründen der Übersichtlichkeit umfassend in diesem Kapitel über die Einflußnahme auf den Rechtsweg und die sachliche und örtliche Zuständigkeit von Gerichten behandelt.
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Den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Sozialgerichtsgesetzes ist gemeinsam, daß bereits die Entscheidung über die Zurückverweisung in das Ermessen der Gerichte gestellt ist. Diese können im Falle einer begründeten Revision entweder in der Sache selbst entscheiden oder das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen. Innerhalb des Gerichts, dessen Entscheidung Gegenstand des Revisionsverfahrens ist und an das eine Zurückverweisung daher erfolgt, soll das Revisionsgericht darüber hinaus die Wahl haben zwischen dem Spruchkörper der Vorinstanz und anderen Spruchkörpern 310. Im Verwaltungsprozeß und Sozialgerichtsverfahren erweitert sich der Ermessensspielraum bei Sprung- oder Ersatzrevisionen 311 dadurch, daß das Revisionsgericht für eine Zurückverweisung die Wahl hat zwischen dem Gericht, gegen dessen Urteil Revision eingelegt wurde, nämlich dem Verwaltungsgericht beziehungsweise Sozialgericht, und dem Oberverwaltungsgericht oder Landessozialgericht, das eigentlich für eine Berufung zuständig gewesen wäre. Zusätzlich bestimmt § 127 FGO für das Finanzgerichtsverfahren, daß der Bundesfinanzhof an das Finanzgericht zurückverweisen kann, sofern während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Demgegenüber enthalten die oben aufgeführten Normen des Zivil- und Strafverfahrens kein Ermessen hinsichtlich der Frage, ob zurückverwiesen wird. Sie verpflichten das Revisionsgericht vielmehr, eine begründete Revision unter im Gesetz vorgegebenen Umständen zurückzuverweisen. Ein Spielraum verbleibt den Gerichten allerdings bei der Auswahl der Gerichte. Nach § 354 Abs. 2 StPO erstreckt sich die Wahlmöglichkeit zunächst auf die Spruchkörper oder Abteilungen des Ausgangsgerichts, die das aufgehobene Urteil nicht erlassen haben. Darüber hinaus kann auch an ein anderes Gericht gleicher Ordnung verwiesen werden, also auf die örtliche Zuständigkeit eingewirkt werden. Unter den Voraussetzungen des § 354 Abs. 3 StPO ist zudem eine Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung, als das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wurde, möglich. Im Zivilprozeß wiederum kann das Revisionsgericht, auf der Grundlage von § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO, zwischen dem Senat des Berufungsgerichts, dessen Urteil aufgehoben wurde und dem anderen Senat des gleichen Gerichts wählen. In Parallele zu den Vorschriften des Verwaltungsprozesses und des Sozialgerichtsverfahrens sieht schließlich § 566 a Abs. 5 ZPO vor, daß das Revisionsgericht nach seinem Ermessen auch an das Oberlandesgericht verweisen kann, das für eine Berufung zuständig gewesen wäre. 310 Dazu BVerwGE 17, 170f.; Redeker/von Oertzen, § 144 VwGO Rn. 7; Schmidt, in: Eyermann, § 144 VwGO Rn. 13. § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO gilt über § 173 VwGO auch für § 144 Abs. 3 VwGO. 311 Siehe § 144 Abs. 5 Satz 1 VwGO und § 170 Abs. 4 Satz 1 SGG.
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2. An die Berufungsgerichte adressiert sind: § 538, § 539 und § 540 ZPO; § 130 Abs. 1 VwGO und § 159 Abs. 1 SGG. Aus dem Zusammenspiel von § 538 und § 540 ZPO ergibt sich, daß das Berufungsgericht an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen oder aber von einer Zurückverweisung absehen kann, wenn es dies für sachdienlich hält. Steht eine Zurückverweisung wegen eines Verfahrensmangels zur Debatte, so bestimmen § 539 und § 540 ZPO, daß das Berufungsgericht auf der Basis von Sachdienlichkeitserwägungen zwischen einer Zurückverweisung und einer eigenen Sachentscheidung wählen kann. Auch § 130 Abs. 1 VwGO und § 159 Abs. 1 SGG räumen ein Entschließungsermessen ein, indem das Berufungsgericht, sofern die genannten Bedingungen vorliegen, an das Gericht der ersten Instanz zurückverweisen kann 312 . 3. An das Beschwerdegericht bei Beschwerden gegen Beschlüsse über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist schließlich § 210 Abs. 3 StPO gerichtet. Nach dieser Vorschrift kann das Beschwerdegericht im Falle des Stattgebens einer Beschwerde zugleich bestimmen, daß die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer des Gerichts, gegen dessen Beschluß sich die Beschwerde richtete oder - unter Befreiung von den Normen über die örtliche Zuständigkeit - vor einem demselben Land angehörenden, benachbarten Gericht gleicher Ordnung stattzufinden hat. Hat ein Oberlandesgericht über die Eröffnung des Hauptverfahrens im ersten Rechtszug entschieden, kann der Bundesgerichtshof bestimmen, daß ein anderer Senat dieses Gerichts für die Hauptverhandlung zuständig ist. (2) Verfassungsrechtliche
Bewertung der Vorschriften
Die beschriebenen Entscheidungsfreiräume der Rechtsmittelgerichte bei der Bestimmung des im Einzelfall zuständigen Gerichts sind Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Regelungen stellen die Entscheidung, ob zurückverwiesen wird beziehungsweise an welches Gericht zurückverwiesen wird, in das Ermessen der Rechtsmittelgerichte, ohne konkrete Maßstäbe für eine Ausübung dieses Ermessens vorzugeben. In der bislang einzigen Entscheidung, in der es um eine Zurückverweisungsvorschrift ging, hat das Bundesverfassungsgericht die alte Fassung der strafverfahrens3,2 Die WDO und die BDO gehen in der Weite des normierten Ermessens hinsichtlich einer Zurückverweisung noch darüber hinaus. Als Berufungsgericht in Wehrdisziplinarsachen kann das Bundesverwaltungsgericht unter den in § 115 Abs. 1 Nr. 2 und § 116 Abs. 2 WDO genannten Bedingungen an eine andere Kammer desselben Gerichts oder an ein anderes Truppendienstgericht zurückverweisen. Nach § 85 Abs. 1 Nr. 3 BDO hat das Bundesverwaltungsgericht als Berufungsgericht in Disziplinarangelegenheiten der Beamten des Bundes schließlich bei einer Zurückverweisung die Wahl zwischen der Kammer des Bundesdisziplinaigerichts, dessen Urteil aufgehoben wurde und einer anderen Kammer dieses Gerichts.
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rechtlichen Norm über die Zurückverweisung durch das Revisionsgericht, § 354 Abs. 2 StPO, als verfassungsrechtlich zulässig eingestuft 313. Die Entscheidung, in der am Rande auch § 565 Abs. 1 ZPO und die vergleichbaren Vorschriften über die Zurückverweisung der Revisionsgerichte sowie § 95 Abs. 2 BVerfGG erwähnt wurden, vermag allerdings aus grundrechtsdogmatischer Sicht wenig zu überzeugen. Das Bundesverfassungsgericht schließt von der bestehenden einfachgesetzlichen Regelung auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer solchen Zuständigkeitsbestimmung. Den Revisionsgerichten, so das Gericht, komme jene Aufgabe zu, die der Exekutive und der Legislative durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verwehrt sei, nämlich auf die Entscheidungen eines bestimmten Gerichtsverfahrens auch mit Blick auf die Auswahl des Gerichts einzuwirken. Ein solcher Schluß ist unzulässig. Er kann die Rechtfertigungslast für die unbestimmten Zuständigkeitsbestimmungen nicht ersetzen. Auch sofern durch diese Aussage der Eindruck erweckt wird, als lasse sich gleichsam aus der Natur der Revisionsgerichte eine Befreiung dieser hoheitlichen Organe von den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG herleiten, so ist einer solchen Annahme entgegenzutreten. Die Revisionsgerichte sind, wie alle Organe staatlicher Gewalt, an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebunden. Aufgabe des Prinzips des gesetzlichen Richters ist es auch, Einflußnahmen der Revisionsgerichte auf das im Einzelfall zuständige Gericht zu verhindern. Räumt man diesen Gerichten Ermessen bei einer solchen Entscheidung ein, so bedarf eine solche Einwirkungsmöglichkeit in gleichem Maße einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, wie in allen anderen Fällen, in denen richterliche Zuständigkeiten nur ungenau geregelt sind. Für die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigungen dieser Beeinträchtigungen sind ähnliche Erwägungen maßgeblich, wie sie bereits in bezug auf § 95 Abs. 2 BVerfGG angestellt wurden. Das richterliche Ermessen wird auch hinsichtlich dieser Normen auf Zweckmäßigkeits- und Praktikabilitätserwägungen beziehungsweise Gesichtspunkte der Verfahrens- oder Prozeßökonomie (Entscheidungsreife einer Rechtssache314) gestützt. Damit wird mehr oder weniger deutlich das rechtsstaatliche Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes angesprochen. Hinsichtlich § 354 Abs. 2 StPO und § 210 Abs. 3 StPO wird das Ermessen außerdem für erforderlich gehalten, um die Strafsache aus einer ungünstigen örtlichen Atmosphäre herauszunehmen beziehungsweise der Erwartung Rechnung zu tragen, die Richter des Ausgangsgerichts machten sich die Meinung des Beschwerdegerichts nicht in ausreichendem Maße zu eigen315. Insofern ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Prozeßordnungen spezielle Regelungen für das Problem der Befangenheit 313
BVerfGE 20, 336 (342ff.). Siehe etwa Meyer-Ladewig, § 159 SGG Rn. 1; Happ, in: Eyermann, § 130 VwGO Rn. 1 und 7; Gummer; in: Zöller, § 539 ZPO Rn. 1 und § 540 ZPO Rn. 1. 315 Siehe BVerfGE 20,336 (342 ff.); Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 354 StPO Rn.40 und § 210 StPO Rn. 10. 314
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von Richtern vorsehen, die es den Beteiligten ermöglichen, ihre Bedenken in das Verfahren einzubringen. Schon insofern ist es fraglich, ob diese Aufgabe, um den Preis einer Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, zusätzlich den Revisionsgerichten übertragen werden muß. Wägt man die Vorteile der Entscheidungsfreiräume gegen das Maß der Beeinträchtigung ab, so erscheint auch hinsichtlich dieser Verweisungsnormen die Verhältnismäßigkeit fraglich. Die genannten Praktikabilitätserwägungen können eine derart weitreichende Beschränkung des Grundrechts durch rechtlich nicht konkretisiertes Ermessen wohl kaum rechtfertigen 316. In den Verfahrensnormen sollten rechtliche Maßstäbe verankert werden, nach denen eine Zurückverweisung zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang wird gefordert, maßgebliches Entscheidungskriterium müsse der ungeschriebene Gesichtspunkt der Entscheidungsreife sein317. Zurückverweisungen seien demnach nur geboten, wenn die Rechtssache einer weiteren Aufklärung durch das unterinstanzliche Gericht bedürfe. Dieser Vorschlag stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Durch eine solche Auslegung wäre immerhin eine Einschränkung des Ermessens erreicht, womit man sich dem Ziel des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, eine möglichst genaue gesetzliche Bestimmung des zuständigen Gerichts zu garantieren, zumindest genähert hätte. Ähnliches gilt für die Auffassung, eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Spruchkörper bedinge eine entsprechende Regelung im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, an das zurückverwiesen werde und aus der hervorgehe, welcher Spruchkörper oder welche Abteilung für den Fall einer Zurückverweisung an einen anderen, als den Spruchkörper des Ausgangs Verfahrens, zuständig sei 318 . Auch einer solchen Lösung ist zuzugeben, daß sie zu einer Beschränkung des Ermessens führte. Ohne eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan, aus der sich entnehmen läßt, welcher Spruchkörper an die Stelle des ursprünglichen Spruchkörpers im Falle einer Zurückverweisung tritt, hat das Rechtsmittelgericht die Wahl zwischen einer Vielzahl von Spruchkörpern. Anders im Falle einer gerichtsorganisatorischen Regelung. Für diese Konstellation bleibt lediglich die eingeschränkte Wahl zwischen zwei Gerichten, nämlich demjenigen des Ausgangsverfahrens und dem im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Ausweichgericht.
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So bereits Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (570); Henkel, Richter, S. 58 mit Anmerkung 2; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 35; Wassermann, in: Alternativkommentar, Art. 101 GG Rn. 15; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 28; anderer Ansicht ist etwa Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 11. 317 So Ruban, in: Gräber, § 126 FGO Rn. 9 und 12; Schmidt, in: Eyermann, § 144 VwGO Rn. 12; Happ, in: Eyermann, § 130 VwGO Rn. 7; Gummer, in: Zöller, § 539 ZPO Rn. 1 und § 540 ZPO Rn. 1; Albers, in: Baumbach/Lauterbach, § 540 ZPO Rn. 3. 3,8 Siehe etwa BGH NStZ 1982, 211 und Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 210 StPO Rn. 11, § 354 StPO Rn. 38 und § 21 e GVG Rn. 4.
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ff) Abgrenzung der Revisionszuständigkeit zwischen den obersten Landesgerichten und dem Bundesgerichtshof nach § 8 Abs. 2 EGGVG § 7 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 EGZPO übertragen dem obersten Landesgericht die Befugnis, über die Zuständigkeit für die Verhandlung und Entscheidung der Revision in Zivilsachen zu befinden 319. Nach § 8 Abs. 2 EGGVG, der maßgeblichen Entscheidungsgrundlage, ist eine Revisionszuständigkeit des obersten Landesgerichts ausgeschlossen, wenn für die Entscheidung Bundesrecht in Betracht kommt, es sei denn, daß es sich im wesentlichen um Rechtsnormen handelt, die in den Landesgesetzen enthalten sind. Über eine Einschätzung dieses Umstandes wird dem obersten Landesgericht demnach eine Einflußnahme auf die Revisionszuständigkeit zugestanden. Man wird allerdings dem Bundesverfassungsgericht zustimmen können, das diese Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bereits im Jahre 1957 als verfassungsrechtlich gerechtfertigt eingestuft hat 320 . Die in § 8 Abs. 2 EGGVG vorgenommene Abgrenzung der Zuständigkeit des obersten Landesgerichts und der oberen Bundesgerichte, so das Gericht, müsse in Kauf genommen werden. Die föderative Struktur der Bundesrepublik bringe unvermeidbar Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich der materiellen Rechtsordnung und der Gerichtsorganisation von Bund und Ländern mit sich. Auf dieser Grundlage sei § 8 Abs. 2 EGGVG eine sachgerechte und den Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG genügende Regelung. Die Entscheidungsmaßstäbe, das Vorliegen von Bundesrecht oder Landesrecht beziehungsweise von Rechtsnormen, die in Landesgesetzen enthalten sind, ermöglichen eine deutlich bessere Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsentscheidung, als etwa hinsichtlich der unbestimmten Rechtsbegriffe einer besonderen Bedeutung des Falles321. Der Beurteilungsspielraum, den die Bewertung mit sich bringt, ob es sich im wesentlichen um Rechtsnormen handelt, die in Landesgesetzen enthalten sind, erscheint vor diesem Hintergrund als verhältnismäßige Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richters.
319
Praktische Bedeutung erlangt die Vorschrift lediglich für das Land Bayern, da nur dort von der Befugnis des § 8 Abs. 1 EGGVG Gebrauch gemacht und das Bayerische Oberste Landesgericht eingerichtet wurde. Zur Bestimmung der Zuständigkeit des BayOblG oder des BGH bei der Zulassung der weiteren Beschwerde durch das Beschwerdegericht gemäß § 7 Abs. 1, Abs. 6 EGZPO siehe BGH NJW 1998, 3571 f. 320 BVerfGE 6, 45 (50ff.). 321 Siehe §4 A.II, l.a), S. 108f.
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gg) Übernahme von Jugendstrafsachen durch die Jugendkammer nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG Die Jugendkammer beim Landgericht kann auf der Grundlage von § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG die eigene Zuständigkeit als erkennendes Gericht des ersten Rechtszuges herbeiführen oder die Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts beibehalten. Sie begründet die eigene Zuständigkeit, indem sie, nach einer in § 40 Abs. 2 JGG vorgesehenen Vorlage des Jugendschöffengerichts, die Jugendstrafsache „wegen ihres besonderen Umfangs" übernimmt 322. Die Entscheidung über das Vorliegen eines besonderen Umfangs wird als unanfechtbare 323 Ermessensentscheidung qualifiziert 324. Dieser Ermessensspielraum wird in der Folge durch eine ungeschriebene Ausnahmeklausel erweitert. Denn obwohl die Jugendkammer eine Sache wegen des besonderen Umfangs übernommen hat und diesen Beschluß nach § 40 Abs. 4 Satz 2 JGG mit dem Eröffnungsbeschluß zu verbinden hat, soll die Kammer in Ausnahmefällen dennoch ein Verfahren vor dem Jugendschöffengericht eröffnen können. Ein solcher Ausnahmefall wird angenommen, wenn der im Eröffnungsbeschluß zugelassene Anklageumfang derart reduziert ist, daß es nicht erforderlich erscheint, die Hauptverhandlung vor einer Jugendkammer durchzuführen 325. Es ist zweifelhaft, ob dieser erweiterte Ermessensspielraum verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß die Möglichkeit, zwischen der Jugendkammer und dem Jugendschöffengericht zu variieren, sicherstellen soll, daß, ab einem bestimmten tatsächlichen Umfang einer Rechtssache, die Jugendkammer besser zur Bewältigung des Verfahrens geeignet erscheint 326, womit indirekt auf das Verfassungsgut der Effektivität des Rechtsschutzes Bezug genommen wird. Angesichts der Manipulationsgefahren, denen die Verfahrensbeteiligten ausgesetzt werden, wenn eine Zuständigkeitsbewirkung im Einzelfall auf eine derart unbestimmte rechtliche Grundlage gestellt wird, ist es fraglich, ob §41 Abs. 1 Nr. 2 JGG als verhältnismäßige Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter angesehen werden kann.
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Das Recht des Jugendschöffengerichts, eine Übernahmeentscheidung durch die Jugendkammer herbeizuführen, weist Gemeinsamkeiten auf mit der in § 29 Abs. 2 GVG normierten Möglichkeit des Schöffengerichts in allgemeinen Strafsachen, wegen des Umfangs der Sache einen zweiten Berufsrichter beizuziehen. Siehe zu dieser Parallele Eisenberg, § 40 JGG Rn. 11. § 29 Abs. 2 GVG wird an späterer Stelle unter dem Gliederungspunkt c)ee), S. 173 ff. bei den Normen über die variable Spruchkörperbesetzung in Strafsachen behandelt. 323 § 40 Abs. 4 Satz 1 JGG. 324 Siehe Eisenberg, § 40 JGG Rn. 13. 325 LG Frankfurt am Main NStZ-RR 1996, 252; Eisenberg, § 40 JGG Rn. 13. 326 Dazu Eisenberg, § 41 JGG Rn. 6, § 40 JGG Rn. 11.
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hh) Bestimmung des Gerichtsstandes im Strafverfahren durch das gemeinschaftliche obere Gericht nach § 12 Abs. 2 StPO Treffen im Strafverfahren mehrere Gerichtsstände zusammen, so gebührt nach § 12 Abs. 1 StPO dem Gericht der Vorzug, das die Untersuchung zuerst eröffnet hat. Allerdings schränkt § 12 Abs. 2 StPO diese Zuständigkeitsabgrenzung erheblich ein. Die Untersuchung und Entscheidung kann danach auch einem anderen der örtlich zuständigen Gerichte durch das gemeinschaftliche obere Gericht übertragen werden. § 12 Abs. 2 StPO stellt die Zuständigkeitsentscheidung danach in das Ermessen des gemeinschaftlichen oberen Gerichts, ohne eine rechtliche Eingrenzung dieser Entscheidungskompetenz vorzunehmen. Die in dieser Wahlfreiheit zum Ausdruck kommende Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sieht sich den gleichen gewichtigen Bedenken ausgesetzt, wie die Vorschriften in der Strafprozeßordnung über die Gerichtsstandshäufung, die die Wahl zwischen mehreren Gerichtsständen in das Ermessen der Staatsanwaltschaft stellen327. ii) Trennung verbundener Strafsachen nach § 2 Abs. 2 StPO Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegen eine Verhältnismäßigkeit der Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Gerichtsstandshäufung und die Trennung und Verbindung von Strafsachen 328 vorgebracht wurden, gelten gleichermaßen für § 2 Abs. 2 StPO. Danach können Strafsachen, die zuvor gemäß § 2 Abs. 1 StPO verbunden wurden, aus Gründen der Zweckmäßigkeit durch Beschluß des Gerichts getrennt werden. Eine Trennung hat zur Folge, daß die abgetrennten Sachen im Falle von § 2 Abs. 1 Satz 1 StPO an die zuständigen Gerichte niederer Ordnung oder im Falle von § 2 Abs. 1 Satz 2 StPO an die ursprünglich zuständigen besonderen Strafkammern zurückfallen. Dadurch erlaubt § 2 Abs. 2 StPO die Beeinflussung der sachlichen Zuständigkeit oder der erstinstanzlichen Zuständigkeit der besonderen Strafkammern beim Landgericht 329. Die einer Entscheidung des Gerichts zugrunde zu legenden Zweckmäßigkeitserwägungen lassen einen denkbar weiten Spielraum. Hinsichtlich § 2 Abs. 2 StPO kommt hinzu, daß die Entscheidung nach dem Wortlaut 327
Siehe die Ausführungen unter §4 A.II. l.a)bb)(l), S. 125ff. Die Gerichtsstandshäufung wird unter dem Gliederungspunkt § 4 A.II. l.a)bb)(l), S. 125 ff. erörtert. § 4 Abs. 1, § 13 Abs. 2 und 3 StPO befassen sich ebenfalls mit einer Trennung oder Verbindung von Strafsachen durch Gerichte. Da diese Vorschriften im Gegensatz zu § 2 Abs. 2 StPO zumindest auch eine Beteiligung der Staatsanwaltschaft vorsehen, wurden sie im Kapitel über die Staatsanwaltschaft und die beweglichen Zuständigkeiten behandelt, siehe dazu unter § 4 Α. II. 1. a) cc), S. 128 ff. Zu den Normen, die über eine Verbindung oder Trennung eine Beeinflussung der gerichtsinternen Geschäftsverteilung ermöglichen siehe außerdem unter Gliederungspunkt b), S. 160 ff. unmittelbar im Anschluß. 329 Zum Problem der Einordnung der Zuständigkeit der besonderen Strafkammern in das System der unterschiedlichen Zuständigkeiten siehe nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 1 StPO Rn. 4 mit Hinweisen zu den unterschiedlichen Ansichten. 328
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selbst dann in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, wenn eine Trennung an sich zweckmäßig erscheint. b) Normen hinsichtlich der Beeinflussung gerichtsinterner Geschäftsverteilung durch Trennung und Verbindung von Verfahren Folgende Gesetze stellen es in das Ermessen der Gerichte, über eine Trennung oder Verbindung von Verfahren die gerichtsinterne Geschäftsverteilung zu verändern: § 145 und § 147 ZPO; §237 StPO m\ § 93 VwGO; § 113 SGG sowie § 73 FGO. Nur teilweise wird eine solche Maßnahme an Voraussetzungen geknüpft. So setzt eine Verbindung nach § 147 ZPO oder § 113 Abs. 1 SGG voraus, daß die geltend gemachten Ansprüche in rechtlichem Zusammenhang stehen oder in einer Klage hätten geltend gemacht werden können. Besonderheiten bestehen außerdem im Strafverfahren, da bei den Strafgerichten auch Spruchkörper unterschiedlichen Ranges eingerichtet sind. Dies kann dazu führen, daß durch eine Verbindung nicht nur die gerichtsinterne Geschäftsverteilung, sondern auch die sachliche Zuständigkeit einzelner Verfahren verändert wird 331 . Diese Normen beeinträchtigen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur, sofern sie eine Trennung oder Verbindung auch spruchkörperübergreifend zulassen, wenn also unter Gericht im Sinne der Gesetze nicht die Spruchkörper beziehungsweise Abteilungen zu verstehen sind, sondern die Institution Gericht als organisatorische Gesamtheit angesprochen ist. Umfaßten die Regelungen lediglich solche Verfahren, die ohnehin in die Zuständigkeit eines bestimmten Spruchkörpers oder Einzelrichters fallen, änderte eine Verbindung oder Trennung nichts an der gerichtsinternen Geschäftsverteilung. Dann wäre auch eine Einflußnahme auf die gerichtsinterne Zuständigkeitsordnung durch die Gesetze nicht möglich, so daß der Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht berührt würde. Es besteht jedoch im Grundsatz Einigkeit darüber, daß der Nutzen der Vorschriften, die Förderung der Prozeßökonomie, nur für den Fall ausreichend zum tragen kommt, daß auch spruchkörperübergreifende und abteilungsübergreifende Maßnahmen erfaßt werden 332. 330 Eine Trennung oder Verbindung im Strafverfahren ermöglichen auch § 2, § 4 und § 13 Abs. 2 und Abs. 3 StPO. Siehe zu diesen Vorschriften die Ausführungen unter § 4 Α. II. 1. a) cc), S. 128 ff. 331 Siehe dazu nur Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 237 StPO Rn. 1 und Tolksdorf in: Karlsruher Kommentar, § 237 StPO Rn. 2. Es geht dabei auch um eine Abgrenzung zu § 4 StPO, siehe dazu OLG Stuttgart NStZ 1996, 51 f. mit Anmerkungen von Meyer-Goßner. 332 Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 147 ZPO Rn. 7; Greger, in: Zöller, § 147 ZPO Rn. 2; Peters, in: Münchener Kommentar, § 145 ZPO Rn. 8; Koch, in: Gräber, § 73 FGO Rn. 6; Tipke/Kruse, § 73 FGO Tz. 2 und Tz. 7; Meyer-Ladewig, § 113 SGG Rn. 2b und 3; Rennert, in: Eyermann, § 93 VwGO Rn. 2 f.
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Hinsichtlich § 237 StPO ist der Anwendungsbereich der Norm und dessen Abgrenzung zu § 4 StPO allerdings umstritten. Ob sie eine spruchkörperübergreifende Verbindung innerhalb eines Gerichts 333, nur unter gleichartigen Spruchkörpern eines Gerichts 334 oder lediglich innerhalb ein und desselben Spruchkörpers 335 zuläßt, wird unterschiedlich beantwortet. Ohne auf diesen Streit näher einzugehen, würde nur im zuletzt genannten Fall die Zuständigkeit nicht verändert, so daß schon im Ansatz gegen § 237 StPO keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben werden könnten. Das von Fall zu Fall zuständige Gericht läßt sich anhand dieser Normen nicht zweifelsfrei im voraus ermitteln, sondern ergibt sich aus einer Ermessensentscheidung des Gerichts, mit der Verfahren verbunden oder getrennt werden. Bei der Ausübung des Ermessens soll sich das Gericht von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten lassen336. Lassen sich diese Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich rechtfertigen? 337 Die Vorschriften werden teilweise nur auf der Basis der folgenden grundrechtskonformen Auslegung für vereinbar mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gehalten338: (1) Spruchkörperübergreifende Verbindungen oder Trennungen sind nur zulässig, wenn eine entsprechende Regelung in den Geschäftsverteilungsplänen existiert. (2) Eine Verbindung und Trennung darf nur mit Zustimmung der Parteien erfolgen 339 . (3) Die in § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO verankerte Wirkung der Rechtshängigkeit einer Streitsache, nach der die Zuständigkeit des Prozeßgerichts durch eine Veränderung der die Zuständigkeit begründenen Umstände nicht berührt wird, verhindert im Zivilprozeß nicht nur eine Veränderung der sachlichen Zuständigkeit eines Gerichts durch eine Verfahrenstrennung 340. Die Norm entfaltet im Wege einer entsprechenden 333
BGHSt 26, 271 (273); 29, 67 (68); Keller, in: Alternativkommentar, § 237 StPO Rn. 2; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 237 StPO Rn. 1; Schlächter, in: Systematischer Kommentar, §237 StPO Rn. 2. 334 Paulus, in: KMR, § 237 StPO Rn. 3, 5, 11 ff. und 21. 335 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 237 StPO Rn. 3. Siehe zur Abgrenzung von § 4 StPO und § 237 StPO sowie zum Streitstand die Anmerkungen von Meyer-Goßner zum OLG Stuttgart NStZ 1996, 51 f. 336 Dazu Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 237 StPO Rn. 7, 17. Zum Ermessen siehe weiterhin Rennert, in: Eyermann, § 93 VwGO Rn. 2f.; Meyer-Ladewig, § 113 SGG Rn. 5 a; Koch, in: Gräber, § 73 FGO Rn. 2 und 22; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 147 ZPO Rn. 2. 337 Das BVerfG NJW 1997, 649 f. geht offenbar von der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit von § 145 ZPO aus, ebenso BGHSt 26,271 (273) zu § 237 StPO und BGH NStZ 1993, 248 ff. mit Anmerkungen von Rieß; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 147 ZPO Rn. 2; Meyer-Ladewig, § 113 SGG Rn. 2b, 3 und 5 a; Pfeiffer, § 237 StPO Rn. 1 ; Gollwitzer, in: Löwe/ Rosenberg, § 237 StPO Rn. 7 und 17. 338 Siehe Peters, in: Münchener Kommentar, § 145 ZPO Rn. 14; Leipold, in: Stein/Jonas, §145 ZPO Rn. 23. 339 Siehe Greger, in: Zöller, § 147 ZPO Rn. 2; Leipold, in: Stein/Jonas, § 147 ZPO Rn. 15; Peters, in: Münchener Kommentar, § 147 ZPO Rn. 8. 340 Dazu nur Peters, in: Münchener Kommentar, § 145 ZPO Rn. 12 ff. 11 Roth
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Anwendung auch gerichtsinterne Wirkung und wehrt eine Veränderung der Geschäftsverteilung durch spruchkörperübergreifende Trennungen von Verfahren ab 341 . Die dargestellten Auslegungsvarianten können für sich in Anspruch nehmen, die Gefahr einer Manipulation der im Einzelfall zuständigen Richter einzuschränken. Die zweite Forderung schlösse eine Einflußnahme dadurch aus, daß eine Maßnahme des Gerichts unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Prozeßbeteiligten stünde und deren grundrechtlich schutzwürdige Interessen demnach gewahrt blieben. Für den Fall einer analogen Anwendung von § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO auf die Geschäftsverteilung bei Gericht wäre eine Veränderung der Zuständigkeit durch Trennung oder Verbindung von Verfahren ebenfalls ausgeschlossen, so daß § 145 und § 147 ZPO den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht berührten. Schließlich resultierte aus einer entsprechenden Zuständigkeitsregelung im Geschäftsverteilungsplan zumindest eine Einschränkung des Entscheidungsfreiraums. Für den Fall einer Trennung könnte der ursprünglich zuständige Spruchkörper nicht mehr zwischen unterschiedlichen Spruchkörpern wählen, es bliebe vielmehr nur noch die Wahl zwischen der eigenen Zuständigkeit und der Zuständigkeit des im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Spruchkörpers. Auch der insoweit verbleibende Entscheidungsfreiraum bedürfte allerdings einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, da er eine, wenngleich abgeschwächte, Beeinträchtigung des Gebotes einer möglichst genauen gesetzlichen Bestimmung richterlicher Zuständigkeit darstellte. Auch für die Normen über eine Verbindung oder Trennung von Verfahren gilt, daß eine verfassungskonforme Auslegung nur eine Übergangslösung darstellt, um bestehende, verfassungsrechtlich problematische Ungenauigkeiten in der richterlichen Zuständigkeitsordnung abzufangen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt eine Regelung, die keine Unklarheiten bezüglich ihrer Auslegung hervorruft. Von einer verfassungskonformen Auslegung abgesehen, ist es zweifelhaft, ob diese Normen, die eine Trennungs- oder Verbindungsentscheidung in das Ermessen der Gerichte stellen, verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sind. Die Ermessensspielräume der Gerichte sollen der Prozeßökonomie342 und einer Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitserwägungen dienen, wie sich etwa aus § 113 Abs. 2 SGG ausdrücklich entnehmen läßt. Selbst wenn diese Gesichtspunkte Ausdruck des Verfassungsgutes der Effektivität der Rechtsschutzes sind 343 , wird man die Beeinträchtigungen dennoch für unverhältnismäßig halten müssen. Im Einklang mit den anderen Vorschriften, die eine Zuständigkeitsentscheidung in das Ermessen des Normanwenders 341
So Peters, in: Münchener Kommentar, § 145 ZPO Rn. 14; Leipold, in: Stein/Jonas, § 145 ZPO Rn. 23; a. A. BGH NJW 1981,2464 (2465); Greger, in: Zöller, § 261 ZPO Rn. 12 und Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 261 ZPO Rn. 28. 342 Siehe Tipke/Kruse, § 73 FGO Tz. 7; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 237 StPO Rn. 7,17. 343 Siehe dazu die Ausführungen unter dem Gliederungspunkt § 4 Α. 1.3. a)bb), S. 95 ff.
