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ANDREAS-CHRISTIAN HEIDEL
Das glaubende Gottesvolk
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 540
Mohr Siebeck
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)
Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)
540
Andreas-Christian Heidel
Das glaubende Gottesvolk Der Hebräerbrief in israeltheologischer Perspektive
Mohr Siebeck
Andreas-Christian Heidel, geboren 1989; Studium der Ev. Theologie in Leipzig, Tübingen und Sydney; 2018 Ordination; 2020 Promotion; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neues Testament an der Internationalen Hochschule Liebenzell und Projektmitarbeiter am Institut für Neues Testament der Universität Bern. orcid.org/0000-0003-3292-4585
ISBN 978-3-16-159608-7/ eISBN 978-3-16-159609-4 DOI 10.1628/978-3-16-159609-4 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über-setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
für Babette
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine leicht geänderte Fassung meiner Dissertation, die im Frühjahrssemester 2020 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. In dieser Arbeit haben sich etliche Themen gebündelt, die mich seit meiner Jugend geprägt und fasziniert haben und denen ich nun in umfassender Weise nachgehen konnte, um so nach möglichen Antworten auf Fragen zu suchen, die mich persönlich sowie fachlich immer wieder bewegen. Dabei blicke ich mit großem Dank gegenüber zahlreichen Personen und Institutionen auf dieses Projekt zurück. Diesen Dank gilt es hier festzuhalten. Ein besonderer Dank gilt meinem hochgeschätzten Doktorvater Prof. Dr. Jörg Frey, der mir im Zuge seiner Betreuung beständig das Gefühl gegeben hat, sein wissenschaftliches sowie persönliches Interesse gelten unablässig meiner Person und Arbeit. Solch intensive, fachlich kompetente, geduldige, wo nötig konstruktiv-kritische und zugleich freundschaftliche Begleitung und Verbundenheit über dieses Projekt hinaus sind keineswegs selbstverständlich. Für das Zweitgutachten bedanke ich mich bei Prof. Dr. Knut Backhaus, der mir dadurch weiterführende Anregungen, auch für die Veröffentlich, hat zukommen lassen. Ich danke der Konrad-Adenauer-Stiftung, die dieses Projekt mit einem Graduiertenstipendium gefördert hat. Aus gleichem Anlass gilt mein Dank dem Arbeitskreis für evang. Theologie. Dazu danke ich auch apl. Prof. Dr. Hanna Stettler, Prof. em. Dr. Rainer Riesner, Dr. Clemens Hägele und Prof. Dr. Roland Deines für diverse Empfehlungen, Gutachten und beratende Gespräche. Mein Dank gilt ebenso dem Albrecht-Bengel-Haus Tübingen mit seinen damaligen Kollegen, Mitarbeitern und Bewohnern, die mir für den Abschluss meiner Promotion noch während meiner Tätigkeit als Studienassistent ausreichend Freiräume gelassen haben. Ich bedanke mich hier besonders bei Sven Wagschal für sein minutiöses Lektorat meiner Arbeit. Nicht zuletzt danke ich auch meinen lieben Eltern, die meine Familie und mich auf sehr vielfältige Weise auf diesem Weg begleitet und unterstützt haben. Zum Abschluss gilt mein großer Dank meiner geliebten Frau Babette. Ihr widme ich dieses Buch. Sie war in den letzten Jahren – nicht allein, aber gerade auch im Blick auf mein Promotionsprojekt – die unvergleichliche Stütze, Hilfe, Ermutigerin, Kritikerin, Lektorin und Freundin, ohne die ich dieses Vorhaben
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Vorwort
niemals so in die Tat umgesetzt hätte. In dieser Zeit hat sie auf vieles verzichtet und manche eigenen Wünsche hintangestellt. Auch unseren beiden Kindern Fides Clarissa und Phileas Andreas möchte ich dabei danken. Diese Familie ist wahrlich das größte Geschenk Gottes. Tübingen, Pfingsten 2020
Andreas-Christian Heidel
Inhalt Vorwort ....................................................................................................... VII
Teil I Einführung 1. An oder gegen die Hebräer? – Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese.................................................. 3 1.1 Terminologische Schwierigkeiten ......................................................... 4 1.2 Die Kritik am Hebräerbrief – Exegese im Schatten des Holocaust.............................................................................................. 6 1.3 Die Verteidigung des Hebräerbriefes ................................................. 18 1.3.1 Der symbolische Grundtyp ......................................................... 19 1.3.2 Der historische Grundtyp ............................................................ 20 1.3.3 Der textimmanente Grundtyp ..................................................... 27 1.4 Der Hebräerbrief und Israel – Quo vaditis? ...................................... 32
2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel dieser Arbeit..................... 38 2.1 Der forschungsgeschichtliche Ausgangspunkt ................................... 38 2.2 Zielsetzung ......................................................................................... 40 2.3 Methodik und Aufbau ......................................................................... 43
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen des Hebräerbriefes .................................................................................... 46 3.1 Historische Rahmenbedingungen ....................................................... 46 3.1.1 Herkunfts- und Zielort ................................................................ 47 3.1.2 Zeit ............................................................................................. 48
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Inhalt
3.1.3 Autor .......................................................................................... 50 3.1.4 Adressaten .................................................................................. 54 3.1.5 Zwischenfazit: Das Rätsel bleibt ungelöst .................................. 56 3.2 Literarisch-strukturelle Rahmenbedingungen .................................... 57
Teil II Exegetischer Hauptteil 1. Die alte und die neue Heilsordnung .............................................. 63 1.1 Das Urteil über die alte Heilsordnung und die Stiftung einer neuen (8,7–13) .................................................................................... 66 1.2 Der Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung ...................... 69 1.2.1 Die Einsetzung der Priester ........................................................ 71 1.2.2 Das Wesen der Priester ............................................................... 77 1.2.3 Die Funktion der Priester ............................................................ 84 1.2.3.1 Der Ort der Mittlerschaft (8,1–6; 9,1–10) ....................... 85 1.2.3.2 Das Opfer der Mittlerschaft (9,11–28) ........................... 91 1.3 Die Unzulänglichkeit der alten Heilsordnung und die Notwendigkeit der neuen (10,1–18) .................................................... 95 1.4 Zwischenbilanz: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ .................... 98
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes ............................................. 101 2.1 Der Glaube als Beziehungsgeschehen .............................................. 102 2.1.1 Der Glaube im Alten Testament ............................................... 103 2.1.2 Der Glaube im Hebräerbrief ..................................................... 105 2.2 Die Verheißung Gottes als Glaubensgut .......................................... 112 2.3 Die Glaubenszeugen als das eine glaubende Gottesvolk .................. 116 2.4 Der Glaube im Verhältnis zur Christologie...................................... 124 2.4.1 Das Problem der Anfechtung und die Notwendigkeit der Reinigung als Verbindungsstück zur Christologie .................... 126 2.4.2 Die Glaubenden und Christus ................................................... 131 2.4.2.1 Glauben „wie“ Christus ................................................ 134 2.4.2.2 Glauben „durch“ Christus ............................................. 139 2.4.2.3 Glauben „an“ Christus .................................................. 142 2.5 Zwischenbilanz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ ............. 144
Inhalt
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3. Der Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk ............... 147 3.1 Das glaubende Gottesvolk zwischen Raum und Zeit – Das Wirklichkeitsverständnis im Hebräerbrief ........................................ 148 3.1.1 Horizontale Dimension – Das glaubende Gottesvolk zwischen den Zeiten ................................................................. 150 3.1.2 Vertikale Dimension – Das glaubende Gottesvolk zwischen den Räumen .............................................................................. 158 3.1.3 Fazit: Das Ineinander von horizontaler und vertikaler Dimension................................................................................. 163 3.2 Die Vollendung des glaubenden Gottesvolkes .................................. 165 3.2.1 Das „Noch-nicht“ der Vollendung (Hebr 11,39) ...................... 166 3.2.2 Das „Bessere“ am „Noch-nicht“ der Vollendung (Hebr 11,40) ........................................................................................ 169 3.2.2.1 Der Inhalt des „Besseren“ (κρεῖττόν τι) ............................ 169 3.2.2.2 Die Empfänger des „Besseren“ (περὶ ἡμῶν) ..................... 177 3.2.2.3 Fazit: Eine Paraphrase von Hebr 11,39f. ........................... 178 3.2.3 Die Vollendung zwischen eschatologischem und soteriologischem Vorbehalt ...................................................... 178 3.2.3.1 Das „Noch-Nicht“ der Vollendung als Vorhersehung Gottes ................................................................................ 178 3.2.3.2 Das „Noch-Nicht“ der Vollendung und das menschliche Vermögen ..................................................... 180 3.2.3.3 Die noch ausstehende Vollendung als Teilhabe am Erbe des Sohnes ................................................................ 182 3.2.3.4 Fazit: Der eschatologische und der soteriologische Vorbehalt der Vollendung der Glaubenden ....................... 185 3.3 Zwischenbilanz: Auf dem Weg zur zukünftigen Stadt ....................... 186
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes........................ 189 4.1 Der Ort der Vereinigung .................................................................. 189 4.1.1 Die himmlisch-eschatologische Bildwelt im Hebräerbrief ....... 189 4.1.2 Die himmlische Stadt im Hebräerbrief ..................................... 193 4.1.2.1 Die (himmlische) „Stadt“ als „Referenzrahmen“ frühchristlichen Denkens .................................................. 194 4.1.2.2 Das Bedeutungsspektrum der himmlischen Stadt im Hebräerbrief ...................................................................... 197 4.1.3 Zwischenbilanz: Die himmlische Stadt als Ziel des glaubenden Gottesvolkes und als Ort seiner Vereinigung......... 213 4.2 Der Zugang zur Vereinigung ............................................................ 214
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Inhalt
4.2.1 Wer tritt wann ein? – Inhaltliche und methodische Zwischenbemerkungen ............................................................. 214 4.2.2 Der Zugang der gegenwärtigen Adressaten .............................. 217 4.2.2.1 Das Herantreten (προσέρχεσθαι) ....................................... 218 4.2.2.2 Das Hineingehen (εἰσέρχεσθαι) ........................................ 223 4.2.2.3 Das Herantreten, das Hineingehen und das VollendetWerden (τελειωθῶσιν) ...................................................... 226 4.2.2.4 Schlussfolgerung: Die eschatologische Existenz der Adressaten im „Heute“ ..................................................... 227 4.2.3 Der Zugang früherer Generationen des glaubenden Gottesvolkes ............................................................................. 229 4.2.3.1 Zwei eschatologische Modelle im Hebräerbrief? .............. 231 4.2.3.2 Der Verbleib der bereits Verstorbenen bis zur Vereinigung ...................................................................... 235 4.3 Die Vereinigung der Glaubenden und die Vollendung ihrer Vollendung – Ein drittes eschatologisches Modell ........................... 240
Teil III Ertrag und Ausblick 1. Israeltheologie im Lichte des Hebräerbriefes ........................... 253 1.1 Der eine Heilsweg des einen glaubenden Gottesvolkes .................... 254 1.2 Kontinuität und Innovation im Geschichtshandeln Gottes ............... 257 1.3 Das glaubende Gottesvolk und das Motiv des „heiligen Restes“ ..... 259 1.4 Hebr 11,39f. und Röm 9–11 ............................................................. 260 1.5 Wird „ganz“ Israel gerettet werden? ............................................... 262
2. Die Kritik am Hebräerbrief – Ein Versuch der Verständigung ................................................................................... 269 3. Anregungen für eine christliche Israeltheologie und das jüdisch-christliche Gespräch......................................................... 273 Literaturverzeichnis .................................................................................... 277 Register der antiken Autoren und Texte ..................................................... 299 Register der zitierten neuzeitlichen Autoren ............................................... 317 Sachregister ................................................................................................ 323
Abbildungen Abb. 1: Die positiven und negativen Glaubenszeugen im Hebr ..................... 117 Abb. 2: Horizontale und vertikale Dimension im Hebr .................................. 164 Abb. 3: Das „Bessere“ in Hebr 11,39f. ........................................................... 172 Abb. 4: Hebr 12,22a ........................................................................................ 200 Abb. 5: Die Unterscheidung innerhalb des Gottesvolkes in der horizontalen Dimension ...................................................................... 216 Abb. 6: Προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι ......................................................... 226 Abb. 7: Eschatologisches Modell A ................................................................ 232 Abb. 8: Eschatologisches Modell B ................................................................ 233 Abb. 9: Eschatologisches Modell C ................................................................ 241
Exkurse Diatheke – Bund oder Testament? .................................................................... 64 Die Worttheologie des Hebräerbriefs ................................................................ 72 Jesus als Sohn Gottes im Hebräerbrief .............................................................. 78 Das Heiligtum (τὰ ἅγια) im Hebräerbrief ......................................................... 85
Teil I
Einführung
1. An oder gegen die Hebräer? – Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese Das Verhältnis des Hebräerbriefes zum Judentum ist eine der großen Fragenkomplexe, die sich in der jüngeren Forschung mit dieser neutestamentlichen Schrift verbinden. Zu Beginn des 20. Jh. lautete der Vorwurf häufig, Hebr stehe als christliche Schrift dem jüdischen Denken zu nahe. Zwar versuche der Autor die Einzigartigkeit des Heilswerkes Christi darzustellen, er bleibe dabei aber zu sehr jüdischen Vorstellungen verhaftet. Das Christentum verstehe er daher „nur“ als Vervollkommnung des alten Bundes. Es sei für ihn letztendlich nichts weiter als ein mehr oder weniger „reformierter Judaismus“. Im Gegensatz zu dem neuen frischen Ansatz bei Paulus, hinter dem der Hebr völlig zurückbleibe, gieße dieser nur neuen Wein in alte Schläuche.1 Diese Meinung vertritt heute kaum noch jemand. Im Gegenteil, der Vorwurf lautet gerade umgekehrt. Trotz des umfangreichen Bezugs auf die schriftlich bezeugte Geschichte Israels – oder vielmehr gerade deswegen – wurde und wird dem Hebr vor allem in der Exegese seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder ein negatives und deshalb auch problematisches Verhältnis zum Judentum vorgeworfen. Die frühere Annahme, die vermutlich später hinzugefügte Überschrift des Hebr „ΠΡΟΣ ΕΒΡΑΙΟΥΣ“ sei als „Gegen die Hebräer“ zu übersetzen,2 findet in der gegenwärtigen Forschung zwar kaum noch Anhänger,3 dennoch ist die Diskussion um die damit verbundene Sachfrage keineswegs abgeklungen. Liegt mit Hebr ein neutestamentliches Schreiben vor, gegen das aufgrund seiner Theologie, allen voran wegen seiner kompromisslosen Christozentrik in der Heilsfrage, zu Recht der Vorwurf einer antijüdischen Polemik erhoben wurde und wird? Ist dieser Vorwurf haltlos? Zeigt Hebr überhaupt ein theologisches Interesse an seinen jüdischen Zeitgenossen? Oder lässt sich umgekehrt auf der Grundlage seiner Gedanken sogar ein biblisch-theoloVgl. SCOTT, Epistle, 96f. Vgl. z. B. HUNT, B. P. W. S: The „Epistle to the Hebrews“. An Anti-Judaic Treatise?, in: Cross, F.L. (Hg.): StEv, Bd. 2/1: The New Testament Scriptures, TU 87, Berlin 1964, 408–410. Für Hunt habe ein uns unbekannter Autor die theologische Abhandlung eines anderen, wohlgemerkt jüdischen Autors mit einem Briefschluss (13,22–25) sowie eben jener inscriptio versehen und als Brief an eine Gemeinde versandt, der er gegen judaisierende Prediger helfen wollte. Insofern sei „ΠΡΟΣ ΕΒΡΑΙΟΥΣ“ als „gegen die Hebräer“ und zwar i. S. von „gegen die Judaisierer“ zu lesen. 3 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 21f. 1 2
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Teil I: Einführung
gischer Gewinn für die Verhältnisbestimmung der christlichen Kirche zu Israel erzielen?
1.1 Terminologische Schwierigkeiten Eine der größten Herausforderungen in dieser Debatte stellt die Terminologie dar, um das Konzept einer negativen Haltung gegenüber dem Judentum zu beschreiben, zumal eine solche Haltung unterschiedliche Ausdrucksformen finden kann und gefunden hat.4 Innerhalb der theologischen Diskussion hat sich hierfür vor allem die Unterscheidung zwischen „Antisemitismus“ und „Antijudaismus“ etabliert.5 Ziel dieser Unterscheidung ist in der Regel, eine anachronistische Beurteilung des Umgangs mit dem Judentum in der westlichen Welt bis zum 19. Jh. aus einer späteren Perspektive zu vermeiden. Denn erst ab dem 19. Jh. ist eine rassistisch motivierte systematisierte Abwertung der Juden mit ihrem Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt im Holocaust historisch greifbar.6 Der ausschlaggebende Unterschied beider Ausdrücke ist insbesondere der eines feindschaftlichen Motivs. Helen Fein definiert „Antisemitismus“ entsprechend als: „[…] a persisting latent structure of hostile beliefs towards Jews as a collective manifested in individuals as attitudes, and in culture as myth, ideology, folklore and imagery, and in actions – social or legal discrimination, political mobilization against the Jews, and collective or state violence – which results in and/or is designed to distance, displace, or destroy Jews as Jews.“7
Der Antijudaismus bewegt sich demgegenüber auf einer inhaltlichen Ebene und bezieht Position gegenüber religiösen Aussagen oder Praktiken. Die Diskussion um die genaue Abgrenzung beider Ausdrücke zueinander gerade im Blick auf konkrete geschichtliche Ausprägungen hält jedoch an.8
Vgl. zur Diskussion u. a. DUNN, Question, 179–182. Vgl. HOFFMANN, Christhard: Christlicher Antijudaismus als Problem der historischen Antisemitismusforschung, in: Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1994, 293–317; HEIL, Johannes: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Begriffe als Bedeutungsträger, Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), 92–114; STEGEMANN, Ekkehard W.: Judenfeindschaft. Zwischen Xenophobie und Antisemitismus, Kirche und Israel, Neukirchner Theologische Zeitschrift 10 (1995), 152–166. 6 Vgl. D AN, Art. Antisemitismus I, 556; C HAZAN, Art. Anti-Judaism I, 198–203. Der Ausdruck „Antisemitismus“ wurde um 1873 von dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr geprägt, um damit eine (rassistisch begründete) Politik gegen Juden zu beschreiben, die er selbst befürwortete (vgl. LANGMUIR, Definition, 86). 7 FEIN, Dimensions, 67. 8 Vgl. u. a. C HAZAN, Art. Anti-Judaism I, 203–205. 4 5
1. Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese
5
Weitere in dieser Debatte bemühte Wortschöpfungen sind die der „Judäophobie“9 oder der „Israelvergessenheit“10. Beide Ausdrücke entschärfen den schwerwiegenden Vorwurf des „Antisemitismus“ hinsichtlich der neutestamentlichen Schriften zumindest etwas, da eine aktive und direkte Anfeindung gegenüber dem Judentum hier nicht automatisch mitschwingt. Zudem wird das Problem so als eher tragischer, aber damit auch zu korrigierender Fehler betrachtet. Die Judäophobie bewegt sich dabei in der Linie gegenwärtiger Sprachgepflogenheiten, Gegenpositionen zu einem bestimmten Phänomen vorrangig als Ressentiment zu charakterisieren. Dies rückt die jeweilige Gegenposition sprachlich und sachlich in den Bereich des „Unwissens“. Eine ernsthafte sachliche Auseinandersetzung auf Augenhöhe ist dann nur bedingt vonnöten. Denn eine judäophobe Position kommt zu ihren Annahmen ja letztlich nur deshalb, weil sie Berührungsängste mit dem Judentum hat. Ähnliche Denkmuster liegen aber auch der sprachlichen Wortschöpfung „Israelvergessenheit“ zugrunde. Hier wird die Gegenposition ebenfalls nicht aufgrund sachlicher und insofern diskussionswürdiger Überzeugungen, sondern letztlich auch von vornherein als „defizitär“, weil „unwissend“ wahrgenommen. Konkret geht es hier um das Nicht-Wissen bzw. das Nicht-mehr-Wissen um die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens. In der folgenden forschungsgeschichtlichen Darstellung muss die Terminologie zunächst in dieser Unschärfe verbleiben. Denn die einzelnen Autoren und ihre Positionen zur Frage nach dem Verhältnis des Hebr zum Judentum benutzen diese Ausdrücke uneinheitlich und füllen sie auf der Grundlage unterschiedlicher persönlicher und zeitgeschichtlicher Beweggründe. So umschließe nach Werner Bergmann und Mona Körte das Wort Antisemitismus: „[…] wie es inzwischen im wissenschaftlichen wie alltäglichen Sprachgebrauch üblich geworden ist, alle Formen der Judenfeindschaft: von der Judäophobie der Antike über den christlichen Antijudaismus bis hin zum modernen, nationalistisch und rassistisch geprägten Antisemitismus im engeren Sinne.“11
Hier wird die nach wie vor existierende terminologische Unklarheit in der Debatte deutlich. Es ist allein schon methodologisch fraglich, wenn hier der zu definierende Ausdruck „Antisemitismus“ identisch mit (nur) einer seiner Unterkategorien ist. Entscheidend an dieser Definition ist jedoch, dass es so zwischen den einzelnen, negativ über Israels Heil urteilenden israeltheologischen 9 Vgl. z. B. STEGEMANN, Ekkehard W./STEGEMANN, Wolfgang: Hebrews and the Discourse of Judeophobia, in: Gelardini, G./W., Attridge H. (Hg.): Hebrews in Contexts, Ancient Judaism and Early Christianity, Bd. 91, Leiden/Boston 2016, 357–370. 10 Vgl. z. B. THEOBALD, Michael: Israel-Vergessenheit in den Pasthoralbriefen. Ein neuer Vorschlag zu ihrer historisch-theologischen Verortung im 2. Jahrhundert n. Chr. unter besonderer Berücksichtigung der Ignatius-Briefe, SBS 229, Stuttgart 2016. 11 B ERGMANN/K ÖRTE, Einleitung, 9.
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Teil I: Einführung
Positionierungen kaum noch Differenzierung geben kann. Denn letztlich werden alle Ausprägungen, denen so das Attribut „antisemitisch“ nachgesagt wird, unter dem Vorzeichen der in dieser Definition letztgenannten „Ausprägung“ („nationalistisch und rassistisch geprägter Antisemitismus“) verstanden. Ob sich die Bezeichnungen „Judäophobie“ oder „Israelvergessenheit“ sowie „Antijudaismus“ oder „Antisemitismus“ also zur Charakterisierung des christlichen Zeugnisses des Hebr eignen, gilt es daher auch zu überprüfen. Dies wird deshalb zum Abschluss dieser Arbeit noch einmal thematisiert werden.
1.2 Die Kritik am Hebräerbrief – Exegese im Schatten des Holocaust Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christen- und Judentum hat mit dem Vergehen am jüdischen Volk unter der NS-Diktatur eine nicht umkehrbare Zäsur erlebt. Vor allem, aber nicht nur von jüdischer Seite erhoben sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Stimmen, die (auch) eine theologische Auseinandersetzung in der Frage nach einer Mitschuld des Christentums einforderten und selbst betrieben.12 Zu den ersten dieser Stimmen zählten die Veröffentlichungen des anglikanischen Geistlichen James W. Parkes (1896–1981) sowie die des französischen Historikers Jules Isaac (1877–1963). An diesen beiden ersten Stimmen lässt sich schon früh ablesen, dass sich die nun entwickelnde Kritik am Christentum und seiner schriftlichen Grundlagen in zwei Linien vollzog – einer gemäßigten und einer radikaleren. Für die gemäßigte Seite war und ist der erlittene Antisemitismus (auch) Teil der Geschichte des Christentums und damit Teil der Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments, aber nicht Teil des christlichen Glaubens und seiner schriftlichen Grundlagen an sich. So kam Isaac in einem Vortrag an der Pariser Sorbonne 1959 trotz all der finsteren Kapitel in der Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses nicht umhin, letztlich doch festzuhalten: „How could Christianity, born Jewish, born of a Jewish belief (in the coming of a MessiahSaviour, born of the preaching of a Jew, Jesus-Jeshua, and of his disciples and apostles, all 12 Vgl. zum Folgenden die Darstellungen der Entwicklung dieser Auseinandersetzung vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bei: GAGER, Origins, 13–34. Vgl. ebenso FEIN, Helen: Explanations of the Origin and Evolution of Antisemitism, in: Dies. (Hg.): The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, CRAS 1, Berlin/New York 1987, 3–22; STEGEMANN, Ekkehard W.: Von der Schwierigkeit, sich von sich zu unterscheiden. Zum Umgang mit der Judenfeindschaft in der Theologie, in: BERGMANN, Werner/KÖRTE, Mona (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, 47–66; OCHS, Peter: Judaism and Christian Theology, in: Ford, David F./Muers, Rachel (Hg.): The Modern Theologians. An Introduction to Christian Theology Since 1918, Malden (MA) 32005, 645–662.
1. Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese
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Jews – how could this Christianity succumb to antisemitism? Is not the New Testament based upon the Old? Is not the term ‚Christian antisemitism‘ an absolute contradiction? It is my conviction that it is a absolute contradiction. Christianity in its essence excludes antisemitism.“13
Dagegen stand für Parkes und die durch ihn repräsentierte radikalere Linie innerhalb der Reihen der Kritik fest, dass der antisemitische Völkermord nicht nur als geschichtliches Verhängnis des christlichen Bekenntnisses gelten könne, sondern wesenhaft zu ihm gehöre: „In our own day and within our own civilisation, more than six million deliberate murders are the consequence of teaching about Jews for which the Christian Church is ultimately responsible, and of an attitude to Judaism which is not only maintained by all the Christian Churches, but has its ultimate resting place in the teaching of the New Testament itself.“ 14
Zunächst etablierte sich die gemäßigtere Linie in der Diskussion, denn die Veröffentlichungen von Isaac fanden breite Beachtung, allen voran sein vielfach diskutiertes Werk „Jésus et Israël“ von 1959.15 Für Isaac sei die Lehre (des historischen) Jesu keineswegs antijüdisch, sondern genuin in der jüdischen Tradition verwurzelt gewesen. Allerdings sei diese durch die neutestamentlichen Schriften, allen voran durch die Evangelien, mit einer polemischen Haltung und Darstellungsweise verzerrt worden.16 Diese Sicht entwickelte er ein Jahrzehnt später in seinem Werk „Genèse de l’Antisémitisme“17 weiter, in dem er die Entwicklung des Antisemitismus vor und nach Christus nachzuzeichnen suchte, um darin eine Kausalkette bis hin zum Holocaust aufzuzeigen. Die herausfordernden Thesen Isaacs fanden freilich nicht nur Befürworter. Allen voran der deutsch-kanadische Augustinerpater Gregory Baum versuchte sich in kritischer Auseinandersetzung mit Isaac an einer „Überprüfung des
13 ISAAC, Roots, 5. Der Vortrag am 15.12.1959 trug den Titel „Du Redressement Nècessaire de l’Enseigment Chrètien concernant Israël“. Das Zitat stammt aus der englischen Übersetzung der schriftlichen Veröffentlichung jenes Vortrags von 1965 (frz. Originaltitel: L’ antisemitisme a-t-il des racines chrétiennes?, Paris 1960). 14 PARKES, Judaism, 167. Parkes hatte seine Kritik bereits vor dem Zweiten Weltkrieg formuliert. In seiner Studie „The Conflict of the Church and the Synagogue. A Study in the Origins of Antisemitism“ von 1934 widmete er sich dabei auch ausdrücklich dem Hebr. Dieser sei an palästinische Judenchristen während des jüdischen Krieges 68–70 n. Chr. geschrieben worden, um sie in dieser schwierigen Situation zu stärken. Der Hebr gehöre dabei (noch) zur Kategorie der „theologischen Wegbereiter“. Denn, so Parkes im Blick auf die Verarbeitung der Landverheißung in Hebr 11, „[f]rom this it was easy to deduce that the promises belong to the Christians, and refer only to a heavenly Jerusalem“ (PARKES, Conflict, 60). 15 Vgl. ISAAC, Jules: Jésus et Israël, Paris 1948, 2. Aufl. 1959 (dt.: Jesus und Israel, Wien 1968). 16 Vgl. später ähnlich LITTELL, Franklin H.: The Crucifixion of the Jews, New York et al. 1975. 17 Vgl. ISAAC, Jules: Genèse de l’Antisémitisme, Paris 1959 (dt.: Genesis des Antisemitismus. Vor und nach Christus, Europäische Perspektiven, Wien 1969).
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Teil I: Einführung
Neuen Testaments“18. Sein Anliegen war es, „die Reinheit des Evangeliums zu verteidigen“19, und dieser Versuch sei auch dringend notwendig. Denn, so Baum, „man könne nicht daran glauben, daß das Neue Testament die göttliche Offenbarung und die Quelle des menschlichen Heils darstellt, wenn man wirklich überzeugt wäre, daß es Verachtung und Haß gegen das jüdische und irgendein anderes Volk einflößt“20. So seien die gegenüber dem Judentum harsch anmutenden Passagen im Neuem Testament Ausdruck eines real existierenden, sich zunehmend verschlimmernden Konflikts zwischen Kirche und Synagoge, jedoch zeige sich nirgends Hass und Verachtung. Vielmehr erwachse der Vorwurf der Judenfeindschaft einer durch spätere geschichtliche Ereignisse geprägten Fehlinterpretation. Diese Unterscheidung zwischen theologischer Botschaft der neutestamentlichen Schriften und ihrer (falschen) Interpretationen mit ihren (verhängnisvollen) Folgen ist nach wie vor prägend für all jene Stimmen, die das Neue Testament und damit auch den Hebr gegen den Vorwurf der Judenfeindlichkeit verteidigen, wie später noch weiter ausgeführt werden soll. Noch galt die, wie hinsichtlich der Terminologie bereits festgestellte, Unterscheidung zwischen einem auf das jüdische Bekenntnis als Theologie abzielenden Antijudaismus und einem auf die Juden als Personen abzielenden Antisemitismus als weitgehend akzeptiert. Der Wind innerhalb dieser Debatte drehte sich jedoch deutlich mit den Beiträgen von Rosemary R. Ruether, die vor allem seit dem Ende der 1970er Jahre ihre Überzeugung vortrug, dass der Antisemitismus zur Kern-DNA des Christentums zähle.21 Die radikalere Linie innerhalb der Kritik wurde lauter. Ruether sah den Kern des Problems im christlichen Bekenntnis zur Messianität Jesu, dem das Judentum so nicht zu folgen vermochte noch vermag. Da für Israel das Kommen des Messias’ und das Kommen der messianischen Heilszeit zeitlich untrennbar voneinander sei, könne – vor allem nach über 2000 Jahren erlebter sozialer, religiöser und schließlich rassistischer Anfeindung und Verfolgung – Jesus von Nazareth nicht der Messias sein.22 Weil der christliche Glaube aber grundlegend im Bekenntnis zu Jesus als Christus und damit auch in dessen Heilsbedeutung verankert sei, stellte Ruether die Frage: „Ist es möglich, das Christentum von Antijudaismus zu reinigen, ohne zugleich den christlichen Glauben zu entwurzeln? Ist es möglich zu sagen, ‚Jesus ist der Messias‘, ohne gleichzeitig implizit oder explizit zu sagen, ‚und die Juden sollen verdammt sein‘?“23
So der Untertitel der deutschen Ausgabe seines Buches BAUM, Juden. BAUM, Juden, 15. 20 B AUM, Juden, 15. 21 Vgl. R UETHER, Rosemary: Nächstenliebe. Vgl. auch D IES.: The Holocaust. Theological and Ethical Reflections, in: Baum, Gregory: (Hg.): The Twentieth Century. A Theological Overview, New York/London/Ottawa (Ontario) 1999, 76–90. 22 Vgl. R UETHER, Nächstenliebe, 229–233. 23 R UETHER, Nächstenliebe, 229. 18 19
1. Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese
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Während Isaac sich vorrangig auf die Evangelien bezogen hatte, unterzog Ruether, wie schon Parkes, den gesamten neutestamentlichen Schriftenkanon einer kritischen Untersuchung. Für Ruether zähle Hebr (zusammen mit Paulus und Johannes) als „[d]er ins Philosophische gewendete Antijudaismus“24 durch seine Deutung des Christusgeschehens in der Verbindung von platonischem und messianischem Dualismus.25 Durch diese Verbindung komme es – anders als bei Philo, dessen spiritualistische Exegese allein vom platonischen Dualismus geprägt sei und damit jedoch die Geltung des jüdischen Gesetztes verteidigen wolle – zur Identifizierung des Christentums mit dem eigentlichen, himmlischen und zugleich messianischen neuen. Die Konsequenz sei unweigerlich eine „‚Dämonisierung‘ des Judentums“26, wie sie sodann in gnostischen Entwürfen vorzufinden sei.27 Der eigentliche Skopus des Hebr sei (von Kap. 13 her verstanden) eine Warnung vor einem Rückfall ins Judentum, die sich vermutlich an Judenchristen in Alexandria gerichtet habe. Die Heilsbedeutung des als Messias bekannten Jesus sei dabei unumgänglich und die Christologie somit die „Schlüsselfrage“28 im Ringen um das Verhältnis zwischen Juden- und Christentum. Jedoch oder vielmehr deshalb sah Ruether keinen Weg, „das Christentum von seinem Antijudaismus zu befreien, ohne schließlich mit seiner christologischen Hermeneutik selbst zu ringen“29. Ruethers Thesen schlossen sich etliche Stimmen direkt oder indirekt an, wie im Folgenden nun weiter ausgeführt werden wird.30 Dabei konzentriere ich mich hier ausschließlich auf diejenigen Positionierungen, die den Hebr als Einzelschrift ausdrücklich thematisieren.31 Diese neueren Publikationen bewegen sich freilich zwischen gemäßigter und radikaler Kritik (s. o.) auf unterschiedlichen Bahnen. Mit Samuel Sandmel schaltete sich ein jüdischer Rabbiner in die Diskussion ein,32 dessen wissenschaftliches Interesse, nach eigenem Bekunden, dem frühen Christentum galt.33 Nach Sandmel sei der von ihm als solcher diagnosti-
So die vorangestellte Überschrift in RUETHER, Nächstenliebe, 93 (Herv. v. Vf.). Vgl. RUETHER, Nächstenliebe, 93f. 26 R UETHER, Nächstenliebe, 94. 27 Ruether verstand Hebr in direkter literarischer Abhängigkeit von Philo, wobei er diesen zugleich verzerre (vgl. RUETHER, Nächstenliebe, 94). 28 R UETHER, Nächstenliebe, 229. 29 R UETHER, Nächstenliebe, 112. 30 Besonders zu erwähnen gilt es hier noch einmal Gregory Baum, der sich von Ruether schließlich überzeugen ließ und seine früheren Schriften in einem Vorwort zu Ruethers Buch „Nächstenliebe und Brudermord“ (1978) widerrief (vgl. RUETHER, Nächstenliebe, 9–28; v. a. 10f.). 31 Nur erwähnt sei daher an dieser Stelle als weitere kritische Stimme, jedoch ohne direkten Bezug auf Hebr: ECKARDT, A. Roy: Elder and Younger Brothers. The Encounter of Jews and Christians, New York 1967. 32 Vgl. SANDMEL, Anti-Semitism. 33 Vgl. SANDMEL, Anti-Semitism, ix. 24 25
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zierte christliche Antisemitismus nicht aus dem paganen Antisemitismus seiner antiken Umwelt abzuleiten. Letzterer sei ein Antisemitismus, der sich nur indirekt religiös geäußert, sondern in erster Linie soziale Gründe habe und von „Außenseitern“ artikuliert worden sei. Christlicher Antisemitismus stamme hingegen von „quasi-insiders“34 und richte sich nicht nur gegen die von außen wahrnehmbaren Kennzeichen des jüdischen Glaubens (z. B. der Sabbat als Ruhetag). Vielmehr richte er sich gegen die religiösen bzw. theologischen Fundamente, die diesen äußeren Kennzeichen zugrunde liegen und die jüdische Identität definieren. „Pagans scorned Jews as possessed by a heritage that pagans had no respect for; Christians contended that the Jewish heritage no longer belonged to the Jews, but had passed into Christian possession.“35
Den Hebr versteht Sandmel vorrangig als Schrift, die die theologische Reflexion des Christusereignisses, die dem Antisemitismus der frühen Christen zugrunde liege, auf das Denk- und Sprachniveau gebildeter Eliten hebe.36 Zwar verunglimpfe Hebr nirgends (wie die Evangelien) direkt seine jüdischen Zeitgenossen, da sein Interesse am Judentum dessen Schriften und ihrer typologisch-figurativen Deutung auf Christus hin gelte. Dennoch richte sich seine Auseinandersetzung damit auf deren identitätsstiftenden Grundpfeiler: „In summary, it is the ancient Judaism with which Hebrews deals, regarding it as the worthy but imperfect preparation for the perfection which is Christianity. The Christ has superseded the Law; Christianity has superseded Judaism.“37
Sandmels Hauptinteresse galt zwar nicht vorrangig dem Hebr, sondern – den wissenschaftlichen Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechend – Paulus und den Evangelien. Dennoch schließen die von ihm aufgezeigten Beobachtungen vor allem zur Frage nach dem „Bund“ Gottes mit Israel und dem Verhältnis des Christentums (als „wahres Israel“) Hebr zumindest sachlich mit ein.38 Sein Fazit: „It is simply not correct to exempt the New Testament from anti-Semitism and to allocate it to later periods of history. It must be said that innumerable Christians have indeed purged themselves of anti-Semitism. But its expression is to be found in Christian Scripture for all to read.“39
SANDMEL, Anti-Semitism 5. SANDMEL, Anti-Semitism, 5. 36 Sandmel ging dabei von der mittlerweile als überholt geltenden Vorstellung aus, das frühe Christentum sei in erster Linie eine Bewegung der sozial Schwachen und Ausgegrenzten. Vgl. dazu aber u. a. WEISS, Alexander: Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordoAngehörigen unter den frühen Christen, Berlin et al. 2015. 37 SANDMEL, Anti-Semitism, 122. 38 Vgl. SANDMEL, Anti-Semitism, 138–141. 39 SANDMEL, Anti-Semitism, 143f. 34 35
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An Sandmels Ausführungen wird jedoch auch ein Problem erkennbar, das sich bei vielen gleichgesinnten Diskussionspartnern wiederfindet. Die Kategorien „Judentum“ und „Christentum“ werden hier aus einer Perspektive gefüllt, die die endgültig vollzogene Trennung von Kirche und Synagoge schon (vollständig) hinter sich weiß. Dies ist jedoch eine moderne Sichtweise, die Juden- und Christentum als zwei völlig separate und einander gegenüberstehende Phänomene versteht, und damit eine, die so erst sehr viel später eingenommen werden kann. Zumindest im Falle einer Datierung des Hebr in den 60er bzw. 70er Jahren wäre dies durch und durch anachronistisch. Aber selbst bei einer späteren Datierung (bis 95 n. Chr.) würde sich Hebr noch immer nicht in einem Kontext bewegen, der, zumindest nach heutigen Einsichten, das sog. „Parting of the Ways“ trennscharf hinter sich weiß.40 Die von Sandmel vertretene These, Hebr sei vor allem deshalb so problematisch, weil er als „quasi-insider“ so scharf gegen das Judentum polemisiere, fand sodann bei dem Religionswissenschaftler John G. Gager Widerhall.41 Hebr sei hinsichtlich der Unsicherheiten bzgl. seiner Entstehungsumstände, seiner kultischen Sprache und damit verbunden seiner kultischen Vorstellungen innerhalb der neutestamentlichen Schriften eine Einzigartigkeit, hinsichtlich seiner Haltung gegenüber dem Judentum jedoch typisch für die Schriften frühchristlicher Autoren: „[F]or it reflects the general preoccupation of Christian-writers in the late first century with demonstrationg the absolute superiority of Christianity over Judaism.“42 In diesem Motiv liege auch das Hauptargument des Hebr. Sein Ziel sei die Abwehr einer Judaisierung des christlichen Glaubens, wobei unklar bleibe, ob
40 Vgl. u. a. A LEXANDER, Philip S.: „The Parting of the Ways“ from the Perspective of Rabbinic Judaism, in: Dunn, James D. G. (Hg.): Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, WUNT 60, Tübingen 1992, 1–25; GOODMANN, Martin: Diaspora Reactions to the Destruction of the Temple, in: Dunn, James D. G. (Hg.): Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, WUNT 60, Tübingen 1992, 27–38; HENGEL, Martin: Die Septuaginta als von den Christen beanspruchte Schriftensammlung bei Justin und den Vätern vor Origenes, in: Dunn, James D. G. (Hg.): Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135, WUNT 60, Tübingen 1992, 39–84; NICKLAS, Tobias: Jews and Christians? Second-Century ‚Christian‘ Perspectives on the „Parting of the Ways“, Annual Deichmann Lectures 2013, Tübingen 2013. Kritik an einem Verständnis, das die Trennung zwischen Juden- und Christentum allerdings erst im vierten Jh. ansetzt, um so jede Unterscheidung zwischen christlichem und jüdischem Bekenntnis weitgehend zu vermeiden, üben hingegen zu Recht: BAUCKHAM, Richard: The Parting of the Ways. What Happend and Why, in: Ders.: The Jewish World around the New Testament. Collected Essays, Bd. 1, WUNT 233, Tübingen 2008, 175–192; HAGNER, Donald A.: Another Look at the „Parting of the Ways“, in: Bird, Michael F./Maston, Jason (Hg.): Earliest Christian History. History, Literature and Theology. Essays from the Tyndale Fellowship in Honor of Martin Hengel, WUNT II 320, Tübingen 2012, 381– 427. 41 Vgl. G AGER, Origins. 42 G AGER, Origins, 181.
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Hebr versuche, Judenchristen davon abzuhalten, sich wieder jüdischen Praktiken zuzuwenden, oder ob es um Heidenchristen gehe, die dies erstmalig tun würden.43 Zwar müsse Hebr als „the most sustained case of early Christian writings against the continued validity of the old coventant“44 gelten, dennoch gestand Gager ein, dass sich im Hebr weder eine Spur für juden- noch heidenchristlichen Antijudiamus ausmachen lasse. Hebr zeige nirgends Hinweise, dass die Adressaten des neuen Bundes (ausschließlich) Heiden seien. Hebr zeige überhaupt nirgends einen Hinweis auf die Annahme, Juden seien von Gott verworfen oder verflucht. Insofern könne Hebr als innerjüdische Kritik (ähnlich der Philos) verstanden werden.45 Dennoch bleibe die Radikalität seiner Kritik in einem negativen Sinn bemerkenswert und zeige, dass auch ein Kritiker, der sich auf seine eigene Identität bezieht, dabei über die Grenzen des Akzeptablen hinausgehen könne: „The author of Hebrews was undoubtedly a Jew. But in the final analysis his Jewish-ness reduces itself to his background and culture. Take away that background and culture, and we are well on the way toward Marcion.“46
Ein späterer offenkundiger Antijudaismus im Sinne Markions sei für Gager zumindest „implizit“ im Hebr vorhanden. Deshalb kommt (auch) er zu dem Urteil: „[I]t offers the most sustained and systematic case against Judaizing to be found anywhere in Christian literature of the first century.“47 Eine ähnliche Position nimmt auch der evangelisch-lutherische Theologe Norman A. Beck ein.48 Beck ordnet das frühe Christentum und das Neue Testament phänomenologisch als neue Bewegung mit s. E. typischen theologischen Beweggründen ein: „It is natural for adherents of a new religion to claim superiority for their heroes and for their beliefs over the heroes and beliefs of their religious antecedents and competitors. In their zeal such adherents of a new religion use whatever arguments and methods they can muster to try to induce others to join with them or to persuade members of their group to remain.“49
Innerhalb der neutestamentlichen Schriften sei Hebr dabei der elaborierteste Vertreter einer solchen Aufbruchsstimmung. Auch Becks Urteil ist nun zunächst ambivalent. In der ersten Auflage seines Buches „Mature Christianity“ (1985) heißt es dazu über Hebr: „Therefore the document is not a frontal attack upon late first-century Judaism as such.“50 Dennoch bekomme Hebr durch seiVgl. GAGER, Origins, 181f. GAGER, Origins, 183. 45 Vgl. G AGER, Origins, 183. 46 G AGER, Origins, 184. 47 G AGER, Origins, 184. 48 Vgl. B ECK, Christianity (11985, 21994). 49 B ECK, Christianity (2. Aufl.), 314. 50 B ECK, Christianity (1. Aufl.), 276. An dieser Stelle sei auf eine Auffälligkeit im Vergleich zwischen erster und zweiter Auflage dieses Werkes hingewiesen. Wie oben zitiert, 43 44
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nen Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung mit dem Ziel des Erweises der Überlegenheit Jesu über den jüdischen Kult ein (damals wie heute) antijüdisches Gepräge. Denn zwischen den vom Hebr ausschließlich betrachteten Personen und Schriften des antiken (alttestamentlichen) Israels und dem sich darauf zurückführenden Judentum (bis heute) bestehe eine untrennbare Kontinuität: „Hebrews is anti-Jewish, at least on an academic level. Its anti-Jewish influence upon Christians has been much less, however, than that of the Gospels and Acts.“51 Becks Schlussfolgerung, eine Polemik gegen das jüdische Bekenntnis bringe unweigerlich eine Polemik gegen die solches Bekennenden mit sich, findet sich auch in weiteren kritischen Positionierungen. So meinte Jennifer L. Koosed in einem Beitrag zu einem 2002 herausgegebenen Sammelband zur Frage nach einer verantwortlichen Exegese nach Auschwitz „A Shadow of Glory“ feststellen zu müssen: „When the old covenant is labeled ‚obsolete‘ (8:13) it is only a small shift to imagine the old covenant people as ‚obsolete‘ as well.“52 Als etwas gehaltvollere, weil weniger unter Rekurs auf die eigene Einbildungskraft dargelegte Kritik als die von Koosed, soll hier aber noch ausführlicher der Ansatz von Lillian C. Freudmann wiedergegeben werden.53 Freudmann versteht Hebr recht traditionell als ein an Judenchristen gerichtetes Schriftstück, die in der Versuchung standen, sich der jüdischen Glaubensweise wieder zuzuwenden. Dabei setze Hebr die Exklusivität und Überlegenheit der Christologie gegenüber der Thora bzw. Mose sowie die Ablösung des alten Bundes durch einen neuen als „paradigm for the relationship between Christianity and Judaism“54 voraus. Der Erweis dieser Überlegenheit und damit eine direkte Polemik gegenüber dem ihm zeitgenössischen Judentum sei „the real
spricht Beck in der ersten Auflage von 1985 davon, dass Hebr kein Frontalangriff gegen das Frühjudentum seiner Zeit sei („is not a frontal attack“). In der zweiten Auflage von 1994 heißt es nun aber an exakt derselben Stelle: „Therefore the document is [sic!] a frontal attack upon late first-century Judaism as such.“ (Herv. A. H.). Jedoch ist der komplette Kontext des Satzes in beiden Auflagen im Wortlaut identisch. „Its polemic is neither viciously antiJewish nor defamatory. […] Nevertheless, it is anti-Jewish in that the ancient Israelite religion and religious practices are disparaged in the comparisions that abound in the work.“ (BECK, Christianity [1. Aufl.], 276. bzw. BECK, Christianity [2. Aufl.], 314f.). Innerhalb dieses (in beiden Auflagen identischen) Kontexts ergibt allein der Wortlaut der ersten Auflage Sinn. Bei der zweiten Auflage muss es sich um einen Fehler handeln, so Beck an dieser Stelle nicht seine Meinung geändert, dann jene aber unschlüssig in ihrem ursprünglichen Kontext belassen haben sollte. Sein Urteil über Hebr ist zwar durchaus kritisch, aber eher auf der Linie gemäßigt-kritisch zu verorten, nicht wie er sodann mit Bezug auf die zweite Auflage falsch bei WILLIAMSON, Anti-Judaism, 269f. wiedergegeben wird. 51 B ECK, Christianity (2. Aufl.), 315. 52 K OOSED, Blind, 95. 53 Vgl. FREUDMANN, Antisemitism. 54 FREUDMANN, Antisemitism, 150.
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aim of the Epistle of the Hebrews“55. Freudmann wertet Hebr dabei konsequent als Repräsentant einer neutestamentlichen Briefliteratur aus, welche die Person und Lehre Jesu in ihrem Sinne antijüdisch verzerren und die alttestamentlichen Schriften entsprechend falsch auslegen und auf Jesus beziehen.56 Gerade der intensive, aber aus Freudmanns Sicht, „falsche“ Schriftgebrauch, allen voran den der Psalmen, zeige eine polemische Verengung gegenüber den alttestamentlichen Schriften bzw. gegenüber dem jüdischen Glauben: „The psalmist’s view of God’s plan is far more democratic and humanitarian than the apostle’s doctrine.“57 Dies ist zugleich Freudmanns wichtigstes Argument gegen Hebr, nämlich, dass die alttestamentlichen Texte das Christusereignis in der Form, wie es die neutestamentlichen Autoren und damit auch Hebr verstanden haben, so aus sich heraus in keiner Form im Sinn hätten. Hier liegt m. E. aber auch die wesentliche Schwäche in Freudmanns Argumentation. Den Autor des Hebr versteht sie als Juden, der sogar an Juden(christen) schreibe. Ihr Vorwurf an Hebr ist nun strenggenommen anachronistisch. Hebr kann als Jude seine (jüdischen) hl. Schriften ja so ausgelegt haben, so, wie andere jüdische Gruppierungen dieselben Schriften auf ihre z. T. ebenfalls sehr eigentümliche Weise auslegten (z. B. die Qumran-Gemeinschaft). Wenn Freudmann Hebr vorwirft, seine Interpretation sei „falsch“, dann ist diese aber „falsch“ immer nur so weit, wie sie ein (!) Deutungsangebot der alttestamentlichen Schriften unter vielen darstellt. Dies sollte umso mehr beachtet werden, als eben jene alttestamentlichen Schriften in ihrer ganzen Schriftwerdung als andauernder Prozess der Deutung, Aneignung und Fortschreibung verstanden werden müssen. Führt Freudmann Hebr als Gegner des Judentums vor, dann zumindest einzig gegenüber einem Judentum, das sich selbst in dieser Form auch erst im Laufe der Zeit (und parallel zum bzw. in Auseinandersetzung mit dem Christentum) geformt hat. Man kann Hebr aber nur schwerlich den Vorwurf machen, er richte sich gegen ein Judentum, das er selbst so noch gar nicht gekannt haben konnte, will man ihn nicht unhaltbar spät datieren. Als letzter dezidiert kritischer Beitrag soll hier das Urteil William Nicholls dargestellt werden, weil es in seiner Schärfe und seinen daraus gewonnenen theologischen Konsequenzen kaum übertroffen werden kann.58 „No uncritical reader of the New Testament could easily come away with any but the most negative opinion of Jews. While the New Testament does not encourage racist views, for these were the invention of later periods, it sees little hope for Jews except in conversion to Christ. Israel has no continuing validity as the covenant people. […] Christian anti-Judaism
FREUDMANN, Antisemitism, 153. Vgl. FREUDMANN, Antisemitism, 153–158. 57 FREUDMANN, Antisemitism, 153. 58 Vgl. N ICHOLLS, Antisemitism. 55 56
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is not a later distortion of an originally pure religion. It is embedded in the foundation documents of the faith.“59
Gegen diesen christlichen Angriff auf das Judentum, der für Nicholls freilich direkt im Holocaust enden musste, gelte es radikal Stellung zu beziehen. „Against such influences, traditional Christianity, which accepts the binding authority of the New Testament Scriptures, has no theological defense. Only critical scholarship, driven by a passion for truth and for justice for the Jewish people, can disentangle Christianity from its legacy of anti-Judaism.“60
Der bitter-ironische Widerspruch einer solchen Selbststilisierung als kritische Objektivität, die zugleich von einer bestimmten Leidenschaft angetrieben wird, bedarf keiner weiteren Kommentierung. Selbstbewusst porträtiert Nicholls Hebr in scharfem Kontrast zu Paulus, wohlgemerkt einem Paulusbild, das er aus der sog. New Perspective und vor allem aus den Arbeiten Ed P. Sanders’ gewonnen hat. „Even within the New Testament […] there is at least one book having more in common with later theology that with its companions in the New Testament. This is the mysterious Letter to the Hebrews.“61
Der Überbietungsgedanke im Hebr bzgl. der Offenbarung Gottes im Sohn mache es nach Nicholls unmöglich, Hebr noch als legitim „jüdisch“ und insofern in irgendeiner Weise als positiv eingestellt gegenüber dem jüdischen Glauben zu verstehen.62 „If the Letter to the Hebrews was actually addressed to Jews, or to Christian Jews, its purpose must have been to dissuade them from fidelity to Judaism, or from returning to Judaism from Christianity. […] Such a theology need not to involve hostility toward Jewish people as such, but it is profoundly anti-Jewish in the sense that it degrades and invalidates Judaism in relation to Christianity, the religion of the ‚new covenant‘.“63
Radikal sind auch die theologischen Konsequenzen, die der immerhin ehemalige anglikanische Geistliche aus seiner Kritik zieht. Um sich von seinem ihm genuin innewohnenden Antisemitismus zu befreien, sieht Nicholls für das Christentum keinen anderen Weg, als sich letztlich vom Zeugnis des Neuen Testaments selbst völlig zu lösen, insofern es eine antijüdische Interpretation Jesu darstelle. Als antijüdisch gilt für Nicholls dabei jedoch alles, was Jesus als göttlich bzw. als Gottes Offenbarung bekennt. Wenn sich das Christentum von all jener „mythischen“ Überhöhung („mythology“) Jesu abwenden und sich dem historischen Jesus („history“) zuwenden würde, wie Nicholls ihn meint historisch und theologisch zutreffend gefunden zu haben, wäre das ErNICHOLLS, Antisemitism, 168 (Herv. v. Vf.). NICHOLLS, Antisemitism, 169. 61 N ICHOLLS, Antisemitism, 169. 62 Vgl. N ICHOLLS, Antisemitism, 169f. 63 N ICHOLLS, Antisemitism, 169f. 59 60
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gebnis eindeutig, aber auch folgenreich: „Once all the anti-Jewish elements have been removed from Christianity, what is left turns out to be Judaism.“64 Die radikalen Schritte, die Nicholls am Ende seiner Kritik am Hebr bzw. der neutestamentlichen Christologie als s. E. notwendig einfordert, müssen niemanden überzeugen. Sie zeigen aber, wie nah israeltheologische Fragestellungen an die Kernessenz des christlichen Glaubens heranreichen. So sollte es auch nicht erstaunen, dass neben der wissenschaftlich-exegetischen Auseinandersetzung gerade auch die kirchliche Debatte um eine Verhältnisbestimmung zwischen Juden- und Christentum nach dem Zweiten Weltkrieg mühselig um Antworten ringt.65 Hier kristallisierte sich zunehmend jene theologische Stoßrichtung heraus, die dem Judentum aus christlicher Sicht einen eigenständigen Heilsweg zuspricht. Die Evangelische Kirche im Rheinland war 1980 die erste deutsche Kirche, die angesichts grundlegender theologischer Entscheidungen im Blick auf das Verhältnis von Juden- und Christentum, dem christlichen Bestreben, jüdischen Gläubigen Jesus von Nazareth als ihren (und unseren) gekommenen Messias zu bezeugen, eine Absage erklärt hatte.66 Am bisherigen Ende dieses Prozesses steht die Entscheidung der EKD-Synode vom 09.11.2016, sich einstimmig gegen die sog. „Judenmission“ auszusprechen.67 Auf dem Weg hin zu dieser Entscheidung war und ist der Hebräerbrief auch auf kirchlicher Seite als biblische (und damit christlich normative) Schrift immer wieder in den Verdacht der Judenpolemik oder sogar Judenfeindlichkeit geraten, scheint er sich doch der vielfach beschworenen „Einsicht in die bleibende Erwählung Israels“68, die laut der EKD-Studie „Christen und Juden II“ von 1991 „heute zu
NICHOLLS, Antisemitism, 431. Die Frage nach einer Mitverantwortung des Christentums am Holocaust bewegt die christlichen Kirchen unentwegt und ein Ende ist kaum auszumachen. Vgl. dazu die Zusammenstellung kirchlicher Verlautbarungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis bei: RENDTORFF, Rolf/HENRIX, Hans H. (Hg.): Die Kirchen und das Judentum, Bd. 1: Dokumente von 1945 bis 1985, Gütersloh 32001 sowie HENRIX, Hans H./KRAUS, Wolfgang (Hg.): Die Kirchen und das Judentum, Bd. 2: Dokumente von 1986 bis 2000, Gütersloh 2001. 66 Vgl. den Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Januar 1980, dokumentiert in: DIE KIRCHEN UND DAS JUDENTUM. DOKUMENTE VON 1945 BIS 1985, hg. v. Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix, Paderborn/München 21989, 593–596, bes. Art. 6. Unter den vier genannten Gründen für diese Entscheidung wird neben drei eher empirisch orientierten auch ausdrücklich ein biblisch-theologisch bzw. hermeneutischer genannt („Neue biblische Einsichten“). 67 Vgl. PRESSESTELLE DER EKD: Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes, Pressemitteilung, 09.11.2016. Online unter: https://www.ekd.de/pm170_2016_christen_und_juden_als_zeugen_der_treue_gottes.htm (zuletzt eingesehen am 26.02.2019; 15.50 Uhr). 68 SCHWAETZER, Irmgard (Hg.): Kundgebung „... der Treue hält ewiglich.“ (Psalm 146,6). Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes, 09.11.2016. Online: https://www.ekd.de/messianische-juden-4-schlussfolgerungen-30363.htm (zuletzt eingese-hen am 13.02.2019;16.20 Uhr). 64 65
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den allgemein anerkannten christlichen Überzeugungen“69 zähle, konsequent zu widersetzen.70 Die Debatte um Hebr als antijüdische Schrift ist zwar schon viele Jahrzehnte alt, doch so gegenwärtig die quälende Erinnerung an die Verbrechen am jüdischen Volk im 20. Jh. ist, so aktuell bleibt auch diese Frage. Zwar teilen viele Ausleger die radikale Kritik James Parkes’, Rosemary Ruethers oder William Nicholls’ nicht, Hebr sei an sich judenfeindlich. Dennoch bleibt bei Vielen der Vorwurf an den Hebr bestehen, er biete zumindest nur sehr wenige sachliche Argumente auf, um (s)einer antijüdischen Rezeption entgegenzutreten. „So NT texts on their part suited Christian concepts of the Jews as enemies more or less smoothly.“71 „Vieles deutet darauf hin, daß im Hebräerbrief das Christentum als aufhebende Vollendung des Judentums gesehen ist, als Ablösung einer vergangenen Heilsperiode durch ein neues, weit überlegenes Heil. Im krassen Unterschied zum Römerbrief des Paulus interessiert hier die Situation des nach- und außerchristlichen Judentums nicht weiter. Nicht einmal der Bruch einer Kontinuität wird empfunden, weil die typologische Schau das Alte Testament sich anverwandelt und so beinahe zum Bruch der Kirche werden läßt. […] Das alles ist natürlich keine antijüdische Polemik, aber auf jüdischer Seite sieht man bis heute wie im Galaterbrief so auch im Hebräerbrief eine antijüdische Stimmung und die Abrogation der jüdischen Religion formuliert. […] Eine starke Relativierung der jüdischen Bibel und ihrer Eigenaussage ist jedenfalls unverkennbar.“72
Wie aktuell die hier skizzierte Frage gerade auch im wissenschaftlichen Diskurs bleibt, zeigt sich schon allein daran, dass sie auch in jüngeren Sammelbänden immer wieder zur Sprache kommt.73 Viele weitere solcher kritischen Stimmen der letzten dreißig Jahre Forschungsgeschichte können hier nur angeführt, aber nicht näher dargestellt werden.74 Trotz zahlreicher Bemühungen CHRISTEN UND JUDEN II, 65. Vgl. auch CHRISTEN UND JUDEN III, 142–146. 71 STEGEMANN, Art. Anti-Judaism III, 215. 72 SCHRECKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 92. 73 Vgl. die Diskussion „The Problem of Hebrew’s Supersessionism“ in: B AUCKHAM, Richard et al. (Hg.): The Epistle to the Hebrews and Christian Theology, Grand Rapids (MI) 2009; sodann in: CUNNINGHAM, Philip et al. (Hg.): Christ Jesus and the Jewish People Today. New Explorations of Theological Interrelationships, Grand Rapids (MI) 2011 sowie den jüngst erschienen Sammelband mit einer systematisierten Darbietung klassischer Aufsätze zum Hebr: MACKIE, Scott D. (Hg.): The Letter to the Hebrews. Critical Readings, T&T Clark Critical Readings in Biblical Studies, London 2018 mit einem eigenen Kapitel unter der Überschrift: „The Old Testament and the Relationship with Contemporaneous Judaism“. 74 Vgl. z. B. W ILSON, Strangers, 110–123, der Hebr zusammen mit dem Barnabasbrief in einem Kapitel mit der kurzen aber deutlichen Überschrift „Supersession“ (dt. Ablösungsoder Ersatztheologie) behandelt. Sodann BEKER, View, 66f. oder KRAUS, Tod, 258 Anm. 133, wobei letzterer zumindest dazu aufruft, diese Problematik in einen größeren ntl. Zusammenhang zu stellen und tiefer in die Thematik rund um den Hebr einzudringen. Weniger deutlich, aber dennoch mit einer ersichtlichen Skepsis, ob Hebr nicht letztlich doch feindlich gegenüber Juden gesinnt sei: FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 320–322. 69 70
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scheint Hebr vom Vorwurf eines negativen Verhältnisses gegenüber dem Judentum, mit welchen Bezeichnungen auch immer dieses Verhältnis genauer beschrieben wird, nicht befreit werden zu können. Dabei mangelt es an solchen Versuchen keineswegs.
1.3 Die Verteidigung des Hebräerbriefes Die Liste der Verteidigungsplädoyers für den als „judenfeindlich“ angeklagten Hebr ist ebenso lang wie die seiner Kritiker. Wie auch bei der Kritik zeigen sich hier im Laufe der Forschung sehr unterschiedliche Argumentationslinien, die sich z. T. überschneiden, aber auch an wesentlichen Aspekten voneinander abweichen. Eine Systematisierung all jener Ansätze ist daher nur bedingt durchführbar. Denn die einzelnen Positionen sind keinen völlig starren Schemata so zuzuordnen, als dass sie diese nicht auch immer wieder durchbrechen und die Grenzen zwischen all jenen Argumentationslinien fließend bleiben. Gerd Theißen unterscheidet hier mit Blick auf die neutestamentliche Exegese insgesamt zwischen drei Grundtypen,75 wobei er von drei „Formen der ‚Relativierung‘ der Antijudaismen“76 in der Forschung spricht. Nun ist diese Formulierung für eine zunächst neutrale Systematisierung derjenigen Ansätze, die positiv über Hebr urteilen, m. E. zu einseitig, weil sie bereits voraussetzt, dass Antijudaismen im neutestamentlichen Zeugnis vorhanden sind und diese in der Exegese lediglich „relativiert“ werden. Ich spreche daher von Grundtypen der Verteidigung bzw. der Überprüfung des Vorwurfs der Judenfeindlichkeit bzw. -polemik. Eine solche kritische Auseinandersetzung war und ist freilich dringend notwendig, wie Theißen völlig zu Recht festhält: „Der Nachweis positiver neutestamentlicher Aussagen über das Judentum neben den negativen erspart uns nicht die Auseinandersetzung mit der dunklen Wirkungsgeschichte neutestamentlicher Antijudaismen, im Gegenteil: Gerade weil im Christentum das Bewußtsein einer singulären Nähe der Juden nie verloren ging, war die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen so voll von Leid.“77
Hierfür bietet Theißens Dreierschema aber eine sehr brauchbare Herangehensweise, um die verschiedenen Positionen erstens hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens einzuordnen und zweitens Chancen und Grenzen dieses jeweiligen Vorgehens besser überprüfen zu können. Er macht nun drei solcher Herangehensweisen aus: eine „textimmanente“, eine „historische“ und eine „symbolische“.78
Vgl. THEISSEN, Aporien. THEISSEN, Aporien, 539. 77 THEISSEN, Aporien, 542. 78 Vgl. THEISSEN, Aporien, 539. 75 76
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Es sei noch einmal vorab betont, dass die Vertreter, die hier als Beispiele einem der drei Grundtypen zugeordnet werden, sich i. d. R. immer auch der Argumentationsmuster eines oder sogar beider anderen Grundtypen bedienen. Es handelt sich also nicht um eine Typologie der Positionen, sondern um eine der ihnen jeweils mehr oder weniger zugrundeliegenden Argumentationsmuster. 1.3.1 Der symbolische Grundtyp Der symbolische Grundtyp muss hier kaum weiter behandelt werden, weil er m. E. keine überzeugenden Argumente liefert. Hier werden Aussagen über das Judentum bzw. den jüdischen Glauben als Aussagen über allgemeinmenschliche Umstände interpretiert. Ansätze in der Auslegung des Hebr finden sich vor allem dort, wo z. B. dessen Aussagen über das levitische Priestertum ausschließlich auf das antike Priestertum als solches verstanden werden.79 Ebenso wäre hier m. E. die, vor allem in der religionsgeschichtlichen Einordnung des Hebr, als „hellenistische“ oder sogar als dezidiert „mittelplatonische“ Deutung zuzuordnen. Hiernach orientiere sich das theologische Denkmuster im Hebr nicht an zeitlichen Kategorien und, damit verbunden, dem Gedanken einer „Erfüllung“ bzw. „Überbietung“ von alttestamentlichen Aussagen, Institutionen und Ereignissen, sondern ausschließlich an dem Dualismus „himmlisch/irdisch“.80 Meistens wird Hebr so in direkter oder zumindest indirekter, sprich geistesgeschichtlicher Abhängigkeit zu Philo von Alexandrien interpretiert. „Der (cum grano salis!) ‚Philonismus‘ des Hebr scheint mir in der Tat die Lösung zur theologischen Grundfrage im jüdisch-christlichen Kontext des Schreibens zu bieten. Eher als vereinzelte Passagen wird nämlich die Vorliebe des Hebr zum Vergleich (σύγκρισις) zu der Annahme Anlass geben, er biete ein ‚exercise in comparative religions‘, das dann freilich das Judentum theologisch zu depotenzieren suche. Jedoch denkt Hebr nicht polemisch-anithetisch, sondern biblisch-antitypisch. Die für das Schreiben so bezeichnende Komparativik dient nicht dem Vergleich zwischen zwei konkurrierenden Gottesvölkern, sondern dem Vergleich zwischen himmlischer Heilswirklichkeit und irdischer Schattenwelt und zielt damit letztlich auf die Unvergleichlichkeit Gottes. […] Das Judentum und seine Einrichtungen werden an keiner Stelle als solche kritisiert, und die ontologische Diastase ‚irdisch/himmlisch“ lässt sich nur gewaltsam in die kontroverstheologische Antithese ‚jüdisch/christlich“ verwandeln. Nicht Kirche und Synagoge, sondern Himmel und Erde vergleicht Hebr.“81
Der konkrete Geschichtsbezug zum antiken Israel und damit immer zugleich auch zum Judentum bzw. den Juden spielt bei dieser Deutung nur noch bedingt eine Rolle. Zugleich wird hier das freilich immer auch vorhandene vertikale Wirklichkeitsverständnis im Hebr auf eine einseitige Weise überbetont, die so für die Gedankenentwicklung des Hebr m. E. so nicht zu halten ist, wie später Vgl. in gewisser Weise KARRER, Hebräer I, 253f. Vgl. in etwa EISELE, Reich; BACKHAUS, Hebräerbrief; DERS: Gottesvolk. 81 B ACKHAUS, Gottesvolk, 202.205. 79 80
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noch genau ausgeführt werden soll.82 Eine solche symbolische „Verallgemeinmenschlichung“ ist zwar insofern sachgemäß, als dem antiken Phänomen des Priesterdienstes bzw. Opferkultes die allgemeinmenschliche, im alttestamentlichen Zeugnis als Beziehungsgeschehen zu JHWH als Schöpfer aller Wirklichkeit beschriebenen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zugrunde liegt.83 Es scheint m. E. aber im Blick auf den Hebr und seine im weitesten Sinne anzunehmenden historischen Rahmenbedingungen (1. Jh. n. Chr.) unsachgemäß zu sein – egal, ob er nun vor oder nach 70 n. Chr. datiert wird –, wenn dabei der geschichtliche Zusammenhang zum Kult Israels, und sei dieser auch einzig in seiner alttestamentlichen bezeugten Form gemeint, aufgelöst wird.84 Der nächste Grundtyp schlägt angesichts dieses Problems gerade die gegenteilige Richtung ein. 1.3.2 Der historische Grundtyp Die meisten Ansätze, die dem Vorwurf der Judenpolemik im Hebr kritisch entgegentreten, treffen ihr Urteil letztlich auf der Grundlage des historischen Grundtyps.85 Dem i. d. R. an inhaltlichen Aussagen des Hebr festgemachten Negativurteil wird hier durch einen Verweis auf den vermuteten Entstehungskontext des Hebr widersprochen. Das Schema dieses Grundtyps lautet stark vereinfacht: Wenn Hebr unter bestimmten historischen Rahmenbedingungen interpretiert wird, dann schließen diese eine antijüdische Polemik entweder aus oder verorten diese innerhalb eines gängigen und insofern legitimen Diskurses in der Antike. Bemerkenswert ist dabei, dass sich mit diesem Schema äußerst unterschiedliche, z. T. sich entgegenstehende Annahmen über die Entstehungsumstände des Hebr verbinden lassen und auch verbinden. Dennoch gelangen sie hinsichtlich der Frage nach einem negativen Verhältnis des Hebr zum ihm zeitgenössischen Judentum zu ein und demselben Ergebnis. Der wesentlichste Unterschied in den einzelnen Positionen zeigt sich dabei vor allem im Blick auf die Datierung des Hebr bzw. der damit verbundenen religionsgeschichtlichen Einordnung seiner Adressaten. William Klaasen analysiert in seiner Studie von 1986 den Hebr hinsichtlich seiner Adressaten, seiner literarischen Struktur und seiner vorrangig intendierten Thematik.86 Dabei kommt er zu dem Schluss, dass hinter Hebr ein hellenistisch geprägter judenchristlicher Autor stehe, der seine Gemeinde stärken möchte und dabei die Beziehung zwischen christlichem und jüdischem Glauben zueinander in Beziehung setze. Dabei spiele die komparative Kategorie S. u. II.3.1. S. u. II.2.1 sowie II.2.4.1. 84 Vgl. so auch zu Recht THEISSEN, Aporien, 549. 85 Vgl. auch die Übersicht und Bewertung einzelner Positionen bei: W ILLIAMSON, AntiJudaism. 86 Vgl. K LAASEN, Hebrews. 82 83
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„besser“ (hinsichtlich des Christentums) eine entscheidende Rolle, sodass Hebr als Beispiel einer „Exercise in Comparative Religions“87 gelten könne. Für diesen Vergleich (vor allem in Hebr 4–10) fragt Klaasen nun nach dessen historischen Kontext88 und kommt zu dem Schluss, dass Hebr sich dabei konsequent „in the Jewish tradition“89 bewege und damit von seinem historischen Kontext her quasi in seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum legitimiert sei. Diese Schlussfolgerung, Hebr als innerjüdische Polemik einzuordnen, findet sich in zahlreichen weiteren Ansätzen.90 Eine der bislang kühnsten, zugleich aber auch besonders spekulativen Positionen, die sich maßgeblich auf den historischen Grundtyp stützen, bietet Marie Isaacs. In ihrer Monographie „Sacred Space“91 von 1992 und einem darauf aufbauenden Aufsatz von 199692 versteht sie Hebr als (polemische) Reaktion auf das Judentum, konkreter auf judaisierende Lehren und damit auf eine Gefahr aufseiten der Adressaten, sich dem Judentum wieder oder erstmals zuzuwenden. Diesen klassischen Ansatz verbindet Isaacs nun aber mit einer recht innovativen historischen Begründung. Allein die Tatsache, dass Hebr von den einen als antijüdische Kampfschrift mit Betonung der Diskontinuität zu seinen alttestamentlich-frühjüdischen Wurzeln, von den anderen hingegen als genuin innerjüdischer Diskussionsbeitrag mit Betonung der Kontinuität zu selbigen verstanden wird, veranlasst Isaacs, hier an einer einseitigen Entscheidung bzw. an einer falschen Alternative überhaupt zu zweifeln. Vielmehr müsse jede Auslegung, die dem Text gerecht werde, beide Pole ins richtige Verhältnis setzten.93 Ausschlaggebend für ihre Interpretation ist die Beobachtung, dass Hebr das Heil überwiegend mit räumlichen Kategorien beschreibe. Dies solle jedoch nicht als Hinweis auf eine z. B. mittelplatonische Umformung des jüdischen Gedankenguts verstanden werden. Denn da Hebr auch zeitliche Kategorien gebrauche, bewege er sich durch und durch in traditionellen jüdisch-apokalyptischen Gefilden. Dies untermauert Isaacs mit einem Vergleich zu anderen jüdisch-apokalyptischen Schriften, die ebenfalls räumliche Vorstellungen aufweisen, wie 2 Bar oder 4Esr.94 Entscheidend sei nun, dass Hebr sich dabei dezidiert alttestamentlichen Traditionen zuwende, in denen es um die räumliche Begegnung zwischen Mensch und Gott gehe. Isaacs spricht hier von „sacred KLAASEN, Hebrews, 5. Vgl. KLAASEN, Hebrews, 6–18. 89 K LAASEN, Hebrews, 15. 90 Vgl. paradigmatisch SCHALLER, Art. Antisemitismus III, 558 über die ntl. Schriften: „Ihre ‚antijüd[ischen]‘ Aussagen und Ausfälle spiegeln durchweg binnen[jüdisch] bedingte Zwistigkeiten und Abgrenzungen. [...] Hier von Judenfeindschaft, Antijudaismus oder gar Antisemitismus zu sprechen, ist historisch gesehen ein Anachronismus.“ 91 Vgl. ISAACS, Space. 92 Vgl. ISAACS, Hebrews. 93 Vgl. ISAACS, Hebrews, 145. 94 ISAACS, Hebrews, 146f. 87 88
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space“95. Konkret bezieht sie sich dabei auf die Motive „Land“ und die „Kultstätte“ (Heiligtum) sowie auf Personen und Institutionen, die mit diesen heiligen Orten als Mittler („mediator“) verbunden seien: Engel in Verbindung mit dem Himmel, Mose in Verbindung mit dem Sinai und dem verheißenen Land sowie das levitische Priestertum in Verbindung mit dem Heiligtum. Bei all diesen Bereichen, d. h. diesen heiligen Orten (der Gottesbegegnung) und ihren jeweiligen Mittlern, gehe es Hebr nun darum, aufzuzeigen, dass Jesus über sie hinaus in das jeweils „Bessere“ führe und dass insofern keine Notwendigkeit mehr für ihre Fortführung bestehe.96 Dabei argumentiere Hebr jedoch nicht als Außenseiter, sondern auf der Grundlage frühjüdischer Schriftauslegung als jüdischer Insider. Die Adressaten dieser Argumentation seien nun aber nicht mit ethnischen Herkunftskategorien wie jüdisch oder heidnisch zu beschreiben, da Hebr an keiner Stelle ein Interesse an einer solchen Unterscheidung zeige. Die ekklesiologische Unterscheidung im Hebr sei nicht Judentum und Christentum bzw. innerkirchlich formuliert, juden- oder heidenchristlich, sondern Gläubige und Ungläubige. Es gebe nur ein einziges Haus Gottes, zu dem sowohl Mose als auch Jesus gehören, wobei Jesus als Sohn der höhere Status zukomme. Dies sei keine Abwertung Moses im Sinne von „gut“ und „schlecht“, sondern eine Verhältnisbestimmung im Sinne von „gut“ und „besser“. Dieses eine Haus Gottes stehe vor dem Eintritt in die himmlische Ruhe, wobei diese noch nicht erlangt sei. Das Anliegen des Hebr sei nicht, gegen Juden zu polemisieren, sondern dafür Sorge zu tragen, dass das eine Haus Gottes (Juden und Christen gemeinsam) nicht am Ziel der verheißenen Gottesruhe vorbei drifte.97 Wozu bemühe Hebr sich um solch theologisch reichhaltige und durchaus radikale Gedanken? Dahinter stehe, so Isaacs, eine Reaktion auf einen konkreten äußerlichen historischen Anlass, der das Frühjudentum in der mediterranen Welt in einer umstürzenden Weise als Ganzes betraf, wobei Hebr zugleich als (nur) eine Antwort darauf unter vielen gelten müsse. Diesen Anlass erblickt Isaacs in der Tempelzerstörung 70 n. Chr. und damit im Verlust des levitischen Kultsystems, die eine theologische Reflexion auf jüdischer Seite zwingend erforderlich gemacht habe.98 „For all its message of a new covenant, therefore, Hebrews looks not to a discontinuous ‚new‘ people, but to a renewed people of God. Its climactic call to renunciation […] is not for Christians to abandon Israels as the people of God, but to relinquish Judaism’s cult place, sacrificial system, an territorry. Radical as this was, with the destruction of the Jerusalem
ISAACS, Hebrews, 147. Vgl. ISAACS, Hebrews, 147–154. 97 Vgl. ISAACS, Hebrews, 157f. 98 Vgl. ISAACS, Space, 67; ISAACS, Hebrews, 158. 95 96
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Temple in 70 CE and the loss of the land after the defeat of the Bar Kochba uprising in 135 CE, it was a challenge which both Judaism and emergent Christianity had to face.“99
Die Christologie des Hebr stehe bei den Adressaten nicht zur Debatte, sondern diene vielmehr als Antwort auf die Frage, wie Juden mit dem Verlust Jerusalems und des Tempels umgehen sollten. Nicht mitleidige Sehnsucht solle die Antwort sein, sondern das Ausrichten auf Jesus Christus, der über das irdische Jerusalem hinaus in das himmlische Jerusalem und in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums führe.100 Damit bewege sich Hebr innerhalb des frühjüdischen Diskurses um den richtigen Umgang mit einer durch äußere Umstände veranlasste (Not-)Situation. Den Ausführungen Isaacs ist m. E. in vielen Aspekten zuzustimmen, konkret in all jenen, in denen sie nicht vorrangig historisch argumentiert, sondern, wie später noch näher ausgeführt werden soll, textimmanent. Gleichwohl dienen Isaacs als entscheidendes Argument gegen den Vorwurf der Judenfeindlichkeit im Hebr letztlich gerade ihre historischen Schlussfolgerungen. Hier zeigt sich aber schon deutlich die entscheidende Schwäche des historischen Grundtyps, denn das historische Argument ist ja im Blick auf den Hebr ein zutiefst spekulatives, weil höchst umstrittenes und ungewisses. Verändert man das historische Vorzeichen der Tempelzerstörung in Isaacs Position, verkehrt sich ihre Argumentation unter Umständen sogar ins blanke Gegenteil, da Hebr so plötzlich mit, wie sie selbst einräumt, einer polemischen Haltung gegenüber zentralen jüdischen Kulturinstitutionen aufwartet, aber ohne historisch bedingte Legitimation. Diese Schwäche des historischen Grundtyps hängt auch vielen weiteren Positionierungen an, die mit ihm argumentieren. So erblickt Gabriella Gelardini im Hebr eine synagogale Predigt, die am jüdischen Fastentags Tischa be-Aw verlesen worden sei, dem neunten Tag des Monats Av im jüdischen Kalender.101 An diesem Tag sollen sich nach dem Mischna-Traktat Ta’anit fünf große Katastrophen in der jüdischen Geschichte ereignet haben, allen voran die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. und schließlich Jerusalems 135 n. Chr. Ähnlich wie Isaacs versteht auch Gelardini den Hebr als theologische Reflexion auf diese historische(n) Katastrophe(n). Im Unterschied zu Isaacs sieht Gelardini nun aber gerade nicht die Intention im Hebr, glaubensmüde bzw. angefochtene Christen davon abzuhalten, sich – angesichts dieser historischen Wirren – erneut dem jüdischen Kult zuzuwenden. Vielmehr sei dieser im Zweck der Liturgie selbst zu suchen, mit dem Sinn, die erlittene Katastrophe angemessen zu betrauern.102 Eine Gegenüberstellung von Christen und Juden sei im Hebr nirgends intendiert, „als
ISAACS, Hebrews, 158. Vgl. ISAACS, Space, 67. 101 Vgl. G ELARDINI, Synagogenhomilie. 102 Vgl. G ELARDINI, Synagogenhomilie, 168. 99
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vielmehr eine zwischen Juden und Rom“103. Mit dieser sehr konkreten historischen Verortung des Hebr und seines „Sitzes im Leben“ macht aber auch Gelardini ihre (auch mit vollzogene) Verteidigung des Hebr angreifbar.104 Denn sowohl ihre Annahme, hinter dem Hebr stehe eine Reflexion der Tempelzerstörung – Warum erwähnt Hebr diese dann mit keiner Silbe? – als auch die damit einhergehende Charakterisierung der Adressaten als „(mehrheitlich) jüdische und partikulare Ethnie […] im Rahmen eines vielfältigen Judentums“105 sind letztlich kaum beweisbar. Besonders sichtbar wird die („spekulative“) Schwäche des historischen Grundtyps bei Erich Gräßer, der sie sogar selbstkritisch einräumt.106 Auch Gräßer stellt die historischen Umstände in den Mittelpunkt seiner Argumentation, konkret die Frage nach Anlass und Zweck des Hebr. Er wendet sich gegen die in der Forschung lange dominierende Annahme, Hebr warne seine Adressaten vor einem „Rückfall“ in den jüdischen Kultus107 und polemisiere dementsprechend gegen das Judentum. Selbst wenn Hebr dabei nicht als direkt antijüdisch verstanden werde, da seine Argumentationsrichtung einzig auf die innerchristliche Erbauung abziele, würde er so indirekt dennoch „zu einem resoluten Antijudaisten“108 erklärt werden. Aber, so der Einwand Gräßers, die Erbauung im Hebr ziele vielmehr auf Adressaten, die einer „allgemeine[n] […] konfrontative[n] Gemeindesituation“109 ausgesetzt gewesen seien. Von einem zu bekämpfenden Judentum finde sich hierbei im Hebr daher keine Spur. Bemerkenswert ist nun aber vor allem, dass Gräßer seinen Aufsatz mit einem Eingeständnis eben jener spekulativen Schwäche des historischen Arguments beschließt. Seine Antwort sei, wie jede historisch basierende Antwort im Blick auf Hebr, eine Hypothese, die lediglich „in Konkurrenz zu anderen Hypothesen“110 stehe. Das gilt letztlich auch für Knut Backhaus, der ebenfalls zu einem historischen Urteil gelangt, um der Frage nach einer antijüdischen Haltung im Hebr
GELARDINI, Synagogenhomilie, 168. Vgl. entsprechend die kritische Rezension bei MÄRZ, Claus-Peter: Rez. Gelardini, Gabriella, Verhärtet eure Herzen nicht“. Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa beAw, BINS 83, Leiden et al. 2007, in: ThLZ 135 (2010), 549–551. Den Hauptkritikpunkt an Gelardinis These erblickt März zudem in ihrer Quellenbasis der jüdischen Liturgie für die fragliche Zeit, die nicht als tragfähig gelten könne. 105 Vgl. G ELARDINI, Synagogenhomilie, 167f.188–190.348. 106 Vgl. G RÄSSER, Schrift. 107 So schon B LEEK, Hebräerbrief, 63f.; vgl. z. B. auch SCHMITHALS, Empfänger und Anlass des Hebräerbriefes, in FS Gräßer, Berlin 1979, 320–342. 108 G RÄSSER, Schrift, 311. 109 G RÄSSER, Schrift, 311 (Herv. v. Vf.). 110 G RÄSSER, Schrift, 316. 103 104
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zu begegnen.111 Freilich ist (auch) bei Backhaus der Text des Hebr selbst Ausgangspunkt und Fundament seiner Überlegungen. Wesentlich ist für ihn dabei die semantische Beobachtung, dass das Wortfeld um Ἰουδαῖος im Hebr (trotz seines deutlichen Bezuges zum jüdischen Gottesdienst) fehlt. Das liege daran, dass es dem Hebr, nicht um das Judentum seiner Zeit, sondern allein um das Gottesvolk der Heiligen Schriften gehe. Für Backhaus liegt das gescheiterte Ringen um die Einheit von Synagoge und Kirche bereits (weit) hinter dem gedanklichen Horizont des Hebr. Vielmehr habe Hebr diesen Graben längst akzeptiert und richte sich als „Repräsentant des Parting of the Ways zwischen Judentum und Christentum“112 an ein „Christentum […], das sich von den unmittelbaren Bindungen an die jüdische Herkunft gelöst“113 habe. Der Hebr interessiere sich deshalb nicht (mehr) für den Weg seiner jüdischen Zeitgenossen,114 wenn überhaupt, so möchte man ergänzen, dann wohl nur in Form einer Art der theologischen Trennungsbewältigung. Seine Auseinandersetzung diene der positiven Heidenmission, nicht der negativen Abwertung von Juden.115 Juden- und Christentum seien bereits geschieden, aber doch zugleich durch das gemeinsame Ziel geeint und zum himmlischen Heiligtum gemeinsam unterwegs – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen.116 Man könne daher nicht den Hebr selbst, sondern „nur“ seine (z. T. fatale) Wirkungsgeschichte hinsichtlich des christlichen Umgangs mit dem Judentum kritisieren. Gerade in Anbetracht ihm zeitgenössischer Schriften, wie dem Barnabasbrief mit seiner dezidiert polemischen Haltung gegenüber dem Judentum,117 sei dem Hebr hier aufgrund seiner Ausgewogenheit vielmehr Respekt zu zollen.118 Hier sei natürlich noch einmal unterstrichen, dass Backhaus seinen Überlegungen völlig andere historische Rahmenbedingungen zugrunde legt als etwa Isaacs oder Gelardini. Zugleich nimmt er aber auch, wie wir noch sehen werden, eine völlig gegensätzliche Position zu der einer Frühdatierung vor der Tempelzerstörung ein. Aber auch seine historischen Rahmenbedingungen bleiben für die Frage nach dem Bezug des Hebr zum Judentum eine Schwachstelle.
111 Vgl. BACKHAUS, Gottesvolk. Vgl. dazu auch: DERS.: Der neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA, Neue Folge, Bd. 29, Münster 1996. 112 B ACKHAUS, Gottesvolk, 207. 113 B ACKHAUS, Gottesvolk, 207f. 114 Vgl. B ACKHAUS, Gottesvolk, 206f. 115 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 24.152. Hier werden die Empfänger konsequenterweise auch überwiegend als „heidenchristlich“ eingestuft. 116 Vgl. B ACKHAUS, Gottesvolk. 117 Vgl. B ACKHAUS, Knut: Das Bundesmotiv in der frühchristlichen Schwellenzeit. Hebärerbrief, Barnabasbrief, Dialogus cum Tryphone, in: Frankemölle, Hubert (Hg.): Der ungekündigte Bund? Antworten des Neuen Testaments, QD 142, Freiburg i. Br. 1998, 211–231. 118 Vgl. B ACKHAUS, Gottesvolk, 208.
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Denn selbst wenn man Hebr äußerst spät im ersten Jahrhundert datiert,119 so bleibt die Anfrage bestehen, ob sich das sog. „Parting of the Ways“ nicht wesentlich komplexer und lokal unterschiedlich ausgeprägt vollzogen habe, als dies bei Backhaus in gewisser Weise für den historischen Kontext des Hebr vorausgesetzt wird.120 Dagegen stellt Wolfgang Kraus zu Recht die kritische Anfrage, ob die Trennung von Juden- und Christentum für den Hebr wirklich schon ad acta gelegt sei oder nicht vielmehr noch in der Zukunft liege.121 Auch hier zeigt sich, der historische Grundtyp ist (allein) nicht hinreichend, wie auch Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann zu Recht anmahnen: „Historical context is undoubtedly important, but the persistent ambiguities preclude a decisive interpretation.“122 Dieser Hinweis auf die spekulative Schwäche des historischen Grundtyps soll freilich nicht so verstanden werden, als ob es kein historisches Fragen in der Interpretation an sich brauche, so umstritten und unbeweisbar die jeweiligen Antworten im besonderen Fall des Hebr auch sein mögen. Wie sonst wäre sich auch einer neutestamentlichen Schrift sachgemäß zu nähern? Natürlich ist auch der Einwand, Hebr bewege sich bei seiner Auseinandersetzung im Rahmen gängiger frühjüdischer Gepflogenheiten, kein falscher. In seinem Argumentationsgehalt ist dieser Einwand durchaus ernst-zunehmen, wie auch Theißen festhält: „Auch wenn wir heute die antijüdischen Vorwürfe im Neuen Testament unerträglich finden, so muß man doch aus Fairneß gegenüber den urchristlichen Autoren sagen: Ihre Polemik ist nicht schlimmer als das, was damals üblich war. Die Vorwürfe sind inhaltlich Vorwürfen vergleichbar, die uns aus innerjüdischen Auseinandersetzungen bekannt sind.“123
In dieser Einsicht bzw. vielmehr in ihrer Ausklammerung liegt ein wesentlicher Fehler aufseiten der besonders kritischen Positionen, die den neutestamentlichen Schriften und damit der Kernbotschaft des Christentums eine judenfeindliche Haltung nachzuweisen suchen. Sie machen in der Anklage dieser Schriften deren eigene Rezeptionsgeschichte zum Kronzeugen. Gleichwohl bleibt die herausfordernde Aufgabe bestehen, wie mit einem Angeklagten zu verfahren ist, auch wenn sich die Beurteilung seines ihm vorgeworfenen Vergehens aus späteren Einsichten speist. Mit dieser Aporie muss eine auf historischen Rahmenbedingungen fundierte Antwort auf den Vorwurf der Judenfeindlichkeit im Hebr umgehen. Doch der rein historische Diskurs bietet darauf keine hinreichende Antwort, wie Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann entsprechend festhalten. 119 Als terminus ad quem muss der Erste Clemensbrief ca. 95 n. Chr. veranschlagt werden, der Hebr teilweise wörtlich tradiert (vgl. zu den einzelnen Stellen u. a. THIESSEN, Rezeption, 299–301). 120 Vgl. die angegebene Literatur S. 11, Anm. 40. 121 Vgl. K RAUS, Heil, 141. 122 STEGEMANN/STEGEMANN, Hebrews, 366. 123 THEISSEN, Aporien, 543.
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„[E]ven if we concede that the empirical author and adressees of Hebrews are Jewish, who is to decide and on what grounds whether their convictions remain within the bounderies of what is Jewish […].“124
Dass eine Verortung des Hebr innerhalb des frühjüdischen Diskurses nicht zwingend zum Verstummen seiner Kritiker führen muss, haben ja gerade die Positionen Gagers und vor allem die Nicholls gezeigt (s. o.). Letzterer begreift Hebr zwar kulturell innerhalb des Frühjudentums, gelangt aber dennoch zu dem harschen Fazit: „[T]he author of Hebrews […] can no longer be called a Jew, even if he once been one. No one can speak of the covenant of Sinai as abolished and replaced by something better and still be a Jew. The claim of the superiority of Jesus to Moses is an absolute breach with Judaism and the manifesto of a new religion.“ 125
Im Gegensatz zu dieser eher pessimistischen Einstellung – „Neither the text itself nor its assumed historical origins can tell us whether Hebrews is engaged in an anti-Jewish discourse.“126 – muss ein zielführender Versuch, diesem Vorwurf zu begegnen, m. E. gerade vorrangig auf inhaltlicher Ebene zu suchen sein. Dieser Herausforderung haben sich bereits zahlreiche Ausleger gestellt, die sich dabei den dritten Grundtyp zu eigen machen. 1.3.3 Der textimmanente Grundtyp Keine exegetische Auseinandersetzung mit dem Hebr kommt ohne historische Fragestellungen aus, zumal sich diese ja i. d. R. immer auch auf textimmanente Beobachtungen stützen (sollten). Dass sie aber allein keine hinreichende Antwort auf den Vorwurf der Judenfeindlichkeit bieten, haben wir gerade festgestellt. Das gilt umso mehr im Falle der enormen Unsicherheiten hinsichtlich der historischen Entstehungsumstände des Hebr. Auf textimmanenter Ebene gibt es ebenfalls etliche Ansätze, die sich sowohl in ihrer sachlichen Argumentation enorm unterscheiden als auch unterschiedliche historische Urteile mit sich bringen. Eine Systematisierung ist daher nur bedingt möglich. Eine Möglichkeit ist die Darstellung nach bestimmten Kernthemen, die in der Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Antijudaismus (etc.) an den Hebr eine zentrale Rolle spielen. Hier sei vor allem die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament genannt und, damit dann eng verwandt, zwischen Frühjudentum und der entstehenden christlichen Gemeinde.127 Damit einher geht häufig eine konzentrierte Untersuchung all jener Textstellen im Hebr, die inhalt124 STEGEMANN/STEGEMANN, Hebrews, 365f. Vgl. C OHEN, Beginnings, 3: „Jewish identity in antiquity was elusive.“; vgl. COHEN, Maccabees, 24–26. 125 N ICHOLLS, Antisemitism, 169. 126 STEGEMANN/STEGEMANN, Hebrews, 366. 127 So z. B. K IM, Polemic, 12–16.
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lich und/oder rhetorisch unter dem Verdacht stehen, antijüdische Polemik zu transportieren.128 Häufig werden dafür folgende sieben Aspekte veranschlagt: (I) Die Gegenüberstellung von Jesus und Mose (sowie den Engeln als Übermittler des Gesetzes) in 1,5–14 und 3,1–6, (II) der Vergleich zwischen Jesus und der levitischen Kultordnung in 4,14–10,39 i. w. S., allen voran in 7,1–19; 9,8–10 und 10,1–10 i. e. S., sodann (III) die Verhältnisbestimmung von alter und neuer Diatheke in 8,7–13, (IV) die als Hinweis auf die Ermordung Christi durch die Juden gewertete Aussage über das Blut Abels in 12,24, (V) die Warnung vor der Einhaltung von Speiseordnungen in 13,9 sowie (VI) die als Separationserklärung vom Judentum verstandene Rede vom Altar, von dem die „Diener des Zeltes“ kein recht haben zu essen und schließlich (VII) der Aufruf zum „Verlassen des Lagers“ in 13,10–13. Letztlich ist dieses Vorgehen auch völlig einleuchtend, da die meisten Vertreter auf der kritisch urteilenden Seite ja gerade diese Textpassagen als Belege für ihr negatives Urteil anführen. Häufig lautet das Ergebnis solcher inhaltlichen Auseinandersetzungen mit diesen Textpassagen, dass Hebr sich hier weder gegen den jüdischen Glauben noch gegen jüdisch Glaubende richte, weil es ihm ausschließlich darum gehe, das Christusereignis im Lichte der alttestamentlich bezeugten Geschichte Israels zu verstehen und seinen Adressaten (wieder) als unaufgebbares Bekenntnisgut vor Augen zu führen. Dabei begründet auch hier nicht selten das historische Argument (s. o.) das abschließende Fazit: Für die einen bewege sich Hebr hier durch und durch innerhalb des innerjüdischen Diskurses, beispielsweise um die Frage nach dem Messias bzw. nach der Hoffnung auf die Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen. Für die anderen, wie oben mit Backhaus’ Ansatz bereits dargestellt wurde, zeige Hebr bei seinem Vorhaben an einem solchen Diskurs kein Interesse (mehr). Einen typischen Vertreter dieser Vorgehensweise stellt Lloyd Kim dar.129 In Aufnahme des „socio-rhetorical approach“130 interpretiert er Hebr 7,1–19; 8,1– 13 und 10,1–10, die er mit den häufig als Judenpolemik provozierend verstandenen Kernthemen Priesterschaft, Bund und Opfer verbindet.131 Kim versteht Hebr dabei als Schriftstück, das noch vor der Tempelzerstörung geschrieben worden sei. In dessen Empfängern erblickt er sodann eine innerjüdische Sekte, die ihren jüdischen Glauben aufgrund des Christusereignisses neu interpretiere.132 Dabei stünden zumindest einige in der Versuchung, sich wieder ganz 128 Vgl. u. a. W ALL/LANE, Polemic, 171–184 (analog für Jak S. 185–198); K IM, Polemic, 62–196; BACKHAUS, Gottesvolk, 199–203; analog für Mt, Joh und Apg: DUNN, Question, 187–210. Vgl. für weitere ntl. Schriften die anderen Beiträge in: EVANS, Craig A./HAGNER, Donald (Hg.): Anti-Semitism and Early Christianity. Issues of Polemic and Faith, Minneapolis (MI) 1993. 129 Vgl. K IM, Polemic. 130 Vgl. K IM, Polemic, 17–46. 131 Vgl. K IM, Polemic, 62–196. 132 Vgl. K IM, Polemic, 51–53.
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ihrem ursprünglichen jüdischen Glauben zuzuwenden und das Christusgeschehen dabei zu vernachlässigen.133 Auf diese Weise sei, so Kim, für Hebr der Vorwurf „Antijudaism“ und „Supersessionism“ nur insofern haltbar, als damit ein innerjüdischer Diskussionsbeitrag um die Bedeutung Jesu gemeint sei.134 Ähnlich geht auch Eric F. Mason vor.135 Im Gegensatz (!) zu Kim favorisiert Mason eine überwiegend heidenchristliche Adressatenschaft oder zumindest eine gemischte, wie sie z. B. in Rom zu erwarten wäre.136 Sein eigentliches Interesse gilt bei der Frage nach Antijudaismus im Hebr aber weniger der religionsgeschichtlichen Einordnung, also der Frage, ob es sich bei Hebr um eine (legitime) innerjüdische Polemik handle, sondern dem Abfassungszweck bzw. dessen Anlass aufseiten der Adressaten. Im Zentrum des Problems sieht er dabei drei Schwerpunkte: den Schriftgebrauch des Hebr, seinen Vergleich zwischen Jesus und Hauptaspekten des Judentums sowie die eigenwillige Sprache in Kapitel 13.137 Mason kommt zu dem Ergebnis, dass der Schriftgebrauch weder die Adressaten auf einen rein judenchristlichen Hintergrund beschränke oder eine Polemik gegen das Judentum aufweise,138 dass die Verhältnisbestimmung von alttestamentlichen Kultbestimmungen und Jesus das Judentum als solches nicht abwerte139 noch dass das überwiegend paränetisch geprägte 13. Kapitel des Hebr nicht vor einem Rückfall zum Judentum warne bzw. dazu aufrufe, sich dessen zu entledigen.140 Vielmehr sei, ähnlich zur Position Gräßers (s. o.), die Absicht des Autors die Glaubensermutigung einer vermutlich gemischten Gemeinde. Dabei zeige Hebr jedoch kein Interesse an ethnischen Kategorien, sondern nehme die christliche Gemeinde als solche angesichts Anfeindungserfahrungen in einer generell nicht-christlichen Umwelt in den Blick. „The theological danger is apathy and ultimately renunciation of faith, not an attraction to Judaism. The author appeals exegetically to the sacred texts he shares with his readers in his attempt to warn while also encouraging.“141
Für Tim S. Perry basiere der Vorwurf des Antijudaismus im Hebr auf einer modernen Perspektive, die bereits auf die Ausformung von Juden- und Christentum als zwei eigenständige, voneinander gelöste Religionsformen blickt.142 Das treffe für die Entstehung des Hebr aber nicht zu, denn das Christentum sei zu dieser Zeit „an internally diverse messianic sect within an equally diverse KIM, Polemic, 60. Vgl. KIM, Polemic, 94f.142.192. 135 Vgl. M ASON, Epistle. 136 Vgl. M ASON, Epistle, 390–392. 137 Vgl. M ASON, Epistle, 393–403. 138 Vgl. M ASON, Epistle, 395. 139 Vgl. M ASON, Epistle, 399. 140 Vgl. M ASON, Epistle, 403. 141 M ASON, Epistle, 403. 142 Vgl. PERRY, Jesus. 133 134
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Teil I: Einführung
‚Judaism‘“143 gewesen. Auch hier sticht freilich das historische Argument heraus. Zugleich mahnt Perry aber auch im Bewusstsein um die damit verbundenen Unsicherheiten im Falle des Hebr, die historischen Rahmenbedingungen für die Urteilsfindung nicht überzubewerten: „In case of Hebrews, we have only the text.“144 Deshalb sucht er nach textimmanenten Kriterien, um diesem Vorwurf zu begegnen, von denen er vor allem zwei auszumachen vermag: Zum einen schließe das Urteil des Hebr, dass Jesus größere Ehre als Mose zukomme, eine Ehrerbietung für Mose selbst nicht aus, sondern gerade ein. Dieser sei ein loyaler Diener Gottes und ein positives Glaubensbeispiel. Zum anderen baue Hebr seine ganze Argumentation auf einer Midraschauslegung alttestamentlicher Zeugnisse der LXX auf, wobei diese selbst intendieren, dass Gott etwas radikal Neues veranlassen werde. Hebr sei nun darum bemüht, aufzuzeigen, dass dies in Jesus geschehen sei. Sofern solch ein Ansatz als antijüdische Polemik gelte, komme diese aus der (jüdischen!) LXX selbst. Deshalb sei Hebr allen voran als Opponent eines innerjüdischen Diskurses über die richtige Schriftauslegung zu verstehen, der versuche, „one or perhaps several diverse Jewish schools“145 davon zu überzeugen, „about how to read the Thorah specifically and the Hebrew Bible generally“146. Eine besonders auf die textimmanenten Argumentation konzentrierte Version findet sich bei Charles P. Anderson.147 Für Anderson könne Hebr nicht im Zuge oder nach der Trennung von Kirche und Synagoge geschrieben worden seien, weil die Art und Weise, wie er über das Gottesvolk und die Thorah schreibe, zu einer früheren Phase gehöre (innerjüdischer Diskurs). Entscheidend sei die Frage, welche Ethnizität („ethnic identity“148) denen zukomme, die nach Hebr Erben der Verheißung bzw. die Nachfahren Abrahams seien. Handelt es sich hierbei um Heiden und Juden oder nur um eines der beiden? Anderson will dabei bewusst über die Frage nach der ethnischen Einordnung der eigentlichen Adressaten des Hebr hinausgehen, auch wenn beides natürlich eng miteinander verknüpft sei. Im Zentrum stehe dabei die Frage nach Diskontinuität bzw. Kontinuität des jüdischen Volkes zu denjenigen, denen der neue Bund gelte. Bringt ein neuer Bund ein neues Volk mit sich? Bestünde dies allein aus ehemaligen Heiden? Oder ist Hebr ein Beispiel für eine innerjüdische Auseinandersetzung („‚in-house‘ critique“149) wie beispielsweise das Selbstverständnis der Gemeinschaft von Qumran? Gibt es in diesem Fall eine Öffnung für Heiden? Oder wird Ethnizität gar völlig irrelevant?150 PERRY, Jesus, 74. PERRY, Jesus, 74. 145 PERRY, Jesus, 76. 146 PERRY, Jesus, 76. 147 A NDERSON, Heirs. 148 A NDERSON, Heirs, 257 (Herv. v. Vf.). 149 A NDERSON, Heirs, 257. 150 Vgl. A NDERSON, Heirs, 257. 143 144
1. Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese
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Anderson stellt zunächst fest, dass es im Hebr weder polemische Sprache gegen Juden gebe noch Heiden(-christen) bzw. eine Unterscheidung zwischen Juden- und Heidenchristen thematisiert werden.151 Vielmehr komme in der Argumentation des Hebr der Figur des Abraham eine Schlüsselrolle zu, denn nach 2,16 nimmt sich Christus dessen Nachkommenschaft (σπέρμα) an. Abraham trete vor allem als Verheißungsträger in Erscheinung, wobei zwei Verheißungsgüter von besonderem Interesse für Hebr seien: Nachkommenschaft und Land.152 Hier zieht Anderson nun einen Vergleich zu Paulus. Dieser zeige kaum Interesse an der Landverheißung, wohl aber an einer der Nachkommenschaft Abrahams, die er auf dem Hintergrund seines Anliegens der Heidenmission geistlich interpretiere. Bei Hebr sei dies genau umgekehrt der Fall. Er taste die Frage nach der Nachkommenschaft Abrahams an keiner Stelle an, vielmehr betrachte er diese im jüdischen Volk, d. h. in den leiblichen Nachkommen Isaaks als gesetzt. Dagegen interpretiere Hebr wiederum die Landverheißung geistlich.153 Den Grund hierfür sieht Anderson vor allem in unterschiedlichen Missionsfeldern beider Theologen und kommt zu seinem Fazit: „This suggests that the missionary horizon of the author of Hebrews is quite different from Paul’s, and that in contrast to Paul’s does not extend beyond the Jewish community“ 154
Insofern sei Hebr als (vermutlich frühes) Zeugnis der christlichen Mission im Selbstverständnis à la Mt 10,6, d. h. einer Sendung ausschließlich „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, zu verstehen. Eine Besonderheit am Hebr sei dabei seine Radikalität, mit welcher er das levitische Kultsystem ablehne, und seine Betonung des Heilswerkes Jesu als exklusiver Weg in das noch ausstehende – nun geistlich als „Ruhe“ verstandene – verheißene Land.155
Vgl. ANDERSON, Heirs, 258. Vgl. ANDERSON, Heirs, 258f. 153 Vgl. A NDERSON, Heirs, 258–264. 154 A NDERSON, Heirs, 264. Dass allein Juden für Hebr im Blick seien, zeige sich für Anderson unter anderem auch an dessen Rezeption der Opferung Isaaks in Gen 22. Für Hebr sei diese gerade kein Erweis für den Zuspruch der Gerechtigkeit an Abraham durch Gott ohne jede Eigenleistung. Im Gegenteil: Für Hebr folge der Zuspruch der Gerechtigkeit gerade aufgrund Abrahams Leistung, d. h. als Anerkennung seines Gehorsams (vgl. ANDERSON, Heirs, 265f.). Diese Gegenüberstellung von Paulus und Hebräer (letztlich Analaog zu Paulus/Jakobus oder auch Paulus/Matthäus) hat m. E. unter Beachtung der unterschiedlichen Missions- bzw. Lehrsituationen, wie sie Anderson zu Recht betont, seine Berechtigung. Jedoch sollte nicht ein einseitiges, m. E. unzutreffendes Paulusbild, das dem Apostel jedes Interesse an der Relevanz der Ethik (Heiligung) für die christliche Existenz auch hinsichtlich seiner soteriologischen Dimension abspricht, dazu führen, die Trennlinie zu anderen ntl. Schriften, wie eben auch zu Hebr, zu scharf zu ziehen. 155 Vgl. A NDERSON, Heirs, 273f. 151 152
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Teil I: Einführung
1.4 Der Hebräerbrief und Israel – Quo vaditis? Besonders an den lesenswerten Beiträgen von Kim und Mason, aber letztlich auch bei Perry und Anderson wird eine häufig anzutreffende Argumentationsfigur in der Verteidigung des Hebr gegen den Vorwurf einer kritikbedürftigen, weil eschatologisch negativen Israeltheologie deutlich sichtbar. Es erfolgt eine exegetische Auseinandersetzung mit den besonders problematisch wirkenden und am häufigsten kritisierten Textstellen. Diese werden sodann, m. E. auch völlig zu Recht, als schriftgebundene und in ihrer Polemik nicht über gängige antike Gepflogenheiten hinausreichende Diskussionsbeiträge ausgelegt. In vielen Fällen lautet die Charakterisierung dabei „innerjüdisch“. Aus dieser Kombination von textimmanenten und historischen Argumenten folgt schließlich das Urteil, dem Hebr sei kein negatives Verhältnis gegenüber dem ihm zeitgenössischen Judentum zu attestieren. Doch diese Argumentation und das sich aus ihr ergebende Urteil bewegen sich dabei ausschließlich bis zum Standpunkt der „Neutralität“. In einer rein historisch orientierten Fragestellung ist dieser Ertrag auch ein ausreichender und zugleich der größtmögliche. Aber aus biblisch-theologischer, damit immer auch systematisch-theologischer und schließlich auch (aktuell) kirchlich relevanter Perspektive braucht es eine exegetische Auseinandersetzung, die über den Punkt der Neutralität gegenüber dem Judentum hinaus fragt. Es mag mit aller wissenschaftlicher Sorgfalt nachgewiesen werden können, dass eine wie auch immer geartete Judenfeindlichkeit weder zum ursprünglichen Kontext noch zur Intention der Abfassung eines vorfindlichen Textes gehört hat. Dennoch bleibt – zumindest aus biblisch-theologischer Perspektive – die Frage bestehen, inwiefern eine so dezidiert christozentrische Hermeneutik der Gottesbeziehung im Hebr eine Hermeneutik, die Jesus als Christus verneint, indirekt ablehnt oder zumindest soteriologisch ausschließt. Die Bestimmung der historischen Rahmenbedingungen reichen im besten Falle dazu aus, um eine Schrift wie den Hebr vom Vorwurf der Judenfeindlichkeit insofern zu befreien, als seine Aussagen sachgemäß kontextuell verstanden und eingeordnet werden können. Dennoch bleibt ihre negative Rezeptionsgeschichte eine Erinnerung daran, dass für eine theologische (und kirchliche) Diskussion mehr vonnöten ist, als eine direkt negative (soteriologische bzw. eschatologische) Perspektive von diesen Schriften her als „nicht intendiert“ einzustufen. Jesper Svartvik stellt daher zu Recht die herausfordernde Frage hinsichtlich des Hebr: „Is Hebrews inevitably a stumbling block or might it be understood as a steppingstone?“156 Kann es gelingen, nicht nur den Vorwurf des „stumbling block“ verneinend entgegenzutreten, sondern auch eine positive escha156 SVARTVIK, Reading, 80. Vgl. auch D ERS.: Stumbling Block or Stepping Stone? On the Reception History of Hebrews 8:13, in: Gelardini, G./W., Attridge H. (Hg.): Hebrews in Contexts, Ancient Judaism and Early Christianity, Bd. 91, Leiden/Boston 2016, 316–342.
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tologische Perspektive für Israel aus einer textimanenten Betrachtung des Hebr zu gewinnen, sodass dieser sogar zum „steppingstone“ eines jüdisch-christlichen Dialoges wird, ohne dabei sein bemerkenswertes christologisches Profil aufgeben zu müssen? James G. Dunn sieht gerade hierin einen wesentlichen Auftrag an die Exegese: „The question still remains: what to do with scriptures which, whatever their original context and interest, have fed and provoked anti-semitism down through the centuries. […] The answer is not to run away from our historical roots and the hurt of the earliest ‚Parting of the Ways‘, but to enter more fully into it, to understand it afresh ‚from inside‘ so far as that is possible, and to reevaluate the whole period and its outworkings in company with those who also regret that parting.“157
Svartvik formuliert im Zuge seiner Frage an die Exegese des Hebr (s. o.) diesen Auftrag wie folgt: „We need to reread Hebrews and ask questions of importance to interreligious relations […].“158 Zum Abschluss seien hier noch zwei Ansätze umrissen, die ein solches „rereading“ des Hebr m. E. vornehmen, um so den Abfassungszweck meiner Arbeit genauer formulieren zu können. Robert Wall und William L. Lane schlagen in ihrem Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis des Hebr zum Judentum eine wegweisende Richtung ein.159 Auffällig ist dabei zunächst ihre Methodik. Sie wählen Hebr als „most liberal (or ‚Hellenized‘)“160 und Jakobus als „most conservative (or ‚Palestinian‘) Form“161 des Judenchristentums im 1. Jh., um damit die beiden Extreme der nicht-paulinischen Schriften hinsichtlich der Frage nach dem christlich-jüdischen Verhältnis im Neuen Testament auszuloten. Brauchbar ist hier vor allem ihre Zuordnung von Einzelschrift und Kanonisierung. Denn dadurch verschiebe sich das Gepräge auch der Einzelschriften. Während diese z. T. noch stärker (im Fall des Hebr offensichtlich) an der Frage nach Kontinuität bzw. Diskontinuität des christlichen Glaubens zum jüdischen interessiert gewesen seien, frage der Prozess der Kanonisierung zunehmend nach Kontinuität bzw. Diskontinuität innerhalb des christlichen Glaubens, nämlich hinsichtlich dessen, was Jesus und die Apostel gelehrt haben und welchen innerchristlichen Zeugnissen insofern bleibende Gültigkeit zukomme:162 „To excuse the church’s subsequent anti-Semitic use of the New Testament as anticanonical would be disingenuous. Our point is simply to locate the crux of the problem more precisely with the interpretation of certain texts or leitmotifs within the New Testament rather than with the ongoing role of biblical canon itself.“163
DUNN, Question, 211. SVARTVIK, Reading, 80. 159 Vgl. W ALL/LANE, Polemic. 160 W ALL/LANE, Polemic, 166. 161 W ALL/LANE, Polemic, 166. 162 Vgl. W ALL/LANE, Polemic, 169f. 163 W ALL/LANE, Polemic, 170. 157 158
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Teil I: Einführung
Es gelte also jede neutestamentliche Schrift in ihrem Eigenwert wahrzunehmen, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass sie immer auch Teil eines größeren Ganzen ist und bleibt. Wall und Lane werten nun die wichtigsten Stellen im Hebr aus, an denen er auf das alttestamentliche Schriftzeugnis Bezug nimmt und im Lichte des Christusereignisses entsprechend auswertet.164 Hier wird der Verdacht des Antijudaismus ja bekanntlich am häufigsten geäußert. Auch Wall und Lane betonen hier freilich das historische Argument: Wie Hebr mit den alttestamentlichen Schriften umgeht, sei durch und durch innerhalb eines frühjüdischen Kontextes und aus diesem heraus zu verstehen. Hauptanliegen sei die Vergewisserung seiner (!) Adressaten anhand der Heiligen Schriften, die er freilich im Licht seiner (!) eschatologischen Überzeugung liest. Hieran sei hinsichtlich der Vitalität des Frühjudentums nichts Auffälliges noch Anstößiges auszumachen.165 „The pastoral strategies adopted in Hebrews were all designed to stir the members of a Jewish-Christian assembly to recognize that they could not turn back the hands of the clock and deny their Christian understanding and experience. They must hold firmly to their Christian confession. The premise that Hebrews engages in any form of anti-Judaic polemic, however, is untenable. Certainly the writer appreciated the historical and theological lines of differentiation between Jewish Christianity and Judaism. He clearly believed that God had acted decisively in Jesus to accomplish salvation and to create the people of the new covenant. Only from such an eschatological perspective could he speak of God’s final word, or of the coming of the new that made the old obsolete, or of the incarnation of the Son of God. But this is not anti-Judaism; it is the reflection of a distinctive reading of Scripture in the light of the writer’s conviction about Jesus.“166
Unabhängig von der hohen Gewichtung des historischen Arguments – das für Hebr ja nicht auszuschließen, sondern für seine Auslegung als besonders ambivalent wahrzunehmen ist – ist ihre Beobachtung richtungsweisend: Um Hebr richtig zu verstehen und auch hinsichtlich seiner Haltung gegenüber den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens sachgemäß einzuordnen, muss das Beziehungsgeflecht seiner Soteriologie, Eschatologie und Ekklesiologie ausgewertet werden. Die Isolierung und Auswertung „verdächtiger“ Einzelstellen reicht nicht aus, schon gar nicht, wenn man sich bei deren Beurteilung auf so unsicherem historischem Boden bewegt wie dem des Hebr. Eine tragfähige Antwort kann nur aus einer textimmanenten Wahrnehmung der theologischen Gesamtschau des Hebr hinsichtlich einer israeltheologischen Fragestellung gewonnen werden. In diese zielführende Richtung denkt auch Richard B. Hays, der sich der Frage nach einem (negativen) Verhältnis des Hebr zum Judentum in einem
Vgl. SVARTVIK, Reading, 173–184. Vgl. COHEN, Maccabees, 24: „Each sect presented itself as the true temple and its adherents as the true priests [...]“ 166 W ALL/LANE, Polemic, 184f. 164 165
1. Der Hebräerbrief und das Judentum in der jüngeren Exegese
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Beitrag von 2009 widmet.167 Seine Zuspitzung der Frage nach einer positiven eschatologischen Perspektive für „Israel“ im Hebr führt nah heran an die eigentliche Zielsetzung meiner Arbeit. Zunächst gilt (auch) bei ihm, dass er sich bei seinem abschließenden Urteil wesentlich auf den historischen Grundtyp stützt. Er charakterisiert Hebr als innerjüdischen Neueinsatz in einer frühjüdischen Debatte um das alttestamentliche Bundeskonzept („New Covenentialism“). Daher könne, wie auch andere Vertreter dieses Ansatzes, der Autor dieser Schrift nicht als judenpolemisch (o. ä.) gelten, weil er sich an ihm zeitgenössische Juden richte und eben selbst jüdisch sei – wohlgemerkt, die Strömung innerhalb des Judentums, die Jesus von Nazareth als den alttestamentlich verheißenen und zeitgeschichtlich erhofften Messias bekannte.168 Zur Überzeugungskraft dieser Schlussfolgerung ist hier nun bereits genug gesagt worden (s. o.). Wegweisend ist m. E. jedoch, wie Hays die theologischen Gedanken des Hebr ergreift und so für die Formulierung einer positiven eschatologischen Perspektive öffnet. Der Hebr sei als Fort- und Neuschreibung der Geschichte Israels in Kontinuität und Diskontinuität zugleich zu verstehen. Hays blendet dabei nicht aus, dass Hebr deutlich erkennbar in hellenistisch (anmutenden) räumlichen Kategorien denkt, zeigt aber völlig zu Recht auf, dass der Theologie des Hebr auch und gleichzeitig ein lineares Zeitverständnis im Blick auf die Geschichte Israels und Gottes Offenbarung zugrunde liegt.169 Hebr verorte sich und seine Adressaten nun typologisch an der gleichen (heilsgeschichtlichen) Stelle, an der sich das Volk Israel nach der Wüstenwanderung befand: vor der Grenze des verheißenen Landes, d. h. vor dem Eintreten in die Ruhe, damals vorläufig, nun endgültig. Hays stützt sich hier auf einen Beitrag Matthew Thiessens,170 der den Hebr als eine Fortschreibung („Re-Narration“) der Geschichte Israels deutet. Diese sei nach dem Exodus quasi stagniert, weil Israel das Land der Ruhe letztlich nicht bezogen habe, sondern immer noch davor in Erwartung verweile. So gehöre die ganze Geschichte Israels seit dem Exodus zur „period of the wilderness wandering“171. Der Hebr mute demnach, so Hays weiter, der Geschichte Israels eine bemerkenswert offene Eschatologie zu, die sich vor allem im Motiv der „zukünftigen Stadt“ in 13,14 ausdrücke.172 Mit dem alttestamentlichen Gottesvolk an der Schwelle zum gelobten Land solle sich die Gemeinde demütig identifizieren. Diese Demut äußere sich aber nicht nur im Blick auf das eigene Vermögen, die himmlische Stadt zu betreten. Gerade auch im Blick auf das eigene Erkennen des richtigen Weges sowie im Blick auf die mittlerweile noch fataleren Konsequenzen für Untreue, da der Berg nun nicht mehr nur der vorläufige Sinai sei, sondern der eschatologische Vgl. HAYS, Covenantialism. Vgl. auch MUSSNER, Handeln, 21f. 169 Vgl. H AYS, Covenantialism, 165f.170. 170 Vgl. THIESSEN, Hebrews. 171 THIESSEN, Hebrews, 355. 172 Vgl. auch W ITHERINGTON, Letters, 347–351. 167 168
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Zion, fordere dies eine solche Haltung. Eine triumphalistische Festlegung der Eschatologie verbiete sich angesichts der Größe dessen, der als „verzehrendes Feuer“ auf dem Zion thront (vgl. 12,25–29).173 Die ganze Geschichte Israels habe sich, so Hays, als auf die letztgültige Offenbarung im Sohn hin ausgerichtet erwiesen. Hier setzt freilich der Vorwurf der Substitution häufig an. Doch der Hebr verstehe die Geschichte Israels nicht als aufgehoben, sondern nur als unvollständig. Diese „Unvollständigkeit“ solle, so Hays, nun aber gerade nicht dazu führen, sich aus christlicher Perspektive ohne weiteres über Israel zu erheben, sondern vielmehr demütig, aber zuversichtlich über Gottes Heilsplan nachzudenken: „Those throughout Israel’s past who looked to God in faith saw and welcomed the promises ‚from a distance‘, but nonetheless truly. Abel, Enoch, Noah, Abraham, Sarah, Isaac, Jacob, Joseph, Moses, Rahab, Gideon, Barak, Samson, Jephthah, David, Samuel and the prophets – all truly belong to the great cloud of witnesses. But what of their genetic descendants among the Jewish people at the time of the writing of the Letter to the Hebrews? What of those within the house of Israel and the house of Judah who do not recognize Jesus as the mediator of a new covenant? In all honesty, we must acknowledge that the question never comes up in this letter. There is no passage analogous to Rom. 9–11 in which the fate of unbelieving Israel is directly contemplated. The usual Christian response has been to assume that they are excluded from salvation. But I would like to offer another theological possibility. Would not the logic of Hebrews’ own symbolic world allow us to propose that they, too, insofar as they continue to trust in the God of Abraham, Isaac, and Jacob, greet the promises from afar? If so, perhaps Christian interpreters could and should transitively reverse the affirmation with which Heb. 11 ends: the ‚something better‘ that God has prepared for us surely must include the hope that we will not be made perfect apart from them.“174
Hays will hier gerade nicht den Weg einschlagen, hinsichtlich der Ekklesiologie des Hebr von einer „Zwei-Bünde-Theologie“ zu sprechen, mit quasi zwei separaten Gottesvölkern – Israel und die christliche Kirche – wie es u. a. Heinz Schreckenberg mit Bezug auf Hans Küng vorschlägt: „So erscheint hier zwar in gewisser Weise das Christentum als die aufhebende Vollendung Israels, es gilt aber auch: ‚Der Titel [Gottesvolk; Anm. H. S.] wird Israel nirgends entzogen. Aber neben Israel tritt ein anderes Gottesvolk, ein Gottesvolk schließlich […] aus Juden und Heiden.‘“175
Stattdessen schlägt Hays eine eschatologische Perspektive im Sinne von Röm 11 vor, die das gesamte Gottesvolk aus Israel und der Kirche in den Blick nimmt: „I mean to suggest a possibility closely analogous to Paul’s hope in Rom. 11:25–36 that in some now unforeseeable way God’s eschatological salvation through Christ will include not
Vgl. HAYS, Covenantialism, 166f. Vgl. HAYS, Covenantialism, 167. 175 SCHRECKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 104. Das Zitat von Küng stammt aus: KÜNG, Kirche, 146. 173 174
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only the great cloud of Israel’s witnesses who lived before the time of Jesus but also ‚all Israel‘ in later times as well.“176
176
HAYS, Covenantialism, 167f. Anm. 34.
2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel dieser Arbeit 2.1 Der forschungsgeschichtliche Ausgangspunkt Der forschungsgeschichtliche Aufriss zur israeltheologischen Verhältnisbestimmung des Hebr in der jüngeren Auslegung seit dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass diese Diskussion noch nicht zu ihrem Ende gelangt ist. Sowohl innerhalb der kritischen als auch innerhalb der verteidigenden Stimmen lassen sich dabei verschiedene Ansätze aufzeigen. Aufseiten der Kritiker fallen vor allem die unterschiedlichen Grade an Radikalität bzw. Konsequenz auf, mit denen die neutestamentlichen Schriften mit einer Geschichte der Anfeindung gegenüber dem Judentum bis hin zum Holocaust in Verbindung gebracht wurden und werden. Beständig kreist die Diskussion dabei um Fragen nach einer neutestamentlichen und/oder christlichen Polemik und inwiefern sich diese gegen „das“ Judentum richte. Dabei gilt es hinsichtlich des Objekts dieser Polemik zu fragen, ob diese auf die jüdische Glaubensüberzeugung als solche, auf ihre kultisch-institutionalisierte Ausformung und/oder auf die jüdisch Glaubenden als Personen abziele. Aufseiten der Verteidiger haben sich drei grundlegende Argumentationslinien herauskristallisiert, die zu einem Umgang mit dieser kritisierten neutestamentlichen Polemik gegenüber dem ihr zeitgenössischen Judentum beitragen. Während der symbolische Grundtyp nur sehr bedingt brauchbare Argumente beisteuert, gehen der historische und der textimmanente sachgemäß Hand in Hand. Hier hat sich jedoch gezeigt, dass die meisten der hier vorgetragenen Ansätze sich in ihrem positiven Urteil über den Hebr letztlich vorrangig auf den historischen Grundtyp stützen, der aufgrund seines – gerade im Falle des Hebr – hochgradig spekulativen Charakters hier nicht hinreichend zu überzeugen vermag. Vielmehr ist eine textimmanente, exegetische Antwort auf den Vorwurf der wie auch immer exakt definierten Judenfeindlichkeit im Hebr vonnöten. Diese Antwort muss – will sie Kritiker, wenn schon nicht überzeugen, so aber wenigstens tatsächlich zu einem Dialog einladen – über den Erweis einer eschatologischen Neutralität des Hebr hinaus fragen. Denn selbst wenn festgehalten werden könne, Hebr zeige kein (negatives) eschatologisches Interesse am Judentum (aus christlicher Perspektive), so stellt sich doch unweigerlich die Frage, ob seine dezidiert christologisch definierte soteriologische Exklusi-
2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel
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vität nicht immer auch zu einer eschatologischen Verdammung all derjenigen führt, die an ihrem jüdischen Glauben festhalten, ohne die neutestamentlich bezeugte Bedeutung Jesu dabei anzuerkennen. In Anlehnung an Ruether und zahlreiche andere Kritiker formuliert: Hebr mag die eschatologische Verdammung der Juden nicht aussagen, aber seine Rezipienten mögen sie zumindest von ihm ableiten. Das Ziel dieser Arbeit besteht daher darin, eine israeltheologische Antwort hinsichtlich des Hebr zu geben, die anhand seines theologischen Gesamtentwurfes nach einer positiven eschatologischen Perspektive für Israel von einem christlichen Standpunkt aus fragt. Ein solcher Versuch ist zwar von Exegeten wie Jesper Svartvik und Richard B. Hays als erstrebenswerter Beitrag künftiger Interpretationen des Hebräerbriefs deklariert worden, bisher aber in einer ganzheitlichen Untersuchung des Hebr in diesem Umfang noch nicht vorgelegt worden.1 Bei diesem Vorhaben sollen aber zugleich zwei Wege vermieden werden, die beim Umgang mit dem Vorwurf der Judenfeindlichkeit im Hebr m. E. je einen Schritt zu weit gehen und so das Ziel verfehlen: Auf der einen Seite steht die Forderung Theißens, wie mit den für ihn „beklemmenden“2 Antijudaismen in neutestamentlichen Texten umzugehen sei: Notwendig sei eine Sachkritik, die dazu führt, diese neutestamentlichen Texte ganz oder in Teilen für das christliche Bekenntnis als nicht mehr grundlegend anzuerkennen. Zu einem solchen eingeschlagenen Weg bemerkt Dunn zu Recht: „Some advocate radical surgery, to remove the most offensive passages, by ‚sensitive interpretative translation‘, or by putting them into footnotes, or by excising them from church lectonaries. But this is no answer and quickly becomes as manipulative as the abuses it seeks to avoid […].“3
Auf der anderen Seite sollte sich die Formulierung einer positiven Heilsperspektive für Israel aus christlicher Sicht auch davor in Acht nehmen, eine solche Überzeichnung dieser Perspektive vorzutragen, sodass die soteriologische Christozentrik des Hebr einseitig aufgegeben wird. Denn dem theologischen 1 Dass ein solcher Ansatz auch großes Potential für einen christlich-jüdischen Dialog bieten kann, zeigt u. a. die Antwort von jüdischer Seite auf die von Svartvik in Ansätzen vorgeführte Perspektive (vgl. SVARTVIK, Reading, 81–90) im selben Sammelband: ESKENAZI, Tamara Cohn: Revisiting Our Pasts and Our Paths. A Jewish Response to Jesper Svartvik and Daniel Harrington, 105–113. Denn mehr als ein Lob für die positive Auswertung des Hebr hinsichtlich des jüdisch-christlichen Dialogs hat die jüdische Autorin eigentlich nicht entgegenzusetzen. 2 Vgl. THEISSEN, Aporien, 537. Man beachte auch seine rhetorische Frage: „Wer gäbe heute nicht viel darum, wenn diese [...] Stellen [...] nicht in unseren heiligen Schrifen stünden!“ (THEISSEN, Aporien, 538). 3 D UNN, Question, 211. Vgl. zu solchen Forderungen u. a. H ARE, Rejection, 43–46; G ASTON, Messiah, 95 sowie BECK, Christianity.
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Zeugnis des Hebr wird diese Überzeichnung so nicht mehr gerecht. Martin Karrer geht in seiner zweibändigen Kommentierung des Hebr hinsichtlich dessen Eschatologie und der für meine Arbeit zentralen Auslegung von Hebr 11,39f. einen entscheidenden Schritt weiter, aber dann doch auch, wie ich an späterer Stelle dieser Arbeit noch ausführen möchte,4 wenigstens einen Schritt zu weit.5 Er erblickt in der eschatologischen Perspektive auf die Vollendung der Glaubenden in 11,39f. eine Offenheit für den Heilseintritt auch der jüdisch Gläubigen ohne christologische Fundierung bis hin zu einer Heilsperspektive für die gesamte Menschheit. Obwohl Karrer der einzige mir bekannte Exeget ist, der diese Schlüsselstelle, die Kernstück meiner Arbeit ist, einmal zu Recht ausdrücklich systematisch-theologisch weiterdenkt, kann ich ihm an dieser Stelle nicht folgen. Hier lohnt es sich m. E., nun nach einer Interpretation zu fragen, die sein Anliegen zwar teilt, dieses jedoch nicht an den theologischen Kernaussagen des Hebr vorbei anstrebt. Ein ganzheitlicher Beitrag zur Soteriologie, Eschatologie und Ekklesiologie des Hebr in israeltheologischer Fragestellung muss hier die Balance halten.
2.2 Zielsetzung Im Zentrum meiner Arbeit steht die Frage: Kann hinsichtlich des theologischen Gedankengangs im Hebr eine eschatologische Heilsperspektive aus christlicher Sicht für jüdisch Gläubige formuliert werden, die nicht einseitig die im Hebr deutlich hervorgehobene Christologie aufgibt? Diese Frage ist zunächst eine systematische bzw. biblisch-theologische. Sie wird im Hebr nirgends gestellt, weil sie nicht direkt zu seinem Anliegen, seine im Glauben angefochtene Gemeinde zu trösten, gehört. Nirgends findet sich eine Passage, die ausdrücklich die Frage nach dem eschatologischen Geschick „ganz Israels“ stellt wie Paulus in Röm 9–11. Und doch muss sie m. E. aus drei Gründen gestellt werden: (1) Weil sie dem Vorwurf eines negativen Verhältnisses des Hebr zum Judentum und damit grundlegenden hermeneutischen Fragen wissenschaftlicher und kirchlicher Stimmen zugrunde liegt. (2) Weil sie in der Wirkungsgeschichte gerade auch des Hebr zu einer rigorosen Verneinung und damit zu einer fatalen Ablehnung der Verwurzelung des christlichen Glaubens in der jüdischen Identität geführt hat. (3) Weil sie sich dem heutigen, zumindest für die jüdisch-christliche Beziehung sensibilisierten Leser bei der Lektüre des Hebr stellt. Man höre nur den für diesen dritten Grund paradigmatischen Schlusssatz bei Susanne Lehnes Studie zum Bundeskonzept im Hebr:
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S. u. II.3.2.3. Vgl. KARRER, Hebräer II, 298–300.306.
2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel
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„The struggle with Jewish tradition is omnipresent in the NT but nowhere do we find a clear rupture with Judaism. Paradoxically enough, it is the writer of Heb. who – while passionately arguing along Jewish lines – moves furthest in the direction of the breach with Judaism that was later to take place.“ 6
Freilich bin auch ich nicht frei von einem Anliegen, das mich bei dieser Arbeit motiviert und begleitet. Welcher Exeget wollte auch anderes von sich behaupten? Denn in der theologischen bzw. kirchlichen Debatte um das Verhältnis zwischen Juden- und Christentum und den jüngsten offiziellen Entscheidungen vor allem der evangelischen Kirchen in Deutschland meine ich hermeneutische Einseitigkeiten zu erkennen, die dem neutestamentlichen Zeugnis, im Speziellen dem des Hebr, nicht gerecht werden. Auch mit diesen möchte ich mit einem hoffentlich konstruktiven Beitrag in einen Diskurs treten. In dieser Arbeit behandle ich mit Blick auf diese Frage zahlreiche Felder in der Theologie des Hebr – seine Soteriologie, Pisteologie, Ekklesiologie und Eschatologie. Insofern möge der Leser sie nicht einzig zugespitzt im Kontext des sog. jüdisch-christlichen Dialogs, sondern auch darüber hinaus als einen Beitrag zur Auslegung des Hebräerbriefs insgesamt wahrnehmen. Und doch darf und soll sie auch als konstruktiv-kritischer Beitrag zu ebendiesem Dialog verstanden werden, der aus Sicht des christlichen Dialogpartners hier freilich (nur) den eigenen Standpunkt zum Gegenstand seines Nachdenkens hat. Der Beitrag eines christlichen Autors kann und soll nicht leisten, dem jüdischen Dialogpartner dessen eigenen Standpunkt zu erklären. Vielmehr will er zur eigenen Selbstvergewisserung beitragen, indem er sowohl das Potenzial als auch die Grenzen dessen auszuloten sucht, wie weit sich das christliche Bekenntnis auf das des jüdischen Gesprächspartners zubewegen kann, ohne Angst davor haben zu müssen, die eigene Identität infrage zu stellen. Zugleich soll er aber auch davor gewarnt werden, ebendiese eigene Identität einseitig aufzugeben. Wichtig ist dazu auch, sich hier im Klaren zu sein, was unter dem Begriff „Dialog“ eigentlich zu verstehen ist, gerade wenn er für eine interreligiöse Verhältnisbestimmung und Begegnung konstruktiv bemüht werden soll. Wie Henning Wrogemann in einem Beitrag zu dieser Frage im Blick auf das Verhältnis von Christen und Muslime und dessen Reflexion in jüngeren kirchlichen Verlautbarungen aufzeigt, gilt es sachlich (und am besten auch sprachlich) zwischen Kenntnis-, Konsens- sowie Kontroversdialog zu unterscheiden.7 Der Kenntnisdialog setze die Verschiedenheit beider Dialogpartner als gegebenen voraus und stelle diese auch nicht infrage. In der Begegnung bediene sich diese Dialogform einer „investigativen Hermeneutik“8 mit dem Ziel, „die Unterschiede der jeweiligen religiösen Profile herauszuarbeiten, was bedeutet, vermeintliche Unterschiede als gegenstandslos zu erkennen, eher hintergründige, aber dennoch sehr wirksame Unterschiede klar zu benennen, Überschneidungsflächen wahrzunehmen, Ebenen der Vergleichbarkeit aufzuweisen und die
LEHNE, Covenant, 124. Vgl. WROGEMANN, Kenntnis. 8 W ROGEMANN, Kenntnis, 182 (Herv. v. Vf.). 6 7
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Teil I: Einführung
Vielfalt verschiedener Positionierungen zu diesen Fragen in den Blick zu nehmen.“ 9 Zwar blieben die jeweiligen Profile der Dialogpartner bestehen, aber in der Praxis zeige sich neben konstruktiven häufig ein großes Enttäuschungspotential, wenn festgestellt werden muss, dass die Unterschiede trennender sind, als anfänglich erhofft. „Dies kann vom anfänglichen Gefühl freundlicher Nähe zu einem Gefühl der Entfremdung führen, zu größerer innerer Distanz […].“10 Der Konsensdialog wiederum betrachte die Verschiedenheit beider Dialogpartner nicht als Gegebenheit, „sondern als zu überwindendes Problem. Wenn es die unterschiedlichen religiösen Positionen nicht gäbe, so die implizite Annahme, würde es auch weniger Konflikte geben.“11. Daher verfolge der Konsensdialog eine „assimilative Hermeneutik“12. Das Ziel sei die größtmögliche Veränderung der Positionen durch gegenseitige oder einseitige Anpassung, die Unterschiedlichkeit solle zu einer Synthese umgeformt werden. „Da vollgültige Anerkennung nur möglich ist, wenn man gleich ist, wird die Gleichheit aktiv nachzuweisen gesucht. Unterschiede werden heruntergespielt oder als nebensächlich beiseitegeschoben.“13 Als dritte Dialogform benennt Wrogemann sodann die Kontroversität. Die Unterschiedlichkeit der Dialogpartner werde hier weder als Gegebenheit noch als Problem betrachtet, sondern vielmehr als „Auftrag“14. Daher zeige sich hier eine „argumentative Hermeneutik“ 15, die beide Positionen vergleicht und hinsichtlich deren Tragfähigkeit befragt. „Die überzeugendere religiöse Position wird in der eigenen religiösen Tradition gesehen und es wird versucht, den aus eigener Sicht gesehen attraktiven und lebensschaffenden Mehrwert der eigenen Tradition gegenüber der anderen in respektvoller Weise zu benennen.“16 Alle diese drei Dialogformen haben ihre Berechtigung bzw. ihren sinnvollen Platz und bedingen sich zum Teil gegenseitig.17 Doch gerade in der letztgenannten Form sehe ich den größten Mehrwert für eine konstruktive, das jeweilige Charisma der Dialogpartner wertschätzende und ernst nehmende Begegnung zwischen zwei verschiedenen religiösen Gesprächspartnern wie der im jüdisch-christlichen Dialog. Voraussetzung dafür ist freilich eine von Interesse, Respekt und im Ernstfall – nämlich dem Nicht-Eintreten einer Gewinnung des Anderen für die eigene Position – von Toleranz (im buchstäblichen Sinne des Wortes) bestimmte Begegnung.
Schließlich habe ich meinen Beitrag im Bewusstsein darum erarbeitet, dass es sich hierbei vor allem aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte um eine äußerst sensible Thematik handelt. Viele der Kritiker am Hebr bzw. am Neuen Testament haben ihre Stimme nicht zuletzt wegen einer direkten oder indirekten persönlichen Betroffenheit durch den Holocaust erhoben. In welchem Maße diese immer auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Hebr beigetragen hat, lässt sich z. T. an den Widmungen und Vorworten der Beiträge WROGEMANN, Kenntnis, 182 (Herv. v. Vf.). WROGEMANN, Kenntnis, 182 (Herv. v. Vf.). 11 W ROGEMANN, Kenntnis, 182 (Herv. v. Vf.). 12 W ROGEMANN, Kenntnis, 183 (Herv. v. Vf.). 13 W ROGEMANN, Kenntnis, 183. 14 W ROGEMANN, Kenntnis, 183 (Herv. v. Vf.). 15 W ROGEMANN, Kenntnis, 183 (Herv. v. Vf.). 16 W ROGEMANN, Kenntnis, 183 (Herv. v. Vf.). 17 So setzen Konsens- und Kontroversdialog den Kenntnisdialog im Bestfall immer auch voraus bzw. integrieren diesen. 9
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2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel
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ablesen. Sandmell widmete seine Monographie „in memory of my parents, refugees from persecution, who bequeathed much to me, but no bitterness“18, Nicholls wiederum: „To the survivors of the Holocaust, and in particular to those who have undertaken the task of bearing witness to a new generation“19. Freudmann bekennt in einem ihrer Vorworte: „Throughout my life I have been concerned with the problem of antisemitism and its devastating effects on its victims. […] I harbor the hope or dream that if enough Christians who have anti-Jewish feelings know their source and learn about the fallacious assumptions and conclusions in that source, they will free themselves of their antagonism to my religion and my people.“20
Und auch Jules Isaac hatte große Teile seiner Familie, darunter auch seine Ehefrau, in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten verloren. Es gilt hier im Speziellen und in der Debatte im Allgemeinen, kein abwertendes Urteil über diese persönliche Triebfeder bei der kritischen Auseinandersetzung mit den neutestamentlichen Schriften zu fällen. Sie ist Teil der Biografie und damit der weltanschaulichen Narrative dieser wie aller Ausleger. Zugleich sollte sie zumindest als Signal dafür gelten, dass die Auseinandersetzung mit biblischen Texten, auch die wissenschaftliche, immer auch durch persönliche Rahmenbedingungen geprägt wird.21 Auch in diesem Bewusstsein möchte ich meinen eigenen Beitrag zur Diskussion stellen.
2.3 Methodik und Aufbau Diese Arbeit gliedert sich in drei unterschiedlich große Hauptteile. Im Anschluss an dieses Kapitel des ersten Teils (I.) sollen knapp die vermuteten historischen und literarischen Rahmenbedingungen des Hebr skizziert werden, in denen sich die hier vorgelegte Auslegung bewegt. Letztlich ist die Frage meiner Arbeit eine vorrangig systematisch-theologische, die an den biblischen Text und seine historischen Umstände herangetragen wird, um von diesem SANDMEL, Anti-Semitism, vii. NICHOLLS, Antisemitism, v. 20 FREUDMANN, Antisemitism, xif. 21 Kritik an einer wissenschaftlichen Exegese, die sich aufgrund der Erfahrungen im 20. Jh. in ihrer Ergebnissuche hermeneutisch einseitig dialogbetont gibt, übte seinerzeit GRÄSSER, Erich: Exegese nach Auschwitz? Kritische Anmerkungen zur hermeneutischen Bedeutung des Holocaust am Beispiel von Hebr 11, in: Ders.: Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief. Zum 65. Geburtstag mit einer Bibliographie des Verfassers, hg. v. Martin Evang und Otto Merk, BZNW 65, Berlin/New York 1992, 201–212. Vgl. dazu auch die bemerkenswerten Überlegungen bei BACKHAUS, Gottesvolk, 210 sowie KAMPLING, Rainer: Antijudaismus im Neuen Testament. Zur Erkundung der Relevanz einer theologischen Kategorie, ZNT (2016), 3–10. Letzterer mahnt zu Recht dazu, beim Ringen um das Thema „Antijudaismus“ die Inhalte des ntl. Zeugnisses mit denen ihrer Rezeption und deren geschichtlichen Folgen nicht pauschal zu vermischen. 18 19
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Teil I: Einführung
wiederum her beantwortet zu werden. Hebr selbst stellt die Israelfrage an keiner Stelle ausdrücklich, sie drängt sich seinen Lesern aber inmitten eines Kontextes auf, der mitnichten bereits vergessen hatte, dass der christliche Glaube seinen historischen und theologischen Ursprüngen nach schlicht „jüdisch“ war. Im exegetischen Hauptteil (II.) erfolgt die eigentliche Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Hebr. Ausgangspunkt und erstes Kapitel ist hier der in Hebr 1–10 durchgeführte Vergleich der (alten) levitischen Heilsordnung mit der (neuen) Heilsordnung in Jesus. Aus diesem Vergleich geht die Heilsordnung in Jesus als unmissverständliche Siegerin hervor. Genau an dieser Stelle setzt meine eigentliche Frage ein, die auch Paulus nach acht Kapiteln seines Römerbriefes sich zu stellen genötigt sah: Ist Gott untreu geworden? (vgl. Röm 9,14; 11,1). Da Hebr diese Frage selbst so nicht stellt, beantwortet er sie auch nirgends ausdrücklich. Und doch kann das, was er vor allem im Anschluss ab Kapitel 11 über seine Vorstellung vom Volk Gottes und dessen Geschichte mithilfe seines Glaubenskonzepts entfaltet, für die Frage nach einer (aus christlicher Sicht formulierten!) Hoffnung für Israel ausgewertet werden. Es geht also um das Verhältnis der im Hebr vorfindlichen Ekklesiologie und Eschatologie. Das Verbindungsstück beider erblicke ich in der Pisteologie des Hebr, die in einem zweiten Kapitel herausgearbeitet werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass Hebr vorrangig ein relationales Glaubenskonzept aufweist, aufgrund dessen er in seiner Ekklesiologie nur ein einziges, im Glauben geeintes Gottesvolk aller Gläubigen kennt. Der Glaube ist es, durch den die verheißene Ruhe, d. i. die ewige ungetrübte himmlische Gemeinschaft mit Gott, erlangt werden kann. Freilich gilt es, dabei auch nach dem Verhältnis dieser ekklesiologisch bedeutsamen Pisteologie zur soteriologisch unumgänglichen Christologie zu fragen. Als besonders wichtig erweist sich dabei die Unterscheidung in einen soteriologischen (christologischen) und eschatologischen Vorbehalt des Glaubens.22 Diesem eschatologischen Vorbehalt widmen sich das dritte und vierte Kapitel. Im dritten Kapitel stehen die für meine Frage entscheidenden, aber in der Exegese bislang völlig unterbelichteten beiden Schlussverse der sog. „Wolke der Zeugen“, Hebr 11,39f., im Fokus. Denn in diesen beiden Versen deutet Hebr eine Art göttlichen Heilsplan für die alttestamentlichen und neutestamentlichen Gläubigen an, der eine Analogie zum Ringen des Paulus um das 22 Das eschatologische „noch nicht“ des Hebr als theologischen Schlüssel zu einer positiven eschatologischen Perspektive für Israel aus Sicht des Hebr betonen auch Hays (vgl. HAYS, Covenantialism, 166f.) und Svartvik. Letzterer erblickt dies v. a. in Verbindung mit dem, in seiner Deutung als gnostischen Erlösungsmythos zwar religionsgeschichtlich veralteten, aber hinsichtlich seines Aussagegehalts für die Eschatologie des Hebr auch m. E. nach wie vor entscheidenden Motiv des „wandernden Gottesvolkes“ (vgl. SVARTVIK, Stumbling, 334), das Ernst Käsemann in seiner viel diskutierten Studie zum Hebr herausgearbeitet hat (vgl. KÄSEMANN, Gottesvolk; dazu auch GRÄSSER, Erich: Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, ZNW 77/3–4 (1986), 160–179).
2. Ausgangspunkt, Methodik und Ziel
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eschatologische Geschick seiner jüdischen Geschwister in Röm 9–11 aufweist. Um diesen Heilsplan in seinem ganzen Bedeutungsspektrum für die Ekklesiologie und Eschatologie des Hebr erfassen zu können, muss hier zunächst geklärt werden, mit welchen Vorstellungen von Raum und Zeit Hebr operiert. Dabei wird sich zeigen, dass sich das glaubende Gottesvolk seit dem Reden Gottes im Sohn (Hebr 1,1), d. h. seit dem Christusereignis, in einer Art Zwischenraum und einer Art Zwischenzeit befindet, wobei der endgültige Eintritt in die eschatologische Vollendung noch aussteht. Den wesentlichen Grund für diesen eschatologischen Vorbehalt erblickt Hebr in der Absicht Gottes, eine Vielzahl von Generationen des einen glaubenden Gottesvolkes eschatologisch miteinander zu vereinen. Noch stehen die bis dahin vorangegangenen Generationen, im Bilde gesprochen, auf einer Art Rangiergleis und warten auf den gemeinsamen Eintritt in die „himmlische Stadt“. Mit diesem für Hebr prägenden Bild für die himmlische Wirklichkeit gelangt diese Arbeit an ihr eigentliches Ziel: Wer tritt eigentlich wann und wie in die himmlische Stadt ein? Das finale und auch längste vierte Kapitel befasst sich mit diesen Fragen, soweit sie vom biblischen Text her eine Antwort oder zumindest eine wegweisende Perspektive finden können. Jedes dieser vier Kapitel im Hauptteil beschließt eine sog. „Zwischenbilanz“, die den Ertrag des jeweiligen Kapitels festhält und zugleich als eine Art roter Faden durch den Gedankengang dieser Arbeit führt. Zugleich bieten diese Zwischenbilanzen die Möglichkeit, sich den Gedankengang dieser Arbeit in konzentrierter Form zu erschließen. Den Abschluss der Arbeit bildet ein dritter, stärker biblisch-theologisch geprägter Schlussteil (III.), der die israeltheologische Fragestellung dieser Arbeit von deren Ergebnissen her beleuchtet, noch einmal mit der Kritik des Hebr ins Gespräch bringt und hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen biblischtheologischen Konsequenzen auswertet.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen des Hebräerbriefes Obwohl der Ansatz dieser Arbeit gerade darin besteht, eine ausdrücklich textimmanente Untersuchung der israeltheologischen Aussagekraft des Hebr vorzulegen, sind auch diese exegetischen Ergebnisse natürlich nicht völlig losgelöst von historischen Fragen. Es bedarf hier keiner ausführlichen Darstellung der verschiedenen Positionen, vielmehr sollen die hier vermuteten und zugrunde gelegten historischen und literarischen Rahmenbedingungen im Folgenden grob skizziert werden. Es kann zugleich vorweggenommen werden, was auch in Zukunft nicht zu ändern ist: „Ueber wenig Schriften des Alterthums, über keine des neuen Testaments sind die Meinungen von den ältesten Zeiten an bis auf die neuesten so getheilt gewesen und fortdauernd geblieben, als über den sogenannten Brief an die Hebräer, am meisten über seinen Ursprung.“1
Die Frage nach den Entstehungsumständen des Hebr bleibt ein vages Unterfangen und zeigt zudem umso mehr, dass eine vorrangig textimmanente Beurteilung des Hebr im Allgemeinen und gerade auch für unsere spezielle Frage nach der eschatologischen Perspektive Israels unumgänglich ist. Es bleibt der eschatologischen Hoffnung eines jeden Exegeten vorbehalten, schauende Gewissheit über Ursprungs- und Begleitumstände dieses theologischen Meisterwerkes zu erlangen.
3.1 Historische Rahmenbedingungen Jedes genauere Urteil über die historischen Rahmenbedingungen der Entstehung des Hebr (Autor, Ort, Zeit, Adressaten) bewegt sich auf äußerst unsicherem Boden. Es bleiben nahezu ausschließlich textimmanente Hinweise, die mit aller Vorsicht ausgewertet werden können. Letztendlich lassen sich diese Fragen über die Entstehung des Hebr am besten mit seinen eigenen Worten zusammenfassen: „Es hat aber irgendwo irgendwer gesagt […]“ (2,6).
1
SCHULZ, Hebräer, 3.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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3.1.1 Herkunfts- und Zielort Einer der auffälligsten Hinweise auf seine Entstehungsumstände ist im Hebr die Ortsangabe „es grüßen euch die aus Italien“ in 13,24. Gibt diese Schlussbemerkung den Abfassung- und Zielort des Hebr preis? Zwei wahrscheinliche Möglichkeiten ergeben sich daraus:2 Entweder befindet sich der Autor gerade in Italien (Rom?)3 und schreibt an irgendeine, in keiner Weise letztgültig zu lokalisierende Gemeinde4 oder aber er befindet sich an irgendeinem anderen Ort und schreibt nach Italien (vmtl. Rom), wobei er selbst und/oder Menschen in seinem Umfeld aus Italien stammen und Grüße an die sich dort befindenden Adressaten senden würden. Letzteres scheint plausibler zu sein und findet in der Forschung – mit mal mehr, mal weniger Zurückhaltung – eine breitere Zustimmung.5 Wo genau sich der Autor in diesem Fall zur Abfassungszeit aufhält, muss dann aber völlig offenbleiben. Es ist durchaus plausibel, dass Hebr in erster Instanz an eine konkrete Gemeinde oder eher an mehrere, vernetzte Hausgemeinden innerhalb eines lokal eingegrenzten Gebietes, wie Rom und sein Umland, schreibt.6 Die Verbindung zu Rom, wie sie gerade auch die wörtliche Bezugnahme des 1. Klemensbriefes auf Hebr nahelegt (vgl. 1 Clem 9,3f; 10,1–7; 12,1; 17,1.5; 19,2; 27,2; 43,1; 56,3f.; 64,1),7 kann letztlich aber auch mit Rom als gemeinsamen Abfassungsort erklärt werden, zieht man in Betracht, dass nach antiken Gepflogenheiten in der Regel eine Abschrift eines Briefes am Ursprungsort aufbewahrt wurde.8 Darauf, dass Hebr ein konkretes Gemeindenetzwerk vor Augen gehabt haben dürfte, weisen Passagen, die von einer näheren Kenntnis der Gemeindesituation und -struktur zeugen (5,12; 10,32–34; 12,4; 13,24) sowie der in Aussicht gestellte Besuch des Autors zusammen mit Timotheus (13,23).
2 Ganz anders hingegen G RÄSSER, Hebräer I, 22–25, der diese Frage völlig offenlassen will und muss, da er die Schlussverse in 13,22–25 für sekundär hält. 3 Vgl.R IESNER, Hebräer-Brief, 24f.; K ARRER, Hebräer I, 96. 4 Natürlich gibt es auch dafür zahlreiche Vorschläge in der Forschung, wie z. B. Jerusalem (WESTCOTT, Hebrews, xli), Phrygien (MANSON, Problem, 171–193), Ephesus (BARTLET, Epistle, 58–60.), Zypern (RIGGENBACH, Hebräer, xlvi–xlviii.), Korinth (MONTEFIORE, Commentary, 11–30), Alexandria (CADOUX, Church, 536–538) oder Antiochia (ALLEN, Hebrews, 71–74; ERLEMANN, Antiochia, 126). Diese Deutung von 13,24 wurde und wird in der Forschung jedoch vielfach als unwahrscheinlicher zurückgewiesen (vgl. u. a. schon ZAHN, Einleitung, 144f.; sodann MOFFATT, Hebrews, 246f.; RISSI, Theologie, 11f.; BRUCE, Document, 3517–3519; ELLINGWORTH, Hebrews, 28f.; WEISS, Hebräer, 765; LANE, Hebrews II, 571. 5 Vgl. u. a. A TTRIDGE, God, 10; ELLINGWORTH, Hebrews, 29; G UTHRIE, Introduction, 30; KOESTER, Hebrews, 49f.; BACKHAUS, Hebräerbrief, 25f.; WEISS, Hebräer, 76; STUHLMACHER, Theologie, 87; BRUCE, Hebrews, 21; O’BRIEN, Hebrews, 17. 6 Vgl. W EISS, Hebräer, 72–74.; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 26. Anders G RÄSSER, Hebräer I, 24f., der eine konkrete Gemeinde(-situation) für Hebr bestreitet. 7 Vgl. u.a. B ATEMAN, Charts, 41; THIESSEN, Rezeption, 299–301. 8 Vgl. R IESNER, Hebräer-Brief, 25.
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Teil I: Einführung
3.1.2 Zeit Die Abfassungszeit ist mit einem ebenso großen Rätselraten verbunden. Ein breiterer Forschungskonsens lässt sich hier nur für eine Abfassung vor der des 1 Clem (s. o.) und damit – unter Voraussetzung der Mehrheitsmeinung bzgl. der Datierung des 1Klem – vor ca. 95/96 n. Chr. ausmachen. Doch auch hier sei vorweggenommen: Eine engere Eingrenzung der Entstehungszeit des Hebr als irgendwann zwischen 50 und 90 n. Chr. ist mit großer spekulativer Unsicherheit verbunden.9 Die sich innerhalb dieses Rahmens bewegenden Positionen lassen sich erneut grob in zwei Lager einordnen, in das einer Früh- (zwischen 40 und 70 n. Chr.)10 und in das einer Spätdatierung (zwischen 70 und 100 n. Chr.)11. Vor allem zwei Kriterien und deren Beurteilung sind dabei ausschlaggebend: 1. Die Frage nach der Bedeutung der Tempelzerstörung 70 n. Chr. und dem damit verbundenen Abbruch des Kultbetriebs in Jerusalem für den Hebr und seine Adressaten. 2. Die Einordnung der im Hebr angedeuteten Verfolgungen, die seine Adressaten bislang erdulden mussten. Höchst umstritten in der Forschung ist das erste Kriterium: Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70 n. Chr. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass Hebr über die Tempelzerstörung schweigt. Aber warum tut er das? Ist ein (noch) intakter Tempelbetrieb in Jerusalem die Voraussetzung für den Gedankengang im Hebr?12 Dafür sprechen besonders Textpassagen, die den laufenden Tempelbetrieb als konkrete Anschauung vor Augen zu malen scheinen (8,4; 9,6–9; 10,1–4; 13,11). Zudem werden gerade die Einsetzung der leviti9 Vgl. A TTRIDGE, God, 9; C OCKERILL, Hebrews, 41. Ein weiteres Kriterium für die Abfassungszeit ist die in 13,23 vorausgesetzte Freizügigkeit und Reisetüchtigkeit des Timotheus (vgl. BRAUN, Hebräer, 3). Jedoch lässt sich über die bloße Feststellung dieses Kriteriums hinaus kaum etwas festhalten, das den Zeitraum weiter eingrenzen würde. 10 Vgl. u. a. WESTCOTT, Hebrews, xlii („between A. D. 64 [...] and 67“); RIGGENBACH, Hebräer, XLVIII („66–70“); MONTEFIORE, Commentary, 12 („sometime between A. D. 52 and A. D. 54); HUGHES, Hebrews, 31 („sometime in the sixties“); HAGNER, Hebrews, 8 („somewhere in the early sixties“); STROBEL, Hebräer, 11 („um 60 n. Chr.“); BRUCE, Hebrews, 21 („not long before [...] A. D. 65“); LANE, Hebrews I, lxvi (zwischen dem Brand Roms und Neros Suizid); ELLINGWORTH, Hebrews, 33 („a date not long before 64“); DESILVA, Perseverance, 20 („before 70 A. D.“); WITHERINGTON, Letters, 29 („the late 60s“); FRUCHTENBAUM, Hebräerbrief, 11 („zwischen 64 und 66 n. Chr.“); O’BRIEN, Hebrews, 17 („about A. D. 60–65“); ALLEN, Hebrews, 78 („around AD 67–68“); JOHNSON, Hebrews, 40 („between 45 and 70“); STUHLMACHER, Theologie, 87 („Anfang der 60er Jahre“ [Herv. v. Vf.]); ERLEMANN, Antiochia, 124 („typisches Schreiben der sechziger Jahre“); SWETNAM, Hebrews, 16 („in the early sixties“). 11 Vgl. u. a. M ICHEL, Hebräer, 58 („Zerstörung des Tempels“ als Voraussetzung); BRAUN, Hebräer, 3 („nicht erheblich nach 90p; kaum vor 80p“); HEGERMANN, Hebräer, 11 („um 80“); GRÄSSER, Hebräer I, 25 („in den achtziger oder neunziger Jahren“); WEISS, Hebräer, 77 („zwischen 80 und 90“); SCHUNACK, Hebräerbrief, 12 „die Jahre 80–90“; KARRER, Hebräer I, 97 („zwischen 80 und 100“); MITCHEL, Hebrews, 11 („a time in the early 70s“); BACKHAUS, Hebräerbrief, 36 („in den achtziger oder frühen neunziger Jahren“). 12 Vgl. u. a. JOHNSON, Hebrews, 39.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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schen Priester sowie ihr Dienst mit Präsensformen beschrieben (5,1–4: 7,5; 8,3f.; 10,11; 13,11). Sodann charakterisiert Hebr die alte Kultordnung als gegenwärtig (noch) dahinscheidend, aber noch nicht als beendet (7,12; 8,7.13: 9,10f.; 10,18). Über alledem steht die Frage, warum Hebr gerade das historische Ereignis, das seinen theologischen Überlegungen einen unumgänglichen empirischen Erweis verschaffen würde, nicht erwähnt.13 Dagegen nimmt der Barnabasbrief – wohl mit einem nicht völlig unverwandten Anliegen – ausdrücklich Bezug auf die Tempelzerstörung (Barn 16,4). Sehen manche Forscher in jenen Umständen einen Erweis dass Hebr vor der Tempelzerstörung verfasst worden sein muss, ist der Abbruch des Kultbetriebs in Jerusalem für andere gerade Auslöser für seine Abfassung.14 Wieder andere, die sich für eine solche Spätdatierung aussprechen, meinen, der Tempelbetrieb – intakt oder nicht – spiele für Hebr und vor allem für seine Adressaten letztlich keine so entscheidende bzw. zwingend erwähnenswerte Rolle.15 Auch von dieser Seite wird das Schweigen des Hebr über die Ereignisse 70 n. Chr. als Argument für sich veranschlagt. Denn auch Josephus kann in den 90er Jahren des ersten Jh. hinsichtlich des Tempelbetriebs in der Gegenwart sprechen (Jos. Ant. 3.224–257; Ag. Ap. 2.77). Hier wird sodann betont, Hebr beziehe sich nirgends auf den Jerusalemer Tempel, sondern einzig auf die Stiftshütte bzw. die Schriftwirklichkeit des alttestamentlichen Zeugnisses.16 Die Tempelzerstörung und ihre Nicht-Erwähnung im Hebr bietet kaum einen tragfähigen Ansatz, um dessen Abfassungszeit weiter einzugrenzen.17 Beide „Seiten“ veranschlagen sie mit je guten Argumenten für ihre Positionierungen. Weiter wird sich die Diskussion an dieser Stelle wohl kaum verschieben. Verheißungsvoller erscheint m. E. daher das zweite Kriterium, d. h. die Frage nach erduldeten Verfolgungen aufseiten der Adressaten. Hier steht im Fokus nicht das, was Hebr gerade nicht erwähnt, sondern das, was er erwähnt. Denn an mehreren Stellen spricht Hebr mehr oder weniger deutlich von Situationen des äußeren Drucks, denen seine Adressaten bereits ausgesetzt gewesen sind. Hierzu zählen Anfechtung (2,18; 4,15); Anfeindung bzw. Widerspruch (12,3f.) oder sogar Verfolgung (10,32–34; 13,3). Innerhalb einer Frühdatierung (vor 70 n. Chr.) kämen dafür als mögliche historische Ereignisse u. a. das Claudius-Edikt 49 n. Chr. (vgl. Apg 18,2; Sueton, Claudius § 25) sowie Verfolgungen unter Nero 64–68 n. Chr. (vgl. Tertullian, Ad. Nat. 1.7.8f.; Apol. 5.3f.; Vgl. JOHNSON, Hebrews, 39. Vgl. u. a. MICHEL, Hebräer, 58; ISAACS, Space, 67; ISAACS, Hebrews, 158. 15 Vgl. K ARRER, Hebräer I, 97; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 33. 16 Vgl. z. B. K ARRER, Hebräer I, 97. Deutliche Kritik an dieser Erklärung übt G ÄBEL, Kulttheologie, 484–488, bes. 486f., für den eine solche (künstliche) Trennung zwischen atl. Schriftwirklichkeit (Stiftshütte) und Tempel im Frühjudentum des 1. Jh. n. Chr. historisch nicht plausibel zu halten ist. 17 Vgl. LANE, Hebrews I, lxiii; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 34. 13 14
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Eusebius, Hist. Eccl. 4.26.9)18 oder – falls die Adressaten sich in Jerusalem befunden hätten – im Zuge der Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde unter Herodes Agrippa I. (vgl. Apg 12)19 oder später angesichts des jüdischen Krieges 66–70 n. Chr. (Jos. Ant.20.179–184; Jos. B. J. 1.10; 2,272–276; 2,562; Tacitus, Ann. 15.44)20 infrage. Für eine Spätdatierung ließe sich hier vor allem an Erfahrungen unter Domitian 81–96 n. Chr. denken (Plinius d. J., Ep. 10.96.1; Euseb, Hist. Eccl. 3.18.4), wenngleich diese wohl als lokal äußerst begrenzt eingeordnet werden müssen.21 Die Formulierung in 12,4, wonach die Adressaten in ihrem Glaubenskampf „noch nicht bis aufs Blut widerstanden“ hätten, könnte dabei durchaus auf eine Situation in den 60er bis 70er Jahren hindeuten. Hebr würde so womöglich schon auf erste Auseinandersetzungen mit Juden, aber auch mit der römischen Obrigkeit zurückblicken, die in der gegenwärtigen Situation aber gerade erst noch dabei ist, sich zu verschärfen. Erste Auswirkungen auf die Glaubensmoral der Adressaten wären jedoch bereits spürbar.22 Für diese Stoßrichtung spricht sich auch Lane aus, der plausible Gründe aufzeigt, in den Aussagen in 10,32– 34 einen Verweis auf die Erfahrungen von politischer Verfolgung, Enteignung und Vertreibung im Zuge des Claudius-Edikts (49 n. Chr.) anzunehmen,23 und schließlich zu einem vorsichtigen Fazit gelangt: „If the reading of the evidence is correct, the writer of Hebrews prepared his discourse for some of the Jewish Christians who had shared banishment from Rome with Aquila and Priscilla. [...] Hebrews, of course, addresses the community at a later point in time. A new crisis has emerged, confronting the members of a house church with a fresh experience of suffering. [...] It is not unreasonable to think of the suffering endured by Christians in Rome under Nero. [...] Incidental features of the text, like the writer’s imminent expectation of the Parousia [...] or the reference to Timothy’s release from prison [...], are congruent with this relatively early dating.“24
3.1.3 Autor Doch wer verbirgt sich hinter diesem „eleganteste[n] Schreiben des NT“25? Anstatt, wie so oft, mit dem viel bemühten Fazit des Origenes’ die Frage nach der Urheberschaft des Hebr zu beenden, sei dieses auch hier freilich nicht ausgelassen, aber ohne große Umschweife vorweggenommen: „Wer indes tatsächlich den Brief geschrieben hat, weiß Gott.“26 Vgl. z. B. LANE, Hebrews I, lxvi. Vgl. SCHNELLE, Jahre, 304–308. 20 Vgl. SCHNELLE, Jahre, 310. 21 Vgl. G RÄSSER, Hebräer I, 25. 22 Vgl. STUHLMACHER, Theologie, 87. 23 Vgl. LANE, Hebrews I, lxiii-lxvi. 24 LANE, Hebrews I, lxvi. 25 K ARRER, Hebräer I, 29. 26 EUSEBIUS, His. Ecc., 6.25. 18 19
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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Wohlgemerkt, der überlieferte Satz war von Origenes mitnichten als bloße „Resignation“ zu verstehen, sondern als Votum, über diese Frage nicht zu streiten und die paulinische Verfasserschaft, wie sie in einigen Gemeinden seiner Zeit erklärt wurde, als legitime Option zu akzeptieren. Origenes selbst habe von Klemens von Rom oder von Lukas als mögliche Autoren gehört, er halte den Inhalt des Hebr für paulinisch, nicht aber dessen Stil.27 Das Ringen um die Urheberschaft dieser neutestamentlichen Schrift war und ist also keineswegs falsch, aber auch kein hinreichender Anlass zum wissenschaftlichen Grabenkampf.
Es sind im Laufe der Geschichte zahlreiche Argumente für und wider potenzielle Autoren und ihre Adressatenschaft ausgetauscht worden.28 Um es mit den Worten des Hebr auszudrücken (11,32): „Und was soll ich noch sagen? Denn die Zeit würde mir fehlen, wenn ich erzählen wollte von“ Paulus, Petrus, Lukas, Barnabas, Judas, Stephanus, Philippus, Maria, Apollos, Silas, Priska, Epaphras, Timotheus, Clemens von Rom, Aristion und von all jenen, deren Handschriften – teils stichhaltig, teils in ungezügelter Fantasie – als Ursprung unseres neutestamentlichen Schreibens vorgeschlagen worden sind.29 Ein Konsens der Forschung ist ferner denn je, wohl aber hat sich die Erkenntnis weit
Vgl. EUSEBIUS, His. Ecc., 6.25. die systematisierte und detailreiche Darstellung der Forschungsgeschichte von der Alten Kirche bis in die Gegenwart bei KOESTER, Hebrews, 19–63 sowie umfassend und übersichtlich (tabellarisch) bei BATEMAN, Charts, 17–33. 29 Paulus: Neuerdings wieder V OULGARIS, Christos: Hebrews: Paul’s Fifth Epistle From Prison, GOTR 44/1–4 (1999), 199–206 sowie SWETNAM, Hebrews, 15f.; Petrus: vgl. WELCH, Adam D.: The Authorship of the Epistle to the Hebrews and Other Papers, Edinburgh/London 1898; Lukas: vgl. zuletzt ALLAN, David L.: Lukan Authorship of Hebrews, NAC Studies in Bible and Theology, Nashville 2010; Barnabas: vgl. PIXNER, Bargil: The Jerusalem Essenes, Barnabas and the Letter to the Hebrews, QM 6 (1992), 167–178; RIESNER, Hebräer-Brief, 15–29; Judas: vgl. DUBARE, André-Marie: Rédacteur et destinataires del l’épître aux Hébreux, RB 48/4 (1939), 506–529; Stephanus: vgl. KIRBY, V. T.: The Authorship of the Epistle to the Hebrews, ET 35/8 (1924), 375ff; Philippus: vgl. RAMSEY, William M.: The Date and Authorship of the Epistle to the Hebrews, BW 14 (1899), 217; Maria: vgl. FORD, Josephine M.: The Mother of Jesus and the Authorship of the Epistle to the Hebrews, The Univ. o f Dayton Review. 11 (1975), 49–56; Apollos: so schon LUTHER (vgl. Belege bei KOESTER, Hebrews, 35), neuerdings mit Vorsicht COCKERILL, Hebrews, 10; Silas: vgl. HEWITT, Epistle, 26–32; Priska: Vgl. HARNACK, Adolf v.: Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefs, ZNW 1/1 (1900), 16–41; HOPPIN, Ruth: Priscilla’s Letter. Finding the Author of the Epistle to the Hebrews, San Fransisco/London 1997; Epaphras: vgl. JEWETT, Letter to Pilgrims. A Commentary on the Epistle to the Hebrews, 7–9; Timotheus: vgl. LEGG, John: Our Brother Timothy. A Suggested Solution to the Problem of the Authorship of the Epistle to the Hebrews, EvQ 40 (1968), 220–222; Clemens von Rom: vgl. EUSEBIUS, His. Ecc., 6,25,14; Aristion: vgl. CHAPMAN, John: Aristion, Author of the Epistle to the Hebrews, Revue Bénédictine 22/1–4 (1905), 50–64. Nicht zuletzt sei hier die interessante, aber ebenso unbeweisbare These genannt, die letzten vier Verse (13,22–25) seien ein persönliches Empfehlungsschreiben des Paulus für den Text eines uns unbekannten, aber von ihm hochgeschätzen Kollegen (vgl. TROBISCH, Rätsel, 323). 27
28 Vgl.
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Teil I: Einführung
verbreitet, dass entsprechende Diskussionen nur bedingt für eine fruchtbare Exegese des Hebr geklärt sein müssen.30 Mit den meisten Kommentatoren lässt sich aus dem Hebr selbst heraus, folgendes über den Autor31 festhalten: Er besaß bemerkenswerte sprachliche Fähigkeiten sowie eine Gelehrsamkeit über und eine Hochachtung für die alttestamentlichen Schriften, was sich allein schon an deren quantitativen Gebrauch im Hebr festmachen lässt.32 Die Frage, auf welche alttestamentliche Textgrundlage sich Hebr bezieht, konnte bisher nicht abschließend beantwortet werden.33 Klarheit herrscht wohl nur darüber, dass Hebr stets den Text der LXX zitiert, wenn auch keine Einigung über die entsprechende Textform besteht.34 Hebr folgt der LXX sogar dann, wenn diese vom MT abweicht (10,38; vgl. Hag 2,4b). Dadurch könnten auch manche eigenwillig anmutenden Abwandlungen bzw. Auslegungen von Zitaten zustande kommen (z. B. 12,26; vgl. Hag 2,6). Solche Vermutungen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da Hebr zum einen theoretisch auch („falsch“) aus dem Gedächtnis zitieren könnte und zum anderen sollte der interpretierende Charakter der LXX gegenüber dem MT nicht per se gegen diese ausgespielt werden. Vielmehr ist für die Entstehungsprozesse von hebräischem und griechischem Text von einer gegenseitigen Beeinflussung auszugehen.35 Hinsichtlich der genauen Anzahl der alttestamentlichen Zitate beginnt sodann die nächste Debatte. Grund dafür ist die sehr unterschiedliche Vorgehensweise, mit der im Hebr alttestamentliche Texte aufgegriffen werden. Hinzu kommt das Fehlen eines allgemeinen Verständnisses darüber, wann von einem Zitat, wann nur von Anspielungen oder gedanklichen Voraussetzungen gesprochen werden kann. Ein Vorschlag über die exakte Anzahl konnte sich bisher nicht etablieren. So zählen u. a. Westcott 29,36 Michel 3237 und Lane wiederum 31 explizite Zitate.38 Guthrie unterscheidet (mit Vorbehalt) 37 Zitate, 40 Anspielungen, 19
30 So das Urteil mittlerweile vieler Exegeten im Sinne Luthers nach dessen Vorrede zum Hebr von 1546: „Wer sie [die Epistel; Anm. A. H.] aber geschrieben habe, ist unbewust, wil auch wol unbewust bleiben noch eine weile, da ligt auch nichts an. Uns sol genugen an der Lere, die er so bestendiglich aus und in der Schrift grundet, und gleich einen rechten seinen griff und mas zeiget, die Schrift zu lesen und handeln.“ (WA DB 7, 345; vgl. KRAUS, Ansätze, 67). 31 Trotz z. T. bemerkenswerter Argumente für eine Autorin bzw. deren Beteiligung an der Abfassung (vgl. die Ansätze von Adolf v. Harnack und Ruth Hoppin; s. o. S. 50, Anm. 29), kommen wir letztlich nicht am maskulinen Partizip (διηγούμενον) in 11,32 vorbei. 32 Vgl. W EISS, Hebräer, 65. 33 Vgl. H ÜBNER, Interpretation, 363. 34 Ein Überblick über die Forschungsmeinungen findet sich H ÜBNER, Interpretation, 363 (vgl. auch GUTHRIE, Hebrews, 922f.). Die Diskussion dreht sich dabei v. a. um die beiden Codices Vaticanus und Alexandrinus, die als mögliche Vorlagen infrage kommen. 35 Vgl. GOPPELT, Theologie, 576; WEVERS, Character, 87. Vgl. als regelrechtes Paradebeispiel für eine solche komplexe, wechselseitig Beeinflussung die mögliche Entstehungsgeschichte von Jer 31 bzw. Jer 38LXX, herausgearbeitet bei SCHENKER, Bund. 36 Vgl.W ESTCOTT, Hebrews, 471f. 37 Vgl.M ICHEL, Hebräer, 151. 38 Vgl.LANE, Hebrews I, 116.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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Zusammenfassungen von alttestamentlichem Material und 13 Referenzen zu einem alttestamentlichen Namen, ohne Bezug auf einen bestimmten Kontext.39
Neben dem umfassenden Schriftgebrauch, ist zugleich ein „‚didaktisches‘ Bemühen“40 des Autors zu erkennen. Gerade bei Fragen nach der Erhabenheit des Sohnes gegenüber den Engeln (1,4–14), Mose (3,1–6) und dem levitischen Priestertum bzw. der levitischen Kultordnung (5,1–10,18) zeigt er großes Bemühen, seine Appelle, am Bekenntnis zu Jesus festzuhalten (vgl. 2,1; 3,1.7– 8.12–13; 4,1.16 o. ö.), auch argumentativ zu untermauern. Auch seine Eingangsthese, der Sohn Jesus sei das Ziel aller bisherigen Gottesoffenbarungen (1,1–4), die wiederum auf das seit der Schöpfung vorhandene, aber bislang noch unerreichte Ziel der Gottesruhe abheben (4,3), will Hebr auf einem doppelten Weg beweisen (3,7–4,11). Dabei nimmt er auf der einen Seite die (menschliche) Existenz seiner Adressaten in den Blick, an der abzulesen sei, dass sie die Ruhe noch nicht erreicht haben (4,9f.). Zugleich führt er einen langen Schriftbeweis an, unter Berücksichtigung der zeitlichen Abfolge der alttestamentlich bezeugten Geschichte Israels (vor allem 4,6–9). Ebenso lässt seine feinsinnig austarierte Worttheologie im Blick auf die Beziehung von Gott-Vater, Sohn und Heiligem Geist auf ein hohes Reflexionsniveau hinsichtlich des Christusereignisses schließen.41 Ob der Autor jüdisch sozialisiert gewesen ist, sei es nun im jüdischen Kernland Palästinas oder in den Gebieten der jüdischen Diaspora, lässt sich kaum beantworten. Vor allem sein intensiver Schriftgebrauch sowie die Selbstverständlichkeit, mit der er sich innerhalb der alttestamentlich bezeugten Geschichte des physisch greifbaren Volkes Israels verankert weiß, deutet in diese Richtung. Dagegen spricht wiederum, dass ihn Themen wie Beschneidung überhaupt nicht, Speisegebote nur ansatzweise (13,9?) interessieren. Zudem muss hier mitbedacht werden, dass die gesamte Wirklichkeitsdeutung – und damit die der Geschichte Israels sowie der eigenen – konsequent vom Christusgeschehen her verstanden wird. Insofern ist die Geschichtsidentität des Autors vorrangig eine Schriftwirklichkeit mit einer christozentrischen Hermeneutik, die Kategorien der ethnischen Zugehörigkeit zu Israel „nur“ bedingt voraussetzt und stattdessen den Glauben als entscheidendes Merkmal derer versteht, von deren Geschichte die alttestamentlichen Schriften letztlich zeugen. Eine eindeutige Entscheidung ist auch hier nur mit sehr geringer historischer Wahrscheinlichkeit zu fällen. Festgehalten werden kann zudem, dass der Autor selbst kein Augen- bzw. Ohrenzeuge Jesu gewesen sein dürfte, worauf seine Bemerkung in 2,3 schließen lässt.
Vgl. GUTHRIE, Hebrews, 919. WEISS, Hebräer, 65. 41 S. u. zur „Worttheologie“ im Hebr S. 71. 39 40
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Teil I: Einführung
Diese Stelle ist zugleich häufigster Einwand gegen eine paulinische Verfasserschaft.42 Zwar gibt es auch m. E. letztlich überzeugende Gründe, Hebr nicht als Paulusschrift einzuordnen, jedoch scheint die Angabe in 2,3 dazu weniger gewichtig zu sein, als oft veranschlagt. Auch Paulus kann sich, trotz starker Betonung seiner Apostolizität43 – wohlgemerkt, nicht seiner Augenzeugenschaft des irdischen Wirkens Jesu – auf eine Traditionskette ebenjener vor ihm berufen und das immerhin bei keinen geringeren Themen als die der Auferstehung Jesu (1 Kor 15,3) und des Herrenmahls (1 Kor 11,23). Zumindest sollte 2,3 nicht zwingend als Argument für eine Spätdatierung des Hebr (d. h. in den letzten drei Jahrzehnten des 1. Jh. n. Chr.; s. u.) veranschlagt werden,44 weil der Autor in seiner Verkündigung zur sog. „zweiten Generation“ zu zählen sei.45 Diese Kategorie ist hier m. E. aber weniger zeitlich als vielmehr personal zu verstehen: Zur ersten Generation zählen diejenigen, die innerhalb einer Traditionskette zur Augenzeugenschaft gerechnet werden können. Eine künstliche zeitliche Abgrenzung zur zweiten Generation innerhalb einer solchen Traditionskette ist irreführend. Der Autor des Hebr ist – zumindest von 2,3 her – demnach nicht zu denjenigen zu zählen, die den irdischen Jesus selbst gehört hatten. Ob er aber zeitlich in die ersten (drei) Jahrzehnte frühchristlicher Missions- und Lehrtätigkeit zu rechnen ist, kann davon ausgehend jedenfalls nicht ausgeschlossen werden.
3.1.4 Adressaten Was ist auf der anderen Seite zur Charakterisierung der Adressaten zu sagen? Neben den oben bereits thematisierten Fragen nach einer Lokalisierung lassen sich für sie mit Sicherheit nur zwei Aspekte festhalten: Erstens setzt Hebr bei ihnen eine gewisse Zeit des Christseins sowie ein Mindestmaß an christlicher Lehre voraus (5,12–6,2). Zweitens haben sie bereits Situationen des äußeren Drucks erleben müssen (s. o.) und zeigen offensichtlich eine gewisse Glaubens- bzw. Bekenntnismüdigkeit (6,11f.; 10,23–36; 12,1–17 u. ö.). Fragt man hingegen nach einer religionsgeschichtlichen Einordnung der Adressaten, beginnt der große Streit erneut. Zwei grundlegende Annahmen stehen sich hier gegenüber: Der Hebr schreibe entweder an eine Empfängerschaft mit einem rein jüdischen Hintergrund oder an eine mit einem rein nichtjüdischen.46 Bereits Pantaenus (vgl. Euseb, Hist. eccl. 6.14.4) und Tertullian (vgl. De pudicitia 20) waren im 2. Jh. davon überzeugt, dass Hebr vorrangig an Juden bzw. Judenchristen geschrieben worden sei.47 Aus Hebr selbst können dafür u. a. folgende Argumente gewonnen werden: 1. Hebr ist darum bemüht, die Bedeutung Jesu und die Notwendigkeit des Bekenntnisses zu ihm im Vergleich 42 Vgl. die geschichtliche Übersicht der Entwicklung hinsichtlich der Annahme einer paulinischen Verfasserschaft bei GRÄSSER, Hebräer I, 19–21. sowie umfassend bei ROTHSCHILD, Hebrews, 1–62. 43 Vgl. Röm 1,1; 1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1; vgl. Eph 1,1; Kol 1,1; 1 Tim 1,1; 2 Tim 1,2; Ti 1,1. 44 Vgl. so aber u. a. W EISS, Hebräer, 65. 45 Seit LUTHER (WA DB 7, S. 344f.) zahlreiche Exegeten (vgl. z. B. W EISS, Hebräer, 65). 46 Vgl. die Darstellung bei B ATEMAN, Charts, 38. 47 Vgl. u. a. FELD, Hebräerbrief, 3588; B RUCE, Hebrews, 382; LANE, Hebrews I, lviii-lx; HUGHES, Hebrews, 11; JAROŠ, Autoren, 144; WALKER, Place, 386–388.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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zur alttestamentlichen-frühjüdischen Kultordnung zu beschreiben (vor allem 5,1–10,18), parallelisiert seine Adressaten mit der Generation der Wüstenwanderung (3,7–4,11) oder beruft sich bei seiner Christologie auf die im Frühjudentum nicht unbekannte messianische Figur des Melchisedek (vgl. 7,1–10).48 2. Hebr ist besorgt, seine Adressaten würden durch Glaubensmüdigkeit vom lebendigen Gott abfallen, so wie ihre Vorfahren (2,1–4; 3,12–14; 5,11–6,8; 10,26–31; 12,25–29). 3. Hebr scheint bei seinen Adressaten die Kenntnis bzw. Akzeptanz von diversen frühjüdischen Vorstellungen und Traditionen vorauszusetzen, wie z. B. die Rolle der Engel als Gesetzesmittler (2,2f.), Speisevorschriften (9,10; 13,9f.) sowie gängige exegetische Methoden des Diasporajudentums im 1. Jh. n. Chr.49 Vertreter dieser Position sehen die Adressaten dann zumeist in Gefahr, sich insofern als glaubens- und bekenntnismüde zu erweisen, als dass sie sich jüdischen Kultvorschriften bzw. der levitischen Heilsordnung wieder zuwenden.50 Gegen diese Argumente werden jedoch Einwände von denjenigen erhoben, die die Adressaten vorrangig als rein nichtjüdisch bzw. heidenchristlich einordnen.51 Grundsätzlich muss der Bezug auf das alttestamentliche Zeugnis kein Ausschlusskriterium für Heidenchristen sein, denn auch hier „steht offensichtlich von Anfang an das Alte Testament als die Heilige Schrift des Urchristentums in hohem Ansehen“52. Sodann sei vor allem die Beschreibung der Bekehrung als Abkehr von den toten Werken in 6,1 plausibler auf die Bekehrung aus dem Heidentum zu verstehen.53 Ähnliches gelte auch für die Rede der Erleuchtung (φοτίζειν) in 6,4 und 10,32. Zudem ist umstritten, ob Hebr in 13,9f. wirklich auf dezidiert jüdische Speisegebote abziele oder nicht vielmehr allgemein religiöse Praktiken im Blick habe. Schließlich warnt Hebr an keiner Stelle ausdrücklich vor einem „Rückfall“ ins Judentum, sondern vor einer Glaubens- und Bekenntnismüdigkeit generell (3,12). Nicht zuletzt ist auffällig, dass Hebr der Beschneidungsfrage überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt. Eine einseitige Entscheidung dürfte (auch) hier m. E. kaum zu fällen sein. Auf der Seite des Autors scheint die Frage nach dem Verhältnis von Heiden(48 Vgl. u. a. RIGGENBACH, Hebräer, XXI-XXIII; BRUCE, Hebrews, XXIV–XXVI; STROBEL, Hebräer, 82. 49 Vgl. B REWER, Techniques. 50 Vgl. u. a. PETERSON, Perfection, 186; H UGHES, Hebrews, 18f.; G LEASON, Background, 69. Als historischer Grund wird dabei meist die Attraktivität des Judentums genannt, das nach römischem Recht als religio licita besondere Privilegien genoss und in dessen Schutz die Adressaten angesichts von äußerlichen Anfeindungen (z. B. durch die römischen Behörden) zurückkehren wollten (vgl. z. B. WITHERINGTON, Letters, 28). 51 Vgl. u. a. HEGERMANN, Hebräer, 10; WEISS, Hebräer, 71; KARRER, Hebräer I, 100f.; BACKHAUS, Hebräerbrief, 24f. 52 Weiss, Hebräer, 71. 53 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 24: „Nicht der ‚Rückfall‘ in das jüdische Kultwesen ist die Gefahr, sondern der ‚Abfall vom lebendigen Gott‘ nach Abkehr von den ‚toten Werken‘ [...]. Dies aber ist die Sprache der Heidenmission.“
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Teil I: Einführung
christen) und Juden(-christen) innerhalb der christlichen Kirche ohnehin keine Rolle zu spielen. Aus seiner Sicht ist es angebracht, „in den Adressaten Christen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zu sehen“54. Aus der Perspektive seiner Adressaten wird hier jedoch ebenfalls nicht einseitig zu entscheiden sein. Unter der bereits favorisierten Annahme einer Lokalisation der Adressaten in und/oder um Rom ab den 60er Jahren des ersten Jahrhunderts oder später dürfte eine gemischte Gemeinde wahrscheinlich sein.55 Zumindest für die Zeit ab 70 n. Chr. sollte dies für das stadtrömische Christentum zutreffend sein.56 Jüdisch sozialisierte Adressaten in Gänze auszuschließen, halte ich für überzogen. Gerade die Betonung des Hebr gegenüber seinen Adressaten, durch das Heilswerk Jesu nun endlich freimütigen Zugang zum Gnadenthron Gottes zu haben (vgl. 4,16; 7,19; 10,19.22), weist m. E. immer auch in Richtung von Judenchristen.57 Denn (allein) diese könnten sich aus ihrer individuellen sowie kollektiven Erfahrung eben noch daran erinnern, was es bedeutet, keinen solchen Zutritt zu Gott zu haben; genauer ausgedrückt, keinen Zugang in seine unmittelbare Gegenwart im Allerheiligsten zu haben, aber im Bewusstsein darum eine Gottesbeziehung zu leben. Diese Bekräftigung des nun eröffneten Zugangs „gereinigt vom bösen Gewissen“ (10,22) im Hebr kann gleichsam als Gesamtfazit seiner Christologie und deren soteriologischen Bedeutung verstanden werden. Aber das stellt ebenso wenig ein Ausschlusskriterium für Heidenchristen dar. Es scheint mir daher plausibel und somit geboten, mit David deSilva festzuhalten: „I find, therefore, no reason to limit our reading of Hebrews as a sermon addressing Jewish Christians or even prominently interested in the Jewish Christians in the audiance. Neither would I push this in the opposite direction and suggest that Gentile Christians are either prominent or especially targeted. The letter, unfortunately named, would be equally meaningful to Christians of any ethnic origin, since both Jewish and Gentile converts are socialized into the same Christocentric reading of the same Scriptures.“58
3.1.5 Zwischenfazit: Das Rätsel bleibt ungelöst Viel mehr Klarheit kann kaum in den historischen Nebel gebracht werden, der die Entstehung des Hebr umgibt. Viele, letztlich rein hypothetische Szenarien sind hier reizvoll und füllen Hebr mit weiterem Leben; Erzählungen, die unsere Vorstellung dieser wunderbaren neutestamentlichen Schrift prägen. Vieles wäre GRÄSSER, Hebräer I, 24. So u. a. ELLINGWORTH, Hebrews, 22–27; COCKERILL, Hebrews, 19–23; KOESTER, Hebrews, 49f.; SCHNELLE, Einleitung, 447. Für GRÄSSER, Hebräer I, 24 ist diese Frage sowohl für Hebr und damit auch für die Exegese völlig irrelevant (vgl. ähnlich SCHUNACK, Hebräerbrief, 11). 56 Vgl. LAMPE, Christen, 53f.60. 57 Vgl. LINDARS, Theology, 35: „[T]he best that can be said is that nothing forbids the view that Hebrews is addressed to comparatively well-educated Jewish Christians somewhere in the Mediteranean Diaspora.“ 58 DESILVA, Perseverance, 6. 54 55
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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möglich. Vermutlich war es dann ohnehin ganz anders. Die „zukünftige Stadt“ wird auch die Antworten auf solche Fragen bereithalten.
3.2 Literarisch-strukturelle Rahmenbedingungen So schwierig sich eine Antwort auf die historischen Begleitumstände des Hebr gestaltet, so schwierig ist es auch, Hebr in einem festen und eindeutigen literarischen Strukturschema zu erfassen. Das zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Gliederungsvorschläge im Laufe der Auslegungsgeschichte.59 Hierzu sei Folgendes hervorgehoben: Hebr ist ein Schreiben, das im Kontext der Gemeindeversammlung gehört werden will. Backhaus betont daher zu Recht, dessen Orientierung an „Gestaltungsregeln manuskriptgebundener Mündlichkeit“60 zu beachten. Eine formale Ein- und Zuordnung der einzelnen Inhalte sollte dabei für Hebr weder dessen rhetorische Gestaltungskraft über noch unter betonen.61 Es gilt, die Balance zu wahren zwischen der theologischen und kreativen Schaffenskraft eines offensichtlich so umfassend gebildeten Autors, der bei seiner Arbeit stets mehr „im Kopf hat“, als er tatsächlich direkt an seine Addressatenschaft sendet, und zwischen der Funktion eines solchen öffentlich zu hörenden Werkes, das seine Geltung in erster Linie nicht am Schreibtisch unter der Lupe des Exegeten, sondern im Hör- und Verarbeitungsprozess einer lebendigen Gemeindesituation entfaltet. Entsprechend kann es nur schwerlich ein Gliederungsprinzip geben, das alle Eigenheiten des Hebr in einem durchstrukturierten Schema festzuhalten vermag. „Deshalb würdigen wir die rhetorische Leistung unseres Autors vielleicht am meisten, wenn wir ihm erlauben, in seine höchst artifizielle Textgestaltung gleitende Übergänge, Brechungen und Neueinsätze zu integrieren, die ein lebendiges Hören in vielfältigen und gemischten Situationen erlauben.“62
Der für ein Auditorium schreibende Autor wird sich angemessenen, ihm bekannten Kompositionstechniken ebenso wenig entziehen,63 wie diese Gestaltungsfragen den Kern seiner Botschaft darstellen.64 Trotz allem gibt es (ver59 Vgl. die ausführlichen Überblicke bei LANE, Hebrews I, lxxxv-xcviii sowie G UTHRIE, Structure, 3–20. 60 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 40. 61 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 41. 62 K ARRER, Hebräer II, 74. 63 Vgl. K OESTER, Hebrews, 84–86. sowie BACKHAUS, Hebräerbrief, 42–44, die überzeugend, wenn auch im Detail voneinander abweichend, darlegen, inwiefern Hebr in seiner Makrostruktur tatsächlich von den gängigen rhetorischen Gepflogenheiten des 1. Jh. n. Chr. geprägt ist. 64 Zudem gehört es zum Verhältnis eines Autors, seines Textes und seiner Adressaten, dass letztere den Text immer auch interpretieren und dabei Details zu Tage gefördert werden,
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Teil I: Einführung
schiedene) Möglichkeiten, Hebr als strukturelle Einheit sinnvoll wahrzunehmen.65 Gegen die „alte“ Herangehensweise, Hebr grob in einen lehrhaften (1,1–10,18) und in einen paränetischen (10,19–13,21) Teil zu unterteilen,66 sperren sich die vielen, bereits weit vor Kap. 10 immer wieder eingeschobenen paränetischen Abschnitte (vgl. besonders 3,1–4,14; 5,11–6,20), die die lehrhaften unterbrechen. Hinzu kommt, dass sich in vielen Abschnitten beides ohnehin kaum voneinander trennen lässt. Diesen Umständen suchte man in der jüngeren Forschung mit einem fünfgliedrigen Schema gerecht zu werden.67 Aber auch dieses Modell stößt an seine textlichen Grenzen. Fast natürlich zerfällt Hebr hingegen durch die beiden auffälligsten Zäsuren68 in 4,14–16 und 10,19–23 in eine, in der Forschung immer wieder herausgearbeitete, Dreiteilung.69 In den drei dadurch vorfindlichen Hauptteilen lässt sich m. E. die sinnvollste gedankliche Entwicklung – als Grundlegung, Entfaltung und Anwendung – deutlich erkennen. Dabei tritt auch das für unsere Fragestellung ausschlaggebende Verhältnis von alter und neuer Heilsordnung bzw. die Bedeutung des Heilsereignisses in Jesus Christus und der damit verbundenen Voraussetzungen und Konsequenzen für Eschatologie und Ekklesiologie deutlich hervor: (I)
1,1–4,13
Hermeneutische Grundsteinlegung: Die Einzigartigkeit und Erhabenheit des Sohnes als abschließende Gottesoffenbarung
(II)
4,14–10,18
Das Heilsereignis im Sohn: Das hohepriesterliche Wirken des Sohnes in Entsprechung, Überbietung und Andersartigkeit zur Kultordnung des Gesetzes
(III) 10,19–13,21
Die Reaktion auf dieses Heilsereignis: Der Glaube als alles entscheidende Grundbestimmung bis zum Eschaton
Diese inhaltlichen Bestimmungen der drei Hauptteile können – je nach eigener sachlicher Perspektive – auch anders nuanciert und im Detail ohne weiteres
die dem Autor selbst beim Verfassen vielleicht „nur“ unterbewusst oder überhaupt nicht präsent gewesen sein mögen. 65 Vgl. die Übersicht bei K ARRER, Hebräer II, 73. 66 So als frühester greifbarer Ansatz bei Thomas v. Aquin. Johann A. Bengel teilte später ebenfalls in zwei Teile, aber nicht, wie Thomas, zwischen Kap. 10 und 11, sondern verstand 1,1–2,4 als Einleitungsteil zur Darstellung der Einzigartigkeit Christi (vgl. GUTHRIE, Structure, 4f.). 67 Vgl. v. a. ausführlich V ANHOYE, Structure, 274–303, der folgende fünf Hauptabschnitte, die von einem Wechselspiel aus paränetischen und dogmatischen Teilen geprägt sind, erkennt: 1,3–2,18; 3,1–5,10; 5,11–10,39; 11,1–12,13; 12,14–21. Davon trennt er noch 1,1–4 und 13,22–25 als separaten Briefeingang bzw. -abschluss. 68 Vgl. zur Parallelität beider Abschnitte und ihrer Bedeutung für die Gesamtstruktur als Dreiteilung NAUCK, Aufbau, 203f. 69 Vgl. G RÄSSER, Hebräer I, 28f.; W EISS, Hebräer, 49; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 42–44 u. v. a.
3. Historische und literarische Rahmenbedingungen
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feingliedriger bestimmt werden.70 Im Kern entfalten sie aber stets dieselbe thematische Entfaltung, die auf das pastorale Anliegen des Hebr abzielt. Er will seine von Glaubenszweifeln geplagten Adressaten in der Gewissheit um die Gültigkeit des Heilswerkes des Sohnes als selbst benanntes Herzstück seines Schreibens (vgl. 8,1!) und ihre Teilhabe daran bekräftigen, um sie so zur Standhaftigkeit in ihrem (Glaubens-)Leben zu bestärken. Wie Hebr dabei seine einzelnen Ausführungen innerhalb eines Gesamtzusammenhangs auf der Satzebene immer wieder geschickt zusammenführt, hat besonders Albert Vanhoye in vielerlei Hinsicht überzeugend herausgearbeitet.71 Die von ihm nachgewiesenen Techniken unterstützen das Anliegen des Hebr, mündlich vorgetragen und gehört zu werden, nur zu gut, da Hebr vor allem mit Leitmotiven,72 Rahmungen (inclusio),73 sprachlichen Klammern,74 Genrewechseln (Wechselspiel aus lehrhaften und ermahnenden Passagen) und eingängigen Kompositions-figuren, wie dem antithetischen Parallelismus75 oder der syntaktischen Stellung des entscheidenden, zu betonenden Aspekts am Ende einer Aussage,76 arbeitet. Das alles unterstützt das Verstehen und Behalten eines gehörten Textes enorm. Ich lege meiner Arbeit am Hebr eine solche Dreigliederung zugrunde, ohne dabei gleitende Übergänge zwischen einzelnen Teilen zu übergehen,77 aber auch ohne, dass alle strukturellen Details dazu minutiös beschrieben werden müssen.
So sprechen WEISS, Hebräer, 49 mit Blick auf den Hebr als Mahnrede von einer Abfolge von „Hören“, „Bekennen“ und „Bewährung“ und BACKHAUS, Hebräerbrief, 42 von der „natürlichen Dynamik einer Glaubensrede“ als „Hören“, „Deuten“ und „Handeln“. 71 Vgl. V ANHOYE, Structure sowie D ERS., Message, 18–44. Ich beziehe mich hier v. a. auch auf die Zusammenstellung seiner Ergebnisse bei BACKHAUS, Hebräerbrief, 44f. Vgl. ebenfalls dazu ausführlich GUTHRIE, Structure, 45–111. 72 Vgl. die Nennung der „Ordnung Melchisedeks“ in 5,6 und 5,10, die dann ab 7,1 vollends entfaltet wird; ähnlich dazu die Bezeichnung Jesu als „Hohepriester“. 73 Vgl. die Schöpfungsmacht Gottes und die Beteiligung des Sohnes daran in 1,2 und die Erkenntnis des Glaubens darüber in 11,3. 74 Vgl. πίστις als Abschluss des zweiten Hauptteils in 10,38 und Auftakt des dritten in 11,1. 75 Vgl. in 7,28 die „schwachen Menschen“ gegenüber dem „in Ewigkeit vollendeten Sohn“ oder das schwache fleischliche (irdische) Gebot gegenüber der „Kraft eines unzerstörbaren Lebens“ in 7,16. 76 Vgl. z. B. die betonte Nennung des Namens „Jesus“ nach Aufzählungen diverser Attribute am Ende des Satzes in 3,1 oder 13,20. 77 So nehmen z. B. die Verse 4,14–16 eine Scharnierfunktion zwischen erstem und zweitem Hauptteil ein, der nach BACKHAUS, Hebräerbrief, 177 ein „Portalcharakter“ zukommt (vgl. ähnlich u. a. ATTRIDGE, Hebrews, 138; COCKERILL, Hebrews, 224; KARRER, Hebräer I, 237f.; ELLINGWORTH, Hebrews, 265). Sie sind eine „Drehscheibe, auf der sich der Übergang von der Sohnes- zur Hohepriesterchristologie vollzieht“ (LAUB, Bekenntnis, 106). Allerdings handelt es sich dabei gerade nicht um einen thematischen Neueinsatz, sondern vielmehr um einen strukturellen, da die Entfaltung der Sohnschaft (1,1–4,13) durchweg auf die der Priesterschaft hinarbeitet (vgl. LAUB, Bekenntnis, 105; GRÄSSER, Hebräer I, 241). 70
Teil II
Exegetischer Hauptteil
1. Die alte und die neue Heilsordnung Hebr fällt wie kein anderes neutestamentliches Schreiben vor allem dadurch auf, dass er seine Christologie und die damit unlöslich verbundene Soteriologie anhand ausführlicher Verhältnisbestimmungen entfaltet. Nachdem im Eingangshymnus 1,1–4 der Sohn als letztgültige Gottesoffenbarung eingeführt wird, dienen die nun folgenden fast zehn Kapitel in vielerlei Hinsicht dem Erweis der Erhabenheit dieses Sohnes. Er ist erhaben über die Engel (1,4–2,18), erhaben über Mose (3,1–6) und schließlich ist er erhaben über die levitischen Priester und die durch sie repräsentierte Heilsordnung (4,14–10,18). Damit verfolgt Hebr das Ziel, seinen Adressaten die unüberbietbare und insofern unaufgebbare Bedeutung des Sprechens Gottes im Sohn in Erinnerung zu rufen. Unüberbietbar ist es für Hebr, weil keine vorherige Gottesoffenbarung letztgültig in die Gemeinschaft mit Gott geführt hat (z. B. 4,9; 7,19). Im Sohn ist dieser Weg nun bereitet (10,19–22). Unaufgebbar ist das Sprechen Gottes im Sohn für Hebr, weil eine Abwendung von dieser unüberbietbaren Offenbarung fatale Konsequenzen für den Heilsstand des Einzelnen nach sich ziehen würde (10,23–29). Der Frage, inwiefern diese Unüberbietbarkeit und Unaufgebbarkeit der Bedeutung Jesu mit einer (dennoch) positiven eschatologischen Perspektive für Israel aus christlicher Sicht zusammengehalten werden kann, widmet sich die folgende exegetische Untersuchung des Hebr hinsichtlich des Gesamtzusammenhangs seiner Soteriologie, Pisteologie, Ekklesiologie sowie Eschatologie. Um seinen Adressaten die Dringlichkeit seiner Warnung vor einer Absage an das Bekenntnis zur Heilsbedeutung Jesu unmissverständlich einzuschärfen, fällt Hebr im Zuge seiner Ausführungen zahlreiche deutliche Urteile über die levitische Kultordnung. Aus der Perspektive der Gottesoffenbarung im Sohn (1,1–4) erscheint dieser „alte“ Weg als unzulänglich. Charakterisierungen wie „schwach“ (ἀσθενής), „nutzlos“ (ἀνωφελής) oder „unmöglich“ (ἀδύνατος) für die alttestamentlichen Sühneriten und demgegenüber „neu“ (καινός) und „besser“ (κρείττων) für das, was Hebr mit Jesus Christus verbindet, machen ihn für viele heutige Leser zu einem streitbaren neutestamentlichen Zeugnis. Denn diese harsch anmutenden Stellen lassen danach fragen, was mit einem Judentum geschieht, das dem Bekenntnis zur Person und zum Werk Jesu Christi in dieser Form nicht zu folgen vermag. Doch für Hebr selbst kann und darf es
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keinen Zweifel geben: Im Sohn Jesus hat Gott eine „bessere Heilsordnung“ (κρείττων διαθήκη) gestiftet (7,22). Exkurs: Diatheke – Bund oder Testament? Das Lexem διαθήκη ist – obwohl erst recht spät eingeführt (7,22) – ein Schlüsselmotiv im Hebr.1 Damit folgt er dem Sprachgebrauch der LXX, welche διαθήκη meist als Übersetzung des hebräischen בריתverwendet. In den meisten deutschsprachigen Bibelübersetzungen, aber darüber hinaus in der abendländisch-christlichen Theologie generell, wird בריתüblicherweise mit dem Wort „Bund“ wiedergegeben. Dies ist jedoch mitnichten unproblematisch. Denn wie Ernst Kutsch überzeugend dargestellt hat, 2 ist unter בריתin seinem theologischen Gebrauch im Alten Testament gerade kein Vertrag zweier gleichberechtigter Partner zu verstehen, wie das Wort „Bund“ nahelegt. Vielmehr ist bereits im (hebräischen) Alten Testament selbst an eine „Verpflichtung“ gedacht, „sei es die ‚Selbstverpflichtung‘, sei es die ‚Fremdverpflichtung‘. Beide Male ist Jahwe Subjekt […].“3 Mit διαθήκη fanden die Übersetzer der LXX ein Wort, das in seinem allgemein-hellenistischen Gebrauch vor allem (erb-)rechtliche Bedeutung hat, wobei der Setzer einer διαθήκη i. d. R. erst sterben muss. Dennoch gibt διαθήκη die Bedeutung von בריתsachgemäß wieder und findet schließlich in der altlateinischen Übersetzung (Vetus Latina) seine Entsprechung in testamentum. Die heutige Unterscheidung in Altes und Neues Testament folgt dieser Übersetzungslinie. Die mittlerweile geläufige Übersetzung von בריתmit „Bund“ folgt hingegen einer anderen, zweiten Übersetzungstradition, die seit Hieronymus die διαθήκη der LXX mit foedus oder pactum wiedergibt.4 Spätestens mit der Übersetzung Luthers hat sich dann das daraus resultierende Wort „Bund“ durchgesetzt. Damit kann neben der sprachlichen auch eine theologische Bedeutungsverschiebung einhergehen, die den theologischen Aussagegehalt von בריתdeutlich verzerrt: weg von einem allein durch Gott als Subjekt gestifteten Beziehungsverhältnis hin zu einem partnerschaftlichen. Für die Auslegung des Hebr ist dies insofern von Bedeutung, als viele Ausleger betonen, Hebr folge der theologischen Aussage der LXX, d. h. Setzung (testamentum), entgegen der des hebräischen Alten Testaments, d. h. Bund (foedus/pactum). Dieser Ansatz ist seit Beginn des 20. Jh. weitverbreitet und ging in seinen Anfängen einher mit dem Bestreben, die neutestamentliche Sprache (bzw. die griechische Bibel generell) in erster Linie von ihrem allgemein-hellenistischen (profanen) Umfeld her verstehen zu wollen. Demzufolge verschiebe sich die Bedeutung des hebräischen בריתdurch die Wiedergabe als διαθήκη in der LXX und im Neuen Testament von „Bund“ zu „Testament“.5 Letztendlich ist diese Diskussion als
1 Allein 17 aller 33 ntl. Belege für διαθήκη finden sich im Hebr, davon sogar 13 auf 7,1– 10,18. Im Blick auf die prozentuale Häufigkeit der Belege gemessen an der Gesamtwortzahl des Buches, kann allenfalls im Galaterbrief von einem ähnlichen Interesse am Wort διαθήκη gesprochen werden (0,135 %; vgl. danach 2 Kor mit 0,045 %), wobei auch dieser weit hinter Hebr (0,343 %) zurückfällt. 2 Vgl. K UTSCH, Verheißung; D ERS.: Neues Testament - Neuer Bund? Eine Fehlübersetzung wird korrigiert, Neukirchen-Vluyn 1978. 3 K UTSCH, Testament, 24. 4 Vgl. K UTSCH, Verheißung, 185–188. 5 Vgl. schon C REMER, Wörterbuch, 1005–1012, zum Hebr 1011; R IGGENBACH, διαθήκη, 309f.; BEHM, Begriff, 73; BEHM, Art. διαθήκη, 105f.127–137; DEISSMANN, Licht, 286f.; in jüngerer Zeit auch STROBEL, Hebräer, 88. Viele (spätere) Ausleger des Hebr folgten dieser
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solche jedoch nicht fruchtbar, da die problematische Bedeutungsverschiebung nicht zwischen בריתund διαθήκη stattgefunden hat, sondern zwischen ברית/διαθήκη (= testamentum) und „Bund“ (= foedus/pactum). Um hinsichtlich der Auslegung des Hebr eine Lösung herbeizuführen, ließe sich ein sprachlicher „Mittelweg“ einschlagen. Hebr versteht διαθήκη – und damit das, was im hebräischen Alten Testament als בריתgemeint ist – als „göttliche Heilssetzung unter dem Aspekt der Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk“6.7 Eine ethische Dimension, d. h. der menschliche Gehorsamsanspruch, die auch im Hebr kaum von der Hand zu weisen ist (3,12f.; 4,11; 6,7f.; 10,23–25; 12,14; 13,1–17), wird durch diese Beziehungsorientierung gerade nicht einseitig ausgeklammert,8 wohl aber die göttliche Initiative und Wirksamkeit betont (1,1–4; 12,3). Das gilt ja gerade auch für die alttestamentlichen „Bundesschlüsse“, die keine gleichberechtigten Partner voraussetzen, sondern von Gott als Selbst- und Fremdverpflichtung aufgrund seiner Zuwendung gewährt werden (Gen 9,9; 17,2; Ex 20,2 u. ö.).9 Sie bringen aber immer zugleich auch eine Fremdverpflichtung mit sich, insofern sie eine (bejahende) Antwort des Menschen einfordern. Deshalb wäre die konsequente Rede von einem „gewährten Bund“ eine Möglichkeit, will man an diesen theologiegeschichtlich etablierten Ausdruck festhalten. Da das Wort „Bund“ in der deutschen Sprache letztendlich aber stets an zwei gleichberechtigte Vertragspartner denken lässt, Übersetzungen wie „Stiftung“ oder „Verfügung“ hingegen den Beziehungsaspekt vernachlässigen können, spreche ich in dieser Arbeit als deutsche Übersetzung von διαθήκη von einer „Heilsordnung“.10 Denn da die Regelung, d. h. die „In-Ordnung-Bringung“, der Gottesbeziehung das entscheidende heilsstiftende Geschehen ist, das Hebr vielfältig mit διαθήκη benennt, scheint mir dieser Ausdruck gut geeignet zu sein. Zudem impliziert „Ordnung“ eine gewisse räumliche Perspektive, innerhalb (!) derer menschliches Vermögen verortet werden kann, sodass die ethische Dimension aufseiten des Menschen nicht unterbelichtet wird.11
als zu einseitig kritisierten Betonung zwar nicht, behielten eine mehr oder weniger deutliche Akzentverschiebung in der Sache – von einer zweiseitigen Verpflichtung hin zu einer einseitigen Setzung – aber bei (vgl. MICHEL, Hebräer, 316–318; WEISS, Hebräer, 411–415; HOFIUS, Theologie, 118f.; KARRER, Hebräer II, 86f.; WINDISCH, Hebräerbrief, 67; entgegen seinem älteren Aufsatz auch RIGGENBACH, Hebräer, 203–205). 6 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 279. 7 Vgl. FREY, διαθήκη, 267; A TTRIDGE, Hebrews, 255f.; FUHRMANN, Vergeben, 135–150. Dass die Adressaten das alltagsgriechische erbrechtliche Verständnis als „Testament“ wohl auch immer mitgehört haben, ist wohl kaum abzustreiten. Dies legen Stellen wie 9,16f. deutlich und 7,22 im Ansatz (der Sache nach auch 6,13f.) nahe. 8 Ähnlich von HEGERMANN, Hebräer, 158 angemahnt, der aufgrund dieser Treueverpflichtung auch von menschlicher Seite aus nicht völlig zu Unrecht an der Bezeichnung „Bund“ festhalten möchte, wobei der Fokus im Hebr auch s. E. deutlich auf der Aktivität Gottes liege. Vgl. auch GRÄSSER, Hebräer II, 56, Anm. 31, der deshalb trotz der Grundbedeutung als „Setzung“ ebenso bei der Übersetzung „Bund“ bleibt. 9 Vgl. K ARRER, Hebräer II, 87. 10 So auch durchweg Weiß in seinem Kommentar (Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 1991). 11 Ein für mich ebenfalls erwägenswerter, aber auch erklärungsbedürftigerer Weg scheint mir der Vorschlag von Backhaus zu sein, hier von einem „Gottesbund“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 296) zu sprechen. Er versteht darunter „jenes wechselseitige Verhältnis zwischen Gott und seinem Heilsvolk, das unter dem Aspekt seiner Entstehung als göttliche Setzung
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In diesem ersten Kapitel soll der Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung, insbesondere in 4,14–10,18, in seinen Grundzügen nachgezeichnet werden. So können die scharfen theologischen Positionierungen des Hebr gegenüber dem alttestamentlichen Kultgesetz und dessen Satzungen als textlicher Ausgangspunkt für das Anliegen dieser Arbeit besser eingeordnet werden.