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stellen, erscheint ein derart weitreichendes Zurückdrängen der Schutzwirkung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG weniger hinnehmbar als Einbußen im Bereich der Effektivität des Rechtsschutzes, die eine exaktere gesetzliche Vorausbestimmung der Zuständigkeiten im Bereich der Verbindung und Trennung von Verfahren zur Folge hätte. Einer differenzierten Abwägung sind lediglich § 147 ZPO, § 113 Abs. 1 SGG sowie § 237 StPO zugänglich, da diese Normen eine Verbindung an zusätzliche Voraussetzungen knüpfen und dadurch eine Eingrenzung des Ermessens vornehmen. c) Normen hinsichtlich der Veränderung der zahlenmäßigen Besetzung von Spruchkörpern Da Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch die einzelne zur Entscheidung berufene Richterperson ist 344 , muß der Gesetzgeber möglichst genau regeln, in welcher zahlenmäßigen Besetzung die Gerichte entscheiden. Daher sind solche Gesetze von Interesse, die eine Beeinflussung der Besetzung von Spruchkörpern durch die Gerichte erlauben 345. Angesprochen sind zunächst Bestimmungen, nach denen entweder der Spruchkörpervorsitzende Entscheidungsbefugnisse vom Spruchkörper auf Einzelrichter übertragen kann beziehungsweise die Einzelrichter zur Rückübertragung dieser Befugnisse an den Spruchkörper ermächtigt sind (dazu aa)). Daran anschließend wird die Vorschrift in den Mittelpunkt gerückt, die abgrenzt, wann die Bußgeldsenate der Oberlandesgerichte mit drei und wann sie mit nur einem Richter tätig werden (dazu bb). Drittens ist die Rede von Normen, die sich mit der Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit des Spruchkörpers einerseits und des Vorsitzenden beziehungsweise Berichterstatters andererseits im vorbereitenden Verfahren des Verwaltungsprozesses 344
BVerfGE 4, 412 (416f.); 40, 356 (361). Nach der Auslegung des BGH NJW 1998,2458 f. ermöglicht auch § 27 StPO den Gerichten, auf die Besetzung im Einzelfall Einfluß zu nehmen. Nach dieser Vorschrift soll für die Entscheidung eines Ablehnungsgesuchs wegen der Besorgnis der Befangenheit eines oder mehrerer Richter im Strafprozeß (§§ 24 ff. StPO) nicht der im Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der im Zeitpunkt der Entscheidung berufene Richter zuständig sein. Da über die Ablehnungsentscheidung gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht alsbald entschieden werden müsse, so der Bundesgerichtshof, könne sich die für eine Ablehnungsentscheidung zuständige Gerichtsbesetzung zwischen Antragstellung und Entscheidung ändern, etwa durch Krankheit, Urlaub oder den Wegfall eines Richters. Auf der Grundlage dieser Auslegung bedarf § 27 StPO als Beeinträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht. Würde man verlangen, daß der im Zeitpunkt der Antragstellung berufene Richter bei der Entscheidung mitwirke, so die Begründung der Richter, könnte über ein Ablehnungsgesuch unter Umständen nicht mehr innerhalb der in § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgesehenen gesetzlichen Frist während des Laufs der Hauptverhandlung entschieden werden. Dies hätte zur Folge, daß ein - eventuell unbegründetes - Ablehnungsgesuch schon aus Fristgründen zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen könnte. Das Gericht beruft sich demnach auf das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes. 345
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und der Finanzgerichtsordnung befassen (dazu cc)). Sodann ist auf Gesetze einzugehen, die den Ausschluß einer Mitwirkung ehrenamtlicher und hauptamtlicher Richter am Verfahren regeln (dazu dd)). Schließlich ermöglichen bestimmte Vorschriften eine variable Besetzung von Spruchkörpern im Strafverfahren (dazu ee)). aa) Übertragung von Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung auf Einzelrichter und Rückübertragung Folgende Normen gestatten den Spruchkörpern, Rechtsstreitigkeiten auf einzelne Richter dieser Kammern oder Senate zu übertragen, § 348 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO; § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FGO; § 6 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO sowie § 76 Abs. 1 und Abs. 2 AsylVfG oder sehen die Möglichkeit einer Rückübertragung auf die Spruchkörper vor, § 348 Abs. 4 ZPO\ § 6 Abs. 3 FGO\ §6 Abs. 3 VwGO\ § 76 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 2 AsylVfG sowie §80 a Abs. 3 OWiG. Diese Vorschriften stoßen nur auf verfassungsrechtliche Bedenken, wenn sie eine Übertragung oder Rückübertragung in das Ermessen der Gerichte stellen beziehungsweise die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zur Grundlage einer solchen Maßnahme machen. Lediglich für diese Fälle liegt eine Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Darüber hinaus berühren nur die Regelungen den Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, die eine Übertragung zur Entscheidung eines Falles durch den Einzelrichter vorsehen und nicht solche, die lediglich eine Vorbereitung der Entscheidung zulassen346. Die nur vorbereitende Tätigkeit eines Richters innerhalb eines Spruchkörpers ist, abgesehen von bestimmten Ausnahmen hinsichtlich der Berichterstattertätigkeit, eine Aufgabe, die nicht dem Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfällt 347. Im Zivilprozeß, Verwaltungsprozeß und Asylgerichtsverfahren 348 beinhalten die Normen über eine Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf die Einzelrichter eine Kombination aus eingeschränktem Ermessensspielraum und unbestimmten Rechtsbegriffen. Die Spruchkörper sollen den Rechtsstreit in der Regel einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Ausgeschlossen ist eine Übertragung nur, sofern eines der gesetzlich geregelten Übertragungsverbote greift 349 . Die Verpflichtung, den
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So etwa § 524 ZPO, § 87 VwGO und § 79 FGO. Zur Begründung siehe § 3 Α. 1.2., S. 32ff. 348 Zum Beurteilungsspielraum im Rahmen von § 76 Abs. 1 AsylVfG siehe OVG Greifswald NVwZ-Beilage 11/1998, 109f. 349 Siehe § 348 Abs. 3 ZPO und § 6 Abs. 3 VwGO. 347
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Rechtsstreit in der Regel zu übertragen, läßt es zu, in begründeten Ausnahmefällen von einer Übertragung abzusehen. Eine Verknüpfung
richterlichen Ermessens mit unbestimmten Rechtsbegriffen
liegt auch § 6 Abs. 1 FGO zugrunde, mit einem für Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedeutsamen Unterschied. Die Norm stellt, wie § 348 ZPO a. F. 3 5 0 , die Entscheidung in das Ermessen des Spruchkörpers, indem dieser eine Übertragung vornehmen kann. § 6 F G O 3 5 1 und die übrigen Normen über die Einzelrichterübertragung werden fast ausnahmslos für grundrechtskonform gehalten 352 . Allerdings wird häufig zur Voraussetzung gemacht, daß eine abstrakt-generelle Bestimmung der Einzelrichterzuständigkeit für das Geschäftsjahr im voraus durch einen spruchkörperinternen Geschäftsverteilungsplan erfolgt, der auch eine Vertretungsregelung beinhaltet 353 . Dies hätte zur Konsequenz, daß kein Ermessen hinsichtlich der Auswahl der Person des Einzelrichters bestünde. Es bliebe jedoch die Möglichkeit, zwischen einer Entscheidung durch den Spruchkörper und der einzelnen Richterperson zu wählen. Auch dieser Entscheidungsfreiraum bedarf als Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG demnach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Der Zweck der Normen zur Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf den Einzelrichter besteht darin, eine Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensförderung 350 Siehe dazu Kissel , § 75 GVG Rn. 5 ff. mit Nachweisen in Anmerkung 7 zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber § 348 ZPO a. F. und Kolb, Rechtsnatur, S. 149ff. Bettermann, ZZP1978,365 (393 f.) und Kramer, JZ 1977,11 ( 12 ff.) hielten § 348 ZPO a. F. wegen des dort eingeräumten Ermessens ausdrücklich für verfassungswidrig. Bedenken äußerte auch Kunig, in: von Münch/Kunig (2. Auflage 1983), Art. 101 GG Rn. 28. Für unbedenklich hielt die Norm etwa Rasehorn, NJW 1977,789 (790f.). 351 Die Norm wird vom Β FH NJW 1995, 2576 und Β FH NVwZ 1998, 661 f., unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1984, 559 (zu § 31 AsylVfG) und BVerfGE 95, 322 (330f.), wo das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, daß in bestimmten Fällen die Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen werden kann, für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten. Für verfassungsmäßig halten das Gesetz außerdem Rößler, DStZ 1993, 97 (99f.); List, in: Hübschmann/Hepp/Spittaler, § 6 FGO Rn. 2; Schmid , DStZ 1993, 129f. Für verfassungswidrig hält die Bestimmung aufgrund des darin eingeräumten Ermessensspielraums demgegenüber Felix, FR 1993, 13 f. Siehe auch BFH NJW 1998,1334f., zu dem Problem der Übertragung einer Sache durch Präsidiumsbeschluß an einen anderen Senat, nachdem die Entscheidungszuständigkeit durch den alten Spruchkörper an den Einzelrichter übertragen wurde. Der Bundesfinanzhof stellt klar, daß in diesem Fall der Einzelrichter des neuen Senates zuständig sei. Dem Kollegium sei der Fall entzogen, sofern nicht eine ordnungsgemäße Rückübertragung erfolge. 352 Siehe Greger, in: Zöller, Vor 348 ZPO Rn. 2f.; Kissel, § 75 GVG Rn. 8 und Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 348 ZPO Rn. 6, der vor allem die Aushöhlung des Kollegialprinzips kritisiert. Zur Verwaltungsgerichtsordnung siehe Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 6 VwGO Rn. 34 und Geiger, in: Eyermann, § 6 VwGO Rn. 3. Zum Asylverfahrensgesetz siehe BVerfG NJW 1984,559 (zu § 31 AsylVfG, der Vorgängemorm von § 76 AsylVfG); OVG Hamburg NVwZ-RR 1996, 716 und Kanein!Renner, § 76 AsylVfG Rn. 6. 353 So etwa KaneiniRenner, § 76 AsylVfG Rn. 9; Redeker/von Oertzen, § 6 VwGO Rn. 2; Kopp!Schenke, § 6 VwGO Rn. 12; Koch, in: Gräber, § 6 FGO Rn. 15; Kävenheim, NJW 1993, 1372 (1373); Tipke!Kruse, § 6 FGO Rn. 17; OVG Hamburg NJW 1994, 274 f.
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durch einen rationellen Personaleinsatz und eine Entlastung des Richterkollegiums zu erreichen 354. Verortet man diese Zwecke im Verfassungsrecht, so wird damit auf das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes355 Bezug genommen. Selbst wenn damit die Hürde des kollidierenden Verfassungsrechts überschritten ist, bleiben Zweifel hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit dieser Beeinträchtigungen, die in erster Linie den Ermessensspielraum in § 6 FGO betreffen. Die verfassungsrechtliche Bewertung spitzt sich auch insoweit auf die Frage zu, wie gravierend man die Grundrechtsbeeinträchtigung einschätzt und welches Gewicht demgegenüber der Förderung der Effektivität der Rechtsschutzes beigemessen wird. Wenn in diesem Zusammenhang verlangt wird, daß, vor einer Beschlußfassung über eine Übertragung, den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird 356 , so wird damit zwar eine Einbeziehung der Interessen der Grundrechtsträger in die Entscheidung des Gerichts ermöglicht. Solange allerdings eine Übertragung gegen den Willen der Beteiligten weiterhin möglich bleibt, vermag eine solche Lösung die Vorbehalte gegen den Entscheidungsfreiraum der Gerichte nicht nachhaltig zu entkräften. Was die Rückübertragung an die Spruchkörper anbelangt, so sehen fast alle Verfahrensordnungen weitgehend identische Bestimmungen vor. Wiederum handelt es sich um eine Verbindung aus-diesmal rechtlich allerdings nicht eingegrenztem - Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen. Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Parteien den Rechtsstreit auf den Spruchkörper zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage ergibt, daß die Entscheidung von „grundsätzlicher Bedeutung" ist 357 oder, als Zusatz im Finanzgerichts- und Verwaltungsprozeß, die Sache „besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art" aufweist. Eine erneute Übertragung an die Einzelrichter wird einheitlich ausgeschlossen. Als bedeutsame Abweichung von den Normen, die die Übertragung an den Einzelrichter regeln, ist die verpflichtende Anhörung der Parteien beziehungsweise der Beteiligten vor einer Rückübertragung zu verzeichnen. Besonderheiten weist zunächst das Gerichtsverfahren in Asylsachen auf. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist der an sich zuständige Einzelrichter nach 354 Siehe Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, Übers. § 348 ZPO Rn. 1; Greger, in: Zöller, vor § 348 ZPO Rn. 2; Geiger, in: Eyermann, § 6 VwGO Rn. 2; Koch, in: Gräber, § 6 FGO Rn. 1. Der Bundesrat sprach sich im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hinsichtlich der Neuregelung in § 6 FGO für eine Regelung ohne Ermessen aus, siehe BT-Drs. 12/1061, S. 27, zu Art. 1 Nr. 1, la - neu -, 38 - neu -. 355 §4 A.I.3.a)bb), S.95ff. 356 So etwa OVG Saarlouis NVwZ 1998,645 unter Betonung der Bedeutung des rechtlichen Gehörs für Entscheidungen, die das Recht auf den gesetzlichen Richter betreffen und Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 6 VwGO Rn. 13 zu § 6 Abs. 1 VwGO beziehungsweise OVG Münster NVwZ-RR 1990,163 zu § 76 AsylVfG. Die gleiche Ansicht vertreten etwa Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, § 348 ZPO Rn. 15 sowie Tip ke/Kruse, § 6 FGO Rn. 9. 357 Im Wortlaut nur etwas abweichend die VwGO, die FGO und das AsylVfG: „... daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat..."
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§ 76 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG verpflichtet, den Rechtsstreit auf die Kammer zu übertragen, wenn die Rechtssache „grundsätzliche Bedeutung" hat oder wenn er von der Rechtsprechung der Kammer abweichen will. Es bleibt also lediglich Raum für die Beurteilung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache. Auch im Ordnungswidrigkeitengesetz ist über die Heranziehung unbestimmter Rechtsbegriffe als Entscheidungsmaßstab hinaus kein zusätzlicher Ermessensspielraum vorgesehen. Nach § 80 a Abs. 3 OWiG überträgt der Einzelrichter in bestimmten Verfahren über Rechtsbeschwerden die Sache dem Bußgeldsenat, wenn es geboten ist, das Urteil „zur Fortbildung des Rechts" oder „zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung" nachzuprüfen. Für die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Beeinträchtigungen gilt das zu den Normen über die Einzelrichterübertragung Gesagte. Mit Ausnahme von § 74 AsylVfG und § 80 a OWiG stellen die Normen eine Rückübertragung in das Ermessen der Einzelrichter; dies eröffnet einen Freiraum, der über die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe hinausgeht. Dieser weitgehende Entscheidungsfreiraum, der eine Vorhersehbarkeit richterlicher Zuständigkeit deutlich erschwert, ist mit dem vergleichbar, den § 6 Abs. 1 FGO vorsieht. bb) Variable Besetzung der Bußgeldsenate bei den Oberlandesgerichten Hinsichtlich der Bestimmung des Ordnungswidrigkeitengesetzes über die Besetzung der Bußgeldsenate bei den Oberlandesgerichten liegt es auf den ersten Blick nicht nahe, von einer ungenauen Bestimmung richterlicher Zuständigkeit auszugehen. § 80 a Absatz 1 und Absatz 2 OWiG scheinen vielmehr auf verfassungsrechtlich vorbildliche Weise abzugrenzen, in welchen Fällen die Bußgeldsenate mit drei beziehungsweise mit einem Richter Recht sprechen358. § 80 a Abs. 1 OWiG bestimmt, daß die Senate grundsätzlich mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden entscheiden, soweit nichts anderes bestimmt ist. Nach der Ausnahmebestimmung des § 80 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG entscheiden die Senate in der Besetzung mit nur einem Richter, wenn es um Verfahren über Rechtsbeschwerden in den in § 79 Abs. 1 OWiG bezeichneten Fällen geht, unter der Bedingung, daß eine Geldbuße von nicht mehr als zehntausend Deutsche Mark festgesetzt oder beantragt worden ist. Trotz des eindeutig klingenden Wortlautes von § 80a Abs. 2 OWiG ist bereits unmittelbar im Anschluß an das Inkrafttreten eine Auseinandersetzung um die Auslegung der Norm entbrannt. § 80 a Abs. 2 Nr. 1 OWiG verweist auf § 79 Abs. 1 OWiG, so daß der Wortlaut auch im Falle von § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG für eine Beset358 Zur Einzelrichterregelung im OWiG, die durch Gesetz vom 26.01.1998 eingefügt wurde, BGBl. I, S. 156, siehe Katholnigg, NJW 1998,568 (572). Siehe außerdem BGH NJW 1998, 3211 f., der die Frage verneint, ob das Vorlegen einer Rechtsfrage an den BGH nach § 121 Abs. 2 GVG i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG durch den nach § 80 a Abs. 2 OWiG allein entscheidenden Richter zulässig ist.
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zung mit nur einem Richter spricht, wenn Gegenstand der Rechtsbeschwerde ein Urteil ist, mit dem - neben einer Geldbuße von nicht mehr als zehntausend Deutsche Mark - ein Fahrverbot angeordnet worden ist. Dennoch wird von einem Teil der Oberlandesgerichte die Ansicht vertreten, die Beschwerdesenate hätten in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden, sofern vom Amtsgericht neben der Geldbuße ein Fahrverbot verhängt wurde 359. Das Oberlandesgericht Zweibrücken nimmt eine Besetzung mit drei Richtern selbst für die Konstellation an, daß die Staatsanwaltschaft zwar keinen Antrag auf Verhängung des Fahrverbotes beim Amtsgericht gestellt hat, dieses Ziel jedoch mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt 360. Der Bundesgerichtshof 361 hat auf einen Vorlagebeschluß hin klargestellt, auch er gehe, aufgrund der Systematik und des Gesamtzusammenhangs der Regelung von § 80 a OWiG, davon aus, der Senat müsse über Rechtsbeschwerden, die ein Fahrverbot betreffen, in der vollen Besetzung mit drei Richtern entscheiden, zumal es dabei um einen verhältnismäßig schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen gehe. Ohne an dieser Stelle auf die Frage einzugehen, welche der Interpretationen den Vorzug verdient 362, zeigt jedenfalls die Tatsache, daß die Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof um die zutreffende Auslegung der Norm streiten, daß keine Besetzungsregelung existiert, aus der die Gerichte zweifelsfrei ableiten, wann die Bußgeldsenate mit drei und wann mit nur einem Richter entscheiden. Auf diesen Umstand weist der Bundesgerichtshof in aller Deutlichkeit hin, wenn er betont363, der Wortlaut von § 80 a Abs. 2 Nr. 1 OWiG sei offen und lasse auch Raum für die Annahme, der Bußgeldsenat habe im Falle von § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG in der Besetzung mit einem Richter zu entscheiden. Ein solcher Zustand wird dem Gebot einer möglichst genauen Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit nicht gerecht. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die Legislative den Gerichten einen Entscheidungsfreiraum bei der Frage der Besetzung einräumen wollte. Der Gesetzgeber könnte demnach durch eine Klarstellung im Gesetz Abhilfe schaffen.
cc) Entscheidungszuständigkeit des Vorsitzenden oder Berichterstatters im vorbereitenden Verfahren Die Verfahrensordnungen des allgemeinen und speziellen Verwaltungsprozesses enthalten Normen, namentlich § 79 a Abs. 1 und Abs. 3 FGO, § 87a Abs. 1 und Abs. 3
359 Katholnigg, NJW 1998,568 (572) sowie das BayObLG NJW 1998,2298 ff. und das OLG Düsseldorf NJW 1998,2300f. entgegen der Auffassung des OLG Köln NStZ-RR 1998, 216f., des OLG Hamm NZV 1998, 262 und der Ansicht Baumgärtners, NJW 1998,2262 f. 360 NJW 1999, 962 f. 361 NJW 1998, 3209ff., ergangen auf einen Vorlagebeschluß des OLG Hamburg, auch zu weiteren Auslegungsfragen hinsichtlich der Besetzung. 362 Dazu BGH NJW 1998, 3209 (3210f.). 363 NJW 1998, 3209 (3210).
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VwGO sowie § 155 Abs. 2 und Abs. 4 SGG364, welche die Zuständigkeit des Spruchkörpers von der des Spruchkörpervorsitzenden beziehungsweise Berichterstatters abgrenzen. Für bestimmte, in den Gesetzen enumerativ aufgeführte Entscheidungen ist danach nicht der Spruchkörper, sondern der Vorsitzende oder, sofern ein solcher bestellt wurde, der Berichterstatter zuständig. Hinsichtlich einer möglichst genauen Bestimmung, in welcher Besetzung ein Gericht im Einzelfall entscheidet, sind diese Zuständigkeitsabgrenzungen einerseits als vorbildlich anzusehen. Sie lassen keine Wahl hinsichtlich der Entscheidungszuständigkeit. Vielmehr muß der Vorsitzende, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, allein entscheiden. Sofern ein Berichterstatter bestellt ist, stellen die Regelungen außerdem zweifelsfrei klar, daß dieser an Stelle des Vorsitzenden zur Entscheidung verpflichtet ist 365 . In anderer Hinsicht geben die Gesetze hingegen die richterliche Zuständigkeit nur ungenau wieder. Voraussetzung für eine Zuständigkeit der Einzelrichter ist nämlich in jedem Fall, daß die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht. Der Begriff des vorbereitenden Verfahrens ist jedoch in zeitlich-inhaltlicher Hinsicht nicht eindeutig abgrenzbar vom sonstigen, nicht vorbereitenden Verfahren. Es besteht zwar weitgehend Einigkeit darüber, daß das vorbereitende Verfahren - allgemein umschrieben - alles umfaßt, was der Richter zur Förderung des Rechtsstreits bis zur Spruchreife unternimmt 366. Andererseits wird im Detail darüber gestritten, wann das vorbereitende Verfahren endet, mit der Folge, daß von diesem Zeitpunkt an der Spruchkörper und nicht mehr der Einzelrichter zur Entscheidung befugt ist. Die Bandbreite der zu dieser Frage vertretenen Ansichten367 reicht von der Annahme, das 364
Verfassungsrechtlich unbedenklich sind die in allen genannten Normen vorgesehenen Möglichkeiten des Vorsitzenden beziehungsweise Berichterstatters, auch im übrigen im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Spruchkörpers zu entscheiden, siehe § 87 a Abs. 2 VwGO, § 79 a Abs. 3 FGO, § 155 Abs. 3 SGG sowie § 524 Abs. 4 und § 349 Abs. 3 ZPO. Die Normen stellen zwar Ermessensvorschriften dar, indem der Einzelrichter im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Spruchkörpers entscheiden „kann". Dieses Ermessen hinsichtlich der Frage, in welcher Besetzung die Richterbank entscheidet, ist aber insofern vor dem Hintergrund des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unbedenklich, weil die Beteiligten einer Änderung der Besetzung zunächst zustimmen müssen. Macht der Einzelrichter von seiner „übertragenen" Möglichkeit hingegen keinen Gebrauch, verbleibt es bei der gesetzlich normierten, ursprünglichen Zuständigkeit des Spruchkörpers. Eine Manipulation der Richterbank gegen den Willen der grundrechtsberechtigten Verfahrensbeteiligten ist daher nicht möglich, so daß der Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich dieser Normen nicht einschlägig ist. 365 Die eindeutige Formulierung der Zuständigkeit des Berichterstatters in § 155 Abs. 4 SGG wurde an § 87 a Abs. 3 VwGO angelehnt, der wiederum auf Vorschlag des Bundesrates eindeutig gefaßt wurde, um dem Recht auf den gesetzlichen Richter Rechnung zu tragen; siehe BTDrs. 11/7030, S. 45 und die Gegenäußerung der Bundesregierung auf der Seite 51, BSG NJW 1996, 2181 f. sowie Meyer-Ladewig, § 155 SGG Rn. 8. 366 Siehe Geiger, in: Eyermann, § 87 a VwGO Rn. 3; Kopp/Schenke, § 87 a VwGO Rn. 4; Meyer-Ladewig, § 155 SGG Rn. 7; Koch, in: Gräber, § 79 a FGO Rn. 5 sowie FG Rheinland-Pfalz EFG 1993, 807. 367 Siehe zu diesem Befund etwa Schmid , in: Sodan/Ziekow, § 87 a VwGO Rn. 3.
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vorbereitende Verfahren ende mit der Terminierung der mündlichen Verhandlung 368, über die Meinung, der Beginn der mündlichen Verhandlung oder das Ergehen eines Gerichtsbescheides sei zumindest grundsätzlich der ausschlaggebende Zeitpunkt, bis zu dem sich damit teilweise überschneidenden Standpunkt, nicht ein formales Kriterium allein, wie etwa der Beginn der mündlichen Verhandlung, sondern die Spruchreife eines Rechtsstreits sei maßgeblich369. Diese Auslegungsdifferenzen illustrieren den mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedeutsamen Umstand, daß die Zuständigkeitsabgrenzung vom jeweiligen Verständnis des unbestimmten Rechtsbegriffs des vorbereitenden Verfahrens durch die Gerichte abhängt. Über die jeweilige Auslegung wird den Gerichten also die Möglichkeit eingeräumt, auf die zahlenmäßige Besetzung der Richterbank einzuwirken. Geht ein Gericht davon aus, noch im Rahmen des vorbereitenden Verfahrens zu entscheiden, ist der Vorsitzende beziehungsweise der Berichterstatter zuständig. Umgekehrt ist der Spruchkörper zur Entscheidung berufen, sofern der Prozeß das Stadium des vorbereitenden Verfahrens verlassen hat. Die Schwierigkeiten, die mit der Interpretation des Begriffs des vorbereitenden Verfahrens einhergehen, haben dazu geführt, daß vereinzelt erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erhoben werden, die in die Forderung münden, die bestehende Abgrenzung de lege ferenda zu beseitigen370. Den Prozeßordnungen sei eine Gliederung in vorbereitendes Verfahren und Schlußverfahren unbekannt, was zu einer verfassungsrechtlich fragwürdigen Ungenauigkeit in der Besetzungsregelung führe 371. Dieser Kritik ist auch dann nicht die Grundlage entzogen, wenn ein senatsinterner Geschäfts verteilungsplan besteht, aus dem sich für das Geschäftsjahr im voraus ermitteln läßt, welcher Berichterstatter in welcher Sache an Stelle des Vorsitzenden entscheidet372. Für diesen Fall ist zwar eine Manipulation hinsichtlich der entschei368
So Stelkens, NVwZ 1991, 209 (214); FG Rheinland-Pfalz EFG 1993, 674. Siehe Koch, in: Gräber, § 79a FGO Rn. 5; FG Baden-Württemberg EFG 1993, 578 und EFG 1994, 1067; Geiger, in: Eyermann, § 87 a VwGO Rn. 3; Kopp/Schenke, § 87 a VwGO Rn. 4f.; Ortloff, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 87 a VwGO Rn. 9 und 11; Meyer-Ladewig, §155 SGG Rn. 7 a. 370 Siehe Tipke!Kruse, § 79 a FGO Tz. 2 und 5 und Koch, in: Gräber, § 79 a FGO Rn. 4, der im Interesse der Rechtsklarheit eine Beseitigung der Einschränkung auf Entscheidungen im vorbereitenden Verfahren zumindest für wünschenswert hält. Das FG Rheinland-Pfalz EFG 1993, 807 f. hält § 79 a Abs. 1 FGO für willkürlich und nimmt daher einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG an. Kritisch äußert sich auch Reichl, Probleme, S. 199ff. Keine verfassungsrechtlichen Bedenken erheben demgegenüber BFH NJW 1998, 335f.; BFH BFH/NV 1995,1021 ; Koch, in: Gräber, § 79 aFGO Rn. 4; FG Bremen EFG 1994,258; Ortloff, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 87 a VwGO Rn. 9; Geiger, in: Eyermann, § 87 a VwGO Rn. 3 f.; Meyer-Ladewig, § 155 SGG Rn. 1 ff. 371 Siehe Tipke!Kruse, § 79 a FGO Tz. 5. 372 Diese Forderung wird etwa erhoben von Geiger, in: Eyermann, § 87 a VwGO Rn. 4; Kopp! Schenke, § 87 a VwGO Rn. 10; Schmid, in: Sodan/Ziekow, § 87 a VwGO Rn. 4; Reichl, Probleme, S. 202 sowie Meyer-Ladewig, § 155 SGG Rn. 2. 369
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dungsbefugten einzelnen Richterperson, Vorsitzender Richter oder planmäßiger Berichterstatter, ausgeschlossen. Dennoch besteht weiterhin Ungewißheit darüber, wann der Spruchkörper in seiner Gesamtheit und wann der Vorsitzende beziehungsweise der Berichterstatter im vorbereitenden Verfahren tätig wird. Die Zuständigkeitsverlagerung von den Spruchkörpern auf den Einzelrichter wird mit dem Bestreben gerechtfertigt, die Verfahren durch eine Vorbereitung bis zur Entscheidungsreife zu straffen und dadurch zu einer Entlastung der Gerichte beizutragen 373 . Hinter diesen Gründen steht zwar das Verfassungsgut der Effektivität des Rechtsschutzes. Bei einer Abwägung dieses Gebotes mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters ist jedoch zu beachten, daß eine präzisere Umschreibung dessen, was unter dem vorbereitenden Verfahren zu verstehen ist, möglich wäre. Selbst wenn eine Definition des Begriffs, die jeden erdenklichen Einzelfall umfaßte, seiner Natur nach nicht gelingen mag, so zeigen die unterschiedlichen angebotenen Auslegungen, daß jedenfalls eine Formulierung möglich ist, die eine exaktere Bestimmung enthielte als die gültige Norm. Auf der Grundlage einer solchen Formulierung könnte der Zweck der Regelung, eine Entlastung der Gerichte durch Verfahrensstraffung, ebenfalls erreicht werden. Es ist demnach fraglich, ob diese Beeinträchtigungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter verhältnismäßig sind.
dd) Veränderung der Gerichtsbesetzung bei Gerichtsbescheiden oder anderen Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung Im allgemeinen und speziellen Verwaltungsprozeß ist nicht nur hinsichtlich des vorbereitenden Verfahrens eine abweichende Besetzung des Gerichts vorgesehen. Die Verfahrensordnungen unterscheiden darüber hinaus zwischen einer regulären Besetzung sowie einer Besetzung für Beschlüsse außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden. In den genannten Konstellationen wirken die ehrenamtlichen Richter 374 beziehungsweise zwei der fünf hauptamtlichen Richter 375
373 Siehe die Begründung zu § 87 a VwGO in der BT-Drs. 11/7030, S. 27 und die Begründung des Bundesratsentwurfs zu § 155 SGG in der BT-Drs. 12/1217, S. 53 sowie Kopp/Schenke, § 87 a VwGO Rn. 1. 374 Siehe § 12 Abs. 1 SGG, § 33 i. V. m. § 12 Abs. 1 SGG und § 40 i. V. m. § 33 und § 12 Abs. 1 SGG sowie § 5 Abs. 3 VwGO, § 9 Abs. 3 Satz 1 VwGO i. V. m. den Ausführungsgesetzen der Länder, in denen die Besetzung der Senate mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern geregelt ist und vorgesehen ist, daß für Beschlüsse außerhalb der mündlichen Verhandlung oder Gerichtsbescheide die ehrenamtlichen Richter nicht mitwirken. Entsprechende Regelungen existieren in Berlin (§ 2 AG), Bremen (Art. 2 AG), Hessen (§ 13 AG), Niedersachsen (§ 4 VGG), Sachsen-Anhalt (§ 4 AG), Schleswig-Holstein (§ 3 AG). Einen Ausschluß der ehrenamtlichen Richter nur für Beschlüsse außerhalb der mündlichen Verhandlung sehen vor die Länder Brandenburg (§ 4 VwGG), Hamburg (§ 3 AG), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 1 § 12 GerichtsorgG), Nordrhein-Westfalen (§ 10 AG), Rheinland-Pfalz (§ 2 AG). Siehe außerdem § 5 Abs. 3 FGO.
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nicht mit. Damit geraten die Normen in das Blickfeld, die den Spruchkörpern ermöglichen, außerhalb der mündlichen Verhandlung Beschlüsse zu fassen beziehungsweise durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da eine Anwendung dieser Normen zu einer Veränderung der Richterbank führt. Folgende Gesetze ermächtigen die Gerichte, per Gerichtsbescheid zu entscheiden: § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO; §90 a Abs. 1 FGO und § 105 Abs. 1 SGG376. Eine Entscheidung per Beschluß, außerhalb der mündlichen Verhandlung, ermöglichen schließlich § 125 Abs. 2 Satz 2 3 7 7 und § 130 a Satz 1 VwGO 378; § 153 Abs. 4 Satz 1 und § 158 Satz 2 SGG379. Diesen Gesetzen ist nicht eindeutig zu entnehmen, in welcher Besetzung die Spruchkörper in jedem Einzelfall ihr Amt wahrnehmen. Die Anzahl der zur Entscheidung berufenen Richterpersonen hängt vielmehr davon ab, ob die Gerichte von dem durch Gesetz eingeräumten Ermessen auf die eine oder die andere Weise Gebrauch machen. Entscheiden sie durch Gerichtsbescheid oder durch Beschluß außerhalb der mündlichen Verhandlung, werden die Spruchkörper ohne die ehrenamtlichen Richter oder einen Teil der hauptamtlichen Richter tätig. Nehmen sie diese Möglichkeit hingegen nicht wahr, bleibt es bei der Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern beziehungsweise fünf Berufsrichtern. Hinsichtlich einiger Regelungen ist die Ermessensentscheidung mit einer Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe verbunden. Bevor das Gericht eine Ermessensausübung in Erwägung ziehen kann, setzt § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO voraus, daß die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist 380 . Nach § 90 a Abs. 1 FGO ist Voraussetzung, daß es sich um geeignete Fälle handelt. § 130 a Satz 1 VwGO sowie § 153 Abs. 4 Satz 1
375 Siehe § 10 Abs. 3 VwGO und § 10 Abs. 3 FGO zur Besetzung des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise des Bundesfinanzhofs bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung. 376 § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG war gemäß Art. 15 Abs. 3 des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vom 11.01.1993 (BGBl. I, S. 50) befristet bis Ol .03.1998. Danach sollte wieder § 105 in der ursprünglichen Fassung in Kraft treten. Nach dieser Norm kann der Vorsitzende bis zur Anberaumung der mündlichen Verhandlung eine unzulässige oder offenbar unbegründete Klage durch einen Vorbescheid mit Gründen abweisen. Auch eine solche Maßnahme führt also zum Ausschluß einer Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter, wobei im Vergleich zu den Regelungen über den Gerichtsbescheid eine ausdrückliche Beschränkung auf unzulässige oder offenbar unbegründete Klagen vorgesehen ist. Zu § 105 SGG in der vorgesehenen Fassung ab 01.03.1998 siehe Meyer-Ladewig, Anhang nach § 105 SGG Rn. 1ff. Mit Gesetz vom 30.03.1998 (BGBl. I, S. 638) wurde die Regelung über den Gerichtsbescheid in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG jedoch wieder eingefügt. 377 In Verbindung mit § 9 Abs. 3 Satz 1 VwGO und der entsprechenden landesrechtlichen Regelung. 378 In Verbindung mit § 101 Abs. 3 VwGO. 379 In Verbindung mit § 124 Abs. 3 SGG. 380 So auch § 105 Abs. 1 SGG in der Fassung bis zum 01.04.1998.
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FGO machen schließlich zur Bedingung, daß das Gericht eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Obwohl die Gesetze den Gerichten erhebliche Einflußmöglichkeiten auf die Besetzung der Richterbank einräumen, wird nur vereinzelt an der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gezweifelt 381 . Das Bundesverwaltungsgericht hat einen Verstoß gegen das Grundrecht, trotz Wahlmöglichkeit der Oberverwaltungsgerichte, ausdrücklich verneint 382 und auch die übrigen Äußerungen geben zu erkennen, daß die Normen im Ergebnis für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten werden 383. Zur Rechtfertigung wird dabei einhellig auf den Zweck abgestellt, die Gerichtsverfahren zu beschleunigen und zu vereinfachen, die Spruchkörper zu entlasten und dadurch letztlich dem Prinzip materieller Gerechtigkeit zu dienen384. Auch wenn sich der Gesetzgeber mit dieser Begründung auf das Verfassungsprinzip der Effektivität des Rechtsschutzes berufen kann, ist fraglich, ob die Beeinträchtigungen als verhältnismäßig angesehen werden können. Dafür, daß es sich um unzumutbare Eingriffe in das Recht auf den gesetzlichen Richter handelt, spricht auch hinsichtlich dieser Normen der Umstand, daß die Besetzungsentscheidung in das Ermessen der Gerichte gestellt wird. Damit wird eine Vorhersehbarkeit richterlicher Zuständigkeit deutlich erschwert. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kommt es darauf an, ob man die Vorteile, die aus diesen Entscheidungsfreiräumen für die Effektivität des Rechtsschutzes resultieren, für gewichtiger hält, als den Grundrechtsschutz aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. ee) Variable Spruchkörperbesetzungen in Strafsachen Das Gerichtsverfassungsgesetz und das Jugendgerichtsgesetz variieren an verschiedenen Stellen die zahlenmäßige Besetzung der Spruchkörper in Strafsachen.
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Siehe etwa Kopp!Schenke, § 84 VwGO Rn. 2 und Reichl, Probleme, S. 195 ff. zu § 84 VwGO. 382 BVerwGE 72,59 ff. zu Art. 2 § 5 Abs. 1 EntlG und § 9 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 6 Abs. 2 Satz 1 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur VwGO. 383 Siehe Geiger, in: Eyermann, § 84 VwGO Rn. 2; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 84 VwGO Rn. 5; Kopp!Schenke, § 130 a VwGO Rn. 2; Happ, in: Eyermann, § 130 a VwGO Rn. 2f.; Redeker/von Oertzen, § 130a VwGO Rn. 1; Meyer-Ladewig, in: Schoch/Schmidt-Aßmann, § 130a VwGO Rn. 8; Meyer-Ladewig, § 105 SGG Rn. 3; List, in: Hübschmann/Hepp/ Spittaler, § 90a FGO Rn.3. 384 Dazu nur BVerwGE 72,59 (62); BVerwG NVwZ 1996,1102; Geiger, in: Eyermann, § 84 VwGO Rn. 1; Kopp!Schenke, § 130 a VwGO Rn. 1.
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(1) Umfang beziehungsweise Schwierigkeit einer Sache als Kriterium einer Besetzungsveränderung Dabei bilden zunächst diejenigen Normen eine Gruppe, die den Gerichten die Hinzuziehung weiterer Richter ermöglichen. § 29 GVG setzt sich mit der personellen Besetzung der Schöffengerichte bei den Amtsgerichten auseinander, die nach § 29 Abs. 1 GVG grundsätzlich aus einem Vorsitzenden Richter und zwei Schöffen bestehen. Das Gericht kann jedoch gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 GVG, auf Antrag der Staatsanwaltschaft 385, einen zweiten Richter hinzuziehen, sofern dessen Mitwirkung nach dem Umfang der Sache notwendig erscheint. Eine solche personelle Erweiterung des Schöffengerichts ist nach § 29 Abs. 2 Satz 2 GVG unter den gleichen Bedingungen, jedoch ohne Mitwirkung der Anklagebehörde, möglich, wenn ein Gericht höherer Ordnung das Hauptverfahren vor dem Schöffengericht eröffnet. Die große Strafkammer beim Landgericht und die große Jugendkammer beim Landgericht beschließen gemäß § 76 Abs. 2 GVG beziehungsweise § 33 b Abs. 2 JGG bei der Eröffnung des Hauptverfahrens, in der Hauptverhandlung statt mit drei nur mit zwei Berufsrichtern, einschließlich des Vorsitzenden sowie zwei Schöffen, Recht zu sprechen, wenn nicht die Zuständigkeit des Schwurgerichts gegeben ist oder nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. Nach § 122 Abs. 2 Satz 2 GVG 386 beschließen die Strafsenate des Oberlandesgerichts bei der Eröffnung des Hauptverfahrens, daß sie in der Hauptverhandlung nicht mit fünf, sondern mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden besetzt sind, wenn nicht nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung zweier weiterer Richter notwendig erscheint. Die zahlenmäßige Besetzung der Gerichte steht hinsichtlich dieser Normen nicht eindeutig im voraus fest. Die Anzahl der zur Entscheidung berufenen Richter hängt vielmehr zunächst davon ab, ob die Gerichte eine Rechtssache unter die genannten unbestimmten Rechtsbegriffe subsumieren. Hinsichtlich § 29 Abs. 2 GVG kommt ein verfassungsrechtlich bedeutsamer Umstand hinzu. Im Gegensatz zu den anderen Bestimmungen ist das Schöffengericht, selbst wenn es die Zuziehung eines weiteren 385 Da § 29 Abs. 2 Satz 1 GVG durch dieses Antragsrecht auch eine Einflußmöglichkeit der Anklagebehörde vorsieht, müßte die Norm zusätzlich unter dem Gliederungspunkt „Staatsanwaltschaft und gesetzlicher Richter" untersucht werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und weil die Norm sich in erster Linie an die Gerichte wendet, wird die Vorschrift jedoch im Zusammenhang mit § 29 Abs. 2 Satz 2 GVG an dieser Stelle erörtert. 386 § 122 Abs. 2 GVG wurde neugefaßt durch Art. 8 des Gesetzes vom 28.10.1994 (BGBl. I, S.3186). Siehe zur Auslegung der Norm die Entscheidung BGH NJW 1997,2531 f., NStZ 1997, 606 ff. mit Anmerkungen von Dehn, NStZ 1998, 262 f. mit Anmerkungen von Foth sowie JR 1998, 33 ff. mit Anmerkungen von Katholnigg. Die Entscheidung wird darüber hinaus kritisch besprochen von Bertram, NJW 1998, 2934ff.
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Richters für erforderlich hält, nach dem Wortlaut der Norm nicht verpflichtet, die Erweiterung des Spruchkörpers zu beschließen. Es kann vielmehr auch unter dieser Voraussetzung nach seinem Ermessen über die Besetzung der Richterbank entscheiden. Die Möglichkeit, bei schwierigen beziehungsweise umfangreichen Fallkonstellationen weitere Berufsrichter hinzuzuziehen, ist geeignet, eine effektive Bearbeitung der rechtlichen und tatsächlichen Probleme eines Falles zu fördern. Der Gesetzgeber kann sich mit der dadurch angesprochenen Effektivität des Rechtsschutzes demnach auf ein Rechtsgut von Verfassungsrang stützen. Selbst wenn man die Kriterien einer Besetzungsentscheidung für hinreichend nachvollziehbar und vorhersehbar hält, um die daraus resultierenden Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allgemein als zumutbar anzusehen, bleiben Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von § 29 Abs. 2 GVG im speziellen. Der dort verankerte zusätzliche Ermessensspielraum setzt die Verfahrensbeteiligten in erheblichem Umfang der Gefahr einer Manipulation der Richterbank aus. Dennoch werden gegen § 29 Abs. 2 GVG, sieht man von vereinzelten Ausnahmen ab 387 , keine nennenswerten verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben 388. (2) Unterschiedliche Spruchkörperbesetzungen während und außerhalb der Hauptverhandlung In anderen Bestimmungen richtet sich die Besetzung der Richterbank danach, ob Entscheidungen in oder außerhalb der Hauptverhandlung erlassen werden 389. Dies gilt zunächst für § 30 GVG, der sich mit der Besetzung des Schöffengerichts befaßt. Während der Hauptverhandlung wirken die Schöffen gemäß § 30 Abs. 1 GVG 387
Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S.523 (571). Meyer, DRiZ 1969,284 f. und Katholnigg, § 29 GVG Rn. 4 f. sehen Bedenken nur, sofern die Erweiterung in Verbindung mit einem Geschäftsverteilungsplan erfolgt, der vorsieht, daß im Falle eines Antrags ein bestimmter anderer Richter Vorsitzender des dann erweiterten Schöffengerichts wird. Nur für diesen Fall führe die Erweiterung zur Zuständigkeit eines anderen Gerichts, nicht lediglich zur personellen Erweiterung des gleichen Spruchkörpers. 388 Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, § 29 GVG Rn. 4 und § 16 GVG Rn. 12 sieht schon deshalb keine Bedenken, da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht fordere, daß die Zahl der entscheidenden Richter gleich bleibe; Kissel, in: Karlsruher Kommentar, § 29 GVG Rn. 12 und § 24 GVG Rn. 5 und 10; KleinknechtlMeyer-Goßner, § 29 GVG Rn. 2ff.; Kissel , § 29 GVG Rn. 15 geht von einer Pflicht der Staatsanwaltschaft aus, bei Vorliegen einer Notwendigkeit im Sinne des Gesetzes den Antrag zu stellen. Deshalb und weil eine gerichtliche Nachprüfung bestehe, sei dieser „bewegliche Gerichtsstand" bedenkenfrei, zumal es nur um die Besetzung ein und desselben Gerichts gehe. 389 Ein Tätigwerden in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgeschriebenen Besetzung schreibt auch § 27 Abs. 2 StPO bindend vor für Entscheidungen über die Ablehnung eines Mitgliedes der erkennenden Strafkammer. Nach BGH NJW 1998,2458 (2459) ist insoweit für die Besetzung des Gerichts der Zeitpunkt der Entscheidung und nicht der Antragstellung maßgeblich. Dadurch steht die Besetzung über eine solche Entscheidung nicht im voraus fest, sie kann sich vielmehr, etwa durch Krankheit oder Urlaub von Richtern, verändern.
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gleichberechtigt an den Entscheidungen mit. Demgegenüber schließt § 30 Abs. 2 GVG, bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung, die ehrenamtlichen Richter aus und überträgt ausschließlich dem Richter beim Amtsgericht die Entscheidungsbefugnis 390. Auch in § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG sowie § 76 Abs. 3 Satz 2 GVG wird für die Frage, ob die Strafkammern beim Landgericht ohne die Schöffen beziehungsweise nur mit dem Vorsitzenden ihr Amt versehen, danach differenziert, ob Entscheidungen in oder außerhalb der Hauptverhandlung getroffen werden 391. Schließlich richtet sich die Besetzung der Strafsenate der Oberlandesgerichte gemäß § 122 GVG danach, ob die Spruchkörper in oder außerhalb der Hauptverhandlung tätig werden. Aus § 122 Abs. 1 GVG ergibt sich, daß die Strafsenate grundsätzlich mit drei Richtern besetzt sind. Eine Ausnahme sieht § 122 Abs. 2 Satz 2 GVG vor für den Fall, daß der Strafsenat bei der Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt, in der Hauptverhandlung wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache mit fünf Richtern zu entscheiden. Aus dem Zusammenspiel beider Vorschriften ergibt sich, daß auch der erweiterte Strafsenat außerhalb der Hauptverhandlung mit nur drei Richtern entscheidet392. Auf der Grundlage dieser Vorschriften läßt sich die Besetzung der Spruchkörper in Haftsachen nur ungenau vorhersehen. In diesen Fällen fehlt eine exakte Grenzziehung zwischen solchen Entscheidungen, die in der Hauptverhandlung und solchen, die außerhalb der Hauptverhandlung getroffen werden müssen. Die Besetzung des Gerichts hängt vielmehr teilweise vom Antragsverhalten der Verfahrensbeteiligten ab, nämlich davon, ob ein Antrag in oder außerhalb der Hauptverhandlung gestellt wird 393 . Gemessen am Ziel von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Manipulationen richterlicher Zuständigkeiten zu verhindern, ist der eigentlich problematische Umstand hingegen, daß die Besetzung sich danach richtet, ob der Vorsitzende den Spruchkörper in der Hauptverhandlung oder außerhalb derselben mit der Entscheidung befaßt. Nach dem Wortlaut von § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG hat der Vorsitzende die Möglichkeit, die große Strafkammer beim Landgericht über die Aufhebung eines Haftbefehls nicht in der Hauptverhandlung und demnach in der Besetzung mit insgesamt fünf 390 Siehe OLG Hamburg NStZ 1998,99f. sowie Kissel , § 30 GVG Rn. 6 ff., der sich an dieser Stelle auch kritisch mit der Annahme auseinandersetzt, der Vorsitzende sei nach § 30 Abs. 2 GVG zuständig, wenn die Entscheidungsgrundlage nicht allein aus dem Gang der Hauptverhandlung entnommen werden könne, sondern auch aus den Akten, deren Inhalt den Schöffen nicht bekannt sei. Kissel lehnt unter dem Gesichtspunkt des Rechtes auf den gesetzlichen Richter zutreffend eine unterschiedliche Zuständigkeit je nach der Quelle der Entscheidungsgrundlage ab. 391 Zu diesen Regelungen siehe OLG Hamburg NStZ 1998,99 f. und die Kommentierung von Kissel zu § 76 GVG. 392 Zum Regelungszusammenhang und den Auslegungsproblemen siehe BGH NJW 1997, 2531 f., NStZ 1997,606 ff. m. w. N. und Anmerkungen von Dehn sowie NStZ 1998,262 mit Anmerkungen von Foth\ OLG Hamburg NStZ 1998, 99 f. 393 So das OLG Düsseldorf StV 1984, 159.
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(§ 76 Abs. 1 Satz 1 GVG) beziehungsweise vier Richtern (§ 76 Abs. 2 GVG), einschließlich der beiden ehrenamtlichen Richter, entscheiden zu lassen, sondern außerhalb der Hauptverhandlung und damit ohne Beteiligung der Schöffen. Auch die wörtliche Anwendung von § 122 GVG führt dazu, daß der Strafsenat außerhalb der Hauptverhandlung mit drei Richtern über Haftfragen entscheiden kann, wenn solche Beschlüsse, nach Beginn einer gemäß § 122 Abs. 2 GVG mit fünf Richtern durchgeführten Hauptverhandlung, während einer Unterbrechung gefällt werden. Um den Anforderungen nach einer möglichst exakten Besetzungsregelung zu entsprechen, werden unterschiedliche verfassungskonforme Auslegungen favorisiert: Nach dem Bundesgerichtshof muß der erstinstanzlich beim Oberlandesgericht zuständige Strafsenat auch dann in der gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 GVG für die Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung mit fünf Richtern über einen Haftbefehl entscheiden, wenn diese Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung getroffen wird 394 . Die in § 122 Abs. 1 GVG für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehene Besetzung mit drei Richtern wird für die genannten Konstellationen daher ausgeschlossen. Die Besetzung der Strafsenate ist unter diesen Voraussetzungen unveränderlich, so daß eine Manipulation der zahlenmäßigen Besetzung ausscheidet. Im Zusammenhang mit § 122 GVG wird vereinzelt auch eine sachlich-inhaltliche Definition der Begriffe „außerhalb der Hauptverhandlung" gefordert. Darunter sei all das zu verstehen, was seinem Wesen nach nicht zur Hauptverhandlung gehöre, also, unter Bezugnahme auf die Umschreibung der Stellung und Befugnisse der Schöffen in § 30 Abs. 1 GVG, in keiner Beziehung zum abschließenden Urteil stehe. Es sei Aufgabe der Hauptverhandlung, die Schuld- und Straffrage zu entscheiden. Da Fragen der Untersuchungshaft nicht zur Schuld- und Straffrage gehörten, sei für alle Haftentscheidungen die Besetzung für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung maßgeblich395. Auch unter Zugrundelegung dieser Ansicht wäre eine Beeinflussung der Spruchkörperbesetzung ausgeschlossen. Im Rahmen der grundrechtskonformen Auslegung von § 30 und § 76 GVG wird demgegenüber die Besonderheit berücksichtigt, daß beim Landgericht, im Gegensatz zum Oberlandesgericht, Schöffen an der Rechtsprechung mitwirken. Diese seien bei Unterbrechungen der Hauptverhandlung, im Gegensatz zu Berufsrichtern, häufig nur schwer erreichbar und zudem öfter verhindert. Daher führe die für § 122 GVG vorgeschlagene Lösung, stets in der für die Hauptverhandlung maßgeblichen, vollen 394 So BGH NJW 1997, 2531 f., NStZ 1997, 606ff. mit zustimmenden Anmerkungen von Dehn und NStZ 1998, 262 mit kritischen Anmerkungen von Foth zur Ansicht des Bundesgerichtshofs und zu den Anmerkungen von Dehn. Kritisch zur Auslegung des BGH auch Katholnigg in den Anmerkungen zur gleichen Entscheidung in der JR 1998,33 ff. sowie Bertram, NJW 1998, 2934ff. Siehe außerdem die Besprechung von Martin, JuS 1998, 86f. 395 Foth in den Anmerkungen zu BGH NStZ 1998, 262.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
Besetzung zu entscheiden, bezogen auf die Strafkammern zu wenig sachgerechten Ergebnissen. Aus diesem Grunde müsse der genau entgegengesetzte Weg beschritten werden. Entscheidungen über die Untersuchungshaft seien folglich stets außerhalb der Hauptverhandlung, also ohne die Schöffen, zu treffen 396. Die Tatsache, daß grundlegende Differenzen über die zutreffende Interpretation der einschlägigen Bestimmungen bestehen, belegt, daß der Gesetzgeber die Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht optimal umgesetzt hat 397 . Der Zweck der variablen Besetzungsregelung liegt offensichtlich darin, eine effizientere Bewältigung der Verfahren zu bewirken, indem außerhalb der Hauptverhandlung ohne Schöffen beziehungsweise in geringerer Besetzung entschieden werden kann. Allerdings wäre eine exaktere Besetzungsregelungen möglich, ohne Abstriche hinsichtlich der Förderung dieses Zieles hinnehmen zu müssen. Das Grundkonzept einer Abgrenzung der Spruchkörperbesetzungen danach, ob in oder außerhalb der Hauptverhandlung entschieden wird, könnte beibehalten werden. Auf dieser Basis könnten Auslegungszweifel durch eine Klarstellung im Gesetz beseitigt werden. Die erwähnten verfassungskonformen Auslegungen belegen, daß ein solcher Weg gangbar ist.
3. Recht des Klägers auf Wahl des Gerichtsstandes gemäß § 35 ZPO Eine Besonderheit im Verbund der Normen über die gerichtliche Zuständigkeit stellt § 35 ZPO dar. Danach hat der Kläger unter mehreren örtlich zuständigen Gerichten die Wahl. Die Vorschrift wird mit dem Prinzip des gesetzlichen Richters nur äußerst selten in Verbindung gebracht 398. Dies mag darin begründet liegen, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, als Grundrecht 399, nur vor Beeinträchtigungen der hoheitlichen Gewalt schützt und somit ein beachtlicher Anwendungsbereich der Vorschrift aus dem Gewährleistungsbereich des Grundrechts herausfällt. Es sind dies solche Konstellationen, in denen der Kläger kein Hoheitsträger, sondern ein nicht grund396 OLG Hamburg NJW 1998, 2988f., NStZ 1998, 99f., StV 1998, 143f. Die abweichende Ansicht wird vertreten vom OLG Köln NJW 1998, 2898 f. Die Auslegung des OLG Hamburg wird schließlich vom Bundesverfassungsgericht in einem Kammerbeschluß als vertretbar und daher von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden angesehen, siehe BVerfG NJW 1998,2962 f. Kritisch zur Entscheidung des OLG Hamburg hingegen Schlothauer in den Anmerkungen im StV 1998, 144 ff. 397 Zu den Schwierigkeiten einer Auslegung des Begriffs der Hauptverhandlung siehe außerdem Kissel , § 30 GVG Rn. 6 mit weiteren Nachweisen. 398 In der einschlägigen Kommentarliteratur findet sich, soweit ersichtlich, ein Hinweis auf einen solchen Zusammenhang nur bei Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, Vor § 7 StPO Rn. 42f., der den Umstand, daß keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift erhoben werden, allerdings als Beleg für die Unbedenklichkeit von § 35 ZPO wertet. Eine Auseinandersetzung mit der Problemlage findet sich hingegen bereits bei Kern, Richter, S. 171 ff.; Bettermann, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (563); Marx, Richter, S. 25 und Gloria, DÖV 1988, 849 (856). 399 Art. 1 Abs. 3 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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rechtsgebundenes Privatrechtssubjekt ist. Die durch § 35 ZPO eingeräumte Möglichkeit, auf das zuständige Gericht Einfluß zu nehmen, berührt insoweit den Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht. Der Tatbestand von § 35 ZPO umfaßt allerdings auch die Fälle, in denen ein Träger hoheitlicher Gewalt als Kläger im Zivilprozeß auftritt. Der Beklagte sieht sich in einer solchen Situation der Gefahr einer Einflußnahme auf die gerichtliche Zuständigkeit durch grundrechtsgebundene Hoheitsträger ausgesetzt. Insofern beeinträchtigt § 35 ZPO das Recht auf den gesetzlichen Richter. Bis zu einer entsprechenden Änderung des Normtextes ist das Gesetz, für die Ausnahmefälle einer Klage durch grundrechtsgebundene Hoheitsträger, grundrechtskonform auf eine Weise zu interpretieren, daß ein Wahlrecht jedenfalls dann nicht besteht, wenn eine bewußte Einflußnahme auf die richterliche Zuständigkeit in Frage kommt 400 .
4. Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im Wiederaufnahmeverfahren durch die Präsidien der Oberlandesgerichte - § 140 a Abs. 2 GVG als Systembruch Die Vorschrift des Gerichtsverfassungsgesetzes über die örtliche Zuständigkeit der Gerichte für Wiederaufnahmeverfahren in Strafsachen wird nicht ohne Grund als ein „Kuriosum ersten Ranges" bezeichnet401. Diese Umschreibung hat zwei Gründe: § 140 a Abs. 2 GVG durchbricht zunächst das System der durch Gesetz geregelten örtlichen Zuständigkeit der Gerichte 402. Der Gerichtsstand wird nicht durch die Legislative per Parlamentsgesetz oder die Exekutive im Wege der Rechtsverordnung normiert. Vielmehr wird dem Präsidium des Oberlandesgerichts die Pflicht übertragen, vor Beginn des Geschäftsjahres die Gerichte, die innerhalb des Bezirks für die Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren örtlich zuständig sind, zu bestimmen. Der Gesetzgeber beschränkt sich im Falle von § 140 a Abs. 2 GVG auf die Befugnisübertragung, er entledigt sich seiner Aufgabe zur Bestimmung des „gesetzlichen Richters". Die Einbindung dieser Befugnisübertragung in die sonstigen, per Gesetz übertragenen Aufgaben der Gerichtspräsidien ist der zweite Gesichtspunkt, der die Norm in einem ungewöhnlichen Licht erscheinen läßt. Die Übertragung wäre nicht erwähnenswert, wenn § 140 a Abs. 2 GVG lediglich eine Erweiterung der ansonsten im Gerichtsverfassungsgesetz geregelten Geschäftsverteilungsaufgaben des Gerichtspräsidiums darstellte. In diesem Fall handelte es sich im Ergebnis um eine verfassungs400
Ähnlich Gloria, DÖV 1988, 849 (856). Feiber, NJW 1986, 699; siehe auch Kissel , § 140 a GVG Rn. 6. 402 Siehe §§ 7 ff. StPO, die zwar hinsichtlich der Einflußmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft problematisch sind, in denen der Gesetzgeber dennoch die unterschiedlichen Gerichtsstände selbst vorgibt oder § 68 Abs. 1 Satz 1 OwiG, §§ 12ff. ZPO sowie § 52 VwGO, § 38 FGO, § 57 SGG und § 82 ArbGG. 401
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
rechtlich zulässige Verlagerung der Zuständigkeitsbestimmung auf die Ebene der gerichtsinternen Geschäftsverteilung. Dies ist hingegen nicht der Fall. Als Maßnahme der Geschäftsverteilung im Rahmen der richterlichen Selbstverwaltung läßt sich die übertragene Aufgabe nicht einordnen. Ein Vergleich mit den tatsächlich überantworteten Zuständigkeiten der Präsidien verdeutlicht dies. In allen Fällen, die in § 21 e Abs. 1, 3,4 und 6, § 21 f Abs. 2, § 21 i Abs. 2, § 22b, § 70 Abs. 1, § 78 Abs. 2 Satz 1, § 78b Abs. 2, § 117 sowie § 132 Abs. 6 GVG aufgeführt sind, geht es um die Aufgabenverteilung innerhalb des Gerichts und den Personaleinsatz der Richter des eigenen Verantwortungsbereichs. Es handelt sich dabei um originäre Aufgaben richterlicher Selbstverwaltung 403. Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit von Gerichten berührt die Aufgabenverteilung oder den Personaleinsatz indes nicht und unterfällt daher nicht der Geschäftsverteilung der Oberlandesgerichte 404. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht, in einem nicht veröffentlichten Beschluß405, die durch § 140 a Abs. 2 GVG übertragene Aufgabe als notwendige Ergänzung einer gesetzlichen Regelung richterlicher Zuständigkeiten angesehen, vergleichbar den gerichtsinternen Geschäftsverteilungsplänen. Die jährliche Bestimmung des im Wiederaufnahmeverfahren örtlich zuständigen Gerichts vor Beginn des Geschäftsjahres durch ein in richterlicher Unabhängigkeit entscheidendes Organ der gerichtlichen Selbstverwaltung sei daher verfassungsrechtlich unbedenklich. Demgegenüber wird betont, der Gesetzgeber habe sich der Aufgabe zur Regelung der örtlichen Zuständigkeit im Wiederaufnahmeverfahren nicht entledigen dürfen. Die Norm verstoße daher gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, sie sei zumindest jedoch verfassungsrechtlich bedenklich406. Wie läßt sich diese Kritik auf grundrechtsdogmatischen Boden stellen? Unterfällt die beschriebene Aufgabenübertragung an das Gerichtspräsidium überhaupt dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG? Schließlich fordert § 140 a Abs. 2 GVG eine Bestimmung der zuständigen Gerichte vor Beginn des Geschäftsjahres. Damit scheinen die Anforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter erfüllt zu sein, nämlich eine im voraus erstellte, abstrakt-generelle Zuständigkeitsregelung, mit der Einflußnahmen auf die von Fall zu Fall zur Entscheidung berufenen Richterpersonen verhindert werden.
403
Siehe dazu Kissel § 21 e GVG Rn. 11. So Schäfer!Harms, in: Löwe/Rosenberg, § 140a GVG Rn. 7; F eiber, NJW 1986, 699 (700); Kissel, § 140 a GVG Rn. 6. 405 BVerfG, Beschluß vom 07.05. 1987, 2 BvR 410/87, S.2f. 406 Für die Verfassungswidrigkeit der Norm spricht sich ausdrücklich nur Feiber, NJW 1968, 699 (700) aus. Für verfassungsrechtlich bedenklich halten § 140 a Abs. 2 GVG Weiler, NJW 1996,1042 (1043 f.) in der Besprechung der Urteile des LG Bad Kreuznach NJW 1996,1070ff. und des OLG Koblenz NJW 1996, 1072; Schäfer IH arms, in: Löwe/Rosenberg, § 140 a GVG Rn. 7 a und Kissel, § 140 a GVG Rn. 6. Keine verfassungsrechtlichen Bedenken erheben demgegenüber Katholnigg, § 140 a GVG Rn. 3 mit Anmerkung 12; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 140a GVG Rn. 2f. 404
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Zur Frage der Verankerung des Vorbehaltes eines formellen Gesetzes in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 407 wurde jedoch bereits ausgeführt, daß die Übertragung von Regelungspflichten auf die Gerichtspräsidien mit dem Bestimmtheitsgebot nur in Einklang zu bringen ist, wenn der Sache nach eine Festlegung durch Gesetz nicht möglich erscheint. Dies trifft auf die gerichtsinternen und spruchkörperinternen Geschäftsverteilungspläne zu. Es käme einer Überforderung gleich und wäre daher nicht praktikabel, die Zuständigkeitsverteilung bis hinunter zum Einzelrichter dem Gesetzgeber abzuverlangen. Diese Gründe einer Abweichung von dem Erfordernis einer gesetzlichen Regelung treffen auf § 140 a Abs. 2 GVG indes nicht zu. Die Regelung der örtlichen Zuständigkeit im Wiederaufnahmeverfahren kann im Gegenteil problemlos durch Landesgesetz erfolgen. In einem solchen Gesetz könnte etwa normiert werden, wie Feiber vorschlägt 408, daß für die Wiederaufnahme hinsichtlich der Entscheidungen des Landgerichts X das Landgericht Y zuständig ist usw. Da eine Zuständigkeitsbestimmung durch die Präsidien demnach nicht mit dem Verhältnis des Gesetzgebers zur richterlichen Selbstverwaltung zu begründen ist, bedarf es anderer verfassungsrechtlicher Argumente, um diese Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rechtfertigen zu können. Im Gesetzgebungsverfahren wurde die Übertragung der Regelungspflicht auf die Präsidien der Oberlandesgerichte damit begründet, daß nur diese über den nötigen Überblick verfügten, einen Ausgleich der durch § 140a Abs. 1 GVG bei einzelnen Gerichten eintretenden Entlastung vorzunehmen409. Ungeachtet der Frage, ob eine spürbare, noch dazu jährlich schwankende Mehrbelastung der Gerichte durch Wiederaufnahmeverfahren überhaupt entsteht410, handelt es sich dabei um Fragen der Organisation und des Personaleinsatzes. Diese Gesichtspunkte lassen sich allenfalls im Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes verankern. Für diesen Fall kommt es auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips an. Teilt man die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht, so ist in jedem Fall Bedingung, daß die Voraussetzungen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an eine Norm zur Regelung einer örtlichen Zuständigkeit stellt, auch durch eine Regelung der Präsidien erfüllt werden. Damit sind die Rechtsnatur und die Frage der Veröffentlichung der Präsidialanordnung angesprochen. Sofern die Maßnahme des Präsidiums eine gesetzliche Regelung der örtlichen Zuständigkeit ersetzen soll, muß ihr normähnlicher Charakter zuerkannt werden. Daher ist eine, bei Gesetzen von Verfassungs wegen geforderte 411, Veröffentlichung des Beschlusses, die § 140 a GVG nicht vorsieht, unum407
§4 A.I.4. a), S. 103 ff. Feiber., NJW 1986, 699 (700). 409 Siehe die Erwägungen des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Drs. 7/2600, S. 11. 410 Feiber, NJW 1986, 699 (700) weist daraufhin, daß keine nennenswerten zahlenmäßigen Schwankungen hinsichtlich des Anfalls von Wiederaufnahmeverfahren zu verzeichnen seien. Siehe dazu auch Kissel , § 140a GVG Rn. 8. 411 Siehe Art. 82 Abs. 1 GG. 408
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gänglich412. Eine Offenlegung gemäß § 21 e Abs. 8 GVG genügt den Anforderungen nicht.
I I I . Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Maßstab spruchkörperinterner Geschäftsverteilung der Gerichte Die leistungsrechtliche Dimension des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umfaßt, neben der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers, die Pflicht der Gerichtspräsidien sowie der Spruchkörpervorsitzenden, Geschäftsverteilungspläne für den jeweiligen Kompetenzbereich zu erstellen. Die gerichtsinternen 413 und spruchkörperinternen Geschäftsverteilungspläne erfüllen den Zweck, das gesetzliche Regelungswerk richterlicher Zuständigkeit bis hinunter zur einzelnen Richterperson zu vervollständigen. Diese Aufgabe wird den Gerichtspräsidien und den Spruchkörpervorsitzenden durch Gesetz übertragen, da sie durch die Legislative nicht sachgerecht vorgenommen werden kann 414 . Mit dieser Feststellung ist allerdings die Aufgabe lediglich allgemein umschrieben, ohne daß Klarheit über die verfassungsrechtlichen Anforderungen im Detail bestünde. Aus grundrechtlicher Perspektive müssen insoweit zwei Sachverhalte unterschieden werden. Einerseits geht es um die Geschäfts Verteilungspraxis der Vorsitzenden Richter. Wie müssen spruchkörperinterne - und entsprechend gerichtsinterne - Geschäftsverteilungspläne inhaltlich beschaffen sein, um den Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu entsprechen? Andererseits richtet sich die inhaltliche Ausgestaltung von Geschäftsverteilungsplänen in der Praxis nicht vorrangig nach der Verfassungsnorm; tatsächlich orientieren sich die Gerichte an den einfachgesetzlichen Grundlagen des Gerichtsverfassungsgesetzes, namentlich § 21 g GVG. Damit rückt der Gesetzgeber in den Mittelpunkt. Es stellt sich die Frage, welche 412 So Feiben NJW 1986,699 (700); Kissel , § 140a Abs. 2 GVG Rn. 9f.; Schäfer! H arms, in: Löwe/Rosenberg, § 140 a GVG Rn. 7 a. Anderer Ansicht sind Katholnigg, § 140 a GVG Rn. 3 und Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 140a GVG Rn. 2. 413 Die Untersuchung beschränkt sich auf die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung, da sich an dieser Materie die verfassungsrechtliche Diskussion der letzten Jahre entzündet hat. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die für die Geschäftsverteilungspraxis der Spruchkörper und die gesetzlichen Bestimmungen über die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung entwickelt werden, sind jedoch auf die gerichtsinteme Geschäftsverteilung und deren gesetzliche Grundlage in § 21 e GVG übertragbar. Zur gerichtsinternen Geschäftsverteilung siehe eingehend Kissel, § 21 e GVG Rn. 74 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben einer gerichtsinternen Geschäftsverteilung siehe OVG Berlin NJW 1999, 594f., insbesondere zum Verfahren der Registrierung und Verrteilung der bei Gericht eingehenden Sachen auf die Spruchkörper im Wege des sogenannten Rotationssystems. Zur Änderung eines gerichtsinternen Geschäftsverteilungsplanes im Laufe des Geschäftsjahres wegen Überlastung einer Strafkammer auf der Basis von § 21 e Abs. 3 GVG siehe BGH NJW 1999,154 (155 ff.). Siehe BAG NZA 1999,107 ff. zur Verteilung der Rechtsstreitigkeiten nach dem Datum des Eingangs bei Gericht. Zur Frage einer effektiveren Geschäftsverteilung an den Verwaltungsgerichten mit Hilfe von Gewichtungsfaktoren siehe Wichmann/Schubert, NVwZ 1996, 971 ff. 414 Zur Begründung siehe die Ausführungen zu § 4 Α. 1.4. a), S. 103ff.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
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grundrechtlichen Anforderungen die Pflichtübertragungsnorm erfüllen muß und ob insbesondere die zentrale Bestimmung spruchkörperintemer Geschäftsverteilung, § 21 g Abs. 2 GVG, sowie die Normen, die sich mit der Beteiligung ehrenamtlicher Richter befassen, diesen Anforderungen gerecht werden. Aufgrund der Eigenheiten beider Bereiche wird zur Beantwortung dieser Fragen zwischen der Geschäftsverteilung hinsichtlich der Berufsrichter (dazu 1.) sowie hinsichtlich ehrenamtlicher Richter unterschieden (dazu 2.).