1.1 Das Urteil über die alte Heilsordnung und die Stiftung einer neuen (8,7–13) Eine der deutlichsten und oft kritisierten Ausformungen des negativen Urteils über die alte Heilsordnung findet sich in 8,7–13, dem längsten der zahlreichen alttestamentlichen Zitate im Hebr aus Jer 31(38LXX),31–34. Ausschlaggebend ist hier vor allem die Art und Weise, wie Hebr dieses Prophetenwort in seinen Gedankengang einbettet. Das Zitat selbst belässt Hebr weitgehend getreu seiner Septuagintavorlage, doch er versieht es mit einer eigenen Kommentierung (8,7–8a.13). Durch diese „Sandwich-Struktur“12 erhält das immerhin umfangreichste Schriftzitat im Neuen Testament ein deutliches Gepräge. Im Fokus steht Gottes Tadel (μέμφομαι) über die erste Heilsordnung und/oder über das Volk im Geltungsbereich dieser Heilsordnung (8,8a).13 Die Argumentation in 8,7–13 baut auf der Annahme auf, das zeitlich spätere, durch die Schrift bezeugte Geschehen signalisiere die Unzulänglichkeit des früheren.14 Das negative Urteil über das zeitlich Frühere in 8,13a ist der Zielpunkt des Zitats:15 „Indem er [Gott] von einer neuen [Heilsordnung] spricht, hat er die erste veraltet gemacht.“ Doch was hier genau das Objekt des göttlichen Tadels ist, entscheidet sich an der jeweiligen Lesart von 8,8a. So heißt es entweder nach der ersten Variante mit einem Personalpronomen im Akkusativ „Denn sie tadelnd spricht er“ (μεμφόμενος γὰρ αὐτοὺς λέγει) oder nach der zweiten mit einem Personalpronomen im Dativ „Denn tadelnd spricht er zu ihnen“ (μεμφόμενος γὰρ αὐτοῖς λέγει). Beide Textvarianten sind gut bezeugt
und unter dem Aspekt seiner Wirkung als Heilsordnung zu beschreiben ist“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 296). 12 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 294. 13 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 295; W EISS, Hebräer, 444; G RÄSSER, Hebräer II, 99; FREY, διαθήκη, 278. 14 Vgl. auch die analogen Gedankengänge in 4,6–9 und 7,11. Diese Herangehensweise ist umso bemerkenswerter, bedenkt man, dass in der Antike eigentlich dem Älteren mehr Ansehen zustand. Entsprechend argumentierten die christlichen Apologeten im 2. Jh. im Zuge ihrer Logos-Theologie mit der Überlegenheit des atl.-jüd. Glaubens als Wurzel für das Christentum gegenüber der griechischen Philosophie (vgl. PILHOFER, Peter: PRESBYTERON KREITTON. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT II 39, Tübingen 1990, bes. 7–12). 15 Das ἄμεμπτος in 8,7 entspricht dem τελείωσις in 7,11 (vgl. W EISS, Hebräer, 444).
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und grammatisch möglich.16 Der Akkusativ richtet als Objekt von μεμφόμενος den Tadel stärker an die Menschen unter der Heilsordnung. Die Dativform kann aber auch als direktes Objekt von λέγει verstanden werden und richtet so den Tadel stärker an die Heilsordnung selbst.17 Entsprechend unterschiedlich votieren die Ausleger: Da Hebr in 8,7 die Heilsordnung selbst als „nicht tadellos“ (ἄμεμπτος) charakterisiert und in Kap. 7 (sowie später in Kap. 9f.) die dazugehörigen Institutionen für unzulänglich erklärt, scheint sich der Dativ als ursprüngliche Lesart harmonischer in den direkten Kontext des Hebr einzufügen. Zudem trifft diese Lesart das Fazit in 8,13 besser.18 Auf der anderen Seite ist der Tadel Gottes der „bundesbrüchigen“ Vätern zum einen Bestandteil des Jeremiazitates selbst (8,9; vgl. Jer 31[38LXX],32)19 und zum anderen leitet Hebr an keiner anderen Stelle ein Schriftzitat mit einem Dativobjekt ein (2,6.12; 3,7.15; 4,3.7; 6,14; 9,20; 10,5.15; 12,5.26),20 was wiederum für die Ursprünglichkeit des Akkusativs spricht.21 Beide Lesarten haben also auch schlüssige inhaltliche Gründe auf ihrer Seite, sodass die Alternative nur schwer einseitig zu lösen ist. Aber vielleicht muss sie zumindest rein sachlich auch gar nicht gelöst werden. Beide Varianten beleuchten doch letztlich zwei Seiten ein und derselben Medaille.22 Eine in sich unvollkommene Heilsordnung ist auch nicht in der Lage, ein vollkommen gehorsames Volk hervorzubringen.23 Das Versagen des Volkes ist eine logische Konsequenz der Heilsordnung selbst. Doch warum ist die Heilsordnung, die doch Gottes Willen zugunsten seines Volkes entspringt, in sich unvollkommen? Weil sie auf die Schwachheit der Menschen trifft (8,9 = Jer 31[38LXX],32). Sie korrumpieren die Heilsordnung mit ihrem Ungehorsam, sodass sie ihnen wiederum zum Verhängnis wird, „zeigt [sie] sich doch gerade darin als schwach und ohne Nutzen (7,18f), daß [sie] die sündige ‚Schwachheit‘
16 Vgl. M ETZGER, Commentary, 597. Für den Dativ P46, א2, B, D 2, 𝔐 u. ö.; für den Akkusativ *א, A, D* u. ö. 17 Streng genommen kann auch die Dativform indirektes Objekt von μεμφόμενος sein (Sir 41,7; 2 Makk 2,7; vgl. BAUER 1018). Dann wären beide Varianten ohnehin bedeutungsgleich. Variante 2 eröffnet aber die Möglichkeit einer inhaltlichen Verschiebung, wenn αὐτοῖς zuallererst als Objekt zu λέγει verstanden wird. 18 So u. a. WEISS, Hebräer, 444; GRÄSSER, Hebräer II, 97; LANE, Hebrews I, 202; WOLMARANS, Text, 139–144; GUTHRIE, Hebrews, 971. 19 Der Ungehorsam der Vorfahren war für Hebr auch schon in 3,15–4,11 wesentliches Argument für die Unzulänglichkeit des Älteren. 20 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 366, Anm. 10; K OESTER, Hebrews, 385. 21 So C OCKERILL, Hebrews, 365f.; K ARRER, Hebräer II, 113; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 296; DESILVA, Perseverance, 284f.; ATTRIDGE, Hebrews, 225; HEGERMANN, Hebräer, 168; BRAUN, Hebräer, 239. 22 Vgl. H AYS, Covenantialism, 307; SCHUNACK, Hebräerbrief, 112. 23 Das zumindest ist der Anspruch des atl. Heiligkeitsgesetzes (vgl. Lev 3,19 u. ö.) und damit Ziel der Kultordnung.
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(vgl. 4,15; 5,2), schärfer gesagt, die Macht und den Betrug der Sünde (vgl. 3,13; 12,1.4) im Leben der Erwählten Gottes nicht überwinden konnte“24. Aber geht es Hebr hier wirklich nur um eine (polemische) Absage an die alte Heilsordnung? Und wie sind die Einzelaussagen des Zitats in ihrer Bedeutung für Hebr zu bewerten?25 Dass es Hebr dabei ausschließlich auf eine Negation der alten Heilsordnung abgesehen habe und keinen Trost spende,26 ist eine Frage der Perspektive. Identifiziert man sich, aus welchen Gründen auch immer, subjektiv stärker mit der ersten Heilsordnung, tritt der tadelnde Charakter selbstverständlich stärker hervor. Aber im Hebr wird auf der Kritik am Alten ja gerade der Trost im Schauen auf das Neue gegründet. Hier haben auch die positiven Einzelaussagen des Zitats über die neue διαθήκη (8,10–12 = Jer 31[38LXX],33f.) ihren Mehrwert. Sie entfalten (vom Hebr vorerst unkommentiert) das, was die „bessere Heilsordnung“, gestiftet aufgrund „besserer Verheißungen“ (8,6), auszeichnet:27 die Verinnerlichung aller Willensbekundungen (νόμοι) Gottes (8,10), ungetrübte Gottesgemeinschaft (8,10), unvermittelte Gotteserkenntnis (8,11) sowie als Grund überhaupt seine gnädige Vergebung der Sünden (8,12).28 Diese Güter waren auch Ziel der ersten Heilsordnung: „[Sie] hat die Sehnsucht nach Gottesgemeinschaft angezeigt, die menschliche Situation aufgedeckt und den endzeitlichen Heilsweg, das Opfer, zeichenhaft abgebildet.“29 Weil in dieser aber die Sündenvergebung nicht vollgültig erzielt werden konnte (10,1–4), blieben auch die anderen Güter aus. So erfolgt für Hebr das konsequente Urteil Gottes (8,13): Die erste Heilsordnung hat sich als unzureichend erwiesen und wird durch die Ankündigung und Stiftung 24 H EGERMANN, Hebräer, 168, der zwar den Akkusativ als ursprünglich betrachtet, aber die Heilsordnung (Hegermann übersetzt mit „Bund“) selbst hier indirekt mitbetroffen sieht. Einen ähnlichen Gedanken hat Paulus im Römerbrief im Blick auf das von Gott gegebene Gesetz und die Sündhaftigkeit des Menschen: „Das Gebot, das doch zum Leben da war, eben das führte zum Tod.“ (Röm 7,10). 25 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Textüberlieferung des Prophetenwortes in MT und LXX ist hier kein Platz, obwohl dabei interessante Beobachtungen zutage treten. Vgl. dazu umfassend SCHENKER, Bund, 16–69.71–73 (kritisch dazu WALSER, Quotations, 35–37) sowie daran anknüpfend KARRER, Hebräer II, 112–130. Ob und wie Hebr sich aber bewusst, wie bei beiden angenommen, zwischen MT und LXX positioniert, bleibt letztlich Spekulation. 26 So G RÄSSER, Hebräer II, 99. 27 Dass Hebr das immerhin längste atl. Zitat im NT nur aufgrund einer einzigen Aussage im allerersten Vers in seine Ausführungen einbaut, ist schwer vorstellbar. Immerhin kann er in 10,15–18 sehr wohl auswählen, welche Einzelaussage aus Jer 31(38LXX)31–34 er im Speziellen benötigt und dementsprechend einzeln zitieren. Die Worte des ganzen Zitats wollen gelesen und für das Anliegen des Hebr verstanden werden. Dies schließt m. E. gerade nicht aus, sie stets im Kontext des Vergleichs zu lesen, was durch die abschließende Kommentierung in 8,13 ja auch nicht zu bestreiten ist. KOESTER, Hebrews, 389 sieht zudem eine Legitimation der Einzelaussagen der Verheißung darin, dass es für Hebr Gott selbst ist, der sie gibt, und ihnen so eine Relevanz eo ipso zukomme. 28 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 101f.; K OESTER, Hebrews, 391–393. 29 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 297.
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einer neuen notwendigerweise veraltet gemacht (παλαιόω).30 „Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Verschwinden nahe.“ (8,13b).31 Durch sein performatives Wort (λέγειν) vollzieht Gott, was er ankündigt.32 Doch die Aufhebung des Alten geschieht nur aufgrund und zugunsten eines Neuen: Was die erste Heilsordnung nicht vermocht hat, bringt die neue Heilsordnung zur Vollendung (vgl. auch 7,19; 10,18).33 Das, zur Beseitigung aller Zweifel seiner Adressaten, aufzuzeigen, ist das Bestreben des Hebr im Großteil seines Schreibens. Diesem Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung gilt im Folgenden mit Blick auf seine wesentlichen Hauptaspekte unsere Aufmerksamkeit.
1.2 Der Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung Die neue Heilsordnung ist für Hebr untrennbar mit der Person Jesus Christus verbunden. Bei seinem Vergleich der beiden Heilsordnungen in 4,14–10,18 widmet sich Hebr nun z. T. ausführlich deren einzelnen Satzungen. Dabei gilt die größte Aufmerksamkeit immer wieder deren Hauptakteuren, dem Hohepriester Jesus, der zu seinem Pendant der alten Heilsordnung, den levitischen Hohepriestern ins Verhältnis gesetzt wird. Für diese Verhältnisbestimmung stellt Hebr Jesus in „strukturelle[r] Entsprechung“, „graduelle[r] Überbietung“, aber auch „kategoriale[r …] Andersartigkeit“ gegenüber den levitischen Priestern dar.34 Diese Verhältnisbestimmung zeigt sich besonders konzentriert in 5,1–10, wo Hebr die grundlegenden Voraussetzungen des Priestertums anhand zweier 30 Dass die Ankündigung und tatsächliche Stiftung einer neuen Heilsordnung das (geschichtlich sich dehnende) Ende der alten zwangsläufig mit sich bringt, zeigt sich formal auch daran, dass Hebr in 8,13 davon schreibt, dass Gott die alte Heilsordnung „alt gemacht hat“ (πεπαλαίωκεν). Παλαιοῦν heißt im Profangriechisch nicht „für alt erklären“, wie immer wieder Kommentatoren und die Mehrheit der deutschen Bibelausgaben übersetzen, sondern „alt machen“ (vgl. LIDDEL-SCOTT, Lexicon, 1290; richtig wieder die Revision der Lutherbibel von 2017 in Aufnahme der Ausgabe von 1545). „Gott macht den ersten Bund alt, nämlich durch sein innovierendes Handeln ‚im Sohn‘, dem hohenpriesterlichen Mittler des neuen Bundes, wie sein innovierendes Handeln stets das ‚Frühere‘ alt macht.“ (MUSSNER, Handeln, 19f.). 31 Das ἐγγὺς ἀφανισμοῦ dürfte hier vordergründig ein Qualitätsurteil sein, d. h. der erste Bund ist „nahe dem Untergang“ (WEISS, Hebräer, 447), und kann zeitlich durchaus weiter andauern, wie bei Paulus das Gesetz durch Christus aufgrund dessen Gerechtigkeit an sein „End-Ziel“ kommt (Röm 10,4). 32 Vgl. SCHUNACK, Hebräerbrief, 113. Das Perfekt πεπαλαίωκεν signalisiert, dass das Urteil bereits vollstreckt worden ist, auch wenn das Verurteilte zeitlich noch dauert (vgl. BRAUN, Hebräer, 245). 33 Vgl. W EISS, Hebräer, 447; FREY, διαθήκη, 278; H UGHES, Hebrews, 302. 34 So die Unterscheidung bei FREY, διαθήκη, 298f. im Anschluss an SCHIERSE, Verheißung, 10. Vgl. u. a. auch MICHEL, Hebräer, 285; WEISS, Hebräer, 179f.
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Ordnungen – der Ordnung nach Aaron und der Ordnung nach Melchisedek – gegenüberstellt.35 Die Bestimmungen in 5,1–10 sind recht allgemein gehalten und lassen nicht nur ausschließlich an eine Gegenüberstellung von Jesus und dem levitischen Priestertum, sondern auch von Jesus und dem antiken Priestertum an sich denken.36 Aus einer religionsphänomenologischen Sicht ist diese weitere Perspektive schlüssig. Gleichwohl ist der Gedanke der bewussten Einsetzung durch Gott für Hebr kaum auf ein heidnisches Priesterwesen anwendbar und auch die Zuordnung dieser Ausführungen auf Aaron (5,4) ist ein deutliches Signal, dass Hebr selbst hier kein allgemein „religionswissenschaftliches“ Interesse verfolgt, sondern sich im Kern konkret auf die alttestamentliche Kultordnung bezieht. Freilich war eine stets mitzuhörende religionsgeschichtlich weiter gefasste Sicht gerade auch für seine heidenchristlichen Adressaten in hohem Maße anschlussfähig.
Die Gegenüberstellung vollzieht sich in chiastischer Form: 5,1–4 stellt die drei wesentlichen Merkmale des levitischen Priesterdienstes dar. 5,5 knüpft mit οὕτως καὶ ὁ Χριστός sowohl direkt an 5,4 als auch an die gesamte Darstellung der ersten vier Verse an, welche in umgekehrter Reihenfolge in 5,5–10 antitypisch auf Jesus übertragen wird. Die genaue Anzahl und die Zuordnung der Vergleichspunkte variieren in der Auslegung deutlich.37 Letzenendes scheinen drei inhaltliche Aspekte alles Wesentliche der beiden strukturellen Einheiten abzudecken und dem Textverlauf dabei am besten zu folgen:38
35 Die Beschreibung der Hohepriester, die von den Menschen genommen werden (5,1– 4), ist dabei keineswegs wertfrei. Die Überbietung durch Jesus wird stets mitgedacht und zum Teil schon deutlich angezeigt. Insofern zielt die Auswahl der Vergleichspunkte auch nicht auf Vollständigkeit, sondern auf Relevanz (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 142). 36 Vgl. K ARRER, Hebräer I, 253f. 37 D IBELIUS, Kultus, 169 erkennt etwas großzügig jeweils sieben Merkmale, wohingegen FRIEDRICH, Lied, 112–114 jedes Vergleichsmoment bestreitet. Die meisten Kommentatoren bewegen sich innerhalb dieses Spektrums: GRÄSSER, Hebräer I, 267f.; MICHEL, Hebräer, 214f.; WEISS, Hebräer, 302f. u. WINDISCH, Hebräerbrief, 41f. (u. a.) erkennen im Wesentlichen zwei Merkmale (Berufung u. Anteilnahme). ATTRIDGE, Hebrews, 143f. fügt dem zu Recht noch die Sühnefunktion („atonement“) hinzu. COCKERILL, Hebrews, 230f. erkennt ebenfalls drei Merkmale („effectiveness“, „humanity“ u. „sacrifice“), ignoriert dabei jedoch völlig den offensichtlichen Vergleichspunkt der göttlichen Berufung. BACKHAUS, Hebräerbrief, 197 tendiert wiederum zu einer sehr genauen Aufschlüsselung in fünf Vergleichspaare, wobei die jeweilige Zuordnung teilweise etwas künstlich wirkt. 38 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 143f. Ähnlich N ISSILÄ, Hohepriestermotiv, 79f., der die Einzelverse zwar etwas anders zuteilt, aber im Wesentlichen zum selben Ergebnis kommt.
1. Die alte und die neue Heilsordnung „Jeder menschliche Hohepriester“ A
5,1: Mittlerschaft zwischen Mensch und Gott
B
5,2–3: Nachsicht mit Schwachen angesichts eigener Schwachheit
C
5,4: Einsetzung durch Gott „wie Aaron“
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„So auch Christus“ Funktion
5,9–10: Vollkommene Mittlerschaft und ewige Rettung
A’
Wesen
5,7–8: Gehorsames Mitleiden trotz eigener Hoheit
B’
5,5–6: Einsetzung durch Gott (Ps 2,7; 109,4LXX)
C’
Einsetzung
„wie Melchisedek“
Für meine weitere Darstellung orientiere ich mich an dieser Struktur von 5,1– 10 in der für unser Belangen thematisch schlüssigeren umgekehrten Reihenfolge Einsetzung, Wesen und Funktion der Priester. Darin finden sich die wesentlichen Aspekte des Vergleichs beider Heilsordnungen wieder. Dabei werde ich immer vom in 5,1–10 genannten Vergleichsaspekt ausgehen und sodann dessen nähere inhaltliche Bestimmung vor allem von 4,14–10,18 her vornehmen. 1.2.1 Die Einsetzung der Priester Zunächst gilt, dass Jesus wie auch die levitischen Priester von Gott eingesetzt sind und die Legitimation ihres Dienstes durch ihn erhalten (5,4–6). Niemand kann sich die Hohepriesterwürde selbst zusprechen. Allein das wirkmächtige Wort Gottes macht einen Menschen zum Mittler. Diese grundlegende Eigenschaft der Hohepriesterwürde wird allein von der Schrift her verstanden (vgl. Ex 28,1) und nimmt keine Rücksicht auf die „vielfachen Entartungen dieses Instituts in seiner Geschichte“39. Das, was Hebr hier beschreibt, ist keine realgeschichtliche Einschätzung, sondern „ideale Theorie“40. Die Berufung und damit Legitimation Jesu zu seinem Dienst ist der rhetorische Höhepunkt der Gegenüberstellung in 5,1–10, die in dem für Hebr so bedeutsamen Zuspruch der Priesterwürde mit Ps 109,4LXX „nach der Ordnung Melchisedeks“ (κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ) an Jesus mündet (5,10; vgl. 5,6; 6,20; 7,11.15.17). Diese eigentümliche und für Hebr charakteristische Verarbeitung der alttestamentlichen Figur des Melchisedek wird vor allem in 7,1–10 ausführlich erläutert. Das Zitat aus Ps 109,4LXX – „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.“ – fungiert für Hebr als Einsetzungsformel für Jesus. Auch
WEISS, Hebräer, 307. Hebräerbrief, 42. Vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 202f.; GRÄSSER, Hebräer I, 283; LINDARS, Theology, 62. Dies wird auch deutlich durch den idealtyptischen Verweis auf Aaron. 39
40 W INDISCH,
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dessen Würde ist kein „Freibeutertum“41, sondern von Gott selbst gewollt und zugedacht. Das Einverständnis in diese Deutung von Ps 109,4LXX setzt aufseiten der Adressaten freilich eine Einwilligung in das Verständnis des Hebr hinsichtlich des alttestamentlichen Schriftzeugnisses und seine damit verbundene charakteristische Worttheologie voraus.42 Exkurs: Die Worttheologie des Hebräerbriefs Das geschriebene Wort Gottes wird im Hebr stets gesprochen. Dazu leitet Hebr seine alttestamentlichen Zitate meist mit einer Form von λέγειν ein.43 Entscheidend ist dabei, wer spricht: Gott.44 Wird ein menschlicher Urheber erwähnt, bleibt eindeutig, wer der eigentliche Sprecher ist. So wird Ps 94,8LXX in 4,7 zitiert. Hebr merkt zwar an, dass dieser Psalm (nach der LXX) David zugeschrieben wird (Ps 94,1LXX), aber das eigentliche Subjekt bleibt Gott, der durch David in der Gegenwart redet (σήμερον, ἐν Δαυὶδ λέγων). Eine wirkliche Ausnahme stellt nur Ps 8,5LXX in 2,6 dar,45 wobei David (vgl. Ps 8,1LXX) sofort zu einem unbestimmten „irgendwo“ (πού) „irgendjemand“ (τίς) degradiert wird. Der Wahrheitsgehalt des Zitats bleibt unangetastet, dessen menschliche Autorität wird jedoch gegenüber seiner göttlichen stark relativiert. Damit kommt den sprechenden Schriftworten göttliche Autorität und performativer Charakter zu. Was Gott sagt, gilt (6,18).46 Damit eng verbunden ist die spezifische „Worttheologie“ im Hebr,47 die seinen Gebrauch von alttestamentlichen Zitaten wesentlich bestimmt. Es ist zwar schon ein besonderes Merkmal, dass das alttestamentliche Wort im Hebr stets von Gott gesprochenes Wort ist, aber es spricht hier nicht einfach „nur“ Gott. Feinsinnig unterscheidet Hebr beim Sprechen Gottes zwischen Gott JHWH, dem Sohn Christus und dem Heiligen Geist (3,7–11; 10,15–17 u. ö.). Die alttestamentlichen Zitate dienen dabei als Mittel zur Legitimation.48 Die Worte Gottes an seinen Sohn (vor allem mit Psalmen; vgl. 5,1–6; 5,5) fungieren als christologische Legitimation, als Bezeugung der Sohn- (1,5; 5,5) und Mittlerschaft (5,6). Der Sohn antwortet, indem er letzteres bestätigt (10,5–9) und seine Gemeinde soteriologisch (vor Gott) legitimiert, indem er ihre Heiligung und Zugehörigkeit zu Gott verkündet (2,11–13). Der Heilige
GRÄSSER, Hebräer I, 286. Vgl. THEOBALD, Wort, 755–765; zudem umfassend LEWICKI, Wort. 43 Im Gegensatz zum restlichen NT, wo Verweise auf die Schrift(en) (ἡ γραφή/αἱ γραφαί) auch als solche gekennzeichnet werden, meist mit Wendungen wie „καθὼς γέγραπται“ (Mt 26,24; Mk 1,2; Lk 2,23; Röm 3,4; 1 Kor 1,31; 2 Kor 9,9 u. ö.) oder „κατὰ τὰς γραφάς“ (1Kor 15,3f; in Jak 2,8 im Sg.). 44 Das Johannesevangelium (Joh 7,38) und Paulus (Röm 10,11; 11,2; Gal 4,30) können ebenfalls von einer sprechenden Schrift schreiben. Dort bleibt die Schrift jedoch selbst Subjekt, während sie im Hebr zum durch Gott gesprochenen Objekt wird (ausgenommen Hebr 10,37; 12,5f; 13,6). 45 Man könnte noch über das nach Ex 24,8 zitierte Mosewort in Hebr 9,20 diskutieren. Hierbei handelt es sich aber um einen Ausruf Moses, der in einem größeren Erzählzusammenhang (Bundesschluss am Sinai) wiedergeben und zumal ein Befehl Gottes ist (vgl. GUTHRIE, Hebrews, 921). 46 Vgl. H ÜBNER, Interpretation, 364. 47 Vgl. dazu insbesondere H ÜBNER, Interpretation. 48 Ein solcher Schriftbeweis ist auch bei anderen ntl. Autoren üblich (vgl. Joh 7,38; Röm 4,3; Jak 2,3). Das Spezifikum des Hebr ist jedoch der Beweis durch das gesprochene (freilich aufgeschriebene) Gotteswort (vgl. HÜBNER, Interpretation, 364). 41 42
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Geist spricht mit alttestamentlichen Worten vor allem zur paränetischen Legitimation. Er bezeugt (μαρτυρεῖν) der gegenwärtigen Gemeinde das endgültig wirksame Opfer des Sohnes (10,15–17) und ruft sie auf, sich zu ebendiesem Sohn zu bekennen und ihre Herzen vor dem Reden Gottes im Sohn nicht zu verschließen (3,7–11). Auffällig ist zudem, dass die drei sprechenden Personen auch im Blick auf ein und dasselbe Schriftzitat frei wechseln können: So spricht z. B. in 3,11 der Heilige Geist die Worte JHWHs aus Ps 94,11 LXX (vgl. Num 14,23) in der ersten Person Singular und die Prophetie aus Jer 31(38 LXX),31–34 wird in 8,8–12 von Gott („er“), in 10,15–17 aber vom Heiligen Geist gesprochen. Hans Hübner geht daher den konsequenten Schritt, das Phänomen der Worttheologie im Hebr sachlich mit später geprägten trinitätstheologischen Ausdrücken zu beschreiben: „[T]he introductory formulae of Hebrews express a trinitarian event as an innertrinitarian activity, as well as an activity to the outside.“49
Mit dem Zuspruch des Priestertums nach der Ordnung Melchisedeks durch Gott an Jesus erblickt Hebr die Stiftung einer neuen Heilsordnung.50 Um diese im Kontext von Ps 109LXX nicht weiter bestimmte „Einsetzungsformel“ für das Priesteramt Jesu mit Inhalt zu füllen, greift Hebr in 7,1–10 auf die sonst einzige weitere alttestamentliche Erwähnung des Namens Melchisedek zurück: dessen Begegnung mit Abraham in Gen 14. Hier findet Hebr – zumal in narrativer Form – das, was diesen Melchisedek und damit die mit ihm verbundene Priesterordnung ausmacht und legt so mit der Erzählung aus Gen 14 den Einzelvers Ps 109,4LXX hinsichtlich seiner christologischen Bedeutung aus. Der Exkurs zu Melchisedek in 7,1–3 besteht nun aus einer einzigen Satzkonstruktion, in der verschiedene Details zu dem Priesterkönig von Salem, der Abraham nach dessen Befreiung Lots im Tal der Könige begegnet, aneinandergereiht werden. Die Nennung der einzelnen Attribute erfolgt wohl kaum ungewollt.51 Das eigentliche Ziel des Hauptsatzes liegt jedoch auf einer ganz 49 H ÜBNER, Interpretation, 364. Das bedeutet freilich nicht, dass Hebr (schon) eine explizit trinitarische Theo- bzw. Christologie zu entfalten sucht, zumal der Heilige Geist nie als eigene „Person“ benannt wird (vgl. ATTRIDGE, God, 109, Anm. 109). Seine Unterscheidung bezieht sich rein auf seine Funktion, nicht auf sein Wesen. Aber die Gedanken des Hebr über die einzigartige Teilhabe des Sohnes am Wesen Gottes (des Vaters) weisen durchaus in die Richtung, welche spätere altkirchliche Lehren ausdrücklich eingeschlagen haben (vgl. a .a. O., 109; POLKINGHORNE, Scientist, 116). 50 Bereits im Frühjudentum (11 QMelch) und dann auch in der Jesustradition (Mk 12,35– 37) ist dieser Psalm messianisch ausgelegt worden. In 11 QMelch erscheint Melchisedek als endzeitliche Heilsfigur im jüngsten Gericht. 51 Die, im Kontext frühjüdischer Literatur bekannte (vgl. Josephus, Ant. 1,180; B.J. 6,438; Philo, Leg. 3,79; dazu BREWER, Techniques, 186.199.207), Etymologie des Namens Melchisedek (hebräisch )ַמְלִכּי־ֶצֶדקmit den damit verbundenen messianischen Attributen der Gerechtigkeit und des Friedens wird genannt, aber hier nicht explizit verwertet, obwohl sie in den Gesamtentwurf des Hebr passen (vgl. KOESTER, Hebrews, 357f.). Auch weiteres christologisches Potential in Gen 14, wie es in der Alten Kirche gerade im Blick auf das Motiv von Brot und Wein betont wurde (vgl. Clem.Alex., Strom. IV, 161,3; Cyprian, ep. 63,4), bleibt im Hebr unerwähnt. Das bedeutet nicht zwingend, dass Hebr diese weiteren Möglichkeiten nicht erkennt oder z. B. aus „antieucharistischen Gründen“ bewusst verschweigt (so von GRÄSSER, Hebräer II, 13 zumindest in Betracht gezogen). Sie dienen hier
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bestimmten Eigenschaft, durch welche die Figur des Melchisedek auf das Motiv der Beständigkeit konzentriert wird.52 V. 1a:
Dieser Melchisedek Οὗτος ὁ Μελχισέδεκ
[…] V. 3c
bleibt Priester für immer. μένει ἱερεὺς εἰς τὸ διηνεκές.
Welche Bewandtnis dieses Motiv für das Wesen der Priester hat, werden wir unten noch näher betrachten.53 Die Bedeutung des Priestertums Melchisedeks und seiner Erwähnung überhaupt dient dem Erweis der fundamentalen Überlegenheit Jesu über das levitische Priestertum.54 Die für Hebr ausschlaggebende, wenn man so will hermeneutische Realität des Melchisedek besteht daher in erster Linie in ihrem Bezug zum Sohn.55 Nicht Jesus gleicht (ἀφωμοιωμένος) dem Melchisedek, Melchisedek gleicht ihm (7,3).56 Entscheidend ist die mit
lediglich nicht seinem primären Interesse (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 188; GRÄSSER, Hebräer II, 13; KARRER, Hebräer I, 74; WEISS, Hebräer, 374–376 u. ö.). 52 Vgl. a .a. O., 374. Auch das vom Hebr in der hier freieren Anspielung an Ps 109,4LXX verwendete διηνεκής anstelle des sonst genau zitierten εἰς τὸν αἰῶνα (5,6; 6,20; 7,17.21) der LXX, bringt keine wesentliche inhaltliche Akzentverschiebung mit sich, sondern dient demselben Gedanken. ATTRIDGE, Hebrews, 191 vermutet dahinter eine stärkere Betonung der „enduring continuity of the priestly status“, ähnlich zu Philo, der mit διηνεκής „besonders das Moment der Beständigkeit“ (WEISS, Hebräer, 377, Anm. 18) verbindet (Philo, Sacr 94; VitMos II, 135, Abr. 26; vgl. 7,16). 53 Auch die durch Rückschluss aus dem Schweigen des atl. Textes über den Stammbaum Melchisedeks (ἀγενεαλόγητος) gewonnenen Attribute „vater- und mutterlos“ (ἀπάτωρ/ἀμήτωρ) sind diesem Motiv zuzuordnen. 54 Vgl. M ICHEL, Art. Μελχισεδέκ, 575. Melchisedek ist aber keine vorläufige Inkarnation des Sohnes, denn dieser ist „gestern und heute derselbe und in Ewigkeit“ (13,8; vgl. THEISSEN, Untersuchungen, 29). 55 Vgl. B AUCKHAM, Divinity, 27–32. Dies sollte jedoch nicht so verstanden werden, als zolle Hebr der Geschichtlichkeit des Melchisedek in dessen Begegnung mit Abraham gar kein Interesse. In der gesamten Erzählung von Gen 14 ist Melchisedek ein Mensch, so wie der feindliche König von Sodom. Doch er ist weder Abrahams Feind noch sein Verbündeter. „He is above those who receive the promise, reject the promise, or oppose the promise. He stands on the side of the Blesser, not the blessed. He dispenses and reconfirms God’s blessing on Abraham, receives Abraham’s homage, and then, just as abruptly, disappears from the text.“ (COCKERILL, Hebrews, 305f.; dagegen versteht ATTRIDGE, Hebrews, 191f. Melchisedek aus Sicht des Hebr als „divine or heavenly being“). Für die Ausführungen in 7,4– 10 ist ja gerade dieses Ereignis als zeitlich früheres Geschehen vor der Einsetzung des levitischen Priestertums das entscheidende Argument. 56 So schon von B ENGEL, Gnomon, zu Hebr 7,3. Ob hier allerdings mit ihm eine Analogie zum levitischen Sakralwesen gezogen werden sollte, das nur ein „Abbild und Schatten“ der himmlischen Dinge darstellt (8,5), ist fraglich (vgl. WEISS, Hebräer, 378). Melchisedek wird im Gegensatz zu Abraham, Mose, Aaron, den Leviten und den damit verbundenen Institutionen nicht kleiner gegenüber dem Gottessohn. Er dient „nicht als irdische Folie, vor der das himmlische Licht des Gottessohnes umso heller strahlt, sondern als biblisches Symbol des Gottessohnes selbst“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 259; vgl. GRÄSSER, Hebräer II, 22).
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ihm verbundene ewig bestehende Ordnung: Melchisedek ist „Signum für die Überweltlichkeit und die ewige Dauer des Hohenpriestertums Jesu“57. Diese These ist für Hebr nicht aus der Luft gegriffen, sondern in dem Zeugnis der alttestamentlichen Schrift selbst, konkret in Gen 14, vorgegeben. Sie muss nur entsprechend exegetisch geborgen werden.58 Entscheidend für Hebr ist, dass Abraham eine Zehntabgabe an Melchisedek entrichtet und von diesem wiederum gesegnet wird. Daraus resultiert folgender Gedankengang: Die Leviten bekamen zur Zeit des Bundesschlusses, anstelle eines eigenen Landbesitzes, das Recht, von den anderen israelitischen Stämmen eine Zehntabgabe zu nehmen, um ihre Arbeit am Zeltheiligtum verrichten zu können (Num 18,21– 24). Die Zehntabnahme der einen Nachkommen Abrahams (οἱ ἐκ τῶν υἱῶν Λευὶ) von den anderen (οἱ ἀδελφοὶ αὐτῶν) ist somit Zeichen der Verbundenheit als auch gesondertes Privileg zugleich (7,5).59 Da nun aber ihr gemeinsamer Stammvater Abraham bereits eine Zehntabgabe an einen entrichtet hatte, der nicht innerhalb dieser genealogischen Verbundenheit verortet ist, schlussfolgert Hebr, dass eben jener Melchisedek in der Rangfolge über Abraham und damit auch über den Leviten stehen muss.60 Dieser größere Priester ist sui generis und empfängt ein Privileg auch von den Privilegierten.61 Die Größe des Melchisedek äußert sich aber nicht nur im Empfang der Zehntabgabe, sondern auch darin, dass er Abraham den Segen gewährt (7,7).62
BRAUN, Qumran, 259. Vgl. umfassend ELLINGWORTH, Paul: „Like the Son of God“. Form and Content in Hebrews 7,1–10, Biblica 64/2 (1983), 255–262. 58 Dass sich aus der Begebenheit in Gen 14 zwangsläufig dessen Erhabenheit über den Erzvater folgere, ist für Hebr offenkundig, was der Imperativ θεωρεῖτε seinen Lesern vor Augen hält (vgl. WEISS, Hebräer, 388f.). 59 Das καίπερ zeigt die Besonderheit dieses Rechts an, da die Leviten mit allen anderen Stämmen aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung von Abraham im Grunde gleichgestellt sind (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 195f.; WEISS, Hebräer, 390). 60 Dass Abraham hier bewusst nicht als Individuum, sondern als Stammvater (πατριάρχης) auftritt, ist entscheidend. Er repräsentiert in dieser Demutsgeste seine gesamte Nachkommenschaft und damit auch die für den Priesterdienst exklusiv vorgesehenen Leviten. Denn Levi war zu dieser Zeit in der Lende Abrahams (7,10), insofern auch οἱ ἐκ τῶν υἱῶν Λευὶ (7,5). Dass Jesus freilich auch ein Nachkomme Abrahams ist, betrachtet Hebr wohl nicht als Widerspruch, da sein Augenmerk allein auf dessen Verbindung mit dem größeren Melchisedek als Priester liegt. 61 Allerdings geht es Hebr hier nicht um einen Erweis der Überlegenheit eines Nachkommens Abraham über die anderen. Der Vergleich wird allein von dem Gegenüber der beiden Priesterordnungen her gedacht und ist dafür entscheidend (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 202). 62 Auch hier setzt Hebr das Einverständnis seiner Leser „ohne jeden Widerspruch“ (χωρὶς δὲ πάσης ἀντιλογίας) voraus. Zudem beansprucht das präsentische εὐλογεῖται Allgemeingültigkeit (vgl. WEISS, Hebräer, 390), wobei diese zumindest im Blick auf das atl. Zeugnis eigentlich gar nicht ohne weiteres beansprucht werden kann, gibt es doch Beispiele für Segenshandlungen von Niedrigeren an Höheren, wie z. B. Joab an David in 2Sam 14,22 oder königliche Diener an ihrem Herrn in 1Kön 1,47. ATTRIDGE, Hebrews, 196 denkt daher eher an einen spontanen Einfall des Hebr als an ein allgemeingültiges Prinzip. 57
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Die Überlegenheit und Andersartigkeit Jesu Priesteramts liegt für Hebr aber nicht allein in der theologischen Deutung des Melchisedek begründet, sondern auch im Wirken Gottes selbst. Denn in 7,20f. reklamiert Hebr allein für Jesu Mittlerschaft, dass Gott mit einer eidlichen Versicherung (ὁρκωμοσία) deren ewigen Bestand gelobt (7,20f.)63 und sich so für die Gültigkeit der Mittlerschaft Jesu als Priester verbürgt. Zugleich versteht Hebr aber auch den Sohn nicht „nur“ als Mittler, sondern ebenfalls selbst als „Bürgen“ (ἔγγυος) für die neue Heilsordnung (7,22).64 Dieser Ausdruck aus der griechischen Rechtssprache, der im Neuen Testament einzig hier und in der LXX nur an wenigen Stellen (2 Makk 10,28; Sir 29,15.16) belegt ist, bezeichnet einen Bürgen, „der in einem Garantievertrag alle Rechtsverpflichtung […] auf sich nimmt“65, im Ernstfall sogar durch das Eintreten mit seinem eigenen Leben (Sir 29,15).66
Die syntaktische Verbindung von 7,20a und 7,22 zeigt die sachliche deutlich an: Insofern als (καθ᾽ ὅσον) Gott sich durch einen Eidschwur für seinen Sohn verbürgt (7,20a), insoweit (κατὰ τοσοῦτο) ist Jesus Bürge einer „besseren Heilsordnung“ (κρείττων διαθήκη) geworden (7,22).67 Der schriftkundige Leser mag dennoch einwenden: Auch Aaron und seine Söhne haben nach Ex 29,9 sowie Ex 40,15 ein „ewiges Priestertum“ zugesagt bekommen.68 Ignoriert Hebr das sonst so beweiskräftige Schriftzeugnis bewusst zugunsten seiner Absicht? Nein, denn in 7,23–25 erklärt er sofort den hier entscheidenden Umstand der Priester ab Aaron: Die levitischen Priester sind als Menschen sterblich und so hat auch ihr Priesterdienst nur bedingte
63 Den Beweis für diesen Schwur findet Hebr wieder in der Schrift, genauer in Ps 109,4LXX selbst, wo es, in 7,21 nun auch komplett zitiert, heißt: „Geschworen hat der Herr und es wird ihn nicht reuen: Du bist Priester in Ewigkeit.“. 64 Treffend von Karl Barth zusammen gedacht: „Er ist sein [der Heilsordnung; Anm. A. H.] Mittler, indem er ihn von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott hin vollstreckt. Er ist sein Bürge, indem er ihn als authentischer Zeuge – sich selbst bezeugend! – in seiner Existenz bestätigt, bewährt, offenbart, indem seine Erfüllung in ihm gegenwärtig ist, leuchtet, gilt, wirksam ist“ (BARTH, KD IV/1, 149f. [Herv. v. Vf.]). 65 PREISKER, Art. ἔγγυος, 329. 66 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 279. Dieser Extremfall scheint im Hebr sogar als Voraussetzung für die neue Heilsordnung gesetzt zu sein. In 9,16f. wird dafür nüchtern der Rechtssachverhalt genannt, wonach ein Testament (διαθήκη) erst mit dem Tod des Testierenden in Kraft tritt. Darauf verweisen die blutigen Opfer in der alten, aber letztgültig die Lebenshingabe Jesu in der neuen Heilsordnung (9,18–28; 10,14–16). 67 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 54; H AUBECK/SIEBENTHAL, Schlüssel, 1165. Das bedeutet auch, dass die Qualifikation dieser διαθήκη als „κρείττων“ untrennbar mit der Person Jesus selbst verbunden ist. Er ist sowohl notwendiger als auch hinreichender Grund für die Überlegenheit des Neuen gegenüber dem Alten (vgl. auch GRÄSSER, Hebräer II, 143 zum programmatischen Χριστὸς δέ in 9,11a als Gegenüber zur Institution der alten Heilsordnung). 68 Vgl. zudem die erneute Bestätigung an Pinhas in Num 25,13.
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Gültigkeit,69 weil keiner durch den Tod im Leben und damit im Amt blieb.70 Das alttestamentliche Zeugnis enthält selbst schon diese Einschränkung, da es das ewige Priestertum Aarons als Priestertum „von Geschlecht zu Geschlecht (Ex 40,15), d. h. als erblich bzw. generationsübergreifend beschreibt.
An dieser Stelle deutet sich bereits an, dass es einen noch wesentlicherern Unterschied zwischen Jesus und den Leviten gibt, der mit ihrer Person bzw. ihrem Wesen zusammenhängt, wie wir im Folgenden genauer sehen werden. 1.2.2 Das Wesen der Priester Zunächst gilt auch hinsichtlich des Wesens wieder, dass Jesus zu den levitischen Priestern in Analogie tritt. Es ist Merkmal jedes Priesters, dass er für die Schwachheit derjenigen, für die er als Mittler eingesetzt wird, „Mitgefühl zeigen“ (μετριοπαθεῖν) kann (5,2f.). Das gilt auch für Jesus, der kein Hohepriester ist, dem es an echter Solidarität mangelt, sondern der „Mitleid hat“ (συμπάθειν; 4,15). Die unterschiedliche Wortwahl in 4,15 und 5,2f. sollte weder über- noch unterbewertet werden. Das μετριοπαθεῖν attestiert den levitischen Hohepriestern gerade keine Gleichgültigkeit, sondern spricht von dem „gütigen, Gottes Großmut widerspiegelnden Charakterzug des Priesterlichen“71 im Klang eines griechisch-philosophischen Wortschatzes.72 Entscheidend im Blick auf den vergleichenden Charakter dieses Abschnitts ist also nicht die Frage, ob Jesus bzw. die Hohepriester mitfühlen, sondern in welchem Maße sie es tun. Doch trotz des gemeinsamen Nenners lässt sich die Unterschiedlichkeit beider Wörter auch nicht leugnen. Das συμπαθέω Jesu in 4,15 bezeichnet keine bloße Gefühlsregung, die im Ernstfall auch ohne äußere Konsequenzen bleiben kann.73 „Mit-Leid ist im Hebr Handlungsbegriff.“74
69 Die Wirksamkeit des jeweiligen Priesters wurde durch seinen Tod beendet und damit die Wirksamkeit des Amtes an sich unterbrochen (vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 280). So konnte nach Num 35,25–28 ein Totschläger, der sich in eine Asylstadt gerettet hatte, seinem Verfolger entgehen, wenn er bis zum Tod des jeweiligen Hohepriesters in der Stadt blieb. Nach dessen Tod war er frei, in sein Land zurückzukehren. 70 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 58. Ob sich das παραμένειν der levitischen Priester in 7,23 auf das Bleiben im Leben oder im Amt bezieht, muss nicht mit Sicherheit beantwortet werden, da sich beides letztlich kaum voneinander trennen lässt. Um eine Dopplung zu „διὰ τὸ θανάτῳ“ zu vermeiden, liegt letzteres sprachlich wohl näher (vgl. BRAUN, Hebräer, 219; BACKHAUS, Hebräerbrief, 280). 71 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 202. 72 Philo schreibt dem in der biblischen Überlieferung ersten Hohepriester Aaron solche Metriopathie zu. Die Vollkommenheit bestehe zwar in der Beseitigung jedweder Leidenschaft, wie er sie bei Mose zu finden meint, doch es sei zumindest ein Schritt in die richtige Richtung (Philo, Leg. 1,128f.; 3,134; 3,144), ja sogar die angemessene Haltung eines Mittlers (Philo, Abr. 1,257). Und auch Josephus findet bei Vespasian und Titus mit einer gewissen Bewunderung solch maßvolle Leidenschaft (Josephus, Ant. 12,128). 73 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 183; W EISS, Hebräer, 295. 74 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 183.
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In der LXX findet sich der entsprechende Wortstamm συμπαθ- nur im 4 Makk, wobei einzig 4 Makk 5,25 auf Gott bezogen ist. Die restlichen Belege sprechen von Zuneigung unter Freunden (4 Makk 6,13) und elterlicher bzw. mütterlicher (4 Makk 14,13f.18.20; 15,4.7.11) sowie brüderlicher Liebe (4 Makk 13,23). Diese Verwendung für überwiegend familiäre Bindungen passt zum Kontext des Hebr, nach dem Christus in allem seinen im Leiden gefangenen Brüdern und Schwestern gleich werden musste, um sie so als Kinder Gottes zur Herrlichkeit zu führen (2,10–17).75
Der erhabene Hohepriester Jesus steht der Schwachheit (wörtlich: den Schwachheiten) der Gemeinde zwar gegenüber, sie ist für ihn aber nichts Unbekanntes. Er hat sie „in allem in gleicher Weise“ (κατὰ πάντα καθ᾽ ὁμοιότητα; 4,15) durchlebt. Das gilt nun freilich auch für die levitischen Hohepriester und doch wird genau an dieser Stelle der für Hebr alles entscheidende Unterschied zwischen jenen und Jesus offenbar. Denn während für den hohepriesterlichen Dienst der Leviten (nur) Menschen eingesetzt werden, „die mit Schwachheit behaftet sind“ (7,28), ist nach der Ordnung Melchisedeks einer berufen, der zwar voll und ganz Mensch geworden, seiner natürlichen Herkunft aber der Sohn Gottes ist. Exkurs: Jesus als Sohn Gottes im Hebräerbrief Der Sohn ist neben dem Hohepriester die wichtigste christologische Bezeichnung für Jesus im Hebr. Jesus wird neunmal direkt als Sohn (υἱός) bezeichnet (1,2.8; 3,6; 4,14; 5,8; 6,6; 7,3; 7,28; 10.29) und zusätzlich zweimal mit einem alttestamentlichen Zitat als solcher angesprochen (1,5; 5,5). 4,14 lässt keinen Zweifel, dass es sich hier um den Sohn Gottes handelt und dass dieser Sohn Gottes niemand anderes als Jesus ist. Als Sohn hat Jesus Anteil an der Herrlichkeit des Vaters, weil er den höchsten Namen, höher als aller Engel Namen, erbt (1,2.4). Wie im sachlich ähnlichen Hymnus aus Phil 2,9–11 handelt es sich dabei m. E. nicht um den Sohnestitel selbst, sondern um den alttestamentlichen Gottesnamen JHWH, der in der LXX meist als ὁ κύριος umschrieben wird.76 Wäre der Sohnestitel allein der Zuspruch der funktionalen Teilhabe an Gottes Herrschaft zur Rechten, so bliebe zumindest offen, wie Jesus von seinen Nachfolgern, die ebenfalls sechsmal als „Söhne“ bezeichnet werden (2,10; 12,5–8), zu unterscheiden ist. Ein Verweis auf seine Sündlosigkeit (4,15; 7,26) würde wiederum die Göttlichkeit des ein(zig)en Sohnes missachten, der sich (erst) durch seine Fleischwerdung mit ihnen solidarisierte. Seine (ewige) göttliche Sohnschaft unterscheidet ihn an sich schon von allen anderen „Söhnen“ und ist Voraussetzung für seine Erniedrigung wie auch erneutes Resultat.77 Den Namen hat der Sohn zugesprochen bekommen, nachdem er mit seinem Sühneopfertod am Kreuz sein Werk vollendet (5,8f.) und sich anschließend „zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (1,3; vgl. 1,13) gesetzt hat. Dabei ist die Sohnschaft nicht Inhalt, sondern Voraussetzung dieses Erbes. Jesus ist Sohn schon vor Beginn der Schöpfung (1,2; vgl. Phil 2,6; Kol 1,15–17; Joh
Vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 183. WEISS, Hebräer, 153; STUHLMACHER, Theologie, 93; BAUCKHAM, Divinity, 21f.; GUTHRIE, Hebrews, 925; HOFIUS, Christushymnus, 27.87.109–122. Dagegen votieren für eine Gleichsetzung u. a. LANE, Hebrews I, 17; BRAUN, Hebräer, 32; MICHEL, Hebräer, 105 sowie COCKERILL, Hebrews, 98, Anm. 60. 77 Vgl. R ASCHER, Schriftauslegung, 53–56.62f. 75
76 Vgl.
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1,1–4) und damit auch während seines irdischen Wirkens. Nur der Sohn kann diesen Namen „über alle Namen“ (Phil 2,9) erben und wird in 1,8 über jeden Zweifel erhaben als θεός (mit Ps 44,7LXX) und in 1,10 als κύριος (mit Ps 101,26LXX) angesprochen. Als Sohn Gottes überbietet und vollendet Jesus typologisch sämtliche Gottesoffenbarung im Alten Testament (1,1–4). Er ist größer als der größte Prophet Mose (3,3; vgl. Dtn 34,10), überragt alle Engel (1,4f.) und damit das Gesetz, das nach 2,2f. durch die Engel an Mose vermittelt worden ist.
Das Sohn-Sein Jesu ist der tragende Grund für alle christologischen Ausführungen des Hebr.78 Zugleich wird so im Gegenüber zu den levitischen Hohepriestern der für Hebr entscheidende ontologische Unterschied zwischen himmlisch und irdisch ausgedrückt. Jene teilen aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit als Menschen ohnehin die menschliche Schwachheit (7,23.27f.), wohingegen sich Jesus, trotz (vgl. καίπερ in 5,8) seiner natürlichen göttlichen Herkunft als Sohn, freiwillig für die Teilhabe an den menschlichen Schwachheiten entscheidet. Diese ἀσθενείαι sind hier nicht mit menschlicher Sündhaftigkeit an sich gleichzusetzen. Vielmehr erklärt die Wendung „Versucht-Werden in allem in ganz der gleichen Weise“ (πεπειρασμένος δὲ κατὰ πάντα καθ᾽ ὁμοιότητα), worin sich die Schwachheit äußert. Es ist das Spielen mit dem Gedanken der Möglichkeit des Ungehorsams gegenüber Gottes Willen (posse peccare) in ihren vielfältigen Ausprägungen und Gelegenheiten nachzugehen.79 Die Überführung dieser Möglichkeit in die Wirklichkeit in eine oder mehrere ihrer unterschiedlichen Ausprägungen heißt Sünde.80 Diese Überführung hat sich in Jesu irdischem Leben nie vollzogen, insofern konnte er Anteil an der „Schwachheit“ haben, aber „ohne Sünde“ (χωρὶς ἁμαρτίας; 4,15).81 Die Sündlosigkeit Jesu bezieht sich hier auf die Versuchung, der er im Gehorsam gegenüber Gott widerstanden hat.82 Deshalb kann er denen, welchen sein Beistand gilt, auch wirklich helfen (2,17f.).83 Jedem Versuch, die Christologie entweder zu einem statischen Gottesbild zugunsten der Göttlichkeit Jesu einzufrieren oder aber zugunsten seiner Menschlichkeit anthropologisch einzuebnen, schiebt Hebr aus Überzeugung einen Riegel vor: „Es sollte außer Frage stehen, dass Jesu ‚Unsündlichkeit‘ weder ein historisch aufweisbarer Tatbestand noch eine vom Himmel mitgebrachte Tugendhaftigkeit ist. Sie ist eine Glaubensaussage, die ihren Grund in der Überzeugung hat, dass Gottes Urteil über das Leben des Vgl. WEBSTER, Son, 74–93. Vgl. GRÄSSER, Hebräer I, 256; WINDISCH, Hebräerbrief, 37f. 80 Daher wohl wörtlich der Plural ἀσθενείαι. 81 Vgl. Riesner, Messias, 98f. 82 Vgl. K OESTER, Hebrews, 285f.293–295. 83 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 226f.; G RÄSSER, Hebräer I, 256; K ARRER, Hebräer I, 248; WEISS, Hebräer, 295–297. Zudem zeigt sich der Unterschied auch im Objekt des jeweiligen Vermögens: Das μετριοπαθεῖν der levitischen Hohepriester bezieht sich auf die schwachen Menschen (5,2), Jesu συμπαθεῖν auf die Schwachheit (4,15). Im übertragenen Bilde gesprochen: Das erste beschäftigt sich mit den Symptomen (an den Kranken), das zweite mit dem Erreger selbst (vgl. COCKERILL, Hebrews, 234). 78 79
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Gekreuzigten ohne jede Einschränkung zustimmend war […]. Aber sie ist ihm vor allem innere Notwendigkeit seiner Mittler- und Versöhner-Christologie (vgl. 7,26–28; 9,14). Es ist vor dem Hintergrund dieses modernen Menschenbilds verständlich, wenn man dazu neigt, Jesu Solidarität mit den Sündern auf die Erfahrung eigener Sündhaftigkeit auszudehnen. Aber Hebr hätte hier statt Solidarität Komplizenschaft gesehen: Gerade weil Jesus nicht in das Netzwerk der Schuld verstrickt war, kann er die Verstrickten befreien.“84
Aufgrund ihrer eigenen menschlichen Schwachheit müssen die levitischen Hohepriester zuerst für sich selbst Sühne erwirken, bevor sie den Dienst für Andere ausführen können (5,3; 7,27; 9,7). „Der levitische Hohepriester ist den Menschen in allem gleich, die Sünde eingeschlossen. Christus ist den Menschen in allem gleich, die Versuchung eingeschlossen, doch nicht die Sünde (4,15).“85 In 5,7–10 entfaltet der Autor nun in einem langen Relativsatz, wie sich diese einzigartige Menschlichkeit Jesu während seines irdischen Daseins äußerte.86 Mit seinen „Bitten und Flehen“ unter „starkem Geschrei und Tränen“ brachte Jesus gottesfürchtige Opfer dar (5,7).87 Die Gottesfurcht dürfte sowohl von dieser inneren Pein als auch von dem Glauben an die göttliche Auferweckungsmacht her verstanden werden. In Kap. 10 lässt Hebr die Gebete dieses leidenden Hohepriesters mit Worten aus Ps 39LXX erklingen (10,5–9). Dieser gesamte Psalm ist der Hilfeschrei eines verzweifelten Menschen an Gott, der sich aber schließlich der mächtigen und rettenden Gnade Gottes anbefiehlt: „Meine Hilfe und mein Retter bist du; mein Gott, zögere nicht!“ (Ps 40,18). Doch nicht erst die gehorsame Lebensübergabe, sondern schon das zermarterte Herz des so Betenden bewegt Gottes mächtigen Arm, wie Ps 51 verkündet: „Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.“ Und Gott hat seinen Sohn, den innerlich und 84 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 185 (Herv. v. Vf.); vgl. zudem C ULLMANN, Christologie, 97, der die konsequente, weil notwendige Balance zwischen Niedrigkeit und Hoheit Christi für das im NT tragende Wunder der Menschwerdung Gottes generell betont. 85 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 202. Dass die levitischen Hohepriester selbst von sündhafter Schwäche befallen sind, folgert Hebr hier aus dem Zeugnis der Thora, die für Aaron und damit sämtliche seiner Amtsnachfolger vorsieht, immer zunächst für sich selbst Sühne zu erwirken (Lev 9,7; 16,6.17). Der Schriftbeleg erscheint aufgrund des schlichten, aber eigentlich hinreichenden Verweises auf die (bedingte) Menschlichkeit der Hohepriester fast schon als unnötiger Zusatz, schließlich kann Hebr sich auch an späterer Stelle mit dieser allgemein gültigen Tatsache begnügen (7,23). Da der Fokus hier aber (anders als in Kap. 7) auf der Menschlichkeit Jesu liegt, verhindert der Schriftbeweis den Gedanken, dass Jesus als Mensch dann auch den menschlichen Hohepriestern in ihrer Schwachheit entspreche. 86 Der Relativsatz besteht aus vier Elementen, die für sich genommen im Gegenüber zu den in 5,1–3 benannten Aspekten stehen, zusammen aber die Bewegung des Sohnes als „Erniedrigung“ (5,7a–b) – „Bewährung“ (5,7c–8) – „Vollendung“ (5,9) – „Bestätigung“ bzw. „Erhöhung“ (5,10) ergeben. 87 Zwar musste Jesus aufgrund seiner Sündlosigkeit für sich selbst keine Opfer bringen, allerdings ist es diese Gebetshandlung, „die am ehesten in der Opferhandlung des Hohepriesters ‚für sich selbst‘ ihre Präfiguration findet“ (FUHRMANN, Vergeben, 112f.).
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äußerlich geschlagenen, aber im Vertrauen betenden Hohepriester nicht verachtet. Er ist erhört worden (εἰσακούειν), indem Gott ihn durch die Auferstehung und Himmelfahrt (8,1; 10,12) erhöht hat.88 Durch sein Leiden hat der Sohn Gehorsam gelernt, welcher sich in dessen gehorsamen Selbstopfer am Kreuz in letzter Konsequenz äußert.89 So ist er als Hohepriester, d. h. in seiner Bedeutung und seinem Wirken für die Menschen, vollendet worden (5,9).90 Als solch vollendeter Hohepriester wird der Sohn als „Priester nach der Ordnung Melchisedeks“ im Gegenüber zu allen Hohepriestern nach der Ordnung Aarons (5,4) feierlich von Gott begrüßt (5,10). Diesen Gedanken vertieft Hebr in 7,20–28. Bereits bei der Einsetzung hatte sich angedeutet, dass die Überlegenheit Jesu, die sich in der Wirksamkeit seines priesterlichen Wirkens äußert, untrennbar mit seiner Person bzw. seinem Wesen verbunden ist. In 7,26f. wird dieses Wesen nun mit einer Reihe Attributen beschrieben: „heilig“/„fromm“ (ὅσιος), „unschuldig“/„sündlos“ (ἄκακος), „unbefleckt“ (ἀμίαντος), „von den Sündern geschieden“ (κεχωρισμένος ἀπὸ τῶν ἁμαρτωλῶν) und „höher als die Himmel geworden“ (ὑψηλότερος τῶν οὐρανῶν γενόμενος).91 Diese drei Ausdrücke können im weitesten Sinne synonym gebraucht werden, bieten aber jeweils eigene Nuancen:92 Ὅσιος beschreibt das gewissenhafte, in Übereinklang mit Gottes Willen stehende Handeln eines Menschen, das aus einer entsprechenden inneren Haltung hervorgeht.93 Ἂκακος meint denjenigen, „der das Schlechte von sich aus nicht verwirklicht, Vgl. HENGEL, Rechten, 302–307. in 5,8 verwendete μανθάνειν deutet einen Lernprozess mit einer moralischen Komponente durchaus an und sollte nicht zugunsten der Göttlichkeit Jesu weggeredet werden (vgl. WILLIAMSON, Sinlessness, 4–8). Es ist aber ein Prozess im Lebensvollzug, der aus menschlicher Sicht hätte scheitern können, aus der Sicht Gottes aber zu keinem Zeitpunkt gescheitert ist und auch nicht darauf hin angelegt war (vgl. PETERSON, Perfection, 188–190). Insofern hat WESTCOTT, Hebrews, 108 mit seiner Formulierung nicht Unrecht: „He was tempted as we are, sharing our nature, yet with this exception, that there was no sin in Him to become the spring of trial.“ Weil Jesus der Sohn ist, hat er das Vermögen zum Gehorsam gehabt. Es gehört zu seinem (einzigartigen) Sein. Aber dennoch bleibt das, was aus menschlicher Sicht gesagt werden kann, ein ständiger Balanceakt mit Annäherungscharakter – nicht mehr und nicht weniger: Trotz seiner Sündlosigkeit ist Jesus in allem versucht worden. Trotz seiner Versuchung ist Jesus ohne Sünde (vgl. MCKELVEY, Pioneer, 27–34). Spekulationen über die Konsequenzen eines negativen Ausgangs mögen verlocken, sind aber vom Hebr her nirgends intendiert. 90 Man beachte die Passivform τελειωθείς. H EGERMANN, Hebräer, 124 bemerkt dazu treffend: „Der Sohn gelangt in solche Vollendung nach dem Bestehen aller dem Menschen auferlegten Erprobungen und Bewährungen, doch nicht so, daß diese Vollendung eine sittlichforensische Konsequenz der Bewährung wäre; sie ist Tat Gottes in richterlicher Hoheit.“. 91 Dass es sich dabei nun nicht mehr um verbindende, sondern unterscheidende Merkmale im Gegenüber zu den levitischen Hohepriestern handelt, signalisiert τοιοῦτος (7,26a), das die Eigenschaften allein auf diesen einen, derartigen Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks bezieht. 92 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 67–70. 93 Vgl. H AUCK, Art. ὅσιος, 489–491. 88
89 Das
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der also aufrichtig […] und […] unschuldig ist“94. Zuletzt bezieht sich ἀμίαντος auf das unbefleckte, reine Physische eines Menschen im Sinne einer passiven Beschaffenheit, die für kultische Handlungen ausschlaggebend ist.95 7,26 bietet also eine ganzheitliche Beschreibung Jesu als religiös, sittlich und kultisch vollkommenen Hohepriester.96 Die wichtige Verbindung von Sohnschaft (Wesen) und hohepriesterlichem Amt (Funktion) Jesu bildet für Hebr also eine sachliche Einheit. Die Bestätigung der Sohnschaft durch Ps 2,7LXX (vgl. 1,5) fungiert in 5,5f. daher gleichsam zur Berufungsformel für den hohepriesterlichen Dienst.97 „Jesus […] ist sowohl herrscherlicher Sohn als auch Hohepriester. Als Priester herrscht er, und als Sohn handelt er priesterlich. Genauer: Sein Priestersein ist die der Menschenwelt heilstiftend zugewandte Seite seines Sohnseins […]. ‚Sohn‘ und ‚Priester‘ verhalten sich wie Sein und Handeln, und das Handeln folgt aus dem Sein.“98
Für welchen rein menschlichen Hohepriester vermag man solches zu beanspruchen? Diese kategoriale Andersartigkeit bringt Hebr zu dem unweigerlichen Schluss, dass aller Priesterdienst vor Jesus niemals dieselbe Wirkung erzielen konnte, weil erst mit dem Reden Gottes im Sohn etwas angebrochen ist, das wirklich zum Ziel führen kann. Diesen Schluss entfaltet Hebr eindrücklich in 7,11–19. Die Logik seines Urteils folgt auch hier einem zeitlichen Argument: Das Spätere zeigt die Unvollkommenheit des Früheren an. Ausgangspunkt ist die alttestamentliche Schrift (7,11) – genau genommen das Ereignis, von dem die Schrift berichtet –, die eine zeitlich spätere Einsetzung eines anderen Priesters (ἕτερος ἱερεύς) bezeugt (Ps 109,4LXX).99 Das führt für Hebr zwingend zu dem Rückschluss (γάρ), dass GRUNDMANN, Art. ἄκακος, 483 (Herv. v. Vf.). Vgl. HAUCK, Art. ἀμίαντος, 650. 96 Aus dieser Perspektive dürfte auch das sich anschließende κεχωρισμένος ἀπὸ τῶν ἁμαρτωλῶν zu verstehen sein. Wohl gehört es auch zur jüdischen Tradition, dass sich der Hohepriester bereits eine Woche vor dem großen Versöhnungstag von seiner Familie absonderte, um sich allein auf den Opferritus vorzubereiten (vgl. Yom 1,1). Hebr zielt nun aber keineswegs mehr auf gewisse Entsprechungen beider Priesterordnungen ab, sodass die Wendung als Ausdruck für die immer zugleich grundlegende Andersartigkeit des in allem versuchten Hohepriesters Jesus verstanden werden sollte. Zu dieser Andersartigkeit gehört auch die Erhöhungsaussage ὑψηλότερος τῶν οὐρανῶν γενόμενος, mit der erneut die „unbeschreibliche Machtfülle, die Christus von Gott empfangen hat“ (HOFIUS, Theologie, 69), zum Ausdruck gebracht wird (vgl. auch RISSI, Theologie, 35f.; ATTRIDGE, Hebrews, 213; LÖHR, Thronversammlung, 188–190). 97 Damit rezipiert Hebr die ihm vermutlich bereits bekannte christologische Tradition zu Ps 2,7LXX und interpretiert diese für seinen eigenen theologischen Beitrag (vgl. WEISS, Hebräer, 308, Anm. 17; GUTHRIE, Hebrews, 927f.). 98 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 205. 99 Grundlage ist hier freilich die innere Chronologie der atl. bezeugten Geschichte (nicht zwingend die kanonische Reihenfolge), nach der David als von Ps 110,4 vorausgesetzter Autor zeitlich später lebte als die Stiftung des Sinaibundes (Ex 28) mit der Verleihung der Priesterwürde an Aaron als ersten Hohepriester. 94 95
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etwas mit dem zeitlich früheren, alten Priestertum nicht stimmen kann.100 Warum sollte Gott so eine Veränderung des Priesterdienstes vornehmen, wenn der levitische Priesterdienst hinreichend gewesen wäre? Doch Jesu Einsetzung zum Hohepriester stellt zugleich eine wesentliche Veränderung in der heilstiftenden Kultordnung dar.101 Denn er ist nach mosaischem Gesetz aufgrund seiner Abstammung aus Juda von dem für die Leviten reservierten Priesterdienst ausgeschlossen (7,13f.).102 Noch überzeugender als diese Detailfragen, ist (erneut) der Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit des fleischlichen Gebots (ἐντολὴ σαρκίνη) und der Ewigkeit aus der „Kraft eines unzerstörbaren Lebens“ (δύναμις ζωῆς ἀκαταλύτου) in 7,15f. Interessanterweise stehen sich hier nicht ein vergängliches und ein unzerstörbares Gebot gegenüber. Das „unzerstörbare Leben“ des neuen Hohepriesters nach der Ordnung Melchisedeks ist nicht Folge, sondern Voraussetzung für deren Beständigkeit, sodass ihm in 7,17 erneut mit Ps 109,4LXX sein ewiges Amt nicht verliehen, sondern bezeugt (μαρτυρεῖν) wird.103 Das Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks besteht nach Ps 109,4LXX für Hebr aufgrund der Auferstehung Jesu ewig, nicht umgekehrt.104 Gleichzeitig kann es ein „nicht-ewiges“ Priestertum nach der Ordnung Vgl. COCKERILL, Hebrews, 317. GRÄSSER, Hebräer II, 38 spricht zu Recht von einer „sachliche[n] Alternative“, denn das ἓτερος „stellt hier wie auch sonst im Neuen Testament (z. B. Röm 7,23; 15,40; Gal 1,6; Eph 3,5; Apg 4,12) ‚das ganz Andere gegenüber allem Vorangegangenen dar, so wie es umgekehrt alles ‚Andere‘ als Heilsweg ausschließt‘“ (Zitat ursprünglich aus BEYER, Art. ἕτερος, 701). 102 Dass Jesus über seinen irdischen Vater Josef der davidischen Linie aus Juda entstammte, wird in der urchristlichen Tradition in Anknüpfung an 2Sam 7,12–14 durchgängig als Legitimation seiner Messianität verstanden (vgl. Mt, 1,1; Mk 10,47f.; 12,35–37; Lk 1,31.; 2,4f.; Joh 7,40–43; Apg 2,29–32; 13.22f.; Röm 1,3; 2Tim 2,8; Offb 5,5; 22,16 u. ö.). Nach dem lukanischen Sondergut trägt Jesus aber über seine Mutter Maria, die Nichte der Elisabeth, einer Nachfahrin Aarons (Lk 1,5!) auch die aaronitische Priesterlinie in sich (vgl. RECHBERGER, Messias, 150–152). An dieser Perspektive auf Jesus als königlicher und priesterlicher Messias scheint Hebr – so er sie denn überhaupt kannte – keinerlei Interesse zu zeigen, geht es ihm hier ja nicht um eine Ausführung zur Messianität Jesu, sondern um einen Erweis der Andersartigkeit Jesu im Gegenüber zum levitischen Priestertum (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 201; GRÄSSER, Hebräer II, 41) aufgrund der Bestimmung der Thora als ihr gemeinsamer Bezugspunkt. Damit ist die rechtliche Stammeszugehörigkeit von Interesse und das ist die zu Juda. Freilich ist eine messianische Perspektive nicht völlig ausgeblendet, da das Hervorgehen (ἀνατέλλειν) Jesu aus dem Stamm Juda an den Stern (Num 24,17) oder auch an den Spross (Jes 11,1; Jer 23,5) messianischer Prophetie erinnert (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 201; COCKERILL, Hebrews, 320, Anm. 36). 103 Zudem erinnert das „Aufrichten“ (ἀνίστημι im Medium/Passiv) an die Auferstehung der Toten im Allgemeinen und die Auferstehung Jesu in frühchristlicher Tradition (vgl. KLAIBER, Art. ἐγείρω, 94f.), von der Hebr selbst in 6,2 und 11,35 spricht (vgl. KARRER, Hebräer II, 84). 104 Freilich ist der Umstand, dass Melchisedek und damit seine Ordnung zeitlich uneingeschränkt und sachlich unwandelbar bleibt für Hebr schon durch das atl. Zeugnis selbst gegeben (αἰῶνα in Ps 109,4LXX und der fehlende Stammbaum in Gen 14). Sie tritt aber 100 101
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Melchisedeks gar nicht geben, weil es seine Existenz allein durch und im Blick auf den Sohn hat. Ihm gegenüber stehen die vergänglichen levitischen Hohepriester nach der Weise des schwachen Gebots (7,18). Zwischen dem, das levitische Priesteramt konstituierenden, schwachen Gesetz und den, das levitische Priesteramt begleitenden, schwachen Menschen besteht eine enge Entsprechung (7,12),105 so wie bei Jesus und der Ordnung Melchisedeks. Man könnte auch von einer Wechselwirkung sprechen: wie das Eine, so das Andere. Was das Eine festlegt, entspricht genau dem, was das Andere vermag. Durch die zeitlich spätere Einführung des Neuen wird die Unzulänglichkeit des Alten angezeigt, die sich wiederum in der Unzulänglichkeit ihrer Institution zeigt, welche der Institution des Neuen unterlegen ist. Für Hebr kann es daher nur eine Konsequenz geben: Die Aufhebung (ἀθέτησις) des Alten, da es sich als schwach (ἀσθενής) und nutzlos (ἀνωφελής) erwiesen hat (7,18f.). Doch damit geht für Hebr nicht einfach etwas Altes zu Ende. Das Alte wurde vielmehr um eines Neuen willen aufgehoben, das nun begonnen hat – durch eine „bessere Hoffnung“ (κρείττονος ἐλπίδος; 7,19).106 Worin Hebr diese „bessere Hoffnung“ konkret erblickt steht im Fokus des folgenden Abschnitts. 1.2.3 Die Funktion der Priester Wesentlich für die Institution des Priesterdienstes ist sein Sinn und Zweck: Jeder „menschliche“107 Hohepriester ist eingesetzt, um das Verhältnis zwischen tatsächlich (erst) durch das Ostergeschehen in Kraft. Es ist also nicht so, als habe Gott ein neues Priestertum gestiftet, ohne vorerst einen konkreten Priester einzusetzen, was dann später durch Jesus geschehen sei. Obwohl dies aus einer linear-zeitlichen Perspektive so erscheint, versteht Hebr das Psalmwort als überzeitliche Gottesrede an den Sohn, ungeachtet seiner punktuellen Verwirklichung im irdischen (zeitlichen beschreibbaren) Geschehen. 105 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 38f. 106 Daher sollte man diesen Schritt nicht nur als (unverbundene) „Aufhebung“ und „Einführung“ verstehen, sondern vielmehr als eine „so vollzogene verheißungsgeschichtliche Umwandlung“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 271). Voraussetzung für diese Umwandlung ist jedoch nicht der bloße Übergang des Priesterdienstes von einer Nachkommenschaft auf die andere, denn das wäre nur ein Wechsel innerhalb des irdischen Systems. Es braucht dafür einen Paradigmenwechsel durch göttliche Initiative, die Hebr im Sprechen Gottes durch und an seinen Sohn erblickt (vgl. GRÄSSER, Hebräer II, 42f.). 107 Die Wendung ἐξ ἀνθρώπων λαμβανόμενος in 5,1 ist nicht als adverbiale, sondern als attributive Partizipialkonstruktion zu πᾶς ἀρχιερεύς zu verstehen (vgl. COCKERILL, Hebrews, 232f.). Grammatisch ist zwar beides möglich: Ersteres würde dann stärker die Menschlichkeit als wesentliche Grundvoraussetzung aller Hohepriester (auch Jesu) betonen: „Und jeder Hohepriester ist von den Menschen genommen und für die Menschen eingesetzt im Blick auf das Verhältnis zu Gott.“ (so GRÄSSER, Hebräer I, 270f.). Obwohl dies letztlich zu keiner wirklich anderen Deutung des Abschnitts führt, scheint sich die attributive Zuordnung besser in den Gesamtzusammenhang des Vergleichs einzufügen: „Und jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen ist, ist im Blick auf das Verhältnis zu Gott eingesetzt.“ Das syntaktische Gewicht des Hauptsatzes liegt zudem auf dem καθίσταται τὰ πρὸς τὸν θεόν. Die Menschlichkeit Jesu als wesentlicher Gedanke in 4,14–5,10 wird dadurch nicht verneint, da sie notwendige Bedingung für die Hilfe Jesu ist (2,7). Hinreichend wirksam ist
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Mensch und Gott zu regeln (5,1; vgl. auch 8,3). Das, was für den menschlichen levitischen Hohepriester gilt (5,1–3), gilt auch für Christus (5,5–7): Er ist eingesetzt für die Menschen (ὑπὲρ ἀνθρώπων) im Blick auf das Verhältnis zu Gott (τὰ πρὸς τὸν θεόν), damit er seine ureigene Funktion erfülle, „Gaben und Opfer“ (δῶρ καὶ θυσίαι) für die Menschen darzubringen (5,1). Der Priester vertritt den Menschen vor Gott. Ort dieser Begegnung ist das Heiligtum, in das der Hohepriester als Erster und Einziger eintritt und als oberster Mittler wirkt.108 Grund, Inhalt und Ziel dieser Mittlerschaft ist die Sühne, welche (zurück) in die Gemeinschaft mit Gott führt, aus der die Sünde herausgeführt hat. Bevor wir uns näher mit der Art und Weise der Mittlerschaft (Sühne) beschäftigen, blicken wir zunächst auf den Ort ihrer Ausübung. 1.2.3.1 Der Ort der Mittlerschaft (8,1–6; 9,1–10) Stehen in 4,14–7,28 vor allem die Mittler selbst im Mittelpunkt, betrachtet Hebr in 8,1–6 und 9,1–10 den Ort, an dem sie ihrer Funktion nachkommen. Hebr verbindet in 8,1–3 erneut die Sohnschaft Jesu mit dessen Priestertum.109 Als Hohepriester ist der Sohn Mittler für die Menschen. Als Sohn ist der Hohepriester erhöht, „sitzend zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel“ (8,1). Das ist die „Hauptsache“ (κεφάλαιον), von der Hebr zu reden hat. Somit ist die Erhöhung des Sohnes zur Rechten Gottes gleichzeitig sein Eintritt als Hohepriester ins himmlische Heiligtum – der Ort, an dem er seinen Dienst verrichtet: τὰ ἅγια καὶ ἡ σκηνὴ ἀληθινή (8,2). Exkurs: Das Heiligtum (τὰ ἅγια) im Hebräerbrief Das genaue Verständnis von τὰ ἅγια im Hebr ist nicht eindeutig. Bezeichnet der Ausdruck das ganze (Zelt-)Heiligtum oder nur dessen hinteren Teil (das „Allerheiligste“)? Unbestritten scheint, dass sich Hebr, wie auch sonst, am Sprachgebrauch der LXX orientiert, die
diese Hilfe jedoch nur deswegen, weil Jesus gerade nicht vollkommen gleich mit den zu Erlösenden ist. Seine Gleichheit besteht im Versuchtsein wie diese in jeder Hinsicht (4,15). Seine Überlegenheit, die sich in seinem Gehorsam in der Versuchung offenbart (4,15; 5,7f.; 7,26), gründet sich jedoch in seiner Sohnschaft (1,2–4), d. h. in seiner himmlischen Herkunft, die ihn immer auch von allen Menschen und damit von allen Hohepriestern ἐξ ἀνθρώπων λαμβανόμενος unterscheidet (vgl. MICHEL, Hebräer, 215). Die Notwendigkeit der Aussage ἐξ ἀνθρώπων λαμβανόμενος im Blick auf die Priester ergibt sich zudem ja überhaupt erst aus der göttlichen Herkunft Jesu, was auch das etwas überraschende „obwohl“ (καίπερ) in 5,8 anzeigt (vgl. MCCORMACK, Humanity, 66). Hinzu kommt, dass das einleitende πᾶς γὰρ ἀρχιερεὺς (ἐξ ἀνθρώπων λαμβανόμενος) in 5,1 mit dem abschließenden καθώσπερ καὶ Ἀαρών in 5,4 eine Klammer bildet und so den Inhalt dieser vier Verse deutlich auf die levitischen Hohepriester bezieht. Die beiden Wendungen wären streng genommen sogar miteinander vertauschbar, da Aaron das Urbild aller levitischen Hohepriester darstellt (vgl. CODY, Art. Aaron, 1; DOMMERSHAUSEN, Art. ֹכֵּהן,75). 108 Vgl. G RÄSSER, Hebräer I, 272, Anm. 36: So die etymologische Bedeutung von ἀρχιερεύς als Erster (ἡ ἀρχή/ὁ ἄρχων) im Heiligtum (τό ἱερόν). 109 Vgl. W EISS, Hebräer, 431f.
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wiederum die Pluralform τὰ ἅγια mehrheitlich (aber nicht ausschließlich) als Ausdruck für das gesamte Heiligtum verwendet.110 Geht man von einer solchen Grundlage aus, liegt die Vermutung durchaus nahe, dass auch Hebr mit τὰ ἅγια in erster Linie das Heiligtum als Ganzes bezeichne. 111 Zum sachgemäßen Verständnis gewichtiger als der Sprachgebrauch der LXX ist jedoch der des Hebr selbst sowie der Kontext der jeweiligen Stellen.112 Hier lohnt der alte exegetische Grundsatz Augustins, sich von den klaren Stellen zu den unklaren vorzuarbeiten. Dass in 9,25 und damit wohl auch im vorangehenden 9,24 mit τὰ ἅγια das (irdische) Allerheiligste gemeint sein dürfte, liegt auf der Hand. Dafür spricht der deutliche Bezug zum großen Versöhnungstag, „genauer gesagt: auf den Gang des Hohenpriesters in das Sanctissimum der Stiftshütte“113. Ebenso deutlich ist vom Kontext her in 9,12, davon ausgehend dann aber auch in 9,8 und 10,19 vom Allerheiligsten die Rede.114 13,11 bezieht sich (fast wörtlich) auf Lev 16,27.115 In 9,2 ist mit „Ἅγια“ hingegen eindeutig vom vorderen, nicht vom hinteren Teil der Stiftshütte die Rede. Diese Stelle bildet zusammen mit dem dazugehörigen „Ἅγια Ἁγίων“ in 9,3 aber einen Sonderfall, da diese beiden artikellosen Ausdrücke wohl nicht Hebr selbst zuzuschreiben sind. Vielmehr dürfte es sich hier um traditionelle, quasi als Eigennamen verwendete Bezeichnungen handeln, wie das jeweils einleitende ἥτις λέγεται sowie ἡ λεγομένη nahelegen.116 Es bleibt als umstrittenste Stelle 8,2, wo es grammatisch durchaus möglich ist, τὰ ἅγια synonym mit ἡ σκηνὴ ἡ ἀληθινή, bzw. das die beiden Ausdrücke verbindende καί explikatorisch zu übersetzen. Somit könnte – zumindest an dieser Stelle – τὰ ἅγια als Bezeichnung für das himmlische Heiligtum an sich verstanden werden.117 Dann müsste hier jedoch innerhalb zweier Kapitel desselben Briefes für Hebr eine sehr uneinheitliche Terminologie und/oder zwei unterschiedliche Vorstellungen vom himmlischen Heiligtum angenommen werden. Das wäre an sich noch kein zwingender Grund gegen eine solche Deutung, da Hebr auch mit anderen Schlüsselbegriffen wie διαθήκη, κρεῖττον oder ὀυρανός durchaus flexibel umgehen kann.118 Doch auch hier steht Lev 16, speziell 16,20 im Hintergrund, selbst wenn dort anstelle des Plurals τὰ ἅγια der Singular τὸ ἅγιον verwendet wird.119 Damit liegt eine unterschiedliche Deutung von τὰ ἅγια (als Allerheiligstes) und ἡ σκηνή (als Heiligtum insgesamt)
Vgl. SALOM, Hagia, 59–70. Vgl. WEISS, Hebräer, 432. 112 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 218, Anm. 23. 113 H OFIUS, Vorhang, 57. 114 Vgl. LÖHR, Thronversammlung, 190f.. 115 Vgl. G UTHRIE, Hebrews, 992f.. 116 H OFIUS, Vorhang, 56f.; daran anknüpfend G RÄSSER, Hebräer II, 117f.; B RAUN, Hebräer, 250. 117 Vgl. H AUBECK/SIEBENTHAL, Schlüssel, 1166; so B ACKHAUS, Hebräerbrief, 289; WEISS, Hebräer, 432f. 118 Vgl. LÖHR, Thronversammlung, 188–190. 119 W EISS, Hebräer, 432, Anm. 18 betrachtet den Numeruswechsel im Hebr hingegen als Beleg, dass Hebr hier nicht explizit nach Lev 16,20 formuliert. Richtig daran ist, dass der Numeruswechsel im Hebr nur schwer erklärt werden kann. Dass er es aber nun einmal tut und der Einwand für 8,2 damit hinfällig wird, zeigt 13,11, wo Hebr fast wörtlich Lev 16,27 zitiert, aber ebenfalls den Plural τὰ ἅγια verwendet (vgl. HOFIUS, Vorhang, 57, Anm. 60; LÖHR, Thronversammlung, 191). 110 111
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vor.120 Beide Wörter bilden zwar eine sachliche Einheit, verhalten sich aber zueinander wie „Teil und Ganzes, Inneres und Äußeres, Sancta sanctorum und Sancta“121.122 Daran schließt sich gerade im Hinblick auf Metaphern für das Himmlische in späteren Kapiteln die Frage an, ob sich Hebr in (antitypischer) Entsprechung zum irdischen (Zelt)Heiligtum der Wüstenwanderung eine ähnliche Differenzierung in verschiedene Teilabschnitte für das himmlische Heiligtum bzw. für den Himmel als Ganzen vorstellt. Die Antwort lautet Ja und Nein. Da Hebr die vielen kultischen Gegenstände des irdischen Heiligtums (9,21–23) als „Abbilder der himmlischen Dinge“ (ὑποδείγματα τῶν ἐν τοῖς οὐρανοῖς) bezeichnen kann, liegt diese Vermutung nahe.123 Gleichzeitig fehlt aber jede detaillierte, zu weiteren Spekulationen über eine etwaige Lokalisation verleitende Ausführung zum himmlischen Heiligtum.124 Die Exegese tut wohl gut daran, der Vorgabe des Hebr zu folgen.125 Keine „Tempelbesichtigung“126 steht auf dem Programm, sondern der Erweis der „soteriologischen Unwirksamkeit“127 des irdischen, levitischen Priestertums samt seiner kultischen Vollzüge im Gegenüber zum vollends wirksamen Opferdienst Jesu in der unmittelbaren Gegenwart Gottes.128 Die Rede vom himmlischen (und irdischen) Heiligtum hat hier ihren Sinn und fügt sich damit in den bisherigen Gedankengang und die eigentliche Zielsetzung des Hebr ein.
Dem für Hebr grundlegenden Unterscheidungsmerkmal „himmlisch versus irdisch“ kommt auch hier eine wichtige Rolle zu. Wie Jesus als Sohn seiner himmlischen Herkunft nach die levitischen Hohepriester überbietet, so erhaben 120 Vgl. LÖHR, Thronversammlung, 191. Auch in 8,5 ist σκηνή Bezeichnung des gesamten (Zelt-)Heiligtums. Die Belege in 9,2.3.6.9.11 müssen gesondert betrachtet werden. Hier geht es um den jeweiligen Teil des ganzen Heiligtums, wobei die πρώτη σκηνή mit dem hinteren Teil, dem Allerheiligsten (τὰ ἅγια/Ἅγια) und die δευτέρα σκηνή mit dem vorderen Teil der Stiftshütte (Ἅγια Ἁγίων) identisch ist. Für 9,21 und 13,10 liegt die allgemeine Verwendung σκηνή wiederum nahe (vgl. LÖHR, Thronversammlung, 191, 192). 121 G RÄSSER, Hebräer II, 82; vgl. LÖHR, Thronversammlung, 192. 122 Ganz anders K ARRER, Hebräer II, 106, der τὰ ἅγια als allgemein verständliche Anknüpfung an den s. E. heidnischen Hintergrund der Adressaten und dann ἡ σκηνή als Hinführung zum jüdischen Kontext versteht. 123 Vgl. H OFIUS, Vorhang, 69f. Zudem wird Jesus in 8,2 ja als λειτουργός (im Himmel) bezeichnet, der am Heiligtum tätig ist. Vgl. BRAUN, Hebräer, 228f.; RISSI, Theologie, 38f. 124 Vgl. H OFIUS, Vorhang, 71, der sodann eine regelrechte Landkarte der himmlischen Welt samt himmlischen Jerusalem sowie Heiligtum zeichnen kann. 125 So von C OCKERILL, Hebrews, 354–357 zu Recht betont, auch wenn dieser τὰ ἅγια nicht als Ausdruck für das Allerheiligste, sondern für den Himmel an sich als Ort Gottes versteht. Diese Annahme hat durchaus seine Berechtigung, ist nach 9,24 der Himmel ja selbst das Heiligtum (vgl. MICHEL, Hebräer, 323), an dem Jesus wirkt. Der freimütige Eintritt in diese unmittelbare Gegenwart Gottes ist Ziel und Privileg der Gemeinde (10,19). Ähnlich zur flexibleren Verwendung von „Himmel“ als Ort der Gegenwart Gottes scheint Hebr mit der Rede vom himmlischen Heiligtum primär auf den von menschlicher Seite aus unüberwindbaren Gegensatz zwischen irdischer (vergänglicher) und himmlischer (unvergänglicher) Realität abzuzielen, der aber letztlich christologisch verwertet wird. Eine zu allgemeine Deutung von τὰ ἅγια (und den damit verbundenen anderen Ausdrücken) auf den Himmel an sich wird dem anschauungsreichen Gedankengang des Hebr aber ebenso wenig gerecht (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 231–243.). 126 LÖHR, Thronversammlung, 194. 127 LÖHR, Thronversammlung, 194. 128 Vgl. STROBEL, Hebräer, 97.
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ist auch seine hohepriesterliche Wirkungsstätte: der Himmel selbst mit der wahren Stiftshütte und ihrem Allerheiligsten. Nichts davon ist Menschenwerk (8,2b).129 Dort hat sein Weg als Sohn begonnen und dort vollendet er sein Werk als Hohepriester. Im Gegensatz dazu dienen die menschlichen Hohepriester nach dem mosaischen Gesetz dem bloßen „Abbild und Schatten“ (ὑπόδειγμα καὶ σκιά) des Himmlischen (8,5). Auch hier will Hebr seine Wertung als im alttestamentlichen Zeugnis selbst vorgegeben verstanden wissen. Denn nach Ex 25,40 hat Mose das himmlische Urbild als Vorbild für die Errichtung des irdischen Zeltheiligtums gezeigt bekommen (8,5).130 So entsprechen sich beide in ihrem Aufbau und ihren Satzungen, wie Hebr sie in 9,1–10 beschreibt. Dabei orientiert sich Hebr eng am biblischen Befund zum (Zelt-)Heiligtum, insbesondere an Ex 25–27.131 Nirgends verliert er sich dabei jedoch in Detailfragen, sondern lenkt alles auf das zentrale Thema der Soteriologie. Entsprechend begnügt er sich bei der Beschreibung des irdischen Heiligtums damit, wohl ohnehin Bekanntes bei seinen Lesern zu reaktivieren (9,2–5a), und kann es bei einem kurzen Überblick belassen (9,5b). Entscheidend ist nicht der konkrete Aufbau, sondern dessen grundlegende Funktion.132 Gemäß Ex 26,33 beschreibt Hebr das Zeltheiligtum während der Wüstenwanderung als ein Ganzes mit zwei Räumen – einem vorderen, genannt Ἅγια, und einem hinteren, genannt Ἅγια Ἁγίων (9,2f,).133 Mit der ausdrücklichen Unterscheidung verfolgt Hebr das Interesse, daran das überbietende Gegenüber der himmlischen Heilsordnung Jesu aufzuzeigen (9,8). Das irdische Allerheiligste ist ein Symbol für den Himmel, konkret für das himmlische Allerheiligste – dem Ort der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Bei Josephus findet sich eine analoge Vorstellung. So symbolisiert für ihn der Aufbau der Stiftshütte die Trennung zwischen Himmel und Erde, d. h.
129 Wohingegen das irdische (Zelt-)Heiligtum von Mose gebaut wurde, wenn auch im Auftrag Gottes (vgl. dazu LÖHR, Umriß, 225f.). 130 Wie das gesamte Gesetz (2,2) und damit das levitische Priestertum (5,4) ist auch das irdische Heiligtum von Gott her gewollt und für die Menschen gestiftet, „aber eben als Gleichnis des wahren Gottesdienstes, der durch Christus erfüllt wird“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 290). 131 Zu kleineren Abweichungen von der atl. Vorlage im Hebr vgl. W EISS, Hebräer, 451f. Diese bleiben aber ohne ernste inhaltliche Folgen. 132 Vgl. K OESTER, Hebrews, 404. 133 Die Benennung der beiden Räume des Zeltheiligtums als erstes (ἡ πρώτη) und zweites (τὸ δεύτερον) Zelt (9,2f.) wirkt zwar etwas eigenwillig. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, Hebr hätte hier an zwei separate Zelte gedacht. Beides sind nach 9,3 zwei Teile eines Zeltes, die durch einen Vorhang (καταπέτασμα) getrennt sind (vgl. HOFIUS, Zelt, 274f.; HOFIUS, Vorhang, 57; WEISS, Hebräer, 453; ATTRIDGE, Hebrews, 232; LANE, Hebrews II, 219 u. a.). Eine sprachliche Parallele findet sich bei Josephus, B.J. 5,184.186 u. B.J. 5,208f. (vgl. HOFIUS, Zelt, 274f.). Die beiden als regelrechte Eigennamen gebrauchten Bezeichnungen Ἅγια und Ἅγια Ἁγίων dürften Hebr vorliegende bekannte Bezeichnungen sein, wie auch die beiden Formen λέγεται bzw. λεγομένη nahelegen (vgl. BRAUN, Hebräer, 250).