1. Spruchkörperinterne Geschäfts Verteilung auf der Grundlage von § 21 g GVG a) Grundrechtliche Pflicht der Vorsitzenden Richter zur Geschäftsverteilung Die Diskussion um die Geschäftsverteilung auf der Grundlage von § 21 g GVG hat in den letzten Jahren die Auseinandersetzung um Inhalt und Reichweite des Rechtes auf den gesetzlichen Richter geprägt 415. Dies wurde bereits an der Stelle deutlich, an der es um die Frage ging, ob der Berichterstatter vom Schutzbereich der Verfassungsnorm umfaßt wird 416 . Die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Argumente sollen zum Anlaß genommen werden, die Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an die Geschäftsverteilung zu erörtern (dazu bb)). Vorab soll jedoch geklärt werden, auf welche Bereiche spruchkörperintemer Geschäftsverteilung sich der Gewährleistungsbereich des Grundrechts erstreckt (dazu aa)). aa) Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs hinsichtlich der Geschäftsverteilung Welche Geschäftsverteilungsmaßnahmen unter den Gewährleistungsbereich des Grundrechts fallen, richtet sich nach dem Schutzzweck. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG soll eine Einflußnahme auf die zur Entscheidung berufene einzelne Richterperson verhindern. Daher muß auch jede Maßnahme der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, die auf die Entscheidungszuständigkeit einzelner Richter einwirkt, den grundrechtlichen Vorgaben entsprechen. Dazu zählen nicht nur die Festlegung, welche Richter in überbesetzten Spruchkörpern von Fall zu Fall entscheiden oder welcher einzelne Richter an Stelle des Spruchkörpers tätig wird, sondern auch die Veränderung der zahlenmäßigen Besetzung von Spruchkörpern 417. Auch insoweit sind 415
Die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung ist darüber hinaus Teilaspekt einer im Jahre 1998 auf den Weg gebrachten Gesetzesinitiative zur Reform der in den §§ 21 äff. GVG verankerten Präsidialverfassung der Gerichte (BR-Drs. 97/98), siehe dazu nur Wiebel, ZRP 1998, 221 ff. und den Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 01.04.1998 sowie den Brief von Teufel an die Herausgeber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.04.1998. 416 § 3 A.I.2., S. 32ff. 417 Dazu im einzelnen unter § 4 Α. II. 2. c), S. 163 f.
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
zur Entscheidung im Einzelfall jeweils weniger Richter berufen, als dem Spruchkörper insgesamt angehören. Räumte man den Spruchkörpervorsitzenden die Möglichkeit ein, von Fall zu Fall frei darüber zu entscheiden, welche Richter die zahlenmäßig reduzierte Richterbank bilden, so eröffnete dies die Gefahr von Manipulationen. Probleme bereitet die Zuweisung der Aufgabe des Berichterstatters. Klärungsbedarf besteht allerdings nur für die Fälle, in denen mit der Aufgabenzuweisung des Vorsitzenden auschließlich die originäre Berichterstatterfunktion, also die Vorbereitung der Entscheidung, verbunden ist. Dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen ohne Zweifel die Konstellationen, in denen die Geschäftsverteilung so gestaltet ist, daß mit der Einteilung des Berichterstatters zugleich über die Besetzung der Richterbank im überbesetzten Spruchkörper entschieden wird oder der Berichterstatter gleichzeitig der an Stelle des Spruchkörpers allein entscheidende Einzelrichter ist. Die - neben der Aufgabe als Berichterstatter - mitübertragene Entscheidungszuständigkeit überlagert in diesen Fällen die Tätigkeit als Berichterstatter. Weist der Vorsitzende Richter allerdings im Rahmen der Geschäftsverteilung innerhalb eines regulär besetzten Spruchkörpers, in dem folglich alle Richter an den Entscheidungen beteiligt sind, ausschließlich die Berichterstattertätigkeit zu, so wird die Frage nach der Reichweite des Schutzbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG relevant. Rechtlich betrachtet hat die Tätigkeit eines Berichterstatters nur entscheidungsvorbereitenden Charakter. Da das Prinzip des gesetzlichen Richters lediglich vor einer Manipulation der zur Entscheidung berufenen Richter schützt, erscheint es aus dieser Warte verfassungsrechtlich zulässig, daß der Vorsitzende Richter Einfluß auf die Richterperson nimmt, die diese Funktion wahrnimmt. Soweit der Berichterstatter die spätere Entscheidung des Spruchkörpers jedoch tatsächlich maßgeblich beeinflußt, unterfällt diese Richterfunktion dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 418 . bb) Grundrechtliche Anforderungen an spruchkörperinterne Geschäftsverteilung Nachdem feststeht, welche Geschäftsverteilungsmaßnahmen dem Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen, kann sich der Frage zugewandt werden, welche Anforderungen das Grundrecht an die inhaltliche Gestaltung spruchkörperintemer Geschäftsverteilung stellt. In chronologisch umgekehrter Reihenfolge werden dabei die Eckpunkte der Auseinandersetzung um diese Problematik zum Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung gemacht. Anhand des vorläufigen Endpunktes dieser Diskussion, der Ple418
Siehe die Ausführungen zu § 3 A.I.2, S. 32ff.
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numsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts , werden zunächst die verfassungsrechtlichen Maßstäbe spruchkörperinterner Geschäftsverteilung erarbeitet (dazu (1) und (2)). Diese Maßstäbe werden in bezug auf die - der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeitlich vorgelagerte - Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs (dazu (3)) und den Auslöser der Diskussion, die Geschäftsverteilungspraxis beim Bundesfinanzhof und beim Bundesgerichtshof, erörtert (dazu (4) und (5)). ( 1 ) Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das Bild, das die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung bot, war lange Zeit nicht frei von Widersprüchen. Einerseits vertrat der Zweite Senat den Standpunkt, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebiete es nicht, in überbesetzten Spruchkörpern im voraus festzulegen, welche Richter an den einzelnen Verfahren mitwirken. Das Prinzip des gesetzlichen Richters verlange ausschließlich, daß der Vorsitzende das ihm übertragene Ermessen ohne Fehler ausübe420. Demgegenüber verdeutlichte der Erste Senat, das Recht auf den gesetzlichen Richter wolle eine willkürliche Beeinflussung der Richterbank verhindern. Willkür, worunter eine Zuständigkeitsbestimmung von Fall zu Fall zu verstehen sei 421 , bilde dabei den Gegensatzbegriff zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorausbestimmung. Diese Auffassung hat der Senat in seinem Vorlagebeschluß an das Plenum422 mit Nachdruck bestätigt. Das Gericht betont darin, im Gegensatz zu der vom Zweiten Senat geäußerten Auffassung, sei eine Auswahl der Richter in überbesetzten Spruchkörpern nach dem Ermessen des Vorsitzenden nicht mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang zu bringen. Vielmehr bedürfe es einer abstrakt-generellen Vorausbestimmung der im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter 423. Das vom Ersten Senat angerufene Plenum des Bundesverfassungsgerichts stellte schließlich die folgenden verfassungsrechtlichen Grundsätze spruchkörperinterner Geschäfts Verteilung auf* 24: 4,9
BVerfGE 95, 322ff., NJW 1997, 1497ff., EuGRZ 1997, 114ff., DVB1. 1997, 765, JuS 1997, 844 f. Siehe zu dieser Entscheidung an dieser Stelle bereits Sangmeister, NJW 1998, 721 ff. 420 BVerfGE 18, 344 (352); 22, 282 (286); 69, 112 (120f.). 421 BVerfGE 82, 286 (298 ff.). 422 § 16 Abs. 1 BVerfGG. Zur Auslegung dieser Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht siehe Hillgruber, NVwZ 1999, 153 ff. 423 BVerfG NJW 1995, 2703 ff., MDR 1995, 1202ff. mit Anmerkungen von Zärban, DStR 1995, 1467 ff. 424 BVerfGE 95, 322 (328ff.), DVB1. 1997, 765 ff., NJW 1997, 1497ff., JuS 1997, 843f.; EuGRZ 1997,114ff. Siehe zu dieser Entscheidung auch die Reaktion in der Süddeutschen Zei-
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§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten „Für einen überbesetzten Spruchkörper muß schließlich in einem Mitwirkungsplan geregelt werden, welche Richter bei der Entscheidung welcher Verfahren mitwirken. Erst durch diese Regelungen wird der gesetzliche Richter genau bestimmt. Das Gericht unterliegt deshalb bei diesen Festlegungen ebenfalls den Bindungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Auch Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungsregelungen der zuletzt angeführten Art müssen als Grundlage zur Bestimmung des „gesetzlichen" Richters wesentliche Merkmale aufweisen, die gesetzliche Vorschriften auszeichnet. Sie bedürfen der Schriftform... und müssen im voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und ebenso die Mitwirkung der Richter in überbesetzten Spruchkörpem regeln ... Der rechtsstaatliche Grundsatz vom gesetzlichen Richter untersagt mithin die Auswahl des zur Mitwirkung berufenen Richters von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung."
Die praktische Umsetzung dieser Maßstäbe könne, so das Gericht, durch unterschiedliche Modelle der Geschäftsverteilung erfolgen. Dies gelte jedoch nicht für das hinsichtlich ehrenamtlicher Richter übliche Terminierungsverfahren, bei dem die Richter bestimmten Sitzungstagen zugewiesen werden und der Vorsitzende in Kenntnis dieser Besetzung die eingehenden Fälle terminiert 425. In bezug auf die Geschäftsverteilung innerhalb der Berufsrichter eines Spruchkörpers entspreche ein solches Modell nicht den Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Im Gegensatz zum Sonderfall der ehrenamtlichen Richter sei dieses Verfahren hinsichtlich der Berufsrichter nicht erforderlich, um die Rechtsprechungsaufgabe effektiv zu bewältigen 426 . (2) Bewertung der Plenumsentscheidung Grundrechtsdogmatisch betrachtet sind die Geschäftsverteilungspläne danach genauso zu behandeln, wie einfachgesetzliche Zuständigkeitsnormen. Die Konsequenz dieser Gleichstellung ist, daß die Vorsitzenden, gleichsam als verlängerte Hand des Gesetzgebers, schriftliche Regelungen zu erstellen haben, aus denen sich im vorhinein ermitteln läßt, welcher der spruchkörperangehörigen Richter für welches Verfahren zuständig ist. Eine geschäftsplanmäßige Vorherbestimmung ist erforderlich hinsichtlich jeder im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richterperson 427, da „getung vom 19./20.04.1997, S. 1, 2 und 4. Besprochen wurde die Entscheidung etwa von Sangmeister, NJW 1998,721 ff. Immer noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig sind die Verfassungsbeschwerden 2 BvR 287/92,2 BvR 373/92 und 2 BvR 228/94, die ebenfalls die Problematik der senatsintemen Geschäftsverteilung betreffen. Siehe dazu die Hinweise bei Sangmeister, S J 1993, 79 (86) mit Anmerkung 9; Schneider, BB 1995, 1430 (1431 a. E.); BVerfG NJW 1995, 2706; BVerfG EuGRZ 1997, 114 (115) und Sangmeister, NJW 1998, 721 (724). 425 Dazu im Anschluß unter Gliederungspunkt III.2., S. 199ff. 426 BVerfGE 95, 322 (331). 427 Auf gleicher Linie mit den folgenden Ausführungen befinden sich Kissel, § 21 g GVG Rn. 4, 5 und 12, der allerdings eine Vorausbestimmung des Berichterstatters nicht für geboten hält; ders., DRiZ 1995, 125 (129f.) und Wiebel, BB 1992, 573ff.; Zärban, MDR 1995, 1202 (1203ff.); Sangmeister, NJW 1998,721 ff.; Felix, BB 1995,1665ff.; Eser, in: FS Saiger, S. 247 (257) mit weiteren umfassenden Nachweisen aus der Fachliteratur in der Anmerkung 66.
Α. Leistungsrechtliche Dimension
setzlicher Richter" neben dem Gericht als organisatorischer Gesamtheit und den Spruchkörpern auch der einzelne Richter ist 428 . Dadurch soll verhindert werden, daß die Verfahrensbeteiligten einer Manipulation der Besetzung der Richterbank ausgesetzt werden. Gerade weil Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch gegen Einflußnahmen durch die Judikative schützt, geht die Annahme fehl, die Einflußnahme der Vorsitzenden auf die im konkreten Fall zuständigen Richterpersonen sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Das insoweit vorgetragene Argument, die Vorsitzenden handelten in richterlicher Unabhängigkeit, führt in die falsche Richtung. Durch die verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit der Richter wird lediglich eine Einflußnahme der übrigen hoheitlichen Gewalten auf die Vorsitzenden verhindert. In dem hier im Mittelpunkt stehenden Kontext geht es indes um die Verhinderung der Einflußnahme auf die Richterbank durch die Vorsitzenden. Gegen diese Art der Manipulation bewirkt die richterliche Unabhängigkeit keinen Schutz429. Die Entscheidung des Plenums vermag aus grundrechtsdogmatischer Sicht jedoch nicht vollends zu überzeugen. Unbefriedigend ist zunächst, daß die Richter teilweise diejenigen Entscheidungen des Zweiten Senates aufgreifen, in der nur geringe Anforderungen an eine Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit gestellt werden. Danach soll dem Prinzip des gesetzlichen Richters Genüge getan sein, wenn die Bestimmungen über richterliche Zuständigkeit nicht mehr als nach dem Regelungskonzept notwendig unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten430. Sofern damit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß sich die Genauigkeitsanforderungen nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers beziehungsweise der Gerichte richten, daß die Auswahl des Regelungskonzeptes dem grundrechtlichen Gewährleistungsbereich also vorgelagert ist, so begegnet eine solche Deutung grundlegenden Bedenken. Bereits die Auswahl des Regelungskonzepts ist vielmehr an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen, der eine möglichst genaue Bestimmung richterlicher Zuständigkeit verlangt. Sind bereits im Regelungskonzept Ungenauigkeiten angelegt, so bedürfen diese als Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht. Entgegen der Annahme des Plenums431 läßt es Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darüber hinaus nicht ohne weiteres zu, im Geschäftsverteilungsplan die Möglichkeit vorzusehen, eine Urlaubs- und Krankheitsvertretung im Einzelfall anzuordnen, eine Zuweisung der Richter nach dem Schwerpunkt des Falles vorzunehmen beziehungs-
428 BVerfGE 4,412 (416f.); 9,223 (226); 17,294 (299); 18,344 (349); 19,52 (59); BVerfGE 95, 322 (329), NJW 1997,1497ff., EuGRZ 1997,114ff., DVB1. 1997,765 ff., JuS 1997, 844f. (ständige Rechtsprechung). 429 Dazu Leisner, NJW 1995, 285 (286ff.). 430 BVerfGE 95, 322 (330f.) unter Hinweis auf BVerfGE 18, 65 (69). 431 Dazu BVerfGE 95, 322 (331 f.), EuGRZ 1997, 114 (117).
§ 4 Anforderungen des Grundrechts an die hoheitlichen Gewalten
weise rechtlich und tatsächlich zusammenhängende Sachen einer von mehreren an sich zuständigen Sitzgruppen zuzuweisen. Nicht nur vom Gesetzgeber, sondern auch von den Spruchkörpervorsitzenden verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Regelungen, aus denen sich, im Sinne eines Optimierungsgebotes, so genau wie möglich ermitteln läßt, welcher Richter in welchem Fall zur Entscheidung berufen ist 432 . Dem Bedürfnis einer Urlaubs- und Krankheitsvertretung kann insoweit durch die Aufnahme von Kriterien entsprochen werden, anhand derer sich für den Regelfall im voraus ermitteln läßt, welcher Richter welchen Kollegen vertritt. Will man den Vorsitzenden im beschriebenen Umfang dennoch die Möglichkeit zugestehen, die Geschäftsverteilung nach seinem Ermessen von Fall zu Fall vorzunehmen, so handelt es sich dabei um Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Parallelisierung von Geschäftsverteilungsplänen und Zuständigkeitsgesetzen hat zur Folge, daß auch solche Beeinträchtigungen einer Legitimation durch kollidierendes Verfassungsrecht bedürfen. Die Möglichkeit einer Zuweisung nach Schwerpunktbereichen und einer Verbindung zusammenhängender Sachen wird man mit dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie begründen können; damit rückt das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes in den Mittelpunkt 433 . Angesichts der Manipulationsgefahren, die von Ermessensspielräumen ausgehen, ist es allerdings zweifelhaft, ob Beeinträchtigungen dieser Qualität im Ergebnis als verhältnismäßig eingestuft werden können. Eine Zuweisung der einzelnen Richter nach dem Ermessen der Vorsitzenden Richter kann daher nur für unvorhersehbare Ausnahmesituationen anerkannt werden, bei denen eine schriftliche Vorherbestimmungen der Zuständigkeit naturgemäß ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund ist schließlich die Entscheidungsformel des Plenums geeignet, Irritationen hervorzurufen. Das Bundesverfassungsgericht betont ausdrücklich, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebiete grundsätzlich, in überbesetzten Spruchkörpern im voraus und nach abstrakten Merkmalen zu bestimmen, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitwirken 434 . Soll die nur grundsätzlich anzuerkennende Verpflichtung bedeuten, daß es, über die vorab erwähnten Fälle hinaus, Ausnahmen von der abstrakt-generellen Zuweisung gibt, bei denen die Richter dem jeweiligen Fall nach dem Ermessen der Vorsitzenden zugewiesen werden können? Oder ist der Begriff des Grundsätzlichen als Verstärkung zu verstehen, als Bemühen, mit Nachdruck auf die Verpflichtung hinzuweisen435? Wie immer das Gericht seine Aussage verstanden wissen möchte, grundrechtsdogmatisch betrachtet bleibt es bei den vorab verdeutlichten Koordinaten. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt von den Vorsitzenden Richtern Regelungen, aus denen sich für jeden Fall im voraus ermitteln läßt, welche Richter zur Entscheidung berufen sind. Jede Abweichung von dieser Genauig432 433 434 435
Siehe §4 A.I.2.b), S. 86ff. §4A.I.3.a)bb),S.95ff. BVerfGE 95, 322 (327), EuGRZ 1997,114. Dazu Sangmeister, NJW 1998, 721 (725).
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keitsanforderung bedarf als Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. (3) Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs Die Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs zur spruchkörperinternen Geschäftsverteilung aus dem Jahre 1994436, die dieser auf Vorlage des X. Zivilsenates437 fällte, bleibt in wesentlichen Punkten hinter den soeben entwickelten Anforderungen zurück. Zwar stellt auch der Bundesgerichtshof zunächst heraus, die Vorsitzenden überbesetzter Zivilsenate seien verpflichtet, schriftliche und den Parteien zugängliche Mitwirkungsgrundsätze aufzustellen, aus denen sich nach abstrakten Merkmalen bestimmen läßt, welche Richter an der einzelnen Entscheidung mitwirken. Schon im Leitsatz deutet sich allerdings eine Aufweichung des Vorausbestimmungsgebotes an. Der Vereinigte Große Senat verlangt lediglich ein System, aus dem sich im Regelfall die Besetzung ergibt. Wie gering die Anforderungen tatsächlich sind, die der Senat an eine spruchkörperinterne Geschäftsverteilung stellt, zeigt sich schließlich in der Aussage, eine hinreichende Vorherbestimmung der Richterbank könne durch unterschiedliche Regelungssysteme sichergestellt werden. So soll es etwa möglich sein, die Richter zunächst den Sitzungstagen fest zuzuordnen, um sodann, durch Terminierung der einzelnen Sache auf einen Sitzungstag, die Verknüpfung mit den zuständigen Richtern zu bewirken 438. Ein solches Modell spiegelt jedoch geradezu prototypisch die Art von richterlicher Zuständigkeitsordnung wider, zu deren Verhinderung Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berufen ist, nämlich die Zuordnung der einzelnen Richter von Fall zu Fall nach dem Ermessen der Vorsitzenden. Welcher Richter im Einzelfall zur Entscheidung berufen ist, bestimmt bei dieser Verfahrensweise nicht der Geschäftsverteilungsplan im voraus, sondern der Vorsitzende durch die Terminierung der eingehenden Fälle. Da zu dieser Zeit aber bereits feststeht, welche Richter an welchem Sitzungstag tätig werden, eröffnen sich dem Vorsitzenden, im Wege der Zuweisung der Sachen zu bestimmten Terminen, weitgehende Einflußmöglichkeiten auf die Besetzung der Richterbank. Mit dem Prinzip möglichst genauer Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit ist ein solches Modell spruchkörperintemer Geschäftsverteilung nicht zu vereinbaren.
436
Zum folgenden BGH (VGS) NJW 1994,1735 ff. Kritisch zur Entscheidung auch Leisner, NJW 1995,285 (286 ff.); Sangmeister, NJW 1995,289 (295 ff.); Felix in den Anmerkungen zum Urteil in BB 1994, Beilage 11, S. 7ff. 437 BGH ZIP 1993, 613ff. mit Anmerkungen von Felix. 438 BGH NJW 1994, 1735 (1738).
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Der Bundesgerichtshof hält zudem solche Ermessensspielräume für unbedenklich, die sich aus Geschäfts Verteilungsregelungen ergeben, welche eine Zuweisung nach Sachgesichtspunkten oder inhaltlichen Schwerpunkten vorsehen beziehungsweise eine Zusammenfassung zusammenhängender Sachen ermöglichen 439. Daß gegen derartige Entscheidungsfreiräume erhebliche grundrechtliche Bedenken bestehen, wurde bereits im Rahmen der Erörterung der Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts begründet 440. Nach Auffassung des Gerichts soll darüber hinaus ohnehin keine Verpflichtung bestehen, ein System zu wählen, das ein Höchstmaß an Bestimmtheit der Zusammensetzung der Richterbank gewährleistet 441. Diese grundsätzliche Ablehnung eines Optimierungsgebotes steht in auffälligem Kontrast zu den Anforderungen, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, nach zutreffendem Verständnis, dem Gesetzgeber und den Spruchkörpervorsitzenden abverlangt, die größtmögliche Genauigkeit bei der Festlegung der im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter. Nur auf diese Weise wird den Grundrechtsberechtigten ein wirkungsvoller Schutz vor Manipulationen zuteil. Jede Abweichung in Form geschäftsplanmäßiger Ungenauigkeit, die zu Entscheidungsfreiräumen der Vorsitzenden führt, bedarf als Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Legitimation durch kollidierendes Verfassungsrecht und muß sich darüber hinaus als verhältnismäßig erweisen. (4) Geschäftsverteilungspraxis und Bundesgerichtshof
beim Bundesfinanzhof
Anhand der zuvor entwickelten Maßstäbe einer spruchkörperinternen Geschäftsverteilung wird zudem deutlich, daß die Geschäftsverteilungspraxis innerhalb der Senate des Bundesfinanzhofes 442 und des Bundesgerichtshofes bis zum 01. Juli 1997, dem Stichtag der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung für eine Anpassung der Pläne an die neuen Leitlinien, den verfassungsrechtlichen Vorgaben zuwiderlief 443 . 439
BGH NJW 1994, 1735 (1738f.). Gliederungspunkt bb)(l), S. 185f. 441 BGH NJW 1994, 1735 (1739). 442 Die Auffassung des Bundesfinanzhofs zur spruchkörperinternen Geschäfts Verteilung kommt zum Ausdruck etwa in BFH BB 1992, 254ff. (zu den Anforderungen an einen senatsinternen Geschäftsverteilungsplan) sowie in BFH NVwZ 1996,102 f. (Berichterstatterbestimmung) und BFH NVwZ-RR 1997,74f. (Anforderungen an einen senatsinternen Geschäftsverteilungsplan). Es wird jeweils die Auffassung vertreten, daß eine konkrete Vorausbestimmung der Richterbank im Einzelfall verfassungsrechtlich nicht geboten sei. 443 Kritisch äußern sich zu dieser Praxis Felix, BB 1991,2193 (2194); ders., BB 1991,2413; ders., NJW 1992,217ff.; die Bundesrichter Wiebel, BB 1992,573ff. und Quack, NJW 1992,1; Schneider, StB 1992, 321 ff., der auch Auszüge aus senatsintemen Geschäftsverteilungsplänen beim BGH wiedergibt; Katholnigg, NJW 1992, 2256 (2260), siehe dazu die Replik von Zülch, NJW 1992,2744; Lamprecht in einem Gastkommentar in der DRiZ 1992,237; Sangmeister, JZ 1993,736 ff. in der Besprechung von BGH JZ 1993,733 ff. (Vorlage des X. Senates des BGH an die Vereinigten Großen Senate); siehe dazu die gegenteilige Auffassung von Foth, JZ 1993,942 440
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Die Chronologie der Ereignisse ist mehrfach ausführlich dargelegt worden und sollen daher nicht erneut wiedergegeben werden 444. Ausgangspunkt der Verfahrensweisen bei den Gerichten war offenbar die Überzeugung, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beziehe sich nicht auf die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung, jedenfalls sei es nach § 21 g GVG nicht erforderlich, die Besetzung der Richterbank im voraus festzulegen. In § 21 g Abs. 2 GVG sei, im Gegensatz zu § 21 e GVG, der die gerichtsinterne Geschäftsverteilung regele, nur von Grundsätzen die Rede, nach denen die Mitglieder der Spruchkörper an den Verfahren zu beteiligen seien. Dieser Unterschied in der Wortwahl deute darauf hin, daß den Vorsitzenden ein Einzelfallermessen übertragen werde 445. Auf einen Nenner gebracht, bestanden nicht einmal in jedem Senat schriftliche Mitwirkungsgrundsätze, die vor Beginn des Geschäftsjahres aufgestellt wurden. Bestehende schriftliche Grundsätze wurden in manchen Senaten durch mündliche Regelungen ergänzt. Diese hielt man für bekannt, da sie in ständiger Übung praktiziert und als selbstverständlich wahrgenommen worden seien. Unter diesen Umständen bestand ein erheblicher Ermessensspielraum der Vorsitzenden bei der Besetzung der Richterbank im Einzelfall, der zum einen in der Möglichkeit zum Ausdruck kam, Rechtssachen zu terminieren, nachdem die Zuweisung der Richter zu den Sitzungstagen bereits erfolgt war 446 . Darüber hinaus behielten es sich die Vorsitzenden teilweise vor, von den Mitwirkungsgrundsätzen bei Vorliegen eines sachlichen Grundes abzuweichen447.
und die Erwiderung von Sangmeister, JZ 1993, 943; Schneider, ZAP 1994, S. 605 ff.; Leisner, NJW 1995, 285ff.; Sangmeister, NJW 1995; ders., NJW 1998, 721 ff. Siehe auch Rasehorn, RuP 1996, 111 (113). Für verfassungsmäßig hält demgegenüber die Geschäftsverteilung beim Bundesfinanzhof List, DStR 1992, 697 ff. Differenzierend und letztlich auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts befindet sich Koch, in: Gräber, § 4 FGO Rn. 22 ff. Siehe außerdem Felix, StVj. 1993,159 ff., der Geschäftsverteilungspläne der Finanzgerichte in Westdeutschland aus dem Jahre 1992 in Auszügen wiedergibt. 444 Siehe etwa Schneider, StB 1992,321 (322ff.); Felix, in: FS Gaul, 97 (109 ff.) auch zu den Pressekonferenzen beim BGH und den Stellungnahmen des Vizepräsidenten des BGH und des Präsidenten des BFH; Sangmeister, NJW 1995,291 ff., der auch die Entwicklung der senatsintemen Geschäftsverteilung seit dem Reichsgericht skizziert; Eser, in: FS Saiger, 247 (254ff.) mit einer Chronologie der senatsintemen Geschäftsverteilung und umfassenden weiterführenden Belegen; Sangmeister, NJW 1998, 721 (722ff.). 445 Siehe BGHSt 250 (253 f.); 29,162; BFH NJW 1992,1062 ff. m.w.N. Eine strengere Auffassung vertrat der X. Zivilsenat des BGH NJW 1993,1596ff., was letztlich zur Vorlage an die Vereinigten Großen Senate gemäß § 132 GVG führte, BGH NJW 1994, 735 ff. 446 Dazu etw& Schneider, StB 1992, 321 (323). Über die Geschäftsverteilungspraxis beim BGH und BFH berichten etwa Felix, NJW 1992, 1607f.; ders., NJW 1992, 217ff.; ders., BB 1995, 1665ff. zu der Bestimmung der Berichterstatter in den Senaten des BFH sowie Katholnigg, NJW 1992, 2256 (2258 f.) und Wiebel, BB 1992,573 ff.; ders., BB 1995,1197 ff. zur Bestimmung der Berichterstatter innerhalb der Senate des BGH. 447 Siehe die Schilderungen zum Sachverhalt der Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des BGH NJW 1994, 1735.
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Beispielhaft vermag die Schilderung von Wiebel über das Verfahren innerhalb eines Senates des Bundesgerichtshofs den verfassungsrechtlich bedenklichen Zustand zu verdeutlichen: „Eine allgemeine mündliche oder schriftliche Regelung, wer in einem bestimmten Revisionsverfahren Berichterstatter sein soll und welche Richter zur Entscheidung in diesem bestimmten Fall berufen sind, fehlt ohne Rücksicht auf § 21 g GVG. Statt der vorherigen abstrakten Bestimmung wird für jeden Einzelfall ein Berichterstatter benannt. Nachdem dessen schriftliches Votum vorliegt, wird wiederum von Fall zu Fall die entscheidende Richterbank bestimmt. Ergibt die Beratung, daß die Revision nicht zur Entscheidung angenommen wird, hat es damit sein Bewenden. Sind mindestens zwei Richter für eine mündliche Verhandlung mit anschließender Entscheidung durch Urteil, entscheidet nicht automatisch das nun einmal bestimmte und tätig gewordene Kollegium. Vielmehr bestimmt der Vorsitzende in einer dritten, wiederum fallbezogenen Einzelentscheidung die selten identische, gewöhnlich teilweise anders besetzte Richterbank für den Verhandlungs- und Entscheidungstermin. Die Richterbank wird in dem dargestellten Ablauf scheinbar abstrakt, tatsächlich aber für jeden Einzelfall gesondert festgelegt. Dreimal im Jahr werden die Beratungs- und Verhandlungstermine der nächsten Monate sowie die Namen der jeweils daran teilnehmenden fünf Richter schriftlich mitgeteilt. Welche Richter schließlich entscheiden, folgt aus der Wahl des Termins für einen Fall. Keine der drei Zuteilungsentscheidungen des Vorsitzenden wird transparent gemacht, wenn auch nachträglich sich dem Betrachter durchaus Erkenntnisse dazu öffnen können." Insgesamt entsprach die Geschäftsverteilungspraxis also eher dem Leitbild einer freien Besetzung der Richterbank durch die Vorsitzenden, als dem Prinzip abstraktgenereller Vorausbestimmung. Die Einflußnahme wurde als sachgerechte Möglichkeit verstanden, Gesichtspunkten, wie der Belastung der einzelnen Spruchkörpermitglieder, der individuellen Fähigkeit und besonderen Erfahrung der Richter sowie der Eilbedürftigkeit einer Sache, Rechnung zu tragen. Die Zuteilung von Sachen nach einem vorab bestimmten Schema, so die Begründung, sei praktisch zum Scheitern verurteilt und führe darüber hinaus zu Ungleichheiten und Mißmut innerhalb der Spruchkörper 448 .
(5) Bewertung der Geschäftsverteilungspraxis Teilt man das Verständnis von Effektivität, das einer solchen Argumentation zugrunde liegt 4 4 9 , so mag der Entscheidungsspielraum der Vorsitzenden für sich betrachtet zur Wirksamkeit des Rechtsschutzes beitragen. Dennoch hat diese Art der
448 Siehe zu diesen Begründungen und einzelnen Beispielen aus den Senaten des BGH und des BFH Sangmeister, NJW 1995, 289 (292) m. N. 449 Siehe dazu die allgemeinen Ausführungen zum kollidierenden Verfassungsgut der Effektivität des Rechtsschutzes unter Gliederungspunkt § 4 Α. 1.3. a) bb), S. 95 ff. Zur Kritik an einem einseitigen Verständnis des Prinzips der Effektivität des Rechtsschutzes siehe Wiebel, BB 1995, 1197 (1199).
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Geschäftsverteilung im Ergebnis gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters verstoßen. Dafür ist nicht allein verantwortlich, daß die Verhinderung möglicherweise zu befürchtenden Mißmuts von Richtern keinen Verfassungsrang genießt und daher schon im Ansatz nicht zur Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Frage kommt. Ohnehin scheint die Diskussion um die senatsinterne Geschäfts Verteilung beim Bundesgerichtshof, die nicht unmaßgeblich von Richtern dieses Gerichts angestoßen wurde, eher den Eindruck zu bestätigen, daß die Geschäftsverteilung nach dem Ermessen der Vorsitzenden zur Unzufriedenheit bei den betroffenen Richtern geführt hat 450 . Ungeachtet dieser Kritik an den Gründen für einen Entscheidungsfreiraum der Vorsitzenden ist es fraglich, ob Ermessensspielräume bei der Bestimmung der von Fall zu Fall zuständigen Richter als verhältnismäßige Beeinträchtigungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angesehen werden können. Den Verfahrensbeteiligten wird es dadurch erheblich erschwert vorherzusehen, wie die Richterbank besetzt sein wird. Die Gefahr einer Manipulation der Besetzung tritt in diesem Fall deutlich zutage. Dabei spielt keine Rolle, ob die Erwägungen, die von den Vorsitzenden der eigenen Geschäfts Verteilung zugrunde gelegt werden, für sich betrachtet sachdienlich oder unsachgemäß erscheinen mögen oder sich an den wohlverstandenen Interessen der spruchkörperangehörigen Richter und der Verfahrensbeteiligten ausrichten. Es geht darum, nach Möglichkeit gänzlich auszuschließen, daß richterliche Zuständigkeiten von solchen unwägbaren Faktoren abhängig sind. Daß eine grundrechtlich vorbildliche spruchkörperinterne Geschäftsverteilung möglich ist, zeigt darüber hinaus ein Blick auf das Bundesverwaltungsgericht, dessen Verfahrensweise sich grundlegend von der des Bundesfinanzhofs und des Bundesgerichtshofs unterscheidet. Dort bestehen abstrakt-generelle Regelung zur spruchkörperinternen Geschäfts Verteilung, die mit allen Senatsmitgliedern abgestimmt werden und nach denen die Besetzung der überbesetzten Spruchkörper unverrückbar feststeht 451. 450 Siehe dazu Wiebel, BB 1992,573 ff. und Quack , NJW 1992,1 und die übrigen Belege zur Kritik an der senatsintemen Geschäftsverteilung, die in den Anmerkungen eingangs dieses Gliederungspunktes aufgeführt werden. 451 In dieser Form wurde dies ausdrücklich berichtet vom II. Senat des Bundesverwaltungsgerichts, wiedergegeben von Sangmeister, NJW 1998,721 (724). Zur Geschäfts Verteilung beim Bundesverwaltungsgericht siehe außerdem Felix, NJW 1992,217 (218 mit Anmerkung 25), der an dieser Stelle von einem senatsintemen Geschäftsverteilungsplan vom Dezember 1990 berichtet, in dem sogar die Berichterstatter und Mit-Berichterstatter in jeder Sache namentlich festgelegt sind. Felix weist darüber hinaus in seinen Anmerkungen zum Beschluß der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs im BB 1994, Beilage 11, S. 8 daraufhin, daß das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht und das Bundesverwaltungsgericht seit jeher eine perfekte senatsinteme Geschäftsverteilung praktizierten, ohne jegliche Spielräume der Vorsitzenden. Eine konsequente Vörausbestimmung nach abstrakt-generellen Merkmalen verlangt auch BSG NJW 1996, 2181 f.
13 Roth
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Zum Ol. Juli 1997 haben die Gerichte zwar die Geschäfts Verteilungspläne den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts angepaßt. Legt man die oben geäußerte Kritik an der Rechtsprechung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts diesen veränderten Geschäftsverteilungsplänen zugrunde, so setzen auch diese Pläne die verfassungsrechtlichen Direktiven von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht letztlich zufriedenstellend um. Die als zulässig erachteten Einflußmöglichkeiten der Spruchkörpervorsitzenden gehen vielmehr über das verfassungsrechtlich zu rechtfertigende Maß hinaus.
b) Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung der verfassungsrechtlichen Anforderungen spruchkörperinterner Geschäftsverteilung Die Verpflichtung der Judikative, durch die Bereitstellung von Geschäftsverteilungsplänen zur Vervollständigung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung beizutragen, folgt bereits unmittelbar aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Legislative hat diese Verpflichtung dennoch zusätzlich im Gerichtsverfassungsgesetz, also auf einfachgesetzlicher Ebene, verankert. Aus diesem Umstand läßt sich die Frage ableiten, ob das Recht auf den gesetzlichen Richter den Gesetzgeber verpflichtet, diese Aufgabe ausdrücklich zu übertragen und ob solche Gesetze auch inhaltlich einen bestimmten Standard aufweisen müssen. Zur grundrechtlichen Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers gehört auch, Inhalt und Umfang der Geschäftsverteilungspflicht der Gerichte gesetzlich zu konkretisieren. Überträgt er die Aufgabe zur Geschäftsverteilung auf die Spruchkörpervorsitzenden, so genügt demnach nicht jede Form den Anforderungen. Seiner Pflicht zur Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kommt er nur nach, wenn die inhaltlichen Anforderungen, die das Prinzip des gesetzlichen Richters an eine Zuständigkeitsregelung stellt, ausdrücklich mitübertragen werden. Entsprechende Gesetze müssen demnach die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die inhaltliche Gestaltung von Geschäfts Verteilungsplänen enthalten. Dem würde etwa ein solches Gesetz nicht gerecht, das die Aufgabenverteilung hinsichtlich Form und Inhalt dem Belieben der Spruchkörpervorsitzenden überließe, ohne ausdrücklich vorzugeben, auf welche Weise eine solche Regelung zu erfolgen hat. Eine solche Pflicht des Gesetzgebers könnte mit der Begründung für entbehrlich gehalten werden, die Richter seien ohnehin an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebunden. Schon aus dieser Bindung folge unmittelbar die Verpflichtung, die Aufgaben innerhalb des Spruchkörpers möglichst exakt, nach abstrakt-generellen Kriterien zu übertragen, auch ohne, daß der Gesetzgeber dies in einer entsprechenden Norm einfordere. Von dieser Grundposition aus erscheint es übertrieben formalistisch, den Gesetzgeber zur Wiederholung der grundrechtlichen Vorgaben zu verpflichten. Eine solche Sicht weise würde jedoch die Rolle, die dem Gesetzgeber durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zugedacht wird, nicht in hinreichendem Umfang berück-
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sichtigen. Eine gesetzliche Verpflichtung der Gerichte, exakte schriftliche Geschäftsverteilungspläne aufzustellen, aus denen sich im voraus ermitteln läßt, welcher Richter im Einzelfall zuständig ist, bietet den Grundrechtsberechtigten einen wirksameren Schutz vor Manipulationen der Richterbank, als der Verweis auf die Bindung der Gerichte an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Diskussion um die senatsinternen Geschäftsverteilungspläne beim Bundesgerichtshof und beim Bundesfinanzhof hat erhebliche Unsicherheiten bei der Frage, welche Anforderungen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an die senatsinterne Geschäftsverteilung stellt, zutage treten lassen. Diese - zum Teil fortdauernden - Unsicherheiten würden durch exakte gesetzliche Vorgaben an die Gerichte beseitigt. c) Begutachtung und grundrechtskonforme Auslegung von § 21 g GVG Stellt § 21 g GVG vor diesem Hintergrund eine hinreichend genaue und inhaltlich vollständige Regelung spruchkörperintemer Geschäftsverteilung dar oder geht die Norm, wie teilweise behauptet wird 452 , bereits über das von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Gebotene hinaus? Bei genauer Analyse des Wortlautes der Norm gelangt man zu dem Resultat, daß sie dem Prinzip des gesetzlichen Richters nicht in vollem Umfang gerecht wird. Dies gilt allerdings nicht für § 21g Abs. 1 GVG, der lediglich eine unmißverständliche Kompetenzzuweisung an die Spruchkörpervorsitzenden beinhaltet453. Problematisch ist hingegen, daß § 21 g Abs. 2 1. Halbsatz GVG von Grundsätzen spricht, die der Vorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres 454 für dessen Dauer festzulegen hat und nach denen die Mitglieder an den Verfahren mitwirken. Dem Gesetz ist keine nähere Umschreibung dessen, was unter Grundsätzen zu verstehen ist, zu entnehmen. Welche unterschiedlichen Deutungen diesem Begriff im allgemeinen und maßgeblichen juristischen Sprachgebrauch beigemessen werden, hat der Vereinigte Große Senat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluß zur senatsintemen Geschäftsverteilung verdeutlicht 455. Die Bandbreite möglicher Interpretationen reicht von der Annahme, Grundsätze seien feststehende Regeln, die über den Rahmen einer unverbindlichen Richtlinie hinausgingen, bis zur Behauptung, es handele sich um ausfüllungsbedürftige Rahmenbestimmungen, die die Möglichkeit einer Abweichung im Einzelfall, aus besonderen Gründen, nicht ausschlössen.
452
So noch BVerfGE 18, 344 (352); 22, 282 (286); 69, 112 (120). Siehe Kissel , § 21 g GVG Rn. 1 und 5 ff. 454 Zur Geltung des Jährlichkeitsprinzips bei der senatsintemen Geschäftsverteilung siehe BGH NJW 1999, 796f. 455 Zum Nachfolgenden BGH NJW 1994, 1735 (1737) sowie ausführlich Sangmeister, BB 1993, 761 ff. mit umfangreichen Belegen aus den Gesetzgebungsverfahren. 453
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aa) Analyse der Gesetzesmaterialien Die Entstehungsgeschichte von § 8 Abs. 2 VwGO, der als Vorbild für § 8 Abs. 2 FGO, § 69 GVG und dessen Nachfolgevorschrift, § 21 g GVG, gilt, belegt, daß aus dem Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat eine Formulierung resultierte, die den Entscheidungsspielraum der Vorsitzenden betonen sollte. Eine Einigung über die Auslegung der Norm war allerdings nicht zu erzielen 456. Der Vorschlag des Bundestages verfolgte das Ziel, die Besetzung der Richterbank im Einzelfall von Zufällen unabhängig zu machen und bei Überbesetzungen die Frage der Besetzung der Richterbank gesetzlich zu regeln. Die Norm sollte danach lauten: „Innerhalb der Kammer verteilt der Vorsitzende die Geschäfte auf die einzelnen Richter. Er bestimmt vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer die Reihenfolge, in welcher die Mitglieder an den Sitzungen teilnehmen; diese Anordnung kann nur geändert werden, wenn dies wegen notwendiger außerordentlicher Sitzungen oder infolge Wechsels oder Verhinderung einzelner Mitglieder der Kammer erforderlich wird." 457
Da der Bundesrat eine solche Vorausbestimmung der Besetzung der Richterbank durch die Vorsitzenden weder für praktikabel, noch für verfassungsrechtlich geboten hielt, bewirkte er schließlich, über den Vermittlungsausschuß, eine Änderung des zweiten Satzes hinzu der heute gültigen Fassung, mit der Absicht, einen weitergehenden Entscheidungsfreiraum der Spruchkörpervorsitzenden zu bewirken 458. Versuche des Bundesrates, eine Streichung des zweiten Satzes zu erreichen, blieben erfolglos 459 . Die Auslegung des Begriffs der Grundsätze blieb auch nach dieser Änderung umstritten, wie ein Blick auf die Diskussionen innerhalb des Vermittlungsausschusses aus Anlaß der Verabschiedung der Verwaltungsgerichtsordnung sowie der Einführung von § 21 g GVG unter Beweis stellt. Während der Berichterstatter des Bundestages betonte, hinsichtlich der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung bei den Verwaltungsgerichten sei eine normative Vörausbestimmung richterlicher Zuständigkeit zu gewährleisten, stellte der Berichterstatter des Bundesrates heraus, die notwendige Elastizität der Vorschrift komme darin zum Ausdruck, daß die beschlossene Formulierung dem Vorsitzenden nur allgemeine Grundsätze abverlange460.
456
Zu diesem Weg im einzelnen siehe BGH NJW 1994, 1735 (1737). Siehe den schriftlichen Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, BTDrs. 3/1094, S. 3. 458 Siehe BT-Drs. 3/1456. 459 BT-Drs. 4/2699 und 6/3246. 460 Siehe die Stenographischen Berichte des Deutschen Bundestages zur 94. Sitzung am 11.12. 1959 in der 3. Wahlperiode, S. 5185 sowie des Bundesrates zur 213. Sitzung am 18.12. 1959, S. 246, auf die in BGH NJW 1994, 1735 (1737) hingewiesen wird. 457
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Im Unterschied dazu sah der Berichterstatter im Vermittlungsausschuß für die Auslegung von § 21 g GVG als maßgeblich an, daß die Besetzung der Richterbank in überbesetzten Spruchkörpern nach abstrakt-generellen Kriterien und vor Beginn des Geschäftsjahres festzulegen sei 461 . bb) Bewertung der Vorschrift Wie zu sehen war, gehen die Auffassungen darüber, was unter Grundsätzen zu verstehen ist, in zwei entgegengesetzte Richtungen. Einerseits wird darin ein Ausdruck des Entscheidungsfreiraums der Vorsitzenden gesehen. Demgegenüber verstehen andere die Formulierung als Hinweis auf die Pflicht der Vorsitzenden, die Geschäftsverteilung möglichst genau im voraus zu regeln. Wenn die Auslegung eines Begriffs im Zusammenhang mit der Normierung richterlicher Zuständigkeit mehrere Deutungen zuläßt, so ist diejenige Interpretation vorzuziehen, die der Schutzfunktion von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG am stärksten zur Geltung verhilft. § 21 g Abs. 2 GVG ist daher grundrechtskonform so auszulegen, daß die Spruchkörpervorsitzenden für das Geschäftsjahr im voraus Kriterien schriftlich niederzulegen haben, anhand derer sich die Besetzung der Richterbank für den Einzelfall ermitteln läßt. Da die Geschäftsverteilungspläne die gleiche Funktion wie Zuständigkeitsgesetze erfüllen, muß darüber hinaus sichergestellt sein, daß die Parteien sich von den Plänen in zumutbarer Weise Kenntnis verschaffen können462. Sofern die Gesetze es zulassen, Geschäftsverteilungspläne zu erstellen, die es ermöglichen, auf die Besetzung der Richterbank von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen, so handelt es sich um Beeinträchtigungen des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie bedürfen daher der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung nach Maßgabe der Kriterien, die auch für die übrigen Zuständigkeitsgesetze gelten. Da Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht ist, muß der Gesetzgeber die Beeinträchtigung auf Verfassungsgüter stützen. Darüber hinaus sind nur verhältnismäßige Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt 463.
461
Dazu der Stenographische Bericht des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, 178. Sitzung vom 16.03.1972, S. 10326 (D.); 10327 (A.); 10328 (Α.). Ahnlich verlief die Auseinandersetzung im Zuge des Rechtspflegevereinfachungsgesetzes (BT-Drs. 11/3621 Art. 2 Nr. 2), in dem eine Änderung von § 21 g Abs. 3 GVG vorgesehen war. Danach sollten die Mitglieder des Spruchkörpers vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer bestimmen, nach welchen Grundsätzen die Einzelrichter gemäß § 348 ZPO bestimmt werden. Bundesrat (S. 72 der obigen Bundestagsdrucksache) und Bundestag (BT-Drs. 11/8283, S. 50) traten letztlich diesem Vorschlag mit dem Hinweis entgegen, der Vorsitzende müsse seinen richtungsweisenden Einfluß auf die Geschäftsverteilung und die zweckmäßige Organisation der Arbeit im Spruchkörper behalten. «a BVerfG NJW 1998, 369 (370). 463 Zu den Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken siehe unter Gliederungspunkt §4 Α. I.3., S.92ff.
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Vor diesem Hintergrund begegnet die in § 21 g Abs. 2 2. Halbsatz vorgesehene Möglichkeit, die bestehende Geschäftsverteilung zu ändern, Bedenken, wenn dies wegen Überlastung, ungenügender Auslastung, Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Mitglieder nötig wird. Die Bedenken richten sich nicht gegen den Umstand, daß ein Wechsel oder die dauernde Verhinderung eines Richters meist unvorhersehbare Ereignisse darstellen, die unvermeidlich zu einer nicht planbaren Änderung der Besetzung führen. Vielmehr erscheint es problematisch, solche Vorfälle ohne weiteres zum Anlaß zu nehmen, den Spruchkörpervorsitzenden eine Änderung der Geschäfts Verteilung nach ihrem Ermessen zu ermöglichen. Die Vertretung von Richtern kann beispielweise auf der Basis abstrakt-genereller Kriterien durch den Geschäftsverteilungsplan geregelt werden, ohne daß es erforderlich wäre, die Regelung der Vertretung in jedem Fall in das Ermessen der Vorsitzenden zu stellen464. Im Falle eines unvermeidlichen Wechsels von Richtern im laufenden Geschäftsjahr ist Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Genüge getan, wenn solche Maßnahmen nicht dem Ziel dienen, Einfluß auf die Richterbank im Einzelfall zu nehmen. Insgesamt sollte ein Entscheidungsfreiraum der Vorsitzenden auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen die Besetzung der Richterbank in unvorhersehbaren Ausnahmefällen nur durch eine Entscheidung im Einzelfall sichergestellt werden kann. Die Ansicht, § 21 g Abs. 2 GVG gehe mit seinen Anforderungen bereits über das verfassungsrechtlich geforderte Maß hinaus465, ist nach alledem abzulehnen. Die Norm erfüllt im Gegenteil nur nach einer verfassungskonformen Auslegung die Vorgaben des Rechtes auf den gesetzlichen Richter. Da der Gesetzgeber im Rahmen der Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet ist, die richterliche Zuständigkeit im Wortlaut der Norm so genau wie möglich zu verankern, stellt die verfassungskonforme Auslegung nur eine Übergangslösung dar. Erforderlich ist eine Änderung des Normtextes, der etwa wie folgt lauten könnte: „Welche Richter in einem überbesetzten Spruchkörper für den Einzelfall zur Entscheidung berufen sind, muß sich aus einem schriftlichen und öffentlich zugänglichen Geschäftsverteilungsplan ergeben, den der Vorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres aufstellt. Aus dem Plan muß sich auch die Vertretung der einzelnen Richter für den Fall einer Verhinderung ergeben. Eine Abweichung von den Vorgaben des Planes ist nur für unvorhersehbare Ausnahmefälle zulässig. In nicht überbesetzten Spruchkörpern der Zivilgerichte bestimmt der Vorsitzende auf die gleiche Weise, welche Richter im Einzelfall als Berichterstatter fungieren. Dies gilt auch für
464
Siehe BGH NJW 1999,154 (156), wo die in § 21 e Abs. 3 GVG vorgesehene und weitgehend in das Ermessen des Präsidiums gestellte Möglichkeit zur Änderung eines gerichtsinternen Geschäftsverteilungsplanes im Laufe des Geschäftsjahres wegen Überlastung oder ungenügender Auslastung von Richtern oder Spruchkörpern bzw. infolge Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Richter als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen wird zur Gewährleistung der Effektivität der Rechtsprechung. 465 So noch BVerfGE 18, 344 (352); 22, 282 (286); 69, 112 (120).
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den Fall, daß der oder die Berichterstatter nicht an Stelle des Spruchkörpers zur Entscheidung berufen sind. Dem Geschäftsverteilungsplan muß auch zu entnehmen sein, welche Richter im Falle einer gesetzlich vorgesehenen Reduzierung der Richterbank zur Entscheidung berufen sind.
cc) Rechtspolitische Anmerkung Die Auseinandersetzung um die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung hat möglicherweise bewirkt, daß eine grundlegende Diskussion über eine Reform der Geschäftsverteilungsregelung und -verfahren in Gang gekommen ist. Die entsprechende Initiative der Justizminister von Hessen und Schleswig-Holstein, die zu einer Beratung des Rechtsausschusses des Bundesrates geführt hat sowie die Reaktionen auf diese Initiative scheinen dies zu belegen466. Im Kern geht es dabei einerseits um eine Reform der bestehenden Präsidialverfassung der Gerichte, die vorsieht, daß die Präsidien sich zur Hälfte aus Vorsitzenden Richtern zusammensetzen467. Ziel ist eine offene Wahl der Präsidiumsmitglieder aus der gesamten Richterschaft. Außerdem sollen über die Geschäftsverteilung innerhalb der Senate und Kammern nicht mehr, wie es § 21 g GVG vorsieht, die Vorsitzenden Richter allein, sondern alle Richter gemeinsam entscheiden. Diese Reformansätze wirken sich nicht unmittelbar auf die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geforderte abstrakt-generelle Geschäftsverteilung aus. Andererseits könnte eine Einbeziehung der Interessen aller Richter eines Spruchkörpers in die Geschäftsverteilung dazu führen, daß das Verlangen nach einer Objektivierung des Verteilungsverfahrens durch konsequent schriftlich niedergelegte Verteilungsmodi in den Vordergrund tritt. Dies wiederum könnte sich positiv auf das Ziel auswirken, eine Einflußnahme auf die im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richterperson zu verhindern.
2. Zuständigkeitsbestimmung durch Terminierung Geschäftsverteilung hinsichtlich ehrenamtlicher Richter Gemessen am breiten Raum, den die Diskussion um die Geschäftsverteilung innerhalb der mit hauptamtlichen Richtern besetzten Spruchkörper einnimmt, führt der 466 Der „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Präsidialverfassung der Gerichte44 wurde am 06.03.1998 eingebracht (BR-Drs. 97/98). Siehe dazu Wiebel, ZRP 1998, 221 ff., insbesondere 223 f. und die Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 01.04.1998 sowie den Brief an die Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.04.1998. Der Bundesrat hat sich im Februar 1999 darauf verständigt, den Entwurf erneut in den Bundestag einzubringen, siehe die Pressemitteilung des Bundesrates, auf die im NJW-Wochenspiegel in der NJW 1999, Heft 10, S. XLV hingewiesen wird. 467 §21 a Abs. 2 GVG.
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Bereich der Besetzung der Spruchkörper mit ehrenamtlichen Richtern ein Schattendasein. Dies muß umso mehr verwundern, als man hinsichtlich dieser Thematik eine Situation vorfindet, die grundrechtlich betrachtet außerordentlich problematisch erscheint. Auf eine Weise problematisch, daß Katholnigg darin eine „Zeitbombe ungeheuren Ausmaßes" erkennt 468. Der Grund für diese drastische Umschreibung der tatsächlichen Umstände wird deutlich, wenn man einen Blick auf die rechtlichen Grundlagen und die Praxis der Zuweisung der Schöffen zu den Strafgerichten wirft.
a) Rechtlicher Rahmen und Praxis der Geschäftsverteilung Die einschlägigen Normen enthalten keine Vorgaben an die Vorsitzenden, wie die Zuweisung der ehrenamtlichen Richter zu erfolgen hat 469 . Sie ordnen lediglich an, daß die Reihenfolge, in der die ehrenamtlichen Richter an den vorher festgelegten Sitzungstagen des Jahres teilnehmen, durch Auslosung zu bestimmen ist 470 . Über den zeitlich nachfolgenden Schritt der Geschäfts Verteilung, aus dem sich ergibt, welcher Fall an welchem Sitzungstag behandelt wird und damit, welche ehrenamtlichen Richter in welcher Sache zur Entscheidung berufen sind, schweigen die Normen. Daran ändert auch § 21 g GVG nichts, da sich die Norm seiner systematischen Stellung und dem Inhalt nach auschließlich auf die dem Spruchkörper angehörigen, hauptamtlichen Richter bezieht. Tatsächlich ist es daher so, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem eine Sache bei Gericht eingeht, nicht feststeht, welche ehrenamtlichen Richter zuständig sind. Im Gegenteil verknüpft erst der Vorsitzende durch die Terminierung den Fall mit der Richterbank. Zum Zeitpunkt der Terminierung steht jedoch bereits fest, welche ehrenamtlichen Richter an welchem Sitzungstag ihr Amt ausüben werden. Die Sache gelangt also nicht unter neutralen Umständen zu den zuständigen ehrenamtlichen Richtern. Vielmehr kann der Vorsitzende in Kenntnis der Besetzung der jeweiligen Sitzungstage über die Zuständigkeit nach seinem Ermessen entscheiden. Bei geringerem Geschäftsanfall als erwartet, können beispielsweise Sitzungstage ausfallen, was dazu führt, daß die für diese Sitzungstage festgelegten Schöffen „übersprungen" werden 471. Vom Grundsatz her gilt das Gesagte auch für die Berufung der ehrenamtlichen Richter in den übrigen Rechtswegen. Auch dort enden die rechtlichen Vorgaben mit der Aufstellung von Listen oder einer Zuweisung der ehrenamtlichen Richter zu ein468
Katholnigg, JR 1997,284 in der Anmerkung zum Plenumsbeschluß des BVerfG JR 1997, 278 ff. zu den Auswirkungen auf die gängige Schöffenbesetzungspraxis, unter der Bedingung, daß man die Anforderungen, die das Plenum an die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung stellt, auch auf diese Problematik übertragen würde. 469 Zur Frage, welches Stadium der Gewinnung ehrenamtlicher Richter und welche der einschlägigen Normen demzufolge dem Schutzbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen siehe unter § 3 B.III., S. 57ff. 470 Siehe § 45 Abs. 1 und Abs. 2 GVG sowie § 77 GVG. 471 Dazu Kissel § 45 GVG Rn. 6.
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zelnen Spruchkörpern, in beiden Fällen verbunden mit einer Festlegung der Reihenfolge, in der die ehrenamtlichen Richter zu den Sitzungen herangezogen werden 4 7 2 . Wenn eine Sache bei Gericht eingeht, steht die Besetzung der Richterbank auch in diesen Fällen nicht fest, vielmehr ermöglicht die Terminierung dem Vorsitzenden, auf die Besetzung von Fall zu Fall einzuwirken. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bestätigt, wonach unter Sitzung i m Sinne von § 31 Abs. 1 ArbGG der Sitzungstag und nicht die Verhandlung einer bestimmten Sache insgesamt zu verstehen ist. Dies hat zur Folge, daß für den Fall einer Verlegung oder Vertagung eines Termins nicht mit der gleichbleibenden Besetzung Recht gesprochen wird, sondern für den neuen Sitzungstag die nach der Reihenfolge der Liste nächstfolgenden ehrenamtlichen Richter herangezogen werden 473 . Eine Verlegung von Sitzungstermi-
472 Siehe § 30 VwGO; § 27 FGO; §§ 31,39 (dazu BAG BB 1997,52) und § 43 Abs. 3 ArbGG; § 6 SGG. Die Normen des ArbGG enthalten eine sprachliche Unzulänglichkeit insofern, als sie lediglich vorsehen, daß die ehrenamtlichen Richter zu den Sitzungen nach der Reihenfolge der Liste herangezogen werden „sollen". Diese Formulierung scheint Abweichungen von der Listenreihenfolge zuzulassen. Um eine Manipulation auszuschließen, wird daher teilweise verlangt, die Normen verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß die ehrenamtlichen Richter nach der Reihenfolge der Liste herangezogen werden „müssen", nicht lediglich „sollen", siehe Prutting, in: Germelmann/Matthes, § 31 ArbGG Rn. 12 und Grunsky, § 31 ArbGG Rn. 3. Als weiteren Gesichtspunkt einer verfassungskonformen Auslegung von § 31 Abs. 1 ArbGG verlangen die genannten Autoren, daß an Stelle einer allgemeinen Liste für alle Kammern, Listen für jeden Spruchkörper erstellt werden müßten. Eine allgemeine Liste sei unzureichend, da sie die konkrete Verteilung auf die Kammern offen lasse, siehe Prutting, in: Germelmann/Matthes, § 31 ArbGG Rn. 7f.; Grunsky, § 31 ArbGG Rn. 1. Allerdings erscheint es nach der gängigen Verfahrensweise, bei der der Vorsitzende ohnehin die Richterbank durch Terminierung in Kenntnis der Besetzung an den einzelnen Sitzungstagen festlegt, unerheblich, ob die Reihenfolge der Liste bei der Zuweisung der ehrenamtlichen Richter zu den einzelnen Sitzungstagen eingehalten wird oder nicht. Welche Fälle eingehen werden, ist in diesem Stadium ohnehin noch nicht absehbar. Der „gesetzliche Richter" wird in beiden Fällen erst durch die Terminierung auf der Basis feststehender Besetzungen an den Sitzungstagen bestimmt. Über die ehrenamtlichen Richter in den Kammern für Handelssachen findet sich eine Regelung in § 105 Abs. 1 und den §§ 107 ff. GVG, ohne daß die Geschäftsverteilung dort thematisiert würde. Die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter zu den Sitzungstagen richtet sich daher nach der allgemeinen Vorschrift des § 21 g GVG, siehe dazu Kissel, § 94 GVG Rn. 13 f. 473 BVerfG NZA 1998,445 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, siehe etwa BAG NJW 1997,2133 f. Das Bundesverfassungsgericht verlangt darüber hinaus eine nachvollziehbare Festlegung der Beratungstermine für Entscheidungen, die ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß ergehen können, da ansonsten nicht überprüfbar sei, welche ehrenamtlichen Richter an der Beschlußfassung zu beteiligen seien. Das Bundesarbeitsgericht läßt allerdings in Ausnahmefällen wiederum eine Abweichung von der Reihenfolge der Liste dergestalt zu, daß doch die ursprüngliche Besetzung der Richterbank beibehalten wird (BAGE 12,321; 25,226 [231]). Dadurch wird die Unsicherheit der Verfahrensbeteiligten hinsichtlich der für ihren Fall zuständigen ehrenamtlichen Richter noch erhöht. Unter Bezugnahme auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und § 309 ZPO plädiert daher etwa Grunsky, § 31 ArbGG Rn. 5 für eine Beibehaltung der Besetzung des zunächst anberaumten Ter-
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nen führt im Arbeitsgerichtsprozeß also zur Veränderung der Richterbank. Anders im Strafprozeß. Dort führt eine Verlegung von ordentlichen Sitzungsterminen nicht zu einer Veränderung der Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern. Die für den ursprünglichen und sodann verlegten Sitzungstag nach § 45 GVG ausgelosten Schöffen bleiben auch für den neuen Termin zuständig474. Die gesetzlichen Bestimmungen über ehrenamtliche Richter verpflichten demnach die Spruchkörpervorsitzenden nicht, eine Geschäftsverteilung vorzunehmen, aus der sich zu Beginn des Geschäftsjahres nach abstrakt-generellen Kriterien ermitteln läßt, welche ehrenamtlichen Richter von Fall zu Fall zur Entscheidung berufen sind. Damit kommt der Gesetzgeber seiner grundrechtlichen Pflicht, die Anforderungen an die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung gesetzlich zu konkretisieren, nicht nach. Auch die Geschäftsverteilungspraxis entspricht nicht dem grundrechtlichen Gebot der exakten Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit475. Die Vorsitzenden bestimmen durch die Terminierung der eingehenden Sachen die jeweilige Besetzung der Richterbank mit ehrenamtlichen Richtern. b) Rechtsprechung und Literatur zur Terminierungspraxis im Überblick In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich bislang kein Hinweis darauf, daß die Richter Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Terminierungsverfahrens hegen. In der grundlegenden Plenumsentscheidung zur mins, um eine Einflußnahme auf die Personen der ehrenamtlichen Richter zu verhindern. Siehe außerdem BAG NZA 1998,1301 ff., ablehnend zu der Frage, ob sich ein Fehler bei der Heranziehung ehrenamtlicher Richter auch auf die Besetzung in den Folgeterminen auswirkt („Domino-Effekt"). Zur Vertagung im Sozialgerichtsverfahren, die dazu führt, daß die ehrenamtlichen Richter nach der Reihenfolge der Liste herangezogen werden, siehe Meyer-Ladewig, § 6 SGG Rn. 7. 474 Im Gegensatz zur Verlegung eines ordentlichen Termins ist die Anberaumung außerordentlicher Sitzungen gemäß § 47 GVG, die zu einer Hinzuziehung von Hilfsschöffen führt (Änderung der Richterbank!) nur zulässig, wenn ein zusätzlicher Verhandlungsbedarf neben den ordentlichen Sitzungstagen besteht, nicht aber wenn diese an Stelle der ordentlichen Sitzungstage stattfinden sollen, siehe BGH NJW 1996,267 mit Nachweisen. BGH NJW 1996,267 f. und BGH NJW 1998,390 ff. haben allerdings das Ermessen der Vorsitzenden hinsichtlich der Auswahl des Sitzungstermins, der auf einen zeitlich früheren oder späteren Termin verlegt wird, eingeschränkt. Da durch die Auswahl des zu verlegenden Sitzungstermins über die zuständigen Schöffen entschieden werde, sei stets der zeitnächste frei Sitzungstag in dem Sitzungszeitraum maßgeblich, in dem die Hauptverhandlung beginnen solle. Liege der verlegte Sitzungstag genau zwischen zwei freien, für den Verhandlungsbeginn nicht benötigten Sitzungstagen, so werde regelmäßig der frühere ordentliche Sitzungstag die Schöffenbesetzung vorgeben. In diesem Fall handelte es sich um einen auf einen späteren Zeitpunkt verlegten Sitzungstag. Eine Verlegung über den beschriebenen Rahmen hinaus ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs vom Ermessen des Vorsitzenden nicht gedeckt. 475 Zu den verfassungsrechtlichen Pflichten des Gesetzgebers und der Spruchkörpervorsitzenden im Rahmen der Geschäftsverteilung kann auf die Ausführungen unter dem vorhergehenden Gliederungspunkt 1., S. 183 ff. verwiesen werden.
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spruchkörperinternen Geschäftsverteilung haben sich die Richter ausdrücklich nur auf Berufsrichter in überbesetzten Spruchkörpern bezogen, da nur insoweit eine Divergenz der beiden Senate zu verzeichnen war 476 . Im Gegenteil hat der Erste Senat in einem Beschluß zur Auslegung von § 31 Abs. 1 ArbGG die Verfassungsmäßigkeit der Zuständigkeitsbeeinflussung durch Terminierung ausdrücklich anerkannt 477. Die Terminierung des Vorsitzenden unterliege der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art. 97 GG. Die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs haben in ihrem Beschluß zur senatsinternen Geschäftsverteilung die Rechtslage hinsichtlich der Heranziehung ehrenamtlicher Richter sogar als Beleg dafür herangezogen, daß es aus Sicht der Praxis nahegelegen habe anzunehmen, der Vorsitzende sei rechtlich nicht verpflichtet, die Geschäftsverteilung bei Berufsrichtern nach abstrakt-generellen Kriterien, ohne Einzelfallermessen, vorzunehmen 478. Im Rahmen der Entscheidung betont das Gericht zwar die Fortentwicklung der Rechtsordnung und deren Auswirkung für die Form und Bestimmtheit spruchkörperinterner Geschäftsverteilungspläne; es gibt aber nicht zu erkennen, ob daraus auch Konsequenzen für die Geschäftsverteilung hinsichtlich ehrenamtlicher Richter zu ziehen sind. Sofern man sich im übrigen des Terminierungsverfahrens annimmt 479 , werden drei Gründe zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG genannt: Einerseits wird darauf verwiesen, dem Vorsitzenden seien die ehrenamtlichen Richter in der Regel nicht oder allenfalls flüchtig bekannt. Im Unterschied zu hauptamtlichen Beisitzern hätten ehrenamtliche Richter darüber hinaus die Sache vor der mündlichen Verhandlung nicht im Spruchkörper vorberaten und vor allem nicht als Berichterstatter vorbereitet 480. Da der Vorsitzende die ehrenamtlichen Richter allen476
BVerfGE 95, 322 (327), NJW 1997, 1497 ff. BVerfG NZA 1998,445 (446). 478 BGH NJW 1994,1735 (1739). Kritisch zur Bezugnahme auf die Schöffenbestellung um einen Entscheidungsfreiraum der Vorsitzenden zu begründen etwa Leisner, NJW 1995, 285 (287), der im übrigen jedoch die Einflußnahme auf die Richterbank durch Terminierung zu tolerieren scheint. 479 In den Kommentaren zu § 45 GVG und den sonstigen Vorschriften der übrigen Prozeßordnungen wird die Einflußmöglichkeit der Vorsitzenden soweit ersichtlich nicht näher problematisiert. Foth, JZ 1993, 942 scheint demgegenüber sogar geneigt, den gesetzlichen Freiraum der Vorsitzenden hinsichtlich der Besetzung der Richterbank mit ehrenamtlichen Richtern in die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzubeziehen. Daß ein solcher Schluß von einfachgesetzlichen Normen auf den Inhalt einer Verfassungsnorm dogmatisch abzulehnen ist, bedarf keiner Erläuterung. Warum sollte der Gesetzgeber darüber hinaus nicht einfachgesetzliche Normen erlassen, die verfassungsrechtlich fragwürdig erscheinen? Dies zumal die Grundrechtsdogmatik in den letzten Jahrzehnten eine ständige Weiterentwicklung durchlaufen hat, so daß bestimmte Rechtsgebiete erst im Zuge dieser Entwicklung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. 480 So etwa Sangmeister, JZ 1993,943 in der Erwiderung auf Foth, JZ 1993,942; Sangmeister scheint jedoch in seinem Beitrag in der NJW 1998,721 (729) den Sachverhalt kritischer zu be477
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falls flüchtig kenne, so offenbar die am Schutzzweck von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG orientierte Argumentation, sei er nicht in der Lage, eine gerichtliche Entscheidung durch eine gezielte Besetzung der Richterbank zu beeinflussen. Eine Einflußmöglichkeit auf die zur Entscheidung berufenen ehrenamtlichen Richter berührt nach dieser Auffassung das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht. In eine ähnliche Richtung geht der Hinweis, ehrenamtliche Richter würden weit weniger zu Sitzungstagen im Jahr herangezogen als Berufsrichter 481. Damit soll offenbar zum Ausdruck gebracht werden, ehrenamtliche Richter seien für die Geschäftsverteilung von so untergeordneter Bedeutung, daß die Einflußmöglichkeit der Vorsitzenden von Verfassungs wegen zu vernachlässigen sei. Der dritte Weg zur Begründung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Terminierung in Kenntnis der Besetzung der Richterbank setzt bei der tatsächlichen Situation ehrenamtlicher Richter an 482 . Anders als bei Berufsrichtern müsse bei den ehrenamtlichen Richtern berücksichtigt werden, daß diese zur Ausübung des Amtes verpflichtet würden. Sie erhielten für das Amt lediglich eine eher geringe Entschädigung und dürften es auch nur in den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmefällen ablehnen 483 . Die Belastungen, die eine Richtertätigkeit für diese Personen mit sich bringe, dürften demnach ein erträgliches Maß nicht überschreiten. Dieser Zumutbarkeitsgedanke müsse mit den Anforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter abgewogen werden. Eine feststehende, abstrakt-generelle Vorausbestimmung der Zuständigkeit ermögliche nicht die erforderliche Flexibilität, um die Interessen ehrenamtlicher Richter im Rahmen der Geschäftsverteilung angemessen zu berücksichtigen. c) Bewertung der Geschäftsverteilungspraxis Es ist zweifelhaft, ob die genannten Gründe von ausreichendem Gewicht sind, um die Einflußmöglichkeit der Vorsitzenden Richter verfassungsrechtlich rechtfertigen zu können484. Dies gilt zunächst für das Argument der geringen tatsächlichen Bedeutung der Tätigkeit von Laienrichtern im Vergleich zu hauptamtlichen Richtern. Selbst wenn der Stellenwert ehrenamtlicher Richter als vergleichsweise gering einzuschätzen ist, so ist er dennoch nicht ohne Bedeutung. Es handelt sich dabei nicht etwa um seltene trachten. Auch Berkemann weist in der Anmerkung zum Plenumsbeschluß des BVerfG JR1997, 278 ff., JR 1997,281 (284) daraufhin, daß eine Mißbrauchsgefahr hinsichtlich der ehrenamtlichen Richter weit geringer sei als dies bei den Berufsrichtem der Fall sei, da die ehrenamtlichen Richter dem Vorsitzenden zumeist der Person nach unbekannt seien. 481 So Katholnigg JR 1997, 284 (285) in den Anmerkungen zu BVerfG JR 1997, 278 ff. 482 Zum Folgenden Katholnigg, JR 1997, 284 (285 f.) in den Anmerkungen zu BVerfG JR 1997, 278ff.; Katholnigg, JR 1998, 34 (36f.) in den Anmerkungen zu BGH JR 1998, 33ff. 483 Siehe etwa §§ 33ff. GVG, §§ 22ff. VwGO und §§ 19ff. FGO. 484 Ablehnend BGH NJW 1994,1735 (1739); kritisch auch Katholnigg, JR 1997,284 in seinen Anmerkungen zu BVerfG JR 1997, 278 ff.