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zwischen der menschlichen Wirklichkeit und der Gottes.134 Hebr ist es hier aber nicht an der Entfaltung einer systematisierten Himmel-Erde-Kosmologie gelegen.135 Die Unterscheidung beider Räume zielt hier einzig auf die Soteriologie ab. Denn die Räume sind nur insofern von Bedeutung, als sie Ort des Sühnewirkens der levitischen Priester und speziell des Hohepriesters am großen Versöhnungstag sind (9,6f.).136 Der vordere Raum ist für den levitischen Priesterdienst bestimmt (9,6; vgl. Num 18,3), ohne dabei aber den hinteren Raum, das Allerheiligste, zu betreten. Dieser Raum ist somit eine Art ständiger Zwischenraum für die Begegnung zwischen Mensch und Gott, der (nur) aufgrund der Unantastbarkeit des Allerheiligsten besteht. Demnach bestünde für den vorderen Raum keinerlei Notwendigkeit mehr, sobald der Zugang zum hinteren Raum aufgrund einer vollgültigen wirksamen Reinigung der Menschen nicht mehr verschlossen wäre. Solange aber der vordere Raum noch in seiner Funktion vorhanden ist,137 d. h. in ihm entsprechend noch soteriologisch unzureichende Opfergaben dargebracht werden, signalisiert damit der Heilige Geist (9,8),138 das dadurch für denjenigen, der sich an diesen, das Gewissen nicht
Vgl. Josephus, Ant. 3,123.180f. Vgl. HOFIUS, Zelt, 275–277; MICHEL, Hebräer, 298; WEISS, Hebräer, 452f.; LANE, Hebrews II, 219. Für Josephus symbolisierte der Aufbau des (Zelt-)Heiligtums demnach positiv dessen Erhabenheit über alles Weltliche. Aber der Vergleich liegt im Gegenüber zum himmlischen Heiligtum und ist insofern pejorativ: „The arrangements of the old cult signify ultimately its own inadequancy.“ (ATTRIDGE, Hebrews, 240). 136 Die Rede von den Priestern beinhaltet selbst eine Steigerung, die den Vergleich mit Jesus noch verstärkt. (vgl. KOESTER, Hebrews, 404). Schon zwischen den sonstigen Priestern (9,6) und dem einen Hohepriester (9,7) liegt ein Unterschied. Während jene ihren Dienst beständig (διὰ παντός) tun, geht allein dieser eine (μόνος) nur einmal im Jahr (ἅπαξ τοῦ ἐνιαυτοῦ) ins Allerheiligste (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 239; WEISS, Hebräer, 454f.). Um wieviel größer ist dann aber doch der Hohepriester Jesus, der sogar ins himmlische Heiligtum geht und das nicht einmal im Jahr, sondern ein für alle Mal (vgl. das für Jesus absolut gebrauchte ἅπαξ in 9,26.28). 137 Nicht das gesamte (Zelt-)Heiligtum und alles damit Verbundene werden hier als Sinnbild (παραβολή) verstanden (so WINDISCH, Hebräerbrief, 77; MICHEL, Hebräer, 307), da sich ἥτις (9,9) nicht auf alles Vorangegangene bezieht, sondern konkret auf die πρὼτη σκηνή in 9,8 (vgl. LANE, Hebrews II, 223f.; GRÄSSER, Hebräer II, 134; KOESTER, Hebrews, 398; ATTRIDGE, Hebrews, 241; WEISS, Hebräer, 458 u. a.). Entsprechend fügt D* πρωτη sekundär ein. 138 Für diese Einsicht sorgt, wie Hebr betont, der Heilige Geist. Sie ist demnach den atl. Texten und den von ihnen beschriebenen Ereignissen bzw. Institutionen nicht ohne weiteres abzulesen (so richtig SCHUNACK, Hebräerbrief, 116). Dieser Umstand sollte aber nicht überbewertet und möglicherweise sogar gegen Hebr verwendet werden, als betreibe dieser eine willkürliche Auslegung, die er mit dem letztlich unkontrollierbaren Geistwirken begründe. Denn ein Zusammenhang zwischen dem Aufbau der Stiftshütte und dem quasi abgestuften Zugang zu Gott besteht ja schon im atl. Zeugnis selbst, ohne die Hermeneutik des Hebr (s. o.). Der Heilige Geist fügt nicht einen völlig neuen Deutungshorizont hinzu, sondern bringt ans Licht (δηλόω; 9,8), was als „tiefere[r] Sinn“ (HEGERMANN, Hebräer, 173) im atl. Text durchaus schon angelegt ist (vgl. COCKERILL, Hebrews, 380f., Anm. 45; EMMRICH, 134 135
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vollkommen reinigenden, Gottesdienst hält, dennoch der Zugang zum Allerheiligsten und damit zur unmittelbaren Gegenwart Gottes selbst verwehrt bleibt (9,9).139 Dieser soteriologische Fokus muss streng beachtet werden. Wie in 8,13 wird hier keine schematische Abfolge zweier Etappen beschrieben, sodass erst der alttestamentliche Kult an sich aufhören muss, damit der neue (eigentliche) Kult in Kraft treten kann.140 Das Erste kann zeitlich parallel zum Neuen andauern. Aber beide Heilsordnungen können nicht gleichzeitig ihre soteriologische Funktion für den Menschen erfüllen. Hier gilt nicht mehr, aber auch nicht weniger: Das Eine ist das Ende des Anderen (7,11.18; 8,7.13; vgl. Röm 10,4). Die erste Heilsordnung ist fleischlich (σάρξ; 9,10), weil sie den Menschen (nur) äußerlich, d. h. von außen nach innen reinigt, dabei aber quasi stecken bleibt.141 Die neue Heilsordnung hingegen reinigt (auch) das Gewissen des einzelnen Menschen, also von innen nach außen.142 Für Hebr bezeichnet das Gewissen (συνείδησις) das „im Personzentrum verankerte Bewusstsein vom geordneten Verhältnis zum lebendigen Gott“143 (vgl. 9,14; 10,2.22; 13,18). Dementsprechend zielt die neue Heilsordnung genau darauf ab, um die Gottesgemeinschaft vollgültig herzustellen. Denn für die unbeschadete Begegnung mit Gott ist diese innere Reinigung notwendig, weil sein richtendes Wort eben bis zum Inneren (und von dort nach außen) vordringt und Nichts vor ihm verborgen bleibt (4,12f.).144 Die erste Heilsordnung vermag dies nur bedingt und vermittelt durch irdische Priester zu leisten. Sie sind ein Ausdruck des Strebens nach Gottesbeziehung, vermögen diese aber nicht herbeizuführen.145 Seine so verstandene Gültigkeit hatte das Erste bis zu dem Zeitpunkt (καιρός), an dem die neue, bessere Ordnung erlassen wird (9,10). Diesen Zeitpunkt erblickt Hebr mit dem Reden Gottes im Sohn (1,1–4) als geschehen. Warum das so ist, soll nun im Folgenden weiter bedacht werden. Pneuma, 63–65). Freilich wird diese Hermeneutik, wie auch sonst im Brief, konsequent christologisch verstanden (1,1–4). 139 Vgl. LANE, Hebrews II, 225; A TTRIDGE, Hebrews, 240; ELLINGWORTH, Hebrews, 438. 140 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 241. Dafür ist m. E. auch die „gegenwärtige Zeit“ (καιρὸς ἐνεστηκότος) in 9,9 Beleg, die für Hebr und seine Adressaten angebrochen, aber gegenwärtig andauernd ist. 141 Die äußere Reinigung ist an sich nicht falsch, aber aufgrund der fehlenden Reinigung des Gewissens unvollständig (vgl. KOESTER, Hebrews, 405). Der Kult entspricht Gottes Setzung, aber dringt nicht bis ins Innerste vor. „Wer in seinem Zeichen Gott dient, dient dem Schatten, der auf das Licht weist.“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 310; vgl. WEISS, Hebräer, 469). 142 Vgl. LÖHR, Umkehr, 43.58, Anm. 254. Ähnlich B ACKHAUS, Hebräerbrief, 311: „‚Fleisch‘ ist für Hebr kein Übel, sondern eine Grenze.“ 143 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 311. Vgl. G UTHRIE, Introduction, 186. 144 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 311 betont aber völlig zu Recht, dass Hebr damit kein schwärmerisches Anliegen verfolge, um etwa „innerlich/spirituell“ gegen „äußerlich/rituell“ auszuspielen. 145 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 312.
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1.2.3.2 Das Opfer der Mittlerschaft (9,11–28) Wie wir für die neue Heilsordnung in 8,7–13 gesehen haben, ist ihr wesentlicher Ertrag die unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Mensch, welche durch die Sündenvergebung ermöglicht wird (8,12; vgl. 10,22). Wie sie dies im Gegenüber zur alten vollgültig ermöglicht, entfaltet Hebr vor allem in 9,11– 28. Im Gegensatz zu den, aus Sicht des Hebr, Interimsbestimmungen unter der ersten Heilsordnung ist mit dem Reden Gottes in seinem Sohn Jesus Christus ein Hohepriester hervorgetreten (παραγενόμενος), der die „wirklichen [mit ihm in Erscheinung getretenen] Güter“ (γενομὲνα ἀγαθά) mit sich bringt (9,11). Diese Heilsvermittlung (bzw. Heilsordnung) denkt Hebr in (kult-) gesetzlichen Kategorien als positive Beschreibung des Priesterdienstes Jesu, die sich aus einer negativen Beschreibung des levitischen Priesterdienstes folgert.146 Nicht in ein von Menschen gemachtes (Zelt-)Heiligtum (χειροποίητος) ist Christus gegangen (9,11.24), sondern in den Himmel selbst (9,24), konkret in das himmlische Allerheiligste (9,11). Nicht mit dem Blut von Tieren hat er die ewige Erlösung (αἰωνία λύτρωσις) erworben, sondern mit seinem eigenen (9,12).147 Die ganze Analogie zielt auf den kompromisslosen Erweis der Überbietung des Alten durch das Neue:148 „Denn wenn [schon]“ (εἰ γάρ) das Alte, respektive das Blut von Böcken und Stieren (9,13a) reinigen konnte, „wie viel mehr [dann]“ (πόσῳ μᾶλλον) das Neue – das Blut Jesu (9,14a)? Doch was zeichnet das Blut Jesu gegenüber dem Blut von „Böcken und Kälbern/Stieren“ (9,12f.) qualitativ aus? Es ist nicht eigentlich die „Substanz des Blutes, sondern das Geschehen des Todes Jesu“149. Der Sohn bringt sein von Gehorsam bestimmtes Leben gehorsam als Selbstopfer am Kreuz dar (7,12; 9,12.14; 10,12.14) und erfährt von Gott uneingeschränkte Bestätigung seiner Gerechtigkeit (4,15; vgl. 2 Kor 5,21; 1 Petr 2,22; 1 Joh 3,5).150 Der Sündlose 146 In diesem Negativvergleich in 9,11–13 bietet Hebr die „Summe seiner Theologie“ (GRÄSSER, Hebräer II, 143), „weil ja 9,11f. den Kern der ganzen Hohepriesteranschauung zum Inhalt hat“ (LAUB, Bekenntnis, 187). 147 Das „Was“, „Wo“ und „Wer“ des Opferns sind nicht voneinander zu trennen. Aber dem Blut und damit der priesterlichen Opfergabe gilt hier das eigentliche Interesse. 148 Vgl. STROBEL, Hebräer, 105f. 149 W EISS, Hebräer, 467; vgl. aber z. B. auch LANE, Hebrews II, 240. Hebr knüpft an die Auffassung aus Lev 16 an, wonach nicht eigentlich die Tötung des Opfertieres, sondern die Versprengung des Blutes im Allerheiligsten als „Übereignung des geopferten Lebens an Gott“ (GRÄSSER, Hebräer II, 149) entscheidend für die Sühnewirkung ist (vgl. GRÄSSER, Hebräer II, 148f.). Zum Tod Jesu im Hebr vgl. LÖHR, Wahrnehmung; RISSI, Theologie, 70– 78. 150 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 319; A TTRIDGE, Hebrews, 250. Der Gehorsam gegenüber Gott, der sich im Leben und Sterben Jesu äußert, ist das eigentliche Gott wohlgefällige Opfer. Dieser Gedanke ist keine Erfindung des Hebr, sondern als Kritik an einem Gottesdienst, der allein von Opfern, aber nicht durch Gehorsam und Liebe gegenüber Gott und den Mitmenschen geprägt ist, schon in der antiken griechischen Philosophie und den atl.
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stirbt den Tod der Sünder.151 Die Notwendigkeit eines solchen Lebens bzw. Todes liegt im Wesen der Sünde und damit im Wesen der auf sie abzielenden Sühne nach alttestamentlicher Tradition begründet.152 Vom Menschen begangene Sünde im alttestamentlichen Sinne richtet sich, auch wenn ihre offenkundige Intention dem Mitmenschen gilt, immer gegen Gott (Ps 51,6). Denn in ihr „artikuliert sich eine Verachtung Gottes, eine Infragestellung seiner Autorität“153. Da sich der Mensch in seiner Existenz ganz Gott als seinem Schöpfer verdankt und in seinem Daseinssinn auf ihn ausgerichtet ist, verliert der Sünder durch seine Abkehr von Gott seinen eigentlichen Lebensinhalt und führt ein quasi „lebloses“ Leben in der Gottesferne. Zur Wiederherstellung des gestörten Gottesverhältnisses muss eine Sühneleistung erbracht werden, die der Mensch selbst nicht aufbieten kann (Lev 17,11; vgl. Hebr 9,22).154 Entscheidend dafür ist das göttliche Erbarmen, was sich in der Gewährung der alttestamentlichen Sühneriten äußert.155 Doch dieser „Verlust Propheten (vgl. Am 5,21–27; Hos 4,4–18; 6,6; 14,2f.; Jes 1,10–16; Mi 6,1–8; Jer 7,7–11) vorhanden (vgl. dazu umfassend ANGENENDT, Arnold: Sühne durch Blut, FMSt 18 (1984), 437–467). In einer gewissen Analogie versteht dann auch Philo den tieferen Sinn der Opferriten als Aufforderungen zu einem innerlich reinen Leben vor Gott (Spec. 1,193). 151 Darauf, dass Hebr sich hier durchaus, gut frühjüdisch-frühchristlich, auf dem Hintergrund des unschuldig leidenden Gottesknechts aus Jes 53,9 bewegt, deutet auch das Zitat aus Jes 53,12 in 9,28 hin (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 266). Als inthronisierter Hohepriester offenbart der Geschundene dabei aber gerade seine Hoheit (vgl. CULLMANN, Christologie, 90f.; RISSI, Theologie, 74). 152 Ich folge hier der insbesondere durch Hartmut Gese vorgetragenen Deutung des atl. Sühnegeschehens (vgl. GESE, Sühne; vgl. umfassend JANOWSKI, Sühne). Danach ist „Sühnen“ ( )ִכֵּפּרkein bloßes Beseitigen bzw. Ablegen von Sünde, sondern eine „stellvertretende Totalhingabe“ (GESE, Sühne, 97), die in der völligen Identifikation des Opfernden mit dem Opfer zur Geltung kommt (vgl. GESE, Sühne, 97.). Diese Interpretation scheint mir für den Hebr gerechtfertigt, da diese atl. kultischen Kategorien das Reden über den Tod Jesu im Hebr – wie in keiner anderen ntl. Schrift – dominieren (bes. Kap. 9 und 10), wenn auch nicht ausschließlich ein solcher Bezug besteht (vgl. LÖHR, Wahrnehmungen, 470f.). Zu den verschiedenen, z. T. erheblich voneinander abweichenden Deutungsmustern von „Sühne“ und „Opfer“ sowie deren Verhältnisbestimmung in exegetischen Entwürfen vgl. FREY, Jörg: Probleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflicher zur exegetischen Diskussion, in: Frey, Jörg/Schröter, Jens (Hg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 22012, 3–50, bes. 13–26. Ein anregendes Plädoyer, an der Sühnevorstellung theologisch auch gegenwärtig festzuhalten und sie besser zu verstehen, bietet WENGST, Klaus: „… dass der Gesalbte gemäß den Schriften für unsere Sünden gestorben ist“. Zum Verstehen des Todes Jesu als stellvertretender Sühne im Neuen Testament, EvTh 72/1 (2012), 22–39. 153 K AMPLING, Sünde, 382f. Auch im Hebr ist Sünde „per se Sünde gegen Gott“ (LÖHR, Umkehr, 135). 154 G RÄSSER, Hebräer II, 149 spricht hier treffend von einer „homöopatische[n] Logik“. „Blutverlust bedeutet Lebensentzug, Blutzufuhr Lebensmehrung“, denn im Blut ist das Leben (Lev 17,11), sodass gilt: „Blut sühnt Blut“ (vgl. Philo, Spec. 3,150: αἵματι γὰρ αἷμα καθαίρεται). Zur allgemeinantiken bzw. allgemeinmenschlichen Vorstellung vom reinigenden Blut vgl. GRÄSSER, Hebräer II, 149–151. 155 Vgl. JANOWSKI, Sühne, 247.
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an kosmischer Integrität“156 ist so weitreichend, dass zur vollkommenen Wiederherstellung eine Opfergabe notwendig wäre, die in ihrer Wirksamkeit dieselbe Tiefe wie der Abgrund erreicht, welchen die Sünde in die Beziehung zwischen Gott und Mensch gerissen hat. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Hebr die Unzulänglichkeit des Blutes von Tieren hervorhebt, deren Opferung die Sehnsucht nach Wiederherstellung des Gottesverhältnisses nur verdeutlichen kann, und zugleich die Notwendigkeit des einzigartigen Blutes Jesu betont, das wiederum im Himmel vor Gott selbst dargebracht werden muss (9,18–23):157 „Die Sünde ist für den Verfasser eine Größe, die buchstäblich zum Himmel schreit. Sie reicht bis vor den Thron Gottes! Da – vor Gott selbst – ist sie Realität und als solche festgehalten; dort verklagt sie den Sünder und trennt ihn von seinem Gott. Soll die Sünde aufgehoben werden, so muß sie deshalb vor Gott aufgehoben werden; dort – vor seinem Thron – muß die Wendung erfolgen. ‚Sühne‘ kann demzufolge nur ein Sühnegeschehen bringen, das bis in den Himmel reicht und die Sünde dort tilgt, wo sie getilgt werden muß.“158
Als Hohepriester an jenem himmlischen Ort hat Jesus einen solchen tilgenden „Reinigungsakt“159 im irdischen Geschehen seines Kreuzestodes erbracht (9,11f.14.24–26).160 Er hat dadurch die von Gott verheißene neue Heilsordnung
GESE, Sühne, 87. Anders GRÄSSER, Hebräer II, 152, der in der „ethischen Persönlichkeit Jesu“ gerade keinen entscheidenden Faktor für seine Sühnewirksamkeit verstanden wissen will, sondern diese allein in der Lebenshingabe an sich als „Grundsatz jeder Sühnetheologie“ erblickt. Eine solche Reduzierung ist jedoch äußerst fraglich, denn dann bliebe völlig offen, warum nicht jedes andere „Menschenopfer“ dieselbe Sühne leisten könnte. Gräßer betont zwar zu Recht die Bedeutung der Auferstehung (7,16b), aber allein damit blieben sämtliche Aussagen im Hebr über die Notwendigkeit (7,26) der Sündlosigkeit Jesu für sein hochpriesterliches Wirken außen vor. Vielmehr geht Hebr über die ethische Qualifizierung sogar hinaus. Das Opfer Jesu ist ja gerade ein makelloses (ἄμωμος; vgl. 1 Petr 1.19), dargebracht im (Gottes-)Gehorsam (9,14). Damit wird Jesus „im nicht nur ethischen (4,15), sondern auch ontischen Vollsinn [...] ausgezeichnet“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 321; vgl. S. 92, Anm. 150). Entsprechend fungiert nach 9,12 sein reines Blut quasi als (einzig gültige) Eintrittskarte, durch das (διὰ δὲ τοῦ ἰδίου αἵματος) sein Zugang endgültig, aber auch erstmalig in das himmlische Heiligtum ermöglicht wird (vgl. STROBEL, Hebräer, 107). Tierblut sühnt am irdischen Ort der göttlichen Begegnung, aber nur das Blut Jesu im himmlischen. Zudem bietet Hebr in 9,16–18 eine kurze rechtliche Begründung für die Notwendigkeit des Todes Jesu, insofern er Mittler/Bürge der neuen Heilsordnung sein soll. Die in 7,22 im Wort „Bürge“ (ἔγγυος) schon mitschwingende juridische conditio sine qua non des Todes dessen, der ein „Testament“ (in 9,16–18 die deutliche Konnotation von διαθήκη; vgl. BRAUN, Hebräer, 273; anders HAHN, Covenant, 430–436) erlässt, wird hier explizit benannt. Die kult- bzw. schrifttheologische Begründung des Todes Jesu (9,18–23) ist für Hebr aber stärker ausschlaggebend. 158 H OFIUS, Theologie, 120 (Herv. v. Vf.). 159 LÖHR, Umkehr, 15. 160 Das bedeutet aber auch, dass Hebr den frühjüd.-atl. Opferkult gerade nicht als per se sinnlos abtut (vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 321). Das Problem liegt in seinem Unvermögen zur letztgültigen, vollgültigen Reinigung. 156 157
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durch die erwirkte Sündenvergebung realisiert (9,15; vgl. 8,6; 12,24) und steht nun seiner Gemeinde als Fürsprecher im ermüdenden Glaubenskampf bei (7,25).161 Für Hebr ist klar: Wer oder was sollte ihm hier ebenbürtig sein? Diese durch Christus erwirkte Reinigung des Gewissens (9,14) beschreibt Hebr als Bewegung weg von den toten Werken (ἀπὸ νεκρῶν ἔργων) hin zum Dienst für den lebendigen Gott (εἰς τὸ λατρεύειν θεῷ ζῶντι).162 Da die toten Werke dem lebendigen Gott gegenüberstehen, dürfte hier vor allem an die Ursache aller toten Werke gedacht sein: die Abkehr von Gott.163 Sie sind Ausdruck des „leblosen“ Seins des Sünders, sodass ein ethisches Verständnis dieser toten Werke nicht aus-, sondern eingeschlossen wird. Das Gewissen wird durch diese Sünde(n) belastet, weil es ein „Wissen des Menschen [...] um seine Ferne vom ‚lebendigen Gott‘ zur Folge hat“164 (10,2). Die Reinigung des Gewissens weg von den toten Werken bedeutet insofern nicht, dass der Mensch sich ihnen gegenüber gleichgültig verhält, sondern ihnen aktiv (posse non peccare) nicht mehr nachzugehen vermag (12,1f.). Das Gegenteil des „schlechten Gewissens“ stellt sich ein: der freimütige Gang vor Gott (4,16; 10,19; vgl. Eph 3,12).165 Am Ende seiner Ausführungen demonstriert Hebr nun noch einmal die „Einmaligkeit“ des Opfers Jesu (9,24–28).166 Hier gehören vertikale und horizontale Dimension heilsgeschichtlich-typologisch untrennbar zusammen. Wo hat Christus seinen Dienst vollzogen? Nicht im von Menschen gemachten Heiligtum, sondern im Himmel selbst (9,24). Wann hat Christus diesen Dienst vollzogen? Einmalig und letztgültig am Ende der Weltzeiten (9,26). So wird der Zugang zum Zeitlosen zum bestimmten Zeitpunkt (νυνὶ δὲ ἅπαξ) innerhalb der seit ihrer Grundlegung zeitlich voranschreitenden Weltgeschichte offenbar. Dass dieser Zeitpunkt für Hebr gleichsam die Vollendung des bisherigen Vgl. FREY, διαθήκη, 287f. Ἀπὸ νεκρῶν ἔργων ist hier als Genitiv der Trennung zu übersetzen, der ins εἰς λατρεύειν übergeht (vgl. WEISS, Hebräer, 470, Anm. 27). Nach Weiss ist die Reinigung durch Christus durchaus auch kultisch zu verstehen, nämlich als „Befähigung“ hin zum wahren Gottesdienst, in den nun jeder (durch andere Menschen) unvermittelt eintreten kann, wie es Teil des neuen Bundes nach Jer 31(38LXX) in 8,10–12 ist (vgl. WEISS, Hebräer, 470). 163 Vgl. W EISS, Hebräer, 470. Hier dürfte wohl kaum einseitig an die Werke nach der Thora als Ganzes gedacht sein (so aber LANE, Hebrews I, 140). Diese sollten ja gerade im treuen Gehorsam gegenüber Gott ausgeführt werden. Sie sind nicht an sich eine Verunreinigung des Gewissens, sondern ihnen fehlt die Kraft zu dessen Reinigung (vgl. DESILVA, Perseverance, 307). Sie können aber freilich auch zu „toten Werken“ werden, was ja gerade die Kultkritik der atl. Propheten schonungslos aufdeckt (vgl. S. 92 Anm. 149). 164 Weiss, Hebräer, 471. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 323 spricht treffend von einem „Echoraum der Ewigkeit im Menschen“. 165 Für Hebr selbst besteht freilich keine Notwendigkeit, einen solchen Zusammenhang im Detail zu erklären. Das gute Gewissen vor Gott ist Teil seines allgm.-christl. Bekenntnisses (vgl. Apg 24,16; 2 Kor 1,12; 1 Tim 3,9) und ist für seine Adressaten bekannt (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 252). 166 Vgl. K OESTER, Hebrews, 427–429. 161 162
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Zeitalters einleitet, unterstreicht die „eschatologisch-endgültige Qualität der ‚Offenbarung‘ Christi“167. Endgültig ist sie insofern, als sie vom Beginn dieser Offenbarung (2,3) bis zu ihrem eschatologischen Ziel vollgültig bleibt (9,28) und hinsichtlich ihrer soteriologischen Funktion keine Steigerung mehr nötig und daher möglich ist, sie also auch letztgültig vollgültig bleibt (9,26). Auch hier am Ende von Kap. 9 bleibt der soteriologische Kontext der (neuen) Heilsordnung bestimmend. Christus ist einmal geopfert worden (9,27f.), um „die Sünden Vieler zu tragen“ (εἰς τὸ πολλῶν ἀνενεγκεῖν ἁμαρτίας; 9,28a; vgl. Jes 53,13LXX). Das pro nobis seines Dienstes ist dessen ganzer Sinn und aller Trost der Adressaten, wie Lsuther abschließend festhielt: „All diese Worte preisen uns Christum auf das lieblichste, darum daß er uns nicht als ein Rächer der Sünden und Richter, sondern aufs erste als ein Hoherpriester […] verkündet wird und dazu […] als vor dem Angesicht Gottes stehend, wo es am meisten not tat und wir am ärgsten verklagt und schuldig waren.“168
1.3 Die Unzulänglichkeit der alten Heilsordnung und die Notwendigkeit der neuen (10,1–18) Der Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung anhand derer wichtigsten Institutionen erreicht mit dem Urteil über die alten (levitischen) in Kap. 8 seinen Höhepunkt. Zugleich findet die breit entfaltete Hohepriester-Christologie mit Kap. 9 einen gewissen Abschluss. In 10,1–18 summiert Hebr seinen seit Kap. 7 explizit entfalteten Gedankengang von der endgültigen Wirksamkeit des hohepriesterlichen Wirkens Jesu im Gegenüber zum mosaischen Opferkult.169 An dieser Stelle sei jedoch ausdrücklich betont, dass Hebr keine Radikalkritik an der Thora als ganzer vornimmt, sondern sich stets auf die (Un)Möglichkeit der wirksamen Sühne unter der alten Heilsordnung (vgl. 10,16f.) bezieht.170 Das (zumindest irdische) Bestehen des mosaischen Gesetzes ist an anderer Stelle ja gerade Voraussetzung für seine Argumentation (7,12–16). Hebr ringt mit harten theologischen Bandagen um die Soteriologie, motiviert durch ein durch und durch pastorales Anliegen. Der Saldo des Kultgesetzes bleibt trotz alledem negativ (10,1[–4]): Es kann diejenigen, die dieser (alten) Heilsordnung folgen, nicht vollkommen machen (οὐδέποτε δύναται […] τελειῶσαι). Damit wird das Urteil über die Nutzlosigkeit des Gesetzes in 7,18f. wiederholt, aber auf sein soteriologisches Ziel hin konkretisiert.171 Mit seinem kontinuierlichen Vollzug der Sündopfer liefert das WEISS, Hebräer, 490. LUTHER, Hebräerbrief, 146. 169 Vgl. W EISS, Hebräer, 497f.; H EGERMANN, Hebräer, 191f. 170 Vgl. H AYS, Covenantialism, 161; FREY, διαθήκη, 278f. 171 Vgl. G RÄSSER, Hebräer II, 204; W EISS, Hebräer, 500. 167 168
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Gesetz sogar selbst den Beweis. Hätte es sein Ziel, die soteriologische Vervollkommnung, erreicht, hätte es sich ja längst selbst abgeschafft (10,2f.; vgl. 9,8f.). Und doch ist gerade diese Nutzlosigkeit des Gesetzes von Nutzen. Es drückt die Sehnsucht der Menschen nach Sündenreinigung aus und erinnert jene beständig an deren Bedürftigkeit. Wie bei Paulus das Gesetz als „Zuchtmeister“ (παιδαγωγός) den Menschen hin zur Gerechtigkeit im Glauben an Christus treibt (Gal 3,24f.), so erinnert (ἀνάμνησις) im Hebr das Opfern nach dem Gesetz beständig an die Reinigung durch Christus (10,3).172 Ob eine solche Charakterisierung hinsichtlich der notwendigen Wiederholung der Reinigung im Blick auf das alttestamentliche Zeugnis möglich ist,173 kann bestritten werden.174 Seine konkrete Anwendung auf Christus bzw. die durch ihn erfolgte Vollendung ist aber ohnehin ein Schritt, der erst aus der christologischen Perspektive heraus erfolgen kann. Hebr nimmt diese Perspektive nicht nur ein, sondern lässt sie sogar selbst zu Wort kommen. Mit Zitaten aus Ps 39,7–9LXX wendet sich der Sohn an Gott den Vater und legt vor ihm Rechenschaft über sein Wirken in der Welt ab (10,5–9a).175 Hier wird der Zusammenhang von äußeren Schlachtopfern und innerem Gehorsam als wahrem Opfer deutlich. Nicht an jenen hat Gott Wohlgefallen (10,5.7), sondern allein an der treuen Erfüllung seines Willens (10,7b.9a), die sich im Leben und Sterben Jesu als der gehorsame Gottesdienst schlechthin verwirklicht.176 Obwohl Hebr einen für ihn gültigen Sinn der letztlich nutzlosen Opfer und deren Stiftung durch Gott gerade eben noch einräumen konnte, wirkt die Zäsur in 10,(4)5–8 nun doch stärker, ja fast schon widersprüchlich zum Vorangegangenen.177 Entsprechen die alttestamentlichen Opfer nun dem Willen Gottes 172 Ähnlich B ACKHAUS, Hebräerbrief, 351, hier aber mit Bezug auf Röm 10,4. So hat das Opfern dann, wie das Gesetz bei Paulus, auch keine entlastende, befreiende, sondern eine belastende, anklagende Wirkung (vgl. WEISS, Hebräer, 504). 173 Vgl. K OESTER, Hebrews, 436, Anm. 313 Lit. 174 So z. B. B RAUN, Hebräer, 291f. Für G RÄSSER, Hebräer II, 211, Anm. 89 verfehle Hebr sogar die atl. Sühnevorstellung in Gänze, wobei er sich dabei auch auf deren Interpretation durch Gese beruft. Denn „[...] die wiederholten Opfer belegen nicht die Schwäche des Instituts, sondern die Schwäche der Kultteilnehmer“ (GRÄSSER, Hebräer II, 211). Diese Beobachtung hat ihre Berechtigung, ist aber dennoch zu einseitig verstanden (s. o. zum Verhältnis von Schwäche des Instituts und Schwäche der Menschen ab S. 66). 175 Vgl. LEWICKI, Wort, 44–47. THEOBALD, Wort, 773f. unterstreicht völlig richtig, dass es sich hierbei um „metageschichtliche Worte“ handelt, die dem „präexistenten Sohn[...]“ vom Hebr in den Mund gelegt werden, um dessen irdisches Geschehen „als die Eröffnung definitiven Heils“ zu thematisieren. Die Psalmworte knüpfen im Kontext des Hebr an die verheißene διαθήκη aus Jer 31(38LXX) an. Indem Hebr so die Sündenvergebung durch das wahre Opfer Jesu als realisiert versteht, stellt er damit nun auch Jer 31(38LXX) unmissverständlich in eine christologische Perspektive (vgl. GUTHRIE, Hebrews, 977). 176 Vgl. S. 92, Anm. 150. Damit steht dann auch im Kontext des Vergleichs das „aber einen Leib hast du mir gegeben“ (σῶμα δὲ κατηρτίσω μοι) Jesu den vielen Leibern der geschlachteten Opfertiere gegenüber. 177 Das kategorische Urteil über die Unmöglichkeit der Sündenwegnahme durch Tierblut in 10,4 ist eine der härtesten Aussagen über den atl. Kult im Hebr (vgl. WEISS, Hebräer,
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oder nicht? Die Antwort lautet erneut Ja und Nein, muss aber in einem sachlichen Ganzen betrachtet werden.178 Gott hat die (Notwendigkeit der) Sündopfer tatsächlich nicht gewollt, weil sie in seiner Schöpfung des Menschen hin zu einer ungetrübten Beziehung eigentlich keine Verwendung finden. Ihre Notwendigkeit ergibt sich erst aus dem Ungehorsam des Menschen gegenüber Gott. Insofern entstammen sie wiederum Gottes Willen als gnädige, ja treue Antwort auf die menschliche Untreue.179 Es bleibt ein heils- bzw. offenbarungsgeschichtliches Paradoxon des inneren biblischen Gesamtzusammenhangs, der von der Geschichte Gottes mit und in dieser Welt zeugt. Die Spannung ist aus menschlicher Perspektive nicht zu lösen. Das Heilsgeschehen im Sohn ist die Antwort auf den (für Gott nicht unvorhergesehenen) Fall der Schöpfung und zugleich ist diese von Beginn an auf dieses Heilsgeschehen hin geschaffen worden (1,2f.; vgl. Röm 11,36; 1 Kor 8,6 Kol 1,15; Eph 1,4.10; 3,8f.; 1 Petr 1,20; Offb 13,8). Innerhalb dieser Spannung hat die erste Heilsordnung für Hebr ihren heilsgeschichtlichen Wirkraum (vgl. τόπος in 8,7), jetzt aber hat Gott in seinem Sohn in einem einzigartigen (ἐφάπαξ; 10,10) theologischen und (heils-)geschichtlichen Ereignis gesprochen (1,1–4).180 Damit gilt offenbarungsgeschichtlich, was Hebr als vorfindliches Resultat des letzten Wortes Gottes erblickt: „Er nimmt das Erste weg, um das Zweite aufzurichten.“ (10,9b). Durch sein Reden im Sohn hat Gott eine Heilsordnung gestiftet, die den Menschen in seinem Gewissen reinigt, ihn dadurch heiligt und so vollkommen macht (10,10). Der Heilige Geist bezeugt der Gemeinde (vgl. das ekklesiale ἡμῖν in 10,10.15) die sühnende Wirksamkeit dieser Heilsordnung (10,14–17).181 Das 505f.). Die sich anschließende midraschartigen Schriftauslegung von Ps 39,7–9LXX soll dieses Urteil (erneut) als von Gott selbst gefällt aufzeigen; besonders 10,8 (vgl. Ps 39,7LXX): „Vorher sagt er [Jesus; Anm. A. H.]: ‚Schlachtopfer und Opfergaben und Brandopfer und Sündopfer hast du [Gott, Anm. A. H.] nicht gewollt, auch kein Wohlgefallen daran gefunden‘“. 178 Ähnlich wie im Blick auf den ersten Bund selbst (8,7–13); s. o. ab S. 66. 179 Insofern sind die harten Aussagen in 10,5–10 kein Widerspruch zu sonstigen Aussagen im Hebr. 180 Vgl. LANE, Hebrews II, 267. Ähnlich K OESTER, Hebrews, 439, der dem möglichen Vorwurf, Gott würde sich selbst durch die Absage an sein (!) Gesetz untreu werden, mit dem grundsätzlichen Willen Gottes über die Reinigung des Menschen zur Ermöglichung der Gottesbeziehung begegnet. Der Wille habe sich nicht verändert, sondern durch die Verwirklichung in Christus gerade durchgesetzt. 181 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 281. Damit hat das Geschehen in Christus nicht nur rückblickende (bzw. abschließende) Bedeutung für den atl. Opferkult, sondern fordert den Einzelnen kompromisslos, aber nicht gnadenlos heraus, die Konsequenzen dieser Realität für sich selbst ernst zu nehmen. Denn von diesem Zeugnis des Heiligen Geistes her erklärt sich „die rigorose Ethik des Hebr: Diese Ethik beruht auf einem Geschenk Gottes, der Amnestie früherer Schuld und der Verwandlung des Herzens im neuen Bund. Insofern bildet sie trotz ihrer Härte eine Ethik der Gabe, nicht gepflichteter Leistung.“ (KARRER, Hebräer II, 201; vgl. HEGERMANN, Hebräer, 198; STROBEL, Hebräer, 122; BACKHAUS, Hebräerbrief, 347; Cockerill, Hebrews, 459f.).
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Alte ist durch die Verwirklichung seines eigenen Zieles durch das Neue hinfällig geworden (10,18).
1.4 Zwischenbilanz: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ Aus dem Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung in Hebr 4–10 geht die neue aus Sicht des Hebr eindeutig als triumphierender Sieger hervor. Als Sohn Gottes ist Jesus auf einzigartige Weise ein vollkommen überlegener Hohepriester sui generis nach der Ordnung Melchisedeks. Obwohl er den levitischen Hohepriestern in deren Berufung, Funktion und Wesen entspricht, strahlt sein Licht in allen Belangen über deren Vermögen hinaus und verweist sie in den Schatten seiner end-, voll- und letztgültigen Heilsvermittlung. Während jene am irdischen Heiligtum mit ihrem vorläufigen Gottesdienst ein Zeugnis für die vonseiten des Menschen schier unüberwindliche Trennung zwischen irdischer und himmlischer Wirklichkeit sind, ist Jesus durch die Hingabe seines gehorsamen Lebens am Kreuz in die unmittelbare Gegenwart Gottes selbst getreten. Hier hat er ein Opfer erbracht, welches das Gewissen der Menschen vollkommen reinigt, sodass sie wiederum selbst frei von Angst und Zweifel vor Gottes Thron treten können. Durch dieses Heilsgeschehen hat Jesus eine von Gott bereits verheißene „bessere“ Heilsordnung realisiert, deren eschatologische Verwirklichung für die verbürgt ist, die sich treu an das Bekenntnis zu seiner Mittlerschaft halten. Obwohl das Alte zeitlich noch andauert, ist sein Urteil von Gott bereits wirkmächtig ausgesprochen und in der Errichtung des Neuen, das den Sinn und Zweck des Alten wirksam erfüllt, vollzogen. So können beide Heilsordnungen nicht nebeneinander für den Menschen soteriologische Gültigkeit beanspruchen. Doch nicht Ablehnung, Streitsucht oder gar Hass sind es, was den Verfasser des Hebr zu so einem theologischen Schwergewichtskampf mit der levitischen Kultordnung treibt. Wenn man es über die langen Strecken seiner Gedanken auch zuweilen vergessen mag, es ist der Trost und die beharrliche Ermutigung seiner Adressaten zur Glaubenstreue, die ihn zu seinem λόγος τῆς παρακλήσεως (13,22) motivieren. Weil diese in derselben Gefahr des Abfalls in die Untreue gegenüber Gott stehen wie die Wüstengeneration, sollen sie ja gerade auf diesen „unseren großen Hohepriester“ (vgl. 4,14a) mit Zuversicht blicken. Dieser Weckruf stand am Anfang des Vergleichs und der gleiche Ruf beschließt ihn (10,19–22).182 Jesus ist ihr „fester Anker für die Seele“ (6,19) – quod erat demonstrandum. So soll sich bei den Adressaten nicht Groll 182 Vgl. die sprachlichen Verbindungen von 4,14 und 10,19.21f.: Die Gemeinde hat nun (ἔχοντες οὖν) einen großen (Hohe-)Priester (ἀρχιερεὺς μέγας/ἱερεὺς μεγάς), entsprechend kann sie mit Zuversicht (παρρησία) hinzutreten (προσέρχομαι) zu Gott (vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 521).
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gegenüber jenen, die sich (noch immer) an die alte Heilsordnung halten, regen, sondern Dankbarkeit und Hoffnung im Blick auf die eigene irdische Pilgerschaft (10,22f.) aufgrund des großen, gnädigen Handelns Gottes an ihnen. Diese Hoffnung soll sich gerade auch in der gegenseitigen Erbauung, d. h. im Lebensvollzug, äußern (vgl. 10,24f.).183 Und doch lässt das Urteil über die alte Heilsordnung aufgeschlossene Leser damals wie heute innerlich nicht unberührt. Sei es auf der Suche nach eigener Identität oder bei der Anschauung des frühjüdischen Opferkults am konkreten Ort bzw. (schon) verankert im individuellen bzw. kollektiven Gedächtnis. Sei es aus persönlicher Betroffenheit in der Beziehung zu den „Anderen“ oder im reinen Nachdenken über Gottes gerechtem Wesen. Obwohl vom Hebr selbst nicht gestellt, drängt sich eine Frage auf: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ Es ist dieselbe Frage, die Paulus ausdrücklich stellt (Röm 11,1), nachdem er die Nutzlosigkeit aller Bemühungen des Menschen, ein positives Urteil über sein Leben aus eigener Kraft zu erzielen, in den ersten acht Kapiteln seines Römerbriefes kompromisslos dargelegt hat. Auch Paulus kommt am Ende seiner Ausführungen zu einem fulminanten Lobpreis der einzigartigen Liebe Gottes, die er in seinem Sohn Jesus Christus vollgültig erwiesen hat (Röm 8). Aber bei aller Dankbarkeit für die eigene Rettung bleibt ihm ein fader Beigeschmack. „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ (Röm 9,14a). Mit der gleichen schmerzhaften Aporie sind die Leser des Hebr konfrontiert, verschließen sie nicht, aus einer wie auch immer motivierten negativer Haltung gegenüber der jüdischen Identität, ihre Augen davor. Paulus tut dies wegen der schmerzerfüllten Sorge um seine eigenen Verwandten im Angesicht der für ihn alles bedeutenden Christusoffenbarung gerade nicht (Röm 9,3f.). Vielmehr ringt er um eine positive Perspektive für ihre eschatologische Zukunft. An dieser Stelle setzt das eigentliche Interesse meiner Arbeit an. Denn auch Hebr lässt sich nicht – anders als manche seiner späteren Rezipienten – dazu verleiten, die Hoffnung der leiblichen Nachkommen Abrahams so ohne weiteres zu marginalisieren. Er mag dabei auch subtiler vorgehen als Paulus. Denn jenen gilt der gleiche Zu- und Anspruch Gottes wie der christlichen Gemeinde, also letztlich jedem Menschen. Interessanterweise ist es derselbe Zu- und Anspruch, den Paulus für den Menschen allgemein, sei er Jude oder Grieche, formuliert: „Mein Gerechter wird aus Glauben leben.“ (10,38a = Hab 2,4bLXX; vgl. Röm 1,17; Gal 3,11).184 Gott findet an demjenigen keinen Gefallen, der sich von ihm zurückzieht (10,38b), doch wer im Glauben treu bleibt, glaubt 183 Gerade weil die Zuwendung Gottes so groß ist, kann oder besser muss Hebr auch mit drastischen Warnungen hinsichtlich der Gefahr des (erneuten) Ungehorsams auffahren (10,26–31). 184 Zur Diskussion um den Textbestand des Zitats im Hebr hinsichtlich der LXX vgl. Ellingworth, Hebrews, 535–537 und umfassend RADU, Gheorghita: The Role of the Septuagint in Hebrews, WUNT II 160, Tübingen, 2003, bes. 189–224.
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„zur Errettung der Seele“ (10,39). So ist es auch im Hebr (wie sonst im NT) letztlich der Glaube, an dem sich alle soteriologische Hoffnung eschatologisch entscheidet (vgl. 3,6; 11,6.13–16).185 Das gilt auch für diejenigen, die ihren Gottesdienst unter der „schwindenden ersten Heilsordnung“ (8,13) verrichten, wie Hebr anschließend in Kap. 11 anhand der „Glaubenszeugen“ unter der alten Heilsordnung unermüdlich aufzuweisen sucht. Für das Verhältnis von jüdischer und christlicher Identität aus Sicht des Hebr und der Frage nach einer (positiven) eschatologischen Perspektive für Israel muss daher zuerst geklärt werden, wer hier wie und woran zur „Errettung der Seele“ glaubt.
185 Vgl. W EISS, Hebräer, 550; K OESTER, Hebrews, 468; H EGERMANN, Hebräer, 220f. Dementsprechend ist der Aufruf zur Glaubenstreue das „pastorale Grundanliegen“ (WEISS, Hebräer, 549) des Hebr (vgl. 3,1.6.14; 4,14; 10,23).
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes Für die (Be-)Deutung des neutestamentlichen Glaubensverständnisses ist Hebr in der älteren Forschung recht wenig beachtet und in der jüngeren deutschsprachigen Forschung im Gegenüber zum paulinischen Glaubenskonzept oft als unzureichend kritisiert worden. Seit ein paar Jahrzehnten mehren sich nun aber die Stimmen und Publikationen, die ihm sein eigenes Gewicht neben und im Austausch mit den anderen neutestamentlichen Zeugen zusprechen.1 Hebr reflektiert seine Pisteologie im Mehrklang der theologischen Stimmen im frühen Christentum. In Kontinuität zu frühjüdisch-alttestamentlichen Vorstellungen2 entfaltet er seine „Glaubenslehre“3 unter Verarbeitung hellenistisch-philosophischer Ausdrücke.4 Obwohl Hebr von unterschiedlichen Aus1 So ist zum Glaubenskonzept im Hebräerbrief mittlerweile zahlreich gearbeitet worden, vgl. u. a. grundlegend: SCHLATTER, Glaube; GRÄSSER; (dazu zu Recht kritisch) DAUTZENBERG, Glaube; LÜHRMANN, Glaube; WEISS, Hebräer, 564–571; SÖDING, Zuversicht; ferner ROSE, Wolke. Einen guten forschungsgeschichtlichen Überblick zum Vergleich des Glaubenskonzepts im Hebr mit dem des Paulus bietet SCHLIESSER, Glauben. 2 Die von Martin Buber vorgenommene klassische Gegenüberstellung einer (hebräischen) jüd.-atl. Glaubensweise als ein vom Vertrauen geprägter Lebensvollzug ( )ֱאמוָּנהzu einer hellenistisch vorbestimmten, insbesondere durch Paulus eingeführten πίστις als reine Anerkennung eines Wahrheitsgehalts (vgl. BUBER, Martin: Zwei Glaubensweisen, in: Ders.: Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, München 1962, 651–782), konnte vor den Einsichten der jüngeren Forschung über das Verhältnis von Judentum und Hellenismus und damit verbunden über das Verhältnis von hebräischer Bibel und ihrer griechischen Übersetzung (LXX) zumindest in dieser Schärfe nicht bestehen (vgl. zur Kritik an Buber LOHSE, Emuna). 3 Hebr ist die einzige ntl. Schrift, die den Glauben nicht „nur“ im Blick auf seine soteriologische Notwendigkeit oder auf seine fruchtbringende Wirkweise behandelt (so freilich gewichtig und zentral v. a. bei Paulus und im Johannesevangelium), sondern sich dezidiert einer eigenen Wesensbestimmung des christlichen Glaubens widmet (11,1–3). So kann für den Hebr mit Recht von einer „Glaubenslehre“ bzw. einer „Theologie des Glaubens“ gesprochen werden (vgl. KUSS, Grundgedanke, 257; GRÄSSER, Hebräerbrief, 90; WEISS, Hebräer, 571; LÜHRMANN, Glaube, 70; SÖDING, Zuversicht, 215). 4 Hebr zeigt dabei bekanntlich auch eine Nähe zum Glaubensverständnis bei Philo (vgl. SPICQ, Hébreux I, 39–91; BRAUN, Hebräer, 107f.; WEISS, Hebräer, 567f.), wobei dieser aber gerade nicht negativ als der Denker, der die atl.-jüd. Überlieferung an den Hellenismus verraten habe, missverstanden werden sollte. Philo reiht sich in die prozesshafte und wechselseitige Begegnung beider Gedankenwelten ein, wenn auch als Pionier einer konsequenten Harmonisierung (vgl. LÜHRMANN, Glaube, 71; zu Philos Glaubensverständnis generell BÖHM, Martina: Zum Glaubensverständnis des Philo von Alexandrien. Weisheitliche Theologie in der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr., in: Frey, Jörg/Schliesser, Benjamin/Ueberschaer, Nadine (Hg.): Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in
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drucksformen des Glaubens, wie z. B. Geduld (ὑπομονή; 10,36; 12,1), Standhaftigkeit (ὑπόστασις; 3,14), Hoffnung (ἐλπίς; 3,6; 6,11) oder Freimütigkeit/Zuversicht (παρρησία; 3,6; 4,16; 10,35) sprechen kann, ist die Grundbezeichnung für das, was im Deutschen i. d. R. mit „Glauben“ wiedergegeben wird, wie auch sonst im neutestamentlichen Kontext, ἡ πίστις. Die Belege sind nicht allein auf Kap. 11 beschränkt, sondern ziehen sich durch den ganzen Brief, wenngleich sich alle in überwiegend paränetischen oder vielmehr parakletischen Abschnitten finden.5 Den Gipfel seiner Glaubenslehre erklimmt Hebr unzweifelhaft in seiner einzigartigen „Glaubensdefinition“ in 11,1. Doch dieser Gipfel steht nicht für sich allein. Die intensive Entfaltung des Glaubens in Kap. 11 ergibt sich für Hebr, wie so oft, aus der Vorgabe der Schrift, genauer, aus der Ansprache Gottes durch die Schrift. Wenn nach 10,38 mit Hab 2,4LXX der Gerechte „aus Glauben“ (ἐκ πίστεως) im eschatologischen Gericht bestehen und in die himmlische Ruhe eingehen wird (10,39; vgl. 11,6), so stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Wesen dieses Glaubens, der sich Hebr im darauffolgenden Kapitel umfassend widmet.6 Damit bleiben alle folgenden Beispiele und Ausführungen für πίστις immer auch zurückbezogen auf den parakletischen Aufruf zur πίστις, den Hebr in der alttestamentlichen Schrift in Form der LXX selbst gegeben sieht. Dies bildet das wesentliche Koordinatensystem für das Glaubensverständnis im Hebr,7 was sich auch in seiner inhaltlichen Füllung von πίστις aufzeigen lässt.
2.1 Der Glaube als Beziehungsgeschehen Die wichtigste Ressource für die Pisteologie des Hebr, die LXX, verwendet den griechischen Wortstamm πιστ- mit auffallender Regelmäßigkeit für die hebräische Wurzel אמן, ohne die einzelnen Bedeutungsnuancen der jeweiligen seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, WUNT 373, Tübingen 2017, 159– 181). Das Verhältnis von Philo und Hebr ist keines der gegen- oder einseitigen Abhängigkeit, vielmehr „fordert die sachliche Affinität eine traditionsgeschichtliche Erklärung“ (SÖDING, Zuversicht, 238, Anm. 94; vgl. auch LINDSAY, Pistis, 168f.). Dass die atl.-frühjüd. Vorstellung auch weitestgehend hinter 11,1 steht, zeigen ROSE, Wolke, 135–145 und BETZ, Firmness. Letzterer begründet zudem ausführlich, warum dabei das Prophetenwort aus Jes 28,16 den traditionsgeschichtlichen Hintergrund für Hebr bietet. 5 Neben den 26 Belegen für den Wortstamm πιστ- in Kap. 11 findet sich das Substantiv πίστις noch achtmal (4,2; 6,1;.12; 10,22.38.39; 12,2; 13,7), das Verb πιστεύειν noch einmal (4,3) und das Adjektiv πιστός viermal (2,17; 3,2.5; 10,23). Das semantische Gegenstück ἀπιστία (Unglaube) wird in 3,12.19 als negatives Charakteristikum für die Wüstengeneration verwendet. 6 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 92. 7 Vgl. G RÄSSER, Glaube, 79–85.
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hebräischen Derivate streng zu unterscheiden. Deren gesamtes Bedeutungsspektrum überträgt sie in ihre Denk- und Verstehenswelt.8 Dahinter steckt mehr als eine bloße Übersetzungsleistung, denn mit πιστ- bedienen sich die Übersetzer wohl bewusst eines Wortstammes, der in der griechischen Sprachtradition gerade keine dezidiert religiöse Entsprechung zur auf Gott hin bezogenen Bedeutung von אמןhat. Seine inhaltliche Füllung erhält dieser so von der zugrunde liegenden alttestamentlich-frühjüdischen Überlieferung.9 2.1.1 Der Glaube im Alten Testament In der hebräischen Bibel gibt es verschiedene Ausdrücke für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott, wobei speziell אמןim Hifil den spezifischen Gottesglauben als Zu- oder Vertrauenshaltung bezeichnen kann (vgl. Gen 15,6; Ex 14,31; Jona 3,5; negativ als Unglauben in Num 14,11; Dtn 1,32).10 אמןim Hifil hat keine ausschließlich religiöse Konnotation. Es kann mit verschiedenen Präpositionen konstruiert werden und richtet sich im weitesten Sinne auf etwas, auf das man sich emotional und kognitiv verlassen Vgl. UEBERSCHAER, Πίστις, 94f. LÜHRMANN, Pistis, 24f. Πίστις und πιστεύειν werden nach Lührmann für das Griechisch der LXX und für die dadurch geprägte Lebenswelt zu „Bedeutungslehnwörtern, [...] da sie nun in diesem Zusammenhang ihren Inhalt aus einer anderssprachigen Tradition erhalten“. Zur Frage nach dem Hintergrund von πιστ- vgl. LÜHRMANN, Pistis, 21–23 und daran anschließend LOHSE, Emuna, 148–151. Zum literargeschichtlichen Kontext von πιστ- vor und während der Entstehungszeit der LXX vgl. UEBERSCHAER, Πίστις, 95–102. Dieser zeigt, dass der πιστ-Stamm in der griechischen Literatur im Bedeutungsspektrum von „treu“ und „Vertrauen“ anzusiedeln ist, wobei eine religiöse Konnotation erst durch die Verbindung von πιστ- und ( אמןHifil) zumindest explizit eintrat (vgl. UEBERSCHAER, Πίστις, 102f.). Im Falle des Nomens ֱאמוָּנהtritt im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung hin zu einem Beziehungswort erst deutlich durch die Übertragung mit πίστις ein (vgl. UEBERSCHAER, Πίστις, 103), sodass Bubers starre Abgrenzung von relationalem (jüd.) und rationalem (hell.christl.) Glaubensverständnis hier völlig ins Leere greift. Aufgrund der Vielschichtigkeit des Bedeutungsspektrums von πίστις sollte die berechtigte Warnung bei HAACKER, Art. Glaube II, 290 daher stets mitbedacht werden: „Man wird künftig die verschiedenen Ausdrucksweisen im Reden vom Glauben strenger unterscheiden und auf ihre je eigenen Voraussetzungen in der griechischen Allgemeinsprache oder in der spezifisch jüdisch-christlichen Tradition befragen müssen.“ Zu den Konnotationen von πίστις im griech.-röm. Sprach- und Kulturraum vgl. MORGAN, Teresa: Roman Faith and Christian Faith. Pistis and Fides in the Early Roman Empire and Early Churches, Oxford 2015; DIES.: Πίστις Between Theology, Ethics, Ecclesiology, and Eschatology, in: Frey, Jörg/Schliesser, Benjamin/Ueberschaer, Nadine (Hg.): Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistischrömischen Umwelt, WUNT 373, Tübingen 2017, 275–320; HIRSCH-LUIPOLD, Rainer: Religiöse Tradition und individueller Glaube. Πίστις und πιστεύειν bei Plutarch als Hintergrund zum neutestamentlichen Glaubensverständnis, in: Frey, Jörg/Schliesser, Benjamin/Ueberschaer, Nadine (Hg.): Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, WUNT 373, Tübingen 2017, 251– 273. 10 Vgl. K LEIN, Glauben, 53f.; umfassend R UDNIG-ZELT, Glaube. 8
9 Vgl.
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kann. Dem entspricht die Verwendung im Nifal für etwas, das sich diesem „Sich-Verlassen“ als selbst verlässlich erweist. Als Nomen ֱאמוָּנהbeschreibt es diese „Beständigkeit“ als Eigenschaft bzw. Verhalten. Hier ist es zunächst kein relationaler Ausdruck, sondern blickt völlig auf sein Subjekt.11 Wird אמןim Hifil religiös verwendet, ist seine Bedeutung niemals als allgemeinmenschliches Phänomen einer wie auch immer bestimmten Glaubenshaltung zu verstehen, sondern „nur im Zusammenhang mit Jahwe, dem Gott Israels, möglich“12.13 Dabei werden viele der für spätere neutestamentliche bzw. christliche Debatten wichtige Fragestellungen bereits durch die alttestamentlichen Zeugnisse selbst angesprochen: die möglicherweise aus menschlicher Perspektive erscheinende Fragwürdigkeit der Treue Gottes besonders in Leidenssituationen, das Verhältnis von Glauben und Wissen, das Verhältnis von guten Werken und Glauben sowie die Frage nach dem Ermöglichungsgrund des Glaubens als menschliche Leistung oder göttliches Geschenk.14 Im frühjüdisch-alttestamentlichen Glaubenshorizont ist also ein relationales Glaubensverständnis bestimmend.15 Stets bleibt hier der Glaube und damit der Glaubende auf Gott JHWH bezogen. Es ist Gott, der sich durch die tatkräftige Verwirklichung seiner Verheißungen als vertrauenswürdig erwiesen hat und immer wieder neu erweist. Der glaubende Mensch antwortet, nachahmend als „imitatio Dei“16, auf Gottes Zuverlässigkeit, indem er sich ihm gegenüber treu und gehorsam verhält, quasi als sein bestätigendes „Amen“ ( ַאֵמןals Adverb von )אמן.17 So ist Glaube ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch.18 Im Bedeutungsspektrum von – אמןund damit übertragen von πίστις – zeigt sich, was dieses Beziehungsgeschehen im alttestamentlich-frühjüdischen Vgl. UEBERSCHAER, Πίστις, 87–92. RUDNIG-ZELT, Glaube, 350. 13 Es gibt im AT streng genommen keinen positiven „Glauben“ an Götter außer JHWH, sondern nur den Unglauben gegenüber JHWH. „Wer an andere Götter ‚glaubt‘, glaubt eben nicht.“ (WILDBERGER, Glauben, 159). 14 Vgl. R UDNIG-ZELT, Glaube, 351–360. So sind derartige Diskurse mit entsprechender Kategorienbildung nicht erst ausschließlich das Resultat einer späteren Hellenisierung, sodass Rudnig-Zelt für das AT von einer „hoch reflektierte[n] Theologie des Glaubens“ (RUDNIG-ZELT, Glaube, 351) spricht. 15 Dieses Glaubenskonzept ist ganzheitlich zu verstehen. Damit sollte vermieden werden, die relationale Dimension gegen eine rationale Dimension des Glaubens auszuspielen. Der atl. Glaube ist ganzheitlich, insofern die Ganzheit des Menschen sein Denken gerade mit einschließt und zu Gott in Beziehung setzt. Eine allzu rasche Kategorisierung dann auch im Blick auf das Glaubensverständnis im Hebr, wonach dessen rationaler Zug, der sich im philosophischen Vokabular äußert (vgl. 11,1), pauschal auf einen einseitig griech.-hell. Einfluss (zusätzlich zur oder sogar entgegen der atl.-jüd. Tradition) zurückzuführen sei, muss in Anbetracht diese Ergebnisse mit Vorsicht bedacht werden. 16 H IEKE, Glauben, 3. 17 Vgl. H IEKE, Glauben, 3–5. 18 Insofern ist die Verwendung des deutschen „glauben“ durchaus zutreffend, bezeichnet es seinem indogermanischen Ursprung nach ein „begehren“, „liebhaben“ bzw. „für lieb erklären“ oder auch „für wertvoll halten“ (vgl. GRIMM/GRIMM, DWb 7, 7820f.). 11 12
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Kontext ausmacht: „das Versprechen, zu einer Sache oder Person in Tat und Wahrheit zu stehen, die Treue Gottes nachzuahmen, auf Gott zu vertrauen und Gottes Boten und Zeugen zu glauben, sich in Gott festzumachen und Gottes Liebe zu trauen“19. Dies könnte so wohl auch ohne weiteres für Hebr formuliert werden. 2.1.2 Der Glaube im Hebräerbrief Hebr knüpft an das relationale Glaubensverständnis im Alten Testament an. Glaube ist ein dynamisches Beziehungsgeschehen: Der Glaubende wendet sich weg von den toten Werken, hin zum lebendigen Gott (9,14), so wie der Unglaube umgekehrt der Abfall von Gott ist (3,12).20 Diese Glaubensbewegung gehört für Hebr zum fundamentalen Bestand des Christseins (6,1).21 Stehen die toten Werke (νεκρὰ ἔργα) in 9,14 dem Gottesdienst (τὸ λατρεύειν) für den lebendigen Gott (θεὸς ζῶν) gegenüber – und bezeichnen somit die Hinwendung zum Götzendienst –, ist ihr positiver Gegenpol in 6,1 der Glaube (πίστις) an den (lebendigen) Gott.22 Der Glauben an Gott entspricht zunächst einer aktiven Hinwendung zu Gott, wobei sich diese Hinwendung weder nur als Bekehrungsbzw. Umkehrmoment23 noch nur als einseitige Verehrung bzw. Liebesbekundung äußert. Vielmehr muss er (auch) in einem treuen ganzheitlichen Lebensvollzug sichtbar werden, der u. a. von Liebeswerken ausgeformt wird (3,13; 6,10–12; 10,24; 13,1).24 Auch hier ist Glaube ein relationales Konzept, das eine ethische Dimension weder ausschließt,25 noch auf eine solche zu reduzieren ist.26 HIEKE, Glauben, 1. S. o. ab S. 94. 21 Damit stellt sich Hebr in den Kontext „der urchristlichen (vgl. Mk 1,15; 1 Thess 1,8– 10; Apg 17,30f.; 20,21; 1 Clem 7,4–12,8) und frühjüdischen Missionspredigt (vgl. JosAs 54,5–10; 4 Makk 15,24; 16,22; Philo, Abr 268.271.273)“ (SÖDING, Zuversicht, 220; vgl. LÖHR, Umkehr, 139–148). 22 Vgl. LÖHR, Umkehr, 149. 23 Die Umkehr (μετάνοια) korreliert mit dem Glauben (πίστις), ist aber nicht einfach mit diesem gleichzusetzen. Sie drückt die Bewegung weg von den toten Werken hin zum wahren Gottesdienst aus. Die Umkehr hat den Glauben als Ziel und geschieht freilich schon gleichzeitig in ihm (vgl. LÖHR, Umkehr, 151, Anm. 93). 24 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 220. R ISSI, Theologie, 104 spricht vom Glauben ganzheitlich als „die Grundbefindlichkeit der christlichen Existenz“. 25 Dem scheint die starke Kritik des Hebr an der Thora zu widersprechen. Wie bereits bemerkt (s. o. II.1.3), richtet sich diese aber ausschließlich auf das Gesetz als Kultordnung. Unberührt bleiben der „ethisch-präskriptive Aspekt der Thora und auch die für Paulus so wesentliche Anklage- und Straffunktion“ (FREY, διαθήκη, 302). 26 K ÜMMEL, Glaube, 74 versteht den Glauben im Hebr als rein ethische Konzeption (im gegenüber zur christologischen Soteriologie) und damit als „gefährliches Abrücken von dem bei Jesus, Paulus und Johannes vorliegenden Glaubensverständnis“. Noch deutlicher wird Siegfried Schulz, der in seiner völlig einseitigen, fast schon angewidert wirkenden Einschätzung der frühkatholischen „Symptome [sic!]“ (SCHULZ, Mitte, 258) des Hebr zu dem 19 20
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Der sich im Leben vollziehende Glaube muss sich in der Lebensrealität unweigerlich gerade trotz und in Erfahrungen der inneren Trägheit (10,25), Verunsicherung (13,9), bis hin zu äußeren Repressalien (10,32–34) „standhaft“ bewähren (3,6.14; ferner 6,18). Diese Bewährung zeigt sich auf doppelte Weise: als Zuversicht (παρρησία) aufgrund dessen, was Gott getan hat (3,6; 4,16; 10,19; 10,35), und als Geduld (ὑπομονή) im Blick auf das, was Gott (eschatologisch) tun wird (10,36; 12,1).27 Geschieht dies nicht, d. h. der sich durch die Anfechtung einstellenden Versuchung wird nachgegangen, ist dies ein „Zurückweichen“ (ὑποστολή; 10,39) von Gott.28 Ohne Vergebung führt diese Bewegungsrichtung aber letztlich – ganz im Sinne eines Beziehungsgeschehens – zur Abwendung Gottes und damit zum Verderben des Menschen (10,38f.). Der Glaube ist so zugleich die conditio sine qua non der Gottesbeziehung des Menschen selbst (11,6). Damit korreliert das relationale Glaubensverständnis im Hebr mit dem von der Sünde als Untreue gegenüber Gott. Deren Folge ist der Verlust der Gottesgemeinschaft.29 Daran wird auch deutlich, dass beide Bestimmungen im Hebr – Glaube und Unglaube (Sünde) – in der Tradition der frühjüdisch-alttestamentlichen Gedankenwelt zu verorten sind. Wird die Glaubensbeziehung zu Gott gestört und somit das Gewissen des Menschen belastet, braucht es nach deren Verständnis eine entsprechende Reinigung, um die Beziehung (wieder)her-zustellen. Dies spiegelt sich auch in der Gegenüberstellung von „toten Werken/Götzendienst“ und „Glauben/wahrem Gottesdienst“ im Hebr wider (6,1; 9,14). Der Ermöglichungsgrund für die Bewegung weg vom einen, hin zum anderen ist für Hebr – wie in der alttestamentlichen Überzeugung – die gnädige und unverdiente Sündenvergebung Gottes (8,10–12; 9,13f.22; 10,22; vgl. Lev 17,11; Jes 1,16; Ps 19,13; 51,4 u. ö.). Der Glaube als Beziehungsgeschehen ist demnach im Blick auf den Menschen sowohl von einer passiven – als
Schluss kommt: „Die christlichen Elemente fehlen völlig [...].“ (SCHULZ, Mitte, 261f.). Dagegen hatte GRÄSSER, Glaube, 219 dem Hebr zumindest noch das genötigte, aber honorable Bemühen um eine bewusste ethisierende Umformung des Glaubensverständnisses der ersten christlichen Generation aufgrund der Parusieverzögerung zugestanden (vgl. GRÄSSER, Glaube, 219, 218f.). Dass sich diese Deutung als zu einseitig am (ebenfalls zu einseitig verstandenen) paulinischen Rechtfertigungsglauben orientiert, ist zu Recht deutlich kritisiert worden (vgl. DAUTZENBERG, Glaube), was auch (zumindest) von Gräßer selbst als berechtigt anerkannt und explizit benannt worden ist (vgl. GRÄSSER, Hebräer III, 419, Anm. 12). 27 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 223. 28 Das innere Zurückweichen von Gott kann sich dann auch äußerlich, praktisch im „Fernbleiben“ von der Versammlung derer äußern, die Gott wahrhaft dienen – für den Hebr aufgrund des sich nahenden Tages der Wiederkehr Christi ein durchaus gefährlicher Schritt (vgl. 10,25). 29 Vgl. dazu die Ausführungen zum atl. Sünden- und Sühneverständnis als Grundlage für Hebr auf S. 92f.
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Von-Gott-angesprochen-Werden – als auch von einer aktiven Seite – als AufGottes-Ansprache-Antworten – geprägt. Diese Doppelseitigkeit des Glaubens spiegelt sich auch in der eindrücklichen, aber nicht ganz einfach zu übersetzenden „Glaubensdefinition“ in 11,1 wider. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine rein abstrakte Bestimmung des Glaubens. Sie muss vielmehr als Ausdrucksform des pastoralen Grundanliegens des Hebr gelesen und im Blick auf die Situation der glaubensmüden Adressaten verstanden werden.30 Da diese offensichtlich in der Gefahr des lebensgefährlichen „Zurückweichens“ stehen, bezeugt Hebr ihnen die zentrale Bedeutung des Glaubens, um stärkende Zuversicht und ausdauernde Geduld in ihnen zu wecken. Die Bestimmung des Glaubens in 11,1 erfolgt auf eine zweimal zweifache Weise. Zwei Wesensarten des Glaubens wird je ein Glaubensgegenstand zugeordnet, auf den sich die jeweilige Wesensart ausrichtet:31 Glaubensweise
Glaubensgegenstand
11,1a
ὑπόστασις
–
ἐλπιζόμενα
11,1b
ἔλεγχος
–
πράγματα οὐ βλεπόμενα
Die zweifache Glaubensweise wird durch den jeweiligen Glaubensgegenstand (notwendigerweise) hervorgerufen.32 Denn die beiden Gegenstände, auf die sich der Glaube ausrichtet, sind „das, was man hofft“ (ἐλπιζόμενα), und die „Tatsachen, die man nicht sieht“ (πράγματα οὐ βλεπόμενα). Beides bezeichnet die himmlischen oder besser göttlichen Realitäten, die dem geschöpflichen und damit begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen entzogen sind, aber nach der sich der glaubende Mensch als Geschöpf Gottes ausstreckt.33 Es sind die endzeitlichen Heilsgüter, die im Hebr mit unterschiedlichen Motiven beschrieben werden: z. B. als „Ruhe“ (4,9 u. ö.), „(bessere) himmlische Dinge“ (3,1; 6,4; 8,5; 9,23; 11,16), „himmlisches Jerusalem“ (12,22) oder „zukünftige Stadt“ (13,22).
30 So schon SCHLATTER, Glaube, 520f.; vgl. u. a. auch G RÄSSER, Hebräer III, 93f.; WEISS, Hebräer, 560; BACKHAUS, Hebräerbrief, 382f. und ausführlich ROSE, Wolke, 93–98 sowie mit Bezug auf die Situation der Adressaten SÖDING, Zuversicht, 218–220. 31 Die beiden Satzteile beschreiben zwar den einen Glauben, das aber unterscheidbar „nach zwei Momenten hin“ (GRÄSSER, Hebräer III, 94). 32 Der unauflösliche Zusammenhang zwischen Glaubenshaltung und Glaubensgegenstand ist nicht zu unterschätzen. Es geht Hebr nicht um eine abstrakte Aussage über das Glauben des Menschen an sich (an was auch immer), sondern um den Glauben, der stets einen Gottesbezug hat (vgl. HEGERMANN, Hebräer, 222f.). 33 Vgl. SCHLATTER, Glaube, 523.
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Während die ἐλπιζόμενα deutlich etwas Zukünftiges, das noch nicht besessen wird, bezeichnen und damit zeitlich bestimmt sind,34 drückt πράγματα οὐ βλεπόμενα die generelle, überzeitliche (aber auch lokale) Realität der himmlischen Wirklichkeit mit ihren Heilsgütern aus.35 Der endgültige Zugang bzw. das endgültige „Haben“ dieser immerwährenden Heilsgüter wird zugleich als etwas Zukünftiges erhofft.36 Wenn das Erhoffte eschatologisch ergriffen und damit das Nicht-Sichtbare geschaut wird, dann verschmelzen die zeitliche und die überzeitliche Dimension miteinander – die irdische Wirklichkeit bekommt Anteil an der himmlischen Wirklichkeit und die Notwendigkeit des Glaubens kommt an ihr Ende, weil der Glaube sein Ziel erreicht.37 Obwohl es im Text gerade nicht „noch nicht sichtbar“ heißt,38 wird aber gerade dieses „noch“ sachlich zur gegenwärtigen Hoffnung derer, die sich mit Zuversicht und Geduld nach der eschatologisch greifbaren Realität ausstrecken. So bestimmt das Nicht-Sichtbare als Hoffnungsgut den Glauben, der sich darauf ausrichtet: „Weil Gehofftes vor ihm [dem Glaubenden, Anm. A. H.] steht, kann er glauben; in der Hoffnung liegt die Ermöglichung des Glaubens. Weil er nicht Sichtbares vor sich hat; muß er glauben; darin liegt die Nötigung zu einem Trauen, das mit kräftiger Anspannung des Willens den Wert und die Kraft der vorgehaltenen Dinge, obgleich sie nicht sichtbar sind, dennoch bejaht.“39
Aus der Ausrichtung auf seinen Gegenstand ergibt sich so die zweifache Wesensbestimmung des Glaubens. Zunächst spricht Hebr vom Glauben als ὑπόστασις im Blick auf das von ihm Erhoffte (11,1a). Das Bedeutungsspek-
34 Die zeitliche Ausrichtung auf die Zukunft wird dann auch in den sich anschließenden atl. Glaubensbeispielen in Kap. 11 deutlich. Das, wonach sich die glaubenden Frauen und Männer Israels ausgestreckt haben, ist durchweg etwas, das zeitlich vor ihnen lag, sei es innergeschichtlich oder eschatologisch erfüllt. Dies wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Hebr ihre Geschicke entsprechend der synchronen Abfolge der atl. bezeugten Geschichte Israels verortet (vgl. DÖRRIE, Hbr 11, 198, Anm. 7). 35 Vgl. R OSE, Wolke, 130. Die beiden Vershälften weisen eine „vielfältige Verschränkung von futurisch-eschatologischem und räumlich-transzendentem Aspekt“ (ROSE, Wolke, 130; Herv. v. Vf.) auf, die jedoch nicht einseitig verstanden werden sollte. „Vielmehr enthalten beide Objekte der πίστις zumindest auch Ansätze des jeweils anderen.“ (ROSE, Wolke, 130). 36 G RÄSSER, Hebräer III, 97. 37 Die Auffassung vom Glauben als etwas Vorläufigem, aber aufgrund der heilsgeschichtlichen Situation zwischen Ostern und Parusie Notwendigem, ist ein bekannter Gedanke bei ntl. Autoren (vgl. Joh 20,29; Röm 8,24; 1 Kor, 13,12; 2 Kor 5,17; 4,17f.; 1 Petr 1,7f.). 38 SCHLATTER, Glaube, 524 bemerkt treffend, dass Hebr hier mit Absicht nicht vom Noch-nicht-Sehen, sondern nur vom Nicht-Sehen spreche. Denn der Glaube an das Handeln Gottes habe es meistens mit bereits Geschehenem zu tun oder gerade auch mit Offenbarungen gegen den Augenschein. So ist die für den christlichen Glauben größte Tat Gottes im Kreuzestod Jesu als Verbrecher und Volksaufwiegler ein Glaubensgegenstand, dessen Heilsbedeutung aller menschlichen Weisheit trotzt (vgl. 1 Kor 1,18–20), und selbst die Begegnung mit dem Auferstandenen kann von Unverständnis (vgl. Lk 24,13–35) oder Zweifel begleitet sein (vgl. Joh 20,24–29). 39 SCHLATTER, Glaube, 524.
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trum dieses griechischen Wortes ist vielschichtig und bewegt sich zwischen den beiden weitgefassten Polen eines stärker objektiven Verständnisses als „Wirklichkeit“, „Wesen“, „Grundlegung“ oder „Verwirklichung“ und eines stärker subjektiven Verständnisses als menschliche Haltung, i. S. von „Beharren“ oder „Festhalten“.40 Die jeweilige Akzentuierung im antiken Sprachgebrauch ist kontextabhängig und eine einheitliche Verwendung des Ausdrucks im Hebr ist daher auch nicht zwingend vorauszusetzen.41 Die Verwendung in 1,3 als Ausdruck der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater würde eine objektivierende Deutung von ὑπόστασις auch in 11,1 als „Wirklichkeit“ bzw. „Wirklichkeitsgrundlage“ nahelegen.42 Gemeint wäre „jene Größe […], in der die Hoffnungsgüter ihre gegenwärtige Wirklichkeit haben“43. Gerade hinsichtlich der entscheidenden Funktion, die dem Glauben für den Heilserwerb zugesprochen wird (10,38f.; 11,6), kann dieser Gedanke dem Hebr kaum abgesprochen werden. Aber eine die subjektive Dimension ganz und gar ausschließende Alternative zwischen Objektivität und Subjektivität des Glaubens scheint ebenso wenig zu treffen.44 Denn das Glaubensgeschehen ist für Hebr keine vom Menschen losgelöste Realität, sondern stets in ihm verankert. Der Glaube zielt auf die Teilhabe des Menschen an der himmlischen Wirklichkeit, muss sich aber im Menschen bewähren, bzw. der Mensch in ihm.45 Dies schließt sich wiederum harmonischer an den Rahmenkontext von 11,1 an, in dem die Bewährung bzw. die Standhaftigkeit betont (10,22–39; 12,1–3) bzw. gerade vor dem zum Unheil führenden Gegenstück der ὑποστολή (10,39) gewarnt wird.46 Der Glaube geschieht am Menschen, insofern sein objektiver Gegenstand ihn
Vgl. HARDER, Art. ὑπόστασις I, 768. DÖRRIE, Hbr 11, 199–202; RISSI, Theologie, 108; ROSE, Wolke, 105–107; anders KÖSTER, Art. ὑπόστασις, 572; BACKHAUS, Hebräerbrief, 383. Die Vielschichtigkeit der Verwendungsmöglichkeiten dieses Wortes zeigt sich auch deutlich in der LXX, die ὑπόστασις an 19 Stellen, an denen sie sich auf eine (uns bekannte) hebräische Vorlage bezieht (Dtn 1,12; 11,6; Ri 6,4 [Codex Vaticanus u. Alexandrinus]; Rut 1,12; 1 Sam 13,21.23; 14,4; Ps 38,6.8; 68,3; 88,48; 138,15; Ijob 22,20; Nah 2,8; Jer 10,17; 23,22; Ez 19,5; 26,11; 43,11; alle Angaben nach der LXX), als Übersetzung von insgesamt 16 verschiedenen hebräischen Ausdrücken (MT) verwendet. Die hebräischen Entsprechungen haben dabei z. T. völlig verschiedene Bedeutungen und decken das gesamte Spektrum von objektiver und subjektiver Akzentuierung ab. Wie das Übersetzungsverhältnis andeutet, kann die LXX dabei auch innerhalb eines Buches (und sogar Psalms) auf verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten von ὑπόστασις abzielen (vgl. Ps 38,6.8LXX). 42 So u. a. D ÖRRIE, Hbr 11, 202; B RAUN, Hebräer, 338; W ILCKENS, Theologie I/3, 330; BERGER, Theologiegeschichte, 401; BACKHAUS, Hebräerbrief, 383; LANE, Hebrews II, 325f.; ATTRIDGE, Hebrews, 305; 43 Söding, Zuversicht, 225. 44 Vgl. W EISS, Hebräer, 561f. 45 Vgl. R OSE, Wolke, 99–108, bes. 107f. 46 Vgl. SCHLATTER, Glaube, 524). 40
41 Vgl.
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bestimmt.47 Er ist das objektive „Bestimmt-Werden“48, aber zugleich das subjektive „Sich-Bestimmen-Lassen“49 des Menschen von dem, „was Gott [immer schon ist und; Anm. A. H.] in Zukunft für die Menschen in vollkommener Weise sein will“50.51 Diese Verbindung von objektiver und subjektiver Dimension des Glaubens als ὑπόστασις wird vor allem dann deutlich, wenn man den eigentlichen Prozesscharakter dieses Wortes als „Wirklichkeit-Werden“ ernst nimmt. Es gibt einen Anfang dieses Prozesses und eine Vollendung, wobei der Anfang immer auf die sichere Vollendung abzielt, ohne dass damit automatisch die Vollendung vorweggenommen wird.52 Damit darf der Glaube in 11,1a auch nicht auf eine rein subjektive Dimension reduziert werden. Sie ist vielmehr in den Prozess mit hineingenommen.53 Insofern umschließt der objektive Verwirklichungsprozess im Blick auf die gegenwärtige Realität des Menschen immer auch dessen Wollen und Tun (13,21; vgl. 1 Kor,1,8; 2 Kor 3,5; Phil 1,6; 2,13; 1 Thess 5,23f.; Jes 26,12),54 das sich freilich als „Standhaftigkeit“ im Lebensvollzug erweisen muss.55 Der Glaube bleibt bis zu seinem Ende im Schauen stets ein paradoxes Zusammenspiel, zugleich als „Gewißheit und Wagnis, Beruhigung und Erprobung, Friede und Kampf, Geschenk und Lohn, Gabe und Aufgabe“56. Angestoßen wird dieses „Wirklichkeit-Werden“ aber gerade nicht durch das menschliche Vermögen, sondern durch die göttliche Realität selbst (extra nos), insofern der Glaube nun auch ein auf die πράγματα οὐ βλεπόμενα ausgerichtetes ἔλεγχος ist (11,1b).57 Die Bedeutungsmöglichkeiten dieses Wortes fallen weithin geringfügiger aus, sodass eine sachgemäße Übersetzung als „Beweis“ oder „Überführung“ eindeutiger ist.58 Der Glaube als ἔλεγχος überführt den 47 Vgl. LANE, Hebrews II, 328: „[F]aith celebrates now the reality of the future blessings that constitute the objective content of hope.“ (Anm. v. Vf.). 48 SÖDING, Zuversicht, 225. 49 SÖDING, Zuversicht, 225. 50 SÖDING, Zuversicht, 225. 51 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 96. Dieser Interpretation entspricht die wörtliche Bedeutung des zugrundeliegenden Verbs ὑφίστημι/ὑφίσταμαι „darunter stellen“ (vgl. LIDDELL/SCOTT, Lexicon, 1895.1908f.). 52 Vgl. D ÖRRIE, Hbr 11, 199. 53 So zu Recht D ÖRRIE, Hbr 11, 197, Anm. 5. 54 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 96. 55 Vgl. G RÄSSER, Glaube, 101f.; C OCKERILL, Hebrews, 521. 56 SCHICK, Glauben, 159. 57 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 383f.: „Der Glaube, sosehr er personal angeeignet sein will, gründet nicht im Menschen, sondern der Mensch gründet im Glauben.“ 58 Vgl. B AUER, Wörterbuch, 502f. Die LXX verwendet ἔλεγχος mit überwiegender Mehrheit in Weisheitstexten mit einer dritten Bedeutung als „Zurechtweisung“, „Tadel“ oder „Anordnung“ (Ps 72,14; Spr 1,23.25.30; 5,12; 6,23; 12,1; 13,18; 15,10.32; 16,17; 27,5; 28,13; 29,1.15; Ijob 6,26; 13,6; 16,21; 23,4.7; Sap 1,9; 2,14; 11,7; 17,7; 18,5; Sir 16,12; 20,1; PsSal 9,1). Aber auch in den drei sonstigen Belegen aus proph. Texten (Hos 5,9;
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Menschen einer Wirklichkeit, die seinem Wahrnehmungsvermögen an sich verschlossen ist.59 Obwohl sich hier freilich ein deutlich rationales Moment des Glaubens zeigt,60 sollte das deutsche Wort „Beweis“ die Deutung aber nicht so fehlleiten, als dass der Glaube auf ein rein menschliches Erkenntnisvermögen reduziert werden würde. Er ist kein Beweis, der aus denkerischer Anstrengung – nach dem Ideal der Aufklärung aus reiner Geisteskraft des Menschen – gewonnen wird. Vielmehr ist der Glaube eine „Selbstevidenz“61, die sich dem Glaubenden (und damit freilich auch dessen ratio) von außen, bzw. von seinem Gegenstand her aufdrängt und auf diesen Gegenstand Gewissheit62 verleiht.63 Der Beweis bleibt aber nicht bei einem bloßen „Wissen um Etwas“ stehen. Der Glaube an Gott verändert alles – zunächst die Sicht auf die Welt und ihre Geschichte, in der der Glaubende lebt. Denn die Glaubenserkenntnis über die Beziehung des Unsichtbaren zum Sichtbaren, d. h. Gottes zu seiner Schöpfung (11,3), verleiht dem Sichtbaren einen über den Augenschein hinausgehenden Sinn und die Gewissheit, im Unsicheren gehalten zu sein (vgl. 11,7.27). „Wer glaubt, sieht keine andere Welt als der Nicht-Glaubende, aber er sieht die Welt anders.“64 Der Glaube verändert aber auch den eigenen Lebensvollzug innerhalb dieser anders gesehenen Welt. Denn die passive Glaubensgewissheit ist wiederum selbst der Ermöglichungsgrund für das aktive „Wirklichkeit-Werden“ und „Wirklichkeit-Werden-Lassen“ des Glaubens als ὑπόστασις, der sich Hab 2,1 u. Ez 13,14) liegt diese Bedeutung zugrunde. Diese Verwendung scheint jedoch für Hebr 11,1 am unwahrscheinlichsten. 59 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 383 übersetzt ἔλεγχος daher auch treffend mit „Zutagetreten“. 60 Vgl. SCHLIESSER, Glauben, 522–524. 61 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 409. 62 Die Anfechtung durch den möglichen Zweifel bleibt aber auch hier im Blick auf die Subjektivität des Menschen bestehen. Die „unsichtbaren Realitäten“ werden zwar vom (objektiven) Glauben erfasst, aber weil sie eben „unsichtbar“ sind, werden sie dem Glaubenden, mit Luther gesprochen, nicht zur securitas, sondern zur certitudo. Der Glaube selbst ist als Überführung so zwar immer vom Zweifel begleitet, er selbst zweifelt wesenhaft aber nicht, denn dann verkäme er zum Kleinglauben. Insofern ist Luthers mittlerweile vielgescholtene Übersetzung von ἔλεγχος als „Nicht-Zweifeln“ – so es nicht als subjektives Handeln des Menschen, sondern als objektive Wesensbestimmung des Glaubens selbst verstanden wird – m. E. nicht völlig unberechtigt (vgl. WEISS, Hebräer, 562; anders GRÄSSER, Hebräer III, 98). 63 Die Genitivverbindung signalisiert, „dass das Nichtsichtbare Ziel und Grund des ἔλεγχος ist“ (SCHLIESSER, Glauben, 523). Diese Zuordnung zu einem Ziel und Grund außer seiner selbst ist es auch, die den Glauben nur schwer als eine nahezu rein menschliche Tugend verstanden werden lässt (so aber SPICQ, Hébreux II, 371; ebenso Schulz, Mitte, 261f.; in seiner Habilitation auch noch GRÄSSER, Glaube, 102.117–119; später in seinem Kommentar [GRÄSSER, Hebräer III, 97] zumindest etwas zurückhaltender), wie das bei Philo überwiegend der Fall ist (BÖHM, Glaubensverständnis, 175f.), auch wenn sich beide Denkweisen sehr ähneln, da der Glaube auch bei Philo eine herausragende Rolle als immerhin höchste Tugend einnimmt, die sich nicht am Irdischen festmachen soll, sondern an Gott selbst (vgl. WILCKENS, Theologie I/3, 330). 64 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 409.
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bejahend unter Gottes Heilswirklichkeit stellt und sich in παρρησία sowie ὑπομονή ausdrückt:65 „Diese Beschreibung des Glaubens [als ἔλεγχος; Anm. A. H.] hält den Blick kräftig darauf gerichtet, daß auch das Glauben eine göttliche Gabe ist. Nicht als menschlicher Akt, sondern als ein vom Glaubensobjekt selbst begründetes Verhalten, nicht als ‚sich Gewißheit verschaffen‘, sondern als ‚Gewißheit empfangen und darum haben‘ ist das Glauben definiert. Ebenso beschreibt es das erste Wort [ὑπόστασις; Anm. A. H.] als eine von den göttlichen Realitäten ausgehende Wirkung, die in das persönliche Leben des Menschen eingeht und dasselbe in Bewegung versetzt, aber nicht im eigenen Wollen und Handeln des Menschen begonnen wird. Denn das, was uns als Grund der Hoffnung gegeben ist, wirkt die Zuversicht, wehrt dem Weichen und ermöglicht das feste Stehen.“66
2.2 Die Verheißung Gottes als Glaubensgut Wie in der alttestamentlichen Überlieferung bezieht sich auch der Glaube nach dem Hebr nicht allein auf die bloße Bejahung, dass Gott (und nur er Gott) ist (11,6). Er vertraut und hofft auf den Gott, der sein Sein durch Sprechen und Handeln dem Menschen offenbart.67 Der Sinn des Glaubens ist nicht allein das positive Wissen um Gott, sondern eine „Bejahung, die vom Vertrauen auf sein Heilshandeln getragen ist“68. Die beweiskräftige Überführung des Menschen (11,1) vollzieht sich daher nicht völlig voraussetzungslos bzw. unvermittelt, sondern geschieht im „Angesprochen-Werden“ von dem „sprechenden Gott“69 und im Hören auf sein Verheißungswort (4,2; vgl. Röm 10,17).70 Dieses war in der Vergangenheit „vielfältig und auf vielerlei Weise zu den Vätern durch die Propheten“71 (1,1) ergangen und wird der Glaubensgemeinschaft „heute“ durch die Schrift und damit von Gott selbst bezeugt. 65 Entsprechend beschreibt SCHLATTER, Glaube, 525f. diese Doppelbestimmung des Glaubens in 11,1 als Zuordnung von „Wissen/Haben“ (ἔλεγχος) und „Wollen/Handeln“ (ὑπόστασις) des Glaubens, d. h. als passive und aktive Seite der einen Glaubensmedaille, die wie Ursache und Wirkung aufeinander bezogen sind (vgl. auch GRÄSSER, Hebräer III, 97; ROSE, Wolke, 131–135; FILTVEDT, Creation, 193). 66 SCHLATTER, Glaube, 525. 67 Vgl. K LAPPERT, Glaube, 220f. 68 SÖDING, Zuversicht, 221. 69 So der programmatische Titel der Aufsatzsammlung in B ACKHAUS, Knut: Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief, WUNT 240, Tübingen 2009) oder auch ähnlich LEWICKI, Tomasz: „Weist nicht ab den Sprechenden!“. Wort Gottes und Paraklese im Hebräerbrief, Paderborn 2004. 70 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 222; W ILCKENS, Theologie I/3, 329. 71 Während τοῖς πατράσιν als Objektdativ zum transitiven „λαλείν“ mit „zu den Vätern“ zu übersetzen ist, signalisiert die Präposition ἐν (τοῖς προφήταις) einen instrumentalen Gebrauch, d. h. „durch die Propheten“ (vgl. SIEBENTHAL, Grammatik, 254.257f.274) Anders WEISS, Hebräer, 138, der das ἐν gerade nicht instrumental, sondern lokal (parallel zum Reden Gottes ἐν υἱῷ in 1,2) verstehen will, was auf das Schriftverständnis des Hebr abziele,
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Die Vorstellung des Hebr, dass sich Gott im Alten Testament mit Verheißungen (ἐπαγγελίαι) mitteilt, ist gewiss kein neuartiger Gedanke im Frühjudentum. In 3 Makk 2,10 verheißt Gott Gebetserhörung, TestXII.Jos 20,1 lässt Josef seine Brüder an die Verheißungen der Väter erinnern und auch Josephus kann von den Verheißungen Gottes an die Erzväter bzw. das israelitische Volk sprechen (vgl. Ant. 1,235f.; 3,324.377). Dasselbe Verständnis findet sich breit in rabbinischer und apokalyptischer Literatur.72 Das Alte Testament selbst (MT u. LXX) verwendet an den Stellen, bei denen z. B. die Lutherübersetzung von „verheißen“ spricht, keinen einheitlichen Ausdruck, sondern verschiedene Verben des Sagens und Sprechens, d. h. solcher einer Selbstmitteilung (vgl. Gen 18,19; Jer 18,10; Ps 105,8). Die meisten neutestamentlichen Schriften knüpfen an die hellenistisch-griechische Sprachwelt an und verwenden ἐπαγγέλλομαι, häufig auch auf Profanes bezogen, im Sinne von „versprechen“ bzw. „von sich bekennen“ (vgl. Mk 14,11; Apg 7,5; Röm 4,21; Gal 3,19; 1 Tim 2,10; Jak 2,5; 2 Petr 2,19; 1 Joh 2,25). Dabei kann das Wort für den Akt des Versprechens, aber auch für das Verheißene selbst stehen.73
wonach die Wendung „in den Propheten“ die Gegenwart Gottes in seinem direkten, durch die Schrift bezeugten Sprechen signalisiere. Richtig daran ist, dass beides gültige Redeweisen Gottes sind, aber sein Sprechen im Sohn ist für Hebr qualitativ ein Anderes oder besser Höheres. Daraus resultiert wohl auch das betonend absolut gebrauchte ἐν υἱῷ im Gegenüber zu ἐν τοῖς προφήταις. Was Hebr mit den πάτρες meint, ist allerdings mehrdeutig. In der frühjüd.-bibl. Tradition fungiert der Ausdruck (hebräisch ;ָאבוֹתmeist possesiv verwendet) als „geprägter Begriff von heilsgeschichtlicher Dignität“ (GRÄSSER, Hebräer I, 53). Er bezieht sich i. d. R. konkret auf die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob häufig in Bezug auf die Landverheißung (Gen 50,24; Ex 3,16; 4,5; Dtn 1,8; 6,10; 9,5; 29,12; 30,20; 31,20; Jos 24,2; 4 Makk 7,19; PsSal 12,1 u. ö.), auf die Exodusgeneration meist in Bezug zum Bundesschluss am Sinai (Dtn 4,31; 7,12; 8,18; 29,24; 1 Kön 8,21; 1 Makk 2,20.50; 4,10; 2 Makk 8,15; Sap 18,22; PsSal 9,10; Mal 2,10; Jer 11,10; 38,32; 41,13 u. ö.) oder allgemein (auch profan), oft warnend negativ, auf die Vorfahren (Gen 15,15; 47,3; Lev 26,40; Num 14,18; Tob 3,3; 4 Makk 13,17; 16,25 u. ö.). Hebr könnte in 1,1 nun durchaus einen Bezug zu den Patriarchen herstellen. Dafür spräche, dass die früheren Gottesoffenbarungen „auf vielerlei Weise“ (πολυτρόπως) und damit nicht ausschließlich durch die Propheten ergangen sind. Dann müsste ἐν τοῖς προφήταις gleichrangig beigeordnet werden. Ordnet man hingegen beide Ausdrucke einander zu, was grammatisch wahrscheinlicher ist, dürften die πάτρες als allgemeiner Ausdruck für die (israelitischen) Vorfahren stehen (vgl. BAUER, Wörterbuch, 1281; GRÄSSER, Hebräerbrief, 53). Dazu passt, dass auch in 3,9; 8,9 und 11,2 die früheren Generationen insgesamt angesprochen werden. Das Reden Gottes muss dann aber dennoch nicht ausschließlich auf das Reden durch die klassischen Propheten (zu dem Volk Israel) reduziert werden (so auch WEISS, Hebräer, 139), da in der atl. Tradition viele Personen, auch die Erzväter, als Propheten bezeichnet werden können (Abraham in Gen 20,7 und alle drei Patriarchen in Ps 105,15; Mose in Dtn 18,15; Aaron in Ex 7,1; Miriam in Ex 15,20; Debora in Ri 4,4 u. a.). 72 Vgl. SCHNIEWIND/FRIEDRICH, Art. ἐπαγγέλλω, 576. 73 Vgl. SCHIERSE, Verheißung, 133.
114
Teil II: Exegetischer Hauptteil
Hebr verfolgt ein doppeltes Interesse, wenn er die alttestamentlich bezeugten Mitteilungen Gottes als „verheißend“ qualifiziert.74 Zum einen soll hermeneutisch geklärt werden, was Inhalt und Ziel der Verheißungen sind. Zum anderen soll – eng damit verknüpft – die glaubensmüde Gemeinde durch den Blick auf Gottes Treue in seinen früheren Verheißungen gefestigt werden (12,1). Dabei ist für Hebr das Ereignis, das durch das entsprechende Schriftwort bezeugt wird, innerhalb einer zeitlichen Abfolge wichtig, wie die Argumentationsmuster in 4,6–9 (Gottesruhe); 7,11 (Priesterordnung) und 8,7 (Heilsordnung) zeigen.75 So werden nun die verschiedenen Verheißungsmomente für die Gegenwart ausgewertet, da ihre eigentliche Erfüllung noch ausstehen muss (4,1). Hebr scheint sich dabei auf verschiedene, unabhängige Momente zu beziehen. Es kommen die Verheißungen über Nachkommenschaft (6,13–15; 11,11) und Landbesitz (11,9.13) an die sog. Erzeltern und daran anschließend an das Volk Israel besonders in der Mosezeit (4,1–6) in den Fokus. Gegen Ende der Zeugenreihe in 11,33 werden unbestimmte ἐπαγγελίαι an die Richter, Könige und Propheten genannt. Dennoch kommt Hebr in 11,39 zu dem Fazit, dass alle bisher aufgezählten alttestamentlichen Zeugen die (eine) Verheißung (τὴν ἐπαγγελίαν) nicht erlangt haben. Bei Paulus findet sich nahezu derselbe Gedankengang: „Inhalt der Verheißungen, das Verheißungsgut, ob es nun κληρονομία […] oder ζωή […] oder δικαιοσύνη […] oder πνεῦμα […] oder υἱοθεσία […] genannt wird, ist immer das messianische Heil bzw. die ‚zukünftige Welt‘ mit ihren Gütern“76. Im Hebr werden dieses eschatologische Heil und damit all jene verschiedenen Verheißungsmomente mit dem Motiv der Gottesruhe (ἡ κατάπαυσις) identifiziert. Sie ist das Ziel der Schöpfung, dessen Verheißung von Beginn an gegeben war (4,3f.; vgl. Gen 2,2). Durch die Verbindung zum Schöpfungsgeschehen rückt das Schöpfungshandeln Gottes in den Blick,77 der den Menschen auf eine Beziehung hin mit sich selbst erschaffen hat (vgl. Gen 3,8; Ps 8,4f.), aus der der Mensch aber aufgrund seiner Sünde herausgefallen ist. Dennoch bleibt die Verheißung der Gottesruhe – oder besser das Ruhen in der Gemeinschaft mit Gott – bestehen. Sie ergeht (erneut und speziell) an Israel als das erwählte und aus der Sklaverei befreite Eigentumsvolk Gottes, wurde aber von 74 Der Wortstamm ἐπαγγελ- ist ein Vorzugswort im Hebr. Mit 18 Belegen sind dem Hebr mehr als ein Viertel aller Belege im NT zuzuschreiben. Gal und Apg haben jeweils elf, Röm neun Belege. Alle vier Schriften thematisieren besonders stark eine heilsgeschichtliche Perspektive auf das atl. Zeugnis. 75 S. u. II.3.1.1. Anders als in der allegorischen Auslegung Philos, der die bibl. Texte minutiös Wort für Wort, Detail für Detail analysiert (vgl. SIEGERT, Interpretation, 182–187), kann Hebr sehr locker mit dem vorfindlichen Wortlaut umgehen, denn er weiß sich vorrangig dem Ereignis hinter dem Wortlaut verpflichtet (s. u. zu Philo ab S. 150). 76 SCHIERSE, Verheißung, 133. 77 Entsprechend ist die erstgenannte Glaubenseinsicht gerade die in die Erschaffung der Wirklichkeiten (αἰῶνας) durch das Schöpfungswort Gottes (11,3).
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
115
der Wüstengeneration aufgrund ihres Ungehorsams verfehlt (4,6; vgl. Ps 94,11LXX).78 Wie 4,6 mit direktem Bezug auf Ps 94,11LXX deutlich macht, äußert sich dieser Ungehorsam in einer „Verhärtung des Herzens“ (σκληρὺνειν τὰς καρδίας; hebräisch קשׁהim Hifil), sodass das Verheißungswort Gottes den Menschen nicht mehr erreichen kann. Das Gegenteil stellt sich ein: der Unglaube gegenüber dem Verheißungswort Gottes und dessen Treue. Da Gott die Verheißung der (von der Wüstengeneration verfehlten) Ruhe durch den späteren Aufruf Davids neu bekräftigt hat (4,7; vgl. Ps 94,7f.LXX), muss sie noch unabgeschlossen vorhanden sein (4,9). So entscheidet sich damals wie „heute“ (σήμερον) die Beziehung zu Gott am Glauben bzw. Unglauben – oder eben am „Festhalten“ bzw. „Zurückweichen“ – gegenüber dem Verheißungswort Gottes, denn das letztendliche Ziel der Verheißung ist ja gerade nichts anderes als das „Nicht-Sichtbare, aber Erhoffte“ (11,1). Otfried Hofius interpretiert (in kritisch-würdigender Aufnahme von Ernst Käsemanns Ansatz) die Ruhe (κατάπαυσις) als lokale Größe, nicht als Zustand.79 Konkret habe diese „Ruhestätte“ ihren Ort im himmlischen Heiligtum. Ihren Wert hat diese These vor allem darin, dass sie so die Bedeutung der Hohepriester-Christologie bzw. -Soteriologie für das Ruhemotiv unterstreicht. Es ist das Heilswirken des Hohepriesters Jesu am himmlischen Heiligtum, das den Eintritt in den Ort der Ruhe erwirkt. Damit muss man sich aber dennoch nicht wie Hofius zu einseitig gegen ein Verständnis der Gottesruhe als Zustand aussprechen. Denn Zustand und Ort sind hier wohl kaum voneinander zu trennen. Es ist der Ort, der den Zustand konkret erfahrbar macht, wenn auch, wie wir noch genauer sehen werden, erst eschatologisch. Und es ist der Zustand, der den Ort für die Ruhebedürftigen auszeichnet. Darauf, dass Hebr zwischen Ort und Zustand durchaus unterscheiden kann, wenn er sie auch nicht scheidet, deutet ja allein schon die unterschiedliche Terminologie hin. Die „Ruhe“ wird allein in Kap. 3–4 genannt, als Verheißung, deren Verwirklichung anschließend mit dem hohepriesterlichen Wirken Jesu (Kap. 5–10) dargelegt wird.
Wer dem Verheißungswort Gottes Glauben schenkt, wird damit zum Erben dieses Verheißungsgutes (4,2), d. h. er bekommt Anteil an dessen eschatologischer Verwirklichung, die er von Gott ererbt.80 Das bloße Hören allein reicht dafür aber nicht aus. Das Gehörte muss sich mit dem Glauben verbinden und so im ganzen Lebensvollzug des Glaubenden Wirklichkeit werden. Entsprechend
78 Insofern findet die von Israel angestrebte Ruhe, die für die Gemeinde typologisch ausgewertet wird, in der Schöpfungsruhe selbst einen Ursprung, der für Israel und die gegenwärtige Gemeinde als eigentliches Ziel völlig identisch ist (vgl. ATTRIDGE, Logic, 284). 79 Vgl. H OFIUS, Katapausis, 51–58; vgl. dazu K ÄSEMANN, Gottesvolk. 80 Die Textvarianten mit entsprechenden Interpretationsmöglichkeiten zu 4,2 (zur Diskussion stehen v. a. συγκεκερασμένους/συγκεκερασμένος sowie τοῖς ἀκούσασιν/τῶν ἀκουσάσιν) sind zahlreich und diskutabel (vgl. ausführlich BRAUN, Hebräer, 104f.). Τοῖς ἀκούσασιν ist sehr gut bezeugt. Dazu passt das schlechter bezeugte συγκεκερασμένος, das sich auch besser in den Kontext von 4,2 einfügt, sodass der Versteil übersetzt lautet: „[...] aber das Wort nützte jenen nicht, weil es sich bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben verband“ (vgl. BRAUN, Hebräer, 104f, 105; GRÄSSER, Hebräer I, 205f.; HEGERMANN, Hebräer, 100 u. a.).