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Ausnahmefälle. Für die Situationen, in denen ehrenamtliche Richter herangezogen werden, bleibt es bei den Manipulationsmöglichkeiten. Der zahlenmäßige Umfang potentieller Einflußmöglichkeiten darf unter diesen Umständen nicht dazu führen, die Schutzfunktion von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gänzlich zurückzudrängen. Auch die Annahme, eine Manipulation sei im Grunde ausgeschlossen, da den Vorsitzenden die ehrenamtlichen Richter in der Regel nicht bekannt seien, spiegelt die Realität nicht zutreffend wider. Wie praxiserfahrene Autoren zu berichten wissen, sind die Vorsitzenden in Strafverfahren nicht selten über Besonderheiten in bezug auf bestimmte Schöffen informiert, zumindest solange die ehrenamtlichen Richter nicht erst am Anfang ihrer Tätigkeit stehen. Durch geschickte Terminierung wird auf diese Weise gelegentlich verhindert, daß ein bestimmter Schöffe mit einer bestimmten Sache befaßt wird, um Unannehmlichkeiten und eventuelle Ablehnungsanträge zu vermeiden485. Der Zumutbarkeitsgedanke, mit dem der tatsächlichen Situation ehrenamtlicher Richter Rechnung getragen werden soll, ist zwar im Ansatz zutreffend. Das darin zum Ausdruck kommende Prinzip einer nicht übermäßigen Belastung der Laienrichter findet seine Entsprechung auch nicht lediglich in den Vorschriften, die eine Begrenzung der Zahl der Sitzungstage und der Tätigkeitsjahre vorsehen 486 sowie unverhältnismäßige wirtschaftliche Nachteile verhindern wollen 487 . Es läßt sich darüber hinaus grundrechtlich verankern, nämlich in der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG sowie subsidiär in der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Verpflichtung zur Ausübung des Amtes stellt einen Eingriff in diese Grundrechte dar. Sofern die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Vorausbestimmung der Zuständigkeit die Belastung ehrenamtlicher Richter erhöht, etwa durch kurzfristig eintretende und veränderte Sitzungsverpflichtungen, liegt eine grundrechtliche Kollisionslage vor. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG tritt für diesen Fall in Widerstreit mit den Grundrechten ehrenamtlicher Richter. Beide Verfassungsgüter müssen unter diesen Bedingungen in einen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Dies kann allgemein dazu führen, daß sich die Maßstäbe des Rechtes auf den gesetzlichen Richter nicht in vollem Umfang durchsetzen können und eine weniger exakte Vorausbestimmung richterlicher Zuständigkeit als verfassungsrechtlich zulässig anzusehen ist. Betrachtet man die Auswirkungen der Geschäftsverteilungsvarianten Zuteilung durch Terminierung einerseits und schriftliche Vorausbestimmung der Zuständigkeit andererseits hinsichtlich der daraus resultierenden Belastung der Freiheitssphäre ehrenamtlicher Richter, so ergibt sich jedoch kein spürbarer Unterschied. Die Vorausbestimmung der Sitzungstage, zu denen die ehrenamtlichen Richter im Jahr herangezogen werden, erleichtert die Berufs- und Lebensplanung und trägt damit dem Ge485 486 487
So Katholnigg JR 1997, 284 (285) in den Anmerkungen zu BVerfG JR 1997, 278 ff. Siehe §§ 43 Abs. 2 und 45 Abs. 2 Satz 3 GVG sowie § 34 Abs. 1 Nr. 7 GVG. Siehe § 35 Nr. 7 GVG.
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sichtspunkt Rechnung, die Belastung erträglich zu gestalten. Davon ausgehend ist nicht ersichtlich, inwieweit die Möglichkeit, eingehende Rechtssachen in Kenntnis der Besetzung der jeweiligen Sitzungstage zu terminieren, ehrenamtliche Richter geringer belastet, als es eine schriftliche Regelung zur Folge hätte, aus der sich ermitteln ließe, welcher der eingehenden Fälle an welchem Sitzungstag zur Verhandlung anstünde. In beiden Fällen kennt der ehrenamtliche Richter die Sitzungstage, zu denen er herangezogen werden kann, im voraus. Das Argument, die Belastung ehrenamtlicher Richter zumutbar zu gestalten, ist daher nicht geeignet, die bestehenden Entscheidungsfreiräume Vorsitzender Richter zu rechtfertigen 488. Es mag mit Schwierigkeiten verbunden sein, ein Geschäftsverteilungsverfahren zu entwickeln, das problemlos zu handhaben ist und sowohl Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als auch dem Prinzip effektiven Rechtsschutzes und den Grundrechten ehrenamtlicher Richter gerecht wird 489 . Andererseits wurde deutlich, daß weder der Gedanke der Zumutbarkeit noch der Einwand, den Vorsitzenden seien die ehrenamtlichen Richter in der Regel allenfalls flüchtig bekannt, es rechtfertigen können, daß die Vorsitzenden über die Terminierung einen weitreichenden Einfluß auf die Besetzung der Richterbank erhalten. Daher sind die Gesetze über die Geschäftsverteilung hinsichtlich ehrenamtlicher Richter und die Geschäftsverteilungspraxis mit den Anforderungen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Einklang zu bringen.
B. Abwehrrechtliche Dimension - Verbot willkürlicher Anwendung von Zuständigkeitsregelungen Bisher stand der leistungsrechtliche Charakter von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Mittelpunkt, aus dem die Verpflichtung von Legislative und Gerichten erwächst, die richterliche Zuständigkeit so genau wie möglich durch Gesetze und Geschäftsverteilungspläne zu regeln. Das Recht auf den gesetzlichen Richter garantiert darüber hinaus jedoch die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung und wehrt demzufolge Verstöße der hoheitlichen Gewalten gegen entsprechende Gesetze und Geschäftsverteilungspläne ab. 488 Von Bedeutung ist der Zumutbarkeitsgedanke, unabhängig von der Art der Geschäfts Verteilung, etwa für die Frage der Verlegung von Sitzungstagen, sofern man, wie im Strafverfahren (siehe BGHSt 41,175 [177] m. w. N., NJW 1996,267; BGH NJW 1998,390ff.), die Besetzung des verlegten Sitzungstages für maßgeblich hält. In diesem Fall müssen sich die Schöffen auf unvorhergesehene Terminänderungen einstellen. 489 Siehe Katholnigg, JR 1997,284 (285), der in der Anmerkung zu BVerfG JR 1997,278 ff. den Gedanken aufwirft, man könnte nach Eingang einer Sache die Schöffen dieser Sache zulosen, die in der Folge an allen für dieses Verfahren angesetzten Terminen teilzunehmen hätten. Allerdings verwirft er diesen Gedanken unmittelbar im Anschluß, da er eine solche Lösung, angesichts der Unruhe, die bei Terminverlegungen auf die private Lebensführung der Schöffen zukäme, letztlich für unzumutbar hält. Auch die Auswirkungen auf die Rechtspflege, an einem Sitzungstag unter Umständen mit mehreren verschiedenen Schöffenpaaren verhandeln zu müssen, hält er in diesem Zusammenhang für nicht zumutbar.
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Eine fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitsregelungen kann durch unterschiedliche Hoheitsträger erfolgen. Je nachdem, an welchen Adressaten die Bestimmung gerichtet ist, kann unterschieden werden zwischen Fehlern der Exekutive, vor allem der Staatsanwaltschaft, bei Anwendung von Zuständigkeitsnormen, Fehlern der Richter bei Anwendung der Geschäftsverteilungspläne sowie der Zuständigkeitsgesetze. Im Zentrum der folgenden Untersuchung steht die Frage, unter welchen Bedingungen eine fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitsnormen durch die Judikative einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt (dazu I. und II.). Weit weniger Beachtung im Rahmen der Diskussion um den abwehrrechtlichen Gehalt des Rechtes auf den gesetzlichen Richter wird dem Problem geschenkt, ob ein Grundrechtsverstoß auch bei fehlerhafter Normanwendung durch die Exekutive sowie Verstößen von Richtern gegen Geschäftsverteilungspläne voraussetzt, daß ein besonders schwerwiegender Anwendungsfehler vorliegt (dazu III.).
I. Problemaufriß Die Gesetze, aus denen sich die Zuständigkeit der Gerichte ergibt, gestalten den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aus. Diese Bestimmungen - und die Geschäftsverteilungspläne - sind konstitutiv für die rechtliche Wirkung der Verfassungsnorm. Ohne eine gesetzliche Zuständigkeitsordnung liefe der Grundrechtsschutz leer. Diese Charakteristik grundrechtlicher Leistungsrechte mit normgeprägtem Gewährleistungsbereich 490 wäre für die Abwehr fehlerhafter Normanwendungen durch die Judikative ohne besondere Bedeutung, wenn jeder Verstoß gegen die Zuständigkeitsgesetze, die den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ausgestalten, zugleich als Grundrechtsverletzung einzustufen wäre. Das Bundesverfassungsgericht verfolgt jedoch einen konträren Weg und nimmt eine qualitative Abstufung vor zwischen Normverstößen auf der Ebene des einfachen Rechts und fehlerhaften Rechtsanwendungen, die nicht nur einfaches Gesetzesrecht verletzten, sondern darüber hinaus mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter kollidieren. Eine lediglich rechtsirrtümliche gesetzes widrige Annahme einer Zuständigkeit, ein sogenannter error in procendo, begründet danach keinen Grundrechtsverstoß. Die Grenze zur Grundrechtswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung und Anwendung einfachen Zuständigkeitsrechts willkürlich erscheint. Ungeachtet der vagen inhaltlichen Konturen, die das Willkürverbot nach der Rechtsprechung des Gericht aufweist und der daraus resultierenden Schwierigkeiten einer Handhabung dieser Maßstäbe (dazu II. 1. und 2.), ist es jedoch bereits grund-
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Zur leistungsrechtlichen Dimension siehe § 4 Α. 1.1, S. 63 ff.
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sätzlich fraglich, ob die Verankerung eines solchen rechtlichen Gehaltes in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dogmatisch zu begründen ist (dazu II. 3.).
II. Willkür als Maßstab für Grundrechtsverletzungen der Judikative 1. Inhalt des Willkürverbotes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Annahme des Gerichts, es bestehe ein Unterschied zwischen Normanwendungsfehlern auf der Ebene des einfachen Rechts und Grundrechtsverstößen, beruht auf folgenden Erwägungen. Dem Bundesverfassungsgericht komme nicht die Aufgabe zu, jeden Verfahrensfehler der Fachgerichte, der die richterliche Zuständigkeitsordnung betreffe, zu korrigieren. Vielmehr bleibe die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechtes Aufgabe der Fachgerichte und sei der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, solange keine Fehler offenbar würden, die von einer grundsätzlich falschen Beurteilung der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere des Umfangs seines Schutzbereichs, zeugten. Die Auslegung verfahrensrechtlicher Bestimmungen wird auf dieser Grundlage nur dann durch das Bundesverfassungsgericht beanstandet, wenn sie willkürlich erscheint. Unter Willkür wird verstanden, daß die einer Entscheidung zugrundeliegende Auslegung der einschlägigen Norm, bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken, nicht mehr verständlich beziehungsweise offensichtlich unhaltbar erscheint oder sich derart weit von der auszulegenden Norm entfernt hat, daß sich der Schluß aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen 491. Weitere Umschreibungen von Willkür sind die „offensichtliche Fehlerhaftigkeit"
491 Siehe BVerfGE 3,359 (364f.); 4,412 (416f.); 6,45 (53); 9,213 (215f.); 11,264 (265); 13, 132 (143); 14, 72 (73); 15, 245 (248); 17, 294 (298f.); 18, 440 (447f.); 19, 38 (42f.); 22, 254 (266); 29, 166 (172f.); 31,145 (169,171 f.); 42, 237 (241 f.); 82,159 (194f.); 87, 273 (278f.); 87,282 (284ff.); BVerfG NJW 1991,1893 f.; BVerfG NJW 1993,1607 (zu §§24 Abs. 1 Nr. 2,74 Absatz 1 Satz 2 GVG); BVerfG ZIP 1995, 2010 (2011); BVerfG NJW 1995, 2912ff. (zur Anwendung der Normen über die Ablehnung eines Richters im Strafverfahren, die nach der hier zugrundegelegten Dogmatik nicht unter den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fallen); BVerfG NJW 1995, 2914; BVerfG NJW 1996, 116f.; BVerfG NVwZ 1997, 481; BVerfG NZA 1998,445 f. (zu § 31 Abs. 1 ArbGG); BVerfG NVwZ 1998,1285 f.; BVerfG NJW 1998,2811 (2813); BVerfG NJW 1998,3484; BVerfG NJW 1999,1390. Siehe auch BFH NJW 1998, 335 (336); BayVerfGH, NJW-RR 1998, 1774f.; OVG Greifswald NVwZ-Beilage 1998, 109 f. zur Anwendung von § 76 Abs. 1 AsylVfG; OLG Bremen NStZ-RR 1998,53 zur Anwendung von § 28 GVG. Zur Frage der Willkür bei Verkennung der sachlichen Zuständigkeit in Strafsachen siehe Schäfer, DRiZ 1997, 168 ff.
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oder „Unhaltbarkeit" sowie die „sachliche Unvertretbarkeit" einer Entscheidung492. Es muß eine „krasse Fehlentscheidung" vorliegen 493. Sofern allerdings ein von der Ausübung des Amtes ausgeschlossener Richter an einer Entscheidung mitgewirkt hat, soll die Kontrollintensität nicht auf ein Willkürverbot reduziert sein494. Ein Verfahrensirrtum sei nämlich begrifflich ausgeschlossen, wenn eine außerhalb der Gerichte stehende Person handele. Sofern ein Richter allgemein oder für eine bestimmte Sache ausgeschlossen sei und daher keine richterliche Funktion wahrnehmen dürfe, handele er wie eine außerhalb der Gerichtsorganisation stehende Person, so daß auch für diesen Fall die Kontrollintensität nicht eingeschränkt sei. Der soeben skizzierte, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zugeschriebene abwehrrechtliche Gehalt klingt wie eine Übertragung der Merkmale, die das Bundesverfassungsgericht für das - in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte - allgemeine verfassungsrechtliche Willkürverbot als prägend ansieht495. In der Tat war es eine Entscheidung zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, in der sich das Gericht zum ersten Mal mit der Frage auseinandersetzte, wann eine Gerichtsentscheidung als willkürlich einzustufen ist 496 . Darin stützte sich das Gericht noch auf die vorab erwähnte Unterscheidung von Willkür und irrtümlich falscher Auslegung, ohne näher zu definieren, was unter Willkür in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. In späteren Entscheidungen zu Verstößen der Judikative gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter wird demgegenüber ausdrücklich auf die allgemeine Willkürformel Bezug genommen: „Von Willkür kann aber nur die Rede sein, wenn die Entscheidung eines Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, daß sie nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dies bedeutet, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch durch eine gerichtliche Entscheidung verletzt wird, die bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist" 497 .
492 Siehe BVerfGE 62, 189 (192); 87, 273 (279); 34, 325 (328f.). Weitere Beispiele werden etwa von Weyreuther, DVB1. 1997,925 (930) und Rodi, DÖV 1989, 750 (752) genannt. 493 BVerfGE 89, 1 (14). 494 Siehe BVerfGE 4, 412 (416ff.); 11,1 (4); 30,165 (167); 48, 246 (263); 63, 77 (79f.). 495 Dazu BVerfGE 80, 48 (51 ff.); 81, 132 (137 f.); 83, 82 (84); 86, 81 (87); BVerfG NJW 1999, 1387 ff. Zur Geschichte und Entwicklung des Willkürverbotes siehe Schweiger, in: FS BayVerfGH, S. 55 ff.; Kirchhof, in: FS Geiger, S. 82 (89f.). Zum Willkürbegriff des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG siehe Stern, Staatsrecht III/l, S. 1495 ff. mit Nachweisen zum Schweizerischen Bundesgericht und zum Supreme Court der USA auf S. 1496 mit Anm. 374 sowie Heun, in: Dreier, Art. 31 GG Rn. 17 ff. 496 BVerfGE 3, 359 (364f.). 497 BVerfGE 29, 45 (49) unter Verweis auf BVerfGE 6, 45 (53); 19, 38 (43). Zu diesem Zusammenhang zwischen dem Willkürverbot und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und der im folgenden dargestellten Entwicklung siehe bereits Höfling, JZ 1991, 955 (962).
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Bei genauer Betrachtung insbesondere der neueren Rechtsprechung des Ersten Senats legt das Gericht einer Kontrolle von Verstößen der Judikative gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch teilweise ein differenzierteres Prüfungsprogramm zugrunde, als es dem strukturell sehr offenen Willkürverbot entspricht. Zu verzeichnen ist dabei eine - punktuelle - Verknüpfung des materiell-rechtlichen Willkürmaßstabes mit dem funktionell-rechtlichen Problemzusammenhang eine Abgrenzung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte. Dieser Problemzusammenhang mündet in die Frage, wie intensiv fachgerichtliche Entscheidungen einer inhaltlichen Überprüfung im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden unterzogen werden sollen498. Als Essenz der Bemühungen des Bundesverfassungsgerichts, die eigene Prüfungskompetenz gegenüber den Fachgerichten abzugrenzen, gilt die sogenannte Hecksche Formel 499, nach der nur sogenannte spezifische Verfassungsrechtsverletzungen durch die Gerichte einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen und nicht etwa Entscheidungen, die, gemessen am einfachen Recht, objektiv fehlerhaft sind. Der Erste Senat hat die Anwendung dieser Formel auf das Prozeßrecht mit dem Ziel modifiziert, eine Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen zu erreichen, die über eine bloße Willkürkontrolle hinausgeht500. In einer Entscheidung zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG haben die Richter verdeutlicht 501, das Bundesverfassungsgericht habe nicht abschließend darüber befunden, wann bei einer fehlerhaften Anwendung von Zuständigkeitsgesetzen durch die Gerichte die Grenze zu einem Verfassungsverstoß überschritten sei. Der ursprünglich zugrunde gelegte Prüfungsmaßstab, nachdem ein Grundrechtsverstoß dann angenommen wurde, wenn die Gerichte eine Zuständigkeitsvorschrift willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ausgelegt hatten, bedürfe, in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Prozeßgrundrecht auf rechtliches Gehör, einer Ergänzung. Eine verfassungswidrige Zuständigkeitsentscheidung liege danach vor, wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkenne.
498 Siehe Hill, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 156 Rn. 54 mit Anm. 196, der beide Ansätze zur Begründung des in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Willkürverbotes nebeneinander nennt. Zum Gesichtspunkt der Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten und einer darauf basierenden Abgrenzung der Prüfungskompetenz siehe Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 276. Den funktionell-rechtlichen Ansatz zur Kompetenzabgrenzung des Bundesverfassungsgerichts allgemein erörtert Heun, Verfassungsgerichtsbarkeit. 499 Benannt nach dem Richter am Bundesverfassungsgericht Karl Heck, siehe BVerfGE 18, 85 (92f.); 35, 202 (219) und Herzog, in: FS Dürig, S. 431 (433,437). 500 Siehe zunächst BVerfGE 51,188 (192); 59,330 (333ff.); 62,249 (254), sodann BVerfGE 75,302 (312 ff.). Dazu auch Höfling, JZ 1991,955 (961 f.) und bereits Ossenbühl y in: FS Ipsen, S. 129(131). 501 BVerfGE 82, 286 (299).
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Auch am Beispiel der Pflicht, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften über die in Art. 234 Abs. 1 EG-Vertrag 502 genannten Fragen herbeizuführen, wird deutlich, daß die inhaltliche Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht nicht durchgängig auf eine Willkürpüfung beschränkt ist, sondern stellenweise relativ eindeutige Konturen aufweist. Ein Gericht hat die Herbeiführung einer Vorabentscheidung gemäß Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann grundrechtswidrig unterlassen, wenn eine Vorlage überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde, ein Gericht bewußt von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweicht oder, sofern zu einem bestimmten Problem noch keine Rechtsprechung zu verzeichnen ist, sich auf Mindermeinungen stützt, um eine im Europarecht umstrittene Frage zu beantworten 503. Ein strengerer Maßstab gilt darüber hinaus für die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 2 GG, sofern es in einem Rechtsstreit zweifelhaft ist, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt. Während das Gericht bei Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG einen Grundrechts verstoß nur bei willkürlichem Handeln der Gerichte annimmt504, verstößt die Nichtvorlage im Rahmen von Art. 100 Abs. 2 GG grundsätzlich gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, obwohl objektiv betrachtet ernsthafte Zweifel bestehen, daß eine bestimmte Regel als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG anzusehen ist 505 . Allerdings besteht hinsichtlich dieser beiden Sachverhalte die Besonderheit, daß die Maßstäbe für die Kontrolle der Vorlageentscheidung der Gerichte im ersten Fall dem EG-Vertrag und im zweiten Fall unmittelbar dem Grundgesetz (Art. 100 Abs. 2 GG) entnommen werden. Es geht demnach nicht, wie im Falle der sonstigen Zuständigkeitsvorschriften, um die Anwendung einfachen bundesrepublikanischen Gesetzesrechts. Aus der bisherigen Darstellung ging hervor, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sich in Ansätzen davon entfernt hat, die Anwendung von Zuständigkeitsvorschriften durch die Judikative lediglich dem offenen Maßstab einer Willkürkontrolle zu unterziehen. Dennoch ergibt sich aus den Entscheidungen zur Bin502 Art. 177 EG-Vertrag in der Numerierung vor Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 01.05.1999. 503 Siehe zunächst BVerfGE 29,198 (208) sowie BVerfGE 73, 339 (366 ff.), wo noch auf das Willkürkriterium abgestellt wurde. Zu den genannten Kriterien einer Prüfung siehe jedoch BVerfGE 73, 339 (365f.); 75, 223 (233ff.); 82, 159 (195f.); NVwZ 1993, 884; NVwZ 1997, 481; NJW 1998, 2811 (2813); NVwZ 1998, 1285f. sowie Arnold, in: FS Neumayer, S. 17ff.; Schiller, RIW 1988, 452ff.; Wölker, EuGRZ 1988, 97ff.; Zimmermann, in: FS Doehring, S. 1033ff.; Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Band VII, § 182 Rn. 69 und Degenhart, in: Sachs, Art. 101 GG Rn. 19. 504 Siehe BVerfGE 13,132 (143); 17,99 (104); 18,441 (447); 45,142 (181); 76,93 (96); 87, 282 (285). 505 BVerfGE 23, 288 (320); 64, 1 (20f.).
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dung der Gerichte an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG insgesamt kein homogenes Bild. Die Grenze zwischen nur fehlerhafter Normanwendung einerseits und Grundrechtsverstoß andererseits wird nicht eindeutig erkennbar. Dafür ist nicht nur der Umstand verantwortlich, daß bereits das, vom Bundesverfassungsgericht als Ergänzung und Präzisierung des Willkürmaßstabes verstandene, Merkmal einer grundlegenden Verkennung von Tragweite und Bedeutung inhaltlich vage erscheint und dadurch erheblichen Interpretationsspielraum bietet. Nach welchen Kriterien zu beantworten ist, daß ein Gericht Tragweite und Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG lediglich verkannt hat, mit der Folge, daß ein Grundrechtsverstoß noch nicht gegeben ist und wann den Richtern eine - grundrechtswidrige - grundlegende Verkennung dieser Umstände vorzuwerfen ist, ist einer befriedigenden Antwort kaum zugänglich. Es gibt daher nur wenige Fälle, in denen ausdrücklich von einem willkürlichen Handeln der Gerichte ausgegangen wurde 506.
2. Unzulänglichkeiten des Willkürmaßstabes Ungeachtet der Tatsache, daß sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine hinreichend deutlichen Konturen eines Verstoßes der Judikative gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Anwendung von Zuständigkeitsvorschriften entnehmen lassen, sieht sich der Willkürmaßstab bereits grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt. Auf die seit längerem und wiederkehrend in der Literatur geäußerten Kritikpunkte soll dabei nur hingewiesen werden 507. Der Anwendungsbereich der Verfassungsnorm werde nicht nur von einer Grundvoraussetzung des Gleichheitsmaßstabes, das Vorhandensein von Vergleichspaaren, gelöst. Die Konturen des Willkürbegriffs wiesen darüber hinaus einen Grad an Offenheit und Unbestimmtheit auf, der dem Bundesverfassungsgericht einen nicht zu rechtfertigenden Freiraum bei der Be506 Als Beispiele aus der Rechtsprechung und Literatur für die Annahme einer willkürlichen Anwendung einfachen Zuständigkeitsrechts mit der Folge eines Grundrechtsverstoßes sei auf BVerfG NJW 1991, 2893f.; BVerfG NJW 1996, 116f.; Hillgruber, NVwZ 1999, 153ff. und Sangmeister, JuS 1999, 21 ff. zur Auslegung von § 16 Abs. 1 BVerfGG durch den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 1998, 519 ff.) sowie Schmitz, NStZ 1998, 165 (171) zur Anwendung der Vorschriften über den zuständigen Richter gemäß §§115,115a StPO im Falle einer Verhaftung verwiesen. Zur gleichen Vorschrift siehe außerdem Nibbeling, ZRP 1998, 342ff. 507 Zur Kritik am Willkürmaßstab siehe Bettermann, AöR 1969, 274 (280ff.); Kellermann, Probleme, S. 135 ff.; Müller, Rechtsstaat, S. 127ff.; Huster, Rechte, S. 15 ff. sowie 164ff.; Kirchberg, NJW 1987, 1988 (1992f.); Kothe, DÖV 1988, 284 (285, 289); Leisner, NJW 1989, 2446 (2448 ff.); Rodi, DÖV 1989,750 (760 ff.); Sangmeister, NJW 1996,827 (829); Sachs, JuS 1997, 124ff.; Krugmann, JuS 1998, 7ff.; Starck, in: Gleichheitssatz, S.51 (60/); ders., in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 12; Winter, in: FS Merz, S. 611 (620ff.) jeweils mit weiteren Nachweisen. Stürner, JZ 1986,526 (532) rügt methodische Unklarheiten hinsichtlich des Verhältnisses von Art. 3 Abs. 1 GG zu dem durch die fehlerhafte Rechtsanwendung verletzten Grundrecht. Demgegenüber plädieren Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36ff. für eine Beibehaltung der Willkürprüfung als Ausgangspunkt einer nach Gegenstand und Merkmalen im übrigen abgestuften Prüfung, die bis zu einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle reichen könne.
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wertung fachgerichtlicher Entscheidungen ermögliche. Die Anwendung der im Zusammenhang mit dem Willkürbegriff verwendeten Formeln, etwa „deutlich verfehlend" 508 , „grundlegend verkannt" 509, „sachlich unvertretbar" 510 sowie „unhaltbar" 511 entziehe sich einer rationalen Auseinandersetzung512. Schließlich wird moniert, der Willküransatz sei kontraproduktiv, da er wörtlich verstanden, nämlich als Kontrolle, ob das jeweilige Fachgericht einfaches Gesetzesrecht schlechthin unverständlich oder grob fehlerhaft ausgelegt hat, zu einer Ausweitung der Püfungskompetenz und einer spürbaren Mehrbelastung des Bundesverfassungsgerichts führe 513. Hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im speziellen bereitet es darüber hinaus Schwierigkeiten, den objektiven Willkürmaßstab mit dem Gegensatzbegriff des Verfahrensirrtums in Einklang zu bringen. Die Beurteilung, ob eine irrtümlich fehlerhafte Auslegung einer Norm vorliegt, kann nur über die Analyse der subjektiven Einstellung der Richter erfolgen. Logisch betrachtet kann der Gegensatzbegriff zur Bewertung eines Anwendungsfehlers ohne die Einbeziehung der Beweggründe desjenigen, der die Norm angewendet hat, nicht auskommen. Da eine willkürlich fehlerhafte Auslegung den Gegensatz zum error in procendo bildet, kommt ein Irrtum im Fall der Willkür nicht in Betracht. Es könnte sich bei Willkür also eigentlich ausschließlich um Auslegungsfehler handeln, die in Kenntnis des abweichenden Inhalts der Norm erfolgten, also um bewußten Rechtsbruch. Davon ist jedoch keine Rede. Vielmehr soll es im Rahmen der Willkür um objektiv schwerwiegende Verstöße gehen, ohne daß damit ein subjektiver Schuldvorwurf verbunden sein soll. Mit dieser Definition wird die Tatsache verschleiert, daß die Feststellung von Willkür ohne eine Einbeziehung subjektiver Beweggründe desjenigen, der gehandelt hat, nicht auskommt und daß mit dem Vorwurf der Willkür untrennbar ein gravierender Schuldvorwurf gegenüber den Richtern des Fachgerichts verbunden ist 514 . Sofern das Bundesverfassungsgericht Willkür annimmt, wenn sich der Eindruck aufdränge, die Entscheidung beruhe auf sachfremden Erwägungen 515, so bestätigen die Richter, daß subjektive Beweggründe der normanwendenen Personen eine Rolle spielen. Ohnehin ist es für einen Richter des Fachgerichts im Ergebnis unerheblich, ob der Vorwurf des bewußten Rechtsbruchs erhoben wird oder der Anwendungsfehler objektiv betrachtet darauf schließen läßt, die Anwendung habe auf sachfremden Erwägungen beruht, ohne den jeweiligen Richtern einen solchen Fehler tatsächlich vorzuwerfen. In beiden Fällen wird er den Vorwurf der Willkür als Schuldvorwurf empfinden.
508 509 5,0 511 512 513 514 515
BVerfGE 81, 347 (360). BVerfGE 82, 286 (299). BVerfGE 34, 325 (328 f.). BVerfGE 87, 273 (279). Siehe Weyreuther, DVB1. 1997, 925 (930f.). Zu dieser Argumentation siehe etwa Benda, NJW 1997, 560 (561). Dazu Sangmeister, NJW 1996, 827 (829); Günter, DRiZ 1996, 157 f. BVerfGE 19, 38 (43); 86, 59 (63).
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Fragen bleiben schließlich in bezug auf die Annahme, die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters bedinge in jedem Fall und ohne, daß es der Feststellung eines willkürlichen Handelns bedürfe, einen Grundrechtsverstoß 516. Soweit als Grund für eine Willkürprüfung im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch der Umstand angesehen wird, das Recht auf den gesetzlichen Richter sei als besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatz anzusehen, ist nicht ersichtlich, warum dieser Maßstab nicht für solche Richter gelten soll, die von der Mitwirkung ausgeschlossen sind. Im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG gilt der Willkürmaßstab für alle hoheitlichen Gewalten517. Insofern wäre es folgerichtig, das Verhalten ausgeschlossener Richter den gleichen Maßstäben zu unterwerfen. Der Verstoß gegen die einfachgesetzliche Vorschrift, die ein Mitwirken ausgeschlossener Richter verbietet, ist ohnehin ein Problem der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art. 97 Abs. 1 GG und nicht des Rechtes auf den gesetzlichen Richter 518.
3. Dogmatische Begründung des Willkürverbotes Ungeachtet der Kritik an der inhaltlichen Struktur des Willkürverbotes bedarf einer Klärung, auf welcher dogmatischen Grundlage die Auffassung des Gerichts basiert, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verhindere lediglich willkürlich fehlerhafte Rechtsanwendungen durch die Judikative. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht stößt man auf zwei unterschiedliche Ansätze: einerseits die Annahme, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei eine besondere Ausprägung beziehungsweise ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes; andererseits die auf das Problem des Verhältnisses von Fachgerichten und Bundesverfassungsgerichts fokusierte Sichtweise, das Willkürverbot definiere spezifische Verfassungsverstöße der Fachgerichte im Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter. Dies läuft auf die Annahme hinaus, der Gewährleistungsbereich enthalte lediglich einen derart umschriebenen abwehrrechtlichen Gehalt. Wie zu sehen war, wird eine Analyse des dogmatischen Unterbaus durch den Umstand erschwert, daß das Bundesverfassungsgericht zwei Gesichtspunkte nicht immer deutlich unterscheidet: die materiell-rechtliche Überlegung, aus dem Gewährleistungsbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG resultiere ein Willkürverbot als Maßstab gerichtlicher Anwendung gesetzlicher Zuständigkeitsnormen und die Notwendigkeit einer Abgrenzung der Funktion des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Instanzgerichten der Fachgerichtsbarkeiten, die es erforderlich mache, bei Urteilsverfassungsbeschwerden die Kontrollintensität auf qualifizierte Anwendungsfehler zu beschränken. Da es sich insoweit um zwei unterschiedliche dogmatische 516
BVerfGE 48,246 (263); 63,77 (79 f.), siehe unter dem vorstehenden Gliederungspunkt 1., S. 209. 517 Siehe Heun, in: Dreier, Art. 31 GG Rn 17ff.; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Art. 3 GG Rn. 13 ff. sowie Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3 GG Rn. 11, 23 ff. 518 Zum Verhältnis von Art. 97 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe § 3 Β. 1.2., S. 50ff.