116
Teil II: Exegetischer Hauptteil
spricht Hebr von den in 6,17 benannten „Erben der Verheißung“, die an Abraham erging und der dieser geglaubt hatte (6,13–15), im darauffolgenden Vers in der ersten Person Plural (6,18). Auch seine Adressaten zählen zu diesem „wir“, sofern sie ihre Herzen vor Gottes letztgültigem Verheißungswort im Sohn nicht verschließen. Ansonsten besteht die drohende Gefahr, das eschatologische Heil zu verwirken. So zeigt sich hier erneut die untrennbare Aktivität und Passivität des Glaubens. Dass Gott den Menschen – im alttestamentlichen Zeugnis allen voran dem israelitischen Volk – „vielfältig und auf vielerlei Weise“ (1,1) mit seinem Verheißungswort anspricht, ist die notwendige Bedingung dafür, dass der Mensch im Glauben darauf antworten kann. So ist dieser wie ein Erdboden, der den kontinuierlichen Regenguss benötigt, um „nützliches Gewächs“ (βοτὰνη ἔυθετος) hervorzubringen und Segen von Gott zu empfangen (6,7). Das „Dass“ des Sprechens Gottes ist aber nicht schon die hinreichende Bedingung für diesen Segen. Denn ein Erdboden kann noch sooft gewässert werden. Wachsen anstelle der guten Glaubensfrucht „Dornen und Disteln“ (ἀκὰνθαι καὶ τρρίβολοι) des Unglaubens, „ist er dem Fluch, der am Ende zur Verbrennung führt, nahe“ (κατάρας ἐγγύς, ἧς τὸ τέλος εἰς καῦσιν; 6,8). Für Hebr ist das bekanntlich eine schreckliche, weil letztlich unwiderrufliche Tragödie (6,4–6).81
2.3 Die Glaubenszeugen als das eine glaubende Gottesvolk Für beide eben beschriebenen Glaubenszustände – „Nutz- und Unkraut“ (6,7f.) – findet Hebr zahlreiche Anschauungsbeispiele sowohl direkt in der alttestamentlichen Überlieferung als auch indirekt in der Lebenswelt seiner Adressaten, die er ihnen immer wieder vor Augen malt. Die folgende Liste zeigt sämtliche solcher positiven und negativen Glaubensbeispiele innerhalb, aber auch außerhalb von Kap. 11, der sog. Wolke der (Glaubens-)Zeugen (12,1):82
81 R OSE,
Verheißung, 180f. unterscheidet daher zu Recht zwischen „hören“ und „nutzen“ der Verheißung. Auch Esau (ein Enkel Abrahams!) wurde von Isaak gesegnet (11,20), erbte aber den Segen nicht (12,17). Er hat die Verheißung also gehört und damit empfangen, das eigentliche Verheißungsgut jedoch nicht geerbt, d. h. zum dauerhaften Nutzen erhalten. 82 Bei einigen Beispielen handelt es sich nicht um direkte, namentliche Nennungen, sondern um mögliche Anspielungen (markiert durch ein Fragezeichen) auf atl., frühjüd. sowie frühchristl. Traditionen (vgl. ausführlich ROSE, Wolke, 303–322).
117
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes Positiv: Glaube/Festhalen Abel
11,4
David
11,32(34?)
Henoch
11,5
Samuel
11,32
Noah
11,7
Propheten
11,32
Abraham
11,8–10.17–19
Daniel?
11,33
(6,13–15) 11,11
Drei Männer im Feuerofen?
11,34
Sarah Isaak
11,20
Elia?
11,34(37)
Jakob
11,21
Josef
11,22
Witwe v. Sarepta/ 11,35 die Sunamitin?
Moses Eltern
11,23
Sacharja?
11,37
Mose
11,24–28
Jesaja?
11,37
11,29f.
Makkabäer?
11,35–38
Israeliten am Roten Meer u.
Außerhalb von Hebr 11
vor Jericho Rahab
11,31
Gemeindeleiter
13,7
Gideon
11,32
Jesus
2,13.17; 4,14–5,10;
Barak
11,32
Simson
11,32
Jeftah
11,32
Negativ: Unglaube/Zurückweichen Kain
11,4
Israeliten in der Wüste
3,9f.16–18
Esau
12,16f.
glaubensmüde Gemeindeglieder
6,4–6; 10,25.39
Abb. 1: Die positiven und negativen Glaubenszeugen im Hebr
10,1–18; 12,2
118
Teil II: Exegetischer Hauptteil
Die Liste der positiven Glaubenszeugen erschöpft sich nicht in diesen Angaben,1 sondern stellt vielmehr eine beispielhafte Anknüpfung an das Traditionswissen der Adressaten dar (vgl. 11,32f.). Dazu ist auch bemerkenswert, dass Hebr solche positiven Glaubensbeispiele durch die gesamte Geschichte des israelitischen Volkes hinweg, ja sogar durch die der Menschheit an sich ausmachen kann.2 Diese Glaubenszeugen treffen sich für Hebr alle in dem, was den Glauben s. E. ausmacht und wie er es in seinem gesamten Brief im Allgemeinen und in 11,1 im Besonderen darlegt: Das unbeirrte Sich-Ausrichten auf die unsichtbare, aber eschatologisch greifbare Wirklichkeit Gottes, welches durch diese Wirklichkeit selbst überhaupt erst ausgerichtet wird und im gesamten Lebensvollzug Gestalt nehmen soll.3 Die dafür entscheidende „Bezugsgröße“ ist das Verheißungswort Gottes bzw. dessen Verwirklichung.4 Hebr schließt dabei keineswegs aus, dass es eine zeitlich beschreibbare, für die Verheißungsempfänger sichtbare Erfüllung bzw. Erfüllungsstufe des Verheißungsgutes geben kann und auch gegeben hat. So ergeht an Abraham und Sarah – entgegen ihrer augenscheinlichen Unfruchtbarkeit – die Verheißung von Nachkommen (6,13f.; 11,11), die sich in der Geburt Isaaks verwirklicht.5 Im Zuge der durch Abraham beinahe vollzogenen Opferung Isaaks erwies sich Abrahams Glaube erneut (11,17–19a). Er erhielt Isaak als Sinnbild (παραβολή) für die Treue Gottes zu seinem Verheißungswort zurück (11,19b), die sich nach 1 Zudem kann sie nicht auf Kap. 11 beschränkt bleiben, wenn dieses auch freilich eine Konzentrierung auf die Thematik darstellt, die in der sonstigen uns bekannten frühchristlichen Literatur in dieser Quantität kein gleichwertiges Pendant findet. Zur hier nicht weiter verfolgten Diskussion um eine mögliche literarische Vorlage von Hebr 11 besonders im Blick auf Parallelen v. a. aus der frühjüd. Weisheitsliteratur vgl. ROSE, Verheißung, 83–91. Gerade auch ntl. Parallelen, wie Mt 23,35; Apg 7,2–53; 13,16–41 und bes. Jak 2,21–25 deuten auf eine gemeinsame Tradition (vgl. HEGERMANN, Hebräer, 221). 2 Abel, Henoch und Noah (11,4–7) sind Vertreter der sog. atl. „Urgeschichte“ aller Menschen, die mit der Erwählung Abrahams (11,8–10) durch Gott zum Stammvater Israels eine Konzentration auf das Geschick einer konkreten Nachkommenschaft richtet (11,20–38). Dadurch gewinnt der Glaube universale Bedeutung, über die Bundesgrenzen Israels hinweg, was sich in 11,31 ja auch an Rahab zeigt. Hegermann spricht daher vom Glauben als „eine[r] Art Grundkraft der Heilsgeschichte überhaupt“ (HEGERMANN, Hebräer, 221). 3 Das ἐν ταύτῃ in 11,2 bezieht sich rückverweisend auf πίστις in 11,1, sodass alle folgenden Beispiele zweifelsohne unter 11,1 als Überschrift laufen (vgl. LANE, Hebrews II, 330; WEISS, Hebräer, 562; ROSE, Wolke, 146f.). So nimmt 11,2 für die gesamte folgende Zeugenreihe eine „hermeneutische Schlüsselstellung“ (GRÄSSER, Glaube, 53; vgl. SCHLATTER, Glaube, 526f.) ein. 4 Dennoch bleibt das eigentliche Glaubensobjekt stets Gott selbst, der sich durch sein Verheißungswort mitteilt. Das Vertrauen auf das Verheißungswort hat seinen Ursprung im Vertrauen auf Gott, der sich als vertrauenswürdig erweist. So erhalten Arbaham und Sarah im Glauben ihre Fruchtbarkeit dadurch, dass sie Gott als den Verheißungsgeber für treu erachten (11,11), und Mose kann im Glauben mutig aus Ägypten ins Ungewisse fliehen, „als sähe er den Unsichtbaren“ (11,27), der ihm beistehen würde (vgl. HEGERMANN, Hebräer, 223). 5 So kann Hebr in 6,15 sehr wohl davon sprechen, dass Abraham die Verheißung erlangt habe.
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
119
Abrahams Überzeugung sogar in seiner auch den Tod beherrschenden Schöpfermacht erweisen könne (11,19a). Insofern erfüllte sich für Abraham die Verheißung seines Nachkommens hier von neuem (vgl. κομίζειν in 11,19b), war er sich doch bewusst, seinen Sohn zumindest vorerst wieder zu verlieren. Abrahams Glaube richtete sich auf das aus, was er nicht sah, ihm verheißen wurde, das er daher erhoffte, obwohl, oder besser weil es erst zukünftig (vollends) greifbar werden würde. Gleiches gilt für die anderen Glaubensbeispiele. Noah erhofft sich Rettung aus der (ebenfalls noch nicht sichtbaren) drohenden Flutkatastrophe (11,7). Jakob segnet seine Söhne im Blick auf ihre Zukunft (11,20), ebenso Josef, der zudem schon voller Glauben an den zukünftigen Exodus der Israeliten aus Ägypten dachte (11,22). Moses Eltern erhofften die Rettung ihres Babys vor dem Kindermord des Pharaos (11,23). Mose selbst streckte sich nach den zeitlosen Genüssen des eschatologischen Heils aus und wendete sich von den zeitlichen Genüssen Ägyptens ab (11,24–26). Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass für Hebr den Glaubenszeugen selbst in ihrer jeweiligen geschichtlichen Situation nicht bewusst gewesen sein muss, dass sie sich in einem weiteren Sinn auf etwas Größeres als die konkrete vor ihnen liegende Hoffnung ausstreckten. Zugleich hat ihre Glaubenshaltung während ihrer jeweiligen geschichtlichen Situation bzw. während ihres Lebens Auswirkungen auf das noch ausstehende Gericht (10,38f.). So verließ Mose Ägypten mit zuversichtlichem Blick nach vorn auf die Führung Gottes, nicht im verzagten Zurückblicken auf den Zorn des Pharaos (11,27). Ebenso richten sich auch alle weiteren Glaubenszeugen gegen den Augenschein auf das Zukünftige aus, seien es Sieg, Rettung, Gerechtigkeit, Totenauferweckung oder Heimat. Die ganze „Glaubenswolke“ (vgl. 12,1) liest sich wie in einem langen, aber gedrängten Atemzug, der doch eigentlich kein Ende zu haben scheint (vgl. 11,32a).6 Und das hat er auch nicht. Denn die Möglichkeit zur Anschauung von Glaubensbeispielen kennt für Hebr keine Kanonsgrenzen. Auch in der Gegenwart der Adressaten finden sich solche, die diesem Glaubensverständnis entsprechen – konkret in den vorbildhaften „Gemeindeleitern“ (ἡγούμενοι; 13,7.17; ferner 24).7 Zudem könnten sich die Adressaten an ihre eigene Vergangenheit erinnern, konkret an die glaubensreiche Anfangsphase ihres Glaubenslebens (10,32–35). Dieses soll nun ja nicht müder werden, als es ohnehin schon geworden ist. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass Hebr außer Jesus selbst, keine Glaubenszeugen unter den Voraussetzungen der neuen Heilsordnung bzw. nach 6 Man
stelle sich nur vor, wie dieser Text in der Adressatengemeinde verlesen wurde. Die Beispiele werden besonders in den hinteren Summarien (ab 11,32) zunehmend dichter und gedrängter und es gibt kaum mehr Gelegenheit für eine stilistisch angemessene Atempause. 7 Wer genau mit diesen ἡγούμενοι gemeint ist, lässt sich nur schwer mit Sicherheit bestimmen. Vgl. dazu GRÄSSER, Gemeindevorsteher. Entscheidend für Hebr ist aber ihre ganzheitliche Verantwortung als Vorbildfunktion im Glauben, die „im Grunde jedes Christen Aufgabe ist“ (GRÄSSER, Gemeindevorsteher, 228, Herv. v. Vf.).
120
Teil II: Exegetischer Hauptteil
dem Sprechen Gottes im Sohn namentlich nennt. Welche mehr oder minder prominenten Persönlichkeiten der frühen Christenheit Hebr und seinen Adressaten bekannt waren, bleibt reine Spekulation.8 Aber Namen wie die der Apostel, der Jerusalemer Gemeinde oder sonstiger Personen, wie sie auch in den paulinischen Briefen, vor allem in Grußlisten, durchaus paradigmatisch genannt werden können (vgl. Röm 16,1–13; 1 Kor 16,17f.), hätten sich sachlich harmonisch an die Liste in Kap. 11 angeschlossen. Hebr scheint dafür keine Notwendigkeit zu sehen. Das, was er seinen Adressaten über den Glauben sagen möchte, ist anhand der alttestamentlichen Zeugen ohne Abstriche ablesbar.9 Denn für die genannten (und ungenannten) Beispiele der πίστις gilt, paraphrasierend auf dem Hintergrund alles bisher Gesagtem: Im zuversichtlichen und geduldigen „Sich-Darunterstellen-Lassen“ unter die Wirklichkeit der in Aussicht gestellten himmlischen Gemeinschaft mit Gott, die noch nicht sichtbar, aber mit Gewissheit eschatologisch erhofft wird, findet der Einzelne das im Endgericht notwendige Gefallen bei Gott (11,4f.). Dem Gegenüber stehen die Negativbeispiele derer, an denen Gott diesen Glauben gerade nicht findet. Denn sie sind zurückgewichen von Gottes Verheißungswort und anstelle von Vertrauen und Gehorsam ist ihre Gottesbeziehung von Abkehr und Ungehorsam geprägt. Deutlichstes Beispiel sind die Israeliten während der Wüstenwanderung. Die Traditionen vor allem aus Exodus und Numeri bezeugen auf vielfältige Weise, wie sich in dieser Generation des Volkes Israels trotz der kollektiv erfahrenen Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei immer wieder Zweifel an Gottes Treue bis hin zur offenen Rebellion (16,1–3) zeigte. Die Ursache dafür liegt stets darin, einer augenscheinlichen Infragestellung der Verheißung Gottes mehr Gewicht beizumessen als Gottes Treue und Wirkmacht im Blick auf die Verwirklichung der Verheißung. In der realen Erfahrung der Wüstenwanderung äußerte sich diese Anfechtung u. a. im Erleben von äußerer Bedrohung durch andere Völker (Ex 14,10–12), Wasserund Nahrungsmangel (Ex 15,23f.; 16,1f.; 17,2f.; Num 11,14–16; 20,2f.; 21,4f.), der scheinbaren Abwesenheit Gottes und ihres Führers Moses (Ex 32,1–6) oder der ängstlichen Enttäuschung darüber, dass das verheißene Land aus menschlichem Vermögen nicht ohne weiteres einzunehmen ist (Num 13,25–14,4). Hebr bezieht sich mit Ps 94LXX auf dieses beständige Aufbegehren gegen Gottes Verheißungswort bzw. seine Treue. Hier zeigt sich eine Glaubensweise, die es für seine Adressaten in keinem Fall nachzuahmen gelte, will man nicht (auch) die Verwirklichung der Verheißung versäumen.10 Bedenkt man die Not8 Immerhin wird in 13,23 Timotheus als bekannt vorausgesetzt. Zur Diskussion um die Einheitlichkeit des Hebr gerade hinsichtliches des Briefschlusses (13,22–25) vgl. SCHNELLE, Einleitung, 451f. 9 Vgl. B OCKMUEHL, Faith, 365. 10 Im MT bezieht sich das Gerichtswort Gottes in Ps 95,8–11 konkret auf das Wasserwunder bei Massa und Meriba bzw. das vorangegangene Murren der Israeliten. Die LXX
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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wendigkeit des Glaubens als conditio sine qua non der eschatologischen Teilhabe an der Gottesgemeinschaft und ihrer Heilsgüter, so wird deutlich, dass Hebr die von Gott über die ungehorsame Wüstengeneration verhängte Strafe, das verheißene Land nicht betreten zu dürfen (vgl. Num 14,21–23),11 nicht nur als zeitlich fixiertes Ereignis versteht. Damit gilt für die negativen Glaubensbeispiele ein zu dem der positiven analoger Zusammenhang zwischen eigener jeweiliger Situation und dem eschatologischen Gericht. So, wie sich auch die Verwirklichung der Verheißung quasi stufenartig bis zu ihrer letztgültigen eschatologischen Verwirklichung vollzieht, so hat auch die konkret geschichtliche Verwirkung der Verheißung letztgültige eschatologische Relevanz. Dies gilt auch für die namentlich genannten Negativbeispiele Kain und Esau. Kain kommt streng genommen nur indirekt im Gegenüber zu dem sich im Glauben als gerecht erweisenden Abel zur Sprache (11,4) und wird nicht weiter ausgeführt.12 Esau hingegen ist ein regelrechtes Paradebeispiel dafür, wie das Verheißungswort Gottes zwar gehört werden (11,20), aber, bildlich gesprochen, auf taube Ohren oder vielmehr Herzen stoßen kann, sodass die notwendige Verbindung mit dem Glauben ausbleibt (12,16f.). Bei Esau treten das Verlangen nach irdischen, unvollkommenen Gütern, wie der Sexualverkehr mit Prostituierten oder Jakobs Linsengericht, anstelle der παρρησία und ὑπομονή. An der Tatsache, dass er sein Erstgeburtsrecht für eine Speise verkaufte, zeigt sich für Hebr zudem, wie wenig Esau letztlich an diesem Gut gelegen war – ganz im Gegenteil zu denjenigen, die trotz aller Erfahrung von irdischem Mangel, Leid bis hin zum Tod die nicht vor Augen liegenden Güter des Himmels als wertvoller erachteten (11,24–26.35b). Interessanterweise scheint auch Esaus Erstgeburtsrecht verbunden mit dem Segen Abrahams für Hebr letztlich auf die eigentliche Verheißung der eschatologischen Ruhe in der Gottesgemeinschaft abzuzielen. Ähnlich wie bei Mose deutlich aufgezeigt ersetzt die beiden Ortsangaben durch die allgemeinere Formulierung ὡς ἐν τῷ παραπικρασμῷ κατὰ τὴν ἡμέραν τοῦ πειρασμοῦ ἐν τῇ ἐρήμῳ und bezieht das Wort so auf die gesamte Zeit des Exodus, die damit als Zeit des Ungehorsams charakterisiert wird (vgl. KOESTER, Hebrews, 264). THIESSEN, Exodus, 357, Anm. 17 vermutet, dass die LXX damit bereits einen liturgischen Gebrauch von Ps 94LXX anvisiert habe, um die Warnung auf die je gegenwärtigen Hörer beziehen zu können. Hebr übernehme dann diesen aktualisierenden Sprachgebrauch der LXX. 11 Die beiden von dieser Strafe ausgenommenen Männer Kaleb und Josua (Num 14,24; 32,12; 26,65 Dtn 1,36) finden erstaunlicherweise keine Erwähnung in der Zeugenliste des Hebr. Ein weiteres Signal dafür, dass für Hebr die Glaubensbeispiele – positiv wie negativ – nicht auf die genannten Angaben zu reduzieren sind. 12 Kain ist im Frühjudentum bekannt als Negativbeispiel für Neid u. Habsucht (Philo, Cher. 1,52.65; Sacr. 1,2f. u.ö.), Bruderhass (TestXII.Ben 7,5) u. -mord (1 En 22,7; TestAbr 13,2), der dafür von Gott verstoßen wurde (TestXII.Ben 7,3f.; Jub 4,31; ApcMos 40,4). Ebenso in 1 Joh 3,12; Jud 1,11 u. 1 Clem 4,1–7. Für Hebr ergibt sich das bessere (πλεῖον) Opfer Abels im Gegenüber zu dem Kains aus Abels Streben nach Gerechtigkeit vor Gott im Glauben (11,4). Die beiden Opfer sind letztlich die Ausdrücke des Inneren der beiden Brüder (vgl. Gen 4,7LXX; Philo.QG 1,62; Sacr. 1,52.88; Josephus, Ant. 1,54 ).
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(11,24–26), birgt auch die Haltung Esaus eine tiefere, eschatologisch bedeutsame Dimension in sich. So parallelisiert Hebr Esaus späteres, aber letztlich aussichtsloses Suchen nach Wiedergutmachung mit der Warnung vor der Unmöglichkeit einer zweiten Buße an seine Adressaten (12,17; vgl. 6,4–6). Aber auch bei den Negativbeispielen könnten die Adressaten des Hebr bei sich selbst fündig werden. Jene finden ihr gegenwärtiges Pendant ja gerade in denen, die – entgegen der Intention des Hebr – von Gott im Ungehorsam abfallen (6,4f.; 4,11), träge werden (6,12), auf dem irdischen Pilgerweg zur himmlischen Stadt zurück- (4,1) und der Versammlung fernbleiben (10,25). Denn warum sollte Hebr seinen Adressaten überhaupt so dringlich mahnen, wenn es nicht auch konkreten Anlass gebe? Für die Adressaten des Hebr bedeutet dies, dass sie sich bei ihrer Glaubensbewegung weg von den toten Werken hin zum wahren Gottesdienst an den positiven und negativen Glaubensbeispielen orientieren können und sollen (vgl. ausdrücklich 6,11f.) – weg vom unheilvollen Weg des Ungehorsams dieser, hin zur segenserfüllten Glaubensgemeinschaft jener.13 Hierzu ist ihnen immerhin eine ganze „Wolke an Zeugen“ (νέφος μαρτύρων) gegeben (12,1). Damit ist zunächst schlicht eine dicht gedrängte Menschenmenge beschrieben,14 was mit Blick auf das Motiv des Wettkampfes als Bild für die Glaubensbewährung konkret an die Zuschauer in einem Stadion denken lässt. Dass es sich bei dieser Menge aber nicht nur um (letztlich unbeteiligte) Zuschauer handelt, verdeutlicht ihre Bezeichnung als μαρτύρες. Sie sind (Augen-)Zeugen,15 die das, was sie von fern gesehen und gegrüßt haben (11,13), durch ihren Glaubenswandel aktiv bezeugt haben und bezeugen.16 Sie zeugen von einem Ziel, zu dem sie selbst hin mit unterwegs sind. „Der ausharrende Glaube, zu dem der Hebräerbrief alle Wankenden und müde Gewordenen aufruft, steht nicht isoliert auf sich selbst, ist kein leeres Postulat und keine Utopie im Niemandsland. Dieser Glaube weiß sich vielmehr gegründet in einer Verheißungsgeschichte von Vätern und Müttern […], die diesen hoffenden Glauben bereits glaubwürdig gelebt und vertrauenswürdig in ihrem Leben bezeugt haben.“17
Die Vorbildfunktion der positiven Glaubenszeugen erlangt ihr Ziel dann, wenn die Adressaten sich in gleicher Weise im Glauben bewähren, was sich auch darin äußert, dass sie wiederum selbst zu positiven Glaubensvorbildern werden 13 Die Würdigung als positive und damit nachzuahmende Vorbilder dieser Zeugen äußert sich wohl auch in deren Bezeichnung als οἱ πρεσβύτεροι in 11,2 (vgl. ATTRIDGE, Hebrews, 314f.). 14 Vgl. B AUER, Wörterbuch, 1086. 15 Vgl. B RUCE, Hebrews, 333 sowie B ACKHAUS, Hebräerbrief, 412 mit entsprechenden weiteren Belegen für die Augenzeugenschaft in außerbiblischer Literatur. 16 Zur Selbstverständlichkeit eines positiv gebrauchten Vorbildgedankens im Urchristentum vgl. LIPS, Hermann von: Der Gedanke des Vorbilds im Neuen Testament, EvTh 58/4 (1998), 295–309. 17 K LAPPERT, Glaube, 226.
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(5,12a; 6,12; ferner 3,13; 10,24f.).18 Die Liste solcher Glaubensvorbilder aus Kap. 11 könnte mit jedem Einzelnen, der hier hinzugezählt werden kann, um ein Glied erweitert werden. So verbindet Hebr durch sein relationales Glaubensverständnis mit der Ausrichtung auf den sich im Verheißungswort offenbarenden Gott sämtliche genannten und ungenannten Zeugen für ebendiesen Glauben zu einer Erbengemeinschaft des eschatologischen Verheißungsgutes. Dass Hebr dies für sich und seine Adressaten in Anspruch nimmt, zeigt ja deutlich das erneute ekklesiologische „wir“ (ἡμεῖς) in 12,1, mit dem er sich und seine Adressaten in die Linie der Glaubensbeispiele einreiht. Geht man zudem bei den Adressaten von einer gemischten Zusammensetzung von Juden- und Heidenchristen aus, wird umso deutlicher, dass diese Anknüpfung sich gerade nicht auf eine ethnisch-religiöse Zugehörigkeit beruft, sondern auf die Verbindung im Glauben.19 Hier zeigt sich keinerlei Unterschied zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Gemeinschaft. „Der herausgearbeitete Glaubensbegriff sprengt letztlich die Grenzen Israels […]. Nicht mehr die Kultthora, die ethnische Zugehörigkeit oder kulturelle Bindung bestimmen das Heil, sondern die Glaubensentscheidung.“20 Für Hebr gibt es nur eine einzige Glaubensgemeinschaft, ekklesiologisch ausgedrückt, ein einziges im Glauben geeintes Gottesvolk. Es wird durch seine Glaubensstruktur definiert und streckt sich auf das vor ihm liegende eschatologische Verheißungsgut aus.21 „In the epistle to the Hebrews, faith (πίστις) is the means by which God’s people are saved and the virtue by which they must persevere unto eschatological salvation.“22 Jürgen Roloff erblickt zudem als konstituierendes Element für die Rede vom „einen Gottesvolk“ im Hebr neben dem Glaubenskonzept dessen Verständnis vom Sprechen Gottes, welches die Kontinuität zwischen damals und heute wahrt.23 Diese Beobachtung ist völlig richtig und kommt bereits im Auftakt des Hebr zur Geltung, wenn Hebr das vormalige Reden Gottes durch die Propheten mit dem Reden Gottes im Sohn ins Verhältnis setzt. Zu Recht bemerkt Franz Mußner dabei, dass hier „vom Verfasser keine Oppositionen aufgebaut“24, sondern „vielmehr wichtige Unterschiede genannt“25 werden, „mit deren Hilfe das definitiv innovierende Handeln (‚Sprechen‘) Gottes ‚im Sohn‘ […] zur Sprache gebracht sind“26. Nur muss auch betont werden, dass es sich bei beiden Vgl. KÄSEMANN, Hebräer, 312. Vgl. dazu auch ähnlich 6,17f. 20 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 380. 21 Vgl. FREY, διαθήκη, 305f. B ACKHAUS, Land, 190 betont im Blick auf die Erlangung des Verheißungsgutes völlig zu Recht, „dass auch die Christen noch im Stand der Verheißung leben, nicht in deren Erfüllung“. 22 R ICHARDSON, Pioneer, 1. 23 Vgl. R OLOFF, Kirche, 283f. 24 M USSNER, Handeln, 14. 25 M USSNER, Handeln, 14. 26 M USSNER, Handeln, 14. 18 19
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Elementen – dem Glauben und dem Sprechen Gottes – nicht um ein bloßes Nebeneinander handelt. Denn das (verheißungsvolle) Reden Gottes ist als Verheißungsmedium ja gerade die Bezugsgröße, auf die sich der Glaube in seiner Ausrichtung auf Gott bezieht, und zugleich Erstursache der Glaubensbewegung. Inwiefern nun aber die dennoch kaum abzustreitende soteriologische Diskontinuität27 zwischen alter und neuer Heilsordnung diese ekklesiologische Kontinuität dennoch nicht in Frage stellt, sondern vielmehr Teil dieses Konzepts im Hebr ist, gilt es nun weiter zu untersuchen. Dazu muss im Folgenden die bisher bewusst ausgesparte Frage nach dem Verhältnis dieser Pisteologie bzw. pisteologischen Ekklesiologie zur Christologie des Hebr gestellt werden. Denn diese ist für den Brief ja tragendes Fundament, aber scheint eben auch ein gewisser „Störfaktor“ für die universalisierende Rede von dem einen glaubenden Gottesvolk zu sein.
2.4 Der Glaube im Verhältnis zur Christologie Wie verhält sich die bis hierin dargestellte Glaubensvorstellung im Hebr nun zur ihm so wesentlichen Christologie? Diese Frage ist mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen viel diskutiert worden. Der Hebr musste sich bekanntlich oft – meist ohne viel Erfolg – vor der Auslegung des 20. Jahrhunderts im Gegenüber zu einem, m. E. zu eng interpretierten, paulinischen Glaubensverständnis behaupten. Kritiker einer solchen Verhältnisbestimmung mit ihren entsprechenden Wertungen haben immer wieder zu Recht den Mehrklang des urchristlichen Glaubensverständnisses betont, innerhalb dessen Hebr als gleichberechtigte Stimme zu hören sein soll.28 Denn die einseitige Würdigung einer dieser Stimmen mit der entsprechenden Herabsetzung einer anderen ist dabei wohl eher Resultat der hermeneutischen Vorliebe des jeweiligen Auslegers.29 Aber: „[D]er wahre Reichtum des Glaubens im Neuen Testament wird erst sichtbar, wenn man das Zeugnis aller Apostel zusammensieht.“30
S. o. II.1. Vgl. LOHSE, Emuna, 161–163. LÜHRMANN, Glaube, 70 stellt daher berechtigterweise die Frage, warum nicht einmal Hebr als Maßstab für alle anderen ntl. Zeugen gelten solle. 29 Vgl. LÜHRMANN, Glaube, 70. So behandelt Rudolf Bultmann den Glauben im Hebr in seinem Beitrag zum Artikel über den Wortstamm πιστ- des ThWNT als Nachklang der atl.frühjüd. Tradition, bevor (!) er sich im nächsten Abschnitt dem „spezifisch christliche[n] Gebrauch“ von πίστις zuwendet, den er terminologisch an einem Glauben an Christus festmacht (vgl. BULTMANN, Art. πιστεύω κτλ, 208f.). Paulus und Johannes erhalten anschließend gesondert ein je eigenes Kapitel (vgl. BULTMANN, Art. πιστεύω κτλ, 218–230). 30 So Peter Stuhlmacher in seiner Einführung zur sechsten Auflage von Adolf Schlatters Monographie über den Glauben im NT (SCHLATTER, Glaube, IX). 27 28
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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Dass Hebr seinen Adressaten Christus selbst als Glaubensexempel und damit als Glaubenssubjekt vor Augen führt, dürfte mittlerweile kaum noch bestritten werden können.31 Wie sich dieser Umstand konkret mit Blick auf die Glaubenden verhält, gilt es dabei nun für die Frage nach dem Gottesvolk herauszuarbeiten. Ganz anders steht es aber um Christus als Glaubensobjekt, wie er im Corpus Paulinum, bei Johannes und in der Apostelgeschichte so deutlich bezeugt wird.32 Terminologisch findet sich im Hebr freilich keine direkte Entsprechung. Die Verwunderung darüber angesichts der Bedeutung der Christologie für die Aussagen des Hebr ist entsprechend vielfach zum Ausdruck gebracht worden.33 In der Tat, nach einem explizit benannten Glauben an Christus – i. S. eines „εἰς Χριστόν“ – sucht man im Hebr vergeblich. Und doch betonen Ausleger immer wieder zu Recht die „streng personhafte Beziehung des apostolischen Glaubens auf Jesus“34 auch im Hebr, da er seine Überlegungen zum Glauben deutlich innerhalb eines „christological framework“35 entwickelt. Nun muss man es sich nicht zwingend zum Ziel setzen, aufzuweisen, dass Hebr letztlich doch diese bestimmte Glaubensformel lehre.36 Im Frühchristentum hat es nun einmal unterschiedliche Ausformungen und Positionen gegeben, ohne dass dies im Widerstreit zu einer gemeinsamen Botschaft stehen muss.37 Wer dies mit dem Ziel übergeht, Hebr gänzlich mit Paulus gleichzusetzen, erliegt dann wiederum doch nur selbst einer einseitigen Überbetonung, sei es auch im Modus der Harmonisierung. Nimmt man hingegen die verschiedenen frühchristlichen Stimmen als Neben-, aber auch als Miteinander ernst, lassen sich neben allen Unterschieden auch Entsprechungen zeigen. Ziel muss dann nicht der Nachweis eines expliziten oder impliziten Glaubens an Christus wie bei Paulus oder Johannes im Hebr sein, aber es lässt sich beschreiben, dass und wie er innerhalb seiner ganz eigenen Darstellungsweise einen Gedanken kennt,
31 Dazu umfassend Richardson, Pioneer (bes. der forschungsgeschichtliche Überblick zum Thema auf S. 2–6 mit entsprechenden früheren Versuchen einer solchen Bestreitung). 32 Vgl. u. a. Joh 2,11; 6,29.35; 7,39; 9,35; 11,25; 12,11.44; Apg 19,4; 20,21; 24,24; Gal 2,16; Eph 1,15; Kol 1,4; 2 Tim 3,15; Phlm 1,5. 33 Vgl. schon SCHULZ, Hebräer, 111; G RÄSSER, Glaube, 184. Besonders kritisch Köster, Auslegung, 105, Anm. 33. 34 SCHLATTER, Glaube, 522; vgl. u. a. mit unterschiedlicher Pointierung SCHNACKENBURG, Botschaft, 245f.; LAUB, Bedeutung, 430–432; RISSI, Theologie, 140f.; SÖDING, Zuversicht, 233f. 35 A TTRIDGE, Hebrews, 314. 36 So durchaus überbetont bei R HEE, Faith. 37 Hier sei zudem darauf hingewiesen, dass das vielfach als so wesentlich (ur-)christlich beschworene „πιστεύειν εἰς Χριστόν“ in dieser Form auch nur bei Paulus, Johannes und in der Apostelgeschichte auftaucht. Bei Markus, Lukas und den der sog. Logienquelle zugeschriebenen Herrenworten wird auch kein direktes Glaubensobjekt benannt (so einer der wichtigen der Kritikpunkte an Gräßers maßgebender Studie über den Glauben im Hebr [1965] bei DAUTZENBERG, Glaube, 174–177, dessen Infragestellung von Gräßers Ergebnissen ohnehin beachtenswert ist).
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der zu dem einer anderen Darstellungsweise mit ihren entsprechenden Theologumena – bei aller Verschiedenheit – in Analogie tritt.38 Eine völlig einseitige, isolierte Lesart singulärer Ausdrücke für das Glaubensverständnis des Paulus oder (!) des Hebr würde zudem die traditionsgeschichtliche Verbundenheit bzw. den traditionsgeschichtlichen Rahmen dieser Schrifttheologen völlig außer Acht lassen, der die beiden, aber letztlich alle neutestamentlichen Autoren und ihre Schriften miteinander verbindet. So betonte Gerhard Dautzenberg zu Recht in seiner Kritik an Gräßers Urteil, dass im Hebr ein „Glauben an“ (wie bei Paulus) außer in 11,6 („an Gott“) fehle:39 „Diese Betrachtungsweise stellt die Dinge auf den Kopf. Der […] Hebr stellt die Grundlagen doch nicht dadurch infrage, daß er sie nur selten erwähnt. Freilich, sein theologisches Interesse gilt den anthropologischen oder ethischen Implikationen des Glaubens. Aber ist das so bedenklich? Die Reduktion des paulinischen Glaubensbegriffs auf ‚Glauben an …‘ unter Ausklammerung seiner vorgängigen intentionalen Beziehung auf Gott als den Grund des Glaubens und des paulinischen Wissens um den Glauben als eine menschliche Haltung verkennt die geschichtliche und d. h. biblische Dimension des Glaubensbegriffs bei Paulus und macht ihn zu einem theologischen Kunstbegriff. Der Vergleich zwischen Paulus und dem Hebr ist immer fruchtbar, aber es ist ein Fehler, den Hebr an Paulus zu messen. Beide stellen verschiedene Ausprägungen einer breiten biblischen Tradition über den Glauben dar.“40
Wie dies m. E. hinsichtlich der Frage nach Christus als Glaubensobjekt auch für Hebr nicht nur möglich, sondern auch nötig ist, soll im Folgenden dargelegt werden.41 Selbiges gilt für die diesem Sachverhalt vorausgehende Frage, ob und wenn ja, inwiefern der Glaube im Hebr in Christus bzw. im Christusgeschehen (s)einen Ermöglichungsgrund findet. Zuvor muss jedoch untersucht werden, auf welche Weise bzw. an welcher Stelle das „christological framework“ im Hebr überhaupt an die Entfaltung seines Glaubenskonzepts als ganzheitliches Beziehungsgeschehen des Menschen zu Gott anknüpft. 2.4.1 Das Problem der Anfechtung und die Notwendigkeit der Reinigung als Verbindungsstück zur Christologie An den positiven wie negativen Glaubensbeispielen42 zeigt sich das für die Verwirklichung des Verheißungswortes bestimmende Geflecht von Verheißungsgeber, Verheißungsgut und Verheißungsempfänger.43 Gott steht als Verheißungsgeber für die Realisierung des Verheißungsgutes mit uneingeschränkter Wahrhaftigkeit (6,18) und unwandelbarer Treue (10,23) ein. Aus seiner Perspektive wird die Verheißung „keineswegs zu einer leeren Zusage oder einem Vgl. auch das Plädoyer für eine solche Herangehensweise bei GRÄSSER, Rechtfertigung, 166f. 39 Vgl. G RÄSSER, Glaube, 66. 40 D AUTZENBERG, Glaube, 166. 41 Ähnlich LAUB, Bekenntnis, 162; B ETZ, Firmness, 443f.; STILL, Christos, 41–50. 42 S. o. II.2.3. 43 Hinzu käme noch das Wort Gottes als Verheißungsmedium. 38
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unbestimmten Vertrösten, wie das menschlichen Versprechungen anzuhaften pflegt“44. Seine Verheißung „hat vielmehr einen festen Inhalt, ein klar umrissenes Ziel, eine verbürgte Verwirklichung und ist darum jeder irdischen Verheißung qualitativ überlegen“45. Die eschatologische Gottesgemeinschaft mit ihren Heilsgütern ist aber seit der Schöpfung und „solange es heute heißt“ (3,13) immer noch, wie Luther προκειμὲνη ἐλπίς in 6,18 sachgemäß übersetzte, eine „angebotene Hoffnung“. Wörtlich ist sie das vor dem Verheißungsempfänger liegende Hoffnungsgut,46 das in Aussicht stehende Ziel, das in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft unvollendet vorhanden und dargeboten ist47 – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Im Blick auf die (menschlichen) Verheißungsempfänger zeigt sich daher nun der eigentliche Unsicherheitsfaktor. Das Verheißungswort bleibt für sie – sogar trotz aller Machterweise Gottes (3,9; 4,3) – stets hinterfragbar (6,13f.; vgl. Gen 22,16f.). Die in diesem Beziehungsgeflecht konstituierte Gottesbeziehung wird daher vom möglichen Zweifel begleitet. Denn die Beziehung zwischen Gott und Mensch wird zunächst einseitig durch die Ansprache Gottes an den Menschen gestiftet. Hierbei spielt für Hebr die Unterscheidung zwischen Juden(-christen) und Heiden(-christen) keine nennenswerte Rolle. Während Juden quasi unter einer kollektiven Ansprache Gottes stehen und somit auf „natürliche“ Weise in einem expliziten Verhältnis zu Gott stehen, sind Heiden je neu mit der Ansprache Gottes konfrontiert (vgl. auch Röm 11,16f.). Beide sind aber ohnehin als Geschöpfe Gottes in seinem verheißungsvollen Schöpfungshandeln angesprochen (4,3f.). Einen Unterschied würde Hebr demnach wohl einzig offenbarungsgeschichtlich sehen.
Der Mensch wird so durch Gott in das Beziehungsgeschehen hineingenommen, ohne dass er zwingend positiv darauf antworten müsste. Er kann an Gottes Wort zweifeln und ihm sogar unbewusst oder bewusst widersprechen. Für Hebr sowie für das gesamte biblische Zeugnis ist das die von Gott trennende „Sünde“. Der Zweifel ist gerade die Verkehrung der Glaubensbewegung in ihre entgegengesetzte Richtung. „In Umkehrung zum Glauben beginnt der Zweifel an einer Person, wenn ich seinen Behauptungen, seinen Aussagen, überwiegend kein Vertrauen mehr schenke.“48 Gunter Zimmermann unterscheidet dabei in einer „logischen Untersuchung“49 über den Zweifel an Gott, in Analogie zum Glauben, einen „fiduziellen“ und einen „doxastischen“ Zweifel. Ersterer beziehe sich auf ein personelles Gegenüber („Ich zweifle an …“), letzterer auf eine Einsicht („Ich zweifle, dass …“),50 wobei beide denselben Gegenstand haben können (z. B. die Treue Gottes). Beim fiduziellen Zweifel schwinge dabei immer auch eine „emotional-
KÄSEMANN, Gottesvolk, 13. KÄSEMANN, Gottesvolk, 13. 46 Vgl. B RAUN, Hebräer, 190. 47 M ICHEL, Hebräer, 253, Anm. 2; B AUER, Wörterbuch, 1416f. 48 ZIMMERMANN, Zweifeln, 313. 49 Vgl. ZIMMERMANN, Zweifeln. 50 Vgl. ZIMMERMANN, Zweifeln, 310–315. 44 45
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affektive“ Komponente mit, weil er sich auf das personelle Gegenüber eines Beziehungsgeschehens richte, an dem der Zweifelnde selbst beteiligt ist. Man könne zweifeln, dass Gott treu ist, ohne dass es einen selbst bewege. Aber man könne nicht an Gottes Treue zweifeln, ohne dabei eine auf eine Relation hindeutende persönliche Betroffenheit immer auch mitzukommunizieren. „Der Ausdruck ‚an Gott zweifeln‘ schildert also eine Relation zwischen Gott und Mensch, die durch Misstrauen und Ablehnung gefärbt ist. Damit lässt sich […] festhalten, dass die Behauptung, dass zum christlichen Glauben Gotteszweifel gehören, falsch ist.“51 Der Glaube als Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott ist vonseiten des Menschen vom Zweifel begleitet, der Glaube selbst schließt ihn aber, wie auch 11,1 gezeigt hat, wesenhaft aus.52
Diesen (möglichen) Zweifel, der im Widerspruch gipfeln kann, führt Hebr, wie bereits dargelegt, seinen Lesern als offenkundig ablesbar an der Geschichte Israels – bezeugt durch die Schrift (3,9f.16f.; 11,4; 12,16–18) – sowie an ihnen selbst bzw. ihrem Umfeld – bezeugt durch die eigene Erfahrung (6,4–6; 10,25.39) – vor Augen. Doch die Möglichkeit des Zweifels aufgrund der schwachen Menschlichkeit der Verheißungsempfänger nährt sich auch von der Ausrichtung des Glaubens selbst. Dass dieser seinen Bezugspunkt im Unsichtbaren hat (11,1), macht das Glaubensgeschehen – nicht nur für die Adressaten des Hebr, sondern allgemeinmenschlich – zu einer durchaus „schwere[n] Pflicht“53. Dies gilt umso mehr angesichts der augenscheinlichen alltäglichen und außergewöhnlichen Anfechtungen im Leben. Hinzu kommt der Umstand, dass der Glaube für Hebr zwar Beziehungsgeschehen ist, dabei aber ja gerade nicht auf eine rein emotionale Ebene reduziert werden darf, sondern als ganzheitlicher Vollzug die rationale, kritische Reflexion mit umfasst.54 Der Glaube muss es – so er sich wirklich im ganzen Leben des Menschen vollziehen soll – mit aller existenziellen Erfahrung sowie kritischen Reflexion zu tun haben. Dadurch bleibt er aber als Kehrseite dem Problem der Anfechtung stets ausgesetzt.55
ZIMMERMANN, Zweifeln, 313. S. o. S. 111, Anm. 62. 53 SCHLATTER, Glaube, 521. 54 Vgl. dazu umfassend SCHLIESSER, Glauben, 520–533, der sogar von einer „Vernunftnotwendigkeit“ des Glaubens spricht (SCHLIESSER, Glauben, 531). Dafür, dass es der Glaube gerade auch mit der ratio des Glaubenden zu tun hat, spricht schon allein die argumentative Anstrengung, mit der Hebr seinen glaubensmüden Adressaten über weite Strecken begegnet. Sein Ziel ist, sie im Glauben zu stärken (vgl. auch THOMPSON, Appropriate, 303–306; LÖHR, Reflections, 202–210. 55 Auch das spezifisch christliche Bekenntnis zur Heilsvermittlung Jesu ist davon betroffen, da dieser augenscheinlich nur in seiner irdischen Erniedrigung greifbar ist. Deshalb muss Hebr ja die im Unsichtbaren liegende Erhabenheit dieses erhöhten Hohepriesters so ausführlich darlegen (vgl. SCHLATTER, Glaube, 524). Von einer Gegenüberstellung eines Scheiterns Israels im Glauben gegenüber einer absoluten christlichen Glaubensgewissheit kann im Hebr keine Rede sein. 51 52
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Ist der Glaube bzw. die Glaubensbewegung das Entscheidungsmoment für die Beziehung zwischen Gott und Mensch (11,6), birgt seine bzw. ihre Anfechtung mit der Möglichkeit des Zurückweichens die Gefahr einer Beziehungsstörung. Eine solche Beziehungsstörung – wie auch immer sie sich im Lebensvollzug konkret äußert – führt zu einer Belastung des Gewissens. Dessen Entlastung ist für Hebr zum Eintritt in die angestrebte Gegenwart Gottes aber ja gerade unumgänglich (9,9.14; 10,2.22).56 Das sich im Glauben konstituierende Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch wird also vom Menschen her durch dessen Gewissensbelastung gestört, sodass zur Wiederherstellung der Beziehung eine Reinigung für das Gewissen des Menschen erfolgen muss, die aber nur von Gott her gewährt werden kann. So, wie alte und neue Glaubenszeugen in ihrer Glaubensstruktur geeint sind, so sind sie es auch in dieser grundlegenden menschlichen Sühnebedürftigkeit hinsichtlich ihrer Gottesbeziehung. Denn obwohl den positiven Glaubenszeugen von Gott Wohlgefallen und Gerechtigkeit bezeugt worden ist (11,4f.7.39a; 12,23), bleibt auch ihnen die endgültige Realisierung der verheißenen Gottesruhe (noch) vorenthalten (11,13). Für Hebr fehlt im Blick auf das glaubende Beziehungsgeschehen all dieser genannten und ungenannten Zeugen – trotz aller positiven Bekundung – das entscheidende Zünglein an der Waage, wie wir später noch genauer sehen werden. Und das ist die endgültige Reinigung des Gewissens des Menschen zu einer intakten Gottesbeziehung. Nur so kann der für den eschatologisch angestrebten Lohn der Gottesruhe notwendige Glaube an sein Ziel gelangen (10,35f.). Das Ziel ist das Schauen des Unsichtbaren, indem der Glaubende durch das eschatologische Gericht Gottes hindurchgerettet werden wird (10,38f.; ferner 9,28).57 Die endgültige Reinigung des Gewissens, die sich gerade auch in der aktiven Seite des Glaubens, d. h. in einer Überführung in den Gott gegenüber gehorsamen Lebensvollzug, äußern soll, wird vom Hebr insbesondere in seinem zweiten Hauptteil (4,14–10,18) unmissverständlich christologisch beantwortet.58 Die von Christus aufgrund der in seinem hohepriesterlichen Heilswirken verbürgten Sündenvergebung durch Gott realisierte neue Heilsordnung (8,7– 13) bietet den Glaubenden ja gerade diese Reinigung des Gewissens und den damit eschatologisch in feste Aussicht gestellten Eintritt in den himmlischen Ort der verheißenen Gottesruhe. Dieser ist die wahre Heimat der Glaubenden (11,8), nach der sich die alttestamentlichen Glaubenszeugen so sehr sehnten (11,10.14.16). Sie alle vermochten sie aber nur von fern zu grüßen (11,9f.13). In 11,8 verwendet Hebr wohl bewusst entgegen der LXX für das den Erzeltern verheißene neue Heimatland ὁ τόπος anstelle von ἡ γῆ, wobei letzteres im S. o. ab S. 90. Dass Hebr auf die Notwendigkeit der erlösenden inneren Reinigung auch für die atl. Glaubenszeugen besteht, geht aus 9,15 eindeutig hervor. 58 S. o. II.1. 56 57
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Hebr meist das Irdische bzw. die geschaffene Welt bezeichnet (1,10; 6,7; 8,4.9; 11,9.13.29.38; 12,25–26). Freilich ist ein schlichter Fehler beim freien Zitieren nie ganz auszuschließen, aber in der Wortwahl drückt sich sein Verständnis von dem aus, wonach sich Abraham beispielhaft für alle alttestamentlichen Zeugen ausstreckt: „Nicht irdisch immanente τόποι, sondern Diesseitigkeit und Jenseitigkeit sind die ‚Orte‘, die den Hebr […] interessieren.“59 Die jenseitige Gottesgemeinschaft ist das in 11,8 benannte Erbe (κληρονομία), das die Glaubenden erlangen wollen und sollen. Damit ist auch mit dem „Land der Verheißung“ (γῆ τῆς ἐπαγγελίας), in dem sich die Erzväter nach 11,9 ansiedelten, in seinem letzten Ziel nichts anderes gemeint als das noch ausstehende, himmlische Vaterland (11,14) – die ewig bestehende Stadt (11,10), das himmlische Jerusalem – und es ist gerade nicht mit dem irdischen Kanaan zu identifizieren.60 Insofern ist dieses „Land der Verheißung“ (γῆ τῆς ἐπαγγελίας) in 11,9, in dem sich die Erzeltern nun tatsächlich (irdisch) ansiedelten, zwar nicht das verheißene (himmlische) Ziel, wohl aber das irdische Land, in das die Verheißung führt. „Nicht in eine neue Heimat führt der Auszug Abrahams, sondern in einen neuen Modus der Fremdheit inmitten einer Welt, die keinen Besitz zu stiften vermag.“61 In dieser irdischen Fremdheit wartet der Glaubende und in ihr ist das über die Zeiten hinweg glaubende Gottesvolk eins, denn nicht nur jene „Alten“ sind „Fremde und Gäste“ (ξένοι καὶ παρεπίδημοι; 11,13),62 sondern auch „wir haben“ (ἔχομεν) auf Erden keine bleibende Stadt (13,14; vgl. 2 Kor 5,1; Phil 3,20; Eph 2,19; 1 Petr 1,1; 2,11).63 Das Gottesvolk pilgert zu seiner himmlischen Polis (13,14), „die Gott für die Glaubenden aller Zeit bereitet hat“64 und in der es in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott leben wird (8,10). Der endgültige Eintritt aber bleibt die innere GRÄSSER, Hebräer III, 124. Vgl. ROSE, Verheißung, 179–182. 61 B ACKHAUS, Land, 177. Dem entspricht das παροικεῖν (11,9) als Ausdruck für den Zustand des nicht auf Dauer angelegten Zeltens (ἐν σκηναῖς κατοικήσας) der Erzväter in Kanaan. Es ist das „Wohnen oder Umherziehen ohne Bürgerrecht“ (BACKHAUS, Land, 178). 62 Im griech. Text wirkte das Eingeständnis der Glaubenszeugen über deren irdische Fremdlingschaft – „ξένοι καὶ παρεπίδημοί εἰσιν ἐπὶ τῆς γῆς“ – regelrecht bekenntnishaft im Blick auf Hebr und seine Adressaten (vgl. BACKHAUS, Land, 179). 63 Zum Motiv der Fremdheit bzw. wahren Heimat der Glaubenden im NT außerhalb des Hebr vgl. SCHIERSE, Verheißung, 116–118. Die Ausrichtung auf die Gottesgemeinschaft ist aber auch nicht auf die Glaubenden zu reduzieren. Die schöpfungstheologische Begründung der verheißenen Ruhe in der Wirklichkeit Gottes signalisiert deren allgemeinmenschliche Bedeutung (vgl. 2,10) „Die unsichtbaren Dinge, Gott selbst und seine himmlische Schöpfung, betreffen deshalb nicht nur den Gläubigen, sondern den Menschen schlechthin. Der Unterschied ist nur der, daß der Christ zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt ist (10,26) und bereits Verbindung mit der himmlischen Stadt aufgenommen hat (12,22) [...].“ (SCHIERSE, Verheißung, 119). Allerdings sei zu dieser richtigen Beobachtung noch ergänzt, dass die Erkenntnis über die eigentliche eigene Zugehörigkeit für Hebr nicht ein spezifisch christliches Merkmal ist, sondern eines aller Glaubenszeugen (11,13f.). 64 B ACKHAUS, Land, 180. 59 60
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Erneuerung durch die Reinigung des Gewissens – die Soteriologie definiert die Ekklesiologie. Von hier aus lässt sich somit danach fragen, in welcher Form die für Hebr soteriologisch unumgängliche Christologie mit der Glaubensvorstellung im Hebr und so mit seiner Vorstellung vom Gottesvolk verbunden ist und an Bedeutung gewinnt. 2.4.2 Die Glaubenden und Christus Die Beziehung der Glaubenden zu Christus und die damit verbundene Bedeutung der Christologie für das im Glauben geeinte Gottesvolk im Hebr lässt sich im Wesentlichen durch eine dreifache Verhältnisbestimmung fassen und daraufhin untersuchen. Diese Bestimmung kann durch drei Präpositionen ausgedrückt werden: Inwiefern glaubt das Gottesvolk wie Christus, durch Christus und an Christus? Als textlicher Ausgangspunkt für diese Überlegungen eignet sich die einzige Stelle im Hebr, an der Jesus ausdrücklich mit πίστις in Verbindung gesetzt wird: 12,2. Die sich dort findende christologische Bezeichnung ist aber kaum ohne die beiden sie umschließenden Verse zu verstehen:65 (1) Deshalb lasst auch uns, weil wir eine so große Wolke der Zeugen um uns haben, ablegend alle Last und die (uns) leicht umgarnende Sünde, mit Geduld den vor uns liegenden Wettkampf laufen, (2) aufschauend auf den Anfänger und Vollender des Glaubens, Jesus, der um der vor ihm liegenden Freude willen das Kreuz ausgehalten hat, die Schande für nichts erachtend, und sich niedergesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. (3) Bedenkt also denjenigen, der einen derartigen Widerspruch von den Sündern gegen sich ausgehalten hat, damit ihr nicht müde werdet, kraftlos geworden in euren Seelen.
Mit diesen Versen beschließt Hebr seinen Blick auf die Glaubenszeugen, an denen sich seine Adressaten vorbildhaft orientieren sollen, um der dringlichen, heilsentscheidenden Glaubensaufforderung aus 10,38f. nachzukommen. Dabei besteht 12,1–2 aus einem einzigen Satz mit mehreren Partizipialkonstruktionen zur weiteren Ausformung des im eigentlichen, kurzen Hauptsatz ausgedrückten Anliegens (12,1):
65 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 227; W EISS, Hebräer, 631, die die Sinneinheit v. a. an den Stichworten ὑπομονή/ὑπομένειν (12,1.3) festmachen. KOESTER, Hebrews, 534 betont hingegen das Wettkampfmotiv stärker und sieht daher eine Verbindung zwischenV. 1 und V. 4 durch die Stichworte ἀγών/ἀντιαγωνίζειν bzw. ἁμαρτία gegeben. Die Stichworte weisen aber wohl eher auf die Zugehörigkeit des Abschnitts (wie auch seiner Folgeverse) zu dessen größeren Zusammenhang, nämlich der Bedeutung der Zeugenwolke in Kap. 11 für die Ermutigung der glaubensmüden und insofern von Sünde angefochtenen Adressaten. Der ganze Abschnitt schließt sich ja letztlich immer noch an die Glaubensaufforderung in 10,38f. an (vgl. LANE, Hebrews II, 406). Zudem erfolgt zwischen 12,3 und 12,4 durch das an 12,1–2 anknüpfende γάρ in 12,3a und das an 12,4 anknüpfende und den weiteren Gedankengang eröffnende καί in 12,5a durchaus eine gewisse Zäsur. Lane dürfte richtig liegen, wenn er daher von 12,4 als einem „transitional sentence“ spricht (LANE, Hebrews II, 417).
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
„Τοιγαροῦν καὶ ἡμειῖς […] τρέχωμεν τὸν προκείμενον ἡμῖν ἀγῶν.“ „Deshalb lasst auch uns […] laufen den vor uns liegenden Wettkampf!“
Das τοιγαροῦν verweist im engeren Sinne zurück auf Kap. 11. Die Glaubensbeispiele – im weiteren Sinne auch die negativen – mahnen und ermutigen die Adressaten zum geduldigen Glaubenskampf. Aber wie dieser geführt bzw. woher diese Geduld genommen werden soll, das ist nun Gegenstand dieser drei Verse. Denn im sachlichen Zentrum steht der Aufruf, „auf Jesus als Anfänger und Vollender des Glaubens“ (εἰς τὸν τῆς πίστεως ἀρχηγὸν καὶ τελειωτὴν Ἰησοῦν) zu schauen (12,2a),66 um selbst Kraft für den Glaubensweg zu bekommen und zu behalten (12,1b). Die exakte Wortwahl und -anordnung in 12,2a ist für das Verständnis wesentlich: „ἀφορῶντες εἰς τὸν τῆς πίστεως ἀρχηγὸν καὶ τελειωτὴν Ἰησοῦν“ „schauend auf des Glaubens Anfänger und Vollender, Jesus“
Das indirekte Objekt πίστις wird durch die Stellung vor den beiden christologischen Bezeichnungen betont und durch die Verwendung ohne ein durchaus erwartbares Possessivpronomen (z. B. ἡμεῖς) in seiner Geltung unterstrichen. Um nichts anderes geht es hier als um den Glauben schlechthin, der zum endzeitlichen Heil notwendig ist und dem einen Gottesvolk, wie es Hebr definiert, seine Identität als Glaubensgemeinschaft verleiht. Zudem wird durch die Voranstellung deutlich, dass sich beide Funktionen, ἀρχηγός und τελειωτής, gleichrangig (καί) auf den Glauben beziehen. Das syntaktische Gewicht dieser Partizipialkonstruktion liegt aber dennoch nicht auf πίστις, denn direktes Objekt des Verbs sind die beiden christologischen Bezeichnungen, die in dem am Ende genannten Namen gebündelt werden. So fällt der Blick unmissverständlich auf Jesus. Auf ihn sollen die müden Glaubensathleten schauen.67 Das Bild vom sportlichen Wettkampf spricht dabei für sich. Der laufende Athlet kann mit stabilem Oberkörper seine größtmögliche 66 Estella B. Horning hatte als erste eine chiastisch-konzentrische Struktur in den aus einem Hauptsatz bestehenden Versen 12,1–2 wahrgenommen, die diesen christologischen Spitzensatz im Hebr auch formal ins Zentrum rückt (vgl. HORNING, Estella B.: Chiasm, Creedal Structure, and Christology in Hebrews 12,1–2, BR 23 (1978), 41–48; daran mehr oder weniger anschließend u. a. BLACK, Note, 545–547; HAMM, Faith, 280). Dieser Gliederungsvorschlag ist v. a. mit dem Verweis auf die z. T. recht freie Zuordnung einzelner Gliederungselemente oder auch mit dem Einwand, dass 12,3 hier nicht berücksichtigt werde, kritisiert worden (vgl. z. B. CROY, Endurance, 191f.). ROSE, Wolke, 335f. schlägt daher eine chiastische Struktur für 12,1–3 vor (vgl. ebenso, aber mit einer anderen Anordnung RHEE, Faith, 225f.). Die jeweiligen Begründungen sind in sich alle weitestgehend schlüssig und legen den Fokus auf unterschiedliche Aspekte. Eine einseitige Festlegung ist kaum möglich und für WEISS, Hebräer, 631 folgerichtig auch nicht nötig. So oder so, die Bedeutung der christologischen Aussage wird durch diese rhetorisch komplexe und kunstvolle Komposition unterstrichen (vgl. COCKERILL, Hebrews, 605, Anm. 23). 67 Vgl. R OSE, Wolke, 335.
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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Energie in die Vorwärtsbewegung umsetzen. Der aufgerichtete Blick nach vorn ist dafür wesentlich. Hebr drückt dieses „Den-Blick-auf-Jesus-Richten“ mit dem Kompositum ἀφορᾶν aus. Wörtlich (ἀπό + ὁράω) beschreibt es einen Vorgang des Weg-Sehens von allem Sonstigen, um die Aufmerksamkeit exklusiv auf etwas Konkretes zu richten.68 Das Fixieren des Blickes ist dabei auch von einem durch und durch hoffnungsvollen Vertrauensmoment geprägt (vgl. 4 Makk 17,10).69 Dieser Vorgang erinnert in seiner Dynamik an die Glaubensbewegung weg von den toten Werken hin zum wahren Gottesdienst (9,14; 11,1f.). An die toten Werke als Ausdruck für die Sünde i. S. einer Abkehr von dem einzig einen Gott und einem „Der-Versuchung-Nachgehen“ erinnert zudem das hier verwendete εὐπερίστατος. Es dient einer Charakterisierung der Sünde, die von den Adressaten auf ihrem Glaubenslauf abgelegt werden soll. Diese vermutlich durch den Hebr selbst zustande gebrachte Wortschöpfung70 versteht im Bildkontext des Wettkampfes die Sünde als etwas, das sich auf verhängnisvolle Weise „nur zu gern“71 um den Läufer schlingt und den Glaubenslauf so erschwert oder sogar unmöglich macht.72 Nicht ohne Grund wird die Sünde hier zusammen mit „jeder Last“ (ὂγκος πᾶς) genannt. Gemeint ist jeder die Glaubenden auf ihrer irdischen Pilgerschaft beschwerende Umstand als innere oder äußere Kümmernis. Das ist es ja gerade, was die Füße der Glaubensläufer ermatten lässt und diese so in die Gefahr bringen, die Sünde aus der Möglichkeit in die Realität zu überführen, d. h. „zurückzuweichen“. Dem sollen die Glaubenden, umringt von einer sie auf den Weg und das Ziel verweisenden Wolke der zahlreichen Glaubenszeugen (12,1a), gerade nicht nachgeben. Stattdessen sollen sie am wahren Gottesdienst festhalten. Der mit dem Bild vom Wettkampf verbundene Lohn- bzw. Siegespreisgedanke hinsichtlich der Ausrichtung der Glaubenden auf das himmlische Ziel ist innerhalb der Metaphorik stimmig. Es gibt keinen Wettkampf ohne Siegespreis, für den die Wettkämpfer keine Anstrengung scheuen.73 Der Lohngedanke 68 Vgl. FRIBERG/FRIBERG, Lexicon, 84; W EISS, Hebräer, 634f.; gegen G RÄSSER, Glaube, 123, der darin ein „distanzierte[s] und abwägende[s] Betrachten des Objekts mit vorbehaltener Entscheidung“ erblickt. 69 Vgl. B RAUN, Hebräer, 404 mit entsprechenden außerbiblischen Belegen. 70 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 232, Anm. 68. 71 G RÄSSER, Hebräer III, 233. 72 Vgl. die entsprechenden Übersetzungsvorschläge i. S. des „circumstans“ der Vulgata: „anklebend und träge machend“ (Luther 1545), „umstrickend“ (Luther 1984 u. 2017), „umgarnend“ (Zürcher) oder „gefangen nehmend“ (NGÜ). Weniger treffend scheint der härter klingende Vorschlag der früheren EÜ (1980) als „Fesseln der Sünden“ zu sein, da die Vorsilbe εύ ein personalisiertes Moment der Gerissenheit bzw. „Cleverness“ suggeriert. (vgl. GRÄSSER, Hebräer III, 233). SCHULZ, Hebräer, 245 übersetzt daher sachlich durchaus treffend „die von allen Seiten lockende Sünde“. 73 Der Wettkampfgedanke bezieht sich dabei freilich nicht auf die Konkurrenz untereinander, sondern auf die zu bekämpfende Sünde. Dies würde dem so oft betonten Gedanken
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
wird vom Ziel her gedacht, nicht umgekehrt. Weil ein so wertvolles Gut – das sind die himmlischen Heilsgüter in der Gemeinschaft Gottes – als Gewinn von Beginn an ausgelotet ist, lohnt sich umso mehr jede erdenkliche Anstrengung auf dem Weg dorthin. Doch die Glaubensathleten beziehen das benötigte Durchhaltevermögen ihrer Glaubensbewegung nicht aus eigener Kraft, sondern – in der Vergewisserung am Glaubensbeispiel ihrer Glaubensgenossen – im Schauen auf Jesus. Denn für diese eschatologisch entscheidende Glaubensbewegung spielt Jesus (auch) für Hebr eine oder besser die zentrale Rolle.74 2.4.2.1 Glauben „wie“ Christus Die Rede von Jesus als τῆς πίστεως ἀρχηγὸς καὶ τελειωτής in 12,2a nimmt unzweifelhaft auch den irdischen Jesus selbst als Subjekt des Glaubens in den Blick.75 Die Adressaten dürfte das aber auch gar nicht wirklich überraschen, denn Jesus wurde im Hebr – in verschiedenen Ausformungen – immer wieder hinsichtlich seiner eigenen Beziehung zum Vater erkennbar:76 Hebr lässt Jesus in 2,13 mit Bezug auf Jes 8,17; 12,2 und 2 Sam 22,3 dessen Vertrauen auf und in 10,1–18 mit Ps 39LXX seinen echten Gehorsam gegenüber Gott bekunden. Seine Treue als Hohepriester wird zudem zweimal konkret benannt (2,17; 3,2). Sodann zielt auf dem Hintergrund des relationalen Glaubens- und Sündenverständnisses im Hebr besonders die Thematisierung der Sündlosigkeit (4,15; 7,26f.) auf Jesus als Glaubenssubjekt ab. Dabei erwies er sich während seines irdischen Wirkens als gehorsam (5,8) und in seinem Sein ganz auf Gottes Willen hin ausgerichtet (5,7). In seinem freiwilligen Selbstopfer am Kreuz erreicht diese gehorsame Seinsausrichtung ihren unüberbietbaren Höhepunkt oder vielmehr Tiefpunkt. Gerade diese Selbsthingabe am Kreuz benennt Hebr in 12,2f. explizit als ein für seine Adressaten anschauungswürdiges Geschehen.77 Hebr fällt diese eindeutigste Aussage über Jesus als Glaubenssubjekt in 12,1–3 bewusst im Anschluss an die konzentrierte Aufzählung der Glaubenszeugen im elften Kapitel. Die Liste an Beispielen ist zwar quantitativ offen, findet aber im Glaubensbeispiel Jesu ihren qualitativen Höhepunkt. Zum einen der gegenseitigen Ermutigung, damit ja niemand zurückbleibe, völlig widersprechen (3,13; 10,24; 13,1). 74 Vgl. auch K LAPPERT, Eschatologie, 58. 75 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 229. Dies wurde zwar immer wieder bestritten (vgl. den Überblick bei RICHARDSON, Pioneer, 2–6), findet aber in der jüngsten Exegese m. W. keinen Widerhall mehr. Dass Hebr damit auch nicht als Einzelkämpfer auf weiter Flur zu stehen scheint, zeigt die Debatte um das Verständnis von πίστις Χριστοῦ bei Paulus entweder als genitivus subjectivus und/oder objectivus (vgl. RICHARDSON, Pioneer, 2, Anm. 6 Lit.). 76 Vgl. H AMM, Faith, 280–286. 77 12,2 ist zudem die tatsächlich einzige Stelle im Hebr, an der das Kreuz (σταυρός) explizit benannt wird, obwohl der Kreuzestod als kultisches Sühnegeschehen eine so zentrale Rolle spielt (7,27; 9,12.15; 10,10; 13,12 u. ö.).
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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steht er den Glaubensbeispielen, obwohl er selbst eines von ihnen ist, mit seinem Glaubenszeugnis unnachahmlich gegenüber. Zum anderen erfüllt er gleichzeitig den Maßstab für das wahre Glaubenszeugnis, von dem aus allen anderen Glaubenszeugnissen ihre Wertigkeit beigemessen wird. Es ist dasselbe Ineinander von Entsprechung und Überbietung, wie Hebr es bei dem Vergleich der levitischen Hohepriester mit Jesus dargestellt hat.78 Jesus entspricht ihnen, überbietet sie aber aufgrund seiner Sohnschaft unübertrefflich. Jene wirken Sühne, sind aber aufgrund ihres Menschseins nicht zum endgültigen Sühneopfer imstande. Jesus wurde ganz und gar Mensch, konnte aber als Gottessohn wahrhaft gehorsam gegenüber Gott sein, sodass er ein endgültiges Sühneopfer vollbringen konnte. So, wie die Hohepriester als Menschen das Vollkommene aus dem Irdischen heraus nicht vollbringen können – selbst, wenn es mit einem Selbstopfer versucht worden wäre –, so auch nicht die menschlichen positiven Glaubenszeugen. Denn auch für sie gilt nach dem Hebr – freilich auf dem Hintergrund seines spezifischen Glaubensverständnisses –, was Paulus speziell für die Existenz der Christen zwischen Ostern und Parusie festhält: Sie wandelten „im Glauben, nicht im Schauen“ (2 Kor 5,7). Dennoch sind sie positive Glaubenszeugen, insofern sie dem wahrhaften Glauben, wie er sich konkret in Jesus zeigt, nachstrebten, um von Gott Gerechtigkeit bezeugt zu bekommen. Darin liegt ihr Wert für die jeweils gegenwärtige Generation des glaubenden Gottesvolkes. Wie wir bereits gesehen haben, bedeutet dies nicht, dass die alttestamentlichen Zeugen Jesus konkret vor Augen gehabt hätten (vgl. etwa Joh 8,56). Die Logik des Hebr ist gerade umgekehrt. Die Glaubenszeugen blieben in ihrem Glaubenszeugnis hinsichtlich des Eintritts in die himmlische Ruhe unvollkommen. Aber mit dem Reden Gottes im Sohn (1,1–4) offenbart sich (retrospektiv) der im Sohn erfüllte Maßstab für das Urteil über diese Unvollkommenheit. Dies lässt sich gut an der „Gegenüberstellung“ von Jesus und Mose in 3,1–6 verdeutlichen. Im Zuge der Beschreibung Jesu als Sohn, in dem sich Gott abschließend und letztgültig offenbart hat und der größer ist als alle Engel, vergleicht ihn Hebr mit Mose. Natürlich wird Mose hier auch als oberster Repräsentant der alten Heilsordnung verstanden, die ihm durch Engel vermittelt worden ist (2,2) und in der sich Gott im Laufe der Geschichte auf unterschiedliche Weise mitgeteilt hat (1,1). Insofern dient der Abschnitt bereits als Vorbereitung auf den späteren Vergleich zwischen alter und neuer Heilsordnung. Aufschlussreich ist aber auch der Argumentationsgang dieser sechs Verse. Denn im Mittelpunkt steht gerade nicht Mose, der vom Sohn Jesus hinsichtlich seiner Glaubenstreue überboten werden soll, und damit eine polemische Absicht. Das Hauptaugenmerk
78
Vgl. GRÄSSER, Mose, 13f.
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
liegt auf der Glaubenstreue des Sohnes selbst, die durch Moses Beispiel in ihrer einzigartigen Qualität bezeugt wird:79 3,1
Ὅθεν […] κατανοήσατε τὸν […] Ἰησοῦν,
Darum […] schaut auf […] Jesus,
3,2
πιστὸν ὄντα […] ὡς καὶ Μωϋσῆς […]
der treu war […] wie auch Mose […]
3,3
πλείονος γὰρ οὗτος δόξης παρὰ Μωϋσῆν ἠξίωται […]
denn er ist größerer Ehre wert als Mose […]
3,5
καὶ Μωϋσῆς μὲν πιστός […] ὡς θεράπων
und Mose war zwar treu […] als Diener
3,6
Χριστός δὲ ὡς υἱός […] οὗ οἶκός ἐσμεν ἡμεῖς, ἐάνπερ τὴν παρρησίαν καὶ τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος κατάσχωμεν
Christus aber als Sohn […] seines Hauses sind wir, wenn wir die Zuversicht und den Ruhm der Hoffnung festhalten
Die Aufforderung, auf Jesus zu schauen (3,1a), bestimmt hier analog zu 12,1– 3 den Gedankengang.80 Auch hier liegt die Absicht in der Glaubensstärkung der Adressaten, damit diese den Eintritt in die Gemeinschaft Gottes erlangen (3,6). Für Jesus gilt: Er war treu (πίστος) gegenüber Gott (3,2a).81 Dass seine Treue aber über eine ganz andere Qualität als die anderer treuer Menschen Vgl. GRÄSSER, Mose, 12f.; GUTHRIE, Structure, 128; BACKHAUS, Hebräerbrief, 135. Letztlich könnte der Vergleich mit Mose auch weggelassen werden, wobei der paränetische Zweck des Abschnitts immer noch erhalten bliebe. Dass damit diesem Abschnitt zudem auch keine antijüdische Polemik zugrunde liegt, sehen die meisten Ausleger (vgl. u. a. ATTRIDGE, Hebrews, 105; WEISS, Hebräer, 239; KOESTER, Hebrews, 248; BACKHAUS, Hebräerbrief, 140). 80 K OESTER, Hebrews, 248f. versteht den Abschnitt primär als Auslegung von Num 12,7, indem er die atl. Aussage, Mose sei ein treuer Diener im Hause Gottes gewesen, in seinen Einzelteilen (treu, Haus, Diener) auf Christus bezieht, wobei dieser Mose darin überbietet. Die Beobachtung ist im Grunde völlig richtig, allerdings scheint mir die Perspektive genau umgekehrt zu sein. Nicht Mose wird mit Christus ausgelegt, sondern Christus mit Mose – so, wie es Hebr auch bei dem Sohn und Melchisedek tut (7,1–3). 81 Die Bezeichnung Moses als „πίστος“ in Num 12,7LXX bezieht sich in erster Linie auf dessen Vertrauenswürdigkeit (hebräisch ֶנֶאָמןals Partizip Nifal von )אמןhinsichtlich seiner Führungsrolle über die Israeliten. Damit muss aber die Bedeutung von πίστος in 3,2 im Blick auf Jesus nicht in Analogie allein auf dessen „Zuverlässigkeit“ als Hohepriester bezogen werden. Da im direkten Anschluss an 3,1–6 im Gegenüber zur Treue Jesu und Moses das Negativbeispiel der ungehorsamen Wüstengeneration folgt, legt sich der Bezug von πίστος auf den Glaubensgehorsam angesichts Anfechtungen auch in 3,2 näher. Diese Deutung schließt andere Aspekte freilich nicht aus, harmonisiert aber auch stärker mit der zuvor in 2,17 erwähnten Treue Jesu als Hohepriester in der Bewährungsprobe seiner Menschlichkeit (vgl. MICHEL, Hebräer, 175; LAUB, Bekenntnis, 89–92; GRÄSSER, Hebräer I, 164f.; KOESTER, Hebrews, 243 u. a.). Dass auch Mose als großes Glaubensbeispiel nach dem atl. Zeugnis letztlich doch straucheln konnte und gestrauchelt ist (Num 20,12), wird von Hebr hier gemäß seiner Intention der Glaubensstärkung nirgends erwähnt. 79
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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verfügt, zeigt Hebr im Vergleich zu Mose (ὡς καὶ Μωϋσῆς; 3,2b). Auch dieser erwies sich – wie so viele später genannte und ungenannte positive Glaubenszeugen – Gott gegenüber als treu, d. h. er richtete sich in seiner Existenz auf den Willen Gottes aus, im Vertrauen auf dessen Treue. Somit kann er denen, die sein Glaubenszeugnis betrachten, als positives Beispiel dienen. Strukturell unterscheidet sich Jesus hier in keiner Weise von Mose und den anderen Glaubenszeugen, denn auch seine vom Hebr ausdrücklich bedachte größte Bewährung vor Gott erwies Jesus im Angesicht des drohenden Todes im Gehorsam gegenüber Gottes Willen und im Vertrauen auf dessen Auferstehungsmacht (5,7). Wie Hebr den Ausdruck dieser Treue konkret für Mose erblickt, beschreibt er dann in 11,24–29. Aber innerhalb dieser strukturellen Entsprechung unterscheidet sich Jesus fundamental hinsichtlich seiner Voraussetzungen für die Glaubensbeziehung zu Gott und hinsichtlich seiner dadurch überhaupt erst ermöglichten Verwirklichung dieser Glaubensbeziehung. Mose war treu „als Diener“ (ὡς θεράπων; 3,5a), Jesus aber „als Sohn“ (ὡς υἱός; 3,6a). Der Referenzpunkt der Treue ist hier der Dienst für das Gottesvolk, d. h. aus Sicht des Hebr für die glaubende Gemeinschaft derer, die auf dem Weg zur eschatologischen Ruhe Gottes sind. Dazu wählt Hebr hier ausgedrückt die Metapher der familiären Gemeinschaft eines Hauses (οἶκος; vgl. 1 Petr 2,1–10; Eph 2,20f.).82 An diesem Bild lässt sich gut zeigen, was für Jesus hinsichtlich aller Menschen gilt: Er ist nicht allein ein von Schwachheit angefochtener Mensch, sondern immer zugleich der einzigeine Sohn, der gerade durch sein Schwachwerden zu seiner vollkommenen Bedeutung für alle anderen Menschen gelangt. Doch diese Bedeutung kann eben nur er erlangen, weil er Sohn ist. Mose zeugte mit seiner Treue von der Glaubensbeziehung zu Gott, die der Welt schließlich – d. h. vom geschichtlichen Standpunkt des Moses aus zukünftig – im Sohn auf vollkommene Weise von Gott bezeugt werden sollte (3,5b). Auf dem Hintergrund des Christushymnus in 1,1–3 ist mit dem passiven Partizip im Futur λαληθησομένων zweifellos das Reden Gottes im Sohn (ἐλάλησεν ἐν υἱῷ; 1,2) gemeint, das aus der Perspektive des Hebr und seiner Adressaten ja, wie der Aorist in 1,2 deutlich macht, bereits in der historisch verortbaren und in ihrer Bedeutung andauernden Vergangenheit liegt (vgl. 2,3). In Mose – stellvertretend für alle alttestamentlichen Glaubenszeugen – überschneiden sich daher quasi die Zeiten. Mit seiner Person und seinem Dienst gehört Mose zu den Vorangegangenen (vgl. πρεσβύτεροι in 11,2). Mit seinem Zeugnis vom Zukünftigen nimmt er aber Anteil am Neuen. Konkret ist das die durch die einzigartige Treue des Sohnes Jesus endgültig zugängliche himmlische Gemeinschaft mit Gott. 82 Bei Jesus äußert sich dieser Dienst in seinem Wirken als Hohepriester (3,1), bei Mose freilich entsprechend dem atl. Zeugnis in seiner Bedeutung für die gesamte Zeit des Exodus und den Bundesschluss am Sinai.
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Die alttestamentlichen Glaubenszeugen werden hinsichtlich ihres Glaubenszeugnisses also vom Hebr dem vollkommenen Glaubenszeugnis des Sohnes Jesu als wahrem Gottesdienst zugeordnet. Diese Perspektive vollzieht Hebr dann auch in der konzentrierten Aufzählung dieser Glaubenszeugen in Kap. 11. Am deutlichsten wird dies wieder an Mose sichtbar, dessen Solidarität mit den versklavten Israeliten sowie die Flucht aus Ägypten als Anteilnahme an der (für ihn geschichtlich zukünftigen) „Erniedrigung Christi“ (ὀνειδισμὸς τοῦ Χριστου) gedeutet wird (11,24–26). Dies mag für den modernen Leser ein gewöhnungsbedürftiger Umgang mit dem vorfindlichen Text des alttestamentlichen Zeugnisses sein, ist aber innerhalb des hermeneutischen Denkens des Hebr auf dem Fundament des Christusereignisses sachlich schlüssig.83 In der unüberbietbaren Qualität seines Glaubenszeugnisses hinsichtlich seiner Glaubenshaltung ist Jesus nicht nur für die christliche Gemeinde, sondern für alle Glaubenden der Anführer und Vollender des Glaubens (12,2), so wie er ja die notwendige Glaubensbewährung wegen seiner Erniedrigung einzig für sie auf sich genommen hat (2,10f.; 17).84 Er geht als ultimatives Beispiel auf einem Glaubensweg voran, den er – und aus eigenem Vermögen auch nur er – konsequent gehorsam bis zum Ziel gegangen ist, sodass auch nur er seinen Weg „zur Rechten des Thrones Gottes beendet hat“ (8,1; 12,2).85 Dadurch hat er als Pionier für alle anderen himmlisches Neuland betreten.86 Das bedeutet, dass alle so Glaubenden – vor und nach Jesus (13,7) – in ihrer Glaubenshaltung, die ihren letztgültigen Maßstab in der Glaubenshaltung Jesu hat, strukturell geeint sind.87 Sie laufen alle in dieselbe Richtung mit dem Ziel des himmlischen Heimatlandes. Aber wirklich geeint zu einer eschatologischen familiären Gemeinschaft (οἶκος) als Volk Gottes werden sie nicht durch diese strukturelle Entsprechung, sondern in der Bedeutung Jesu für ihren Glaubensweg, als derjenige, der den Zieleinlauf durch sein gehorsames (hochpriesterliches) Wirken überhaupt erst ermöglicht hat.88 Insofern kennt Hebr auch, wie im Folgenden weiter vertieft wird, ein Glauben durch Christus.
83 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 227, der auch mit Recht darauf hinweist, dass Hebr sein Glaubensverständnis und damit die Zeugenschaft der Alten gegen den „historisch-kritisch erhebbaren Literalsinn“ in den atl. Text hineindeutet. Dem würde Hebr – so er diese Größe kennen würde – vermutlich aber auch gar nicht widersprechen, da dieses Vorgehen sich auch für ihn zwar erst, dann aber unumgänglich aus dem Reden Gottes im Sohn ergibt. 84 Vgl. H EGERMANN, Hebräer, 88; SÖDING, Zuversicht, 232. 85 Der „Vergleich“ gerade mit Mose in 3,1–6 (und dessen christologische Zuordnung in 11,24–26) lässt die Einzigartigkeit des Sohnes umso mehr erstrahlen, bedenkt man die Bedeutung Moses im Frühjudentum, die kaum zu überschätzen ist (vgl. LANE, Hebrews I, 74). 86 Auch für die Glaubenden ist das Ziel der freimütige Gang vor den Thron Gottes. Das „Sitzen zur Rechten“ ist aber die alleinige Ehre des Sohnes (1,13). 87 Vgl. H EGERMANN, Hebräer, 245. 88 Vgl. K LEINIG, Hebrews, 586.
2. Der Glaube des einen Gottesvolkes
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2.4.2.2 Glauben „durch“ Christus Die vorangegangenen Beobachtungen haben gezeigt, dass für Hebr der subjektive Glaube Jesu eine wesentliche Funktion für den Glauben seiner Adressaten, wie dem des gesamten glaubenden Gottesvolkes einnimmt. Als „Anfänger“ (ἀρχηγός) geht Jesus ihnen auf ihrem Glaubensweg als das Vorbild für gehorsame Glaubensbewährung schlechthin voran.89 Dabei ist er aber ein Vorbild sui generis, denn in seiner „Pionierrolle“ geht er allen, die die „zukünftige Stadt“ suchen (13,14), voran. Deshalb kann diese Rolle nicht als eine von mehreren verstanden werden. Nicht jeder einzelne der benannten alttestamentlichen (und neutestamentlichen) Glaubenszeugen fungiert für die Adressaten als ein solcher Pionier, sondern alle – Glaubenszeugen und Adressaten – sind auf den Vorstoß Jesu in die bisher unbekannten himmlischen Gefilde angewiesen.90 Es ist ein doppeldeutiger Gedanke, den Hebr hierbei konsequent verfolgt: Die Glaubenden können und sollen auf Jesus als Vorbild schauen, um das Ziel zu erlangen – so die deutliche Aussage von 12,1–3 im engeren Kontext. Sie müssen es aber sogar, bedenkt man den weiteren Kontext des gesamten bisherigen Schreibens.91 Denn die Reinigung des Gewissens als notwendige Bedingung für den eschatologischen Eintritt in die Gemeinschaft Gottes kann allein die einzigartige Lebenshingabe des hohepriesterlichen Sohnes erwirken (9,13f.), wie Hebr in 7,1–10,18 umfassend und unmissverständlich erklärt hat. Hebr spricht nirgends von einem paulinisch formulierten „in Christus“ der neuen christlichen Existenz vor Gott (vgl. Röm 8,1; 1 Kor 1,2; 2 Kor 5,17; Gal 2,17; Phil 4,21; 1 Thess 2,14; Phlm 1,23 u. ö.). Aber er spricht von sich und seinen Adressaten als „Geheiligte durch das Opfer des Leibes Jesu Christi“ (ἡγιασμένοι […] διὰ τῆς προσφορᾶς τοῦ σώματος Ἰησοῦ Χριστοῦ; 10,10) und wünscht seinen Adressaten zum Abschluss, dass Gott „durch Jesus Christus“ in ihnen das vollende, was ihm wohlgefällig sei (ποιῶν ἐν ἡμῖν τὸ εὐάρεστον ἐνώπιον αὐτοῦ διὰ Ἰησοῦ Χριστου; 13,21). Zudem begründet er ihnen die Notwendigkeit des Glaubensgehorsams und der gegenseitigen Ermutigung damit, „Teilhaber an Christus“ (μέτοχοι τοῦ Χριστοῦ) geworden zu sein (3,14). Wie 89 Vgl. auch G RÄSSER, Rechtfertigung, 172 im Blick auf die in 10,38 mit Hab 2,4bLXX geforderte δικαιοσύνη: „[... Ü]berall [im Hebr; Anm. A. H.] bezeichnet die δικαιοσύνη die von Gott auf seiten des Menschen erwartete Verhaltensweise, welche dem Verhalten des Messias Jesus entspricht [...].“ 90 Dass Jesus den Glaubenszeugen immer auch gegenübersteht, macht Hebr zudem formal daran kenntlich, dass er Jesus als maßgebenden Glaubenszeugen nach bzw. zum Abschluss der Zeugenwolke in 12,1–3 anführt. 91 Vgl. W EISS, Hebräer, 635. Ein Verständnis von 12,1–3 völlig unabhängig vom bisherigen Gedankengang ist hinsichtlich einer reellen Situation, in der das Schreiben ge- bzw. verlesen wird, kaum vorstellbar. Die Adressaten müssten nach zehn Kapiteln einen plötzlichem Gedächtnisverlust erleiden, um nicht sofort an die soeben erfolgte breite Darlegung des Christusgeschehens zu denken (vgl. COCKERILL, Hebrews, 605, Anm. 23).
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Christus durch seine Menschwerdung Anteil an ihnen genommen hat (2,14), so haben sie Anteil an ihm und damit an der himmlischen Wirklichkeit (6,4f.) bekommen.92 Das Christusgeschehen hat demnach nicht allein ethisch-paränetische Bedeutung für die Glaubenden, sondern auch eine effektive soteriologische.93 Deutlich wird dies an der in 3,1–6 gebrauchten Metapher von der familiären Hausgemeinschaft (οἶκος) als Ausdruck für die Glaubensgemeinschaft.94 Zu diesem „Haus Gottes“ gehört man nach 3,6b, wenn man an der „Hoffnung“ (ἐλπίς) bis zum eschatologischen Ende festhält (κατέχειν). Das Motiv der „Hoffnung“ (ἐλπίς) ist im Hebr stets auf das eschatologische Heil (als Verheißungsgut) gerichtet, dessen Verwirklichung im Christusgeschehen angeboten und verbürgt ist (vgl. 3,6; 6,11.18; 7,19; 10,23).95 Das „wir“ (ἡμεῖς) in 3,6b sollte nicht ausschließlich auf die Eingliederung von Heiden in das „natürliche“ Gottesvolk, für das dieser Anspruch dann nicht gelten müsste, bezogen werden – im Sinne des Bildes vom Ölbaum mit seinen natürlichen und unnatürlichen Zweigen bei Paulus (Röm 11,16–19). Dies ist umso zwingender, sobald Hebr auch nur einen einzigen Judenchristen unter seinen Adressaten annimmt, was historisch wohl mehr als wahrscheinlich sein dürfte. Dann aber erhebt er mit der Zugehörigkeit zum Haus Gottes durch das Festhalten an der Hoffnung, die er (allein) in Christus als gültig durch Gott verbürgt versteht, generellen Anspruch für den gesamten Haushalt – einschließlich dem so bedeutenden Glaubenszeugen Mose.96 Denn allein Christus steht als Sohn über dem Haushalt in nächster Nähe zum Vater als Erbauer und Herrn des Hauses, sodass alle Mitglieder des Haushaltes ihm zugeordnet sind:97 „Wenn Mose dem Sohn unterlegen ist, dann deshalb, weil selbst er, der glanzvollste Repräsentant des alten Heilsvolks, wie alle Offenbarung, aller Kult und alles Menschsein in die Erdensphäre gehört, die den Machtglanz der ganz anderen Wirklichkeit Gottes allenfalls ahnen lässt. Nur Gott selbst kann ihn, kann sich selbst zugänglich machen. In Christus hat er es getan.“98
Vgl. GRÄSSER, Hebräer I, 190. Dass Hebr freilich gemäß seiner Intention auch hierbei stark den aktiven Glaubensgehorsam als Notwendigkeit betont, um die Teilhabe nicht zu verlieren, geht deutlich aus der zweiten Vershälfte 3,14b („ἐάνπερ [...] κατάσχωμεν“) hervor. 94 Die Doppeldeutigkeit von οἶκος als soziale und lokale Größe darf hier stets mitgehört werden. Denn die Gemeinschaft der Glaubenden hat ihren festen Bezugspunkt in ihrer Zugehörigkeit in der himmlischen Wirklichkeit, dem Ort der Gemeinschaft mit Gott. Selbiges gilt ja auch für das Bild der himmlischen Stadt. 95 Die einzige Stelle, an der das Verb ἐλπίζειν vorkommt, ist die „Glaubensdefinition“ in 11,1, wonach sich der Glaubende auf das, worauf sich die Hoffnung richtet ausrichten lässt und ausrichtet. 96 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 141. 97 Vgl. H EGERMANN, Hebräer, 89 sowie LAYTON, Scott C.: Christ Over His House (Hebrews 3.6) and Hebrew אשׁר על–הבית, NTS 37 (1991), 473–477. 98 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 140. 92 93
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Diese Zuordnung aller Glaubenszeugen hin zu Jesus drückt sich auch in dem in 12,2 gewählten Verb ἀφορᾶν aus. Wie oben bereits dargelegt, lenkt dieses Wort den Fokus des Schauenden exklusiv auf ein bestimmtes Objekt und damit hier auf Jesus. Wenn Hebr Jesus nun bewusst ans Ende der Zeugenwolke positioniert und diese „Fokussierung“ in 12,1 zudem mit dem Wissen um die Fülle an Glaubenszeugen einleitet (ἔχοντες περικείμενον ἡμῖν νέφος μαρτύρων), so bedeutet dies auch, dass die Adressaten ihren Blick hinsichtlich aller Glaubenszeugen (exklusiv) auf Jesus konzentrieren sollen. Unter Beachtung der bisherigen Ergebnisse wäre diese Fokussierung auf Jesus dann nicht (allein) mit der Qualität seines Zeugnisses zu begründen, sondern (auch) damit, dass alle Glaubenszeugen in ihm ihren „Anfänger und Vollender“ haben.99 Indem die Adressaten auf Jesus schauen und so ihren Glaubensweg erfolgreich bestreiten können, reihen sie sich in die Zeugenwolke ein und blicken zusammen mit allen Glaubenden nach vorn auf ihr gemeinsames Ziel. Was sie dabei aber sehen bzw. sehen müssen, ist der Gang des hohepriesterlichen Sohnes. Eine Alternative zwischen ethisch und soteriologisch bedeutsamer Christologie ist für Hebr somit völlig fremd.100 Es sind die bei ihm schon mehrfach entdeckten zwei Seiten ein und derselben Medaille.101 Als „Anfänger“ (ἀρχηγός) des Glaubens ist Jesus auch immer zugleich der „Anführer“,102 der, bildhaft ausgedrückt, den ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – nachfolgenden Glaubenden wie ein „Eisbrecher“ den Weg gebahnt hat, sie mit sich zieht und ihnen durch seine Fürsprache vor dem Vater (7,25) die Standhaftigkeit erwirkt, seine Spur zu halten. Die Aussage in 12,2 steht damit in einer Linie mit 2,10, wo Jesus als ἀρχηγός der Rettung (τῆς σωτηρίας) vorgestellt wurde.103 Folgt man dieser Linie, kann ἀρχηγός an beiden Stellen durchaus – wie in der Alten Kirche recht frei – im Sinne eines „Urhebers“ gedeutet werden, ohne dass damit auch in 12,2 ein Possessivpronomen (πίστις ἡμῶν) ergänzt werden müsste.104 Denn die Urheberschaft Jesu hinsichtlich des Glaubens ist im Hebr nicht so verstanden, dass Jesus selbst den Glauben (be-)wirkt. Der letztgültige Glaube wird aber von Gott durch sein Handeln in Jesus als Mittler und Bürge ermöglicht und vollendet (vgl. 5,9). Im Umkehrschluss Vgl. BRANDENBURGER, Hebräer, 374. LAUB, Bekenntnis, 156 hinsichtlich 12,2: „In der Geschichte der Exegese unserer Stelle wirkt sich ihr doppeldeutiger Charakter oft so aus, daß bei Hervorhebung des ethischparänetischen Aspekts ein christologisch-soteriologischer Zusammenhang kaum in Erwähnung gezogen wird, während das primär soteriologische Verständnis keinen Raum mehr sieht für das ethisch-paränetische Moment in dieser Christologie. In Wirklichkeit aber läuft man auch hier wieder Gefahr, die Intention des Hebr zu verfehlen, sobald man die Frage alternativ stellt.“ 101 Auch Paulus kann ja neben seiner Betonung Jesu für die Soteriologie seine Adressaten dazu auffordern, dieselbe Gesinnung wie Jesus in sich zu tragen (Phil 2,5). 102 Vgl. W EISS, Hebräer, 637. 103 Vgl. W EISS, Hebräer, 636. 104 Vgl. SÖDING, Zuversicht, 232 99
100 Vgl.
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sollen und können die Glaubenden durch Jesus im wahren Gottesdienst antworten (13,15).105 „Es geht um die Erfahrung, daß πίστις als das vertrauende Sich-Stellen auf den verheißenden Gott, als lebensmäßige Ausrichtung auf das Vollendungsziel und als Durchhalten in der Anfechtungssituation möglich ist im Aufblick zu dem, der als der Glaubenden (Hebr 12,2) Glaubenserfahrung nicht nur beginnt (als ‚Anfänger‘ bzw. ‚Anführer‘ des Glaubens), sondern sie auch ‚vollendet‘.“106
Insofern ist Jesus auch immer der „Vollender“ (τελειωτής) des Glaubens, erneut im doppelten Sinn, da er als Glaubensexempel selbst den Glaubensweg konsequent zu Ende gegangen ist und die ihm nachfolgenden Glaubenden auf diesem (tritt-)festen Glaubensgrund so auch das Ziel erlangen können (6,19f.).107 2.4.2.3 Glauben „an“ Christus Die Balance zwischen soteriologisch und ethisch-paränetisch bedeutsamer Christologie vereint Hebr, wie wir gesehen haben, in seinem Aufruf an die Adressaten, „auf Jesus zu schauen“ (12,2; vgl. 3,1). Darin drückt er innerhalb seiner Vorstellungswelt aus, was andere urchristliche Stimmen unter einem „Glauben an Christus“ verstehen – d. h. zunächst nichts anderes, als die im Vertrauen geäußerte (An-)Erkenntnis der Bedeutung des Christusgeschehens für das eigene eschatologische Geschick vor Gott. Dass andere neutestamentliche Autoren diese Bedeutung auf andere Weise und mit anderen Implikationen ausdrücken, steht außer Frage. Für Hebr geschieht dies im Bekenntnis (ὁμολογία) der Gemeinde als Reaktion auf das, was Gott durch sein Reden im Sohn getan hat (4,14),108 so wie er es auf seine ganz spezielle Art und Weise beschreibt.109 Die enge Verbindung von Jesus und diesem Bekenntnis der Gemeinde im Hebr ist dabei nicht zu übersehen:110 Jesus wird direkt sowohl als Inhalt (3,1) als auch als Ermöglichungsgrund (4,14f.) des Bekenntnisses benannt. Aber auch die anderen Stellen, an denen ὁμολογία bzw. ὁμολογεῖν auftauchen, sind nicht ohne christologischen Anklang. In 10,23 begründet Hebr das „Festhalten am Bekenntnis der Hoffnung“ (κατέχειν τὴν ὁμολογίαν τῆς
Vgl. WEISS, Hebräer, 738f.; HEGERMANN, Hebräer, 278. THÜSING, Zugangswege, 159. 107 Vgl. STROBEL, Hebräer, 161; R OSE, Wolke, 342. 108 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 182. 109 Das „Bekenntnis“ meint im Hebr aber keine subjektive Reaktion des oder der Glaubenden, sondern vielmehr die der Gemeinde überkommene Überlieferung des Christusgeschehens, das Hebr nun auf seine, im NT spezielle Weise auslegt, um es in seiner Bedeutung für die Gemeinde zu reaktivieren (WEISS, Hebräer, 294f.) 110 Die Verbindung Jesu mit dem Bekenntnis hebt ihn in 3,1(-6) auch (erneut) in seiner Funktion als Glaubenszeuge gegenüber Mose (und allen anderen Glaubenszeugen) hervor (vgl. KOESTER, Hebrews, 250). 105 106
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ἐλπίδος) ja gerade mit der „Treue Gottes gegenüber seinen Verheißungen“ (πιστὸς γὰρ ὁ ἐπαγγειλάμενος). Die Hoffnung ist im Kontext von Kap. 7–10 eindeutig das Christusgeschehen (7,19; vgl. 3,6; 6,11.18) und die Treue Gottes drückt sich für Hebr ja gerade darin aus, dass er sich im hohepriesterlichen Sühnewirken Jesu für dessen Gültigkeit verbürgt hat (7,21f.). Sodann lässt Hebr in 11,13 die Glaubenszeugen – insbesondere die Erzeltern Abraham und Sara – „bekennen“, dass sie noch immer auf das himmlische Heimatland als Fremdlinge auf Erden warten. Hier wird das Bekenntnis hinsichtlich des Christusgeschehens freilich nicht thematisiert, aber dass Hebr auch hier ὁμολογεῖν verwendet, ist zumindest auffällig, da er so die irdische „(Noch-)Nicht-Vollendung“ der Verheißung, die er im Christusgeschehen als eschatologisch vollbracht erblickt, zu einem Bekenntnisstand erhebt, welcher ja letztlich alle Glaubenden miteinander verbindet. Zuletzt taucht das „Bekenntnis“ dann noch einmal zum Abschluss des Schreibens in 13,15 auf, wo es heißt, dass sich das wahre gottgefällige Opfer als Lobpreis vollzieht, der als „Frucht der Lippen“ (καρπὸς χειλέων) derer erbracht wird, die „seinen Namen bekennen“ (ὁμολογούντες τῷ ὀνόματι αὐτοῦ). Die meisten Ausleger beziehen ὄνομα αὐτοῦ auf Gott, nicht (direkt) auf Jesus.111 Grammatisch ist beides möglich und auch sachlich sollte man sich (erneut) vor einer falschen Alternative hüten.112 Da im Hintergrund dieses Gedankens das alttestamentliche Motiv vom lobpreisenden Bekenntnis des Gottesnamens stehen dürfte (vgl. Hos 14,3LXX), hat Hebr hier wohl tatsächlich an „κύριος“, d. h. an die in der LXX verwendete Übersetzung des Tetragramms gedacht. Doch ist es ja gerade dieser Titel, den der Sohn bei seiner Erhöhung geerbt hat (1,4).113 So vollzieht sich die Anrufung des Kyrios für Hebr immer in der Ausrichtung auf das Christusgeschehen. Das wahre Lobopfer des Glaubenden für Gott geschieht durch und durch christologisch – „durch Jesus“ (δι᾽ αὐτοῦ).114 „Der Name Gottes wird bekannt in den Homologien Jesu als des Sohnes Gottes, des Kyrios, des großen Hirten der Schafe, des großen Hohenpriesters.“115 Dieses unterscheidbare und doch geeinte zugleich hinsichtlich des anbetungswürdigen Wirkens von Vater und Sohn zeigt sich im Gedankengang des Hebr immer wieder: Gott ist der Schöpfer (11,3), zugleich ist der Sohn Schöpfungsmittler (1,2f.). Gott wirkt die Sühne durch den Sohn als 111 Vgl. LAUB, Bekenntnis, 43, Anm. 126; H EGERMANN, Hebräer, 277; A TTRIDGE, Hebrews, 401; WEISS, Hebräer, 741; 14, Hebräer III, 391; KOESTER, Hebrews, 572. 112 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 706: „In either case, to ‚confess his name‘ is to affirm and offer praise for the ultimate revelation of God in his Son.“ 113 S. o. die Diskussion um die Bedeutung des „Namens“ in 1,4 auf S. 78. B ORNKAMM, Bekenntnis, 196 bezieht ähnlich ὄνομα αὐτοῦ auf das „Bekenntnis des Namens [...], der Christus von Gott übertragen ist“, denkt dabei allerdings entsprechend seiner Auslegung von 1,4 an den „Sohnesnamen“. 114 Das Pronomen αὐτοῦ in 13,15a bezieht sich rückblickend auf den außerhalb der Stadtmauern gekreuzigten Jesus in 13,12 (vgl. STROBEL, Hebräer, 180). 115 H EGERMANN, Hebräer, 278.
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Opfergabe (9,12), zugleich ist der Sohn selbst der Mittler dieser Sühne (8,6; 9,15; 12,24). Gott verbürgt sich für die Wirksamkeit der neuen Heilsordnung im Sohn (7,21), zugleich ist der Sohn der Bürge (7,22). Gott vollendet die Glaubenden (13,21), zugleich ist der Sohn der Vollender (12,2). Diese einzigartige Verbindung zwischen Vater und Sohn (vgl. 1,3) findet sodann einen deutlichen Ausdruck in 1,8–12, wo der Vater den Sohn mit alttestamentlichen Zitaten aus der LXX (Ps 44,7f.; 101,26–28LXX), die in ihrem ursprünglichen Kontext an ihn selbst gerichtet sind, als θεός (entspricht dem hebräischen א ֹלִה ם ֱ ) und κύριος (entspricht dem hebräischen )יהוהanspricht. Die in der Kirchengeschichte später so hitzig geführte Debatte um die paradoxe Beziehung des Sohnes zum Vater innerhalb einer trinitarisch verstandenen Gottesvorstellung scheint für Hebr noch keine gedankliche Hürde darzustellen.116 Insofern der Sohn und die in und durch ihn vollbrachte Heilsvermittlung immer auch Gegenstand des freimütigen und standhaften Bekenntnisses zu Gott ist, drückt sich im Hebr – auf seine Art und Weise – auch eine Glaubensausrichtung auf Jesus hin, i. S. eines „Glaubens an“ aus. Denn zwischen der Glaubensbewährung und dem Festhalten am Bekenntnis unter allen Umständen (3,6.14; 4,14; 10,23) besteht für Hebr eine so enge und wechselseitige Verbindung, dass das eine nicht ohne das andere vorhanden sein kann.
2.5 Zwischenbilanz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Die alte Heilsordnung ist ihrem Ende nahe, letztgültig bleibt allein die neue (7,18f.; 8,13; 10,18). Und doch ist das Urteil über die alte Heilsordnung nicht ohne weiteres ein Urteil über diejenigen, die mit ihr aufrichtig versuchten und versuchen, das eschatologische Heil zu erlangen, um in der ungetrübten Gemeinschaft Gottes zu leben. Denn Leben wird dem verheißen, dessen Verhältnis zu Gott als Glauben bestimmt ist (10,38). Was als Hoffnungsschimmer am Ende des – für die eine so zerschmetternden, für die andere so triumphalen – Vergleichs zwischen alter und neuer Heilsordnung formuliert worden war, füllt Hebr eindrücklich – im wahrsten Sinne des Wortes – mit Leben. Der Glaube ist das eschatologische momentum, an dem sich Leben und Tod vor Gott für den Menschen entscheidet. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass Hebr den Glauben auf dem Hintergrund des alttestamentlichen Zeugnisses als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch versteht. Im Gegensatz zur Sünde beschreibt es dessen positive Ausrichtung. Der Glaube bezieht sich dabei immer passiv auf die Ansprache des Glaubenden durch Gott in seinem Verheißungswort und antwortet aktiv darauf, in dem er mit Geduld und Zuversicht auf die Treue Gottes vertraut und an seiner Verheißung festhält. Die 116 Vgl. hierzu auch insbesondere die Ausführungen zur spezifischen Worttheologie oben ab S. 71.
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Aktivität des Glaubens äußert sich in einem ganzheitlichen Lebensvollzug, d. h. als Hinwendung zu Gott und den Mitmenschen. Für diese Glaubensbewegung darf sich der gegenwärtig Glaubende an positiven Glaubensbeispielen orientieren bzw. sollte sich von negativen abschrecken lassen. Dieser relationale Glaube vereint alle so Glaubenden strukturell miteinander zu einem einzigen glaubenden Gottesvolk, ungeachtet ihrer äußeren Identität, auf ihrem Weg zur himmlischen Ruhestadt. Doch für den endzeitlichen Eintritt in diese himmlische Wirklichkeit bedarf es eines ungetrübten Verhältnisses zu Gott, das durch die Reinigung des Gewissens zustande kommt. Eine solche Reinigung finden die Glaubenden allein durch die Sündenvergebung, wie sie durch das vollkommene und einmalige Sühnewirken Gottes in und durch sein Reden im Sohn Jesus Christus gewährt worden ist. Auf ihn sollen die Glaubenden daher schauen – ein Gedanke im Hebr, der die Ausrichtung der Glaubenszeugen auf das Christusgeschehen bezeichnet. Sie sollen sich an Jesus als dem wahren Zeugen für eine ungetrübte Gottesbeziehung orientieren, die durch ihn gewirkte Reinigung des Gewissens ergreifen und am Bekenntnis zu ebendiesem Handeln Gottes im Sohn als letztgültigem Treueerweis festhalten.117 Durch die Ausrichtung auf Jesus werden sie zu einer Glaubensgemeinschaft – dem glaubenden Gottesvolk – wirklich geeint, weil sie so dem einzigen, nämlich Jesu Gang in die himmlische Gemeinschaft Gottes folgen.118 Somit zeigt sich im Hebr hinsichtlich des Glaubens ein doppelter Vorbehalt für den Eintritt in die himmlische Ruhe: Der Glaube – wie ihn Hebr versteht – führt zum Leben, aber letztwirksam nur dann, wenn der soteriologische Vorbehalt der Gewissensreinigung erfüllt wird. Wenn aber allein das Heilsgeschehen im Sohn Jesus Christus die Gewissensreinigung bewirkt, kann es für Hebr keinen eschatologisch wirksamen Glauben ohne Christus geben. Die Christologie entscheidet über die soteriologische Beständigkeit der Pisteologie. Der Glaube ist „die conditio sine qua non der eschatologischen Rettung“119, Christus, die conditio sine qua non ihrer Vollendung. Insofern ist eschatologisch wirksamer Glaube im Hebr letztlich „die Haltung dessen, der auf dem von Jesus als dem Sohn und Hohenpriester erschlossenen Weg ist“120. Wenn aber die Ekklesiologie wiederum durch die Pisteologie bestimmt wird, so muss für den (eschatologischen) Ort von Juden und Christen aus der Perspektive des Hebr auch seine Verhältnisbestimmung von Christologie und Ekklesiologie bedacht werden. Vgl. SÖDING, Zuversicht, 234. Das im Glauben geeinte Gottesvolk ist für Hebr quasi das, was später bei Augustin und dann v. a. bei Luther hinsichtlich der christlichen Kirche als unsichtbare, theologische Größe beschrieben wurde. Sie zieht sich letztlich quer durch alle Zeiten, Völker, Kulturen und sonstige sichtbaren Ausformungen. 119 SÖDING, Zuversicht, 235. 120 LÜHRMANN, Pistis, 37. 117 118
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Auch hier kann zur besseren Einordnung ein Seitenblick auf das Ringen des Paulus um die eschatologische Zukunft seiner „natürlichen“, jüdischen Verwandten in Röm 9–11 hilfreich sein. Denn Paulus kommt bei seiner Argumentation gegen ein wie auch immer motiviertes (heiden-)christliches Überlegenheitsgefühl auch – als zwingende Konsequenz der ersten acht Kapitel seines Briefes – zur Christologie als dem entscheidenden Faktor für die gehoffte, sich letztlich doch verwirklichende Rettung Israels (Röm 11,25–27): „Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Vollzahl der Nationen hineingekommen sein wird; und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: ‚Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.‘“
Aber auch bei Paulus liegen die Dinge komplizierter. Er sieht hinsichtlich der Rettung „ganz Israels“ und damit hinsichtlich der Vereinigung aller, die einst zum eschatologischen Gottesvolk unter der neuen διαθήκη gehören werden, einen zeitlich beschreibbaren Prozess, in welchem, nachdem der Retter aus Israel gekommen ist, zuerst jene „Vollzahl der Nationen“ in die Gemeinschaft der Glaubenden hineinkommen muss, ehe sich die eschatologisch rettende Perspektive für „ganz Israel“ realisieren wird. Inwiefern nun auch Hebr einen analogen Gedanken im Blick auf das im Glauben geeinte Gottesvolk verfolgt, soll nun weiter untersucht werden. Damit bringen wir eine weitere Etappe hinter uns auf dem Weg hin zu einer positiven eschatologischen Perspektive Israels aus christlicher Perspektive im Licht des Hebr.
3. Der Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk Bevor Hebr zum Abschluss der Zeugenreihe dazu aufruft, auf den eigentlichen Zeugen, Jesus, zu blicken (12,1–3), hält er in 11,39f. zu einem eigenwilligen Zwischenfazit inne. Vor dem Blick nach vorn bedarf es noch einmal einen Blick zurück auf alle Zeugen, aber damit auch auf sich selbst und seine Adressaten – kurzum, auf das glaubende Gottesvolk: 39) Καὶ οὗτοι πάντες μαρτυρηθέντες διὰ τῆς πίστεως οὐκ ἐκομίσαντο τὴν ἐπαγγελίαν 40) τοῦ θεοῦ περὶ ἡμῶν κρεῖττόν τι προβλεψαμένου, ἵνα μὴ χωρὶς ἡμῶν τελειωθῶσιν. 39) Und diese alle, die durch den Glauben ein [gutes] Zeugnis erhalten haben, haben die Verheißung nicht erlangt, 40), weil Gott etwas Besseres für uns vorgesehen hat, damit sie nicht ohne uns vollendet werden würden.
Diese beiden Verse rücken die Frage nach dem Gottesvolk und damit die Frage nach dem eschatologischen Ort von Juden und Christen – gerade im Angesicht der dahinscheidenden, soteriologisch unzureichenden alten Heilsordnung – in eine neue, aber entscheidende Perspektive. Denn wie Paulus die Christen mit seinem Verweis auf Gottes Heilsplan davor warnt, sich gegenüber dem jüdischen Volk im sicheren Hafen zu wähnen und jenes entsprechend zu vergessen, gibt Hebr ebenfalls eine Antwort auf die sich aufdrängende Frage, warum all jene Zeugen für ihren Glauben von Gott ein gutes Zeugnis erhielten (11,2), die Vollendung ihrer Hoffnung aber nicht erlangt haben sollen (11,13). Der vorschnellen Annahme einer Vollendung für die Glaubenszeugen schiebt Hebr den Riegel vor: Nein, „diese alle“ (οὗτοι πάντες; 11,39) haben die Ziellinie noch nicht überschritten. Noch laufen sie zu ihrem himmlischen Ruheort, wie auch die gegenwärtige Generation des glaubenden Gottesvolkes noch beständig zu laufen hat (12,1b). Aber er belässt es auch nicht bei dieser Ansage, sondern wagt eine bemerkenswert um- und weitsichtige Perspektive.
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3.1 Das glaubende Gottesvolk zwischen Raum und Zeit – Das Wirklichkeitsverständnis im Hebräerbrief1 Hebr versteht das glaubende Gottesvolk als Weggemeinschaft hin zur „zukünftigen Stadt“ (13,14; vgl. 12,22–24). Diese Vorstellung ist geprägt von einem zeitlich-linear verstandenen und beschreibbaren Geschehen („zukünftige Stadt“), mit einem konkreten, in räumlichen Kategorien ausgedrückten Ziel („zukünftigen Stadt“). Dieses Ineinander einer horizontalen (zeitlich-linearen) und einer vertikalen (räumlichen) Dimension im Wirklichkeitsverständnis des Hebr gilt es zunächst zu untersuchen und seine zentrale Bedeutung für die Frage nach dem Weg des Gottesvolkes aufzuzeigen.2 Denn dieses Wirklichkeitsverständnis ist, wie wir später noch sehen werden, ausschlaggebend für die Frage nach der Eschatologie, gerade auch in einem israeltheologischen Horizont.3 Wie in der Auslegung das Verhältnis von horizontaler (zeitlicher) und vertikaler (räumlicher) Dimension im Hebr bestimmt wird, ist meist eng verknüpft mit der jeweiligen religionsgeschichtlichen Einordnung. Die vor allem im 20. Jh. vorgetragenen Positionierungen könnten an Anzahl und Inhalt kaum eine noch größere Vielfalt aufweisen.4 Innerhalb dieser Vielfalt fanden und finden drei bzw. vier Hauptlinien besonders breite Zustimmung: Darunter gehört der Trend hin zu einer gnostischen Interpretation5 in der ersten Hälfte des 20. Jh. mittlerweile weitgehend der Vergangenheit an.6 Das dagegen kritisch vorge1 Diesen Abschnitt (II.3.1) habe ich zuvor bereits in einer englischsprachigen Fassung veröffentlicht, die hier hinsichtlich Inhalt und Literatur leicht verändert ebenfalls erscheint, da sie für den Gedankengang dieser Arbeit grundlegend ist: vgl. HEIDEL, Andreas-Christian: Between Times and Spaces: The Understanding of Reality in the Letter to the Hebrews as the Fundamental Framework of its Interpretation, NovTest 62/4 (2020), 416–435. 2 Man könnte hier freilich auch die systematisch-theologischen Fachausdrücke „Eschatologie“ und „Kosmologie“ verwenden (vgl. z. B. SCHENCK, Cosmology). Das Wort „Eschatologie“ drängt die Betrachtung der horizontalen Linie aber in eine eher endzeitliche Perspektive und kann (!) so zu Einseitigkeiten führen. Die Unterscheidung in „horizontal“ und „vertikal“ bzw. „zeitlich“ und „räumlich“ lässt m. E. hier mehr Möglichkeiten zur Einordnung. 3 Hierbei handelt es sich freilich nicht um Themen, die Hebr selbst ausdrücklich entfaltet, sondern die seinen Überlegungen zugrunde liegen und von ihm bzw. seinen Adressaten vorausgesetzt werden (vgl. ähnlich ELLINGWORTH, Universe, 338.348f.). STEWART, Cosmology, 546 mit Anm. 5 spricht von den zwei Dimensionen der vorausgesetzen „metanarrative“ bzw. „foundational story“ für die Wirklichkeitsvorstellung im Hebr. 4 Die Forschungsgeschichte ist vielfach sehr gut aufgearbeitet worden. Vgl. die Zusammenstellungen z. B. bei WEISS, Hebräer, 96–114; KOESTER, Hebrews, 59–63; SMALL, Characterization, 7–10 mit Anm. 20. 5 So besonders prominent K ÄSEMANN, Gottesvolk; G RÄSSER, Glaube; THEISSEN, Untersuchungen. 6 Vgl. K RAUS, Ansätze, 71. Anders G RÄSSER, Erich: An die Hebräer, Bd. 1–3, EKK 17, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1990–1997, der an dem gnostischen Erklärungsmodell teilweise festhält (vgl. u. a. seine Einordnung von ἀρχηγός in GRÄSSER, Hebräer I, 130–133).
3. Der Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk
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tragene jüdisch-apokalyptische Erklärungsmodell betont eine traditionsgeschichtliche Verbindung vor allem zu alttestamentlichen Zeugnissen und damit auch stark eine zeitlich-lineare Dimension im Denken des Hebr, häufig verbunden mit einer zeitlichen Verhältnisbestimmung von „Verheißung“ und „Erfüllung“ bzw. die Ausrichtung auf das zukünftige Eschaton.7 Auf der anderen Seite werden räumlich-ontologische Kategorien in den beiden eng miteinander korrespondierenden Erklärungsmodellen eines jüdisch-hellenistischen (alexandrinischen) und eines (mittel-)platonischen Hintergrunds für die Geisteswelt von Hebr in den Vordergrund gerückt.8 Hier ist besonders ein (dualistisches, sphärisches) Gegenüber von „irdisch“ und „himmlisch“ der entscheidende Ansatz. Mittlerweile scheint sich jedoch, m. E. zu Recht, die Einsicht etabliert zu haben, dass Hebr nicht monokausal in eine Abhängigkeit von bestimmten geistigen oder religiösen Strömungen gedrängt werden kann.9 Zudem muss bedacht werden, inwiefern sich Hebr bei anderen Traditionen nicht nur sprachlich, sondern tatsächlich auch inhaltlich bedient oder ob Gemeinsamkeiten nicht immer auch als das natürliche Produkt eines gebildeten und aufgeschlossenen Autors inmitten einer dynamischen, von geistigem Austausch geprägten Lebenswelt des 1. Jh. n. Chr. anzusehen sind.10 Zu diesem komplexeren Bild gehört auch, dass Hebr seine Gedanken nicht eindimensional entfaltet, sondern den Weg des glaubenden Gottesvolkes sowohl zeitlich als auch räumlich verortet. Wie wir im Folgenden sehen werden, befindet sich das wandernde Gottesvolk zugleich in einer Zwischenzeit und in einem Zwischenraum auf dem Weg zum zukünftigen himmlischen Ruheort.
7 Vgl. u. a. B ARRETT, Charles K.: The Eschatology of the Epistle to the Hebrews, in: Davies, William D./Daube, David (Hg.): The Background of the New Testament, Cambridge 1964, 363–393; MICHEL, Hebräer; HOFIUS, Katapausis; DERS., Vorhang. 8 Vgl. zum jüdisch-hellenistischen Modell u. a. M OFFATT, Hebrews; SPICQ, Hébreux III; STROBEL, Hebräer. Zum mittelplatonischen Modell vgl. u. a. THOMPSON, Beginnings; EISELE, Reich; BACKHAUS, Hebräerbrief. 9 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 28–31; H URST, Background, 131f.; W EISS, Hebräer, 114; KOESTER, Hebrews, 63; SCHENCK, Cosmology, 4–6; SCHNELLE, Einleitung, 455; SMALL, Characterization, 9f. u. a. Letztlich gibt es m. W. mittlerweile ohnehin keinen Ausleger mehr, der, wegen seiner eigenen Favorisierung eines bestimmten Einflusses, (zumindest sprachliche) Anknüpfungen an andere im Hebr gänzlich ausschließt. 10 „The realization that the ancient world and ancient Judaism were not neatly partitioned off into distinct and unrelated ideologies argues for a text-oriented approach that allows for a combination of sources and a creative synthesis on the part of an individual author.“ (SCHENCK, Cosmology, 6). Vgl. ähnlich HURST, Background, 132; KOESTER, Hebrews, 63; BACKHAUS, Hebräerbrief, 52–56; SCHNELLE, Jahre, 91f.; grundlegend HENGEL, Martin: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus, WUNT 10, Tübingen 31988; DERS.: Das Problem der „Hellenisierung“ Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: DERS.: Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, WUNT 90, Tübingen 2000, 1–90.
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3.1.1 Horizontale Dimension – Das glaubende Gottesvolk zwischen den Zeiten Hebr weiß sich bei seiner Botschaft für die ihm gegenwärtige Generation des glaubenden Gottesvolkes an die vergangene Geschichte, wie sie ihm durch das alttestamentliche Zeugnis vorgegeben ist, gebunden. Dabei zeigt er großes Interesse an der zeitlichen Abfolge des Geschehens, die nicht selten als entscheidendes Argument seiner Ausführungen dient. Früheres war und bleibt innergeschichtliches, zeitgebundenes Ereignis, das für ihn nun einmal so und nicht anders geschehen ist. Anders als z. B. Philo kann Hebr durchaus frei mit dem Wortlaut des biblischen Textes als Zeugnis der Geschichte umgehen,11 achtet aber stets auf die Ereignisse in ihrer alttestamentlich bezeugten Abfolge „hinter“ dem Text. Mit seiner allegorischen Interpretation der Pentateuchtexte will Philo von Alexandrien solche Texte wortwörtlich erhellen, die vom hellenistisch-gebildeten Leser einfach nicht wortwörtlich gelesen werden können (Philo, Congr. 43f.). Gründe dafür findet er zahlreich, seien es Verstöße gegen das allgemeine Verständnis (Philo, QG 2 28), Anthropomorphismen bei Gott (Philo, Opif. 13,26f.), dogmatische Widersprüche (Philo, Leg. 2 12) oder Texte, die so belanglos erscheinen, dass sie s. E. keinen göttlichen Anspruch erheben können (Philo, Somn. 1 102).12 Letztlich wird von ihm der gesamte Textbestand sorgfältig bearbeitet. Sein systematischer „Unterbau“ speist sich vor allem aus einer platonischen Ideenlehre. Dementsprechend sucht Philo (vereinfacht dargestellt) beim biblischen Text über den vorfindlichen Wortsinn hinaus nach der eigentlichen, tieferen Wahrheit, welche sich hinter den Worten verberge, ja von diesen regelrecht verzerrt werde. Zwar sei Mose, an dessen Autorenschaft für den gesamten Pentateuch Philo keine Zweifel hegt, der Empfänger und Mittler göttlicher Offenbarung, doch beim Sündenfall wurde die menschliche Sprache durch die Schlange missbraucht. Mose konnte dementsprechend die (ohne Beteiligung eigener Intelligenz) empfangene Wahrheit nur in menschlicher Sprache weitergeben.13 Nun sei es Aufgabe des inspirierten Auslegers, die tiefere Bedeutung aus dem Wortlaut herauszuarbeiten (Philo, Cher. 27–29). Minutiös analysiert Philo die Texte. Jedes buchstäbliche Detail hat seinen tieferen Sinn. Auch Philo bezieht sich meist auf die LXX. Sie wird von ihm so wertgeschätzt, dass bestimmte Auslegungen und Umdeutungen ausschließlich auf Übersetzungen der LXX beruhen. So übersetzt die LXX den halben tyrischen Schekel für die Tempelsteuer an Gott in Ex 30,13 korrekt umgerechnet als Didrachme (δίδραχμον). Für Philo ist diese DoppelDrachme Anlass (Philo, Her. 186), daraus eine Rechtfertigung für eine zweite Steuerabgabe an die Römer neben der Tempelsteuer zu gewinnen.14
So spricht er in seiner Kommentierung zu Gen 14,18–20 LXX in 7,1–10 beispielsweise durchgehend von „Abraham“ (Ἀβραάμ), während er korrekt nach dem Text der LXX (noch) als Abram (Αβραμ; sic!) wiedergegeben werden müsste. Vgl. dagegen textlich „genau“ Philo, Leg. 3 79–83. 12 Vgl. SIEGERT, Interpretation, 102. 13 Vgl. SIEGERT, Interpretation, 168–175; G OPPELT, Typos, 57. 14 Vgl. SIEGERT, Interpretation, 175. 11
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Es ließen sich freilich zahlreiche Ähnlichkeiten zum Hebr aufzeigen, was in der Auslegung auch ausgiebig getan worden ist.15 Es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass für Philo die zeitlich-lineare Dimension – anders als im Hebr – keine nennenswerte Rolle spielt. Sein Interesse gilt nicht dem geschichtlich Gegebenen innerhalb einer zeitlichen Abfolge (Ereignisse, Personen oder Institutionen), sondern allein der zeitlosen Idee, die von dem geschriebenen Wort ausgedrückt wird.16
Besonders deutlich zeigt sich das Interesse des Hebr am beschreibbaren Verlauf der Ereignisse in seinem umfassendsten Blick auf die (alttestamentliche bzw. israelitische) Geschichte im elften Kapitel.17 Von der Schöpfung (11,3) wird der Leser über die Urgeschichte mit Abel, Henoch und Noah (11,4–7) zur Zeit der Erzeltern geführt (11,8–21). Nach Josef (11,22) beginnt die Zeit des Exodus unter Mose (11,23–29) und mündet in die Landnahme unter Josua (11,30f). Ab 11,32 geht es im Schnelldurchlauf von der Richter- zur Königszeit, wobei parallel die Propheten erwähnt werden. In 11,35 dürfte noch die Anfangszeit des makkabäischen Aufstandes (2. Jh. v. Chr.) angedeutet sein (vgl. 2 Makk 6,18–30; 7,1–42). Doch nicht nur der grobe Verlauf der alttestamentlichen Ereignisse wird eingehalten. Selbst innerhalb der einzelnen Beispiele achtet Hebr auf die richtige Abfolge. Bei den Erzvätern werden dabei sogar die Angaben über ihre Lebensalter in der Genesis berücksichtigt, sodass Abraham mit Isaak und Jakob nach 11,9 „in Zelten wohnte“ (κατοικήσας μετὰ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ). Für diese Abfolge ist demnach weniger die buchstäbliche (kanonische) Reihenfolge von Interesse, sondern der geschichtliche Ablauf an sich. Denn literarisch stirbt Abraham in Gen 25,8–10 bevor, Gen 25,24–26 von der Geburt Jakobs berichtet. Doch nach diesen Angaben über die Lebensalter war Abraham zur Geburt seines Enkels Jakobs 160 Jahre alt, da er Isaak im Alter von 100 Jahren zeugte (Gen 21,5) und Jakob wiederum 60 Jahre später geboren wurde (Gen 25,26). Abraham verstarb nach Gen 25,7 aber erst 15 Jahre später im Alter von 175 15 Zuletzt v. a. SVENDSEN, Stefan N.: Allegory Transformed. The Appropriaton of Philonic Hermeneutics in the Letter to the Hebrews, WUNT II 269, Tübingen 2009. Kritisch gegen eine solche Abhängigkeit wendet sich u. a. WILLIAMSON, Philo, 576–580. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die allegorische Auslegung, derer sich Philo bediente, zwar an höheren Schulen gelehrt wurde, jedoch keine breite Popularität im Frühjudentum erlangte. Man beachte dazu nur die geringe Rezeption der Werke Philos im Frühjudentum. Während Josephus ihn zumindest erwähnt (vgl. Jos. Ant. 18.259f.), taucht sein Name in rabbinischer Literatur gar nicht auf (vgl. SIEGERT, Interpretation, 187f.). 16 Vgl. LEONHARD-B ALZER, Heilsgeschichte. Philo zeige zwar durch die Aufnahme apokalyptischen Stoffes, konkret die sog. Zweigeisterregel aus der Gemeinderegel von Qumran, an, dass er sehr wohl eschatologische und damit (heils-)geschichtliche Kategorien kenne. Allerdings benutze er Gottes Handeln in der Vergangenheit einzig als Verstehensschlüssel seiner Absichten in der Gegenwart. Eine zukünftige Erwartung einer von Gott gewirkten (Heils-)Geschichte findet sich bei Philo nicht. Endzeitliche Erwartungen werden von Philo psychologisch umgedeutet (vgl. LEONHARD-BALZER, Heilsgeschichte, 146). 17 Freilich passt dies zu der Tatsache, dass Hebr mit der LXX denkt und arbeitet, die den Kanon der hebräischen Bibel geschichtlich anordnet.
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Jahren.18 Ungeachtet einer nach modernen Maßstäben kritischen Beurteilung, hier allem voran der jeweiligen Lebensalter,19 ist das große Interesse am äußeren, geschichtlich beschreibbaren Ablauf der alttestamentlichen Ereignisse im Hebr bemerkenswert.20 Dass diesem äußeren Zeitverlauf nun aber auch ein Sinnzusammenhang zu eigen ist, zwingt sich dem menschlichen Betrachter keineswegs als Erkenntnis einfach auf. Geschichte kann ihm sogar völlig willkürlich erscheinen und wird es vor allem dann, wenn er die sich ereignende Geschichte direkt oder indirekt als leidvoll erlebt („Wie konnte das geschehen?“). Darum weiß auch Hebr, denn für ihn ist es ja der Glaube, der sich auf das Nicht-Augenscheinliche ausrichtet und davon ergriffen wird (11,1–3).21 So haben „wir“ nach 11,3a „im Glauben“ (πίστει) Erkenntnis über Gottes Schöpfungswirken (νοοῦμεν κατηρτίσθαι τοὺς αἰῶνας ῥήματι θεοῦ). Der hier verwendete Plural αἰῶνες als andauerndes Resultat der Schöpfung entspricht wohl den für den alttestamentlich-frühjüdischen Schöpfungsglauben bedeutsamen ל ִמ ם ָ 6( עZeitalter), ist aber als sachlicher Bezug zu dem „Sichtbaren“ (τὸ βλεπόμενον) in 11,3b nicht ausschließlich zeitlich zu verstehen, sondern schließt
18 Auf die atl. Chronologie machen nur wenige moderne Ausleger aufmerksam: vgl. u. a. BRUCE, Hebrews, 292 Anm. 83; KARRER, Hebräer II, 282; COCKERILL, Hebrews, 540 Anm. 15; ausdrücklich hingegen ROSE, Wolke, 217f. MICHEL, Hebräer, 392f. nimmt zwar Bezug auf den atl. Bericht, allerdings falsch, da er die Aussage im Hebr als Widerspruch zu Gen 25 wertet und damit die kanonische Reihenfolge, nicht aber die eigentlichen geschichtlichen Ereignisse als Maßstab aufnimmt. Dieser gilt jedoch nicht das Interesse des Hebr. WEISS, Hebräer, 585, Anm. 8 will das μετά mit der überwiegenden Mehrheit der Ausleger hier „selbstverständlich“ nicht als Ausdruck der Gleichzeitigkeit der drei Generation verstanden, sondern als Verweis auf die Teilhabe Isaaks und Jakobs an der Verheißung als Miterben (συγκληρονόμοι) bezogen wissen (so viele Ausleger seit Thomas v. Aquin; vgl. zahlreiche Belege bei BRAUN, Hebräer, 355; vgl. zudem ELLINGWORTH, Hebrews, 583; GRÄSSER, Hebräer III, 126 Anm. 8). Allerdings gehört μετὰ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ sprachlich entweder zu παρῴκησεν oder zu κατοικήσας, eher aber zu letzterem. Inhaltlich ergeben beide Varianten keinen wirklichen Unterschied (vgl. MICHEL, Hebräer, 392). Eine Parallele findet sich schon im Jubiläenbuch, das noch deutlicher davon spricht, dass Abraham, Isaak und Jakob zusammen gelebt haben (vgl. Jub 19,15f; 20,1–22,30). 19 Diese modernen und berechtigten „Maßstäbe“ sollten jedoch nicht ohne weiteres zur Überzeugung führen, dass Hebr per se nicht so gedacht und die atl. bezeugten Ereignisse nicht chronologisch wörtlich genommen haben kann. 20 Gegen ELLINGWORTH, Hebrews, 583, der die Erwähnung der drei Erzväter in 11,9 als bloßes, übernommenes Traditionsstück wertet (ähnlich GRÄSSER, Hebräer III, 126 Anm. 8). Die im atl. Zeugnis breit verankerte Trias der Erzväter spricht aber nicht gegen eine wörtliche Interpretation von 11,9, sondern zeigt (lediglich) die enge Verbindung des Hebr mit dem atl. Traditionsgut. 21 S. o. II.2.1, bes. zur sog. „Glaubensdefinition“ in 11,1 ab S. 106. Dass den Adressaten die erlebte Geschichte keineswegs als zwingend „heilvoll“ erscheinen muss, spiegelt sich ja gerade im durch und durch seelsorglichen Anliegen des Hebr, sie auf Gottes Treue aufmerksam zu machen, gerade auch angesichts ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen (vgl. 10;23; 12,4; 13,3).
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die räumliche Dimension der Schöpfung mit ein.22 Der Glaube gewinnt somit Einsicht in die gesamte Schöpfungswirklichkeit in Zeit und Raum – er erkennt „die wahren Realitätsverhältnisse im Kosmos“23. Da nach 1,2 der Sohn auch Schöpfungsmittler ist (δι᾽ οὗ καὶ ἐποίησεν τοὺς αἰῶνας), spannt 11,3 einen Bogen zurück zum Reden Gottes im Sohn (1,1–4).24 Dieses Reden ist die Grundlage aller Geschichts- oder vielmehr Wirklichkeitsdeutung im Hebr. Die Christusoffenbarung ist das hermeneutische Fundament für alle Überlegungen des Hebr und zugleich das hermeneutische Nadelöhr, durch das alles Verstehen der früheren Gottesoffenbarungen hindurchmuss. Dies bedeutet für den Umgang mit der früheren Geschichte im Hebr auch, dass „das abschließende Reden Gottes ‚in dem Sohn‘ überhaupt erst den wahren Sinn und Gehalt dessen erschließt, was zuvor ‚zu den Vätern‘ geredet war“25. Denn dieses Reden im Sohn ist, wie Roland Deines für das Christusereignis in dessen Bedeutung für die zuvor ergangene und bezeugte Geschichte generell bemerkt: „[…] das Prisma, in dem alle Strahlen gebündelt und gebrochen werden. Und wenn einzelne Strahlen durch dieses Prisma hindurch nicht ausgefiltert, sondern durchgeleitet werden, dann sind sie dennoch verwandelt und können nicht betrachtet werden etsi Christus non daretur“26.
Das Reden Gottes im Sohn ist nun aber nicht abstrakt oder übergeschichtlich, sondern ein konkretes innergeschichtlich verortbares Heilsereignis. Es hat seinen Anfang mit dem Wirken Jesu von Nazareth genommen (2,3) und seinen Höhepunkt in dessen Tod und Auferstehung sowie Erhöhung zur Rechten Gottes gefunden (1,3; 8,1; 10,2; 12,2). Durch dieses Reden im Sohn wird der Zeitverlauf sachlich quasi in zwei Abschnitte geteilt. Es gibt ein „vorher“ (πάλαι) und ein „nachher“ (ἐπ᾽ ἐσχάτου τῶν ἡμερῶν τούτων) innerhalb der nach 9,26 die Zeit rahmenden Pole „Anfang“ (ἀπὸ καταβολῆς κόσμου) und „Ende“ (ἐπὶ συντελείᾳ τῶν αἰώνων). Das zeitliche Nacheinander, oder anders ausgedrückt, die Beziehung von „Vorher“ und „Nachher“, ist für Hebr die bestimmende Kategorie, mit der er den zeitlichen Verlauf der Geschichte einordnet, sowie
22 Vgl. M ICHEL, Hebräer, 573 mit zahlreichen Belegen für den atl.-frühjüd. Schöpfungsglauben als Traditionszusammenhang von 11,3. 23 G RÄSSER, Hebräer III, 108. 24 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 385. 25 H OFIUS, Theologie, 112. Ob man mit Hofius die folgenreiche Konsequenz ziehen muss, dass dann einzig der atl. Inhalt christlich rezipierbar sei, der mit dem ntl. Christuszeugnis vereinbar ist (HOFIUS, Theologie, 377), ist jedoch fraglich. Man sollte zumindest dagegen bedenken, dass alle atl. Texte, die in 1,1–4 zur Christologie herangezogen werden, bereits im Judentum messianisch interpretiert wurden. Insofern Jesus und die ntl. Autoren an diesen Messias anknüpfen, besteht größere Kontinuität als von Hofius an dieser Stelle (!) vertreten (vgl. dazu GUTHRIE, Hebrews, 926.943). 26 D EINES, Bedeutung, 328 (Herv. v. Vf.). Vgl. ähnlich G ÄCKLE, Relevanz, 162f. zur gleichen christozentrischen Hermeneutik der atl. Schriften bei Paulus.
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mehrfach das tragende Argument für die einzigartige Bedeutung des Sohnes: Die spätere Offenbarung im Sohn übertrifft die früheren in der Geschichte (1,1f.). Mose nimmt als treuer Knecht Gottes mit seinem Glaubenszeugnis Anteil am Neuen (3,1–6), ähnlich wie die Engel, die nach 2,1 das Gesetz übermittelt hatten und nun zum Dienst an den Erben des Heils ausgesandt sind (1,14; vgl. Dtn 18,15–18). Ebenso speisen sich die Argumentationen über die noch vorhandene Gottesruhe (3,7–4,11) sowie die Andersartigkeit und Überlegenheit des Hohepriesteramtes Jesu nach Melchisedek gegenüber der alttestamentlichen Kultordnung und der damit verbundenen Einführung einer besseren Hoffnung (7,1–19) aus der Hoch- und Beachtung einer zeitlichen Abfolge. Wie sehr die Logik des Hebr hierfür von dieser zeitlich-linearen Anordnung bezeugter Ereignisse geprägt ist, zeigt sich dabei besonders deutlich in seiner Rezeption der beiden Schriftworte aus Ps 94LXX und Ps 109 LXX. Ps 94LXX versteht Hebr in 3,7–4,11 als Kommentar Gottes während der Zeit Davids über die Zeit der sog. Landnahme unter Josua. Dieser Kommentar belegt – weil er sich zeitlich später ereignet –, dass das Ziel des Exodus und der Landnahme – die Ruhe (κατάπαυσις) – noch nicht erreicht und somit noch vorhanden ist.27 Da Hebr dieses Psalmwort zugleich als ein für sich und seine Adressaten gegenwärtig („Heute“) gesprochenes Wort Gottes versteht, erkennt er darin ein Signal eines noch „uneingelösten Geschichtspotentials“28 der seit der Schöpfung bestehenden und durch die Landnahme noch nicht erlangten Verheißung der Ruhe.29 Ebenso wird Ps 109 LXX in 7,11–19 als Beleg dafür verstanden, dass Gott mit dem in diesem Psalm verheißenen neuen Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks das levitische Priestertum für veraltet erklärt, weil letzteres durch die Gesetzesgabe an Mose und damit weit vor Ps 109 LXX zur Zeit Davids gestiftet worden ist. Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass Hebr hier exakt umgekehrt argumentiert wie Paulus bzgl. des Verhältnisses zwischen der Verheißung an Abraham und der Gesetzesgabe an Mose in Gal 3,15–22, und das obwohl (!) beide eigentlich dasselbe Anliegen verfolgen: die Betonung der unüberbietbaren Bedeutung Jesu als Ziel des Heilshandelns Gottes. Für Paulus ist das Ältere das Entscheidende (Gen 17), für Hebr das neu Erlassene (Ps 110). Beide bauen ihr Argument auf dem alttestamentlichen Schriftwort auf. Da für sie dabei aber unterschiedliche Schriftworte ausschlaggebend sind, die auf unterschiedliche Zeiten bzw. Ereignisse abzielen, müssen sie zwangsläufig dasselbe zeitliche Argument genau umgekehrt anwenden, um zum gleichen Ergebnis zu kommen.
Die Betonung der Zeitlichkeit bringt Hebr auch zu sehr dringlichen Warnungen. Denn zu dieser Perspektive gehört auch, dass es einen Punkt innerhalb der zeitlichen Abfolge geben kann (und muss!), an dem die zum Heil strebende
Vgl. ATTRIDGE, Logic, 281–283. LÖHR, Denken, 447. 29 Vgl. κατέπαυσεν in Gen 2,2bLXX (= Hebr 4,4b) und κατάπαυσιν in Ps 94,11LXX (= Hebr 4,3b.5b). 27 28
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Geschichte zu einem gewissen Ende kommt und für die notwendige Gewissensreinigung auch ein „zu spät“ gilt (vgl. 4,1; 12,16f.). Mit der starken Betonung der Zeitlichkeit und konkret mit der Einmalig- und Letztgültigkeit des Opfers Jesu innerhalb dieser Zeitlichkeit ist letztlich auch die schroffe Ablehnung der Möglichkeit einer zweiten Buße für vom Glauben Abgefallene in 6,4–6 verbunden. Ein erneutes, bewusstes Sündigen erfordere quasi eine zweite Kreuzigung, für die dann jedoch – so einfach es klingen mag – schlicht das wirksame Opfer fehlte, da sich Jesus für immer zur Rechten Gottes gesetzt hat (10,12–14.26f.). Nun stehen sich für Hebr mit „Vorher“ und „Nachher“ nicht einfach zwei Zeitabschnitte unverbunden gegenüber. Vielmehr ist das „Vorher“ nicht nur (logischerweise) zeitlich auf das „Nachher“ angelegt, sondern auch sachlich.30 Dies lässt sich am Motiv der „Gottesruhe“ vor allem in 3,7–4,11 deutlich zeigen. Hebr knüpft an die alttestamentliche (heute sog. priesterschriftliche) Tradition der Sabbatruhe an, die das Ruhen des Menschen mit dem Ruhen Gottes als Höhepunkt seines Schöpfungswirkens verbindet (4,3–5; vgl. Gen 2,1–3; Ex 20,11; 31,12–17).31 Mit der Einhaltung der Sabbatruhe wird Gottes Herrschaft über die (Fest-)Zeit, aber auch seine fürsorgliche Zuwendung zu Israel ausgedrückt. Durch die Verankerung in der Schöpfungsordnung ist der Sabbat nicht per se allein den Israeliten vorbehalten, was sich auch in der prophetischen Öffnung für die Fremdvölker hinsichtlich der Teilhabe an der Sabbatruhe äußert (z. B. Jes 56,1–7). Nach Jes 66,23 ist die Teilhabe der Menschen über die Zugehörigkeit zum leiblichen Volk Israel hinweg schließlich Merkmal der künftigen Heilszeit der Neuschöpfung.32 Hebr steht also durchaus in Kontinuität zur alttestamentlichen Tradition, wenn er die schöpfungstheologisch begründete Sabbatruhe letztlich als eine oder vielmehr als die über das konkrete irdische Ruhen am siebenten Tag der Woche hinausgehende Heilsgröße auffasst. Dass das Gottesvolk die ihm bestimmte Ruhe bisher noch nicht erlangt hat, sieht Hebr schließlich durch die Schrift selbst vorgegeben. Dabei ist die zeitliche Abfolge der durch die jeweilige Schrift bezeugten Ereignisse entscheidend. Ausgangspunkt ist hierfür Ps 94LXX.33 Gott erklärt durch David,34 er habe der Generation der Wüstenwanderung aufgrund ihres Ungehorsams den Eintritt in seine Ruhe verweigert (94,9f.LXX; vgl. Ex 17,1–7). Wenn Gott einigen die Ruhe also zuvor verwehrt hatte, so folgert Hebr, muss es dem Menschen zum einen grundsätzlich möglich sein, die Ruhe zu erlangen, und zum anderen muss diese S.o. zur Beziehung der (früheren) positiven Glaubenszeugen zu dem für sie zeitlich späteren Christusereignis II.2.4.2. 31 Vgl. H ARTENSTEIN, Sabbat, 119–126. 32 Vgl. K ÖRTING, Art. Sabbat (AT), 4f. 33 Vgl. LANZINGER, Sabbath, 97–99. 34 Dass David der menschliche Autor von Ps 95 (94LXX) sei, wird freilich nicht im MT, sondern allein durch den Zusatz αἶνος ᾠδῆς τῷ Δαυιδ in der LXX benannt. 30
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Ruhe auch vorhanden sein, aber noch ausstehen (4,6). Deshalb habe Gott durch David erneut dazu aufgerufen, „heute“ (σήμερον; 3,7.13.15; 4,7) die Herzen gegenüber Gottes Reden nicht zu verstocken, damit die Ruhe erlangt werden könne (4,6f.; vgl. Ps 94,7LXX). Den Aufruf Gottes in Ps 94LXX interpretiert Hebr konsequent auf das (zeitlich noch einmal spätere) Reden Gottes im Sohn hin (1,1–4). Dieses Reden liegt aus der Perspektive des Hebr und seiner Adressaten nun selbst schon in der Vergangenheit. Gott „hat gesprochen“ (ἐλάλησεν), doch seine Botschaft „ergeht heute“ (καθὼς λέγει [...] σήμερον; 3,7.13.15; 4,7) an die Gemeinde. Das zeitliche spätere „Heute“ aus Ps 94LXX aktualisiert so retrospektiv die noch ausstehende, verheißene Gottesruhe und wird selbst wiederum retrospektiv durch das Reden Gottes im Sohn für die Gegenwart des Hebr aktualisiert. Dieses „Heute“ ist aber mehr als ein punktueller Aufruf, denn die Gemeinde soll, „solange es ‚heute‘ heißt“ (ἄχρις οὗ τὸ σήμερον καλεῖται; 3,13), standhaft bleiben „bis zum Ende“ (μέχρι τέλους 3,14). Das Entscheidungsmoment, der „Kairos“, geht dem „Heute“ dadurch nicht verloren. Die Botschaft vom Heil durch Christus richtet sich heute an die (angefochtene) Gemeinde und ruft sie zur Bewährung bis zum Ende auf (3,6.14; 6,11).35 So meint das „Heute“ die gegenwärtige (heils-)geschichtliche Situation der Gemeinde, die mit dem Reden Gottes im Sohn, d. h. dem Auftreten Jesu begann (2,3) und bis zum zukünftigen Ende am Tage Jesu Wiederkunft andauert (3,6.14; 6,11). Das „Heute“ markiert die Zeit zwischen „diesen letzten Tagen“ (1,2) und ihrem tatsächlichen „Ende“ (9,26).36 Das „Vorherige“ versteht Hebr also auf das Reden Gottes im Sohn hin intendiert, wodurch es seine Aktualität für die Gegenwart gewinnt, welche wiederum vom Reden Gottes im Sohn herkommt und so dem Zukünftigen entgegenstrebt. Der Sinn dieser „Retrospektive“ liegt darin, „uneingelöste Verheißungen und damit Geschichtspotenzial aufzudecken“37 und für die auf die Zukunft zustrebende Gegenwart fruchtbar zu machen. Diese horizontale Dimension im Hebr, d. h. sein Umgang mit Zeit, ist, gemäß seiner gesamten Intention, zutiefst seelsorglich orientiert. Im Blick auf die Vergangenheit soll die Gemeinde in der Gegenwart Orientierung gewinnen, um sich auf die Zukunft zielführend ausrichten zu können.38 Dieser zukunftsorientierte Umgang mit Vergangenheit im Hebr hat eine konstruktive, sinnstiftende Kraft, die an die vier Bedingungen für eine zukunftsfähige Erinnerung denken lässt,
GRÄSSER, Hebräer I, 188 spricht daher von einem „qualifizierten Zeitpunkt“ (Herv. v. Vf.). 36 Vgl. STEWART, Cosmology, 548f. 37 LÖHR, Denken, 447 (Herv. v. Vf.). 38 Die, denen Hebr die zweite Umkehr versagt, sind ja dementsprechend gerade diejenigen, welche die Kräfte des „zukünftigen Äons“ – der zukünftigen Heilswirklichkeit – bereits im Hier und Jetzt geschmeckt haben. 35
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wie sie Jörn Rüsen in seiner Essaysammlung39 über den heutigen Umgang mit Geschichte bildhaft mit dem Vorgang beim Start eines 100-Meter-Laufes beschreibt.40 Rüsen ist davon überzeugt, dass wir unsere „Vergangenheit, die wir um der Zukunft willen brauchen“41, in unserer Gegenwart auf unsere Zukunft hin verarbeiten müssen, um handlungs-, ja existenzfähig zu bleiben. Es brauche ein in der Vergangenheit verankertes „Widerlager für Zukunft“42, so wie der Sportler seine Startenergie durch den Abstoß aus dem Startblock gewinne. Dabei müsse (1) die „[h]istorische Erinnerung [...] der Zukunft den [trittsicheren; A. H.] Boden bereiten“43, sodass (2) die Gegenwart durch die Verarbeitung der Vergangenheit „auf Zukunft hin geöffnet“44 werde, d. h. die gegenwärtige Ausrichtung auf die Zukunft müsse in der Verarbeitung der Vergangenheit Orientierung gewinnen, um eine tragende Motivation entfalten zu können. Sodann brauche es (3) Energie für den Absprung nach vorn, was Rüsen vor allem durch die Qualität „des Anderen“45 stimuliert sieht, wobei die Zukunft der Gegenwart sich aus dem Widerlager der Vergangenheit speisen muss, um nicht in die „Praxisfalle des Utopischen“46 zu geraten. Dazu müsse diese Energie (4) immer auch zielgerichtet (in der gegenwärtigen Lebenspraxis) umgewandelt werden, um „sich nicht im Ziellosen zu verirren“47. Was Rüsen hier als zukunftsermöglichende, sinnstiftende „Wertschöpfung des gegenwärtigen Lebens“48 – vor allem im Blick auf die unheilvolle Geschichte der westlichen Welt im 20. Jh. – beschreibt, hat eine deutliche Analogie zur Suche und Verarbeitung nach Geschichtspotenzial im Hebr unter seinen christologischen oder vielmehr heilsgeschichtlichen Vorzeichen. Ein solches Denken ist eine zukunftsorientierte Form der Geschichtsdeutung und -aneignung, die nicht zwingend ist, aber inmitten einer Vielzahl von Wirklichkeitsdeutungen als legitimes Angebot gerade auch moderne Leser ansprechen kann.49
Die Gegenwart – das „Heute“ – wird durch die retrospektive Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft mit dem Reden Gottes im Sohn als Dreh- und Angelpunkt zu einer Art Zwischenzeit, in der sich auch das glaubende Gottesvolk bis zum Eschaton befindet.50 Weil der Eintritt in die eschatologische Ruhe in der himmlischen Wirklichkeit durch das Sühnewirken des Sohnes ermöglicht worden ist, hat das Neue bereits in der Gegenwart begonnen, aber es ist noch nicht vollends erreicht. Dass das Eschaton schon im „Heute“ angebrochen, ja gegenwärtig ist, signalisiert die Umschreibung der gegenwärtigen Zeit seit dem Reden Gottes im Sohn als ἐπ᾽ ἐσχάτου τῶν ἡμερῶν τούτων in 1,2.
Vgl. RÜSEN, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001. Vgl. RÜSEN, Zukunft. 41 R ÜSEN, Zukunft, 135. 42 R ÜSEN, Zukunft, 136. 43 R ÜSEN, Zukunft, 136. 44 R ÜSEN, Zukunft, 136. 45 R ÜSEN, Zukunft, 139. 46 R ÜSEN, Zukunft, 139. 47 R ÜSEN, Zukunft, 140. 48 R ÜSEN, Zukunft., 141. 49 Vgl. dazu auch: D EINES, Recognition. 50 Insofern stehen heutige Glaubende in keiner anderen Situation als die Adressaten des Hebr. Sie blicken zeitlich auf diese zurück, drehen sich aber, bildlich gesprochen, mit ihnen um und schauen bzw. laufen in dieselbe (zeitliche) Richtung. 39 40
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Denn hierbei handelt es sich um einen (von Hebr vermutlich als bekannt vorausgesetzten) Ausdruck, der in der LXX häufig für ְבַּאֲח ִרית ַהָיִּמיםals Bezeichnung der Endzeit, d. h. der abschließenden Epoche der Weltentwicklung, gebraucht wird.51 Das Demonstrativpronomen τοῦτο ist zudem ein Signal, dass die Gegenwart (das „Heute“) schon zu dieser Endzeit gehört.52 Zugleich ist das Vorherige (πάλαι) seinem Ende nahegekommen,53 dauert aber zeitlich noch an (vgl. 8,13).54 Das Alte wird nicht einfach aufgrund seiner selbst beendet, sondern um des Neuen willen. Dieses „Schon-aber-noch-nicht“, das sich aus der Verschränkung von „Vorher“ und „Nachher“55 durch das Reden Gottes im Sohn ergibt, ist die grundlegende Denkfigur für die horizontale Dimension im Hebr.56 3.1.2 Vertikale Dimension – Das glaubende Gottesvolk zwischen den Räumen Um sich für die räumliche Vorstellung im Hebr, d. h. dem Verhältnis von irdischer und himmlischer Wirklichkeit, Orientierung zu schaffen, hilft ein Blick in die vorfindliche Terminologie. Hebr verwendet in Aussagen, die den irdischen Bereich betreffen und als solchen thematisieren, keinen einheitlichen Ausdruck, sondern scheint sich dabei aus verschiedenen Traditionssträngen zu speisen. Der hellenistisch anmutende „Kosmos“ (ὁ κόσμος) bezeichnet im Hebr mehrmals den irdischen Raum (4,3; 9,26; 10,5; 11,7; 11,38). Da in 4,3 und 9,26 51 Vgl.
Num 24,14; Jer 23,20; 30(37LXX), 24; 49(25LXX),39(19LXX); Ez 38,16; Dan 10,14; Hos 3,5; Mi 4,1. Die Wendung kann freilich in ihrem unmittelbaren Kontext auch zunächst immanent gebraucht werden (vgl. Gen 49,1; Dtn 4,30). 52 Vgl. W EISS, Hebräer, 139. Ähnlich auch die Adressierung des Redens Gottes im Sohn „zu uns“ (ἡμῖν). 53 Diese „Einteilung“ der Zeit erinnert an Lk 16,16, wonach das „Gesetz und die Propheten“ bis Johannes dem Täufer reichen. Nach ihm tritt Jesus auf und etwas Neues („die gute Botschaft vom Reich Gottes“) beginnt. 54 Vgl. SCHENCK, Cosmology, 79, der die zeitliche Dimension im Hebr zwischen den beiden Polen „Schöpfung“ und „Neuschöpfung“ verortet, wobei das Heilsereignis in Christus der Ermöglichungsgrund für den Übergang des einem zum anderen sei. 55 Diese m. E. treffende und in der ntl. Auslegung häufig verwendete Formulierung geht zurück auf Oscar Cullmanns Systematisierung des heilsgeschichtlichen Zeitverständnisses der ntl. Schriften, in das sich Hebr als ein Zeuge mit seinen je eigenen Ausdifferenzierungen einreiht (vgl. CULLMANN, Oscar: Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 31962 [1. Aufl. 1946]; später wesentlich differenzierter in DERS.: Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965; bes. 147–165). 56 Mit dieser Vorstellung von „Zeit“ steht Hebr im Kreise der ntl. Autoren freilich nicht allein. Die Überschneidung der „Zeiten“ durch das Christusereignis gehört auch bei Paulus und Johannes wesentlich zur Wirklichkeitsdeutung. Vgl. zu Paulus RABENS, Volker: „Schon jetzt“ und „noch mehr“. Gegenwart und Zukunft des Heils bei Paulus und in seinen Gemeinden, JBTh 28 (2013), 103–128; zu Johannes FREY, Jörg: Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi. Zur „Verschmelzung“ der Zeithorizonte im Johannesevangelium, JBTh 28 (2013), 129–158.
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von der „Grundlegung des Kosmos“ (καταβολὴ κόσμου) die Rede ist (in 4,3 auch mit direktem Bezug zu Gott), ist der Kosmos Schöpfung Gottes.57 Entsprechend kann Hebr auch von Gottes irdisch sichtbaren Schöpfungs-„Werken“ (τὰ ἔργα) sprechen – in 1,10 und 4,4 durch Aufnahme von Ps 101,26LXX, in 4,10 in eigener Formulierung.58 Hebr reiht sich damit in die alttestamentlichfrühjüdische Tradition eines positiven Schöpfungsglaubens ein, der die irdisch fassbare Welt als (gutes) Werk des einzig-einen Gottes begreift (11,3).59 Es ist Gott, der „alle Dinge“ ([τὰ] πάντα) gemacht hat und erhält (1,3; 2,10; 3,4). Für dieses Schöpfungshandeln Gottes bedient sich Hebr entsprechend typischer Ausdrücke der LXX: ποιῶν (1,2; 12,27; vgl. Gen 1,1.7.16.21.25 u. ö.)60, κατασκευάζειν (3,3f.; vgl. 4 Mak 2,21; Sap 9,2; Jes 40,28; Bar 3,32), θεμελιοῦν (1,10 = Ps 101,26LXX) oder καταρτιζεῖν (11,3; vgl. Ps 28,9LXX; Ps 67,10LXX; Ps 73,16LXX).61 Als Schöpfer verfügt Gott aber auch souverän über seine Schöpfung (vgl. 1,2–3; 2,8.10; 3,4; 4,13). Dieses Verhältnis kommt besonders im Zitat aus Ps 101,26–28LXX in 1,10–12 zum Tragen: „Und: ‚Du, Herr, hast im Anfang die Erde gegründet, und die Himmel sind Werke deiner Hände; sie werden untergehen, du aber bleibst; und sie alle werden veralten wie ein Kleid, und wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen, wie ein Kleid, und sie werden verwandelt werden. Du aber bist derselbe, und deine Jahre werden nicht aufhören.‘“
Im unmittelbaren Kontext (1,[4]5–14) dient das Zitat freilich dem Erweis der einzigartigen Erhabenheit des Sohnes über die Engel. Obgleich das sachliche Gewicht nicht auf den einzelnen Aussagen des Psalms liegt,62 passen sie zu den restlichen Gedanken des Hebr. Das Zitat ist als wörtliche Rede in den Hauptsatz eingebettet, der schon in 1,7 mit λέγει eingeleitet wurde. Das logische Subjekt von λέγει und damit auch Sprecher des Psalmzitats ist Gott (ὁ θεός) 57 Die Schöpfungsaussage καταβολὴ κόσμου findet sich nirgends in der LXX. Im NT ist sie hingegen gut belegt (vgl. Mt 13,35; 25,34; Lk 11,50; Joh 17,24; Eph 1,4; 1 Ptr 1,20; Offb 13,8; 17,8). Vgl. zudem AssMos 1,1 sowie Barn 5,5. 58 Zudem verwendet Hebr an vier Stellen das Wort ἡ γῆ, um damit den irdischen Bereich (gegenüber dem himmlischen) zu kennzeichnen (vgl. 1,10 [= Ps 101,26LXX); 8,4; 11,13; 12,25f.). 59 Die Einschätzung, Hebr habe eine abwertende Auffassung aller materiellen Beschaffenheit an sich (vgl. THOMPSON, Beginnings, 103–115, der die Ablehnung von Tieropfern in Kap. 10 als Erweis einer durch platonische Kategorien bestimmte Ablehnung alles irdischleiblichen generell interpretiert), lässt sich am Gesamttext nur schwer erweisen. Vielmehr ist die Leiblichkeit ja sogar Voraussetzung – und nicht Hinderungsgrund – für das Erlösungswerk des Sohnes, für welche dieser den Vater preist (vgl. 10,5.10; ebenso die Notwendigkeit des Blutes für wirksame Sühne in 9,22). Sodann sollen die Glaubenden „gewaschen am Leib“ – und nicht „vom Leib“ – vor den Thron Gottes treten (10,22). Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einer solchen oben genannten Position vgl. FILTVEDT, Creation. 60 Im Zitat zudem in 1,7 (= Ps 103,4LXX) sowie 8,5 (= Ex 25,40). 61 Vgl. A DAMS, Cosmology, 130. 62 Vgl. u. a. W EISS, Hebräer, 167f., der auf eine Einzelauslegung entsprechend verzichtet und allein den Aspekt der Beständigkeit Gottes bzw. der Vergänglichkeit alles Irdischen beachtet.
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aus 1,1. Adressat der göttlichen Rede ist der Sohn, dem somit das aktive Schöpfungshandeln Gottes von diesem selbst direkt zugesprochen wird. Dadurch knüpft die Aussage des Psalmzitats sachlich an die im Eingangshymnus 1,1–4 benannte Schöpfungsmittlerschaft des Sohnes an und vertieft sie: 1,2
[…] δι᾽ οὗ καὶ ἐποίησεν τοὺς αἰῶνας […] […] durch welchen er [Gott] auch die Äonen geschaffen hat […],
1,3
ὃς […] φέρων τε τὰ πάντα τῷ ῥήματι τῆς δυνάμεως αὐτου welcher […] auch alle Dinge durch sein mächtiges Wort trägt […]
Dass Hebr damit Gott und Sohn, der in 1,10–12 nicht mehr „nur“ als Mittler, sondern als Schöpfer selbst gepriesen wird, ineinander denkt, begegnete schon an anderer Stelle.63 Wesentlich für die Vorstellung der räumlichen Dimension im Hebr ist somit die Betonung, dass Gott und Sohn (als Teilhaber der Herrlichkeit des Vaters; vgl. 1,3) zusammen als der eine Schöpfer der geschaffenen Welt souverän gegenüberstehen. Die bestimmende Kategorie zur Unterscheidung liegt hierbei aber im Bereich des Zeitlichen. Während das Irdisch-Räumliche wesenhaft von dem zeitlichen Vorbehalt geprägt ist, letztlich immer zu vergehen (ἀπόλλυμι; 1,11), war, ist und bleibt der Schöpfer derselbe (1,12; vgl. das ὁ αὐτὸς mit 13,8: Ἰησοῦς Χριστὸς ἐχθὲς καὶ σήμερον ὁ αὐτὸς καὶ εἰς τοὺς αἰῶνας). Seine Jahre hören nicht auf bis in alle Ewigkeit (vgl. über den Sohn in 1,8: ὁ θρόνος σου ὁ θεὸς εἰς τὸν αἰῶνα τοῦ αἰῶνος). Diese Verbindung von zeitlicher und räumlicher Dimension kommt schließlich in der Verwendung des Wortes „Äonen“ (αἰώνες) für die irdische Wirklichkeit deutlich zum Ausdruck (1,2; 6,5; 9,26; 11,3).64 Beide Dimensionen verschmelzen darin miteinander, als (im Frühjudentum gängige) Bezeichnung für alles, was zeitlich und weltgebunden ist.65 Mit Gott (und Sohn) als Schöpfer und Regent „aller Dinge“ steht dem irdischen Raum aber immer auch der Ort ihrer Regentschaft gegenüber. Während der Sohn wegen seines Erlösungswerkes „für eine kurze Zeit niedriger als die Engel“ gewesen (2,9), also in den irdischen Bereich eingegangen ist, hat er sich nun an dem Ort seiner ewigen Herrschaft niedergelassen – „zur Rechten der Majestät in den Höhen“ (1,3; 8,1; 10,12). Zugleich findet sich die Aussage, „daß Christus nicht einfach ‚im Himmel‘, sondern ‚höher als die Himmel‘ [7,26; A. H.] thront und damit als der Erhöhte über der Schöpfung Gottes und 63 S. o. II.2.4.2.3. Hebr steht hier in der frühchristlichen Tradition, die Christologie von der atl.-frühjüd. Weisheitstheologie (vgl. z. B. Spr 8; Sap 9,1f.) her zu betrachten, wie sie dann auch in der sog. Logos-Theologie im NT (vgl. 1 Kor 8,6; Kol 1,15–17; Joh 1,1–3) Niederschlag fand (vgl. WEISS, Hebräer, 143 mit Anm. 35 Lit.). 64 Das Wort αἰώνες findet im Hebr auch noch an zahlreichen anderen Stellen Verwendung (häufig auch in atl. Zitaten), dort aber eng bezogen auf die bleibende Ewigkeit des Sohnes und seiner erwirkten Sühne (vgl. 1,8; 5,6; 6,20; 7,17.21.24.28; 13,8.21). 65 Vgl. B AUER, Wörterbuch, 51–54 sowie B RAUN, Hebräer, 23 mit zahlreichen Belegen.
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ihr gegenüber eindeutig auf Gottes Seite steht“66. Die damit gemeinte himmlische Wirklichkeit als einzigartige Wohnstädte Gottes wird im Hebr vielfältig beschrieben: als „Thron der Gnade“ (4,16), „das hinter dem Vorhang Seiende“ (6,19), „höher als die Himmel“ (7,26), „Heiligtum und wahres Zelt“ (8,2; 10,19), „himmlische Dinge“ (8,5; 9,23), „größeres und vollkommeneres, nicht von Händen gemachtes Zelt“ (9,11), „Himmel selbst“ (9,24), „bessere, himmlische Heimat“ (11,14), „Berg Zion“ (12,22), „Stadt des lebendigen Gottes“ (12,22), „unerschütterliches Reich“ (12,28) oder als „zukünftige [bleibende] Stadt“ (13,14). Angesichts dieses flexiblen Wortschatzes sollten Versuche, eine systematische Himmelstopografie nachzuzeichnen, mit äußerster Zurückhaltung unternommen werden.67 Sicher (und ausschlaggebend) für die räumliche Wirklichkeitsdeutung des Hebr ist allein die grundlegende Unterscheidung zwischen „sichtbarer“ und „unsichtbarer“ Wirklichkeit.68 „Beyond the visible ‚earth‘ and ‚heavens‘ stands another realm that is superior, even if now it is unseen. This is the realm where God dwells, where God’s full and unmediated presence is enjoyed by the angelic hosts and the glorified Christ. […] The author is not considering the visible sky (the ‚heavens‘) as part of this superior realm. Rather, ‚heaven itself‘ is somewhere beyond what can be seen: the ‚vertical‘ dimension is, moreover, an expression of the worth of that realm ‚beyond‘ (in which ‚higher‘ becomes synonymous with ‚better‘, just as we speak of moving ‚up‘ in the world).“69
Dass Hebr die unsichtbare Wirklichkeit als „besser“ versteht, kommt bei seinen Ausführungen zum irdischen und zum himmlischen Heiligtum in 8,1–6 und 9,1–12 deutlich zum Ausdruck. Jesus vollzieht seinen hochpriesterlicher Dienst im „wahren“ (ἀληθινός; 8,2) und „vollkommeneren“ (τελειοτέρα; 9,11) (Zelt-)Heiligtum im Himmel. Jenen sind die irdischen Einrichtungen „nur“ (vgl. μόνος in 9,10) als „Abbild und Schatten“ (ὑπόδειγμα καὶ σκιά) nachempfunden (8,5; vgl. Ex 25,40). Ein solches „nur“ sollte jedoch nicht als generelle Abwertung missverstanden werden.70 Im Bild des Kunstwerkes gesprochen: Himmlisches und Irdisches verhalten sich qualitativ nicht zueinander wie Original und Fälschung, sondern wie Original und (autorisierter) Nachdruck, der unter den strengen Augen des Künstlers seine Berechtigung erhält. Der maßgebende Bezugspunkt für das Verhältnis von Original und Nachdruck liegt
FREY, Himmels-Botschaft, 203. den Exkurs zu τὰ ἅγια ab S. 85. So aber z. B. ELLINGWORTH, Universe, 340–348, der vereinfacht in eine dreistufige Vertikale und eine zweistufige Horizontale unterscheidet. Eine drei- bzw. mehrstufige Vertikale liegt zwar durch Textstellen wie 4,14; 7,26; 9,24 nahe, wird aber im Hebr nicht ausdrücklich benannt, wie etwa bei Paulus in 2 Kor 2,12. 68 Vgl. zum in allen Traditionssträngen breit verankerten, aber immer auch vielfältigen Gebrauch der Himmelsmetaphorik im NT: FREY, Himmels-Botschaft. 69 DESILVA, Perseverance, 28; ähnlich SCHENCK, Cosmology, 115, der die Kosmologie des Hebr auf dem Hintergrund von 13,12 am Gegenüber von „außerhalb der Tore des himmlischen Jerusalems“ und „im himmlischen Jerusalem“ beschreibt. 70 Vgl. ELLINGWORTH, Universe, 344. 66
67 S. o.
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nicht in ihrer eigenen jeweiligen Beschaffenheit, sondern beim Künstler selbst. Wer einen (meist limitierten) Nachdruck besitzt, kann die Fertigkeiten des Künstlers deutlich erahnen. Doch die eigentliche Genialität seines Schaffens kann vollends doch nur begreifen, wer Zugang zum Original erhält, mit all seinen Nuancen bis hin zu Faserung und Geruch. Auf diese Weise sind auch sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit zu verstehen. Maßgebend für das Urteil „besser“ ist ihr Bezug bzw. ihre Nähe zu Gott, von dem beide ausgehen.71 Denn nicht nur die sichtbare Wirklichkeit ist von Gott „gemacht“. Auch die Engel (1,7), das himmlische Heiligtum (8,2) oder die zukünftige Stadt (11,10) entstammen Gottes Wirken. Die voneinander unterschiedenen Räume der irdischen (vergänglichen) Schöpfung und der himmlischen (unvergänglichen) Dinge sind für Hebr in ihrem Bezug zu Gott als Ursprung eins. Auch der himmlische Raum ist Gottes Werk, aber er ist nicht von „dieser [dem Menschen sinnlich greifbaren] Schöpfung“ (τοῦτ᾽ ἔστιν οὐ ταύτης τῆς κτίσεως; 9,11).72 Denn in „dieser Schöpfung“ kann der Glaubende seine wahre Heimat – die Ruhestadt in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott mit all ihren Heilsgütern – nicht finden (11,13–16). Sie liegt im Himmel, dem Ort der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Dass die irdische Welt nach biblischer Vorstellung gute, aber auch gefallene Schöpfung und somit erlösungsbedürftig ist, wird im Hebr nirgends ausgeführt. Auf dem Hintergrund seiner konsequenten Schrifttheologie muss sie jedoch als vorausgesetzt gelten. Vermutlich würde Hebr den „Fall der Menschheit“ mitsamt ihren Konsequenzen für die ganze Schöpfung (vgl. Gen 3) unter dem „Wort des Anfangs“ (λόγος τῆς ἀρχῆς; 6,1), dem katechetischen Grundbestand seiner Adressaten verbuchen. Von Interesse für seine Ausführungen ist das für ihn unbestreitbare Resultat dieses „Falls“: der von menschlicher Seite aus unüberbrückbare Abstand zwischen sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit. Allerdings ist dieser Abstand nicht unüberbrückt geblieben. In der Inkarnation des Sohnes findet die größtmögliche Überschneidung zwischen irdischer und himmlischer Wirklichkeit statt. Sie ist der Ort der abschließenden Gottesoffenbarung (1,2), Voraussetzung der Wirksamkeit des Heilsgeschehens in Jesus (2,17; 10,15) und tragender Grund für Trost und Ermutigung der glaubensschwachen Gemeinde (4,15). In seinem Wirken überschneiden sich so die Räume. Er musste in der irdischen Wirklichkeit gehorsam leiden (2,17; 5,7–9), erbringt sein dadurch vollkommenes Opfer aber in der himmlischen, vor dem Angesicht Gottes (9,11f.24). So hat das Reden Gottes im Sohn im Leben Jesu von Nazareth seinen konkreten räumlichen (und natürlich auch zeitlichen) Ort. Die heilvollen Konsequenzen dieses Redens drückt Hebr auch in räumlichen Aspekten aus. Es geht 71 Nach 1,7 sind auch die Engel und nach 8,2 das himmlische Heiligtum von Gott „gemacht“. 72 Vgl. SCHENCK, Cosmology, 129; A DAMS, Cosmology, 130f.
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ihm um den freimütigen Eintritt derer, die sich durch Christus Gott nahen (προσέρχεσθαι τῷ θεῷ; 7,25; vgl. 10,22). Denn Christus ist der Vorläufer des glaubenden Gottesvolkes hinein in die himmlische Wirklichkeit (12,2).73 Damit ist das Sprechen Gottes im Sohn nicht nur das einschneidende Ereignis der zeitlich-horizontalen Dimension (s. o.), sondern auch der räumlich-vertikalen. Himmlische und irdische Wirklichkeit überschneiden sich dadurch ebenfalls in einem „Schon-aber-noch-nicht“. Dem glaubenden Gottesvolk ist der Zutritt vor das Angesicht Gottes eröffnet (10,19). Es ist zum Zion, der himmlischen Gottesstadt hinzugetreten (12,22),74 pilgert aber bis zu seiner letztgültigen Einkehr in die Gemeinschaft Gottes noch auf Erden – in einer Art Zwischenraum. 3.1.3 Fazit: Das Ineinander von horizontaler und vertikaler Dimension Die jeweils für sich genommenen Untersuchungen von horizontaler und vertikaler Dimension im Hebr ist methodisch sinnvoll, würde der Sache aber nicht gerecht werden, wenn es bei einer „Trennung“ bliebe. Denn Hebr kennt keinen zeitlosen Raum oder eine nicht verortete Zeit, sondern allein die durch ein Ineinander von horizontaler und vertikaler Dimension bestimmte Realität.75 Das, was sich zeitlich nacheinander ereignet und im Glauben als sinnvoll erkannt werden kann, ereignet sich im konkreten Raum, wobei dieser Raum nicht zwingend irdisch ist. Der Raum steht wiederum immer in einer Beziehung zum zeitlichen Verlauf. So ist die himmlische Wirklichkeit auch kein zeitloser Raum, sondern sie ist gerade in ihrem Bezug zur Zeit ein unerschütterlicher, ewig bleibender Ort aufgrund seines Bezugs zu Gott als dem Unwandelbaren. Beide Dimensionen – horizontal und vertikal – sind im Hebr vorhanden, ausschlaggebend, unweigerlich aufeinander bezogen und jeweils voneinander her zu verstehen.76 Dieses Ineinander von horizontaler (Zeit) und vertikaler (Raum) Dimension im Wirklichkeitsverständnis des Hebr lässt sich wie folgt veranschaulichen:77
S. o. II.2.4.2.2. Man beachte die Perfektform προσεληλύθατε in 12,22, ebenso das Präsenspartizip ἔχοντες in 10,19. 75 Vgl. ähnlich SCHOLTISSEK, Unsichtbaren, 147–150. 76 Dass Ausleger immer wieder die eine Dimension gegen die andere betonen, halte ich für einen Irrtum. Zwar lässt die Konzentration auf Einzeltexte im Hebr stärker die vertikale Dimension in den Vordergrund treten, die Gesamtschau auf den ganzen Brief v. a. hinsichtlich seines Bezugs zur Geschichte des atl. Israels betont jedoch stärker die horizontale. 77 Diese Art der Veranschaulichung verdanke ich, nach zahlreichen eigenen unbefriedigenden Versuchen, im Wesentlichen der Darstellung bei SCHENCK, Cosmology, 80, die ich durch mehr Details modifiziert habe. 73 74
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Abb. 2: Horizontale und vertikale Dimension im Hebr
Das Reden Gottes im Sohn ist nicht nur für den Umgang mit der alttestamentlichen Schrift ein hermeneutisches Nadelöhr, sondern in jeder Hinsicht für das gesamte Wirklichkeitsverständnis des Hebr. Es beschließt die Zeit vor ihm auf einzigartige Weise, indem es das zukünftige ewige Eschaton einleitet. Das Reden Gottes im Sohn, welches sich ἐπ᾽ἐσχάτου τῶν ἡμερῶν τούτων vollzieht, sollte daher im Sinne von „in dieser Endzeit“ verstanden werden.78 Denn die horizontale Dimension findet mit dem Reden Gottes im Sohn nicht ihren (punktuellen) Abschluss, sondern ein neues, wenn auch das letzte irdisch fassbare, Kapitel. Mit dem Reden Gottes im Sohn beginnt (!) das Eschaton. Dadurch wird aber auch der irdische Raum entgrenzt, weil ihm die Überführung in den himmlischen offen steht. Seit dieser Eröffnung, zugleich aber noch vor dem in der Zukunft liegenden Eintritt in diesen ewig bleibenden himmlischen Raum, befindet sich das Gottesvolk und letztlich die gesamte greifbare irdische Schöpfung, in einem Zwischenraum, der von einer Zwischenzeit, im Sinne eines „Schon-aber-noch-nicht“, (heils-)geschichtlich geprägt und verortet wird – dem „Heute“ (σἠμερον). Dass das glaubende Gottesvolk auch tatsächlich zu einem himmlischen Raum unterwegs ist, macht seine Wanderung zur Pilgerschaft. Denn die Glaubenden
78 Vgl. K LAPPERT, Glaube, 240 mit der Übersetzung von ἐπ᾽ἐσχάτου τῶν ἡμερῶν τούτων von Joachim Jeremias aus dessen Seminar zum Hebräerbrief (Göttingen 1965).
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irren nicht ziellos im „Heute“ umher, sondern streben nach diesem einen heiligen Ort, der am Ende der Reise auf sie wartet.79 Dieser himmlische Raum ist aus Sicht des Hebr und seiner Adressaten, aus Sicht des „Heute“, immer zugleich der zukünftig kommende, dessen Zugang durch die neue Heilsordnung im hohepriesterlichen Wirken des Sohnes ermöglicht worden ist. Dementsprechend versteht Hebr die alte Heilsordnung eng verbunden mit dem scheidenden, irdischen Kosmos. Der irdische Kosmos ist der eigentliche Wirkraum der levitischen Hohepriester, sodass Jesus seinen wirksamen Sühnedienst gar nicht gültig auf der Erde (ἐπὶ γῆς) verrichten konnte (8,4f.). Aber wie die alte Heilsordnung durch Gottes Willen ihrem Ende nahegekommen ist (8,13) und im „Heute“ noch andauert, so steht auch der irdische Raum vor seiner ihn erschütternden Aufhebung und Neuschöpfung (1,10–12). Deshalb erinnert Hebr seine Adressaten in 12,18–29 eindringlich, dass sie, indem sie Jesus nachfolgen, nicht den schwankenden Sinai, den irdisch-vergänglichen Stiftungsort der alten, soteriologisch unzureichenden Heilsordnung, erreicht haben, sondern den unerschütterlichen Zion, den himmlischen Ruheort in der Gegenwart Gottes.80 Am Ende dieser (alten) Zeit, steht auch das Ende dieses (alten) Raumes – auf die Schöpfung von Zeit und Raum folgt ihre Neuschöpfung.
3.2 Die Vollendung des glaubenden Gottesvolkes Das glaubende Gottesvolk befindet sich auf einer Pilgerschaft zwischen den Zeiten und zwischen den Räumen. Am Ziel dieser Pilgerschaft wartet die „zukünftige Stadt“ (13,14), der himmlische Ort der eschatologischen Ruhe in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott. Doch noch hat kein einziger menschlicher Glaubenszeuge die Tore zu dieser Stadt durchschritten, wie Hebr zum Abschluss des elften Kapitels noch einmal deutlich betont. Die Vollendung der Glaubenden ist von einem „Noch-nicht“ bestimmt – sowohl die der früheren als auch der gegenwärtigen Generation(en). Dieses „Noch-nicht“ ist für Hebr aber kein Zufall, sondern Teil eines Heilsplanes Gottes, der das gesamte glaubende Gottesvolk einschließt. Welche Bedeutung diesem Heilsplan für die
79 Vgl. JOHNSON, Pilgrimage, 245, der sich wiederum auf eine Studie von H. P. Partin über Kriterien der religiösen Pilgerschaft am Beispiel des islamischen Haddsch bezieht (PARTIN, H. P.: The Muslim Pilgrimage. Journey to the Center, Ph.D. dissertation, University of Chicago, 1967; vgl. JOHNSON, Pilgrimage, 244 mit Anm. 29). Dieser nennt neben dem konkret verorteten Ziel („place“) noch „separation“, „purpose“ und „hardship“ als wesentliche Kriterien (vgl. JOHNSON, Pilgrimage, 244). Vgl. dazu auch KRÜGER, Art. Wallfahrt, 408f. 80 Vgl. SCHENCK, Cosmology, 124f. Am dichtesten, aber auch am komplexesten kommt die Bedeutung des Ineinanders beider Dimensionen für die Soteriologie in den Überlegungen zum irdischen und himmlischen (Zelt-)Heiligtums in 9,1–10 zur Geltung (s. o. II.1.2.3.1).
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Glaubensgenerationen bzw. für die Glaubenden im Einzelnen zukommt, soll im folgenden Gegenstand der Untersuchung sein. 3.2.1 Das „Noch-nicht“ der Vollendung (Hebr 11,39) Mit 11,39 hält Hebr eine Art Zwischenrückblick auf die gesamte Wolke aller Glaubenszeugen und damit auf alle bisherigen Generationen des glaubenden Gottesvolkes. Dass mit οὗτοι πάντες nicht nur die letztgenannten Zeugen (etwa ab 11,32) gemeint sind, sondern alle „Alten“, geht aus der sachlichen und wörtlichen Verbindung zwischen 11,2 und 11,39a als inclusio eindeutig hervor:81 11,2
ἐν ταύτῃ [= πίστις] γὰρ ἐμαρτυρήθησαν οἱ πρεσβύτεροι
11,39a
Καὶ οὗτοι πάντες μαρτυρηθέντες διὰ τῆς πίστεως […]
„Diesen allen“ (11,39) ist gemein,82 dass sie „ein [gutes] Zeugnis aufgrund ihres Glaubens erhalten haben“. „[Μ]αρτυρηθέντες“ ist ein passivum divinum, sodass der Urheber dieses Zeugnisses in 11,39a nicht noch einmal wiederholt werden muss.83 Es ist das Urteil Gottes, das den Einzelnen das Gütesiegel des Glaubens zuerkennt (vgl. 11,4f.). Dies passt zudem zur sonstigen Verwendung von μαρτυρεῖν im Hebr, da Gott bei allen Belegen stets das Subjekt ist – sei es direkt (11,4f.), durch den Heiligen Geist (10,15) oder durch die Schrift (7,8.17). Die instrumental-kausative Verbindung von διά mit dem Genitiv πίστεως unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit des Glaubens als conditio sine qua non für das Bestehen des Einzelnen vor Gott (vgl. 10,38f.; 11,6). Bereits in 11,13 hatte Hebr eine solche Zwischenbilanz hinsichtlich der Zeugen mindestens im Blick auf die Erzväter gezogen.84 So gilt nun das in 11,39 formulierte Urteil allen bisherigen Generationen des einen glaubenden Gottes-
81 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 218; K ARRER, Hebräer II, 298; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 407 u. a. 82 Ob das von P 46 ausgelassene οὗτοι sekundär (vgl. R IGGENBACH, Hebräer, 381 mit Anm. 32; BRAUN, Hebräer, 400) oder ursprünglich (vgl. u. a. ELLINGWORTH, Hebrews, 634) ist, führt inhaltlich zu keinem wesentlichen Unterschied. Ohne οὗτοι würde die Formulierung streng genommen sogar noch mehr zur Aussageabsicht des Hebr passen, da so die Betonung weniger auf den Zeugen in Kap. 11 und mehr auf der Unabgeschlossenheit der Vollendung aller Glaubenszeugen an sich läge. Allerdings fügt sich das οὗτοι mühelos in den Kontext ein. 83 Vgl. LANE, Hebrews II, 326 Anm. g. 84 Möglich ist auch, das Fazit in 11,13 auf alle bis dahin genannten Glaubenszeugen zu beziehen, d. h. von Abel bis zu den Erzeltern. So sachlich angemessen diese Möglichkeit aus der Perspektive von 11,39 her ist, ist es dennoch sinnvoll, diese Stelle „nur“ auf die Erzeltern zu beziehen. Denn das in 11,13 genannte Merkmal ist nicht allein das „Nicht-Erlangen“ der Verheißung, sondern auch das Sterben (ἀποθνῄσκειν) in der irdischen Wirklichkeit vor der Erlangung der Verheißung. Dann scheidet zumindest Henoch jedoch für 11,13 aus.
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volkes,85 trotz zunächst anders anmutender Bekundungen (vor allem 6,15; 11,4–6.33). Am deutlichsten stehen mit 11,39 die Aussagen in 6,15 und 11,33 in Spannung, wo es heißt, dass Abraham bzw. unbenannte Glaubenszeugen die Verheißung „erlangt“ haben. Auffällig ist, dass in beiden Versen ἐπιτυγχάνειν verwendet wird, die zugleich die beiden einzigen Belege für diesen Ausdruck im Hebr sind. Hat Hebr dieses Wort bewusst gewählt, um eine andere Aussagenuance zu setzen?86 Etwa im weniger streng finalen Sinne als „teilhaftig werden“87, um so auszudrücken, dass Abraham zwar die Bestätigung, nicht aber die Erfüllung der Verheißung erlebt habe?88 Das ist möglich, aber nicht zwingend beweisbar. Hebr könnte sich in seinem Vokabular auch schlicht flexibler erweisen und κομίζειν (10,36; 11,39) und ἐπιτυγχάνειν (6,15; 11,33), wie darüber hinaus auch noch λαμβάνειν (11,33) und κληρονομεῖν (6,12), synonym gebrauchen. Die logische Spannung zum Fazit in 11,39 gelte es dann freilich mit Hebr auszuhalten. Plausibler erscheint hingegen, den entscheidenden Unterschied nicht in der Wortwahl, sondern im Kontext zu suchen. Die Rede vom „Erlangen der Verheißung“ in 6,15 bezieht sich im engeren Sinne auf die konkrete Situation Abrahams und den ihm versprochenen Nachkommen. Der tiefere Sinn der Verheißung im Blick auf die Gottesruhe ist hier nicht vordergründig. Insofern bezieht sich das „Erlangen“ in 6,15 auf die konkrete geschichtliche Verwirklichung durch die Geburt Isaaks, die Abraham erleben durfte.89 In die Gottesruhe ist er dennoch nicht eingegangen. Auf gleiche Weise dürfte dann das „Erlangen der Verheißung“ in 11,33 hinsichtlich nicht namentlich genannter Glaubenszeugen zu verstehen sein. Das eschatologisch notwendige Glaubenszeugnis durch Gott ist der Aufnahmegrund der einzelnen Personen in die positive Zeugenreihe (vgl. entsprechend durchweg ab 11,4) und umgekehrt das Ausschlusskriterium für die negative (11,4; 12,16). Dass dieses Zeugnis nun für die „Alten“ positiv ist, sollte – gerade im Wissen um den sodann in 11,39 (und 11,13) formulierten Vorbehalt – nicht zu schnell relativiert, sondern zunächst als solches ernst genommen werden. Hebr äußert an keiner Stelle eine polemisch klingende Geringschätzung des Glaubens der früheren Generationen. Nach 11,13 sind sie immerhin „im“ bzw. „voller Glauben“ (κατὰ πίστιν; hier modal) gestorben. Umso erstaunlicher mutet die in der zweiten Vershälfte 11,39b formulierte Einschränkung an, dass diese alle – man kann die Partizipialkonstruktion ohne weiteres So die meisten Ausleger, vgl. RIGGENBACH, Hebräer, 381; BRAUN, Hebräer, 400; COSBY, Composition, 71f.; WEISS, Hebräer, 625; GRÄSSER, Hebräer III, 218; LANE, Hebrews II, 392 u. v. a. 86 Vgl. eine ähnliche Vermutung bei A TTRIDGE, Hebrews, 180 Anm. 21. 87 Vgl. B AUER, Wörterbuch, 615. 88 Vgl. LANE, Hebrews I, 150f. 89 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 338f.; K OESTER, Hebrews, 326. 85
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mit „obwohl sie ein gutes Zeugnis im Glauben erhalten haben“ wiedergeben90 – „die Verheißung nicht erlangt haben“ (οὐκ ἐκομίσαντο τὴν ἐπαγγελίαν). Aber was beinhaltet dann dieses Zeugnis der „Alten“, das sie zu positiven Zeugen für die Adressaten des Hebr macht und doch nicht hinreichend zum Ziel führt? Das positive Gottesurteil haben sie „im Glauben“ (ἐν [πίστῃ]; 11,2) bzw. „aufgrund des Glaubens“ (διὰ τῆς πίστεως; 11,39) erhalten. So bleibt die Deutung des Zeugnisses – wie die des ganzen elften Kapitels – an das Verständnis des Glaubens im Hebr als das eschatologische Momentum der Gottesbeziehung gebunden. Der Glaube als die entscheidende Größe für die eschatologische Rettung muss hier stets für das gute Zeugnis der Alten mitgehört werden. Denn das Zeugnis „all dieser“ ist erst im zweiten Schritt ein von außen ablesbares Zeugnis für die Adressaten bzw. die gegenwärtige Generation des glaubenden Gottesvolkes – d. h. ein aktives Bezeugen durch die früheren. Zunächst ist dieses Zeugnis der „Alten“ – entsprechend zur passiven Form des Verbes (vgl. 11,2.4.5.39) – ein passives. Sie bekommen etwas von Gott bezeugt, was zuallererst für sie selbst von Bedeutung ist. Denn es ist dieser Glaube, der für sie wie für „uns“ individuell notwendig ist, um sich Gott nähern zu können (11,6). Aber auch das „christologische […] Vorzeichen“91 des Glaubens muss für dieses Zeugnis mitgehört werden. Er führt nur dann an sein endgültiges Ziel, insofern er im „Schauen auf Jesus“ als den „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (12,2), durch die Reinigung des Gewissens (9,14), seine soteriologische Wirksamkeit erhält. Insofern diese christologische Notwendigkeit (noch) nicht erfüllt war, konnten die alttestamentlichen Glaubenszeugen für Hebr folgerichtig auch (noch) nicht das Ziel der ihnen gegebenen Verheißung(en) erlangen. Für Hebr schließt dies einzelne Erfüllungsmomente oder -stufen innerhalb der Geschichte nicht aus. Abraham durfte die ihm in Aussicht gestellten Verheißungsgüter eines Nachkommens und einer (irdischen) Heimat zusammen mit seiner Frau Sara erleben (11,9.11), so wie auch ihre Nachkommen unter Josua dieses Land wieder betraten. Doch haben die bisherigen Untersuchungen zum Inhalt all dieser ἑπαγγελίαι gezeigt, dass darunter letztlich das eschatologische Heil, die Teilhabe an der Ruhe Gottes in der himmlischen Wirklichkeit, als die eine ἑπαγγελία (11,39) zu verstehen ist (vgl. 4,1.6).92 Insofern die alttestamentlichen Zeugen noch nicht in die Ruhe eingegangen sind (11,13–16), ist die Verheißung für sie noch nicht zu ihrer abschließenden Erfüllung gelangt. Warum? Damit befasst sich Hebr im nächsten Vers.
Vgl. LANE, Hebrews II, 392. WEISS, Hebräer, 626. 92 S. o. II.2.2. Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 219 mit Anm. 26 Lit. 90 91
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3.2.2 Das „Bessere“ am „Noch-nicht“ der Vollendung (Hebr 11,40) Der so unscheinbar wirkende, aber in seiner Bedeutung für den Gedankengang des Hebr nicht zu unterschätzende Halbvers 11,40a (τοῦ θεοῦ περὶ ἡμῶν κρεῖττόν τι προβλεψαμένου) wirft zwei Fragen auf, deren Antworten nicht nur vielschichtig sind, sondern einander auch bedingen: Für wen (περὶ ἡμῶν) hat Gott eigentlich was (κρεῖττόν τι) vorgesehen? Während viele Ausleger περὶ ἡμῶν, so sie es denn überhaupt ausdrücklich thematisieren, meist ohne weitere Begründung auf die konkrete christliche Gemeinde, d. h. auf die letzte Generation des glaubenden Gottesvolkes beziehen,93 variieren die Vorstellungen über κρεῖττόν τι erheblich. Es bietet sich an, zuerst den Inhalt des „Besseren“ zu klären und von da aus nach seinen Empfängern zu fragen. 3.2.2.1 Der Inhalt des „Besseren“ (κρεῖττόν τι) Die Deutungsangebote für das „Bessere“ sind zahlreich. Viele verbinden es mit einer Art Privilegierung der Christen gegenüber den alttestamentlichen Glaubenszeugen, sei es im Sinne eines besseren und insofern anderen Heils,94 der Rechtfertigung ohne Zutun des Menschen durch Christus95 oder einer kürzeren Wartezeit auf das Eschaton, bzw. die unmittelbare Teilhabe daran als erste Generation des Gottesvolkes.96 Andere erblicken jene „Ehrenstellung“97 der Christen darin, dass die alttestamentlichen Zeugen (erst) Anteil an deren Rettung erhalten (müssen).98 Eine solche einseitige Eingliederung kann aber auch genau umgekehrt als gewährte Anteilnahme der Christen an der Verheißung Israels, verstanden werden.99 Eine gedankliche Vorstufe hierzu wäre die Deutungsmöglichkeit, das „Bessere“ der Christen bestünde in der reinen Tatsache an sich, dass die früheren Glaubenszeugen unter einem solchen eschatologischen Vorbehalt stehen. Diese Ansicht könnte zugleich mit Überlegungen darüber verbunden werden, was geschehen wäre, hätten die alttestamentlichen Zeugen bzw. Israel die Verheißung doch schon erlangt.100 Die Fülle dieser Antwortmöglichkeiten, die im Einzelnen auch noch sehr unterschiedlich akzentuiert sein können, nötigt zu einer genaueren Untersuchung.
93 Vgl. u. a. W INDISCH, Hebräerbrief, 106; G UTHRIE, Introduction, 248; B RAUN, Hebräer, 401; HEGERMANN, Hebräer, 243; WEISS, Hebräer, 627; ELLINGWORTH, Hebrews, 636; GRÄSSER, Hebräer III, 219; DESILVA, Perseverance, 424. 94 Vgl. V ANHOYE, Structure, 194. 95 In diesem Sinne ist G RÄSSER, Glaube, 61 wohl zu verstehen. 96 Vgl. H EGERMANN, Hebräer, 243. 97 W INDISCH, Hebräerbrief, 106. 98 Vgl. B RAUN, Hebräer, 401; K LEINIG, Hebrews, 586. 99 Vgl. W EISS, Hebräer, 627; K ARRER, Hebräer II, 299. 100 Vgl. z. B. K ARRER, Hebräer II, 300; z. T. auch bei R OSE, Wolke, 325f.
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Ein Blick auf die Rede vom „Besseren“ im Gesamtkontext hilft diesen exegetischen Knoten zu lockern, denn sie ist in dieser Form ein Spezifikum des Hebr innerhalb des neutestamentlichen Kanons. Hebr gebraucht den Komparativ von ἀγαθός in allen dreizehn Belegen – entweder absolut oder attributiv – in Beziehung zur himmlischen Wirklichkeit, also zu dem, worauf sich die Glaubenden zuversichtlich ausrichten sollen.101 Bei der hermeneutischen Grundsteinlegung seines Schreibens spricht Hebr vom „besser/erhabener gewordenen“ (κρείττων γενόμενος) Sohn selbst gegenüber den Engeln (1,4). Sodann versteht er seine Ausführungen zum heilbringenden, hohepriesterlichen Sühnewirken dieses Sohnes als notwendige Vergewisserung seiner glaubensmüden Adressaten, damit diese vom zum Ziel führenden Weg hin zum eschatologischen Heil nicht abweichen (vgl. 5,7–6,12). Dabei ist Hebr (hinsichtlich seiner Adressaten) vom „Besseren“ (τὰ κρείσσονα) und „zur Rettung Gehörenden“ ([τὰ] ἐχόμενα σωτηρίας) überzeugt (6,9).102 Hebr nimmt an dieser Stelle schon Bezug auf die „bessere Hoffnung“ (κρείττων ἐλπίς; 7,19), die durch die „bessere Heilsordnung“ (κρείττων διαθήκη) gestiftet wird (7,22; 8,6), welche „auf besseren Verheißungen“ (ἐπὶ κρείττοσιν ἐπαγγελίαις) Gottes beruht (8,6) und durch „[ein] bessere[s] Opfer“ (κρείττων θυσία) erwirkt wird (9,23), dessen Blut sogar „besser“ (κρείττον) redet als das des vorbildlich glaubenden Abels (12,24). Entsprechend hatte sich zuvor die mit dem Sohn verbundene Gestalt des Melchisedek gegenüber Abraham, dem Stammvater der (irdischen) levitischen Priester, als „das Bessere“ (τὸ κρείττον) erwiesen (7,7). Somit sind auch die Belege, die von der neuen Heilsordnung in Jesus sprechen (7,19.22; 8,6; 9,26; auch in 6,9), nicht an sich das „Bessere“. Ihre Qualität „besser“ haben die darin genannten Aspekte dadurch, dass sie auf das „Bessere“ hinbezogen sind, konkret als der hinreichende Weg und die tragende Hoffnung zum Erlangen des „Besseren“. Die Adressaten des Hebr sollen sich in allen Anfechtungen an dieser Hoffnung festhalten, weil sie wissen dürfen, dass sie einen „besseren und bleibenden Besitz“ (κρείττων ὕπαρξις καὶ μένουσα) haben (10,34). Es ist daher sprachlich und hinsichtlich des gesamten Gedankengangs im Hebr nur folgerichtig, diese auffällige Rede vom „Besseren“ auch mit den alttestamentlichen Glaubenszeugen zu verbinden. Diese strebten im Bewusstsein um die eigene Bedingtheit in der irdischen Wirklichkeit, nach „einer besseren [Heimat]“103 ([πατρὶς] κρείττων; 11,16) und hofften auf eine „bessere 101 Im Vergleich zu allen anderen ntl. Schriften (mit insgesamt nur noch sieben Belegen), kommt diesem „Besser“ im Hebr eine überproportionale Häufung zu und lässt nur hier eine spezifisch (theologische) Bedeutung erkennen. 102 Die seltsame Wendung „τὰ [...] ἐχόμενα σωτηρίας“ dürfte im Sinne von „auf dem Weg des Heils“ zu verstehen sein (vgl. HAUBECK/SIEBENTHAL, Schlüssel, 1106) und drückt die Bewegung der Gemeinde, aber letztlich des ganzen glaubenden Gottesvolkes hin zur himmlischen Ruhestadt aus. 103 Das alleinstehende und unbestimmte κρείττονος in 11,16 bezieht sich zurück auf die πατρίς in 11,14.
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Auferstehung“ (κρείττων ἀνάστασις; 11,35). Auch bei diesen Belegen handelt es sich um Ausdrucksformen für das Himmlische, d. h. das zu Gottes Wirklichkeit Gehörende. Mit diesem Befund liegt es nahe, auch in 11,40a für das, wie in 6,9 absolut gebrauchte, „[περὶ ἡμῶν] κρεῖττόν τι“ die Deutung als das „Himmlische“ und im Blick auf die Glaubenden damit als die letztendliche Einkehr in das „Himmlische“ anzunehmen. Die alttestamentlichen Glaubenszeugen hätten dann die Verheißung deshalb nicht erlangt, weil Gott die Teilhabe an seiner Ruhe „für uns“ vorgesehen habe. Es bedarf jedoch der Klärung weiterer Detailfragen, um diese Deutung zu überprüfen. Dabei gilt es besonders zu fragen, wie sich dieses Verständnis von κρεῖττόν τι in den Kontext von 11,39 und 11,40b, aber auch darüber hinaus, einordnet. Die beiden Verse 11,39 und 11,40 bestehen aus einem Satz mit drei Sinneinheiten, wobei die hier relevanten Aspekte folgende sind:104 11,39
[…] (οὐκ) ἐκομίσαντο τὴν ἐπαγγελίαν […] die Verheißung (nicht) erlangt
11,40a
[…] κρεῖττόν τι […] […] etwas Besseres […]
11,40b
[…] (μὴ) τελειωθῶσιν. […] (nicht) vollendet werden.
Die drei Sinneinheiten bauen syntaktisch aufeinander auf als Abfolge von These (11,39), Begründung (11,40a) und Ziel (11,40b).105 Der genitivus absolutus τοῦ θεοῦ προβλεψαμένου (11,40a) ist hinsichtlich der These (11,39) kausal zu verstehen:106 „Weil Gott etwas Besseres vorgesehen hat.“ Das 11,40b einleitende ἵνα zeigt wiederum an, dass es sich bei dem „Vollendet-Werden“ (τελειωθῶσιν) um die Folge dieser Vorsehung Gottes handelt. Wie auch an allen anderen Stellen im Hebr107 ist ἵνα hier nicht nur konsekutiv (sodass), sondern final (damit) zu übersetzen. Denn es handelt sich dabei nicht um eine womöglich zufällige, sondern um eine von Gott durch und durch beabsichtigte Folge.108 104 Die Partizipialkonstruktion „μαρτυρηθέντες διὰ τῆς πίστεως“ in 11,39 ist zwar eine Art eingeschobene Erklärung oder sogar ein Einwand, stellt aber keine eigene Sinneinheit innerhalb des Hauptsatzes dar. 105 Diese Einteilung bezieht sich auf den inneren Zusammenhang des Abschnitts 11,39f., nicht auf die rhetorische Funktion des Abschnitts hinsichtlich seines Kontextes in Kap. 11, wie ihn z. B. KARRER, Hebräer II, 298 als conclusio („Ergebnissatz) und peroratio („Anwendung“) beschreibt. 106 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 219. 107 Vgl. 2,14.17; 3,13; 4,11.16; 5,1; 6,12.18; 9,25; 10,9.36; 11,28.35; 12,3.13.27; 13,12.17.19. 108 S. u. zu „προβλεψαμένου“ S. 178.
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Die Negation in 11,39 („sie haben die Verheißung nicht erlangt“) erfährt im „sie sollten vollendet werden“ ihre positive Umkehrung. Denn da die οὗτοι πάντες aus 11,39a das logische Objekt von τελειωθῶσιν in 11,40b sind, wird deutlich, dass „all diese“ alttestamentlichen Zeugen tatsächlich auch vollendet werden sollen. Hier ist noch einmal zu betonen, dass Hebr den früheren Generationen, wie zu 11,39 bereits festgehalten, gerade nicht das Erreichen des Zieles verweigert, aber (!) er gesteht es ihnen einzig auf eine ganz konkrete Art und Weise zu: μὴ χωρὶς ἡμῶν.109 Sie sollten nicht „ohne uns“ vollendet werden. Mit dem Personalpronomen (χωρὶς) ἡμῶν ist sinnvollerweise die letzte bzw. gegenwärtige Generation des glaubenden Gottesvolkes im Gegenüber zu den früheren gemeint. Diese Gegenüberstellung von „all diese“ und „wir“ dient aber gerade nicht der Betonung einer Trennung, sondern der Einheit. Aus diesem Gedankengang wird nun deutlich, dass das Erlangen der Verheißung (κομίζειν τὴν ἐπαγγελίαν) in 11,39 und das „Vollendet-Werden“ (τελειωθῆναι) in 11,40b als synonyme Ausdrücke für ein und denselben Umstand dienen.110 Die alttestamentlichen Zeugen sollen die Verheißung erlangen, respektive vollendet werden, aber nur unter der Bedingung des μὴ χωρὶς ἡμῶν. Insofern ist die Beobachtung von Paul Ellingworth treffend und in ihrer Bedeutung für unsere Frage nach dem eschatologischen Ort von Juden und Christen aus Sicht des Hebr nicht zu unterschätzen: „In view of the positive tone of chap. 11 as a whole, the contrast must be between good and better, not […] between good and bad.“111 Das κρεῖττόν τι muss auf diesem Hintergrund verstanden werden. Da Sinn und Zweck des Besseren in dem liegt, was mit κομίζειν τὴν ἐπαγγελίαν sowie τελειωθῆναι ausgedrückt wird, allerdings nur unter der Bedingung des μὴ χωρὶς ἡμῶν, kann die Bedeutung des κρεῖττόν τι vorerst wie folgt festgehalten werden:
Abb. 3: Das „Bessere“ in Hebr 11,39f.
Das Bessere am „Besseren für uns“ besteht hiernach im Mehr des „nicht ohne uns“ beim eschatologischen Eintritt in das Himmlische.112 Doch damit ist noch nicht gesagt, was genau der Inhalt dieses Zieles ist, welches κομίζειν τὴν 109 Die Verneinung μή bezieht sich freilich eigentlich auf das Prädikat τελειωθῶσιν und stellt dieses unter die entsprechende Bedingung. 110 Vgl. ähnlich R OSE, Wolke, 324. 111 ELLINGWORTH, Hebrews, 636. 112 Vgl. M ICHEL, Hebräer, 421.