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Begründungsansätze handelt, werden beide Gesichtspunkte im folgenden voneinander getrennt erörtert (dazu a) und b)). Maßgeblich für die Beantwortung der Frage, welchen abwehrrechtlichen Gehalt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber der Gesetzesanwendung der Judikative aufweist, ist allerdings allein die grundrechtsdogmatische Struktur des Grundrechts selbst (dazu c)). a) Recht auf den gesetzlichen Richter als spezieller Gleichheitssatz oder Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes Der eingeschränkte Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts gegenüber fachgerichtlichen Entscheidungen wird häufig damit begründet, das Recht auf den gesetzlichen Richter sei eine spezielle Ausprägung beziehungsweise ein Anwendungsfall des in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten allgemeinen Gleichheitssatzes. Da der allgemeine Gleichheitssatz nur vor willkürlichem Handeln schütze, gelte ein solcher Maßstab auch für das Prinzip des gesetzlichen Richters 519. Es ist jedoch fraglich, ob damit das Verhältnis von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu Art. 3 Abs. 1 GG zutreffend beschrieben ist. Die speziellen Gleichheitssätze unterscheiden sich nach der Systematik des Grundgesetzes von Art. 3 Abs. 1 GG dadurch, daß sie es untersagen, bestimmte Differenzierungskriterien oder Differenzierungsziele zum Anknüpfungspunkt einer Unterscheidung zu machen. Dies gilt für Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 5 GG sowie Art. 33 Abs. 3 GG. Die zweite Gruppe von besonderen Gleichheitsgarantien erstreckt das Gleichbehandlungsgebot, im Unterschied zur allgemeinen Geltung des Art. 3 Abs. 1 GG, ausschließlich auf bestimmte Lebensbereiche, wie dies für das Prinzip der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie die staatsbürgerliche Rechte- und Pflichtengleichheit gemäß Art. 33 Abs. 1 GG und die in Art. 33 Abs. 2 GG verankerte Gleichheit des Zugangs zu öffentlichen Ämtern der Fall ist 520 . Insofern könnte man Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der zweiten Gruppe von besonderen Gleichheitsgarantien zuordnen. Ähnlich wie Art. 38 Abs. 1 GG oder Art. 33 Abs. 2 GG das Gebot der Gleichbehandlung speziell 519
Siehe BVerfGE 87, 282 (284ff); BVerfG NJW 1996, 116f.; Reichl, Probleme, S. 53 mit Anmerkung 48; Kellermann, Probleme, S. 135; Marx, Richter, S. 67f.; Henkel, Richter, S. 20f., 50f. und 88ff.; Bettermann, AöR 1969, 263 (284 m. N.); ders., in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner, Dritter Band 2. Halbband, S. 523 (556); Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. 1 GG Rn. 48 f.; Lange, RdA 1975, 106 (112); Starck, in: Gleichheitssatz, S. 51 (61 f.); Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 1 GG Rn. 9f. zu Parallelen zwischen Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 124 Rn. 241; Hill, in: Isensee/Kirchhof, Band VI, § 156 Rn. 54; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 33; Winter, in: FS Merz, 611 (614ff.); Rodi, DÖV 1989, 750 (760f.). Bereits Menzel, Ausnahmegerichte, S. 88 hob hervor, die in Art. 105 WRV gewährleistete Gesetzlichkeit bedeute dasselbe wie die Bezugnahme auf das Gesetz in Art. 109 WRV, da die Gleichheit aller als die einem jeden Gesetz immanente Voraussetzung gedacht werden müsse. 520 Zu den besonderen Gleichheitsgarantien und deren Verhältnis zu Art. 3 Abs. 1 GG siehe nur Sachs, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 126.
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für den dort geregelten Lebensbereich garantieren, so ließe sich argumentieren, dient Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Verwirklichung einer gleichen Behandlung aller Rechtsunterworfenen für das Gebiet der gerichtlichen Zuständigkeit. Einer solchen Argumentation ist zuzugestehen, daß eine perfekte gesetzliche Zuständigkeitsordnung dazu führt, daß die Rechtsunterworfenen, hinsichtlich der richterlichen Gewalt, der sie unterworfen werden, unterschiedslos den gleichen rechtlichen Bedingungen unterliegen und nicht etwa einem Gericht von Fall zu Fall nach Belieben zugewiesen werden. Ein Rechtssuchender, der entgegen bestehender Zuständigkeitsregeln einem Gericht zugeweisen wird, wird nicht nur dem gesetzlichen Richter entzogen, sondern auch im Vergleich zu allen anderen, nach der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung behandelten Personen, ungleich behandelt521. Insofern kann davon gesprochen werden, das Recht auf den gesetzlichen Richter verwirkliche die Rechtsgleichheit auf dem Gebiet richterlicher Zuständigkeit. Im Unterschied zu den speziellen Gleichheitssätzen wird das Gebot der Gleichbehandlung beziehungsweise ein Diskriminierungsverbot in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings nicht ausdrücklich formuliert. Dieses gesetzestechnisch-formalé Argument hat einen inhaltlichen Hintergrund. Ziel der Aufnahme von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in die Verfassung ist es, richterliche Zuständigkeit für jedermann vorhersehbar zu gestalten, um Manipulationen zu verhindern. Das Mittel, um diese Vorhersehbarkeit zu erreichen, ist das Gesetz. Der Gesetzesbegriff ist seiner Natur nach auf Allgemeinheit, Abstraktheit und Dauer gerichtet 522. Eine zusätzliche Auswirkung der durch Gesetz ausgestalteten Zuständigkeitsordnung ist es daher, daß alle Rechtsunterworfenen gleich behandelt werden. Abgesehen vom Ausnahmefall der Einzelfallgesetze, ist es jedoch die Eigenheit aller Gesetze, Rechtsgleichheit für die dem Gesetz Unterworfenen zu schaffen. Rechtsgleichheit in diesem Sinne bewirkt auch der Gesetzgeber, der die Eigentumsordnung ausgestaltet mit der Folge, daß alle Rechtsunterworfenen gleichermaßen den Inhaltsbestimmungen des Eigentums unterliegen. Der Zusammenhang, der zwischen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und dem allgemeinen Gleichheitssatz besteht, sollte daher nicht zum Anlaß genommen werden, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Gleichheitsgrundrecht einzustufen mit der grundrechtsdogmatischen Konsequenz, den abwehrrechtlichen Gehalt gegenüber der Judikative auf willkürliche Gesetzesanwendungen zu beschränken523.
521
Dazu bereits Lange, RdA 1975, 106 (112). In diesem Zusammenhang steht auch die in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Forderung der allgemeinen Geltung von grundrechtsbeschränkenden Gesetzen, siehe dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 191 GG Rn. 9f., der Parallelen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufzeigt. 523 Ebenso Sachs, in: Isensee/Kirchhof, Band V, § 126 Rn. 4. 522
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b) Willkür als Definition „spezifischer Verfassungsverstöße " der Judikative Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet zwischen Gesetzesverstößen auf der Ebene des einfachen Rechts und Grundrechtsverletzungen danach, ob eine gerichtliche Entscheidung eine sogenannte spezifische Verfassungsrechtsverletzung enthält 524 . Eine derartige Abgrenzung wurde erforderlich, nachdem das Gericht seine Prüfungskompetenz bei Verfassungsbeschwerden ausgeweitet und eine Verletzung des jeweiligen Grundrechts bereits dann angenommen hat, wenn das eingreifende oder zum Eingriff ermächtigende Gesetz gegen irgendeine Bestimmung der Verfassung verstößt 525. Darüber hinaus löste sich das Gericht im Falle der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde vom eigentlichen Prüfungsmaßstab und nimmt für sich seither in Anspruch, den Beschwerdegegenstand (Exekutivakt, Gerichtsentscheidung oder Gesetz) auf die Einhaltung sonstigen Verfassungsrechts zu überprüfen 526. Konsequent zu Ende gedacht bedeutete dies, daß auch der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Vorrang des Gesetzes Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde wäre. Dies wiederum hätte zur Folge, daß eine Gerichtsentscheidung, die gegen einfachgesetzliche Normen verstößt und daher mit dem verfassungsrechtlichen Vorrang des Gesetzes kollidiert, ein spezielles Grundrecht, jedenfalls aber die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, verletzte. Um jedoch zu verhindern, daß das Bundesverfassungsgericht, gleichsam als weitere Rechtsmittelinstanz, die Auslegung einfachen Rechts durch die Gerichte in vollem Umfang überprüft, entwickelte das Gericht Kriterien zur Reduzierung des eigenen Prüfungsumfangs und zur Ermittlung derjenigen fehlerhaften Gerichtsentscheidungen, d i e - i m Sinne der „Heckschen Formel" - spezifisches Verfassungsrecht verletzen. Der auf diese Weise reduziert Prüfungsumfang gilt zunächst für die sogenannten klassischen Freiheitsrechte, deren Gewährleistungsbereich in keinem direkten Abhängigkeitsverhältnis zur einfachgesetzlichen Rechtsordnung steht. So müssen die Zivilgerichte bei der Auslegung der Vorschriften des Zivilrechts, etwa des Deliktsrechts, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Parteien berücksichtigen 527. Das Prinzip des gesetzlichen Richters weist demgegenüber die Besonderheit auf, daß es, wie etwa Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG, einen normgeprägten Schutzbereich hat. Ohne den einfachgesetzlichen Unterbau vermag Art. 101 Abs. 1 Satz 2 524
Siehe nur BVerfGE 61, 1 (6); 62, 338 (343); 65, 317 (322); 81, 278 (289f.); 83, 130 (145 f.); 89,214 (234). Zur Entwicklung der Rechtsprechung und zum Problemzusammenhang sei auf Papier, in: Bundesverfassungsgericht, S. 432ff.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 27ff.; Bender, Befugnis; Herzog, in: FS Dürig, S. 431 ff. sowie Klein, in: FS Stem, S. 1135 (1139) verwiesen. 525 Seit dem „Elfes-Urteil" BVerfGE 6, 32 (41); siehe weiterhin BVerfGE 9, 83 (87 f.); 13, 181 (190); 38, 281 (298f.); 74, 129 (152). 526 BVerfGE 42, 312 (325 f.); 70, 138 (162). 527 Siehe BVerfGE 43, 130 (137); 61, 1 (7).
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GG die Gesetzlichkeit der Richter nicht zu garantieren. Es besteht daher eine verfassungsrechtlich vorgegebene Verknüpfung einfachen Rechts mit dem grundrechtlichen Gewährleistungsbereich. Dieser Umstand gestaltet eine Grenzziehung zwischen Auslegungsfehlern auf der Ebene des einfachen Rechts und solchen, unzutreffenden Auslegungen derselben einfachgesetzlichen Normen, die - zugleich - gegen das Grundrecht verstoßen unter der Prämisse zwangsläufig schwierig 528, daß nicht jeder Verstoß gegen die Gesetze, die den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich ausgestalten, ein Grundrechtsverstoß sein soll. Wo endet auf dieser Grundlage der Verstoß gegen einfaches Gesetzesrecht und wo beginnt die Grundrechtsverletzung bei einer Auslegung und Anwendung genau der Gesetze, die den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich ausgestalten? Eine solche Unterscheidung hängt jedoch davon ab, ob es der Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter überhaupt zuläßt, zwischen Fehlern bei der Auslegung und Anwendung einfachgesetzlichen Zuständigkeitsrechts zu differenzieren, die auf der Ebene des Parlamentsgesetzes verbleiben und qualifizierten Fehlern, die einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG begründen.
c) Identität zwischen fehlerhafter Gesetzesanwendung und Grundrechtsverstoß In Schutzbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter findet eine solche Annahme keine Stütze. Im Gegenteil ist dogmatisch betrachtet jeder Verstoß gegen einfachgesetzliche richterliche Zuständigkeitsvorschriften zugleich eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 529 . Wie ist eine solche Annahme zu rechtfertigen? Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist, neben dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Prinzip der Gesetzlichkeit bei Bestrafungen, das einzige Grundrecht, bei dem die einfachgesetzlichen Normen nicht nur den Schutzbereich konstituieren, sondern bei dem die Gesetzlichkeit, aus der Perspektive der Judikative also die Einhaltung der gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen, den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich ausmacht. Hinzu kommt ein zweiter Umstand. Die Legislative ist gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet, ein Optimum an Genauigkeit zu verwirklichen. Jede richterliche Zuständigkeit muß anhand der Zuständigkeitsordnung so genau wie möglich vorhersehbar sein. Die Ausgestaltung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den Gesetzgeber kann demnach, anders als hinsichtlich des Grundrechts auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1
528
Zu dieser Erkenntnis bereits Ossenbühl, in: FS Ipsen, S. 129 (131); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 1031 GG Rn. 143 ff.; Höfling, JZ 1991, 955 (962) sowie Pieroth! Schlink, Grundrechte, Rn. 1178. Siehe auch mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG Waldner, Anspruch, S. 143 ff. 529 Dazu bereits Henkel Richter, S. 84ff. sowie Leisner, NJW 1989, 2446 (2448).
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GG sowie der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie, nicht über den verfassungsrechtlichen Gehalt des Grundrechts hinausgehen. Wenn es jedoch keine Bereiche der gesetzlichen Ausgestaltung gibt, die ein Mehr an Freiheit gewähren, als es Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fordert oder die auf andere Weise vom grundrechtlichen Gewährleistungsbereich abweichen, so liegt in jeder fehlerhaften Anwendung von Zuständigkeitsregelungen zugleich ein Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters. Hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Anwendung einfachen Rechts demnach nicht nur Sache der Fachgerichte, sondern auch Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Urteils Verfassungsbesch werden. Auf dieser Grundlage ist die Formel von „spezifischen Verfassungsrechtsverletzungen" ohne Belang. Grundrechtsdogmatisch ist es daher nicht zu begründen, daß nur willkürliche Verstöße der Gerichte gegen solche Gesetze, die den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ausgestalten, grundrechtswidrig sind.
d) Einschränkung des Prüfungsumfangs zur Funktionsabgrenzung? Der abwehrrechtliche Gehalt von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist gegenüber den Gerichten nicht auf willkürlich fehlerhafte Anwendungen gesetzlicher Zuständigkeitsvorschriften beschränkt. Der Gewährleistungsbereich des Rechtes auf den gesetzlichen Richter kommt zur Begründung einer eingeschränkten Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden daher nicht in Betracht. Wenn man an diesem Ziel dennoch festhalten will, so bleibt entweder die Möglichkeit, sich über die dogmatische Grundlagen hinwegzusetzen oder die Aufgabenverteilung zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu überdenken, um eine Entlastung des Verfassungsgerichts zu erreichen 531. Zu dieser Problematik gibt es eine Reihe von Überlegungen allgemeineren Zuschnitts532. Ohne auf die Ansätze im einzelnen einzugehen, ist jedenfalls die Besonderheit der Justizgrundrechte gegenüber den sogenannten materiellen Grundrechten zu berücksichtigen 533. Aus der Perspektive des Bundesverfassungsgerichts geht es im 530 Zu der gleichen Fragestellung im Rahmen von Art. 103 Abs. 1 GG siehe Burgermeister, in: FG Graßhof, S. 141 ff., insbes. S. 157 f. sowie Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 103 GG Rn. 8 und Degenhart, in: Sachs, Art. 103 GG Rn. 12. 531 Siehe Henke, DÖV 1984,1 (10); Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 101 GG Rn. 33 sowie Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 276, die zur Frage der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte den Gedanken einer sinnvollen Aufgabenverteilung und die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit des Bundesverfassungsgerichts für maßgeblich halten. 532 Siehe Starck, JZ 1996, 1033ff.; Robbers, NJW 1998, 935 ff.; Posser, in: FS Posser, S. 331 ff. sowie Bogs, DVB1. 1998, 516ff. (Bericht zum Verfassungsgerichtsbarkeits-Colloquium Hans Hugo Klein). 533 Zu diesem Umstand Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 318 f. und wohl auch Henkel, Richter, S. 50f. mit Anm. 1 sowie S. 67.
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Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde, mit der ein Verstoß eines Gerichts gegen ein materielles Grundrecht gerügt wird, um die Kontrolle der Rechtsmittelgerichte hinsichtlich deren Aufgabe, die unterinstanzlichen Gerichte zu kontrollieren. Die materiellen Grundrechte sind dabei Urteilsmaßstab. Vor diesem Hintergrund tritt das Problem einer sinnvollen Abgrenzung der Aufgabengebiete des Bundesverfassungsgericht und der Fachgerichte sowie einer damit einhergehenden Reduzierung des Prüfungsumfangs zutage, sofern man verhindern will, daß eine weitere Instanz („Superrevisionsinstanz") entsteht. Der Tätigkeitsbereich der Gerichte, der am Maßstab der Justizgrundrechte gemessen wird, bewegt sich auf einer anderen Ebene. Die Justizgrundrechte fungieren nicht als Urteilsmaßstab. Von ihnen geht keine unmittelbar inhaltliche Beeinflussung des Urteils aus. Dort sind die Gerichte selbst unmittelbar Grundrechtsgeforderte. Sie gestalten das Gerichtsverfahren eigenständig. Sie entscheiden im Rahmen beziehungsweise verfahrensbegleitend zu ihrer Kontrolltätigkeit originär darüber, ob dieses oder jenes Gericht zuständig ist, ob und in welchem Umfang einem Verfahrensbeteiligten rechtliches Gehör gewährt wird. Eine den klassischen Freiheitsrechten vergleichbare Aufgabenkollisionslage besteht, sofern eine Urteilsverfassungsbeschwerde auf die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützt wird, folglich nicht. Auch aus dieser Perspektive erscheint es daher sachgerecht, diesen Tätigkeitsbereich der Judikative einer genaueren Überwachung durch das Bundesverfassungsgericht zu unterziehen.
I I I . Grundrechtsverletzungen der Exekutive sowie der Gerichte bei der Anwendung von Geschäftsverteilungsplänen Auf der Grundlage der Erwägungen, die zum Prüfungsumfang bei der Anwendung von Gesetzen durch die Gerichte angestellt wurden, lassen sich auch die Probleme fehlerhafter Normanwendung durch die Exekutive sowie fehlerhafter Anwendung von Geschäftsverteilungsplänen durch die Judikative lösen. In keiner der beiden Konstellationen ist danach konstitutive Voraussetzung eines Verstoßes gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters, daß ein qualifizierter, besonders schwerwiegender oder offensichtlicher Anwendungsfehler vorliegt. Vielmehr fallen gesetzeswidriges beziehungsweise geschäftsverteilungsplanwidriges Verhalten mit der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zusammen. Die Staatsanwaltschaft, die Anklage beim Landgericht erhebt, obwohl eine besondere Bedeutung des Falles im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG nicht gegeben ist, handelt demnach nicht nur den einfachgesetzlichen Vorgaben zuwider, sondern entzieht den Verfahrensbeteiligten zugleich den „gesetzlichen Richter". Vor diesem Hintergrund entbehrt die vereinzelt vertretene Auffassung der Grundlage, eine Be-
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einträchtigung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter setzte auch hinsichtlich der Exekutive eine willkürlich fehlerhafte Anwendung der Norm voraus 534. Entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei der Anwendung von Geschäftsverteilungsplänen nicht nur dann um eine Verletzung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter, wenn eine willkürlich fehlerhafte Vorgehensweise beziehungsweise eine grundlegende Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt 535. Der abwehrrechtliche Gehalt von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für Eingriffe in die Zuständigkeitsordnung ist nicht auf ein Willkürverbot reduziert. Der Vorsitzende Richter, der einem Richter seines Spruchkörpers, entgegen der im Geschäftsverteilungsplan verankerten Verteilungskriterien, die Entscheidungszuständigkeit in einem bestimmten Fall zuweist, läßt zunächst die Vorgaben des Planes außer acht. Er begeht zugleich jedoch eine verfassungswidrige Einflußnahme auf die von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete richterliche Zuständigkeitsordnung.
534 Siehe BVerfGE 18, 428; BGH NJW 1960, 544; Henkel, Richter, S. 88 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 39 f. 535 BVerfGE 87,282 (284f.); BVerfG NJW 1998,3484 f. Siehe auch BFH NVwZ 1996,102 f. sowie bereits Henkel, Richter, S. 88 f. (Willkür soll für alle Eingriffe gelten).
§ 5 Bundesverfassungsgericht und Recht auf den gesetzlichen Richter Hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kommt dem Bundesverfassungsgericht eine besondere Stellung zu. Es überwacht nicht nur die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundrechts vor allem bei Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden, die mit der Behauptung erhoben werden, die hoheitliche Gewalt habe gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen. Das Verfassungsorgan ist außerdem seinerseits gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Vorgaben von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebunden. Darüber hinaus ist es als Richter im Sinne des Grundrechtstatbestands anzusehen, so daß die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts so eindeutig wie möglich durch Gesetz zu regeln ist. Diese besondere Beziehung des Gerichts zu dem Grundrecht hat dazu geführt, daß einige spezifische Problemfelder offenbar wurden, deren nähere Betrachtung lohnt 1 .
A. Probleme im Zusammenhang mit der W a h l der Richter Die herausgehobene Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der Gerichte kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß die Richter, anders als bei den Fachgerichten, wo eine Auswahl und Ernennung durch die Exekutive erfolgt, gemäß Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG und § § 5 ff. BVerfGG je zur Hälfte vom Bundestag und vom 1 Zwei der insoweit einschlägigen Normen wurden bereits an anderer Stelle zusammen mit den vergleichbaren Gesetzen der Verfahrensordnungen der Fachgerichte behandelt. Es handelt sich dabei einerseits um die Zurückverweisungsnorm des § 95 Abs. 2 BVerfGG, die unter § 4 Α. II.2. a)dd), S. 149ff. untersucht wurde und andererseits um die Regelung des Annahmeverfahrens für Verfassungsbeschwerden in den §§ 93 a und b BVerfGG, die dem Gliederungspunkt § 4 Α. II. 2. a) cc), S. 147 ff. zugeordnet wurden. Lediglich erwähnt werden soll das Problem stattgebender Kammerentscheidungen auf der Basis von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, auf das Benda, NJW 1995,429 ff. sowie Sendler, NJW 1995,3291 ff. hinweisen. Nach dieser Norm können die Kammern eine Verfassungsbeschwerde als offensichtlich begründet stattgeben, wenn unter anderem die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden ist. Es sind Zweifel angebracht, ob die Kammerrechtsprechung diesen Anforderungen in jeder Hinsicht gerecht wird. Soweit das nicht der Fall ist und Verfassungsbeschwerden stattgegeben wird, ohne daß die Anforderungen von § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind, entscheidet die Kammer, obwohl der Senat zuständig gewesen wäre. Die Kammer verstößt für diesen Fall gegen die Zuständigkeitsvorschrift des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG und zugleich gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Folgt man der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, so wäre dies nur im Falle einer willkürlich fehlerhaften Anwendung der Norm der Fall. Zum abwehrrechtlichen Gehalt von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG siehe unter Gliederungspunkt § 4 B., S. 206ff.
Α. Probleme im Zusammenhang mit der Wahl der Richter
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Bundesrat in ihr Amt gewählt werden. Mit der Übertragung des Amtes durch Wahl sowie anschließender Ernennung (§10 BVerfGG) beginnt die Amtsdauer, die gemäß § 4 BVerfGG entweder nach zwölf Jahren Amtszeit oder jedenfalls mit Vollendung des achtundsechzigsten Lebensjahres endet. Insoweit handelt es sich um eine verfassungsrechtlich einwandfreie Regelung der Besetzung der Senate. Das für jeden Richter eindeutig zu ermittelnde Ende der Amtszeit geht einher mit der Wahl des Nachfolgers. Zu welchem Zeitpunkt welcher Richter ausscheidet und durch einen neuen Richter ersetzt wird, ist für jedermann im vorhinein erkennbar. Die Regelung über die Amtsdauer erschöpft sich jedoch nicht in den soeben beschriebenen Bestimmungen. Bis zur Ernennung eines Nachfolgers verpflichtet § 4 Abs. 4 BVerfGG die Richter, ihr Amt weiterzuführen. Eben jene Verpflichtung, als Richter über das eigentliche Ende der Amtszeit hinaus zu fungieren, bis die Wahl des neuen Richters vorgenommen worden ist, läßt bereits eine Aufweichung des Prinzips gesetzlich feststehender Amtswechsel deutlich erkennen. Worum es im Detail geht, vermag ein Ereignis zu illustrieren, das Amtszeit und Neuwahl zweier Richter des zweiten Senates betraf 2: Die Amtszeit der Richter Böckenförde und Klein endete nach Ablauf der in § 4 Abs. 1 BVerfGG verankerten Zwölfjahresfrist am 20.12.1995. In diesem Zeitraum standen mündliche Verhandlungen von fünf Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Asylrechts an. Dies nahm die Präsidentin des Gerichts und Vorsitzende des Zweiten Senats zum Anlaß, den für die Wahl der designierten Nachfolger zuständigen Bundesrat3 zu ersuchen, die Wahl um einige Wochen hinauszuschieben. Die Präsidentin handelte im Einverständnis mit den übrigen Mitgliedern des Senats. Ziel der Wahlverzögerung war es, die Beratungen über die Verfassungsbeschwerden in der Besetzung zu Ende zu bringen, in der der Senat im November mündlich verhandelt hatte. Würde der Amts Wechsel ordnungsgemäß am 20.12.1995 vollzogen, so die Argumentation, müsse der Senat ohne die beiden Nachfolger, demnach in der Besetzung mit sechs Richtern, die Beratung zum Abschluß bringen. Ein Hinzutreten der neu zu wählenden Richter nach Beginn der mündlichen Verhandlung sei ausgeschlossen, sie laufe allgemeinen prozeßrechtlichen Grundsätzen zuwider 4. Nachdem diesem Ersuchen entsprochen wurde und auch einer Bitte um ein erneutes Hinausschieben der Wahl im März 1996 Folge geleistet wurde, erfolgte schließlich am 03.05.1996 die Wahl der Nachfolger Hassemer und Jentsch 5. Die Urteile wurden am 14.05.1996, bereits in Anwesenheit der neuen Richter, verkündet. Aus der Perspektive des Rechtes auf den gesetzlichen Richter wirft der Vorgang drei Fragen auf: 2 Siehe zur verfassungsrechtlichen Problemlage und zum Vorgang bereits Wassermann, NJW 1996, 702ff.; Rüthers, NJW 1996, 1867ff.; Sangmeister, NJW 1996, 2561 f.; Höfling/Roth, DÖV 1997,67 ff. sowie die Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Roellecke vom 10.11.1995 undRüthers vom 20.10.1995. 3 Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 BVerfGG. 4 So die Mitteilung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts Nr. 47/95 vom 23.11.1995, abgedruckt im NJW-Wochenspiegel, Heft 50, 1995, S. XL. 5 Siehe die Frankfurter Rundschau vom 04.05.1996, S. 4.
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§ 5 Bundesverfassungsgericht und Recht auf den gesetzlichen Richter
1. Entsprechen die Gesetze über Wahl und Nachfolge der Richter des Bundesverfassungsgerichts der aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Verpflichtung, die richterliche Zuständigkeit, in Form der personellen Besetzung der Senate, so genau wie möglich im voraus zu regeln (dazu I.)? 2. Stellt die Bitte der Senatsvorsitzenden um Verschiebung der Wahl eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (dazu II.)? 3. Hat schließlich der Bundesrat gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, indem er die Wahl der Nachfolger tatsächlich zweimal verschoben hat (dazu III.)?
I. Regelung über Amtszeit und Neuwahl der Richter Um auszuschließen, daß die Besetzung der Senate des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf den Einzelfall beeinflußt wird, verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Regeln, aus denen sich möglichst genau im voraus ermitteln läßt, zu welchem Zeitpunkt eine Änderung der personellen Besetzung eintritt. Lediglich die Eröffnung unvermeidbarer Einflußmöglichkeiten ist verfassungsrechtlich unbedenklich6. Diesen Anforderungen werden die beschriebenen Normen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nicht in jeder Hinsicht gerecht. §4 Abs. 1 und Abs. 3 BVerfGG stellen zwar, isoliert betrachtet, eine exakte Bestimmung der Amtsdauer der Richter dar. Nach Ablauf von zwölf Jahren, längstens jedoch bei Erreichen der Altersgrenze mit dem Ende des Monats, in dem der Richter das achtundsechzigste Lebensjahr vollendet hat, endet die Amtszeit. Ware nun ebenso unmißverständlich angeordnet, daß zum Ende der Amtszeit auch zwingend die Ernennung des Nachfolgers zu erfolgen hat, hätte der Gesetzgeber ein lückenloses Regelungskonzept bereitgestellt, aus dem sich der Zeitpunkt eines Amtswechsels zweifelsfrei ermitteln ließe. Nur im Falle eines Amtswechsels aufgrund unvorhersehbarer Umstände, wie etwa das Ableben, die dauerhafte, eine Weiterführung des Amtes hindernde Erkrankung eines Richters oder die Entlassung gemäß § 12 BVerfGG 7, wäre der Termin ungewiß. Dem läuft allerdings § 4 Abs. 4 BVerfGG zuwider, der es dem Wortlaut nach ermöglicht, die Ablösung des Richters, dessen Amtszeit eigentlich abgelaufen ist, auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Die Ungewißheit über den Zeitpunkt des Amtswechsels wird dadurch vergrößert, daß § 5 Abs. 2 BVerfGG, mit der Festlegung auf drei Monate vor Ablauf der Amtszeit, nur einen Zeitpunkt für den frühestmöglichen Termin der einer Ernennung vorausgehenden Wahl des neuen Amtsinhabers festschreibt. Die Norm gibt hingegen keine Frist für den spätest zulässigen Zeitpunkt der Neuwahl, etwa einen Monat vor Ablauf der Amtszeit8, vor. Lediglich für den Aus6
Siehe BVerfG NJW 1995, 2703. Siehe § 5 Abs. 3 BVerfGG. 8 So oder ähnlich § 3 Abs. 1 Satz 1 StGHG Baden-Württemberg; § 4 Abs. 3 VfGHG Nordrhein-Westfalen; § 3 Abs. 2 Satz 1 VfGHG Saarland; § 2 Abs. 1 Satz 2 StGHG des Landes Hes7
Α. Probleme im Zusammenhang mit der Wahl der Richter
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nahmefall der vorzeitigen Auflösung des Bundestages9 sieht § 5 Abs. 2 Halbsatz 2 BVerfGG vor, daß die Wahl einen Monat nach dem ersten Zusammentreten des Bundestages durchzuführen ist. Für den Regelfall läßt dagegen allein § 7a Abs. 1 BVerfGG das Bemühen erkennen, einer zeitlichen Verzögerung der Nachwahl vorzubeugen. Die Vorschrift sieht die Pflicht des ältesten Mitgliedes des Wahlausschusses vor, das Bundesverfassungsgericht zur Abgabe von Vorschlägen aufzufordern, sofern zwei Monate nach dem Ablauf der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters die Wahl des Nachfolgers nicht zustande gekommen ist 10 . Allerdings werden die zuständigen Wahlgremien durch den Vorschlag weder zeitlich noch inhaltlich gebunden11. Das Gesetz läßt es seinem Wortlaut nach also zu, die Wahl eines Nachfolgers auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. In der Vergangenheit ist es dementsprechend vorgekommen, daß Richter Monate, in einem Fall sogar zwei Jahre, über die Amtszeit hinaus die Amtsgeschäfte fortführten 12. An die Stelle eines eindeutig zu ermittelnden Zeitpunktes für die Nachfolge tritt ein Schwebezustand. Zu welchem Zeitpunkt der Wechsel im Amt stattfindet, ist offen und hängt allein von den gemäß § 5 BVerfGG zuständigen Wahlorganen ab13. Legt man die genannten Vorschriften allerdings grundrechtskonform aus, so ergibt sich ein positiveres Bild. Auch wenn § 5 Abs. 2 Halbsatz 1 BVerfGG nicht ausdrücklich einen Endtermin für die Wahl bestimmt14, muß die Norm so interpretiert werden, daß die Wahl grundsätzlich bis zum Ende der Amtszeit zu erfolgen hat. Die durch Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG verliehene Wahlkompetenz beinhaltet zugleich die Pflicht
sen „... rechtzeitig vor Ablauf der Amtszeit..."; § 5 Abs. 2 StGHG Niedersachsen „... innerhalb von drei Monaten..."; § 5 Abs. 1 Satz 3 VfGHG Rheinland-Pfalz „... soll spätestens einen Monat vor..."; § 3 Abs. 1 Satz 1 VfGHG Sachsen „... soll spätestens einen Monat vor..."; § 2 Abs. 2 Satz 3 VfGHG Thüringen „... soll spätestens einen Monat vor Ablauf...". Rechtsvergleichend zu Westeuropa und den USA siehe Majer, in: Umbach/Clemens, § 6 BVerfGG Rn. 53ff. m. N. 9 Art. 63 Abs. 4 und Art. 68 Abs. 1 GG. 10 Siehe Zierlein, in: Umbach/Clemens, § 7a BVerfGG Rn. 5ff. und Klein, in: Maunz/ Schmidt-B leibtreu, § 7 a BVerfGG Rn. 4ff. 11 Siehe § 7 a Abs. 2, 3 und 4 BVerfGG. 12 Dazu Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 243ff.; Billing, Richterwahl, S. 189ff. und Geck, Amtsrecht, S.25f. 13 Siehe Lechner/Zuck, § 5 BVerfGG Rn. 3, der die Regelung in § 5 Abs. 2 BVerfGG mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für unbefriedigend hält, weil die Wahlen häufig verzögert würden. 14 Ein entsprechender Zusatz im Regierungsentwurf, der eine Wahl spätestens einen Monat vor Ablauf der Amtszeit vorsah, wurde im Rechtsausschuß des Bundestages fallengelassen. Siehe zur Begründung BT-Drs. 1/788, S. 3,28 aus dem Jahre 1951 und Rechtsausschuß-Drs. Nr. 94, S. 40 f. aus dem Jahre 1950. Eine Verzögerung der Wahl aus politischen Gründen schien man nicht zu befürchten; außerdem wollte man die Wahlgremien durch die Aufnahme von Fristen nicht zu stark binden. Siehe dazu außerdem Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 5 BVerfGG Rn. 13 und Bowitz, in: Umbach/Clemens, § 5 Rn. 22ff., der es für unverständlich hält, daß keine Frist eingeführt wurde. 15 Roth
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5 Bundesverfassungsgericht und Recht auf den gesetzlichen Richter
zur Durchführung der Wahl in sachgerechter Frist 15. § 4 Abs. 4 BVerfGG hat insofern ausschließlich die Aufgabe, die Funktionsfähigkeit der Senate in Situationen sicherzustellen16, in denen es zu einer unvermeidbaren Verzögerung der Wahl und einer damit einhergehenden Verlängerung der Amtszeit über das eigentliche Ende hinaus kommt 17 . Als unvermeidbar können ausschließlich solche Gründe gelten, die ihre Ursache entweder in der Struktur des Wahlverfahrens haben (Zweidrittelmehrheit; politischer Einigungszwang) oder auf unvorhersehbaren Ausnahmefällen beruhen. Die zuständigen Wahlgremien haben ihrerseits alle Anstrengungen zu unternehmen, insbesondere das Verfahren zur Einigung über die Kandidaten rechtzeitig einzuleiten, um eine Verzögerung zu verhindern. Daß auch der Gesetzgeber den Wahlorganen im übrigen eine rasche Einigung zutraut, zeigt § 5 Abs. 3 BVerfGG, wo eine Frist von einem Monat zur Nachwahl eines vorzeitig ausgeschiedenen Richters vorgegeben ist 18 . Ungeachtet einer grundrechtskonformen Auslegung verdeutlicht allerdings die beschriebene Praxis der Nachwahl von Richtern, daß de lege ferenda eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung notwendig erscheint, die Wahl innerhalb einer bestimmten Frist vor Ablauf der Amtszeit eines Richters durchzuführen.
II. Ersuchen um ein Hinausschieben der Neuwahl als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Daß auch die Judikative an die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Rechtes auf den gesetzlichen Richter gebunden ist, wurde bereits an mehreren Stellen verdeutlicht. Hinsichtlich einer Verzögerung der Nachwahl von Richtern des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schütze auch vor Eingriffen durch die Judikative. Die Verfahrensgarantie, so der Senat, sei auch nach „innen" gerichtet um zu gewährleisten, daß niemand durch Maßnahmen der Gerichtsorganisation dem in seiner Sache gesetzlich berufenen Richter entzogen werde 19. In Anlehnung an diese Entscheidung wird in den Erläuterungen des sogenannten Mitarbeiterkommentars zum Bundesver15 Zur Begründung dieser Pflicht läßt sich neben dem Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG auch die Tatsache anführen, daß die Übertragung von Kompetenzen an staatliche Hoheitsträger stets mit der rechtlichen Verpflichtung verknüpft ist, die verliehene Kompetenz im Sinne der jeweiligen Norm auszuüben. Siehe dazu Häußler, Konflikt, S. 234ff., insbes. S. 236f.; Stettner, Kompetenzlehre, S. 294,339 und 448 sowie Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 5 BVerfGG Rn. 20, der daraufhinweist, daß es Sinn der Kompetenzübertragung sei, die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts zu gewährleisten. 16 Dazu Rüthers, NJW 1996, 1867 (1869). 17 Siehe zur teleologischen Reduktion der Norm auch Bowitz, in: Umbach/Clemens, § 5 BVerfGG Rn. 34 und 40, der nur sachgerechte und billigenswerte Gründe akzeptiert. 18 Zum Hintergrund dieser Norm siehe Bowitz, in: Umbach/Clemens, § 5 BVerfGG Rn. 41 ff. sowie Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, § 5 BVerfGG Rn. 18 ff. 19 BVerfGE 82, 286 (298). Dazu Schefold, JZ 1988, 291 ff.
Α. Probleme im Zusammenhang mit der Wahl der Richter
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fassungsgerichtsgesetz auf den Punkt gebracht, worin bei der Anwendung der gesetzlichen Grundlagen über die Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts die Risiken für das Prinzip des gesetzlichen Richters liegen: „...Es läßt sich die Gefahr nicht leugnen, daß eine anstehende Wahl eines Verfassungsrichters aus politischen Gründen verzögert werden könnte, um auf diese Weise die Amtszeit des noch amtierenden Richters (und seine Mitwirkung an anstehenden Entscheidungen) mit Hilfe der Verbleibensbestimmung des § 4IV... jedenfalls für eine vorübergehende Zeit zu erhalten ..." 20 .
Vor diesem Hintergrund verstößt die Bitte der Senatsvorsitzenden, die Neuwahl hinauszuschieben, um die Verfahren über die Verfassungsbeschwerden gegen das Asylrecht in der ursprünglichen Besetzung zu Ende zu bringen, im Ergebnis gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Die Normen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes lassen es nach der vorgenommenen grundrechtskonformen Auslegung nicht zu, die Wahl von Richtern aus verfahrensökonomischen Gesichtspunkten zu verzögern. Die Gründe, die die Senatsvorsitzende bewogen haben, den Bundesrat um eine Verzögerung der Wahl zu ersuchen, mögen für sich genommen sachgerecht erscheinen. Sie finden allerdings in der für die Wahl der Richter maßgeblichen rechtlichen Grundlage keine Stütze. Das Verhalten der Senatsvorsitzenden verstößt folglich gegen § 5 Abs. 2 und § 4 Abs. 4 BVerfGG. Diese Normen gestalten den Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aus. Verstöße gegen solche einfachgesetzlichen Zuständigkeitsvorschriften ziehen nach der hier zugrundegelegten Dogmatik21 in jedem Fall einen Grundrechtsverstoß nach sich. Darüber hinaus wäre eine Grundrechtsverletzung wohl auch dann zu bejahen, wenn man eine Verletzung des Verfahrensgrundrechts erst bei willkürlicher Rechtsanwendung annähme. Eine solche ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter anderem gegeben, wenn die Maßnahme eines Gerichts Bedeutung und Tragweite des Rechtes auf den gesetzlichen Richter grundlegend verkennt22. Die bewußte Einflußnahme auf die personelle Besetzung des Senats durch die Spruchkörpervorsitzende, im Einverständnis mit den übrigen Senatsmitgliedern, läßt eine hinreichende Berücksichtigung der Schutzfunktion von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht erkennen. Sie räumt der effektiven Verfahrensgestaltung einseitig den Vorrang ein. Dies spricht für eine grundlegende Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Beeinträchtigung wäre selbst dann fraglich, wenn man die Normen so auslegte, daß sie eine Verzögerung der Nachwahl 20
Bowitz, in: Umbach/Clemens, § 5 Rn. 26. Zur Begründung siehe die Ausführungen zum Willkürverbot unter §4B.II.3.,S.214ff. 22 BVerfGE 82, 286 (299); siehe zum Willkürmaßstab bei der Anwendung richterlicher Zuständigkeitsnormen BVerfG NJW 1998, 2962f. sowie unter § 4 B., S. 206ff. 21
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aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes23 nicht in jeder Hinsicht ausschlössen. Für diesen Fall stellte die Verzögerung der Wahl der Richter Hassemer und Jentsch wohl eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Es ist zweifelhaft, ob die zur Rechtfertigung der Wahlverzögerung vorgebrachten Effektivitätserwägungen einen solchen Eingriff aufwiegen können. Wenn man unter der Voraussetzung terminlich feststehender Amtswechsel nicht von dem allgemeinen prozeßrechtlichen Grundsatz abweichen will, wonach ein Hinzutreten von Richtern nach Beginn einer mündlichen Verhandlung ausgeschlossen ist, so riskiert man zwar eine Beschlußunfähigkeit der Senate gemäß § 15 Abs. 2 BVerfGG. Dieses Risiko ist allerdings auf Fälle minderer Dringlichkeit beschränkt, da nur insoweit das Losverfahren gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG, wodurch der unterbesetzte Senat mit Mitgliedern des anderen Senates aufgefüllt wird, ausgeschlossen ist.
I I I . Verzögerung der Neuwahl durch den Bundesrat als Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Der für die Wahl der designierten Nachfolger zuständige Bundesrat ist der Bitte der Vorsitzenden des Zweiten Senates nachgekommen und hat die Wahl erst nach zweimaliger Verzögerung am 03.05.1996 vorgenommen24. Dieses Verhalten kann nicht anders bewertet werden, als das der Vorsitzenden. Die zweifache „Verzögerung der Wahl um der Verzögerung willen" stellt die tatsächliche Umsetzung der Bitte um Aufschub der Wahl dar. Dem Verhalten des Bundesrates liegt demnach die gleiche Auslegung der Normen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über die Amtszeit und Nachfolge im Amt zugrunde, die hinsichtlich der Senatsvorsitzenden als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bewertet wurde. Daher kann das dort gewonnene Ergebnis auf die Verhaltensweise des Bundesrates übertragen werden. Das Wahlorgan Bundesrat hat mit der Wahlverzögerung die ihm durch § 5 Abs. 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 4 BVerfGG übertragene Aufgabe, durch eine Wahl der Nachfolger vor Ende der Amtszeit die Gesetzlichkeit der Richter am Bundesverfassungsgericht zu gewährleisten, nicht erfüllt. Das Vorgehen des Bundesrats stellt ebenfalls eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.
B. Variable Spruchkörpergrößen gemäß § 15 Abs. 2 und § 16 Abs. 2 BVerfGG Das Bundesverfassungsgericht besteht, wie sich aus § 2 BVerfGG entnehmen läßt, aus zwei Senaten, in die jeweils acht Richter gewählt werden. Diese Senate unter23
Siehe dazu unter § 4 Α. 1.3. a)bb), S. 95 ff. Siehe NJW-Wochenspiegel Heft 50,1995, S. X L und NJW-Wochenspiegel Heft 14,1996, S. XLVIII und die Meldung in der Frankfurter Rundschau vom 04.05.1996, S. 4. 24
Β. Variable Spruchkörpergrößen
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scheiden sich grundlegend von den Spruchkörpern der Fachgerichte25. Deren Mitglieder werden nicht in einen bestimmten Senat oder eine bestimmte Kammer gewählt, sondern durch gerichtsinterne Geschäftsverteilungspläne für das Jahr im voraus einem Spruchkörper zugeteilt und können durch Richter anderer Spruchkörper vertreten werden 26. Eine Vertretung der Richter des Bundesverfassungsgerichts durch Angehörige des anderen Senates findet demgegenüber, von der Ausnahme in Verfahren von besonderer Dringlichkeit gemäß § 15 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG und der Ablehnung eines Richters gemäß § 18 Abs. 4 BVerfGG abgesehen, nicht statt. Die Richter werden vielmehr unmittelbar in einen bestimmten Senat gewählt und auch für diesen Senat vom Bundespräsidenten ernannt27. Um eine Funktionstüchtigkeit der Senate zu erhalten, ist es daher erforderlich, die Beschlußfähigkeit auch in solchen Fällen sicherzustellen, in denen einzelne Richter, etwa aufgrund einer Erkrankung, mitzuwirken verhindert sind. Diesem Umstand tragen § 15 Abs. 2 Satz 1 und § 16 Abs. 2 BVerfGG Rechnung. Die Vorschriften ordnen an, daß die Senate und das Plenum beschlußfähig sind, wenn mindestens sechs Richter beziehungsweise mindestens je sechs Richter 28 anwesend sind. Dies hat zur Konsequenz, daß die Senate in unterschiedlicher zahlenmäßiger Besetzung, nämlich mit sechs, sieben oder acht Richtern Recht sprechen können. In welchem Verhältnis stehen die Bestimmungen, die zahlenmäßig variable Richterbesetzungen beim Bundesverfassungsgericht zulassen, zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG? Da die Gleichheit der Richterzahl bei gleichen Verfahren nicht mehr gewährleistet sei, wurde die Vereinbarkeit dieser Normen mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter vereinzelt bezweifelt 29. Es ist allerdings fraglich, ob der Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch § 15 Abs. 2 Satz 1 und § 16 Abs. 2 BVerfGG überhaupt beeinträchtigt wird. Im Unterschied zu den Bestimmungen über eine variable Spruchkörperbesetzung im Strafverfahren 30, wo den Gerichten ein Entscheidungsfreiraum hinsichtlich der zahlenmäßigen Besetzung eingeräumt wird, sehen die Vorschriften über die Beschlußfähigkeit, bei entsprechender grundrechtskonformer Auslegung, keine vergleichbare Möglichkeit vor, auf die Besetzung von Fall zu Fall Einfluß zu nehmen. Auszugehen ist dabei von der Grundnorm, § 2 Abs. 2 BVerfGG, die von einer Regelbesetzung der Senate mit acht Richtern ausgeht und aus der zugleich die Verpflichtung resultiert, grundsätzlich in voller Besetzung zu
25 Dazu nur Benda! Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 96ff.; Lechner/Zuck, § 2 BVerfGG Rn. 1 ff. und Robbers, in: Umbach/Clemens, § 2 BVerfGG Rn. 1 ff. 26 Siehe § 21 e Abs. 1 GVG. 27 Siehe § 5 und § 10 BVerfGG. 28 Für § 16 Abs. 2 BVerfGG ergibt sich die Zahl von sechs Richtern daraus, daß die Zahl acht nicht durch drei teilbar ist, dazu Lechner/Zuck, § 16 BVerfGG Rn. 10. 29 Siehe Bettermann, AöR 1969, 263 (310). 30 Gliederungspunkt §4 A.II.2.c)ee), S. 173ff.
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entscheiden31. Auf dieser Basis stellt § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG keine Ermächtigung dar, die zahlenmäßige Besetzung der Richterbank bis zur Untergrenze von sechs Richtern etwa mit der Begründung variabel zu gestalten, ein Richter sei schwer erreichbar. Die Norm muß vielmehr so verstanden werden, daß die Senate nur dann mit einer zahlenmäßig verminderten Richterbank Recht sprechen dürfen, wenn bis zu zwei Richter aus Gründen verhindert sind, die außerhalb der Sphäre des Gerichts liegen und unvermeidbar erscheinen. Solche Gründe sind etwa die Erkrankung von Richtern und die Abwesenheit wegen Urlaubs. § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG läßt es demnach nicht zu, eine zahlenmäßige Veränderung der Richterbank aus Erwägungen vorzunehmen, die mit konkreten Verfahren in Zusammenhang stehen. Legt man diese Interpretation zugrunde, ist die Gefahr einer Manipulation der Richterbank in den Senaten des Bundesverfassungsgerichts in § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht angelegt. Die Norm ist daher nicht als Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen32. Eine Veränderung der zahlenmäßigen Besetzung kann sich ausschließlich aus unvorhersehbaren äußeren Umständen ergeben. Legt man dieses Verständnis zugrunde, so ist die auf das Bundesverfassungsgericht zurückgehende Begründung33 der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit von § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zutreffend. Das Recht auf den gesetzlichen Richter fordere lediglich, so die Kernaussage, daß die Person der zur Entscheidung berufenen Richter sich aufgrund von allgemeinen Regeln im voraus so eindeutig wie möglich ermitteln lasse. Das Grundrecht gewährleiste hingegen nicht, daß auch die Zahl der erkennenden Richter stets unverändert bleibe. Aus dieser Aussage darf indes nicht geschlossen werden, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlange überhaupt nicht, die zahlenmäßige Besetzung von Spruchkörpern im Einzelfall so genau wie möglich zu regeln. Ob ein Spruchkörper mit drei oder fünf, sechs oder acht Richtern sein Amt wahrnimmt, ist für die Entscheidungsfindung, aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse und der veränderten personellen Zusammensetzung, von nicht unerheblicher Bedeutung. Daher umfaßt der Gewährleistungsbereich von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch den Schutz vor Manipulationen der zahlenmäßigen Besetzung von Spruchkörpern 34. Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, so exakt wie möglich zu regeln, unter welchen Bedingungen sich die zahlenmäßige Besetzung von Spruchkörpern ändert. Jeder Entscheidungsfreiraum der 31
Dazu Zierlein, in: Umbach/Clemens, § 15 BVerfGG Rn. 19 ff. und Ulsamer, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu, § 15 BVerfGG Rn. 11. 32 Die Verfassungsmäßigkeit der Norm wird bejaht von Zierlein, in: Umbach/Clemens, § 15 BVerfGG Rn. 19 mit Anmerkung 59 unter Bezugnahme auf BVerfGE 19, 52 (60ff.) und von Lechner/Zuck, § 15 BVerfGG Rn. 5. Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu sieht darin geradezu das Optimum gesetzlicher Bestimmtheit gewährleistet. 33 BVerfGE 19,52 (60ff.); Zierlein, in: Umbach/Clemens, § 15 BVerfGG Rn. 19 mit Anmerkung 59. 34 Siehe dazu bereits die Ausführungen zu Gliederungspunkt §4 A.II.2.c), S. 163ff.
C. Wissenschaftliche Mitarbeiter
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Gerichte hinsichtlich dieser Frage bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht.
C. Wissenschaftliche Mitarbeiter - ein Problem des Rechtes auf den gesetzlichen Richter? Jeder einzelne Richter des Bundesverfassungsgerichts wird durch drei weisungsgebundene wissenschaftliche Mitarbeiter, die ihm individuell zugewiesen werden und die er selbst auszuwählen berechtigt ist 35 , unterstützt. Der Grad an tatsächlicher Einflußnahme, der von der vorbereitenden Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter auf die Entscheidungsfindung der Richter, besonders bei Kammerentscheidungen, ausgeht, hat dazu geführt, die Vereinbarkeit dieser Tätigkeit mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu bezweifeln 36. Der Kritik liegt folgende Argumentation zugrunde: Die Tätigkeit wissenschaftlicher Mitarbeiter werde positivrechtlich lediglich im Bundeshaushaltsplan und in § 13 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts angesprochen. Weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz seien die Mitarbeiter genannt. Wenn deren vorbereitende Tätigkeit jedoch einen Umfang annehme, der die Entscheidungsfindung der Senate, besonders aber der Kammern, faktisch maßgeblich beeinflusse, sei fraglich, ob die Entscheidungen noch den Richtern zugerechnet werden könnten. Vielmehr liege die Vermutung nahe, die wissenschaftlichen Mitarbeiter bildeten den „3. Senat" des Gerichts, der eigentlich für die Entscheidungen verantwortlich zeichne. Wenn dem so sei, werde die richterliche Entscheidungskompetenz nicht, zumindest jedoch in unzureichendem Umfang, von den gesetzlich für zuständig erklärten Richtern wahrgenommen, sondern von den wissenschaftlichen Mitarbeitern. Diese seien jedoch in der normativen Zuständigkeitsordnung nicht erwähnt. Die Entscheidung durch unzuständige Richter bedinge einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Annahme, die Tätigkeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter verstoße gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters, vermag allerdings nicht zu überzeugen. Zwar macht die hohe Arbeitsbelastung der Richter, die besonders in den jährlich etwa viertausend eingehenden Verfassungsbeschwerden zum Ausdruck kommt, die Zuarbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter nahezu unentbehrlich37. Dieser Umstand und die durchgängig hohe Qualifikation der Mitarbeiter sprechen dafür, daß deren Tätigkeit 35
§ 13 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts. Zu den wissenschaftlichen Mitarbeitern siehe allgemein Clemens, in: Umbach/Clemens, Vor §§ 93 äff. BVerfGG Rn. 9ff. *Zuck, DÖV 1974, 305ff.; ders., NJW 1996, 1656 (1657); Kohl, in: GS Nagelmann, S. 387ff.; Roellecke, KritV 1991, 74 (83f.). Allgemeine rechtsstaatliche Bedenken werden geäußert bei Lechner/Zuck, § 15 a BVerfGG Rn. 5. 37 Siehe Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 45 a und Umbach, in: Umbachl Clemens, Vor §§ 93äff. BVerfGG Rn. 15ff.
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von - erstrebenswertem 38 - Gewicht für die Entscheidungsfindung der Richter ist. Andererseits ist für eine verfassungsrechtliche Bewertung der Sachlage von Bedeutung, daß der Grad der Einflußnahme auf die spätere Entscheidung einer Verfizierung nicht zugänglich ist. Er hängt maßgeblich vom Arbeitsstil der einzelnen Richter und Mitarbeiter und deren perönlichem Vertrauensverhältnis ab. Die alleinige Verantwortung für die vorbereitenden Arbeiten und die Entscheidungen tragen nach der rechtlichen Rahmenordnung die Richter. Nur sie nehmen gemäß § 25 der Geschäftsordnung an den Beratungen teil, was eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorbereitungen des wissenschaftlichen Mitarbeiters und der dort niedergelegten Argumentation voraussetzt. Darin liegt der maßgebliche Unterschied zu den Berichterstattern bei den Fachgerichten, deren maßgeblicher Einfluß auf die Entscheidungsfindung des Spruchkörpers nach der hier vertretenen Auffassung teilweise eine gesetzliche Vörausbestimmung dieser Tätigkeit erforderlich macht39. Die Berichterstatter sind meist, anders als die wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, stimmberechtigte Richter des Spruchkörpers, dessen Entscheidung sie vorbereiten und mitverantworten 40. Eine hinsichtlich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG relevante, faktische Zuständigkeitsverlagerung auf die wissenschaftlichen Mitarbeiter hat daher nicht stattgefunden 41.
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Dazu Umbach, in: Umbach/Clemens, Vor §§ 93 äff. BVerfGG Rn. 18. § 3 A.I.2, S. 32ff. 40 Siehe § 197 Satz 3 GVG. 41 So bereits Benda! Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 119; Umbach, in: Umbach/Clemens, Vor §§ 93äff. BVerfGG Rn. 17; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 45 a sowie Klein, in: Bundesverfassungsgericht, S.227 (239). 39
§ 6 Eckpunkte der Entwicklung des Rechtes auf den gesetzlichen Richter im Überblick Das Gebot, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, findet sich in neuzeitlicher Gestalt zum ersten Mal in Art. IV der französischen Verfassung vom 03. September 17912. Von dort aus fand es Eingang in die Urkunden zahlreicher kleinstaatlicher deutscher Verfassungen 3, in die Frankfurter Paulskirchenverfassung vom 28. März 18494 sowie die Verfassungsurkunde für den Preußischen 1 Zum rechts- und entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund sei auf die Monographien von Kern, „Ausnahme-Gerichte" aus dem Jahre 1924, „Der gesetzliche Richter" aus dem Jahre 1927 und „Die Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts" aus dem Jahre 1954 sowie dessen Beitrag in: Anschütz/Thoma, Zweiter Band, S.475 (492ff.) verwiesen. Mit dieser Thematik befassen sich weiterhin Menzel, Ausnahmegerichte, S. 26 bis 74; Oehler, ZStW 1952, 292 (297ff.), der das Gebot bereits im römischen und germanischen Recht verankert sah; Kellermann, Probleme, S.48 bis 122; Scupin, Richter, S. 1 bis 20. Die im weiteren erwähnten deutschen Verfassungstexte ab dem Jahre 1803 sind zum größten Teil enthalten in Huber, Dokumente sowie in Zachariä, Verfassungsgesetze und ab dem Zeitraum der Paulskirchenverfassung beispielsweise bei Dürig/Rudolf, Verfassungsgeschichte, abgedruckt. 2 Dort heißt es: „Les citoyens ne peuvent être distraits des juges que la loi leur assigne par aucune commission ni par d'autres attributions et évocations que celles qui sont déterminées à la loi." 3 Bayern, 01.05.1808 (Titel V. § 4) und 26.05.1818 (Titel IV. § 8 II; Huber, Band 1, S. 147ff.); Nassau, 01./02.09.1814 (§2; Zachariä, S. 748ff.); Baden, 22.08.1818 (Titel II. § 151, „... in Criminalsachen.."; Huber, Band 1, S. 158ff.); Württemberg, 25.09.1819 (Titel III. § 26; Huber, Band 1, S. 174); Großherzogtum Hessen, 17.12.1820(Art.31,32; Zachariä, S.400ff.); KoburgSaalfeld, 1821 (§ 21); Sachsen, 04.09.1831 (Titel IX. § 48; Huber, Band 1, S. 230); Kurhessen, 05.01.1831 (Titel IX. § \U\ Huber, Band 1, S.217ff.); Sachsen-Altenburg, 29.04.1831 (§451; Zachariä, S. 571 ff.); Braunschweig, 12.10.1832 (§201; Zachariä, S. 695 ff.); HohenzollernSigmaringen, 11.07.1833 (§ 26); Hannover, 26.09.1833 (§ 34 III) und 06.08.1840 (§ 31 ; Zachariä, S. 209ff.); Schwarzburg-Sondershausen, 24.09.1841 (§92); Anhalt-Dessau-Köthen, 1848 (§ 14). Die weder bei Huber noch Zachariä abgedruckten Texte sind zitiert nach Wendt, Verfassungsurkunden, S. 64ff., der auch die Verankerung in den Verfassungen anderer europäischer Länder aufführt. Zum Entwicklungsgang des deutschen Frühkonstitutionalismus und der weiteren Verfassungsentwicklung in den deutschen Ländern siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Band I, S. 314ff. und S. 656f. mit einer Übersicht der landesständischen Verfassungen der Jahre 1814 bis 1848 sowie Huber, Verfassungsgeschichte, Band II, S. 3 ff. 4 Dort heißt es in Art. X § 175: „Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten geübt. Kabinetts- und Ministerialjustiz ist unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sollen nie stattfinden." Genaugenommen müßte ein noch früheres Datum genannt werden, denn durch das „Gesetz betreffend die Grundrechte des Deutschen Volkes" setzten die Frankfurter Verfassungsgeber den späteren Abschnitt VI (§§ 130-189) der Paulskirchenverfassung bereits mit Wirkung vom 17.01.1849 vorweg in Kraft.
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§ 6 Eckpunkte der Entwicklung im Überblick
Staat vom 31. Januar 1850 5 . Nach einer längeren Periode, in der das Prinzip des gesetzlichen Richters, seit seiner Verankerung in § 16 des i m Jahre 1879 in Kraft getretenen Gerichtsverfassungsgesetzes 6, nur als einfachgesetzliche Norm ausgestaltet war, wurde es wortgleich in Art. 105 der Weimarer Reichs Verfassung vom 11. August 1919 7 übernommen. Art. 101 Abs. 1 GG ist wiederum, sieht man von einer unbedeutenden Nuance in der Wortwahl ab 8 , eine Nachbildung der Bestimmung der Verfassung des Deutschen Reiches. Die Schutzrichtung des Prinzips hat sich i m Laufe der Geschichte verändert. Das Recht auf den gesetzlichen Richter war ursprünglich das „Schwert der Aufklärung und des Liberalismus" gegen willkürliche 9 Einflußnahmen des absolutistischen Herrschers auf die Rechtsprechung i m Wege der sogenannten Kabinettsjustiz 10 sowie gegen sachfremde Eingriffe der Exekutive in die Justiz 11 . I m Zuge der verfassungsrechtlichen Entwicklung sind jedoch die anderen Träger hoheitlicher Gewaltausübung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Zur Grundrechtsdiskussion im Rahmen der Verfassungsberatungen siehe Mommsen, Grundrechte, insbesondere die S. 72 f. zum gesetzlichen Richter; Scholler, Grundrechtsdiskussionen sowie H über y Verfassungsgeschichte, Band II, S. 774 ff. Zur Reichsverfassung insgesamt siehe aus heutiger Sicht die Habilitationsschrift von Kühne, Reichs Verfassung. 5 Art. 7: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft." 6 § 16 GVG: „Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden". Zur Gesetzgebungskompetenz und Fortentwicklung des GVG allgemein seit 1871 vgl. Kissel, Einleitung zum GVG S. 49ff. 7 Auch Art. 105 gehörte zum Abschnitt: Die Rechtspflege, nicht hingegen zum sich in den Art. 109 ff. fortsetzenden Zweiten Hauptteil über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen. 8 Ausnahmegerichte sind nach Art. 101 Abs. 1 Satz 1 des GG „unzulässig", nicht „unstatthaft", wie es noch in § 16 GVG und Art. 105 WRV heißt; siehe Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 GG Rn. 1. 9 Willkürlich meint in diesem Zusammenhang ein Handeln oder Entscheiden nach eigenem Willen unter Inanspruchnahme von Freiheit, ohne Rücksicht auf ethische, politische oder soziale Normen und Werte (vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 25, S. 382). 10 Exemplarisch sei auf den weithin bekannten Fall des Müllers Arnold verwiesen, in dem Friedrich der Große im Jahre 1780, in einer Durchbrechung der richterlichen Unabhängigkeit, die Richter persönlich zur Verantwortung zog und bestrafte, obwohl ein ordentliches Gericht kein Fehlverhalten der Richter erkennen konnte. Friedrich der Große hatte zudem schon 1748 ausdrücklich auf dieses Recht verzichtet; siehe Haft, Justitia, S. 47 ff. und Schmidt, DRiZ 1962, 401 (402). 11 Als Lehrstück der Durchbrechung gerichtlicher Zuständigkeit eignet sich die nach den Karlsbader Bundesbeschlüssen von 1819 (abgedruckt bei Huber, Verfassungsgeschichte, Band 1, S. 90ff., insbesondere das Untersuchungsgesetz vom 26.09.1819, S. 93 ff.) einsetzende sogenannte „Demagogenverfolgen" durch eine ad hoc geschaffene Untersuchungsbehörde, der unter anderem der Gründer der deutschen Tumbewegung, Friedrich Ludwig Jahn und die Bonner Professoren Karl Theodor Welcker, Friedrich Gottlieb Welcker und Ernst Moritz Arndt zum Opfer fielen. Dazu Huber, Verfassungsgeschichte, Band I, S. 732ff. (insbesondere S. 746 zum Untersuchungsgesetz und der dadurch eingerichteten Central-Untersuchungskommission); Kern, Richter, S. 102ff.; Hug, Sondergerichtsbarkeiten, S. 54ff. und aus neuerer Zeit etwa Sowada, JuS 1996, 284 (387 f.).
§ 6 Eckpunkte der Entwicklung im Überblick Diese Entwicklung nahm mit der Aufnahme des Prinzips in § 16 G V G ihren Anfang. Daraus resultierte eine Extensivierung der Schutzfunktion. Das Grundrecht sollte nicht mehr ausschließlich verhindern, daß die Exekutive die Zuständigkeit der Gerichte beeinflußt. Vielmehr sollten von diesem Zeitpunkt an auch Eingriffe der Landesgesetzgebung in die gerichtliche Zuständigkeit abgewehrt werden 12 . Die Aufnahme des Grundsatzes in Art. 105 der Verfassung des Deutschen Reiches hatte sodann zur Folge, daß auch der Reichsgesetzgeber an das mit Verfassungsrang ausgestattete „verfassungsgesetzkräftige" Recht auf den gesetzlichen Richter gebunden war 1 3 . Die Entwicklung beschränkte sich jedoch nicht auf die Bindung des Reichsgesetzgebers. Die Geltung des Prinzips wurde auch in anderer Hinsicht ausgedehnt. Bevor es in die Weimarer Reichsverfassung Aufnahme fand, war lediglich die ordentliche Gerichtsbarkeit vom Regelungsgehalt der Bestimmung umfaßt. Demgegenüber beanspruchte Art. 105 WRV, als Verfassungsnorm, Geltung für jede Art von Gerichtsbarkeit 14 . Während der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) wurde der formell fortgeltende Art. 105 W R V auf unterschiedliche Weise durch Maßnahmen des Gesetz- und Verordnungsgebers 15 sowie durch Eingriffe von Polizei, Justizverwaltung und Par-
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Art. 2 der Bismarckschen Reichsverfassung normiert den Grundsatz: „Reichsrecht bricht Landesrecht." 13 So die herrschende Meinung, siehe Anschütz, Verfassung, Art. 105 WRV S. 486; Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Erster Band, Art. 105 WRV S. 111 f.; Kern, in: Anschütz/Thoma, Zweiter Band, S. 492; Schmitt, in: Anschütz/Thoma, Zweiter Band, S. 587. 14 Hierzu Graf zu Dohna, in: Nipperdey, Erster Band, Art. 105 S. 111 f.; Anschütz, Verfassung, Art. 105 WRV S. 485 f. Insofern sind die Ausführungen im kommentierenden Teil zum Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 93 sowie bei von Doemmingi FüssleinIMatz, AöR Band 1951, 1 (739) nicht eindeutig, wenn dort der Eindruck vermittelt wird, als sei - in Weiterentwicklung des Art. 105 WRV - erst durch die Aufnahme des Art. 101 GG (Art. 131 des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs) in die Verfassung die Erstreckung des Prinzips des gesetzlichen Richters auf die gesamte Gerichtsbarkeit erreicht worden. 15 Eingeleitet wurde die Aushöhlung der Verfassungsbestimmung durch das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.03.1933, kurz: „Ermächtigungsgesetz" genannt, welches von der Verfassung abweichende Reichsgesetze durch die Reichsregierung ermöglichte (RGBl. 1 1933, S. 141). Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG ist bekanntlich die Reaktion auf diese Verfassungsdurchbrechung. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang weiterhin der Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts vom 01.02.1935 (RGBl. I 1935, S. 74), der unter anderem die Niederschlagung aller Strafverfahren ermöglichte, das Gesetz über den Volksgerichtshof vom 18.04.1936 (RGBl. 11936, S. 360), die Verordnung über die Errichtung von Sondergerichten in Strafsachen vom 20.11.1938 (RGBl. 1 1938, S. 1632) sowie die Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21.02.1940. Dort wurde der Anklagebehörde weitestgehender Freiraum bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts eingeräumt (RGBl. I 1940, 1. Halbjahr, S. 405). Zu nennen ist außerdem der Reichstagsbeschluß vom 26.04.1942 (RGBl. I 1942, S. 247), wonach Hitler die Befugnis eingeräumt wurde, jeden Fall, ohne Bindung an bestehende Vorschriften, selbst zu entscheiden und notwendige Maßnahmen zu eigreifen.
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§ 6 Eckpunkte der Entwicklung im Überblick
teiorganen der NSDAP unterlaufen 16 . In aller Deutlichkeit bringt die Äußerung eines Senatspräsidenten den Wandel zum „ungesetzlichen Richter" zum Ausdruck: „Die Forderung nach dem „gesetzlichen Richter" war ein Ausfluß des Bestrebens, die Grundrechte des einzelnen gegenüber dem Staat zu sichern. Dieses Bestreben hat in unserem volksgemeinschaftlich ausgerichteten Staat keine Grundlage mehr. Ein Recht des Volksgenossen auf Entscheidung eines Falles durch einen bestimmten Richter gibt es gegenüber dem Führer nicht. Der Führer selbst kann jederzeit als oberster Richter tätig werden" 17. Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, daß die Schutzfunktion des Rechtes auf den gesetzlichen Richters ausschließlich auf Eingriffe von außen in die Gerichtsbarkeit gerichtet war. Die Inpflichtnahme der Judikative selbst ließ bis zur Einführung des Grundgesetzes und einer mit ausführlichen Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit auf sich warten 18 .
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Dazu im einzelnen ausführlich Gruchmann, Justiz, S. 585ff.; 971 ff.; Wagner, in: Justiz, S. 189 (206f.; 232ff.; 282ff.; 300ff.) und zusammenfassend Schiedermair, DÖV 1960, 6 (8f.); Kellermann, Probleme, S. 119ff. 17 Zitiert nach Wagner, in: Justiz, S. 189 (206). 18 Selbst der Grundgesetzkommentar von Giese aus dem Jahre 1951 enthält noch keinen Hinweis auf eine Bindung der Judikative, lediglich Exekutive und Gesetzgeber werden ausdrücklich erwähnt, siehe Giese, Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 101 GG.
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