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ἐπαγγελίαν und τελειωθῆναι synonym beschreiben. Während wir für die Verheißung bereits festgestellt haben, dass es sich dabei um die eschatologische Teilhabe an der Ruhe Gottes in seiner himmlischen Gemeinschaft handelt,113 muss in einem eigenen Schritt überprüft werden, ob dies so auch für τελειωθῆναι ausgesagt werden kann. Nur so lassen sich die bisherigen Ergebnisse zu 11,39f. bestätigen. Eine maßgebliche und umfassende Untersuchung zum Konzept der „Vollendung“ im Hebr hat David Peterson vorgelegt.114 Den Ausgangspunkt sieht er im Beginn des Schreibens in 2,5–18, wobei er die Vollendung Jesu (2,10; 5,9; 7,28) ausgerichtet auf dessen Berufung, „viele Söhne zur Herrlichkeit zu führen“ (2,10), versteht. Die Vollendung Jesu meine dabei aber nicht einen einzelnen Aspekt seines Wirkens, sondern die Gesamtbewegung von Erniedrigung und Erhöhung als Sohn Gottes an sich, in der sich dieses Heilswerk vollzieht.115 Insofern ist die Rede von der Vollendung Jesu in 2,10 eine Art Doppelpunkt für die folgenden Kapitel, in denen diese „Vollendungsbewegung“ ausgeführt wird. So muss auch die Rede von der Vollendung des Sohnes in 4,14–5,10, speziell in 5,9, innerhalb dieses Konzepts verstanden werden. Die leidvolle Anfechtung des irdischen Jesus ist an sich nicht die Vollendung, sondern sie ist ein wesentlicher Teil davon.116 Jesus nimmt Anteil am menschlichen Sein in all seinen Tiefen und erweist sich durch sein Leben und Sterben als wahrhaft gehorsam gegenüber Gott. Doch genauso unerlässlich wie seine Erniedrigung, ist auch Jesu Erhöhung für die Rede von seiner Vollendung (7,28). Das eine ist ohne das andere nicht zu verstehen.117 „Die ‚Vollendung‘ […] des Hohepriesters beschreibt seine Bewährung in der Versuchung, seine Erfüllung der priesterlichen Voraussetzungen und seine Erhöhung zum Erlöser der himmlischen Welt.“118 Es lässt sich damit festhalten, dass die christologischen Ausführungen insbesondere in 4,14–10,18 die Vollendung des Sohnes Jesus darlegen, welche nach 2,10 dazu dient, dass er „viele Söhne zur Herrlichkeit führte“ (πολλοὺς υἱοὺς εἰς δόξαν ἀγαγόντα). Die „Vollendung“ darf somit im christologischen Zusammenhang (2,10; 5,9; 7,28; 12,2) nicht soteriologisch verstanden werden. „Es meint an diesen Stellen vielmehr die aus Leiden (2,10), Anfechtung (5,7–9) und Schmach (12,2) erlangte von Gott an seinem Sohn vollS. o. II.2.2. Vgl. Peterson, Perfection. Petersons gewählte Terminologie der „perfection“ könnte im Deutschen anstelle von „Vollendung“ auch mit „Vervollkommnung“ wiedergegeben werden. 115 Vgl. PETERSON, Perfection, 73. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 122 spricht hier von einem „Christus-Drama“. 116 Vgl. PETERSON, Perfection, 103. 117 Vgl. PETERSON, Perfection, 124f. „It is because he lived and died as he did, offering the perfect sacrifice (verse 27), that he was exalted to God’s right hand and always lives to make intercession for his people.“ (PETERSON, Perfection, 125). 118 M ICHEL, Hebräer, 224. 113 114
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zogene Erhöhung (7,28: υἱὸς τετελειωμένος), Verherrlichung und Einsetzung zum Kosmokrator.“119 Wohl aber darf und muss es das im Zusammenhang der Glaubenden. Denn Jesu Vollendung ist ja gerade nicht als Selbstzweck, sondern immer pro nobis, d. h. „für die Menschen“ (5,1) zu verstehen. Entsprechend ist nun nicht nur von der Vollendung des Sohnes, sondern auch von der Vollendung derer die Rede, die diesem Sohn nachfolgen (10,1.14; ferner 9,9). Es widerspräche allerdings sämtlichen Bemühungen des Hebr, die Einzigartigkeit und Notwendigkeit des Heilswerkes Jesu zu erweisen, setzte man beides – die Vollendung Jesu und die Vollendung der Gläubigen – ohne jede Unterscheidung miteinander gleich.120 Es ist allein der einzigeine Sohn, der als Hohepriester zur Rettung gesandt und der zur Rechten Gottes inthronisiert worden ist und über alle Dinge herrscht. Aber die Rede von der Vollendung vor allem in Hebr 7 zeigt, dass die Vollendung der Glaubenden auf ebendiese Rettung als der „besseren Hoffnung“ (7,19), durch die jene sich Gott nähern, bezogen ist. Denn die Schwäche der alten Heilsordnung besteht im Gegenüber zur neuen ja gerade darin, dass sie niemanden und nichts zur Vollendung bringen konnte (vgl. 7,19; 9,9; 10,1). Wenn hingegen das hohepriesterliche Selbstopfer des in Erniedrigung und Erhöhung vollendeten Sohnes genau das ermöglicht, indem die Glaubenden, auf ihn als den „Anfänger und Vollender“ schauend, seinem Eintritt in die himmlische Gegenwart Gottes folgen dürfen, dann bezieht sich die Vollendung, die Jesus den Glaubenden erwirkt, auf ebendiesen Eintritt in die Ruhe Gottes. Die Vollendung der Glaubenden geschieht aufgrund der Vollendung Jesu.121 „The concept is […] one of […] the complete facilitation of mankind’s approach to God through the high-priestly mediation of Jesus Christ.“122 Beide – die Vollendung der Glaubenden und die Jesu – haben dabei unterschiedliche Voraussetzungen, aber dennoch denselben Endpunkt: die himmlische Wirklichkeit als Ort der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Die Vollendung der Glaubenden als Eintritt in die himmlische Ruhestadt ist daher immer zugleich Teilhabe an der Vollendung Jesu, des „Erstgeborenen“ (1,6) vieler „Söhne“ (2,10), seiner „Brüder“ (2,11).123 Die Adressaten dürfen und sollen
KLAPPERT, Eschatologie, 55. S. o. II.2.4.2. Das Bemühen bei DIBELIUS, Kultus, 165–172, einen im ganzen Hebr sachlich einheitlichen Gebrauch von „Vollendung“ nachzuweisen, muss daher an diesen Beobachtungen scheitern. 121 Vgl. die hinsichtlich des Zusammenhangs von „Glauben wie Christus“ und „Glauben durch Christus“ treffend gewählte Formulierung bei THÜSING, Zugangswege, 161: „Jesus ist ‚der Mensch für andere‘, weil er der Mensch für Gott ist.“ (Herv. v. Vf.). 122 PETERSON, Perfection, 166 (Herv. v. Vf.). 123 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 121. Der Gedanke der Teilhabe am Geschick Jesu ist im NT bekannt: vgl. z. B. Röm 6,4–8; 8,16–29; 1 Petr 5,1; darüber hinaus die Ausdrucksweise vom „In-Christus-Sein“ (vgl. z. B. Röm 8,1; 2 Kor 5,17; Gal 2,4). 119 120
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ihren Glaubensweg hin zur zukünftigen Stadt im Bewusstseins dieser Teilhabe zuversichtlich bestreiten (vgl. 3,14 „μέτοχοι γὰρ τοῦ Χριστοῦ γεγόναμεν“).124 Doch die Rede von der Vollendung der Glaubenden als Eintritt in die himmlische Ruhestadt und als Teilhabe an der Vollendung Jesu zugleich wirft eine (vor allem zeitliche) Spannung auf. Vollzieht sich die Vollendung der Glaubenden erst am Ende mit ihrem eschatologischen Eintritt in die himmlische Wirklichkeit? Oder hat sie sich bereits mit ihrer Qualifizierung dazu durch das Heilswirken Jesu vollzogen? Denn so sehr der Gedanke der Vollendung, gerade auch in 11,40, auf ein endzeitliches Geschehen zu verweisen scheint, so sehr gilt die Aussage in 10,14, dass Jesus seine Nachfolger mit seinem Opfer „für immer zur Vollendung gebracht hat“ („τετελείωκεν εἰς τὸ διηνεκὲς“). Hier ist es unbedingt erforderlich, den Umgang des Hebr mit der horizontalen und vertikalen Dimension zu beachten.125 Die in 10,14 wohl ganz bewusst gewählte Perfektform τετελείωκεν verortet das Geschehen grammatisch eindeutig in der Vergangenheit und auch sachlich ist es mit dem in der Geschichte einmalig geschehenen Opfer Jesu verbunden, das für Hebr und seine Adressaten bereits in der Vergangenheit liegt. Zugleich verbindet das Perfekt aber auch das Ergebnis dieses Geschehens mit der Gegenwart. Das, was durch das Opfer Jesu erwirkt worden ist, hat gegenwärtig Bedeutung für die Adressaten auf ihrem Weg hin zum Zukünftigen. So wie die Vollendung Jesu sollte auch die Vollendung der Gläubigen nicht punktuell, sondern als Bewegung verstanden werden – als Geschehen, dass die Zeit umschließt. Im „Heute“ der Gemeinde überschneiden sich Sein und Werden ihrer Vollendung, des Eintritts in die himmlische Ruhestadt. Denn das hohepriesterliche Wirken Jesu hat eine „für alle Zukunft geltende Perspektive des Heils“126 eröffnet. Es ist ein Geschehen, das schon in der Gegenwart des „Heute“ genossen werden kann, aber erst im Eschaton zu seiner ungetrübten Verwirklichung kommt.127 Die Vollendung der Geheiligten ist eine neue Gottesbeziehung, die von einem gereinigten Gewissen bestimmt ist, das dazu befähigt, in Gottes ungetrübte Gegenwart einzutreten (vgl. 9,14), auch wenn dieser Eintritt noch unter einem eschatologischen Vorbehalt steht.128 Spannen wir den Bogen zurück zu 11,39f., lässt sich folgendes festhalten: Die „Vollendung“ (11,40b) bezieht sich also – genau wie das Erlangen der
124 Vgl. R ISSI, Theologie, 102f., der die Zusammengehörigkeit der Vollendung Jesu und der Vollendung der Adressaten ebenfalls betont und sie zugleich dahingegen unterscheidet, dass letztere durch erstere überhaupt erst gewirkt wird (vgl. auch schon KLAPPERT, Eschatologie, 55f.). 125 S. o. II.3.1. 126 W EISS, Hebräer, 514. 127 PETERSON, Perfection, 167 spricht daher hinsichtlich des gegenwärtig eröffneten Zugangs zu Gott von einem „Unterpfand“ („earnest“) für den tatsächlichen eschatologischen Eintritt in die Gegenwart Gottes. 128 Vgl. W EISS, Hebräer, 514.
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Verheißung (11,39) – auf die eschatologische Teilhabe an der Ruhe in der ungetrübten himmlischen Gemeinschaft mit Gott. Das Gesamtkonzept im Hebr verbindet die Vollendung jedoch unumgänglich mit dem Christusgeschehen, das diese Teilhabe überhaupt erst vollgültig ermöglicht.129 Das „VollendetWerden“ meint aber nicht die bessere Heilsordnung an sich, sondern es ist Sinn, Zweck und Ziel dieser Ordnung. Diese inhaltliche Bestimmung von „Vollendet-Werden“ als Teilhabe an der himmlischen Ruhe, inklusive der Befähigung dazu, ist nun tatsächlich sachlich deckungsgleich mit dem „Erlangen der Verheißung“ (11,39), wie wir es bei der Analyse von 11,39f. bereits vermutet hatten. Beides zielt auf den eschatologischen Eintritt in die himmlische Wirklichkeit ab. Somit gilt: Hätten die alttestamentlichen Zeugen die Verheißung erlangt, wären sie damit auch vollendet worden. Während die Wendung „Erlangen der Verheißung“ scheinbar ausschließlich auf den zukünftigen, endzeitlichen Moment verweist, wirkt die Rede von der „Vollendung“ prozesshafter, weil sie den Anfang der tatsächlichen Bewegung hin zur himmlischen Ruhe, der Reinigung des Gewissens durch das Selbstopfer Jesu, mit in den Blick nimmt (10,14). Das schließt das Verständnis als „Bewegung“ für das „Erlangen der Verheißung“ aber gerade nicht aus. Vielmehr sollte auch das im Gesamtkonzept des Hebr in diesem Sinne verstanden werden. Wer die Verheißung erlangen will, muss dazu befähigt werden. Dies geschieht für Hebr einzig durch die neue Heilsordnung.130 Mit diesen Ergebnissen lässt sich nun die eigentliche Frage beantworten, was das Bessere am „Besseren“ (κρεῖττον τι) in 11,40b ist. Das „Bessere“ ist weder gleichzusetzen mit dem „Erlangen der Verheißung“ (11,39) noch mit der „Vollendung“ (11,40) an sich. Denn beides beschreibt die Bewegung hin zu einer gänzlich neuen (und zugleich wiederhergestellten) Gottesbeziehung, die mit der Reinigung des Gewissens durch Jesu Selbstopfer beginnt und in den eschatologischen Eintritt in die ruhevolle Gemeinschaft Gottes mündet. Da diese Bewegung – für jeden, der sie vollzieht – hinsichtlich ihrer hinreichenden Zielführung aber ausschließlich christologisch verbürgt ist, kann unter dem „Besseren“ weder ein besseres und damit anderes Heil noch eine bessere und damit andere Art der Bewegung gemeint sein. Beides steht mit dem „Besseren“ für Hebr nicht zur Debatte. Vielmehr besteht, wie bereits gezeigt, das eigentlich Bessere am „Besseren für uns“ im Mehr des „nicht ohne uns“ (11,40b) beim Eintritt in das Himmlische. Es meint somit die gemeinsame „Vollendung“
Insofern hat RISSI, Theologie, 102 völlig Recht, wenn er den „Eingang in das Allerheiligste des Himmels“ als den Abschluss der Vollendung versteht, den Jesus selbst bereits vollzogen hat und auf den die Adressaten dank Jesu Vollendung zuversichtlich anstreben. 130 Wie bereits dargelegt, ist es der Glaube, der den Hörer der Verheißung tatsächlich auch zum Träger dieser macht. Beachtet man die Bezogenheit des Glaubens auf die Christologie, wie sie von Hebr auf ganz eigene Weise beschrieben wird, ist das eine weitere Bestätigung. 129
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bzw. das gemeinsame „Erlangen der Verheißung“ aller Generationen des geeinten glaubenden Gottesvolkes. 3.2.2.2 Die Empfänger des „Besseren“ (περὶ ἡμῶν) Doch steht dieses Ergebnis im Widerspruch zu den sonstigen Belegen des „Besseren“ im Hebr, die einheitlich in Bezug auf das „Himmlische“ verstanden werden müssen? Diese Frage entscheidet sich m. E. an der genauen Bestimmung des „περὶ ἡμῶν“ in 11,40a, d. h. nach den Empfängern des von Gott vorgesehenen „Besseren“. Die meisten Ausleger beziehen περὶ ἡμῶν meist ohne jede Begründung auf die letzte Generation des Gottesvolkes bzw. konkret auf die christliche Gemeinde.131 Das ist hinsichtlich des erneuten ἡμεῖς in der zweiten Vershälfte 11,40b (μὴ χωρὶς ἡμῶν) sowie in 12,1 (καὶ ἡμεῖς) auch naheliegend.132 Und doch veranlassen die bisherigen Ergebnisse zum κρεῖττον τι, für das ἡμεῖς in 11,40a eine anders akzentuierte Bedeutung anzunehmen als für das ἡμεῖς in 11,40b. Denn während μὴ χωρὶς ἡμῶν in 11,40b ja deutlich ein Gegenüber zwischen „all diesen“ und „uns“ anzeigt, kann dasselbe für 11,40a angenommene Gegenüber in die Irre führen, wenn es die früheren Generationen als Adressaten des „Besseren“ ausschließt und dieses allein auf die christliche Gemeinde im „Heute“ beschränkt (oder gar umgekehrt).133 Wenn die „Vollendung“ in der Befähigung und dem tatsächlichen Eintritt in die himmlische Ruhestadt eines jeden Glaubenden besteht und wenn das „Bessere“ auf die gemeinsame Vollendung aller Glaubensgenerationen abzielt, so ist dieses „Bessere“ von Gott nicht nur für eine, konkret die letzte (neutestamentliche) Glaubensgeneration vorgesehen, sondern ausnahmslos für das gesamte glaubende Gottesvolk zu allen Zeiten und an allen Orten. Gleichwohl vollzieht sich dieser Gedanke innerhalb der für Hebr (auch) grundlegenden linearen-zeitlichen Dimension, sodass das „περὶ ἡμῶν“ tatsächlich das zeitlich konkrete „für uns“ des Hebr und seiner Adressaten meint. Aber zugleich ist es auch, mit den alttestamentlichen Zeugen im Blick, im Sinne eines περὶ ἡμῶν πάντων („für uns alle“) zu verstehen.134 Dieses „für uns alle“ hält das „Bessere“ für alle Glaubenden fest, die im Glauben zum Erben der Verheißung geworden sind (6,12; vgl. Röm 4,16; Gal 3,7–9). Insofern bleibt auch das „Bessere“ in 11,40 an seine grundlegende Bedeutung im Hebr gebunden. Es ist das Himmlische, das die Glaubenden („wir alle“) erreichen sollen. Mit Blick auf die Ekklesiologie des Hebr soll sich das Erreichen dieses Himmlischen aber einzig 131 Vgl. u. a. W INDISCH, Hebräerbrief, 106; G UTHRIE, Introduction, 248; B RAUN, Hebräer, 401; HEGERMANN, Hebräer, 243; LANE, Hebrews II, 392f.; WEISS, Hebräer, 627; ELLINGWORTH, Hebrews, 636; GRÄSSER, Hebräer III, 219; DESILVA, Perseverance, 424. 132 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 636. 133 So z. B. all jene Ausleger, die das „Bessere“ in einem besseren Heil der Christen sehen. 134 Angesichts des Kontextes der Vorsehung Gottes wäre es auch stimmig, das „περὶ ἡμῶν“ idiomatisch als „mit uns [allen] im Blick“ zu übersetzen (vgl. z. B. BRUCE, Hebrews, 330; LANE, Hebrews II, 382.392).
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als Gemeinschaftsprojekt vollziehen. Gott hat „ein Besseres für uns [alle]“ vorgesehen und dieses „Bessere“ ist nicht nur besser, weil es über alles irdisch Greifbare hinausragt, sondern, weil es von der Gemeinschaft des ganzen glaubenden Gottesvolkes genossen werden soll und wird. 3.2.2.3 Fazit: Eine Paraphrase von Hebr 11,39f. Um die bisherigen Ergebnisse zu bündeln, können die Verse 11,39–40 nun wie folgt paraphrasiert werden: „Und alle diese früheren Generationen des glaubenden Gottesvolkes haben, obwohl sie sich im Vertrauen auf Gott ausgerichtet und so vor ihm Wohlgefallen gefunden hatten, den endgültigen Eintritt in die himmlische Ruhestadt in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott nicht vollzogen, weil Gott etwas Besseres für uns alle vorgesehen hat, damit all jene nicht ohne uns, die Generation(en) des glaubenden Gottesvolkes seit Gott in seinem Sohn gesprochen hat, und wir nicht ohne sie, die sie schon vor uns unseren gemeinsamen Weg angetreten sind, jenes Ziel unserer aller Vollendung erreichen würden.“ 3.2.3 Die Vollendung zwischen eschatologischem und soteriologischem Vorbehalt Das unmissverständliche „Noch-nicht“ des Hebr hinsichtlich der Vollendung der früheren Glaubensgenerationen lässt nach einem „Warum?“ fragen. Hatten jene das Verheißungswort Gottes etwa nicht gehört? Hatten sie etwa nicht erkannt? Auch Paulus ringt mit genau diesen Fragen über die leiblichen Nachfahren Abrahams, seine israelitischen Geschwister (Röm 10,18f.). Und sein Antwortversuch ist auch dem Hebr nicht fremd, wenn dieser auch den direkten Bezug zur Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden bzw. Juden und Christen vermeidet.135 Gleichsam liegt die noch ausstehende Vollendung der Glaubenszeugen und damit die des gesamten glaubenden Gottesvolkes auch für Hebr letztlich im Ratschluss Gottes selbst begründet. Weil Gott etwas Besseres vorgesehen hat (τοῦ θεοῦ προβλεψαμένου; 11,40), ist die Verheißung noch nicht zur Vollendung für die Glaubenden gelangt. 3.2.3.1 Das „Noch-Nicht“ der Vollendung als Vorhersehung Gottes Das äußerst seltene Kompositum προβλέπειν bzw. προβλέπεσθαι taucht in den neutestamentlichen Schriften nur an dieser Stelle auf und im gesamten biblischen Zeugnis nur noch ein weiteres Mal in Ps 36,13LXX (als Übersetzung von )ראה.136 Dort heißt es über den Gottlosen: „Der Herr lacht über ihn, denn er Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 635. Häufiger, aber auch nicht oft, ist das nahestehende προορᾶν biblisch belegt (vgl. Gen 37,18; 4 Makk 4,25; Ps 15,8; 138,3; Apg 2,25.31; 21,29; Gal 3,8). Bei allen Belegen ist der Aspekt eines zeitlich und/oder räumlich vorausgehenden Abstands vorhanden (vgl. 135 136
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sieht, dass sein Tag kommen wird.“137 Während das Verb in der LXX aktiv i. S. von „vorhersehen“ gebraucht wird (προβλέπειν), findet im Hebr das Medium (προβλέπεσθαι) Verwendung. Damit wird eine Aktivität Gottes ausgedrückt, die als ein „Vorsorge-Treffen-für“ bzw. ein „Bereiten“ über das bloße (Vorher-)Wissen hinausgeht.138 Es handelt sich um ein Voraussehen und aktives Herbeiführen Gottes selbst, um die göttliche Providenz, in Bezug auf das Geschick derer, die entsprechend betroffen sind. So gibt es also ein „Nochnicht“ der Heilsvollendung, das von Gott gewusst, gewollt und gewirkt wird.139 „[Π]ροβλέπειν ist ebenso wie das paulinische προγινώσκειν (Röm 8,29) und das johanneische ἀγαπᾶν (Joh 17,23) ein vorzeitlicher göttlicher Willensschluß. Was Gott im Voraus schaut, erkennt und liebt, ist Gegenstand seiner Erwählung.“140 Doch der bloße Verweis auf die souveräne Entscheidungsgewalt Gottes dürfte zumindest den skeptischen Leser nicht vollends befriedigen. Zwar sollte sich die Auslegung davor hüten, die Rolle des Tones einzunehmen, der sich anmaßt, dem Töpfer sein Handwerk zu erklären (vgl. Röm 9,20f.), aber ein genauerer, wenn auch vorsichtiger Blick vermag die göttliche Vorsehung etwas greifbarer zu machen: Das gesamte biblische Zeugnis, auch das des Hebr, betont die Souveränität Gottes in seinem Handeln, das aber immer zugleich ein Handeln in und mit dieser Welt ist. Weder ist der Mensch Gottes ebenbürtiges Gegenüber noch vollzieht sich Gottes Wirken als theatrum divinum, das zum menschlichen Wollen und Tun in keinerlei Verhältnis steht.141 Wie die Untersuchungen zum Glaubenskonzept im Hebr gezeigt haben, versteht dieser in Anknüpfung an das alttestamentlich-frühjüdische Zeugnis Glauben als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Dessen Grundlage ist deren unumgängliches Verhältnis als Schöpfer und Geschöpf, in welchem der Mensch sich zu Gott auf unterschiedliche Weise verhalten kann und immer auch
MICHAELIS, Art. προοράω, 381). In ihrer Bedeutung stehen die ntl. Belege aus Apg 2,25.31 sowie Gal 3,8 der Aussage im Hebr am nächsten: David als Prophet (Apg 2,25.31) bzw. die ganze atl. Schrift (Gal 3,8) wissen als Zeugen vorausblickend um das Christusgeschehen, in dem sich ein für sie zukünftiges, eigentliches Ziel erfüllt. Von Gott als Subjekt von προορᾶν, wie von προβλέπεσθαι im Hebr, ist aber allein in Ps 138,3LXX die Rede. Ähnlich zu Ps 36,13LXX, hier aber neutraler, ist Gott mit dem Lebensvollzug des Menschen immer schon vertraut - er „weiß darum“ (προορᾶν als Übersetzung von סכןim Hifil „vertraut sein“). 137 In aktiver Verwendung auch noch in Barn 3,6; 6,14; 9,7, wobei allein in 6,14 Gott als Subjekt i. S. einer Vor(her)sehung gemeint ist. 138 Vgl. LANE, Hebrews II, 382 sowie seine gelungene Übersetzung von περὶ ἡμῶν κρεῖττόν τι προβλεψαμένου als „provided something better with us in mind“ (LANE, Hebrews II, 392); ATTRIDGE, Hebrews, 352; GRÄSSER, Hebräer III, 219, Anm. 28. 139 Vgl. W EISS, Hebräer, 627. 140 M ICHEL, Hebräer, 421. 141 Vgl. besonders eindrücklich das Zugleich von göttlichem und menschlichem Handeln in Phil 2,12–14. Vgl. auch Jes 26,12; 1 Kor 15,10; Phil 1,6; Eph 1,5.
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verhält. Die positive Beziehungsfähigkeit zu Gott kann der Mensch aber aus eigenem Vermögen nicht herstellen.142 Diese paradox anmutende Wesensbestimmung des Glaubens als aktives „Sich-Bestimmen-Lassen“ und passives „Bestimmt-Werden“ zugleich ist nun gerade auch für die Frage nach der Ursache des in 11,39f. formulierten eschatologischen Vorbehalts von Bedeutung. Denn wie verhält sich Gottes Vorhersehung des „Besseren“ und das damit verbundene „Noch-nicht“ der Vollendung der alttestamentlichen Glaubenszeugen zu deren eigenem Vermögen? Hätten sie die Verheißung im Glauben erlangen wollen und auch können, aber hat Gott es ihnen verwehrt? Hätten sie die Verheißung erlangen können, aber sie selbst wollten es nicht in Übereinstimmung mit Gottes Willen? Oder hätten sie die Verheißung – ob sie nun gewollt hätten oder nicht – aus sich heraus nicht erlangen können, so wie es auch Gott gewollt hat?143 Vor der Gefahr der Spekulation sei hier stets gewarnt, aber eine Antwort dennoch unter Beachtung des Gesamtzeugnisses im Hebr gewagt. 3.2.3.2 Das „Noch-Nicht“ der Vollendung und das menschliche Vermögen Martin Karrer geht in seiner Kommentierung zu 11,39f. hinsichtlich dieser Frage einen bemerkenswerten Schritt weiter als viele andere Ausleger.144 Auch Karrer betont, dass sich die noch ausstehende Vollendung der früheren Glaubensgenerationen im Ratschluss Gottes begründe. Die Umsetzung dieses Ratschlusses sei nun aber (auch) ein quasi demütiger Willensakt der Glaubenszeugen, obwohl sie alle nötigen Voraussetzungen für die Vollendung gehabt hätten:145 „Sie nämlich besaßen in der Kraft des Glaubens Zugang zur Verheißung und unterließen es, sie zu umfangen. Sie entsagten dem, die Verheißung wie in einer Umarmung an sich zu reißen und damit anderen zu entziehen. Auf diese Weise hielten sie die Verheißung für die Menschen offen, die nicht zu Israel gehörten.“146
Karrer meint zwar zu Recht, dass, gerade weil sich auch ein Teil des alttestamentlichen Volkes Israels Gott gegenüber ungehorsam erwies, den positiven Glaubenszeugen umso größerer Ruhm zukomme. Aber seine Schlussfolgerung verleiht dem „Wollen“ und „Können“ der Glaubenszeugen hinsichtlich der Möglichkeit, die Verheißung zu erlangen, eine für Hebr so kaum denkbare Verhältnisbestimmung. Dass Gott die „(Noch-)Nicht-Vollendung“ der alttestamentlichen Zeugen gewollt und geplant habe, bezweifelt auch Karrer nicht. Dennoch schreibt er den alttestamentlichen Zeugen ein bewusstes, aktives S. o. II.2.1. vierte Möglichkeit, dass Gott ihre Vollendung bereits gewollt hätte, ist durch den Verweis auf Gottes Vorhersehung in 11,40 ja ohnehin für Hebr ausgeschlossen. 144 Vgl. K ARRER, Hebräer II, 298–300.307f. 145 Vgl. K ARRER, Hebräer II, 299. 146 K ARRER, Hebräer II, 299. 142
143 Die
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„Wollen“ und „Wirken“ hinsichtlich ihres „Noch-nicht“ der Vollendung in Übereinstimmung mit Gottes Ratschluss zu. Und doch ist gerade diese Aktivität nicht unproblematisch. Karrers Schlussfolgerung basiert vor allem auch auf seiner Übersetzung von κομίζειν in 11,39, die er an 11,19 anlehnt, wo es heißt, dass Abraham im Glauben seinen Sohn Isaak nach dessen von Gott im letzten Moment aufgehaltenen Opferung als Gleichnis für Gottes Treue „wiederempfangen habe“ (ἐκομίσατο). Obwohl beide Belege, wie Karrer selbst auch bemerkt, kaum identisch übersetzt werden können, dient ihm seine Assoziation von der innigen, nicht locker lassenden Umarmung des erleichterten Vaters als Deutungsfolie für 11,39.147 Selbst wenn man eine solche Parallelität annehmen wollte, so sind beide Belege, wie auch der dritte Beleg von κομίζειν im Hebr in 10,36,148 dennoch nicht aktiv (herbeibringen/-tragen) zu verstehen. Sie sind als Medium-Formen (erlangen/wiederempfangen) zu übersetzen, die ihrem Subjekt (Abraham/alttestamentliche Zeugen) eine Passivität in der Umsetzung bescheinigen.149 Zudem kann Hebr in 11,13 λαμβάνειν (erhalten/empfangen) synonym zu κομίζειν gebrauchen. Es ist Gott, der aktiv sowohl Isaak (11,19) als auch die Verheißung (10,36; 11,39) herbeibringt, sodass Abraham und alle Glaubenden das von Gott herbeigebrachte Gut empfangen dürfen. Entsprechend wird κομίζειν auch bei anderen frühchristlichen Autoren als Ausdruck für das „Empfangen“ des endzeitlichen Lohnes verwendet (vgl. Mt 25,27; 2 Kor 5,10; Eph 6,8; Kol 3,25; 1 Ptr 1,9; 5,4; 2 Clem 11,5; Barn 4,12; IgnPol 6,2).150 Dass Karrer, obwohl er Gottes aktives Wirken freilich durchweg betont, nun dennoch davon spricht, dass die alttestamentlichen Zeugen es (selbst) „unterließen […], sie [die Verheißung] zu umfangen“151, bleibt letztlich ohne Rückhalt am Text des Hebr. Man kann an dieser Stelle nur mutmaßen, ob für diese Schlussfolgerung die durchaus verständliche Absicht leitend gewesen ist, die alttestamentlichen Zeugen – gerade im gegenwärtigen Bemühen um einen christlich-jüdischen Dialog – in ein vermeintlich positiveres Licht zu rücken, indem das Ausbleiben der Vollendung nicht nur „Verhängnis“, sondern vielmehr ihre eigene großmütige Entscheidung zu „unseren“ Gunsten gewesen sein soll. Entsprechend sei der christliche Glaube (auch heute), dann dem jüdischen in gewisser Weise zum Dank verpflichtet. Im Nachgang zu seiner Auslegung von 11,40 verweist Karrer dann auch selbst auf entsprechende, sich so für ihn ergebende „israeltheologische Konsequenzen“ 152. Diese sind wohl aber eher als Anlass solcher Überlegungen zu Hebr 11, nicht als
Vgl. KARRER, Hebräer II, 299. Textzeugen lesen κομίζειν zudem in 11,13 anstelle von λαμβάνειν, die überwiegende und gewichtigere Mehrheit jedoch nicht. 149 Vgl. B AUER, Wörterbuch, 899f.; B RAUN, Hebräer, 331f. 150 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 74. 151 K ARRER, Hebräer II, 299. 152 K ARRER, Hebräer II, 300.307f. 147
148 Einige
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deren Resultat einzuordnen. Hebr selbst wäre wohl kaum imstande gewesen, hier zuzustimmen.
Bemerkenswert an Karrers Ansatz ist für unsere Frage aber dennoch, dass er die beiden Rollen des paradoxen Zusammenspiels von göttlichem und menschlichem Wirken nicht einseitig auflöst, sondern hinsichtlich der alttestamentlichen Zeugen weiterdenkt: „[… D]ie Vorfahren zogen die Verheißung laut [11,]39f. nicht deshalb nicht an sich, weil sie versagten, sondern weil das dem Willen Gottes entsprach. In [11,]40b lässt sich darum sogar ein an sich gegebener Vorrang der Älteren lesen: Sie hätten, wenn es Gott nicht um ‚unsere‘ Berücksichtigung ginge, in ihrer Glaubenskraft zur Vollendung gelangen können.“153
Problematisch bleibt bei dieser Deutung jedoch, dass die beiden Verse 11,39f. bzw. das ganze elfte Kapitel hier zu stark isoliert von ihrem Gesamtkontext betrachtet werden. Auf diese Weise wird das „Noch-nicht“ der Vollendung auf eine rein eschatologische Perspektive beschränkt: „Hebr 11 lässt sich sogar so lesen, dass der Weg Israels volle, uneingeschränkte Bejahung verdient, selbst wenn Israel Christus nicht wahrnimmt.“154
Hebr 11 mag man für sich genommen so lesen können, aber nicht im Anschluss an Hebr 1–10. Zudem signalisiert allein schon die Verbindung mit den sich formal und sachlich anschließenden Versen 12,1–3, dem Aufruf zum Schauen auf Jesus als dem entscheidenden Höhepunkt der Zeugenreihe, dass die Bedeutung der Christologie (auch) hier nicht ausgeklammert werden darf. Denn wie wir bereits festgestellt haben, ist die „Vollendung“ der Glaubenden – die für Hebr sachlich synonyme Ausdrucksweise dessen, worin das „Erlangen der Verheißung“ (10,36; 11,39) besteht – unauflöslich mit der Vollendung Jesu verbunden, als ihrer hinreichenden, aber eben immer auch notwendigen Grundlage. Mit diesem beständigen Blick auf die Frage nach dem eschatologischen Ort von Juden und Christen, angeregt durch die Überlegungen Karrers, richten die bisherigen Ergebnisse unsere Aufmerksamkeit zum Ende dieses Kapitels nun noch einmal auf die Verheißung Gottes und ihrer Trägerschaft. Wem „gehört“ nach Hebr eigentlich die Verheißung, die es für alle zu erlangen gilt? Wer erhält an wessen „Besitz“ Anteil? 3.2.3.3 Die noch ausstehende Vollendung als Teilhabe am Erbe des Sohnes Mehrfach wird Abraham, der Stammvater der Israeliten, als Empfänger der Verheißung und damit der Vollendung betont: Ihm „gab Gott die Verheißung“ (τῷ γὰρ Ἀβραὰμ ἐπαγγειλάμενος ὁ θεός; 6,15), er „hatte“ sie (ἔχοντα τὰς 153 154
KARRER, Hebräer II, 300. KARRER, Hebräer II, 307.
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ἐπαγγελίας; 7,6) und „nahm sie an“ (ὁ τὰς ἐπαγγελίας ἀναδεξάμενος; 11,17). Die Vermutung liegt nahe, dass es hinsichtlich der Verheißungsträger, d. h. der Erben der Verheißung, um die im Neuen Testament immer wieder gestellte Frage der Nachkommenschaft Abrahams geht (vgl. u. a. Mt 3,9; Joh 8,37–39 Röm 9,4–6; Gal 3,16). Hebr spricht aber in 11,9 auch von Isaak und Jakob als Abrahams (sich zeitlich sogar überschneidende) „Miterben derselben Verheißung“ (συγκληρονόμοι τῆς ἐπαγγελίας τῆς αὐτῆς). Isaak und Jakob, die leiblichen Nachkommen Abrahams, sind hier nicht als dessen Erben von Interesse, sondern bilden zusammen mit Abraham eine Erbengemeinschaft. Die Rede vom „Erbe“ und dem, was sich damit verbindet, ist hier äußerst aufschlussreich. Denn dabei handelt es sich um einen Besitz, der jemandem zunächst nicht gehört, ihm aber durch einen von sich nicht selbst (!) erwirkten Anspruch aufgrund einer besonderen Zugehörigkeit – i. d. R. einem familiären Verhältnis – zuteilwird.155 Die συγκλερονόμοι erhalten zusammen den Erbbesitz. Das ist im Hebr die (verheißene) Gottesruhe. Daran, wie man an das Vorrecht dieser Erbengemeinschaft gelangt, lässt Hebr keinen Zweifel: Erben werden alle, die sich „durch Glauben und Standhaftigkeit“ (διὰ πίστεως καὶ μακροθυμίας) auszeichnen (6,12).156 All jene sollen die Adressaten des Hebr nach 6,12 ja gerade „nachahmen“ (μιμηταί), um ihnen auf ihrem Weg hin zum himmlischen Erbe zu folgen. Da sich die Aussage nicht allein auf die alttestamentlichen Glaubenszeugen bezieht, sondern auf diejenigen unter den Adressaten, die sich in der Vergangenheit bereits durch ihre Liebe zu Gott und ihren Glaubensgeschwistern erwiesen haben (6,10), wird noch einmal deutlich, dass mit den Erben der Verheißung alle Generationen des einen glaubenden Gottesvolkes gemeint sind. Auf diese Zeit, Raum und Ethnizität überspannende Universalität deutet zudem das präsentische Partizip von κληρονομεῖν in 6,12.157 Ein paar Verse weiter, in 6,17, zeigt sich derselbe Gedanke. Denn dort heißt es, dass „Gott sich mit einem Eid verbürgt [habe], um so den Erben der Verheißung noch deutlicher zu zeigen, dass sein Wille unabänderlich ist“. Der Vers bezieht sich zurück auf Gottes Treue gegenüber seiner Verheißung an Abraham (6,13f.) und aktualisiert diese freimütig für die gegenwärtige Generation des Gottesvolkes als Teil der Erbengemeinschaft, wie das „wir“ (ἡμεῖς) im sich anschließenden Vers 6,18 zeigt.158 Wie Abraham, Isaak und Jakob aufgrund ihres Glaubens „Miterben“ sind (6,15; 11,8f.20f.), so ist es das ganze glaubende Gottesvolk, das nicht mit einer bestimmten leiblichen Abstammung deckungsgleich ist. Doch die „Miterben155 Der
Gedanke der Unverfügbarkeit kommt in der Etymologie des Wortfelds κληρονομdeutlich zum Ausdruck, als Kompositum aus κλῆρος (Los) und νέμω (zuteilen). Das, was man erhält (erbt), ist das nicht durch sich selbst verfügte, zugeteilte (ursprünglich zugeloste) Besitzgut (vgl. EICHLER, Art. κλῆρος, 342). 156 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 284. 157 Vgl. W EISS, Hebräer, 356. 158 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 182f.; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 249.
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schaft“ des Gottesvolkes bezieht sich nicht allein auf ihre Gemeinschaft untereinander, sondern auf den Umstand, der sie alle miteinander verbindet, nämlich auf ihrer aller besonderen Zugehörigkeit als „Teilhaber der himmlischen Berufung“ (1,3).159 Diese Zugehörigkeit zur Erbengemeinschaft definiert sich durch ihren Glauben, der durch das Selbstopfer des Sohnes seine voll-, letzt- und endgültige Wirksamkeit erhält. So drückt es Hebr in dem Spitzensatz seines Vergleichs von alter und neuer Heilsordnung in 9,15 aus: „Und deshalb ist er [Jesus] Mittler einer neuen Heilsordnung, auf dass – weil der Tod geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter der ersten Heilsordnung – die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfangen.“
Dass Menschen – egal in welcher irdischen Kategorie sie auch verortet werden – überhaupt zu Erben der Verheißung werden und damit durch ihre Vollendung am eschatologischen Verheißungsgut Anteil erhalten, beruht für Hebr allein auf ihrer Anteilnahme an der Vollendung des Sohnes.160 Denn dieser Sohn Gottes ist es, der zum „Erben aller Dinge“ (κληρονόμος πάντων) eingesetzt worden ist (1,2), was sich in höchster Weise in dessen Inthronisation zur Rechten Gottes und seinem Erbe des Gottesnamens äußert (1,3f.). Als der erstgeborene Sohn (1,6) ist er der erste und eigentliche Erbe der Gemeinschaft mit Gott und zieht viele weitere erbende „Söhne“ mit sich (2,10; 5,9), die ihm als dem Ersten, der seinen himmlische Erbbesitz erhält, folgen (12,2). Das ganze glaubende Gottesvolk bildet demnach eine Erbengemeinschaft mit dem Sohn, weil es Anteil an seiner Vollendung nimmt und so in ein familiäres (Erb-)Verhältnis mit Gott aufgenommen wird (3,6.14).161 Daher gilt den Adressaten des Hebr: „Gott behandelt euch wie Söhne.“ (ὡς υἱοῖς; 12,7), was neben aller Ehre auch die durchaus Leid bringende Pflicht zum Gehorsam der Glaubenden gegenüber ihrem „himmlischen“ Vater mit sich bringt (12,6–8). Das bedeutet aber auch, dass keine Generation bzw. „Gruppierung“ innerhalb des Gottesvolkes den Besitz der Verheißung im Speziellen für sich in Anspruch nehmen kann, wobei die anderen dann an deren speziellen Besitz Anteil bekämen.162 Denn alle erhalten Anteil am Erbbesitz des Sohnes – ein Gedanke, der im neutestamentlichen Zeugnis nicht unbekannt ist (vgl. Röm 8,17; Gal 4,7; Eph 3,6; 1 Petr 3,7; ferner Röm 8,29; Eph 1,5; Kol 1,18; 1 Joh 5,1 u. ö.).163
Vgl. LANE, Hebrews II, 350f. Vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 84. 161 Ähnlich K OESTER, Hebrews, 520f., der die Einheit des glaubenden Gottesvolkes auch nicht durch die Eingliederung der einen in den Stand der anderen realisiert sieht, sondern durch ihre gemeinsame Bezogenheit auf die Verwirklichung der Verheißung in der himmlischen Ruhe, in die Christus als erster hineingegangen ist und alle anderen mit sich zieht. Vgl. ähnlich KLEINIG, Hebrews, 586. 162 So ja etliche Ausleger hinsichtlich des „Besseren“ in 11,40 (s. o. S. 169). 163 Vgl. B RAUN, Hebräer, 355. 159 160
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Hebr formuliert freilich nirgends ausdrücklich Gedanken über mögliche Konsequenzen seiner Vorstellung für die Frage nach der Nachkommenschaft Abrahams, speziell derer, auf der die Verheißung liegt, wie das an anderen Stellen im Neuen Testament sehr deutlich getan wird. Paulus unterscheidet zwischen den leiblichen und geistlichen Nachkommen Abrahams, die sich zwar quantitativ überschneiden, aber nicht zwangsläufig deckungsgleich sind (vgl. Röm 9,7f.; Gal 4,22–28). Und auch Johannes bindet die „wahre“ Abstammung von Abraham an die Zugehörigkeit zu Christus (vgl. Joh 8,39–42). Doch diese Frage ist für Hebr nicht ausschlaggebend und insofern nicht ausdrücklicher Teil seiner Ausführungen.164 Er ordnet das ganze Gottesvolk als im Glauben geeint auf Christus als den einen Erbsohn Gottes hin.
3.2.3.4 Fazit: Der eschatologische und der soteriologische Vorbehalt der Vollendung der Glaubenden Für die „endgültige Inbesitznahme“165 des verheißenen Erbbesitzes durch die alttestamentlichen Glaubenszeugen – ihrem Erlangen der Verheißung, ihrer Vollendung, ihrem Eintritt in die himmlische Ruhestadt Gottes – bedeutet dies: Selbst wenn das „Noch-nicht“ der Vollendung von ihnen gewollt worden wäre, bleibt auch ihre Befähigung zu diesem wahren Gottesverhältnis (9,14) an die Notwendigkeit der Reinigung des Gewissens gebunden, die nicht durch menschliches Vermögen, sondern voll-, letzt- und endgültig allein durch das gehorsame Selbstopfer des Sohnes erwirkt wird (9,15). Eine Entkopplung der alttestamentlichen (weitestgehend jüdischen!) Glaubenszeugen von dieser (kultischen) Notwendigkeit, die in der alten Heilsordnung schattenhaft erahnt und in der neuen tatsächlich erlebt wird, käme der Eröffnung einer dritten Option neben alter und neuer Heilsordnung gleich. Doch (auch) für Hebr gibt es keinen soteriologisch hinreichenden, d. h. zur Gottesruhe führenden Glauben, der nicht immer auch christologisch verbürgt ist. Man könnte es mit Blick auf unsere bisherigen Ergebnisse zum Glaubenskonzept so formulieren: Die alttestamentlichen Zeugen wiesen den eschatologisch entscheidenden Glauben – die eschatologische conditio sine qua non – auf (10,38; 11,2.6) und haben sich auf diese Weise in die das Ziel anstrebende Pilgerschaft hin zur himmlischen Ruhestadt eingereiht. Mit den Worten von 9,15 waren sie zum Erbe „Berufene“ (κεκλημένοι). Aber ihnen fehlte (noch) die soteriologische Wirksamkeit dieses Glaubens, die Reinigung des Gewissens durch das Sühneopfer des Sohnes als conditio sine qua non ihrer Vollendung,166 um „die Verheißung des ewigen Erbens“ auch tatsächlich zu „empfangen“. Das „Noch-nicht“ der Vollendung ist durch ein Zugleich des göttlichen Ratschlusses und der menschlichen Sühnebedürftigkeit bestimmt. Zwar ist in Am ehesten wird eine solche Unterscheidung wie bei Paulus in 2,11–16 angedeutet. WEISS, Hebräer, 356. 166 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 22; B ACKHAUS, Hebräerbrief, 408. 164 165
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11,39 der Verweis auf Gottes Vorsehung vordergründig, die Notwendigkeit aufgrund der Sündhaftigkeit – auch aller Zeugen – aber durch den Kontext gegeben. Beides ist auf das Christusgeschehen ausgerichtet. Somit ist auch das Christusgeschehen an sich ein paradoxes Zugleich einer göttlichen Reaktion auf die menschliche Schwachheit und eines vorherbestimmten und daraufhin angelegten (Heils-)Planes. Es ist dasselbe Zugleich, das uns schon bei der Frage nach Sinn und Zweck der alten Heilsordnung und beim Sündenverständnis begegnet war,167 aber dessen Spannung es mit Hebr, wie auch mit dem gesamten neutestamentlichen Zeugnis, nicht einseitig aufzulösen, sondern auszuhalten gilt. Das Reden Gottes im Sohn hat zum Ziel, das ganze glaubende Gottesvolk zur Vollendung zu führen und ist für dieses, seit der Grundlegung der Welt bestimmte Ziel „Plan A“ und „Plan B“ zugleich. Für die Vollendung des ganzen Gottesvolkes bleibt damit immer eine gewisse Spannung bestehen. Dass die Einen noch nicht vollendet wurden, ist das „Bessere“ für die Anderen und damit immer zugleich für das gesamte Gottesvolk. Gleichzeitig scheint diese „(Noch-)Nicht-Vollendung“ aber auch auf einen Mangel hinzudeuten, da die früheren Generationen nicht nur nicht vollendet werden sollten, sondern ohne die neue Heilsordnung auch nicht vollendet werden konnten. Hier gilt für das „Noch-nicht“ der Vollendung der alttestamentlichen Zeugen beides: Sie wurden noch nicht vollendet, damit der Sohn kommen konnte. Der Sohn ist gekommen, damit auch sie vollendet werden konnten. Freilich ist diese Sicht auf den Heilsplan Gottes erst vom „Bestimmt-Werden“ und „Sich-BestimmenLassen“ durch das Reden Gottes im Sohn in dieser Konsequenz her annehmbar.
3.3 Zwischenbilanz: Auf dem Weg zur zukünftigen Stadt Das im Glauben geeinte Gottesvolk pilgert zu seiner zukünftigen himmlischen Ruhestadt, wo es in die ungetrübte und bleibende Gemeinschaft mit Gott eintreten und so abschließend vollendet werden wird. Die Wirklichkeit dieser Pilgerreise drückt Hebr sowohl in linear-zeitlichen als auch kosmologisch-räumlichen Kategorien aus. Beide Dimensionen sind nicht losgelöst voneinander zu verstehen. Weder kennt Hebr einen zeitlosen Ort noch eine räumlich unkonkrete zeitliche Entwicklung, wie sie in der Forschung durch einseitige religionsgeschichtliche Zuschreibungen immer wieder in den Vordergrund gerückt sind. Doch nicht nur die Wirklichkeitsvorstellung des Hebr für das glaubende Gottesvolk an sich ist von einem solchen „Ineinander“ geprägt. Auch innerhalb der Dimensionen gibt es eine Überschneidung. Denn die durch die jeweiligen Pole bestimmten Dimensionen – in der zeitlichen Dimension sind es die Pole 167
S. o. S. 95.
3. Der Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk
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Schöpfung und Eschaton, in der räumlichen die irdische und die himmlische Wirklichkeit – erhalten durch das Reden Gottes im Sohn einen Dreh- und Angelpunkt, durch den sich der frühere und zukünftige und zugleich der irdische und himmlische Bereich überschneiden. Durch das Reden Gottes im Sohn hat sich ein zwischenzeitlicher Zwischenraum bzw. eine zwischenräumliche Zwischenzeit aufgetan – das „Heute“ –, in dem sich das glaubende Gottesvolk seitdem, gegenwärtig und bis zu seiner Vollendung bewegt. Dieses „Heute“ ist die Wirklichkeit des Gottesvolkes, aber letztlich auch von allem Geschaffenen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht von einem „Schon-aber-noch-nicht“ der Vollendung der Glaubenden bestimmt ist. Wie wir gesehen haben, widmet sich Hebr diesem „Noch-nicht“ am Ende des elften Kapitels konzentriert in zwei Versen (11,39f.) mit einer in der Auslegung bisher nur bedingt wahrgenommenen „Geschichtsschau“. Die positiven alttestamentlichen Glaubenszeugen haben, wie alle Generationen des glaubenden Gottesvolkes, das Ziel ihrer Pilgerschaft noch nicht erreicht. Ihre Vollendung steht unter einem eschatologischen Vorbehalt aufgrund des Ratschlusses Gottes in Übereinstimmung mit dem generell menschlichen Unvermögen, sich aus eigener Kraft zum wahren Gottesdienst (9,14) und damit zum Eintritt in die himmlische Ruhestadt zu qualifizieren. Denn diese Vollendung der Glaubenden ist für Hebr unauflöslich mit der Vollendung des Sohnes verbunden, der ihnen als ihr „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (12,2) in seinen göttlichen Erbbesitz, die himmlische Wirklichkeit in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott, vorangegangen ist und sie dorthin mit sich zieht. Der endgültige Eintritt in die „zukünftige Stadt“ (13,14) konnte und sollte bzw. kann und soll nicht anders geschehen, „weil Gott etwas Besseres für uns alle vorgesehen hat“ (11,40a). Dieses „Bessere“ ist die gemeinsame Vollendung des ganzen glaubenden Gottesvolkes, das an der Vollendung des Sohnes und damit an dessen Erbbesitz, der allen Glaubenden verheißen ist, Anteil erhält. Hebr kennt keine Teilhabe der einen Glaubenden am Stammbesitz der anderen. Alle Glaubenden sind durch ihren Glauben zu einer Erbengemeinschaft zusammengeschlossen. Zu seiner letztgültigen Wirksamkeit gelangt dieser Glaube aber erst durch die Teilhabe an der Vollendung des Sohnes. Hinsichtlich der Vollendung der Glaubenden zeigt sich somit ein eschatologischer sowie ein soteriologischer Vorbehalt. Beide sind nicht voneinander zu trennen oder ohne einander zu verstehen. Der eschatologische Vorbehalt richtet sich immer auf den soteriologischen Vorbehalt hin aus und umgekehrt. Doch nicht Trennung, sondern Einheit ist das Ziel des Hebr mit dieser Zuordnung. Das Bessere am „Besseren für uns [alle]“ ist das Mehr des „nicht ohne uns“ (11,40). Hebr zeigt keinerlei Interesse an einer Infragestellung all jener, die (zeitlich betrachtet) vor „uns“ vor Gott durch ihren Glauben Wohlgefallen gefunden haben. Aber sie sind ihm auch nicht gleichgültig, da er sie aufgrund seiner wirklichkeitshermeneutischen Grundsteinlegung im Reden
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Gottes im Sohn konsequent in dieses „Koordinatensystem“ einordnen will und kann. Unsere Ergebnisse der zeitlichen und räumlichen Verortung des glaubenden Gottesvolkes werfen noch weitere Fragen auf. War in diesem Kapitel das „Noch-nicht“ der Vollendung der Glaubenspilger Gegenstand der Untersuchung, so gilt es den Blick nun auch auf ihr „schon“ zu richten. Denn sowohl die Verhältnisbestimmungen von horizontaler und vertikaler Dimension miteinander und in sich als auch direkte Textstellen im Hebr werfen die Frage auf, welchen Stand die Glaubenden im „Heute“ haben – die früheren und die gegenwärtigen. Wie verhält sich das „Noch-nicht“ der Vollendung zur Rede von der himmlischen Festgemeinde in Kapitel 12, zu der für Hebr sowohl die gegenwärtige Generation des Gottesvolkes als auch die früheren „schon“ gehören (12,22f.)? Wo und wie treffen sich die verschiedenen Generationen der pilgernden Glaubensgemeinschaft auf ihrem Weg hin zur himmlischen Ruhestadt? Diese Fragen sollen im letzten Kapitel des exegetischen Hauptteils nun weiter untersucht werden.
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes Die Gedanken des Hebr über das glaubende Gottesvolk, wie wir sie bisher nachvollzogen haben, streben regelrecht „nach vorn“ und zugleich „nach oben“, hin zum Endpunkt dieser Bewegung. Die Glaubenden zieht es zu ihrem gemeinsamen eschatologischen himmlischen Ziel in der Gemeinschaft mit Gott. Wie die Vereinigung der Glaubenden bzw. ihr Zugang in die Ruhe Gottes vom Hebr her zu denken ist, wird uns in diesem letzten Kapitel beschäftigen. Doch zunächst gilt unsere Aufmerksamkeit dem Ziel der Glaubenden „auf Gottes Seite“1 selbst, das im Hebr mithilfe einer vielfältigen und variablen „himmlischen“ Bildwelt umschrieben wird.
4.1 Der Ort der Vereinigung Am eingängigsten und aussagekräftigsten für die Umschreibung des „Himmlischen“ im Hebr ist das Bild der himmlischen „Stadt“ (vor allem 12,22–24; 13,14).2 Mit diesem Bild konnten die Adressaten auf vielfältige Weise an die himmlische Vorstellung anknüpfen, da es selbst eine Fülle von Bedeutungsnuancen bietet. Doch bevor wir uns dem Motiv der himmlischen Stadt im Hebr und seiner Bedeutung für das glaubende Gottesvolk näher widmen, sei zunächst ein genereller Überblick über die himmlische Bildwelt im Hebr sowie im Anschluss daran über die Bedeutung des Phänomens „Stadt“ für das frühe Christentum gegeben. So lässt sich besser verstehen, warum gerade dieses Bild für Hebr so tragfähig zu sein scheint. Wir werden dabei sehen, wie die Vorstellung von der himmlischen Stadt besonders viele Verbindungen zu anderen gewichtigen Themen des Hebr, die wir bisher behandelt haben, bietet. 4.1.1 Die himmlisch-eschatologische Bildwelt im Hebräerbrief Da es sich auf dem Hintergrund der zeitlichen und räumlichen Vorstellung im Hebr bei dem Ziel der Glaubenden um einen zwar zukünftigen, aber dennoch konkreten Ort, den Ort der Gegenwart Gottes, handelt, sind die zahlreichen FREY, Himmels-Botschaft, 203. Eine äußerst umfassende und detailgenaue Auslegung von 12,22–28 findet sich bei STOLZ, Höhepunkt. 1 2
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Bilder, die eine lokale Dimension enthalten, nicht verwunderlich. Der allgemeinste Ausdruck findet sich wohl mit dem nicht weiter ausgeführten τόπος in 11,8, den Abraham und seine Miterben als „Erbteil“ (κληρονομία) empfangen sollen. Darüber hinaus spricht Hebr vom „Reich“ (βασιλεία; 1,8; 12,28) und von dem Ort der Herrschaft des Sohnes „zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (ἐν δεξιᾷ; 1,3; vgl. 8,1; 9,12; 12,2), vom „Haus“ (οἴκος; 3,2.3.4.5.6; 10,21), vom „Heiligtum“ (ἅγια; 8,2; 9,12), damit verbunden vom „Thron der Gnade“ (θρόνος τῆς χάριτος; 4,16), und dem, was „hinter dem Vorhang ist“ (ἐσώτερος τοῦ καταοετάσματος; 6,19), sodann von einer „Heimat“ (πατρίς; 11,14), etwas vage vom „Himmel“ (οὐρανός/οὐρανοί; 4,14; 7,26; 8,1; 9,24; 12,23.25–26) und vom „kommenden Erdkreis“ (ἡ οἰκουμένη ἡ μέλλουσα; 2,5), aber auch sehr konkret vom „Berg Zion“ (Σιὼν ὄρος; 12,22) und eben von einer oder vielmehr der „Stadt“ (πόλις; 11,10.16; 12,22; 13,14), nämlich dem „himmlischen Jerusalem“ (Ἰερουσαλὴμ ἐπουρανία; 12,22). Alle diese Bilder tragen, je eigen, zu einer lokalen Vorstellung dieser „Jenseitslandschaften“3 bei, die der irdischen Wahrnehmung (noch) entzogen sind, aber bereits im Glauben erkannt, erhofft und angestrebt werden (11,1.8–10). Gleichzeitig zielen viele dieser und weiterer Bilder, im Dienste der ekklesiologischen Bestimmungen im Hebr, aber gerade auch auf eine soziale Dimension ab.4 Reich, Haus und Stadt sind Größen, die nicht nur einen bestimmten Raum festlegen, sondern stets auch ein Sozial- oder besser ein Beziehungsgefüge beinhalten und von ganz bestimmten Qualitäten zeugen. So wird die Erhabenheit bzw. die Herrschaft Gottes über den zu ihm in Beziehung stehenden (glaubenden) Menschen, aber letztlich zu seiner ganzen Schöpfung, im Bild des „Thrones“, des „Sitzens zur Rechten“ des Sohnes „in der Höhe“, ja sogar „höher als die Himmel“ oder des „Reiches“ ausgedrückt. Letzteres ist ja eindeutig eine Größe, die sich nicht allein über ihre lokale Bestimmung definiert, sondern vor allem in Bezug zu demjenigen, der das Reich beherrscht. Die Glaubenden freuen sich sodann auf durch und durch erstrebenswerte „himmlische Güter“ (8,5), von denen sie im Hier und Jetzt schon einen Vorgeschmack erhalten (vgl. 6,4f.; 9,11.23; 10,1). Der originärste Ausdruck für diese Erfüllung im Hebr ist die „Ruhe“ (κατάπαυσις), der nur dann richtig verstanden wird, wenn er in einem heilsgeschichtlichen, gesamtbiblischen Konzept verortet ist, das sich von der Schöpfung zur Neuschöpfung bewegt. Das glaubende Gottesvolk pilgert zu seinem als Ziel der Schöpfung angestrebten, durch die Reinigung des Gewissens eröffneten und einst eschatologisch greifbaren himmlischen Ruheort in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott. Das für die Frage nach dem Gottesvolk qualitativ Entscheidende an diesem Motiv ist eben die letztgenannte Bestimmung – die Beziehung zu Gott. Darauf zielt, wie wir bisher immer wieder gesehen haben, gut biblisch, letztlich alles 3 4
BACKHAUS, Hebräerbrief, 443. Vgl. FREY, Himmels-Botschaft, 213.
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
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Denken im Hebr ab – sei es soteriologisch, pisteologisch oder ekklesiologisch. Daher ist es wichtig, die vielen Bilder für das „Himmlisch-Eschatologische“ im Hebr nicht isoliert voneinander zu betrachten. Dies ist zwar innerhalb ihres jeweiligen Kontextes mit Blick auf ihre jeweilige Funktion und Pointierung zunächst richtig und notwendig, aber sie alle tragen gemeinsam verschiedene Teile zum eschatologischen Puzzle im Hebr bei und ergeben nur gemeinsam das Gesamtbild von der Wirklichkeit Gottes. Dieses dynamische Geflecht verschiedener Aspekte ein und derselben Sache lässt sich „stichprobenhaft“ an den drei besonders prägnanten Ausdrücken βάσιλεια, κατάπαυσις und πόλις aufzeigen, ohne, dass hier schon Details späterer Untersuchungen dieses Kapitels vorweggenommen werden sollen. Das Lexem βασιλεία taucht im Hebr zwar nur an drei Stellen auf (1,8; 11,33; 12,28), zwei davon – 1,8 und 12,28 – sind für seine Gesamtkonzeption aber äußerst wichtig. Der Beleg in 11,33 ist von geringerem Interesse und scheidet insofern aus, als hier irdische (König-)Reiche benannt werden, die von namentlich nicht genannten positiven Glaubenszeugen bezwungen worden sind. Damit ist hier die profane Bedeutung des Wortes gemeint, nicht aber die damit verbundene und für uns ausschlaggebende theologische Vorstellung, die sich metaphorisch mit dieser Profanbedeutung verbindet. Umso mehr fallen 1,8 und 12,28 ins Gewicht. In 1,8 findet sich das für die Christologie ohnehin wichtige Zitat aus Ps 44,7LXX, mit dem Hebr den Vater dem Sohn einen „ewigen Thron“ (θρόνος […] εἰς τὸν αἰῶνα τοῦ αἰῶνος) und ein „Zepter der Gerechtigkeit“ (ἡ ῥάβδος τῆς εὐθύτητος) zusprechen lässt. Beides sind unmissverständliche Insignien der (königlichen) Herrschaft, zumal das „Zepter der Gerechtigkeit“ des Sohnes nun zugleich auch das „Zepter [s]einer Basileia“ (ῥάβδος τῆς βασιλείας σου) ist.5 Insofern ist, wie oben bereits benannt, βασιλεία hier immer auch in einer lokalen Dimension zu verstehen (selbst, wenn sie unbegrenzt sein sollte), doch das Hauptgewicht liegt auf dem Herrschaftsaspekt – konkret, der Herrschaft Gottes,6 an welcher der Sohn Anteil erhält.7 Deshalb ist die Übersetzung von βασιλεία mit „Königsherrschaft“ (o. ä.) sachgemäß,8 „Königreich“ wäre 5 Obwohl zahlreiche ältere Textzeugen in 1,8b anstelle von „σου“ das Possessivpronomen „αὐτοῦ“ lesen (so v. a. P46, אund B), scheint die ebenfalls breit bezeugte Lesart mit „σου“, wie sie im NA28 sowie im GNT5 bevorzugt wird, hier plausibel zu sein. Denn die Lesart „ῥάβδος τῆς βασιλείας αὐτοῦ“ würde wiederum dazu führen, dass „ὁ θεός“ in 1,8a nicht als Vokativ, sondern als Subjekt verstanden werden müsste, was sich wiederum syntaktisch nur schwer konstruieren lässt (vgl. METZGER, Commentary, 662f.). 6 Gerade εὐθύτης verwendet die LXX in der großen Mehrheit ihrer 24 Belege als Merkmal der (Recht sprechenden) Königsherrschaft Gottes (vgl. Ps 9,9; 10,7LXX; 44,7LXX; 66,5LXX; 74,3LXX; 95,10LXX; 98,4LXX; 98,9LXX; 110,7f.LXX) und damit auch als Merkmal einer entsprechend Gott gemäßen menschlichen Herrschaft (1 Kön 3,6; 9,4; Ps 16,2LXX; 98,4LXX; Weish 9,3; PsSal 2,15). 7 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 123. 8 Vgl. u. a. W EISS, Hebräer, 166; G RÄSSER, Hebräer I, 70; K ARRER, Hebräer I, 126; BACKHAUS, Hebräerbrief, 95; STOLZ, Höhepunkt, 334.
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aufgrund der stets mitschwingenden lokalen Dimension aber auch möglich. Die göttliche Herrschaft des Sohnes ist jedoch noch nicht in der gesamten Wirklichkeit vollends sichtbar, sondern bislang „nur“ in der himmlischen: „Sie muss im Eschaton in der/einer ‚irdischen‘ Wirklichkeit so weit ausgedehnt werden, dass die dort gegenwärtig noch herrschenden Feinde unterworfen sind (vgl. 1,13; 2,5.8; 10,13). Erst dann, wenn der gegenwärtig thronende ‚Erbe aller Dinge‘ (1,2) und ‚Erstgeborene‘ […] bei seiner Parusie in die οἰκουμένη eingeführt wird ([…] 1,6) und sein rechtmässiges [sic!] Erbe auf der ‚Erde‘ antritt, wird seine Königsherrschaft bzw. sein Königreich allumfassend und damit vollendet sein.“9
Wie an späterer Stelle noch näher aufgezeigt werden soll, ist gerade von dieser Verbindung zwischen 1,8 und 12,28 her der Aspekt der Herrschaft auch bei der (unerschütterlichen) βασιλεία in 12,28 vordergründig.10 Unerschütterlich ist sie, insofern sie die Herrschaft des „Kraft eines unauslöschlichen Lebens“ (7,16) nicht nur hinreichend Sühne wirkenden, sondern auch inthronisierten und ewig herrschenden Sohnes ist (8,1). Mit βασιλεία fokussiert Hebr auf den Aspekt der Herrschaft Gottes bzw. des daran Anteil habenden Sohnes im Blick auf die himmlische Wirklichkeit und damit auf das Ziel des glaubenden Gottesvolkes. Mit κατάπαυσις richtet er wiederum das Augenmerk auf die Bedeutung dieser Herrschaft für die Glaubenden, die eschatologisch in den Herrschaftsbereich Gottes eingehen bzw. in diesen sichtbar und bleibend eingeschlossen werden. Die Glaubenden finden hier „Ruhe“. Doch diese Ruhe ist kein wie auch immer gearteter anthropologischer, aus dem Sein des Menschen hervorgehender Zustand. Vielmehr ist er zuallererst eine Teilhabe, und zwar eine Teilhabe an der Ruhe Gottes. Das wird schon allein daran deutlich, dass Hebr κατάπαυσις überwiegend in Verbindung mit einem Possessivpronomen verwendet. Je nach Perspektive des jeweiligen Belegs handelt es sich entweder um „meine Ruhe“ (κατάπαυσις μου) oder „seine Ruhe“ (κατάπαυσις αὐτοῦ) – in beiden Fällen ist Gott aber der Bezugspunkt (vgl. 3,11.18; 4,1.3.5.10).11 Insofern ist das mit κατάπαυσις beschriebene Ziel der Glaubenspilger ein Zustand, der sich aus der Teilhabe am Zustand Gottes speist, einfach ausgedrückt, aus der Gemeinschaft mit ihm. Nun ist dieser Zustand in der Gemeinschaft mit dem herrschenden Gott für Hebr immer auch eine lokal beschreibbare Wirklichkeit, was sich wiederum im Bild der himmlischen πόλις ausdrückt (vgl. 11,6.16; 12,22–24; 13,14). Die πόλις ist aber auch ein Bild, das beide zuvor genannten Aspekte – Herrschaft und Gemeinschaft – für die menschliche Vorstellungs- und Beschreibungskraft STOLZ, Höhepunkt, 335 (Herv. v. Vf.). S. u. II.4.3. Vgl. dazu auch umfassend STOLZ, Höhepunkt, 336–339. 11 Freilich liegt allen drei Belegen mit einem Possesivpronomen der ersten Person Singular (3,11; 4,3.5) die Zitierung von Ps 94,11LXX zugrunde und bei den Belegen mit einem Pronomen der dritten Person Singular (3,18; 4,1.10) bezieht sich Hebr auf dieses Zitat. Absolut wird κατάπαυσιν ausschließlich in 4,3 und 4,11 gebraucht. In beiden ist aber der Bezug zu Gott durch den unmittelbaren Kontext auch eindeutig vorhanden. 9
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von der Wirklichkeit Gottes in sich vereint, wie gleich noch im Detail dargestellt werden wird. Alle diese Bilder zusammen verhalten sich wie Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig durchdringen, überlappen oder neue Perspektiven aufweisen: „Dass der Verfasser mit der βασιλείᾳ ἀσαλεύτῳ an die kurz zuvor ausgemalte Ἰερουσαλὴμ ἐπουράνιον anknüpft, liegt auf der Hand […]. Kaum sind die Basileia und das ‚himmlische Jerusalem‘ [d. i. die Polis; Anm. A. H.] aber total synonym zu verstehen. Vielmehr scheint die Basileia die Gottesstadt mit einzuschließen, aber darüber hinaus die ganze Welt zu umfassen […].12
Die Dynamik der verwendeten Bilder sowohl in ihrer Vielfalt als auch in ihrem Verhältnis zueinander ist bemerkenswert. Sie alle zielen auf die in der Schöpfung allgemein verliehenen, im Glauben verwirklichten und durch das Heilswerk des Sohnes eschatologisch bleibend verbürgten Bezogenheit des Menschen auf Gott (in dessen Wirklichkeit), mit dem die Glaubenden eschatologisch eine ungetrübte, ewige Gemeinschaft haben sollen und werden. Für Hebr ist diese Gemeinschaft der Sinn des Geschaffensseins und das Ziel des Lebensbzw. Glaubensweges. Den Eintritt in dieses Ziel verbindet Hebr mit dem eben schon erwähnten, bei ihm besonders einprägsam verwendeten und insofern gesondert zu behandelnden Bild von der „himmlischen Stadt“. 4.1.2 Die himmlische Stadt im Hebräerbrief Was sich im Allgemeinen für die himmlische Bildwelt im Hebr zeigt, gilt auch im Besonderen für das Motiv der „himmlischen Stadt“, das für die Frage nach der eschatologischen Vereinigung der Glaubenden deutlich herausragt. Denn die πόλις ist in Kap. 12 die dominierende Metapher für das eschatologische Geschehen, auf das Hebr seine glaubensmüden Adressaten neu auszurichten sucht. Die Wahl gerade dieser Metapher dürfte Hebr ganz bewusst getroffen haben, da sie ihm und seinen Adressaten sowohl in ihrer Lebenswelt als auch durch die alttestamentliche Tradition bedeutungsvoll vorgegeben war, wie gleich noch näher herausgearbeitet werden soll. Trifft zudem die, m. E. gut begründete, These von Otto Betz zu,13 die Glaubensauffassung des Hebr in Gestalt der Formel in 11,1 sei bewusst im Anschluss an Jes 28,16 gestaltet worden,14 ergibt sich neben jenen äußeren Gründen auch noch ein im Gedankengang des Hebr selbst stringenter Grund für die Wahl des Bildes von der himmlischen Stadt als Ausdruck für das erhoffte Verheißungsgut. Denn dann riefe Hebr seinen Adressaten (erneut) im Rekurs auf das lebendige Wort Gottes in Form des alttestamentlichen Schriftzeugnisses in Erinnerung, dass ihr Glaube, STOLZ, Höhepunkt, 338f. (Herv. v. Vf.). Vgl. BETZ, Firmness, 434–443. 14 Vgl. Jes 28,16: „Darum, so spricht JHWH: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein als festgegründetes Fundament. Wer glaubt, wird nicht fliehen/weichen.‘“ 12 13
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in dem sie feststehen sollen, kein abstraktes, sondern ein sehr konkretes Ziel „vor Augen“ habe: das eschatologische Zion mit seinem von Gott selbst gelegten festen und kostbaren Eckstein. Damit hätte die, wie sie gleich noch gezeigt werden soll, feste Verankerung des Motivs der himmlischen Stadt in der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition im Hebr „in der Verheißung des neuen Jerusalems als Mitte der kommenden neuen Welt Gottes“15 sehr konkreten Einzug gefunden und wäre aufs engste mit dem eschatologisch entscheidenden Glauben verbunden. Zu dessen Entfaltung setzt Hebr mit seiner Mahnung und Bestimmung des Glaubens in 10,38–40 an und in Kap. 11 fort. Sie findet sodann im Aufruf zum „Schauen auf Jesus als den Anfänger und Vollender des Glaubens“ ihren Höhepunkt (12,1–3). Nachdem Hebr diesen Höhepunkt seiner Ausführungen zum glaubenden Gottesvolk in den darauffolgenden Versen mit Blick auf die herausfordernde Situation seiner Adressaten in einem stark paränetischen Abschnitt hat konkret werden lassen (12,4–17), wartet er in 12,(18– 21)22–25(-29) schließlich mit einer „Zusammenschau aller eschatologischen Motive des Briefes“16 auf. Diese sucht in ihrer sprachlichen und sachlichen Dichte im ganzen Brief ihresgleichen.17 Während Hebr um die leidvolle Situation seiner im „Heute“ mühsam pilgernden Adressaten und aller Glaubenden weiß, richtet er ab 12,18 den Blick auf den Lohn, der sie erwartet, wenn sie bis zur eschatologischen Vereinigung des ganzen Gottesvolkes standhaft bleiben – der Eintritt in die himmlische „Stadt des lebendigen Gottes“ (πόλις θεοῦ ζῶντος; 12,22). Diesem vielschichtigen Bild und den damit verbundenen Beschreibungen und Perspektiven gilt nun zunächst im Besonderen unsere Aufmerksamkeit. 4.1.2.1 Die (himmlische) „Stadt“ als „Referenzrahmen“ frühchristlichen Denkens Mit seiner Wahl des Bildes der (himmlischen) Stadt – neben zahlreichen anderen –, mit dem Ziel, seinen Adressaten das lohnenswerte Ziel ihres gemeinsamen Weges mit allen Glaubenden ins Bewusstseins zu rufen, bewegt sich Hebr in der natürlichen Sprach- und Denkwelt des frühen Christentums, das im städtischen Kontext seinen prägenden Lebensraum hatte.18 Ist das in den Evangelien KLAPPERT, Glaube, 251 im Anschluss an O. Betz (s. o. S. 193, Anm. 13). SCHIERSE, Verheißung, 171. 17 Schierse versteht 12,18–29 daher auch als „rhetorische Glanzleistung und gedanklichen Höhepunkt“ (SCHIERSE, Verheißung, 171f.) des Briefes (relativierender dazu WEISS, Hebräer, 669). Vgl. zu den zahlreichen rhetorischen Besonderheiten des Abschnitts KARRER, Hebräer II, 315f. Zur Bedeutung des Abschnitts im Hebr generell vgl. umfassend STOLZ, Höhepunkt. 18 Vgl. dazu: EBNER, Stadt; B ENDEMANN, Reinhard von/TIWALD, Markus (Hg.): Das frühe Christentum und die Stadt, BWANT 198, Stuttgart 2012, 9–42; THEISSEN, Gerd: Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 31989; MEEKS, Wayne A.: Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 15 16
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überlieferte Zeugnis von der Verkündigung und dem Auftreten Jesu und seinen frühen Nachfolgern sprachlich und sachlich stärker ländlich geprägt,19 waren die ersten christlichen Generationen rasch vor die natürliche und notwendige Herausforderung gestellt, ihren Glauben in Wort und Tat im „Referenzrahmen“20 der städtischen Lebenswelt zum Ausdruck zu bringen,21 der die Identität im römischen Reich wesentlich prägte.22 Denn die hellenistisch-römisch kultivierte Stadt war nicht nur lokaler, sondern auch sozialer Lebensraum der frühen Christen, von denen ein nicht unerheblicher Teil zudem auch das römische Bürgerrecht (civitas Romana) besessen haben dürfte.23 Insofern verwundert es nicht, wenn sich neutestamentliche und daran anknüpfend andere frühchristliche Autoren (vgl. z. B. Herm(s) 1,1–9; Tertullian, Adv.Marc. 3,24,3f.; 1993; STEGEMANN, Ekkehard W./STEGEMANN, Wolfgang: Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 21997; K OLB, Frank: Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike, München 22002; STAMBAUGH, John E./BALCH, David L.: Das soziale Umfeld des Neuen Testaments, GNT 9, Göttingen 1992; WITETSCHEK, Stephan: Frühe Christen in einer antiken Grossstadt. Zugleich ein Beitrag zur Frage nach den Kontexten der Johannesapokalypse, BToSt 6, Leuven 2008; BELLI, Alfredo/MASON, Conrad: La città romana, Libri animati Usborne, London 2012; BRANDS, Gunnar/SEVERIN, Hans-Georg (Hg.): Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung. Symposion vom 14. bis 16. Februar 2000 in Halle/Saale, Spätantike - frühes Christentum - Byzanz. Reihe B, Studien und Perspektiven, Bd. 11, Wiesbaden 2003; LAMPE, Christen; WEISS, Alexander: Christliche versus städtische Identitäten? Ein Heptapolit liest die „Sieben Sendschreiben“ der Johannes-Apokalypse, in: Alkier, Stefan/Leppin, Hartmut (Hg.): Juden, Christen, Heiden? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius, WUNT 400, Tübingen 2018, 253–274. 19 Man beachte nur die stark ländlich bzw. landwirtschaftlich geprägte Bildwelt der Gleichnisreden Jesu (vgl. Mt 13,24–30.44.45.47f.; 18,12f.Par; 20,1–16; Mk 4,3–8Par.26– 32Par; 12,1–9Par; 13,28f.Par; Lk 12,16–21; 13,6–9; Joh 12,24). 20 EBNER, Stadt, 40, der hinsichtlich des städtischen Umfelds von einer „Sozialdimension“ (praktisches Ausleben des Glaubens) und einer „Sachdimension“ (Kommunikation des Glaubens) spricht, die auf die Art der Glaubensdarstellung prägenden Einfluss hatte. 21 Entsprechend versucht sich ERLEMANN, Antiochia, 124–126 an einer Milieustudie zum Antiochia am Orontes des ersten Jahrhunderts n. Chr. als möglichen Referenzrahmen für die Entstehung des Hebr. 22 Vgl. EBNER, Stadt, 15–17.40. 23 So eindeutig nach den Studien Alexander Weiß’, der davon ausgeht, dass unter den christlichen Gemeinden, so sie nach der mittlerweile als wissenschaftlichem Konsens geltenden Annahme einen Querschnitt der Gesellschaft bildeten, zu einem nennenswerten Teil auch römische Bürger gewesen sein mussten, da sich zahlreiche Gemeinden in römischen Coloniae befanden (vgl. WEISS, Paulus, 346–353; umfassend WEISS, Alexander: Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordo-Angehörigen unter den frühen Christen, MilleniumStudien 52, Berlin 2015). In einer Colonia (Antiochia ad Pisidiam (Apg 13), Lystra (Apg 14.16), Iconium (Apg 14.16), Alexandria Troas (Apg 16.20; 2Kor 2,12), Philippi (Apg 16.20; Phil; 1Thess 2,2); Korinth (Apg 18; 1&2Kor; 2Tim 4,20) hatten mehr als 40 % der Einwohner das römische Bürgerrecht. Auffällig ist z. B. auch die Häufung von lateinischen Namen in den Grußlisten paulinischer Briefe an Gemeinden im oströmischen Reich. Außerbiblische eindeutige Hinweise finden sich bei Plinius, Briefe 10,96 („cives Romani erant“), was zeigt, dass es Christen gab, die das römische Bürgerrecht in Bithynien in der Zeit 110– 112 besaßen.
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Tertullian, De corona militis, 13; Ambr., Exameron 7.42)24 die Motive der „Stadt“ und des „Bürgerrechts“ als privilegierteste Form der Zugehörigkeit zur (urbanen) Gemeinschaft für ihre Gedanken über die christliche Identität zu eigen machten. Denn diese boten ein hohes Maß an Identifikationspotential für die christlichen Gemeinden. Dabei dienen sie als Ausdrücke für die (eigentliche) Zugehörigkeit der christlichen Existenz zur (himmlischen) Gemeinschaft Gottes und der Glaubensgeschwister, welche im Glauben eschatologisch erhofft wird (vgl. Eph 2,12.19; Phil 1,27; 3,20; Offb 3,12; 21,1–27; 22,14.19; Diog 5,9). Demgegenüber stand die Rede von der „Fremdlingsschaft“ der Christen in der irdischen Welt (vgl. 1 Petr 1,17; 2,11; Hebr 11,13; 2 Clem 5,1; Diog 5,1–5).25 Neben dieser Vorgabe durch das Umfeld konnten die frühen Christen vor allem auch an die Traditionen in ihrer eigenen heiligen Schrift anknüpfen, in der das Motiv der Stadt, nämlich der Stadt Jerusalem, theologisch seinen festen Platz hat. Allen voran wird Jerusalem in Verbindung oder synonym mit dem Zion in der sog. „Zionstheologie“ theologisch als heilige Stadt aufgewertet.26 Ausgangspunkt ist dabei ihre Erwählung durch Gott (Ps 132,13) zu dessen „Wohn- und Thronsitz“27 (Jes 2,3; 8,18; Jer 31,6 Ps 74,2; Ps 9,12; vgl. auch Dtn 12,5). Zwar ist sich auch Salomon bei seinem Einweihungsgebet für den Tempel darüber bewusst, dass Gott in seiner Größe von geschaffenen Dingen nicht gefasst werden kann (1 Kön 8,27). Umso mehr verdankt sich die Bedeutung Zions daher gerade Gottes gnädiger und treuer Zuwendung (1 Kön 9,3) und Liebe (Ps 87,2). Vom fest gegründeten Zion (Ps 125,1f.) aus hilft und schützt Gott Israel mit unerbittlichem Eifer gegenüber allen Feinden (Ps 14,7; 20,3; Ps 69,36), allen voran dem von ihm erwählten und eingesetzten (davidischen) Königtum, als dessen Herrschaftssitz Jerusalem, die „Stadt Davids“ (2 Sam 5,7–10) auf ewig bestehen soll. Gott hat Jerusalem als Zeichen für alle Völker gesetzt (Ez 5,3; 16,4; Joel 4,16), von dem aus sein Licht in die Welt strahlt (Ps 50,2). Jerusalem/Zion ist sein wundervolles Schöpfungswerk (Ps 87,5; Jes 14,32; 28,16) und in ihrer Schönheit vom Menschen voller Freude 24 Vgl. zur Rezeption in der Alten Kirche v. a. H ENGEL, Herrin, 275–280; M ARKSCHIES, Himmlisches, 304–329 sowie PRIGENT, Jérusalem, 390–400. 25 Vgl. B RAUN, Hebräer, 364 mit weiteren biblischen und außerbiblischen Belegen zum Motiv der „Fremdlingschaft“. Hinter dieser ambivalenten Sicht auf das Phänomen der Stadt dürften wohl auch reale soziale Ausgrenzungserfahrungen der Christen in den urbanen Gemeinschaften stehen (vgl. BENDEMANN/TIWALD, Christentum, 31f.), die allerdings nicht vorschnell mit einer tatsächlichen rechtlichen Ausgrenzung gleichzusetzen sind. Denn für eine solche gibt es vor der Korrespondenz zwischen Plinius d. J. und Trajan (ca. 110–112 n. Chr.) keinerlei tragfähige Hinweise und selbst die Anweisungen der kaiserlichen Kanzlei an Plinius für den im Ernstfall strikten Umgang mit Christen zeugen davon, dass selbst diese sich dabei immer noch innerhalb eines rechtlichen Schutzes oder zumindest einer rechtlichen Regelung bewegen sollten. 26 Vgl. STOLZ, Art. Zion, 546–551. 27 STOLZ, Art. Zion, 546.
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und Dank zu bestaunen (Ps 48,3; 50,2; 122; 137,6). Hier soll Israel seinen Gottesdienst vollziehen (Ps 84,8; Ps 65,2; 97,8; 132; 48,13) und seinen Lobpreis erklingen lassen (Ps 102,20–22; 147,12). Aber gerade weil Gott so für sein Volk am Zion eifert, entbrennt auch sein Zorn gegen Israel aufgrund dessen Untreue. Diese wird besonders in prophetischer Kritik schonungslos angeprangert (Jes 1,8f.27; 3,1; 28,16–18; Mi 3,10– 12; 4,10; Jer 4,6.31; 6,2.23; 9,18; vgl. auch 1 Kön 9,6f.; Klg 1,8). Umso mehr trauern die zur Strafe Exilierten in Babylon diesem Sehnsuchtsort unter dem Gespött ihrer Feinde nach (Ps 137,1). Und gerade in dieser Situation erstrahlt die von Gott zugesagte Hoffnung auf eine (eschatologische) Wiederherstellung Jerusalems/Zions (Jes 40,9; 41,27; 46,13; 51,11.16; 52,7f.), dessen Herrlichkeit einst alles bisher Gekannte übersteigen wird (Jes 51,3; Sach 2,14; 8,2f.; Mi 4,7; Jes 24,23; Sach 9,9). Die Völker der Erde werden Gottes Herrlichkeit erkennen und zu seiner Wohnstätte ziehen (Jes 2,3; 27,13; Jer 31,6.12; 50,5; Sach 8,22f.), Gott wird die gegen Jersualem/Zion gerichteten Völker eben dort richten (Mi 4,11–13; Zef 3,14–16; Sach 1,14–16) und den ihm treuen Rest seines Volkes wird er in das Licht seines Reiches führen (Zef 3,11–20). Im Rückblick auf die Bedeutung Jerusalems im Zeugnis der alttestamentlich-frühjüdischen Überlieferung, d. h. in der eigenen Vergangenheit, aber gerade auch im Blick nach vorn auf die heilvolle Hoffnung, die sich mit ihr in ebendieser Tradition verbindet, waren die frühen Christen von Beginn an auf diese Stadt aller Städte bezogen.28 „Dort sammelt sich die Jesusgruppe erneut, […] um als ‚heiliger Rest‘ Israels (vgl. Zef 3,11– 13) die Wende der Zeiten zu erwarten, sozusagen als ‚eschatologischer Vorposten‘ […] – und zwar genau an dem Ort, den die jüdische Tradition dafür vorsieht: nirgends anders als Jerusalem.“29
Das Bild der „Stadt“ als zugleich irdisches wie himmlisches Denk- und Sprachmittel für den christlichen Glauben, der im Hier und Jetzt zur Geltung kommt, sich aber stets auf das zukünftige Heil in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott ausstreckt, war somit durch äußere und innere Gegebenheiten für die frühe Christenheit ein natürliches Motiv. 4.1.2.2 Das Bedeutungsspektrum der himmlischen Stadt im Hebräerbrief Dass Hebr so viel mit dem Bild der „Stadt“ verbindet, ist auf dem eben skizzierten sozial- und traditionsgeschichtlichen Hintergrund kaum verwunderlich. Doch erweist sich die Bandbreite der durch dieses Bild eröffneten AussageVgl. SCHNELLE, Jahre, 110f. EBNER, Stadt, 17. Freilich vollzog sich in der Entwicklung des Christentums eine einseitige Verschiebung der theologischen Gewichtung des irdischen Jerusalems hin zum himmlischen. Die Betonung des letzteren ist im ntl. Zeugnis zwar eindeutig vorhanden, aber eine Marginalisierung des ersteren für die frühen Christen ebensowenig denkbar (vgl. dazu MARKSCHIES, Jerusalem). 28 29
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möglichkeiten als ebenso komplex wie die der Stadt selbst. Entgegen früherer recht pauschalisierender Darstellungen des (antiken) Phänomens „Stadt“ – vor allem im Gegenüber zum „Land“ bzw. „Dorf“ –, wird in der Forschung zunehmend dessen Vielschichtigkeit betont.30 Es lässt sich nicht die Definition der antiken Stadt aufstellen, um daran die Gedanken des Hebr näher zu untersuchen. Vielmehr kann und muss die Rede von der himmlischen Stadt anhand verschiedener „Parameter“ betrachtet werden, in denen sowohl Hebr als auch seine Adressaten hinsichtlich ihrer eigenen Erfahrungen im realen Phänomen der „Stadt“ ihre durch dieses Bild hervorgerufenen Assoziationen entfaltet haben. Dies soll im Folgenden in Anlehnung an die (freilich unvollständige) Aufstellung solcher Parameter von Reinhard von Bendemann und Markus Tiewald geschehen.31 Dabei handelt es sich um „situative“ (Lage der Stadt), „politische“, „soziostrukturelle“, „ökonomische“, „städtebauliche“, „juridische“, „technologische“ und „religiöse“ Parameter sowie um solche „des Schutzes und der Verteidigung“, „der Dependenz von supraurbanen Mächten und Strukturen“, „der Bildung, Erziehung und Gesundheit“ und „der Urbanitas“ (städtische Lebensweise). Das Heranziehen solcher Parameter kann für die Rede von der himmlischen Stadt im Hebr als ein heuristisches Werkzeug dienen, wenn auch nicht als starrer, künstlicher Maßstab. Denn befragt man die Darstellung im Hebr nach solchen (und auch anderen) Stichworten, lässt sich aufzeigen, welche Aspekte von vordergründiger und welche von nebensächlicher bzw. auch gar keiner Bedeutung für Hebr sind. So kann das in ihm vorfindliche Bild der himmlischen Stadt als eschatologisches Ziel des glaubenden Gottesvolkes schärfer nachgezeichnet werden. Gar kein Interesse zeigt Hebr in seiner Beschreibung der himmlischen Stadt an technologischen und ökonomischen Aspekten, ebenso wenig an einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit von anderen Mächten. Sie müssen uns daher auch nicht weiter beschäftigen. Die restlichen Parameter spielen durchaus eine Rolle, natürlich mit deutlich unterschiedlicher Gewichtung. Grob vereinfacht lassen sich dabei zwei wesentliche Bereiche ausmachen, die auch schon hinsichtlich der „himmlischen“ Bildwelt im Hebr insgesamt vordergründig waren – stärker lokale und stärker soziale Bestimmungen. a) Lokale Parameter – Die himmlische Stadt als Ort der Gottesbeziehung Die stärker lokalen Parameter (situativ, städtebaulich sowie die Schutzfunktion) spielen für Hebr eine untergeordnete Rolle. Dies wird gerade dann deutlich, wenn man Hebr mit anderen frühjüdischen und -christlichen Traditionen, in denen das Motiv der himmlischen Stadt für die Eschatologie verarbeitet ist,
30 31
Vgl. den Überblick bei BENDEMANN/TIWALD, Christentum, 9–15. Vgl. BENDEMANN/TIWALD, Christentum, 16–24.
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vergleicht.32 Während die Vision in Offb 21f. die himmlische Stadt entsprechend bis hin zu den Baumaterialien (Offb 21,18–21) beschreibt, begnügt sich Hebr mit wenigen Angaben. Dennoch tragen diese aber etwas zu seinem Bild von der himmlischen Stadt, stringent innerhalb seiner Wirklichkeitsvorstellung, bei. Eindeutig ist, „wo“ die himmlische Stadt gelegen ist: im Himmel (11,16; 12,22). So trivial diese Feststellung klingen mag, so entscheidend ist sie für Hebr. Die himmlische Stadt, d. h. das Ziel des glaubenden Gottesvolkes, ist kein auf Erden zu findender Ort (13,14). Sie ist aber genauso wenig ein rein gedankliches Konstrukt.33 Denn die Wirklichkeit Gottes ist für Hebr ja eine konkrete, wenn auch transzendente und von der irdischen Schöpfung grundlegend unterschiedene Größe.34 Die früheren Generationen des glaubenden Gottesvolkes „sahen“ (ὁρᾶν) die ihnen verheißene Ruhestadt (11,13), zwar „von fern“ (πόρρωθεν),35 schattenhaft, aber sie sahen sie, im Glauben, der sich gewiss auf das Unsichtbare ausrichtet (11,1).36 In dieser Glaubensgewissheit „begrüßten“ sie (ἀσπάζεσθαι) die himmlische Stadt feierlich. Dieses Bild erinnert an den heimkehrenden Wanderer, der um seine Heimat (vgl. πατρίς in 11,14) schon weiß, auch wenn sie nur schemenhaft am Horizont zu erahnen ist.37 Auffällig ist, dass ἀσπάζεσθαι sonst im Neuen Testament (vgl. Mt 5,47; Mk 9,15; Lk 1,40; Apg 18,22; Röm 16,3; 2 Tim 4,19; 1 Petr 5,13; 2 Joh 1,13 u. ö.) und in der LXX (vgl. Ex 18,7; Ri 18,15; Est 5,2; Tob 5,10; 9,6; 10,11; 1 Makk 7,29.33; 11,6; 12,17; 3 Makk 1,8; Sir 41,21) nur mit einem personalen Subjekt vorkommt. Dass die Glaubenszeugen nun aber die himmlische Stadt grüßten, könnte (!) daher ebenfalls schon ein Signal dafür sein, dass Hebr den für ihn ausschlaggebenden Wert dieses Bildes in seiner sozialen Dimension erblickt und damit primär als Ausdruck für die himmlische Gemeinschaft.38 Im unmittelbaren Kontext von 11,13–16 liegt der Fokus freilich nicht ausdrücklich auf der sozialen Dimension, sondern auf der Stadt als konkretem Ort 32 Vgl. dazu die umfassende Bearbeitung des entsprechenden Materials bei SÖLLNER, Jersualem. 33 So aber EISELE, Reich, 384, der das „Grüßen von ferne“ als übertragenen Ausdruck für die geistige Einsicht und Wertschätzung von Glaubenstatsachen versteht. Eine solche Deutung scheint m. E. aber allein auf dem Hintergrund einer einseitig (mittel-)platonischen, abstrakten Zuordnung der Gedanken des Hebr gangbar und ist – zumindest mit Blick auf unsere Ergebnisse zur Wirklichkeitsdeutung des Hebr – kaum haltbar. 34 S. o. II.3.1.2. 35 Das Adverb πόρρωθεν sollte hier weder einseitig lokal noch temporal verstanden werden, sondern, auf dem Hintergrund der Wirklichkeitsvorstellung des Hebr, als Bezeichnung für die horizontale und vertikale Distanz zur zukünftig-himmlischen Stadt (vgl. BRAUN, Hebräer, 362; COCKERILL, Hebrews, 549). 36 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 392. 37 Vgl. LANE, Hebrews II, 356f.; G RÄSSER, Hebräer III, 137. 38 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 494.
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dieser Gemeinschaft, den Gott „ihnen [d. s. die Glaubenden] bereitet hat“ (ἡτοίμασεν γὰρ αὐτοῖς πόλιν; 11,16). Der Aorist ἡτοίμασεν in 11,16 legt nahe, dass die himmlische Stadt auch zur Zeit der ältesten Glaubenszeugen bereits existierte und nicht erst in Zukunft von Gott geschaffen werden wird.39 Ist die „Stadt“ im Hebr letztlich immer auch „nur“ ein Bild von vielen für die Wirklichkeit Gottes, in deren Ruhe alle Menschen als Geschöpfe Gottes eingehen sollen und diejenigen, die glauben, es auch werden, so ergibt es nur Sinn, die Stadt als eine bereits existierende (transzendente) Realität zu verstehen, die Gott von Beginn der Schöpfung an bereitet hat (vgl. Mt 23,34 negativ 23,41; Mk 10,40; Joh 14,2f.; 1 Kor 2,9; Offb 12,6; 16,12; 21,2).40 In 12,22a wird diese „Stadt“ sodann eindeutig als das „himmlische Jerusalem“ (Ἰερουσαλὴμ ἐπουράνιος) identifiziert, das Hebr dort noch mit zwei vorangehenden Ausdrücken umschreibt, als „Berg Zion“ und als „Stadt des lebendigen Gottes“:
Abb. 4: Hebr 12,22a
Die Syntax von 12,22 macht deutlich, dass diese beiden Bilder zusammen als Einheit – verbunden durch das καί – zu verstehen sind, wobei dann das sich anschließende „himmlische Jerusalem“ als drittes Glied in der Aufzählung die beiden ersten zusammen noch einmal konkretisiert, im Sinne von: „zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, [nämlich] zum himmlischen Jerusalem“.41 Das bedeutet zunächst für die ganze Aufzählung, dass „Berg und Stadt“ als Einheit synonym mit ihrer Explikation „himmlisches Jerusalem“ zu verstehen sind.42 Aber auch die beiden ersten Glieder untereinander sind hinsichtlich des himmlischen Ortes (!), den sie bezeichnen, Synonyme.43 Natürlich rufen 39
Vgl. SÖLLNER, Jerusalem, 173f.; BACKHAUS, Hebräerbrief, 394; COCKERILL, Hebrews,
553. 40 Vgl.
ATTRIDGE, Hebrews, 332 mit Anm. 51. Dieser Gedanke erinnert zudem an die seit der Schöpfung vorhandene Ruhe für das Gottesvolk (4,3–5; vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 599). 41 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 312. 42 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 443. 43 Vgl. u. a. ELLINGWORTH, Hebrews, 677; SÖLLNER, Jerusalem, 177f. Anders jedoch RIGGENBACH, Hebräer, 413f., der den „Berg Zion“ und die „Stadt des lebendigen Gottes“
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die einzelnen Bilder („Berg“ und „Stadt“) durchaus auch unterschiedliche Assoziationen hervor und sind hinsichtlich ihrer möglichen speziellen Aussagefunktion unterscheidbar. „In the spiritual reality Mount Zion represents the strong divine foundation of the new Order, while the City of the Living God represents the social structure in which the Order is embodied. […] His Majesty and His Love are equally represented in the New Jerusalem.“44
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie letztlich nicht dennoch die gleiche himmlische Realität beschreiben, die himmlische Wirklichkeit Gottes.45 Anders als z. B. bei Paulus in Gal 4,21–31 lässt sich im Hebr jedoch nirgends ablesen, dass es ihm bei dem „himmlischen Jerusalem“ um ein überirdisches Gebilde mit einem irdischen Gegenspieler, wie z. B. das irdische Jerusalem, gehe.46 Vielmehr fügt sich diese Himmelsvorstellung in seine für ihn grundlegende vertikale Gegenüberstellung irdisch versus himmlisch harmonisch ein: „Im weiteren Sinn ist die himmlische πόλις dann schlechthin der Gegensatz zur irdischen Welt (vgl. 11,13), sie ist die Essenz dessen, was sich nach dem eschatologischen Selektionsvorgang als das ‚Unbewegliche‘ erweisen wird (12,27).“47 „Unbeweglich“ bleibt die himmlische Stadt, denn diese „hat ein Fundament, dessen Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (θεμελίους ἔχουσαν […] ἧς τεχνίτης καὶ δημιουργὸς ὁ θεός; 11,10; vgl. 11,16; 13,14). Mit dieser „Unerschütterlichkeit“ (vgl. βασιλεία ἀσάλευτος in 12,28) ruft Hebr bei seinen Adressaten gewiss das vertrauenerweckende Gefühl des Schutzes und der Sicherheit im Anblick antiker Stadtmauern hervor. Auch wenn es einen Schutz nach außen im Eschaton freilich nicht mehr braucht, passt dieser Aspekt ins Bild, ist doch die ganze himmlische Stadt wesentlich mit der Erhabenheit Gottes verbunden und ruht in dessen Gegenwart.48 Weiter als diese lokalen Angaben geht Hebr in der Beschreibung der himmlischen Stadt indes nicht. Das ist umso bemerkenswerter als doch die Architektur einer (antiken) Stadt – allen voran im römischen Reich – ganz wesentlich auf die Identität ihrer Bewohnerschaft einwirkte.49 Offensichtlich hält Hebr als zwei topografisch voneinander zu unterscheidende und einander zugeordnete Teile des himmlischen Jerusalems versteht. 44 W ESTCOTT, Hebrews, 415; ähnlich B ACKHAUS, Hebräerbrief, 443f. 45 Vgl. die ausführlichere Diskussion bei K IBBE, Godly, 162–181 sowie zur Stelle 191f. KOESTER, Hebrews, 544 bemerkt daher zu Recht, dass in der biblischen Tradition „Zion“ ohnehin sowohl als Bezeichnung eines Teiles Jerusalems als auch synonym für die ganze Stadt gebraucht werden kann. 46 Gegen R IGGENBACH, Hebräer, 414. 47 SÖLLNER, Jerusalem, 178. 48 Vgl. die Schilderung im zweiten sog. Nachtgesicht in Sach 2,5–9, nach der das neue Jerusalem offen sein soll mit Gottes Herrlichkeit in seiner Mitte und als feurige Mauer ringsum die Stadt herum. 49 Vgl. B ENDEMANN/TIWALD, Christentum, 19f. Rom nutzte die Um- und Neugestaltung der Städte in seinem Herrschaftsbereich zur regelrechten „Zivilisierung“ (BENDEMANN/TIWALD, Christentum, 20), wie gerade der Umbau Jerusalems zur römischen Colonia Aelia
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hierfür andere Faktoren für vordergründiger, wie sie sich nun anhand stärker sozialer Parameter für die Beschreibung der himmlischen Stadt ablesen lassen. b) Soziale Parameter – Die himmlische Stadt als Vollzug der Gottesbeziehung Für Hebr sind die Glaubenden nicht zu irgendeiner für sie wahllosen himmlischen Stadt unterwegs, sondern zu einer, der die Qualität eines „Vaterlandes“ (πατρίς) zukommt (11,14). Die Wanderschaft des glaubenden Gottesvolkes ist daher auf eigentümliche Weise zugleich durch den ungewissen, aber zielstrebigen Aufbruch einer Pilgerreise und durch die sehnsüchtige Rückkehr in die Heimat aus der Fremde geprägt. Beide Motive sind verbunden mit dem der „Fremdlingschaft“,50 durch die es hindurchzugehen bzw. aus der es herauszukommen gilt, auf dem Weg zum eigentlichen Ziel. Ein Zuhause kann der Mensch an vielen Orten haben, aber eine Heimat (πατρίς) gibt es nur einmal. Es ist der Ort seiner Abstammung, d. h. dieser Ort ist auch eng mit der familiären Zugehörigkeit verbunden.51 Und für Hebr ist unstrittig, zu welcher „Familie“ die Glaubenden gehören: zum Haus Gottes und seines Sohnes (3,6), der sie zu Kindern Gottes macht (2,10) und in ihre himmlische Heimat führt (12,2), nach der sie auf Erden vergebens suchen (11,13–16; 13,14). Die soziale Zugehörigkeit (bzw. die soziostrukturellen Parameter) waren für den antiken Menschen eine wesentliche, wenn nicht die bestimmende Größe. Neben den wichtigen sozial ordnenden Einheiten der Familie bzw. der Hausgemeinschaft tritt die der politischen. Mit Blick auf das Bild der Stadt für die Ekklesiologie des Hebr richtet sich der Fokus damit auf deren „Innenleben“, auf ihre Bewohnerschaft. Die ausführlichste Beschreibung findet sich dazu in 12,22b-24 im Anschluss an die drei lokalen Bestimmungen Berg, Stadt, Jerusalem (12,22a), die wir oben bereits untersucht haben. Dieses Innenleben des himmlischen Jerusalems umschreibt Hebr nun mit mehreren personalen Bestimmungen, die durch ein markantes καί voneinander unterschieden und miteinander verbunden werden.52 So „bewohnen“ das himmlische Jerusalem:
Capitolina nach dem Ende des jüdischen Krieges 70 n. Chr. unter Kaiser Hadrian zeigte. Als Vorlage für die Strukturierung einer römischen Stadt diente dabei das römische Militärlager (vgl. EBNER, Stadt, 46–48). 50 Vgl. LAUB, Bekenntnis, 257. 51 Vgl. LIDDELL/SCOTT, Lexicon, 1349. 52 Diese Struktur vollzieht sich in Analogie zur vorab geschilderten Theophanie am Sinai in 12,18–21, gleichsam die Negativfolie für die Darstellung der himmlischen Stadt in 12,22– 24.
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes V. 22b
V. 23
V. 24
μυριάδες ἀγγέλων πανήργρις
Myriaden an Engeln (eine) Festversammlung53
καί
und
ἐκκλησία πρωτοόκων ἀπογεγραμμένων ἐν οὐρανοῖς
Gemeinde der Erstgeborenen, der Aufgeschriebenen im Himmel
καί
und
κριτής θεὸς πάντων
Gott, Richter aller
καί
und
πνεύματα δικαίων τετελειωμένων
Geister der vollendeten Gerechten
καί
und
διαθήκης νέας μεσίτης Ἰησοῦς αἵμα ῥαντισμοῦ […]
[der] Mittler des neuen Bundes, Jesus (das) Blut der Besprengung […]
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Ein stringentes Gliederungsprinzip der Aufzählung ist möglich, aber nicht zwingend erkennbar.54 Die Zahl der darin enthaltenen eigenständigen Glieder – insgesamt sind es in 12,22–24 zehn textliche Elemente – und ihrer Anordnung in der kompletten Aufzählung werden unterschiedlich beurteilt. Vorgeschlagen werden meist sieben55, acht56 oder zehn57 eigenständige Glieder, die dann zusätzlich chiastisch58 und/oder in vier59 bzw. fünf60 thematisch zusammengefasste Paaren angeordnet werden können.61 Besonders die Sieben- und 53 Das in 12,22–24 syntaktisch auffällige, aber an dieser Stelle ausgesparte καί legt eine Zuordnung der πανήργρις als Apposition zu den μυριάδες ἀγγέλων wohl nahe (vgl. u. a. RIGGENBACH, Hebräer, 415f.; SEESEMANN, Art. πανήργυρις, 719; MICHEL, Hebräer, 463; ATTRIDGE, Hebrews, 375; HUGHES, Hebrews, 552f.; LANE, Hebrews II, 441f.; GRÄSSER, Hebräer III, 314; KOESTER, Hebrews, 545; BACKHAUS, Hebräerbrief, 443). Darüber hinaus sind grammatisch und sachlich weitere syntaktische Kombinationen in der Übersetzung von „καὶ μυριάσιν ἀγγέλων, πανηγύρει καὶ ἐκκλησίᾳ πρωτοτόκων“ mit entsprechenden inhaltlichen Nuancen möglich (vgl. umfassend HUGHES, Hebrews, 552–554 mit Lit., der allein sieben mögliche Deutungen diskutiert). So oder so markiert es die festliche Freude, die im Himmel herrscht (vgl. COCKERILL, Hebrews, 655f.). 54 Vgl. W EISS, Hebräer, 673. 55 Vgl. H UGHES, Hebrews, 553f. 56 So die Mehrheit der Ausleger wie z. B. W ESTCOTT, Hebrews, 414; M ICHEL, Hebräer, 462 mit Anm. 3; THEISSEN, Untersuchungen, 65; ATTRIDGE, Hebrews, 374 mit Anm. 47; GRÄSSER, Hebräer III, 311; BACKHAUS, Hebräerbrief, 443. 57 Vgl. STROBEL, Hebräer, 168f. 58 Vgl. K ARRER, Hebräer II, 337f. 59 Vgl. u. a. THEISSEN, Untersuchungen, 65; A TTRIDGE, Hebrews, 374 mit Anm. 47; BACKHAUS, Hebräerbrief, 443. 60 Vgl. STROBEL, Hebräer, 168f. 61 Sodann ist auch schwer zu beurteilen, ob das „Blut der Besprengung“ (12,24) als eigenständiges Glied zu bewerten ist – dafür würde das erneute καί sprechen – oder ob es als Zusatz zu Jesus, dem Mittler der neuen Heilsordnung gehört. So z. B. SÖLLNER, Jerusalem, 176f., der zwar insgesamt neun Aspekte in 12,22–24 zählt, diese dann aber in drei lokale
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Achtteilung ergeben syntaktisch und inhaltlich Sinn. Eine einseitige Entscheidung ist kaum zu treffen, und wenn doch, scheint mir die Aufteilung in vier thematisch zusammengehörige Paare die sinnvollste Variante zu sein. Doch vermutlich wartet Hebr inhaltlich hier nicht einmal mit allem auf, was er sagen könnte.62 Mit Blick auf ihren weiteren Kontext sind die Dativobjekte in 12,22b-24 freilich Teil des durch (ἀλλὰ) προσεληλύθατε (12,22a) eingeleiteten Polysyndetons und damit fester Bestandteil der konzentrierten Gegenüberstellung von alter und neuer Heilsordnung (12,18–29). Diese verbindet Hebr mit den beiden Bergen „Sinai“ (12,18–21) und „Zion“ (12,22–24), die dem eschatologischen Gericht Gottes unterworfen werden (12,25–29). Dabei wird allein die neue Heilsordnung, respektive der Berg Zion bzw. die himmlische Stadt Jerusalem, bestehen bleiben (12,27f.).63 Zwar wird der Name des irdischen Ortes in 12,18– 21 nicht erwähnt, doch der sprachliche und inhaltliche Bezug zu Israels Begegnung(en) mit Gott am Berg Sinai (Horeb) nach Ex und Dtn ist deutlich gegeben (vgl. u. a. Ex 19,12–25; 20,18; Dtn 4,11f.; 5,22; 9,19).64 Dass sich Hebr dabei nicht Wort für Wort an seine schriftliche Vorlage hält, ja in eigener Zielsetzung freier damit umgehen und auf das eigentliche, dem alttestamentlichen Bericht zugrunde liegende Ereignis rekurrieren kann, ist aufgrund diverser Abweichungen zur alttestamentlichen Vorlage deutlich.65 Unter Beachtung des generellen (heilsgeschichtlichen bzw. typologischen) Umgangs des Hebr mit dem Alten Testament sollte dies aber auch nicht weiter verwundern.66 Hebr konzentriert die Theophanie auf ihre, für die Menschen Respekt, ja sogar Furcht einflößende Wirkung durch die Begegnung mit dem heiligen, ganz anderen Gott. Nirgends ist jedoch eine Herabsetzung dieser Theophanie herauszulesen. Die Begegnung mit Gott am Sinai war – auch für Hebr – ein Ereignis sui generis, das aber aufgrund der Distanz zwischen Mensch und Gott zugleich etwas Schreckliches an sich hatte. Ohne Reinigung des Gewissens ist die zuversichtliche, oder wie Luther treffend übersetzt, die freimütige Begegnung mit Gott für Hebr nicht denkbar (vgl. dementsprechend 4,16; 10,22.35). Nicht anders verhielte es sich ja bei der Begegnung mit Gott, „dem Richter aller“ (12,23) am himmlischen Berg Zion, kehrten die Adressaten sich im Ungehorsam von ihm ab: „Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.“ (12,29). und (nur) fünf personale Bestimmungen unterteilt, wobei zu letzteren die „Myriaden“, die „Gemeinde der Erstgeborenen“, die „Geister“, „Gott“ sowie „Jesus“ zählen. 62 Vgl. das Fazit zu der auffälligen καί-Struktur in 12,18–24 bei K OESTER, Hebrews, 189: „Listeners experience a whirlwind of descriptive elements as the author lists item after item, giving the impression that many more could be added.“ Anders SÖLLNER, Jerusalem, 179: „[...] so ist dennoch offensichtlich, daß der Verfasser bei dieser Aufzählung sehr um Vollständigkeit bemüht war.“. 63 Vgl. die ausführliche Textübersicht bei SCHIERSE, Verheißung, 173–184. 64 Vgl. G UTHRIE, Hebrews, 988. 65 Vgl. z. B. LANE, Hebrews II, 460. 66 S. o. II.3.1.1.
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
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Die früheren Glaubensgenerationen, gerade auch jene unter der alten Heilsordnung, werden also durch diesen Vergleich vom freimütigen Eintritt in die himmlische Stadt gerade nicht aus, sondern vielmehr eingeschlossen, freilich (auch sie!) unter der Bedingung der Gewissensreinigung durch das hohepriesterliche Wirken des Sohnes. Das Ziel des gesamten Abschnitts ist somit ein durch und durch paränetisches, an dem sich auch die Darstellung der Theophanie am Sinai (ausschließlich) orientiert. Dabei ist diese Paränese nicht nur im Anschluss an die ethischen Mahnungen ab 12,14 oder an das Negativbeispiel Esaus in 12,17 zu verstehen. Denn letztlich ist ja der ganze Abschnitt die Begründung der Mahnung zum ausdauernden gehorsamen Glaubenswettlauf in 12,1 (vgl. das unscheinbare, aber sehr wichtige γάρ in 12,18), der sich im Schauen auf Jesus vollzieht (12,2f.) und sich in verschiedenen ethischen Weisungen konkretisiert (12,12– 16).67 Die Adressaten sollen daran erinnert werden, sich angesichts des drohenden Gerichts Gottes umso mehr im Glauben standhaft an das ihnen verheißene und durch Jesus eröffnete Heilsgut zu halten. Deshalb dürfen und sollen sie sich auch umso mehr ihrer Freimütigkeit vor Gott als vollgültige Bürger der himmlischen Stadt bewusst sein und aus dieser Gewissheit heraus ihren Glaubensweg im Lebensvollzug im „Heute“ bestreiten. Im Gegenüber zur furchterregenden Konfrontation mit Gott am irdischen Sinai löst seine himmlische Gegenwart am Zion bzw. im himmlischen Jerusalem für die, die sich freimütig in seiner Gemeinschaft aufhalten, auffallend viel Freude aus. Der ganze Abschnitt scheint thematisch durch das Motiv des „Festes“ dominiert zu werden. Backhaus deutet entsprechend die einzelnen Elemente in 12,22–24 als zu vier Themenpaaren zusammengefasste „Gesichtspunkte der Heilsbeschreibung“68 unter diesem Vorzeichen, indem er das himmlische Jerusalem als den „Ort“ des Festes, die Engelsmyriaden und die Versammlung der Erstgeborenen als „die Feiernden“ selbst, die Erwähnung Gottes als Richter und der Geister der vollendeten Gerechten als „Grund des Feierns“ sowie zum Abschluss Jesus, den Mittler und sein vermittelndes Blut als den „Zugang zur Feier“ versteht.69 Karrer nimmt zwar eine andere syntaktische Strukturierung des Textes vor, betont aber ebenso die Festfreude als leitenden Gedanken des Geschehens: „Ein großes Fest empfängt die Menschen, die zur kultischen Verehrung Gottes treten […]. Zehntausende Engel erwarten sie […]. Eine feierliche und festliche Begehung findet statt […].“70 Die ausgelassene Stimmung kommt vor allem im Gebrauch von πανήργυρις (12,22) als Bezeichnung der himmlischen Festgemeinschaft zum Ausdruck.71 Ähnlich KOESTER, Hebrews, 550. BACKHAUS, Hebräerbrief, 443. 69 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 443. 70 K ARRER, Hebräer II, 336. 71 Vgl. zur überwiegend festlichen, freudigen Konnotation von πανήγυρις SPICQ, Panégyrie, 31: „La panégyrie est une assemblée solennelle pour la célébration d’une fête.“ 67 68
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Dass zu einer solchen „Versammlung des ganzen Volkes bes[onders] zu kultischen Anlässen u[nd] Feiern“72 im paganen Umfeld oft auch Praktiken zur Verehrung heidnischer Götter gehörten, dürfte in der LXX wohl zu einem eher negativen Gebrauch dieses ohnehin nur spärlich verwendeten Ausdrucks geführt haben, da Gott eine andere Art des Festgottesdienstes für sich wünscht (vgl. Hos 2,13; 9,5; Am 5,21; positiv hingegen in Ez 46,11). Doch davon ist im Hebr nichts zu spüren. Er knüpft sprachlich an die natürliche Umwelt seiner Adressaten (zumindest seiner heidenchristlichen) an und ruft ihnen die ausgelassene Stimmung einer solchen antiken Festversammlung vor Augen.73 Anders als durch und durch belebt ist das Miteinander in der „Stadt des lebendigen Gottes“ (12,22) auch gar nicht zu denken. Diese Gemeinschaft besteht in doppelter Weise: Zunächst verbindet sie Gottes Geschöpfe (himmlische wie irdische) miteinander. Es ist allerdings exegetisch umstritten, ob sich die Beschreibung der Bevölkerung des himmlischen Jerusalems in 12,22–24 ausschließlich auf himmlische Dinge, d. h. Engelswesen und möglicherweise auch auf bereits verstorbene Menschen bezieht oder aber, ob mit einzelnen Gliedern der Aufzählung auch irdische Wesen, d. h. gegenwärtig auf Erden lebende Menschen, gemeint sind.74 Diskutiert wird dabei insbesondere die Deutung der ἐκκλησία πρωτοτόκων ἀπογεγραμμένων ἐν οὐρανοῖς (12,23).75 Für diese „Versammlung der Erstgeborenen“ gibt es von alters her vielfältige Vorschläge, die u. a. von einer besonderen Engelsklasse,76 über Glaubende unter der ersten Heilsordnung,77 herausragende Christen der ersten Generation78, gegenwärtig lebende Christen,79 die neutestamentliche Gemeinde als solche,80 bis hin zur Gemeinschaft aller Glaubenden als ganze reichen.81 SEESEMANN, Art. πανήργυρις, 718. die Belege in paganen Texten bei BRAUN, Hebräer, 436f. Dass πανήγυρις auch als Bezeichnung für Sportwettkämpfe (vgl. Philo, Agr. I,12.117; Embassy I,12; bei Platon, hipp. min. 363c oder Xenophon, hell. VII 4,28 sogar ausdrücklich für die olympischen Spiele) Verwendung fand, passt zum Motiv des Wettlaufs in 12,1, das auch für 12,22–24 noch ausschlaggebend ist (vgl. BACKHAUS, Hebräerbrief, 445). 74 Für die homogen himmlische Variante plädieren z. B. K ÄSEMANN, Gottesvolk, 28; SPICQ, Hébreux II, 407; LÖHR, Umkehr, 258, Anm. 623; GRÄSSER, Hebräer III, 314–321, für eine heterogen himmlisch-irdische Variante hingegen RIGGENBACH, Hebräer, 414; BERGER, Volksversammlung, 194f.; WEISS, Hebräer, 679f.; ELLINGWORTH, Hebrews, 679f.; KARRER, Hebräer II, 337; BACKHAUS, Hebräerbrief, 446 u. a. 75 In diesem Zuge steht auch oft die Deutung der πνεύματα δικαίων τετελειωμένων zur Debatte. Deren Untersuchung erfolgt später (s. u. II.4.3 ab S. 241). 76 Vgl. K ÄSEMANN, Gottesvolk, 28; G RÄSSER, Hebräer III, 316f. 77 Vgl. B ENGEL, Gnomon, 136. 78 Vgl. bereits Ephräm d. Syrer (4. Jh.) in seinem Kommentar zum Hebr (vgl. HEEN/KREY, Hebrews, 224), dann aber auch BLEEK, Hebräerbrief, 481. 79 Vgl. B RAUN, Hebräer, 437. 80 Vgl. R IGGENBACH, Hebräer, 415. 81 So schon C HRYSOSTOMUS, Hom.Hebr. 32.1.18–24. 72
73 Vgl.
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Am sinnvollsten scheint es, zur Beurteilung dieser Frage auf Hebr selbst zu hören. Nach 1,6 ist Jesus als Sohn der „Erstgeborene“ (πρωτότοκος).82 Dass πρωτότοκος in 1,6 ausdrücklich zur Unterscheidung des Sohnes von den Engeln dient, macht eine Anwendung des Wortes auf letztere in 12,22 äußerst unwahrscheinlich.83 Denn vor ihm, dem Erstgeborenen, sollen alle Engel anbetend niederfallen (προσκυνεῖν). Und weil der Erstgeborene seine himmlische Herrlichkeit verlassen hat (2,7), um durch sein hohepriesterliches Sühnewirken „viele Söhne“ zu dieser Herrlichkeit zu führen, d. h. Teilhaber an seinem Stand zu sein (2,10), müssen die Engel jenen dienen. Ob Hebr dabei auch typologisch an das alttestamentliche Israel denkt, das Gott als seine „Erstgeborenen“ aus Ägypten befreit (Ex 4,22LXX; vgl. Jer 31,9; Hos 11,1), ist denkbar, aber nicht zwingend. Ausschlaggebend für die Deutung ist zudem der Zusatz „aufgeschrieben im Himmel“ (ἀπογεγραμμένος ἐν οὐρανοῖς). Die Wendung dürfte auf dem Hintergrund alttestamentlicher Eschatologie für einen Schrifttheologen wie Hebr zu eindeutig geprägt sein, als dass er nicht (auch) an die von Gott als gerecht befundenen Menschen denken könnte, die nach Dan 12,1 im eschatologischen Gericht gerettet werden (vgl. ebenso Ex 32,32f.; Ps 69,29; Jes 4,3; ferner Ez 13,9; Ps 87,6). Dieses eschatologische Motiv war im frühen Christentum breit verankert (vgl. Lk 10,20; Phil 4,3; Offb 3,5; 13,8; 17,8; 20,15; 1 Clem 53,4; Herm. Vis. I 3,2; Herm. Sim. II 1,9).84 Die im Himmel Aufgeschriebenen sind also in den Stand der Erstgeburt erhoben und damit die Miterben des Sohnes (vgl. 1,2; 6,12.17; 9,15; 11,7.8.9), denen die Engel zu dienen ausgesandt sind (1,14). Umso mehr gilt den Adressaten die Warnung, diesen schriftlichen Eintrag nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, hat sich Esau ja gerade durch den Verkauf seines Erstgeburtsrechts in seiner Untreue zu Gott erwiesen und keine Gelegenheit zur Buße mehr gefunden (12,17). Allerdings würde eine ausschließliche Beschränkung auf gegenwärtig lebende Menschen auch zu kurz greifen,85 denn die Beschreibung in 12,22–24 ist nun einmal auf ein himmlisches Geschehen bezogen.86 Letztendlich erscheint mir die breiter gefasste Deutung der ἐκκλησία πρωτοτόκων in Verbindung mit dem Sohn als dem Erstgeborenen und damit als Ausdruck für die Gesamtheit aller Glaubenden,
82 Der dritte Beleg von πρωτοτόκος in 11,28 ist ohne weitere theologische Relevanz zu vernachlässigen, da hier eindeutig die geschichtlich konkreten erstgeborenen Kinder und Tiere der versklavten Israeliten in Ägypten gemeint sind. 83 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 655; anders G RÄSSER, Hebräer III, 316f. 84 Vgl. M ICHEL, Hebräer, 464f. 85 So aber z. B. W ESTCOTT, Hebrews, 417; R IGGENBACH, Hebräer, 414f. 86 So in der Tat völlig richtig der Einwand derer, die hinter der ἐκκλησία πρωτοτόκων Engel vermuten (vgl. z. B. GRÄSSER, Hebräer III, 315; LÖHR, Umkehr, 258, Anm. 623; aber auch WEISS, Hebräer, 678f.).
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die auf ebendiesen als den „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (12,2) schauen, am wahrscheinlichsten.87 Wie es auch sei, die Szenerie „bleibt […] eigentümlich ‚in der Schwebe‘ zwischen Himmel und Erde“88. Aber genau das scheint ja gerade zur zwischenzeitlichen und zwischenräumlichen Wirklichkeit des „Heute“ der Glaubenden zu passen – zum paradoxen Zugleich der Heilswirklichkeit der Glaubenden als schon im Himmel aufgeschrieben und noch auf Erden wandernd und zur Gemeinschaft dieser Glaubenden über die Grenzen lebender Generationen hinweg.89 Denn es ist ja der Glaube wesenhaft etwas, was sich im Hier und Jetzt realisiert, stets in der Ausrichtung auf das Unsichtbare, Zukünftige (11,1). Wie genau sich Hebr die Teilhabe der irdisch lebenden Glaubenden, die zu dieser Festversammlung „hinzugetreten sind“ (12,22), gerade im Blick auf die zeitliche Dimension vorstellt, danach wird freilich noch zu fragen sein.90 Wie dem auch sei, Hebr trifft den Kern der Sache mit seiner Wahl des Wortes πανήργυρις einmal mehr, da ein wesentliches Merkmal der damit bezeichneten Gemeinschaft sowohl in der hohen Quantität, aber auch in der Pluralität der Festteilnehmer besteht.91 Keine irdischen Kriterien entscheiden über die Teilnahme der Feiernden, denn diese sind nun andererseits auf Gott selbst ausgerichtet. Ausdrücklich werden auch Gott und Jesus selbst zu den „Bewohnern“ der Stadt gezählt.92 Doch obwohl Gott und sein Sohn hier in einer Reihe mit den übrigen Feiernden genannt werden, sind sie dennoch nicht einfach in diese einzuebnen – gerade im Blick auf das Bild der (himmlischen) Stadt. „Städte beschreiben in der Regel Räume, die in irgendeiner Weise Herrschaftsstrukturen implizieren […].“93 Solche politischen Parameter sind auch in der Vorstellung des Hebr bestimmend, beschreibt er das „Himmlische“ ja immer wieder als Herrschaftssitz Gottes und seines zu seiner Rechten inthronisierten Sohnes (1,3.8; 4,16; 8,1; 12,2; vgl. zudem das Bild vom pater familias in 3,4–6).94 Legt man dem Abschnitt 12,22–24 eine chiastisch-konzentrische Struktur zu Grunde, steht Gott auch formal als der eigentlich Fluchtpunkt im Zentrum der Aufzählung, bildhaft ausgedrückt inmitten seines himmlischen 87 Vgl. B RUCE, Hebrews, 359; O’B RIEN, Church, 96f. STOLZ, Höhepunkt, 148 spricht von der „zur Begegnung mit dem herabkommenden göttlichen Endrichter uns seinem erscheinenden Sohn hinzugerufene und auserwählte Heilsversammlung“. Dies würde auch für ihn freilich die atl. Glaubenszeugen mit einschließen (vgl. STOLZ, Höhepunkt, 161), wie es aufgrund von 9,15 ohnehin naheliegt. 88 W EISS, Hebräer, 679. 89 Vgl. ähnlich B ACKHAUS, Hebräerbrief, 442. 90 S. u. II.4.2. 91 Vgl. SPICQ, Panégyrie, 30f.; vgl. zudem K ARRER, Hebräer II, 336. 92 Vgl. SÖLLNER, Jerusalem, 179. 93 B ENDEMANN/TIWALD, Christentum, 16. 94 SÖLLNER, Jerusalem, 187 weist zwar zu Recht daraufhin, dass in 12,22–24 die Herrschaft Gottes nicht ausdrücklich Erwähnung findet, aber den Gedanken hier auszuklammern, setzt eine zu isolierte Betrachtung des Abschnitts vom Gesamtschreiben voraus.
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Hofstaates.95 Ist Gott der Herrscher der Stadt, so die „Bewohner“ im politischen Stand des Bürgerrechts. Dieser Aspekt schwingt besonders im der Rede von der ἐκκλησία (πρωτοτόκων) in 12,23 mit, die hier wohl weniger im „lokalkirchlichen“ Sinn gebraucht sein dürfte, sondern eher als rechtliche Versammlung all derer, die das Bürgerrecht des himmlischen Jerusalems besitzen.96 Freilich ist ἐκκλησία hier zugleich auch gedacht als „gottesdienstliche Zusammenkunft [...] und als solche eine Stätte freimütiger Freude“97. Dass Gott und sein Sohn Jesus zu den feiernden Bewohnern der Stadt zählen zeugt darüber hinaus von einer weiteren zweifachen Zuordnung: Zum einen von dem Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, das im Hebr als „Glauben“ umschrieben für den Eintritt in die himmlische Stadt ja grundlegende Voraussetzung ist. In der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott in der himmlischen Stadt erfährt der Glaube seine eigentliche Verwirklichung. In Anlehnung an Paulus formuliert (vgl. 2 Kor 5,7): Das Beziehungsgeschehen als „geglaubte“ Realität verliert sein Wagnis und wird zur „geschauten“ Realität (vgl. auch 1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2). Zum anderen korreliert eben dieses Beziehungsgeschehen mit den beiden Appositionen, die Gott und Jesus in 12,23f. näher erläutern. Denn vor „Gott, dem Richter aller“ (12,23; vgl. auch 6,2; 9,27; 10,27.30; 13,4; ferner 4,12), kann ja allein der bestehen, der im und aus Glauben Gerechtigkeit bezeugt bekommt (10,38f.). Hier spielen nun auch juridische Parameter für die Vorstellung von der himmlischen Stadt eine Rolle.98 Für die Frage, wer oder was sich hinter dem Genitiv Plural πάντων in 12,23 verbirgt, gibt es im Wesentlichen drei Antwortmöglichkeiten. Im engsten Sinne können damit nur die bisher genannten Bewohner der Stadt gemeint sein (12,22f.). Das ist jedoch unwahrscheinlich, da man dann wohl ein zusätzliches Pronomen (z. B. ἐκεῖνος oder οὗτος) hätte erwarten können.99 Sodann ist eine Ausweitung auf alle Menschen bzw. Geschöpfe möglich und inhaltlich durchaus sinnvoll. Allerdings korrespondiert das Richten Gottes mit dem kosmischen Endgericht, wie es in den folgenden Versen beschrieben wird (12,25–29). Hierbei werden nicht nur Menschen bzw. belebte Geschöpfe „erschüttert“ (σαλεῦειν), sondern die gesamte geschaffene Wirklichkeit, d. h. alles, was Gott gegenübersteht (12,26).100 Dies würde somit eine Deutung von „aller“ in einem weitesten Sinne nahelegen, wonach πάντων
Vgl. KARRER, Hebräer II, 340. Vgl. SPICQ, Panégyrie, 31; BERGER, Volksversammlung, 194–196; BACKHAUS, Hebräerbrief, 445f. u a. 97 B ACKHAUS, Hebräerbrief, 445f. 98 Auch das sollte nicht verwundern, da die Stadt als sozialstrukturelle und politische Größe immer auch die Frage nach ihrer juridischen Organisationsform aufwirft, an die Hebr hier anknüpft. 99 Gegen G RÄSSER, Hebräer III, 318f. 100 Vgl. STROBEL, Hebräer, 170: „Zweifellos blickt die Aussage [12,23b; Anm. A. H.] auf die Vollendung als eine nicht nur persönliche, sondern allgemeine Wirklichkeit.“ 95 96
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als Neutrum zu verstehen sei und „alle Dinge“, d. h. alles Geschaffene meint. Sprachlich fügt sich diese Möglichkeit im gesamten Hebr gut ein und schlägt eine Brücke zurück zum Eingangsteil des Briefes, der die Herrschaft des inthronisierten Sohnes über „alle Dinge“ preist (1,3; 2,8.10), die ihm als Sohn zum Erbe bestimmt sind (1,2; vgl. auch 3,4). Nach 2,8c ist diese universale Herrschaft des Sohnes über „alle Dinge“ noch nicht „für uns“ sichtbar (Νῦν δὲ οὔπω ὁρῶμεν αὐτῷ τὰ πάντα ὑποτεταγμένα). Das Schauen (nicht das Glauben!) der Herrschaft des Sohnes über „alle Dinge“ tritt erst mit dem eschatologischen Gericht Gottes über „alle[n] Dinge[n]“ ein (vgl. 2 Kor 5,7). Gott ist der Richter aller geschaffener Wirklichkeit. Es gibt für Hebr keine Neutralität vor Gott. Damit ist Gott natürlich auch Richter derjenigen Menschen, die sich ihm im Glauben nahen (11,6) und in der himmlischen Stadt Jerusalem Ruhe in seiner Freude bringenden, ungetrübten Gegenwart suchen und finden. Das geschieht voll-, end- und letztgültig für Hebr aber einzig durch die Reinigung des Gewissens, welche das hohepriesterliche Selbstopfer des „Mittlers Jesus“ (12,24a), als die gehorsame Hingabe seines einzigartigen „Blutes“ (12,24b), erwirkt (9,14; 10,22). Wer sich im „Schauen auf Jesus“ (12,2) als Glaubender Gott nähert (11,6) hat letztlich keinen Grund zum Zweifeln, sondern soll freimütig in seine Gegenwart treten (4,16; 10,22). Insofern greift der Versuch Martin Karrers,101 Hebr 12,22–24 als neutestamentliches Zeugnis für eine über die christliche Gemeinschaft hinausgehende „Religionstheologie“102 aufgrund einer „Begegnung der christlichen Gemeinde am himmlischen Zion mit Menschen aus Israel und den Völkern, die in ihrem Glauben und ihrer Gerechtigkeit zur Vollendung bei Gott gelangten, ohne zur Kirche zu gehören“ 103, (auch hier) zu weit. Die Gemeinschaft in 12,22–24 ist zwar durch den Glauben konstituiert und sprengt irdische Schranken, sodass das Bestreben, historisch einseitig gewachsene Ausdrücke wie „Kirche“ als quasi Gemeinschaft von Heidenchristen hier zu problematisieren, seine volle Berechtigung hat. Dass die in 12,22–24 beschriebene Gemeinschaft aber im himmlischen Jerusalem und damit in der Gemeinschaft Gottes besteht, verdankt sich allein des unumgänglichen Sühnewirkens des Mittlers Jesu. Jeder Versuch, der über diese Christozentrik hinausgeht, bleibt für Hebr undenkbar. Freilich wird noch weiter zu fragen sein, wie sich gerade auch die alttestamentlichen Zeugen bzw. auch „ganz Israel“ eschatologisch aus Sicht des Hebr zu dieser Christozentrik verhalten.
Dass Jesus bzw. ausdrücklich seine sühnewirkende Funktion an letzter Stelle als Klimax der Aufzählung steht, rückt die Beschreibung der himmlischen Stadt nicht zuletzt deutlich in eine Betrachtungsweise unter religiösen Parametern. Das Motiv der πανήγυρις gibt diesen Bedeutungsaspekt ohnehin vor, da jene (antiken) Festversammlungen stets religiös aufgeladen waren und meist
Vgl. KARRER, Hebräer II, 346f. KARRER, Hebräer II, 347. 103 K ARRER, Hebräer II, 347. 101 102
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zu Ehren bestimmter Götter abgehalten wurden.104 Im Zentrum steht – auch formal – das Sich-Versammeln um Gott, dem die Feiernden ausgelassen huldigen. Diese himmlische Festversammlung ist also keineswegs zweckfrei, sondern durch und durch zielgericht. Sie ist „nicht bloß durch ihren Ort und das Entnommensein aus dem Bereich des Irdischen, sondern ebenso durch ihre Funktion geeint […]: Sie ist die zum kultischen Dienst zusammengetretene Festversammlung, die ihrem Herrn die Liturgie ihres Lobes bringt.“105
Dieser „wahre Gottesdienst“ (9,14), gestiftet durch das Blut Jesu, verbindet die Szenerie mit der Rede von der neuen Heilsordnung. Ohnehin zeigt die Gegenüberstellung von Sinai und Zion/Jerusalem in 12,18–29 (unter Beachtung seines Kontextes) deutliche Parallelen zur Gegenüberstellung von alter und neuer Heilsordnung mithilfe des Zitats aus Jer 31(38 LXX),31–34 in 8,7–13. Beide Abschnitte stellen das Alte/Irdische dem Neuen/Himmlischen nach einem miteinander vergleichbaren Schema gegenüber: Hebr 8,7–13 Suche nach besserem τόπος zur Sündenvergebung Bundesschluss (am Sinai) Neue Heilsordnung
Dahinschwinden des Alten
Hebr 12,16–29 8,7–8
Aussichtslosigkeit des Alten/Irdischen
12,16– 17
Kein τόπος zur Buße (für Esau)
8,9
Nicht (mehr) das Alte/Irdische
12,18– 21
Theophanie (am Sinai)
8,10–12
Sondern das Neue/Himmlische
12,22– 24
Zion/himml. Jerusalem
8,13
Wirkmächtiges Urteil Gottes (λέγειν/λαλεῖν)
12,25– 29
Erschütterung des Irdischen
Durch die formale Analogie sowie die sachliche Verbindung von 12,22–24 zum Motiv der neuen von Gott gestifteten Heilsordnung (8,7–13) schwingen sogar die auch bereits erwähnten Parameter der Bildung/Erziehung mit. Denn ein wesentliches Merkmal der neuen Heilsordnung ist die unmittelbare Gotteserkenntnis, ohne die Notwendigkeit der gegenseitigen Ermahnung (8,11). Doch viel vordergründiger als dieser in 12,22–24 allenfalls mitgedachte Aspekt ist die Verbindung zum Sühnewirken des Sohnes am himmlischen Heiligtum, durch das er den Glaubenden die neue (bessere) Heilsordnung bzw. den Eintritt in die himmlische Stadt „vermittelt“ (vgl. μεσίτης in 8,6; 9,15; 12,24). 104 Vgl. LIDDELL/SCOTT, Lexicon, 1297 sowie SPICQ, Panégyrie, 34–36 mit den dort aufgeführten Belegen. 105 K ÄSEMANN, Gottesvolk, 46.
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Es ist zwar richtig, dass Hebr in seiner Beschreibung der himmlischen Stadt in 12,22–24 das himmlische Heiligtum (ἅγια) nicht ausdrücklich erwähnt,106 doch die einschlägigen Stichwortverbindungen zu den entsprechenden Passagen im Hebr sprechen eindeutig dafür, dass die himmlische Stadt zumindest mit den theologischen Gedanken, die sich mit dem Bild des himmlischen Heiligtums verbinden, zusammen gedacht wird:107 Das himmlische Jerusalem ist die Stadt des „lebendigen Gottes“ (θεοῦ ζῶντος; 12,22), dem zu dienen (εἰς τὸ λατρεύειν θεῷ ζῶντι; 9,14; vgl. 3,12; 10,31) das Ziel der Gewissensreinigung durch das Blut Jesu ist (9,11–15). Das Stichwort des „Blutes der Besprengung“ (αἵματι ῥαντισμοῦ; 12,24) ist durch seine eigenständige Stellung in der Aufzählung in 12,22–24 besonders hervorgehoben und spannt den Bogen zu den breit angelegten Ausführungen zum Sühnewirken Jesu als himmlischer Hohepriester besonders im neunten und zehnten Kapitel (vgl. vor allem 9,12.13.19.21; 10,19.22). Ohne dieses einzigartige Blut kann es keine Sündenvergebung geben (10,4), welche die Grundlage der neuen Heilsordnung und damit der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott ist (8,12). Da es der Sohn Jesus ist, der durch seine „blutige“ Selbsthingabe diese Grundlage gestiftet hat (7,22; 8,6; 9,15), ist es nur folgerichtig, dass er in 12,24 noch einmal in seiner Funktion als „Mittler der neuen Heilsordnung“ als Teil der himmlischen Stadt und ihrer Festgemeinschaft genannt wird.108 Die dafür jeweils gebrauchten unterschiedlichen Wendungen in 7,22 (κρείττονος διαθήκης […] ἔγγυος), 8,6 (κρείττονός […] διαθήκης μεσίτης), 9,15 (διαθήκης καινῆς μεσίτης) und auch in 12,24 (διαθήκης νέας μεσίτῃ) dürften, gerade weil hier ein und derselbe Sachverhalt ausgedrückt wird, letztlich weitgehend stilistische Variationen sein, die zwar eigene Bedeutungsnuancen mit sich bringen, aber keinen völlig abweichenden inhaltlichen Mehrwert.109 Damit greifen Überlegungen, wie die von Gert J. C. Jordaan, völlig daneben, der hinter διαθήκη νέα in 12,24 quasi einen weiteren, universalen Bundesschluss vermutet. 110 Dieser beziehe sich, so Jordaan, nicht allein auf Israel (das sei die διαθήκη καινή), sondern auf die ganze Menschheit (deshalb der Verweis auf Abel). In seiner Argumentation ignoriert Jordaan dabei jedoch zum einen, dass Hebr nicht nur die Adjektive καινός und νέος zur Beschreibung des „Neuen“ verwendet, sondern auch κρεῖττον (7,22; 8,6) und αἰώνιος (13,20), wobei dann völlig offenbliebe, welcher der beiden „neuen“ Diatheken diese Attribute dann Vgl. u. a. SÖLLNER, Jerusalem, 187; Frey, Himmels-Botschaft, 203. Vgl. KIBBE, Godly, 173f.: „The various elements one finds at Zion in Heb 12:22–24 so closely parallel the main points of those preceding chapters that one can hardly avoid looking back to see how this place called ‚Zion‘ relates to the sacred space with which the author has been dealing up to this point.“ 108 Der Versuch, das „Blut der Besprengung“ in 12,24 nicht als das Blut Jesu zu verstehen, muss mit Blick auf den Gesamtkontext des Hebr scheitern. Was sonst sollte es ernsthaft für Hebr sein? 109 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 376. 110 Vgl. JORDAAN, Gert J. C.: Some reflections on the „new covenant“ in Hebrews 12:24, IDS 50/4 (2016), 1–8. 106 107
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
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zugeordnet werden müssten. Zum anderen ist die neue Heilsordnung geprägt von einer Kontinuität (erneuert) und Diskontinuität (neu) zum „Alten“ zugleich. Es laufen nicht zwei neue Heilsordnungen parallel nebeneinander, wonach Jesus dann quasi einmal für Israel und einmal für alle Menschen gestorben wäre. Solche künstlichen, bundestheologischen Spekulationen liegen dem heilsgeschichtlichen Denken des Hebr fern.
Der Fokus liegt auf dem Resultat der Mittlerschaft Jesu: „[… W]ie an allen genannten Stellen besteht die Neuheit des Neuen Bundes auch hier [in 12,24; A. H.] darin, daß er der end-gültige Sündenvergebungsbund ist […].“111 Dank dieser Sündenvergebung können die Glaubenden die himmlische Stadt überhaupt betreten. 4.1.3 Zwischenbilanz: Die himmlische Stadt als Ziel des glaubenden Gottesvolkes und als Ort seiner Vereinigung Die Rede von der „himmlischen Stadt“ bzw. dem „himmlischen Jerusalem“ bietet für die Adressaten des Hebr ein vielschichtiges Bild, um der Vorstellung ihres abstrakten eschatologischen Ziels Leben einzuhauchen. Dieses Bild ist daher Teil der Himmelsmetaphorik im Hebr als ganzer, um das gedanklich und sprachlich greifbar zu machen, was nur im Glauben ergriffen werden kann. Das vielschichtige Bedeutungsspektrum der himmlischen Stadt ist dabei besonders geeignet, die für unsere Frage nach einem Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk aus Sicht des Hebr entscheidenden Gedankengänge zu Soteriologie, Pisteologie, Ekklesiologie sowie Eschatologie harmonisch miteinander zu verbinden. Denn jene an anderer Stelle ausgeführten Gedanken und die dabei verwendeten sprachlichen Bilder (z. B. Pilger- bzw. Wanderschaft) sind in der Fülle der direkt benannten oder indirekt hervorgerufenen Assoziationen, die wir unter Zuhilfenahme verschiedener Parameter für die (himmlische) „Stadt“ festgestellt haben, äußerst anschlussfähig. Aber, auch das muss hier noch einmal betont werden: Die himmlische Stadt ist für Hebr dabei keine rein metaphorische Größe. Der „Himmel“ ist die reale Wirklichkeit Gottes, die durch das Bild der Stadt eine konkrete Vorstellung erhält. Doch ist, wie wir bei der Untersuchung des Wirklichkeitsverständnisses gesehen haben, ihre für die Glaubenden im „Heute“ greifbare Existenz immer zugleich „nur“ eine zukünftige. Daher stellt sich für das folgende Kapitel die nun entscheidende Frage, wie sich Hebr den Zugang zu dieser „künftigen Stadt“ und ihrem „Heilsgut“ vorstellt – sowohl für die gegenwärtig lebenden Glaubenden als auch für all jene, die sich bereits auf dem Weg dorthin befinden. Denn ihr gemeinsamer Eintritt in die Stadt ist das, was Hebr seinen Adressaten als den Höhepunkt des Heilsplanes Gottes vor Augen geführt hat (11,40).
111
GRÄSSER, Hebräer III, 321 (Herv. v. Vf.).
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
4.2 Der Zugang zur Vereinigung Mit der Frage nach dem eschatologischen Zugang zur himmlischen Stadt und damit zum Ort der Vereinigung der Glaubenden gelangen wir an den Kern der Sache unserer bisherigen Untersuchungen. Denn hier scheint sich auch alles Ringen um den Ort von Juden und Christen in Gottes Heilsplan zu entscheiden: Wer gelangt denn nun wann und wie in die himmlische Stadt und damit in die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott – die κατάπαυσις?112 Bevor wir uns dieser entscheidenden Frage zuwenden, ist es ratsam, sich noch einmal die Ausgangslage aufgrund der bisherigen Ergebnisse bewusst zu machen, um so das Profil der sich daraus ergebenden Fragen für den „Abschluss“ des Heilsplanes Gottes zu schärfen. 4.2.1 Wer tritt wann ein? – Inhaltliche und methodische Zwischenbemerkungen Wie wir gesehen haben, stellt Hebr in 11,40 eine Bedingung für die Vollendung des Gottesvolkes auf: Der gemeinsame Eintritt in die himmlische Stadt, d. h. die Vereinigung aller Glaubensgenerationen, die Gott als das „Bessere für uns [alle]“ vorgesehen hat. Wenn die Vereinigung aller Glaubensgenerationen die Bedingung für die Vollendung des ganzen glaubenden Gottesvolkes ist, stellt sich wiederum die Frage, wie sich diese Vereinigung zeitlich zum Reden Gottes im Sohn und dem damit eröffneten Zugang in die Gemeinschaft Gottes verhält. Bisher sind die Glaubensgenerationen miteinander auf ihrer Glaubensreise hin zur künftigen Himmelsstadt unterwegs und blicken dabei in dieselbe Richtung, ihrem „Anfänger und Vollender“ Jesus hinterher. Aber sie sind noch nicht gemeinsam eingetreten. So formuliert es Hebr zumindest deutlich an all jenen Stellen, die das „Noch-nicht“ der Vollendung betonen (vgl. 11,10.13– 16; 39f.; 13,14). Weil die Vollendung der Glaubenden (erst) mit dem eschatologischen Eintritt in ebendiese Gemeinschaft end-, letzt- und vollgültig vollzogen werden wird, dieser aber noch aussteht, muss auch die eigentliche Vereinigung im Zuge dieser Vollendung noch ausstehen. Dieser generelle eschatologische Vorbehalt für das ganze glaubende Gottesvolk steht nun in deutlicher Spannung zu jenen Aussagen im Hebr, die einen bereits erfolgten oder gegenwärtig möglichen Zugang in die himmlische Wirklichkeit, zumindest Einiger (!) des glaubenden Gottesvolkes, nahelegen. So spricht Hebr allen voran in 12,22 im Perfekt davon, dass „ihr“ zur himmlischen Festversammlung „hinzugetreten seid“ (προσεληλύθατε) – und zwar u. a. auch zu den „Geistern der vollendeten Gerechten“ (12,23). Wen meint Hebr hier?
112 Letztlich ist der Blick auf diesen „Endpunkt“ ja auch das, was Leser der Gedanken des Paulus in Röm 9–11 umtreibt – dort mit der quälenden Diskussion um das πᾶς Ἰσραήλ in Röm 11,26, das am Ende gerettet werden soll.
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Und wie ist sowohl jenes „Hinzugetreten-Sein“ als auch dieses „vollendet“ auf dem Hintergrund des Wirklichkeitsverständnisses des Hebr zu verstehen? Um diesen Fragen nachgehen zu können, ist es an dieser Stelle entscheidend, sich bewusst zu machen, dass Hebr zwar im Ganzen von dem einen glaubenden Gottesvolk spricht, dabei aber an einzelnen Stellen auf verschiedene „Teile“ oder „Gruppen“ innerhalb dieses glaubenden Gottesvolkes abzielen kann. Die Herausforderung für unsere Frage nach dem Zugang zur himmlischen Stadt besteht darin, genau zu unterscheiden, von wem eigentlich wann und wie die Rede ist. Wie wir gesehen haben, ist das Reden Gottes im Sohn der entscheidende „Wendepunkt“ im sowohl zeitlichen als auch räumlichen Wirklichkeitsverständnis des Hebr und somit auch für sein Verständnis vom glaubenden Gottesvolk. Nimmt man das Reden Gottes im Sohn als das für Hebr entscheidende Ereignis ernst, das die Wirklichkeit in ein „Vorher“ (πάλαι) und ein „Nachher“ (ἐπ᾽ ἐσχάτου) einteilt, kann Hebr auf (I) das ganze glaubende Gottesvolk aller Generationen zu allen Zeiten, auf (II) die alttestamentlichen Glaubenden bzw. die Generationen vor dem Reden Gottes im Sohn oder auf (III) die neutestamentlichen Glaubenden bzw. die Generationen nach dem Reden Gottes im Sohn abzielen. Bedingt durch seine eigene (heils-)geschichtliche Situation könnte Hebr bei letzterem zudem noch zwischen (IV) der bzw. den ihm und seinen Adressaten vorausgegangenen Generation(en) nach dem Reden Gottes im Sohn – d. h. die bereits verstorbenen Glaubenden – und (V) der dem Hebr und seinen Adressaten zeitgenössischen Generation nach dem Reden Gottes im Sohn unterscheiden. Hier wären Hebr und seine Adressaten aus ihrer Perspektive dann freilich selbst mit inbegriffen. Die letzte Gruppe (V) ist de facto auch diejenige, mit der sich Glaubende seit dem Hebr bis heute identifizieren müssten, da sie sich in derselben (heils)geschichtlichen Situation des „Heute“ wie Hebr und seine Adressaten befinden. Sie leben nach Gottes Reden im Sohn, aber vor dem Eschaton, wobei sie auf die bereits verstorbenen alttestamentlichen Glaubensgenerationen und auf bereits verstorbene neutestamentliche Glaubensgenerationen vor ihnen – und damit auch auf Hebr und seine Adressaten selbst – zurückblicken. Die Gruppe V setzt sich also stets fort bis zum eschatologischen Eintritt in die himmlische
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Stadt, wobei aus ihrer Sicht all jene, die bis dahin gestorben sind und sterben, dann zu IV gehören:
Abb. 5: Die Unterscheidung innerhalb des Gottesvolkes in der horizontalen Dimension
Für die in den folgenden Abschnitten thematisierte Frage nach dem Zugang des Glaubensvolkes als ganzes müssen diese Differenzierungsmöglichkeiten hinsichtlich seiner Glieder als einzelne beachtet werden. Es bietet sich aufgrund der Bedeutung des Redens Gottes im Sohn für Hebr methodisch an, zunächst grundlegend zwischen den Glaubensgenerationen vor (Gruppe II) und nach (Gruppe III) dem Reden Gottes zu unterscheiden, nach ihrem jeweiligen Zugang zur himmlischen Stadt zu fragen und diese Ergebnisse dann zueinander in Beziehung zu setzen. Bliebe es jedoch allein bei dieser berechtigten Verhältnisbestimmung, würden zwei wichtige Aspekte auf der Strecke bleiben. Zum einen muss beachtet werden, dass alle uns hierfür wesentlichen Texte im Hebr an, zum Zeitpunkt seiner Abfassung, (irdisch) lebende Adressaten gerichtet sind. Auch Bemerkungen und Ausführungen zu früheren Glaubensgenerationen stehen immer im Dienst einer (seelsorgerlichen) Ansprache der gegenwärtigen. Insofern erscheint es mir sinnvoll, zunächst auch nur das zu untersuchen, was Hebr über den Eintritt seiner ihm gegenwärtigen Adressaten zu sagen hat und von diesem Ergebnis dann ausgehend nach den „Anderen“ zu fragen. Mit Blick auf die Unterscheidungsmöglichkeiten des Gottesvolkes schließt dies freilich seine ihm „zukünftigen“ Adressaten mit ein, d. h. all diejenigen, die in ihrer je eigenen Gegenwart von dem Inhalt dieses Schreibens angesprochen werden (vgl. Gruppe V). Aus der Retrospektive des Hebr und seiner (gegenwärtigen und zukünftigen) Adressaten bleibt sodann nach den „früheren“ Glaubensgenerationen zu fragen. Denn der Stand der früheren Glaubensgenerationen ist nicht nur für den Ort von Juden und Christen von Belangen. Dahinter steckt freilich immer auch ein zutiefst existenzielles Anliegen der Selbstvergewisserung – über das Schicksal der Toten als auch über das eigene. Um dem Reden Gottes im Sohn in seiner geschichtshermeneutischen Bedeutung gerecht zu werden, muss hier wiederum darauf geachtet werden, inwiefern für die Frage nach dem Zugang
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zur himmlischen Stadt zwischen den früheren Glaubensgenerationen davor (Gruppe II) und danach (Gruppe IV) unterschieden werden kann bzw. muss. 4.2.2 Der Zugang der gegenwärtigen Adressaten Die Existenz der Glaubenden vollzieht sich im heilsgeschichtlich spannungsvollen „Heute“. Immer wieder betont Hebr das „Noch-nicht“ ihrer Vollendung durch Verweise auf die anstehende eschatologische Heilsverwirklichung, verbunden mit entsprechenden Mahnungen, standhaft auf diese zuzusteuern (vgl. 2,8; 4,9–11; 10,36–38 11,13–16.39f.; 13,14 u. ö.). Umso mehr sticht die Formulierung in 12,22 hervor, mit der Hebr seinen Adressaten (vgl. Gruppe V in Abb. 6) versichert, dass sie zur himmlischen Festgemeinde in die himmlische Gemeinschaft Gottes „hinzugetreten“ seien (προσεληλύθατε). Die exegetischen Meinungen, was es mit diesem „Schritt“ der Angesprochenen auf sich hat, fallen seit jeher unterschiedlich aus. Besonders bedeutsam und häufig vertreten war und ist eine „kultisch-liturgische“ Deutung, wonach die Angesprochenen in der (irdischen) Feier des Gottesdienstes bzw. seiner Bestandteile (Gebet, Taufe, Abendmahl, Lobpreis etc.) Anteil am himmlischen Freudenfest erhalten. Die je eigenen Akzente und Begründungen unterscheiden sich dabei jedoch zum Teil erheblich. Bereits Brooke F. Westcott verstand darin die Übertragung des exklusiv priesterlichen „Vor-Gott-Tretens“ im alttestamentlichen Kult (vgl. z. B. Lev 21,17.21) auf die dazu durch Jesus befähigte christliche Gemeinde.113 Obwohl die gedankliche Verbindung zur „alten Heilsordnung“ auch bestritten wurde,114 findet sich der kultisch-liturgische, d. h. gottesdienstliche „Sitz im Leben“ des προσέρχεσθαι so oder so bei zahlreichen Auslegern.115 Worin genau sich diese Deutung von προσέρχεσθαι in der realen Wirklichkeit des Hebr und seiner Adressaten geäußert haben soll, konnte unterschiedlich als Anspielung z. B. auf das Abendmahl116 oder auf Gebet117 bzw. Lobpreis118 verstanden werden. Frederick F. Bruce erblickte darin wiederum eine Anspielung des Hebr
Vgl. WESTCOTT, Hebrews, 108. Vgl. BRAUN, Hebräer, 127, wobei dies mit Blick auf die deutliche Verbindung zum Bundesschluss am Sinai in 12,18 kaum Sinn ergibt. 115 Vgl. noch sehr vage Windisch, Hebräerbrief, 95; dann aber ausführlich K ÄSEMANN, Gottesvolk, 27–32 und daran anschließend SCHOLER, Proleptic, 95–149, sodass SCHIERSE, Verheißung, 200 mit Anm. 13 vollmundig festhielt: „Die kulttechnische Bedeutung von προσέρχεσθαι steht außer Frage [...].“ Vgl. ebenso DIBELIUS, Kultus, 167; MICHEL, Hebräer, 461 mit Anm. 1 u. a. 116 Vgl. THEISSEN, Untersuchungen, 74; SCHULZ, Mitte, 267f. 117 Vgl. DESILVA, Perseverance, 337. 118 LANE, Hebrews II, 460: „The writer compares Israel’s approach to God in cultic ceremony to the Christian’s experience in worship [...].“ Vgl. auch ELLINGWORTH, Hebrews, 677f. 113 114
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auf die Bekehrung und Taufe an sich.119 Doch keine dieser Konkretionen findet einen ausdrücklichen Widerhall im Text, weshalb auf der anderen Seite wesentlich unbestimmtere Deutungen vorgeschlagen wurden. Hier wird προσέρχεσθαι weiter gefasst, als Ausdruck zur Beschreibung der glaubenden Existenz in Ausrichtung auf Gott generell.120 Vielleicht verdanken sich so manche Urteile über die Bedeutung von προσέρχεσθαι im Hebr ja immer auch der theologischen bzw. konfessionellen Prägung und Vorliebe der jeweiligen Exegeten und damit der Frage, welches Potenzial zur realen Gotteserfahrung man einer konkreten geistlichen Handlung zubilligt und welcher weniger. Denn kaum zu bestreiten ist, dass Hebr προσέρχεσθαι dezidiert für eine Bewegung hin zu Gottes Gegenwart gebraucht.121 Zunächst schauen wir uns daher diesen Befund näher an. 4.2.2.1 Das Herantreten (προσέρχεσθαι) Das Kompositum πρόσ + ἔρχεσθαι findet sich im Hebr siebenmal (4,16; 7,25; 10,1.22; 11,6; 12,18.22). Indirektes Objekt und damit Ziel dieses „Herantretens“ ist zum einen Gott – entweder als solches ausdrücklich benannt (7,25; 11,6) oder vom Kontext her eindeutig gemeint (10,1; 10,22). Oder aber es zielt auf die Wirklichkeit Gottes, die je nach Kontext als „Thron der Gnade“ (4,16) oder das himmlische Jerusalem (12,22) umschrieben wird. Dies gilt auch für 12,18, da die Negation (οὐ γὰρ προσεληλύθατε) ihr positives (indirektes) Objekt in 12,22 findet (ἀλλὰ προσεληλύθατε). Προσέρχεσθαι bezeichnet demzufolge eine Bewegung bzw. ein Bestreben hin zu Gott und dessen Wirklichkeit. Subjekte dieser Bewegung sind Hebr selbst und seine Adressaten (4,16; 10,22), die Adressaten allein (11,18.22), Jesus-Nachfolger generell (7,25), Teilnehmer des alttestamentlichen Kultes (10,1), aber letztlich auch jeder, der sich Gott nähert bzw. nähern möchte (11,6). Hier fällt auf, dass die Bewegung hin zu Gott an sich kein exklusiv christliches Bestreben ist, sondern von Hebr auch bezogen auf die alte Heilsordnung und sogar allgemeinmenschlich gebraucht werden kann. Das „Herantreten“ bzw. „Sich-Nähern“ kann also zunächst recht allgemein auf dem Hintergrund des menschlichen „Bezogen-Seins“ auf Gott hin verstanden werden. Dieses „Bezogen-Sein“ hatten wir ebenso als grundlegende Struktur 119 Vgl. B RUCE, Hebrews, 355 mit Verweis auf die Herkunft der Bezeichnung „Proselyten“ von προσέρχεσθαι. Vgl. in ähnliche Richtung als „Bekehrungsmahnung“ auch schon WINDISCH, Hebräerbrief, 40. 120 Vgl. z. B. LÖHR, Umkehr, 258: „Allgemeiner wird man sagen, daß προσέρχεσθαι in Kap. 12 das Nahen, besser: Genaht-Sein, zu einer Transzendenzsphäre als Bild für die Zugehörigkeit zu einer Heilsordnung und, konkreter, einer eschatologischen, ‚himmlischen‘ Gemeinschaft meint.“; vgl. dazu auch RIGGENBACH, Hebräer, 120; PETERSON, Perfection, 160f.; ATTRIDGE, Hebrews, 141; GRÄSSER, Hebräer III, 310; JANG, Gottesvolk, 175–179; BACKHAUS, Hebräerbrief, 442. 121 Vgl. LANE, Hebrews II, 460: „The verb is used exclusively of an approach to God.“
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für das Glaubensverständnis im Hebr wahrgenommen.122 Das sollte auch nicht verwundern, denn gerade der Glaube ist ja die notwendige Bedingung dafür, dass derjenige, der sich Gott naht, auch vor ihm Gefallen findet (11,6). Der Glaube, wie ihn Hebr versteht, ist also nach 11,6 nicht in erster Linie die Bedingung für das „Herantreten“ bzw. „Sich-Nähern-Wollen“ an sich, sondern dafür, beim „Herantreten“ vor Gott auch zu bestehen. Freilich sollte der Glaube daher aber auch beständiger Begleiter des „Herantretens“ sein. Denn die Kehrseite ist dann das eschatologische Todesurteil in der Trennung von Gott aufgrund des „Zurückweichens“ im Ungehorsam hin zu den „toten Werken“ (9,14; vgl. 9,38f.). Davor warnt Hebr seine Adressaten entsprechend dringlich (2,2f.; 3,7f.15; 4,7; 10,29–31; 12,25 u. ö.). „Nahen“ konnte und kann sich der Mensch auch durch den Gottesdienst unter der alten Heilsordnung.123 Das gesteht Hebr dieser ja völlig zu (10,1). Aber sie bringt diese Bewegung des „Herantretens“ nicht zu ihrem abschließenden Ziel, überzugehen in die „Ruhe“ in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott. Auch hier zeigt sich eine Analogie zwischen προσέρχεσθαι und dem Glauben. Dieser vollzieht sich als ganzheitliche Bewegung „weg von den toten Werken hin zum lebendigen Gott“ (9,14b), aber dieses „hin zum lebendigen Gott“ erreicht sein Ziel allein durch die Reinigung des Gewissens, die Hebr vollgültig nur in der Teilhabe am Selbstopfer Jesu erblickt (9,14a). Dieselbe Verbindung findet sich auch in 12,22–24, wo das „HerangetretenSein“ der Adressaten (12,22) auf den Ermöglichungsgrund ihrer Bewegung als rhetorischen Höhepunkt des Abschnitts zuläuft – auf das Blut der Besprengung, das Blut Jesu des Mittlers der neuen Heilsordnung (12,24). Was die Adressaten des Hebr und letztlich alle (wirksam) Glaubenden daher von allen anderen „Herantretenden“ grundlegend unterscheidet, ist ihre „Gemütslage“ aufgrund ihrer Heilsgewissheit. Sie dürfen und sollen mit „Zuversicht“ (παρρησία) herantreten (4,16; 7,25; 10,22), weil sie sich sicher sein dürfen, den Zutritt nicht verwehrt zu bekommen. Denn sie haben einen ewigen Hohepriester, der ein wirksames Opfer zur Reinigung ihrer Gewissen erbracht hat und sie, die sie sich „durch ihn“ (δι᾽ αὐτοῦ) Gott nähern, auch zum Ziel bringt (7,25). Wer „durch den Sohn“ an Gott herantritt, tritt mit der „Gewissheit des Glaubens“ (πληροφορία πίστεως) heran (10,22), vor „Gott dem Richter Aller“
122
S. o. II.2.1.
123 Vermutlich
hätte Hebr auch nichts gegen den Gedanken, dass sich der Mensch generell auf vielfältige Weise Gott zu nahen versucht. So lassen sich die Ausführungen zum Priesteramt in Kap. 5–10 nicht einzig bezogen auf das levitische Priestertum lesen – auch wenn dies m. E. der eigentliche und ausschlaggebende Bezugspunkt für Hebr ist –, sondern auch auf die allgemeinreligiöse antike Idee des Priesterdienstes als Ausdruck für das Streben des Menschen, zu Gott in Beziehung zu treten (vgl. KARRER, Hebräer II, 257–261). Für Hebr ist dabei entscheidend, welcher „Weg“ tatsächlich voll-, letzt- und endgültig zum Ziel führt. Das beantwortet er freilich exklusiv christologisch.
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zu bestehen (12,23; vgl. 10,38f.; 11,6) und dann auch eintreten und bleiben zu dürfen (10,35).124 Diese Beobachtungen legen nahe, was durch die verwendeten Zeitformen für die sieben Belege von προσέρχεσθαι bestätigt wird. Sie bezeichnen weder einen rein zukünftigen noch einen vollends gegenwärtigen Vorgang.125 Sowohl in 7,25; 10,1 als auch 11,6 – also an den drei Belegen, die von einem „Herantreten“ von Jesus-Nachfolgern, Gläubigen unter der alten Heilsordnung und allgemein allen Menschen sprechen – findet sich προσέρχεσθαι als präsentisches Partizip. Die Bewegung hin zum lebendigen Gott ist ein andauernder Vorgang, der weder in der Vergangenheit bereits abgeschlossen ist noch erst in der Zukunft beginnen wird. Der Gedanke dieser noch andauernden, aber stets auf ein zukünftiges Ziel hin ausgerichteten Bewegung passt zum Motiv der Pilgerschaft des glaubenden Gottesvolkes im „Heute“. Es ist eine Zeit, in der nach 7,25 der in den Himmel erhöhte Hohepriester Jesus für seine Nachfolger eintritt und sie so auf ihrer unvollendeten Glaubensreise erhält (vgl. Lk 22,32; Joh 17). Dieses Eintreten wird am Ziel der Glaubensreise nicht mehr nötig sein, denn dann werden die Pilger die Durchsetzung der Herrschaft Jesu über alle Wirklichkeit uneingeschränkt schauen dürfen (2,8). Aber auch in dieser Ausrichtung auf das Zukünftige darf das προσέρχεσθαι gerade nicht als rein zukünftige Größe verstanden werden. Die „Hilfe“ (βοήθεια) des erhöhten Sohnes dürfen sich die „Herantretenden“ im „Heute“ erbitten. Entsprechend fordert Hebr seine Adressaten zweimal mit einem Adhortativ (προσερχώμεθα) auf, in genau dieser Haltung „heranzutreten“ (4,16; 10,22). Das in 4,16 mit ἵνα angezeigte Ziel dieser Aufforderung ist die Hilfe „zur rechten Zeit“ (εὔκαιριος; 4,16), nicht erst nach dem eschatologischen Eintritt in die himmlische Wirklichkeit. Zugleich legen die beiden Adhortative aber natürlich auch nahe, dass das Ziel des προσέρχεσθαι etwas noch nicht abgeschlossenes ist und damit zukünftig ansteht. Die Hoffnung, die in der Zukunft verankert und auf diese hin ausgerichtet ist (vgl. 11,1), wird im „Heute“ konkret erfahrbar. Die Formulierungen „Lasst uns hinzutreten“ (προσερχώμεθα) in 4,16 und 10,22 ist eine von zahlreichen ermutigenden Mahnungen zum treuen Glaubensgehorsam und zur Achtgabe aufeinander bis zum Ende zu verstehen, um die eschatologische Vollendung gemeinsam zu erfahren (vgl. 4,1.11.14; 10,23f.; 12,1–3.28; 13,5.9.13.15). Dieses pastorale Anliegen des Hebr dürfte auch der Grund für seine Wahl der beiden eigenwilligen Perfektformen – trotz der Unabgeschlossenheit des προσέρχεσθαι – in 12,18.22 sein: „Ihr seid herangetreten“ (προσεληλύθατε) zu der himmlischen Wirklichkeit mit all ihrer Herrlichkeit (12,22–24). Der (eschatologische) Zugang dorthin ist also eine Realität. Im „Heute“ überschneidet 124 Vgl. auch das „Sich-Gott-Nähern durch eine bessere Hoffnung [in Jesus; Anm. A. H.]“ (κρείττονa ἐλπίς δι᾽ ἧς ἐγγίζομεν τῷ θεω) in 7,19. 125 Vgl. STOLZ, Höhepunkt, 251–257.265.
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sich das zukünftige Heil mit der Gegenwart, in der die Glaubenden den himmlisch-eschatologischen Lohn bereits schmecken können (6,4f.), aber noch nicht vollends darin eingegangen sind. Dass es sich hierbei für Hebr nicht nur um ein rein abstraktes „Schmecken“ handelt, sondern um einen konkret erfahrbaren Ort im „Heute“, ist zwar im Text nicht eigens erwähnt, ist aber dennoch plausibel. „Für die Glaubenden ist das Unsichtbare (11,1) nicht unzugänglich, sondern geistlich beschreitbar. […] Die Glaubenden haben bereits jetzt als Himmelsbürger auf der Erdenpilgerschaft an Gottes Wirklichkeit teil; sie haben aber das Ziel ihres Weges noch nicht erreicht, an dem Zeit und Ewigkeit in eins fallen und nur das Unerschütterliche bleibt (12,27). Man mag die hier spannungsvoll vereinten Aspekte als ‚sich realisierende Eschatologie‘ bezeichnen. Für die Lesewahrnehmung sind solche Beschreibungen freilich zu abstrakt: Der Leser/Hörer hat unmittelbar den Eindruck, eine lebendige Festversammlung zu betreten [12,22–24; Anm. A. H.], und dies nicht als Gast, sondern als Einheimischer, der inmitten dieser erlösten Freude seine ewige Gemeinschaft gefunden hat.“126
Was Backhaus hier im Blick auf die Wirkung bei den Adressaten beschreibt, erscheint mir zielführend, um mit der Spannung zwischen der Gegenwärtigkeit des „Herantretens“ (προσεληλύθατε) und der Zukünftigkeit seines Zieles (προσερχώμεθα) umzugehen. Dem Gesamtgedankengang der Theologie des Hebr lässt sich ein deutlicher eschatologischer Vorbehalt der Vollendung nicht abstreiten, ohne ihm einen sachlichen Widerspruch vorwerfen zu müssen. Doch die „Wirkung“ bei den Adressaten ist ein gezieltes „Hinein-Sprechen“ des Eschatons in die Gegenwart. Die noch auf Erden angefochtenen Glaubenspilger dürfen sich von der Tatsächlichkeit des Kommenden im Hier und Jetzt getragen, gezogen und fest umschlossen wissen. Doch letztendlich bleibt dieses „Wissen“ um den noch ausstehenden, größeren Lohn der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott selbst immer nur bedingt greifbar. Von welcher Herrlichkeit diese dann tatsächlich geprägt sein wird, kann der Glaubende in der Gotteserfahrung im „Heute“ nur erahnen, aber doch als die für ihn „jetzt“ maximal erlebbare Heilswirklichkeit erfahren – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der im „Heute“ auf Erden existierende Mensch erlebt im Glauben die Zukunft, aber er erlebt sie zwangsläufig immer nur gegenwärtig. In seiner erlebten Wirklichkeit verschmelzen Zukunft und Gegenwart also noch stärker miteinander als in der abstrakten Zuordnung beider im theologischen Konzept des Hebr. Diese durch und durch seelsorgliche „Wirkung“ ist sachlich verengter und weniger komplex als der Gesamtgedankengang. Aber das ist letztlich ganz normal. Jede Verkündigung – schriftlich oder mündlich – hat einen größeren theologischen Zusammenhang, dessen Facettenreichtum man mehr und mehr ergründen könnte, aber die unmittelbare Wirkung beim Hörer/Leser vermag diese Fülle gar nicht in Gänze zu transportieren. Doch das muss sie auch nicht. Sie exegesiert zunächst (!) nicht jedes Detail, sondern hebt den konkreten, jetzt 126
BACKHAUS, Hebräerbrief, 442.
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benötigten Zuspruch hervor.127 Insofern trifft die liturgisch-kultische Deutung des προσέρχεσθαι also durchaus. Denn sie „ver-spricht“128 die christliche Existenz mit der konkreten Gotteserfahrung – sei es durch Gebet, Abendmahl, Lobpreis, Verkündigung, Zuspruch von Vergebung oder in welcher Form auch immer – und die verheißene Realität der himmlischen Heilswirklichkeit miteinander. Aber eine ausschließliche Lesart in diesem Sinne wäre zu verkürzt, denn das „Genaht-Sein“ ist tatsächlich in erster Linie ein „Bild für die Zugehörigkeit zu einer Heilsordnung“129, in die der „Sich-Nahende“ noch nicht vollends eingegangen ist und doch schon vollends aus ihr heraus lebt. Das schließt die Erfahrung in konkreten liturgischen Zusammenhängen nicht aus. „Vielmehr schließt solches ‚Hinzutreten‘ im Glauben das gottesdienstliche προσέρχεσθαι ja gerade ein – und damit auch die bei den Adressaten infrage stehende Teilnahme an den Gemeindeversammlungen (10,25).“130 Das Kompositum προσέρχεσθαι hat im Hebr also einen durch und durch spezifisch theologischen Charakter. Dieser Befund ist im neutestamentlichen Zeugnis nahezu einzigartig, was auch ein Blick auf die Wortstatistik verrät. Von den insgesamt 86 Belegen von προσέρχεσθαι im Neuen Testament fallen allein 77 auf die vier Evangelien und die Apostelgeschichte (wobei Mt allein fast 60 % aller neutestamentlichen Belege aufweist). Doch in diesen stärker prosaisch geprägten Texten wird προσέρχεσθαι ausschließlich als Verb der Bewegung ohne theologische Konnotation verwendet. Ein weiterer Beleg findet sich sodann in 1 Tim 6,3. Hier ist ein gewisser theologischer (metaphorischer) Ton durchaus vorhanden, denn es wird dazu gemahnt, sich keiner anderen Lehre „zuzuwenden“ als den „gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus“ (προσέρχεται ὑγιαίνουσιν λόγοις τοῖς τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστου). Die größte Schnittmenge zum Hebr weist jedoch zweifellos 1 Petr 2,4 auf. Hiernach sollen die Gläubigen ihre Erbauung aus der Annahme ziehen, die sie 127 Die Einordnung des προσεληλύθατε in einen „juristischen Kontext“ bei JANG, Gottesvolk, 175 trifft dieses pastorale Anliegen. Danach möchte Hebr seinen Adressaten bekräftigen, dass sie sich als Teil der Kirche (ich würde sachgemäßer des glaubenden Gottesvolkes sprechen), die „einen himmlischen Status und ein Recht [hat, Anm. A. H.], wie sie ein irdisches Bürgerrecht hat, durch Gottes Richterspruch fest verankert in dieser Realität wissen sollen“ (vgl. JANG, Gottesvolk, 175, 175–179). 128 So die berühmte, hier äußerst treffende homiletische Wendung bei LANGE, Aufgabe, 67, um das Aufeinandertreffen von menschlichem Alltag (erfahrene „Wirklichkeit“) und Zuspruch Gottes („Verheißung“) bei der Verkündigung zu beschreiben. 129 LÖHR, Umkehr, 258. 130 W EISS, Hebräer, 676; vgl. auch G RÄSSER, Hebräer III, 310. Gegen beide ist jedoch einzuwenden, dass es sich dabei keineswegs um eine „realisierte Eschatologie“ handelt (diesen Ausdruck halte ich für das ntl. Zeugnis generell für differenzierungsbedürftig), sondern – unter Beachtung des eschatologischen Vorbehalts – um eine, wie oben im Zitat von Backhaus so benannte, „sich realisierende Eschatologie“ (BACKHAUS, Hebräerbrief, 442). Zur Problematik einer „realisierten Eschatologie“ vgl. kritisch GÄCKLE, Volker: Das Reich Gottes im Neuen Testament. Auslegungen - Anfragen - Alternativen, BthSt 176, Göttingen/Bristol 2018.
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durch das Opfer Jesu vor Gott gefunden haben, als solche, die „zu ihm [d. i. Jesus; Anm. A. H.] herantreten“ (πρὸς ὃν προσερχόμενοι).131 Der Gedanke ist nahezu identisch mit Hebr, allerdings fällt der Gebrauch von προσέρχεσθαι bei letzterem, gemessen an dessen Gesamtwortzahl, weitaus mehr ins Gewicht.132 4.2.2.2 Das Hineingehen (εἰσέρχεσθαι) Die spezifische Verwendung von προσέρχεσθαι im Hebr nötigt, nach einem weiteren Kompositum von ἔρχεσθαι im Hebr und seinem Verhältnis zum „Herantreten“ der Glaubenden zu fragen: Εἰσέρχεσθαι (Eintreten/Hineingehen). Denn auch hier zeigt sich weitgehend ein theologischer Gebrauch, den Hebr aber feinsinnig vom „Herantreten“ (προσέρχεσθαι) unterscheidet.133 Das Kompositum εἰς + ἔρχεσθαι findet sich im Hebr fünfzehnmal. Davon fallen drei Viertel der Belege auf Kap. 3–4 und damit in die Erörterung der noch ausstehenden verheißenen Ruhe für die Glaubenden (3,11.18.19; 4,1.3.5.6.10.11). Diese Häufung wird natürlich schon allein dadurch bedingt, dass εἰσέρχεσθαι im hier wichtigen, mehrfach direkt oder indirekt wiederholten Zitat aus Ps 94,11LXX vorkommt, in dem Gott über die ungehorsamen Israeliten der Wüstengeneration urteilt: „So schwor ich in meinem Zorn: Sie sollen nimmermehr in meine Ruhe eingehen.“ Doch genau dieses Urteil ist ausschlaggebend für das Verständnis von εἰσέρχεσθαι in seinem Verhältnis zu προσέρχεσθαι. Der ganze Gedankengang in Kap. 3–4 läuft dabei deutlich auf ein zeitliches „Noch-nicht“ des εἰσέρχεσθαι hinaus: Sechsmal werden die ungläubigen Israeliten aus der Zeit der Wüstenwanderung als Subjekte des dann stets negierten „Hineingehens“ in die Ruhe Gottes genannt (3,11.18.19; 4,3.5.6), die seit der Schöpfung verheißen ist (4,3). Aus der geschichtlichen Perspektive des Psalmzitats – d. h. zur Zeit Davids und damit lange nach der Wüstenwanderung – waren es in der Vergangenheit jene negativen Glaubenszeugen, die „wegen ihres Unglaubens“ (δι᾽ ἀπιστίαν; 3,19) nicht in die Ruhe einzugehen „vermochten“ (δύναμαι; 3,19). Sie ist bisher von noch niemandem – auch nicht unter Josua (4,8) – betreten worden. Entsprechend steht ein endgültiger Eintritt noch aus (4,9). Dies können die Adressaten auf doppelte Weise erkennen: An der eigenen „unruhigen“ Existenz (4,10) und an der Tatsache, dass Gott nach der Wüstenwanderung und der Landnahme noch einmal dazu aufruft, sich nicht noch einmal den Eintritt in die Ruhe durch Unglauben zu verspielen (4,7). 131 Es
ist daher umso bedauerlicher, dass im NA28 an keinem einzigen der Belege im Hebr auf 1 Petr 2,4 verwiesen wird, ebenso wenig umgekehrt. 132 Der Hebr hat sieben Belege bei insgesamt 4953 Worten (d. h. 0,141 %), 1 Petr hat hingegen nur einen Beleg bei insgesamt 1679 Worten (d. h. 0,06 %). 133 Vgl. umfassend SCHOLER, Proleptic, 91–184 sowie bei zahlreichen anderen Auslegern (z. T. je eigen modifiziert): z. B. GRÄSSER, Hebräer I, 259; ISAACS, Space, 219; LÖHR, Umkehr, 269–271; DESILVA, Perseverance, 337 Anm. 6; BACKHAUS, Hebräerbrief, 187–190.
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Umso mehr fordert Hebr sich selbst und seine Adressaten dazu auf, auf das εἰσέρχεσθαι in die Ruhe Gottes unbeirrt zuzustreben (vgl. „Φοβηθῶμεν […] εἰσελθεῖν“ in 4,1 bzw. „Σπουδάσωμεν […] εἰσελθεῖν in 4,11). Hier wird deutlich, dass auch für Hebr und seine Adressaten der Eintritt noch aussteht (καταλειπομένης ἐπαγγελίας εἰσελθεῖν εἰς τὴν κατάπαυσιν; 4,1), wie es ohnehin für den ganzen Hebr als grundlegender eschatologischer Vorbehalt wichtig ist (11,39f.). Dies gilt auch für die Präsensform in 4,3: „Wir nämlich gehen ein in die Ruhe […]“ (εἰσερχόμεθα), die sonst völlig isoliert und gegen ihren Kontext gelesen werden müsste. Zugleich signalisiert diese Präsensform, dass auch das „noch ausstehende“ εἰσέρχεσθαι in der Gegenwart bereits begonnen hat, und zwar in dem Maße, in dem der verheißene Eintritt in die Ruhe für die Glaubenden eine objektive und gewisse Realität (11,1!) ist.134 Das „Hineingehen“ ist ein Vorgang, der im „Heute“ ein „Schon“ hat. Dabei ist auch das „Hineingehen“ – analog zum „Hinzutreten“ – etwas, das prinzipiell jeder vollziehen soll (4,6.10), das aber aufgrund seiner christologischen Bedingtheit nur von einigen vollzogen werden wird. Denn verbürgt wird es durch das hohepriesterliche Opfer Jesu, der nach 6,20 als „Vorläufer“ (πρόδρομος; vgl. 12,2) in das „Innere des Vorhangs“ und nach 9,12 „mit seinem eigenen Blut ein für allemal“ in das himmlische Heiligtum „hineingegangen“ (εἰσέρχεσθαι) ist. Das „Hineingehen“ des levitischen Hohepriesters in das irdische Heiligtum in 9,25 bezieht sich zwar gerade nicht – wie sonst – auf die himmlische Wirklichkeit, ist aber im Gegenüber zu Jesu Eintritt in das himmlische Heiligtum zu verstehen und insofern keine wirkliche Ausnahme. So, wie der levitische Hohepriester tatsächlich in den irdischen Schatten des himmlischen Heiligtums eintritt, so Jesus in den Himmel selbst. Der levitische Hohepriester vollzieht mit seinem Eintritt in das irdische Allerheiligste in der typologischen Vorausschau den entscheidenden Eintritt Jesu. Insofern zielt auch das „Hineingehen“ des levitischen Hohepriesters ins Innere des irdischen Heiligtums letztendlich auf die himmlische Wirklichkeit, die ihm auf diesem Wege jedoch (noch) verschlossen bleibt.
Die Verbindung des Aorists εἰσῆλθεν mit dem Adverb ἐφάπαξ in 9,12 zeigt unmissverständlich an, dass das „Hineingehen“ Jesu aus Sicht des Hebr und seiner Adressaten einmalig geschehen ist und damit in der Vergangenheit liegt. Sein Resultat dauert aber noch an (vgl. auch 6,20). Darin unterscheidet sich Jesus im wahrsten Sinne des Wortes „Grund-legend“ von den Glaubenden, deren „Hineingehen“ noch aussteht, denn zugleich sind diese im „Heute“ auf Jesu Eintritt hin zugeordnet. „Christus ist hineingegangen […], um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen.“ (9,24; vgl. 7,25). Deshalb haben die Glaubenden auch eine Hoffnung, die ebenfalls – quasi Jesus hinterher – hinter den Vorhang „hineingeht“ (εἰσερχομένην) und dort fest verankert ist (6,20).
134
Vgl. COCKERILL, Hebrews, 205.
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Dieses Präsenspartizip in 6,20 beschreibt die präsentische Realität des zukünftigen „Hineingehens“ der Glaubenspilger (s. o. zu 4,3!).135 Es lässt sich also im Blick auf beide Verben festhalten: Προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι haben dasselbe Ziel – die himmlische Wirklichkeit Gottes. Sie beziehen sich beide auf dasselbe Geschehen der Bewegung des Menschen „hin zum lebendigen Gott“ (9,14), beschreiben aber jeweils andere Aspekte daran. Προσέρχεσθαι bezieht sich auf den Weg hin zum Ziel, εἰσέρχεσθαι auf sein tatsächliches Erreichen. Beide Verben sind damit nicht per se einem bestimmten Subjekt vorbehalten, wohl aber aus der (heils-)geschichtlichen Perspektive des Hebr und seiner Adressaten nur von bestimmten Subjekten vollzogen worden bzw. für andere noch in Aussicht. „Solange es ‚Heute‘ heißt“ (3,13), ist allein der Sohn Jesus in die Wirklichkeit der himmlischen Gemeinschaft Gottes „hineingegangen“ (εἰσέρχεσθαι) und hat damit die Bewegung des προσέρχεσθαι vollendet. Ihm sollen die Glaubenden folgen.136 Zugleich hat sich durch sein εἰσέρχεσθαι auch das προσέρχεσθαι der Glaubenden im „Heute“ verändert, denn sie vollziehen dieses nun „mit Zuversicht“ (παρρησία; vgl. 4,16) in der Glaubensgewissheit um ihren Hoffnungsanker, der sich durch das Opfer des Sohnes fest in den Boden der „himmlischen Stadt“ gegraben hat. Mag das Schiff der Glaubenspilger auch noch so schwanken, es bleibt fest an seinem Fixpunkt vertäut. Durch diese objektive, d. h. außerhalb ihrer selbst verankerte, „Glaubensgewissheit“ (11,1) unterscheiden sich die Glaubenden buchstäblich fundamental von allen, die sich Gott nähern (wollen). Das προσέρχεσθαι der Glaubenden speist sich aus der Gewissheit, einen „neuen und lebendigen Weg“ (ὁδὸς πρόσφατος καὶ ζῶσα) „mit Zuversicht zum Eintritt in das Heiligtum“ (παρρησία εἰς τὴν εἴσοδον τῶν ἁγίων) zu haben (10,19–22). Beide Verben stehen damit trotz ihrer Unterscheidung in einem nicht voneinander zu trennendem Verhältnis. „Während das Hinzutreten (προσέρχεσθαι) der Adressaten sich auf eine gegenwärtige Möglichkeit, ihr Hinzugetreten-Sein (προσεληλύθατε […]) sich auf gegenwärtig bestehende
135 Leider gibt keine der gängigen modernen deutschsprachigen Bibelübersetzungen dieses vielsagende Wortspiel in 6,19f. wieder, wonach der Hoffnungsanker ins Innere des Vorhangs „hineingeht“ (εἰσερχομένην), so wie Jesus „hineingegangen ist“ (εἰσῆλθεν). In der Lutherübersetzung von 1545 hieß es hingegen: „welche wir haben als einen sichern vnd festen ancker vnser Seele, der auch hinein gehet in das inwendige des Vorhangs“ (so auch viele englischsprachige Übersetzungen). 136 Dass diese Bewegung aber nicht auf einen rein inneren Vorgang, ohne realen ontischen Eintritt, abzielt (so aber JOHNSON, Hebrews, 131.139), geht aus dem Wirklichkeitsverständnis des Hebr und seiner Vorstellung von der himmlischen Stadt (insbesondere im Blick auf lokale Parameter) eindeutig hervor (s. o. II.3.1 und II.4.1.2.a). Der innere (und äußere!) Vollzug dieser Glaubensbewegung ist dabei fester Bestandteil. Sie ist aber dennoch auf ein konkretes Ziel hin ausgerichtet.
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Wirklichkeit bezieht, ist ihr εἰσέρχεσθαι in die himmlisch-eschatologische Ruhe als ausstehendes endzeitliches Verheißungsgut zu betrachten […].“137
Doch weder προσέρχεσθαι noch εἰσέρχεσθαι dürfen dabei als zeitlich und sachlich voneinander isolierte Bewegungen betrachtet werden.138 In der zwischenräumlichen und -zeitlichen Realität des „Heute“ überschneiden sich beide miteinander in dem Maße, wie die Vollendung des προσέρχεσθαι in der Zukunft schon fest verankert und wie die Gewissheit auf das εἰσέρχεσθαι in der Gegenwart schon konkret erfahrbar ist.139
Abb. 6: Προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι
Die Schnittmenge beider ist verbürgt durch den Sohn Jesus, der bereits aus dem Irdischen in das Himmlische gegangen ist und die Glaubenden nach sich zieht. Sie sollen auf seinen Weg als Vorbild schauen, sich durch ihn getragen wissen und sich zu ihm als ihren Mittler bekennen (12,2!).140 4.2.2.3 Das Herantreten, das Hineingehen und das Vollendet-Werden (τελειωθῶσιν) Die Beobachtungen zu προσέρχεσθαι und seinem Verhältnis zum εἰσέρχεσθαι zeigen deutliche Parallelen zu dem, wie Hebr die „Vollendung“ bzw. das „Vollendet-Werden“ (τελειωθῶσιν) der Glaubenden in Bezug auf den Sohn denkt.141 Auf formaler Ebene haben wir bereits gesehen, dass Hebr hinsichtlich desselben Wortes feinsinnig zwischen dem Sohn und den „Söhnen“ unterscheiden kann, wobei das eine streng auf das andere bezogen bleibt. Doch auch sachlich gehören die beiden Gedanken vom „Heran- und Eintreten“ und vom GÄBEL, Engel, 234f. GÄBEL lehnt zwar den Prozesscharakter des εἰσέρχεσθαι ab (vgl. GÄBEL, Engel, 235, Anm 196), dieser ist aber in seiner Verhältnisbestimmung beider Wörter de facto auch vorhanden. 139 Vgl. SCHUNACK, Hebräerbrief, 210. 140 S. o. II.2.4.2. 141 S. o. II.3.2 v. a. ab S. 173. 137 138
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
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„Vollendet-Werden“ zusammen. Beides bezieht sich auf dieselbe Bewegung „weg von den toten Werken, hin zum lebendigen Gott“ (9,14), mit der Hebr das sich im Glauben vollziehende Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch beschreibt. Dieses Beziehungsgeschehen hat im Eingehen in die himmlische Ruhe – im Erlangen der Verheißung (11,39) – ihren eschatologischen Zielpunkt. Wie auch bei der Rede von der Vollendung Jesu ist sein Eintritt in die himmlische Wirklichkeit nicht ohne seinen Eintritt in die irdische zu denken. Es ist diese Einheit von Erniedrigung und Erhöhung im Heilswerk des Sohnes, die Hebr auch bei der Beschreibung des εἰσέρχεσθαι zum Ausdruck bringt. Denn nach 10,5 geht Jesus in den Kosmos hinein (εἰσερχόμενος εἰς τὸν κόσμον), aus dem heraus er sodann in die unmittelbare Gegenwart Gottes („durch die Himmel hindurch“) tritt (διέρχομαι). Das ist zugleich das Ziel der noch nicht „eingetretenen“ Glaubenden, die sich im Schauen auf ihren „Anfänger und Vollender Jesus“ (12,2) Gott mit Zuversicht „nähern“ dürfen. Die Glaubenden werden Teilhaber am εἰσέρχεσθαι Jesu, so sie ja die Teilhabe an seiner Vollendung bekommen. Beides ist ein Prozess, der im „Heute“ durch das einmalige Reden Gottes im Sohn begonnen hat und – verbürgt durch das Heilswerk des Sohnes – auf seinen eschatologischen Abschluss zustrebt. Dieser Prozess kann im „Heute“ schon konkret erfahren, aber erst himmlisch-eschatologisch vollends ergriffen werden. Insofern kann τελειωθῶσιν in seinem Prozesscharakter als Entsprechung zu der Zusammengehörigkeit von προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι verstanden werden. Freilich sollte diese Entsprechung nicht überstrapaziert werden. Das προσέρχεσθαι ist zunächst eine allgemeinmenschliche Bestimmung, gegeben durch das Geschaffensein im Gegenüber zum Schöpfer. In der im „Schauenauf-Jesus“ verbürgten Tatsächlichkeit seiner Vollendung wird es für die Glaubenden – aber nur für diese! – zum eschatologischen εἰσέρχεσθαι, dessen Realität schon im „Heute“ erfahrbar ist. Diese eschatologische Vollendung soll sich für das glaubende Gottesvolk im „Besseren“, d. h. gemeinsam mit allen Glaubensgenerationen vollziehen. 4.2.2.4 Schlussfolgerung: Die eschatologische Existenz der Adressaten im „Heute“ Die sachliche Unterscheidung zwischen προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι ist für Hebr Teil seines theologischen Programms. Beide Ausdrücke beziehen sich auf die Existenz der Glaubenden, wobei προσέρχεσθαι den Schwerpunkt auf deren faktischen, aber noch unvollendeten Heilsstand im „Heute“ legt, εἰσέρχεσθαι auf die eben damit angestrebte Vollendung. Die Glaubenden leben im zugleich des „Noch-nicht“ ihres προσέρχεσθαι und des „Schon“ ihres εἰσέρχεσθαι. Letzteres ist durch das „Ein-für-alle-mal“ des εἰσέρχεσθαι des Sohnes fest im Himmel verankert. Insofern beinhaltet die Formulierung im
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Perfekt „Ihr seid hinzugetreten“ (προσεληλύθατε) in 12,22 keinen Widerspruch zum sonst im Hebr so betonten eschatologischen Vorbehalt der Vollendung, sondern fügt sich in sein – freilich spannungsreiches – Wirklichkeitsverständnis ein. Die Perfektform betont dabei die objektive Faktizität des Heilsstandes der Glaubenden durch das Sprechen Gottes im Sohn. Insofern kann das, was Hebr seinen Adressaten in 12,22 bescheinigt, als „eschatologische Existenz im ‚Heute‘“ bezeichnet werden. Sie betont die Verankerung der Glaubensreise in der himmlisch-eschatologischen Wirklichkeit – in der himmlischen Stadt (13,14!). „In der im Perfekt formulierten Feststellung […] zieht Hebr die Bilanz aus Jesu Mittlertat und illustriert zugleich, was unter dem so oft beschworenen Freimut zu verstehen ist. Das Tempus [προσεληλύθατε; Anm. A. H.] demonstriert die unwiderrufliche Realität der neuen Existenz [.]“142 Deutliche Kritik an einer solchen Verhältnisbestimmung von προσέρχεσθαι und εἰσέρχεσθαι übt Scott D. Mackie.143 Aus seiner Sicht sprechen vor allem drei Argumente dagegen: 1. Hebr unterscheide nicht zwischen dem Eintritt Jesu und der Adressaten, sondern fordere diese vielmehr dazu auf, Jesus nachzuahmen.144 2. Der Kontext der beiden Wörter werde oft verengt wahrgenommen, wobei z. B. 10,19–23 eindeutig von einem vollen und ganzheitlichen Eintritt der Glaubenden, erwirkt durch die Heilstat Jesu, spreche.145 3. Es werden häufig nur solche alttestamentlichen Texte zur Deutung der beiden Wörter herangezogen, die deren Unterscheidung unterstützen. Vielmehr müssen auch Parallelen bedacht werden, die eine unmittelbare Nähe zwischen Gott und Mensch gedanklich ermöglichen. Diese Nähe überträgt Mackie vor allem auf die Vorstellung vom „Thron der Gnade“ in 4,16, an den die Glaubenden herantreten.146 Doch diese drei Argumente treffen bei Mackies näheren Untersuchung der einschlägigen Texte gerade nicht.147 So setzt z. B. die gegenseitige Anrede von Vater und Sohn (4,14–16; 6,19–20; 10,19–23) – anders als Mackie meint („within earshot“148) – keine lokale Nähe der Adressaten voraus, welche diese Anrede „hören“. Denn dieses „Gespräch“ vollzieht sich durch das (alttestamentliche) Schriftwort und wird als lebendiges Gotteswort im „Heute“ von demjenigen gehört, der die Schrift vernimmt. Hieraus eine unmittelbare Nähe der Adressaten in ihrer irdischen Existenz auf mystische Weise zu schlussfolgern, liegt wohl jenseits aller Absichten eines solchen Schrifttheologen wie Hebr. Dass Hebr zudem sehr wohl zwischen Jesus und den Glaubenden – in Analogie zu seiner Vorstellung ihrer Vollendung – unterscheiden kann, haben unsere Untersuchungen eindeutig ergeben. Zuletzt dienen die von Mackie angeführten alttestamentlichen Parallelstellen, die eine unmittelbare Nähe zwischen Gott und Mensch auf Erden bezeugen sollen (s. E. z. B. Dtn 5,23–29; Lev 9 und Jos 5,13–15), genau genommen gerade als Gegenbeweis. Denn in all diesen Texten geht es darum, dass Gott sich in der irdischen Wirklichkeit den Menschen auf eine begrenzte Art und Weise selbst zugänglich macht, obwohl (!) er eigentlich unnahbar ist, sodass diese BACKHAUS, Hebräerbrief, 442. Vgl. MACKIE, Critique. 144 Vgl. M ACKIE, Critique, 20f. 145 Vgl. M ACKIE, Critique, 21. 146 Vgl. M ACKIE, Critique, 21.23–25. 147 Vgl. M ACKIE, Critique, 21–33. 148 M ACKIE, Critique, 20. 142 143
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eigentlich Schaden davontragen müssten. Gerade darüber wundern sich die Israeliten am Sinai (Dtn 5,23–25). Die Begegnung mit Gott ist möglich – im Hier und Jetzt –, aber ihre ungetrübte und unvermittelte Nähe ist und bleibt für Hebr dem Eschaton vorbehalten. Deshalb ist προσσέρχομαι als Ausdruck für diese auf die Zukunft hin ausgerichtete, in der Gegenwart erfahrbare Realität zu verstehen und im Detail von εἰσέρχομαι zu unterscheiden. Dass Mackie mit seiner Kritik eher ein persönliches als ein exegetisches Anliegen verbindet, bleibt zu vermuten. Denn ihm scheint vor allem auch daran gelegen zu sein, Hebr als Kronzeugen einer mystischen bzw. charismatisch-pfingstlerischen, vorrangig erfahrungsorientierten Frömmigkeit zu gewinnen: „In contrast to the impoverished experience of the supernatural and suprarational in our present time (particularly in North American and European churches), the early Christian church was convinced by the close conformance of their many experiences […]. Thus, by all accounts, the early church’s experience of God’s ‚now‘ appears to even surpass our meager expectations of the heavenly ‚not yet.‘“149 Bei aller theologischen Berechtigung dieses Anliegens kann es als Maßstab für das Verständnis des Hebr aus meiner Sicht nur sehr bedingt veranschlagt werden.
Mit diesen Einsichten haben wir uns zunächst „nur“ auf die angesprochenen Adressaten des Hebr sowie den Autor selbst in ihrer konkreten (heils-)geschichtlichen Situation bezogen und damit auf alle später lebenden Glaubenden im Moment ihrer Begegnung mit dem Text des Hebr (vgl. Gruppe V in Abb. 6). Von diesen Ergebnissen ausgehend lässt sich nun aber auch sowohl nach den früheren Generationen des glaubenden Gottesvolkes vor dem Reden Gottes im Sohn (vgl. Gruppe II in Abb. 6) fragen als auch nach den früheren Generationen nach dem Reden Gottes im Sohn (vgl. Gruppe IV in Abb. 6). 4.2.3 Der Zugang früherer Generationen des glaubenden Gottesvolkes „Wir wollen euch aber, Brüder, nicht in Unkenntnis lassen über die Entschlafenen, damit ihr nicht betrübt seid wie die übrigen, die keine Hoffnung haben.“ Zwar spricht Hebr nirgends wie hier Paulus in 1 Thess 4,13 die Frage nach dem Schicksal der bereits verstorbenen Glaubenden ausdrücklich an, sie ist aber dennoch in seinen Ausführungen beständig präsent. Denn das Wissen um diese Frage wird von ihm bei seinen Adressaten ja ausdrücklich vorausgesetzt (6,2). Sie begegnet sodann in Form der Thematisierung des Vollendungsstandes der alttestamentlichen Glaubenszeugen (vor allem 11,13.39f.) und besonders auffällig in der Rede von den „Geistern der vollendeten Gerechten“ (πνεύματα δικαίων τετελειωμένων) in 12,23. Diese werden als Teil der himmlischen Festgemeinde genannt, zu der die Adressaten „hinzugetreten sind“ (12,22).
149
MACKIE, Critique, 34.
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Dass es sich bei diesen πνεύματα um die Geister von verstorbenen Menschen handeln dürfte, entspricht mittlerweile der exegetischen Mehrheitsmeinung.150 Die Wendung δικαίων τετελειωμένων nimmt eindeutig ihren „Heilsstatus“151 in den Blick, zumal diese Gerechten direkt mit Gott als Richter genannt werden. Zudem finden sich dazu in frühjüdischer Literatur vielfach Parallelen (vgl. u. a. Weish 3,1 oder äthHen 103,4).152 Für die Annahme, die Wendung beziehe sich nur auf die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen entweder vor153 dem Reden Gottes im Sohn oder danach154 (d. h. Christen) gibt es m. E. keinen Anlass, denn die Formulierung erinnert an die in 10,38 mit Hab 2,4bLXX allgemeinmenschlich formulierte Bedingung für das Bestehen vor Gott: „Mein Gerechter wird aus Glauben leben.“ Dieser wird letztlich ja gerade anhand aller positiven Glaubenszeugen mit Jesus als Höhepunkt ausgeführt (11,1–12,3).155 Zudem ist es unwahrscheinlich, dass Hebr hier mit τελειωθῶσιν etwas völlig anderes meint, als er das sonst tut.156 Während die ἐκκλησία πρωτοτόκων in 12,23a die Gesamtheit aller Glaubenden zu allen Zeiten – die ecclesia stricte dicta – bezeichnet,157 benennt Hebr mit den πνεύματα δικαίων τετελειωμένων alle bereits verstorbenen Glaubenden – die gesamte ecclesia triumphans.158 Doch gerade weil hier dieser Heilsstatus (10,38) der bereits verstorbenen Glaubenden in den Fokus gerät und dieser Heilsstatus aber mit einem 150 Vgl. u. a. W INDISCH, Hebräerbrief, 114; M ICHEL, Hebräer, 466; B RAUN, Hebräer, 438f.; HEGERMANN, Hebräer, 260; ATTRIDGE, Hebrews, 376; STROBEL, Hebräer, 170; BRUCE, Hebrews, 395; ELLINGWORTH, Hebrews, 680; DESILVA, Perseverance, 467; KARRER, Hebräer II, 338; BACKHAUS, Hebräerbrief, 446; COCKERILL, Hebrews, 656f. 151 G RÄSSER, Hebräer III, 319, der zugleich richtig feststellt, dass Engel zwar in 1,14 als λειτουργικὰ πνεύματα bezeichnet werden, wobei mit dieser Charakterisierung jedoch, anders als in 12,23, „einseitig ihre Funktion [...] im Blick ist“. Diese Einschätzung ist umso bemerkenswerter, als Gräßer bei 12,22–24 insgesamt eigentlich an eine rein himmlische Szenerie denken möchte (vgl. GRÄSSER, Hebräer III, 314f.). 152 Vgl. zahlreiche weitere Belege bei STOLZ, Höhepunkt, 175. 153 Vgl. B LEEK, Hebräerbrief, 482; H OFIUS, Gemeinschaft, 192 Anm. 108; B RUCE, Hebrews, 359f.; THIESSEN, Gott, 134; entgegen der Deutung in seinem späteren Kommentar zum Hebr so auch noch GRÄSSER, Rechtfertigung, 170. 154 Vgl. B ENGEL, Gnomon, zu Hebr 12,23. 155 Vgl. M OFFATT, Hebrews, 218; LANE, Hebrews II, 471. 156 Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 680; etwas anders M ICHEL, Hebräer, 466–468, der diese Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen möchte, sodass τετελειωμένων im Sinne des rabbinischen Ausdrucks ( גּמוּ ִרם ַצ ִדּיִקיםvollkommen Gerechte) verstanden werden könnte, d. h. als rein eschatologischer (nicht soteriologischer!) Ausdruck für die in Kap. 11 genannten Glaubenszeugen (vgl. auch LANE, Hebrews II, 471). Diese Unterscheidung zwischen eschatologischer und soteriologischer Gerechtigkeit hat zwar aufgrund des Glaubensverständnis des Hebr eine gewisse Berechtigung, darf aber gerade nicht zur Isolierung dieser Aspekte führen, weil beide letztendlich für Hebr zusammengehören (s. o. II.2.5). 157 Zur ἐκκλησία πρωτοτόκων in 12,23a s. o. ab S. 206. 158 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 656f.; ebenso LANE, Hebrews II, 471; G RÄSSER, Hebräer III, 320; GUTHRIE, Introduction, 264. Anders WEISS, Hebräer, 680 Anm. 12, der aufgrund der Spannung zu 11,39 die in Kap. 11 genannten Glaubenszeugen ausschließt, die Frage aber auch letztlich unbeantwortet lassen will.
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Perfektpartizip (τετελειωμένων) ausgedrückt wird, scheint eine Spannung zum sonst so konsequent bedachten eschatologischen Vorbehalt der Vollendung der Glaubenden – allen voran in 11,39f. – offensichtlich zu sein.159 Wo und in welchem Zustand befinden sich dann aber die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen – wo die alttestamentlichen Zeugen und wo die verstorbenen Glaubenden nach dem Reden Gottes im Sohn? Diese Frage soll im Folgenden unter Beachtung des Wirklichkeitsverständnisses des Hebr weiter bedacht werden. 4.2.3.1 Zwei eschatologische Modelle im Hebräerbrief? Für den Zugang des glaubenden Gottesvolkes zur himmlischen Stadt und seinen Eintritt in die Gottesruhe (κατάπαυσις) gilt es, die methodologische Unterscheidung hinsichtlich seiner verschiedenen Generationen zu beachten (vgl. Abb. 6). Dadurch lassen sich m. E. zwei grundlegende eschatologische Modelle ausmachen. Sie sind so oder im Detail mit jeweiligen Modifizierungen auch in der Forschungsgeschichte vorgetragen worden und beschreiben, wie die Vorstellung des Hebr vom „Eintritt“ des Gottesvolkes in die himmlische Wirklichkeit als Ziel gedeutet werden kann. Wesentlich sind dabei die Fragen nach Zeitpunkt und Ausmaß des in 12,26–29 geschilderten Endgerichts Gottes sowie nach dem Stand der bereits verstorbenen Glaubensgenerationen bis zu diesem Endgericht, sowohl vor als auch nach dem Reden Gottes im Sohn (vgl. Gruppen II und IV in Abb. 6). Eine weitere Möglichkeit, wonach das Heilswerk Jesu keine entscheidende Bedeutung für die Generationen vor dem Reden Gottes im Sohn hätte und diese völlig unabhängig davon in die Ruhe einträten, scheidet aufgrund der soteriologischen Christozentrik des Hebr aus (vgl. II.2.5 sowie II.3.3) und muss daher hier auch nicht weiter diskutiert werden (vgl. auch 9,15!). Ein erstes mögliches Modell A versteht die himmlische Szenerie in 12,22– 24 als gegenwärtige Realität. Damit ist die Vollendung aller bereits verstorbenen Glaubensgenerationen vor (vgl. Gruppe II in Abb. 6) und nach (vgl. Gruppe IV in Abb. 6) dem Reden Gottes im Sohn mit ebendiesem abgeschlossen:160
159 160
Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 680. Die römischen Ziffern in der Abbildung beziehen sich auf Abb. 5 auf S. 211.
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Abb. 7: Eschatologisches Modell A
Die himmlische Festgemeinde in 12,22–24 mit ihren eschatologischen Heilsgütern ist hier schon in gegenwärtiger Existenz. Die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen sind im vollen Maße in die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott in der himmlischen Stadt eingegangen und haben somit die Verheißung erlangt. Die dafür in 11,40 formulierte Bedingung des „μὴ χωρὶς ἡμῶν“, d. h. das „Bessere“ der gemeinsamen Vollendung wäre danach mit dem ersten Kommen des Sohnes und damit seit der „Entstehung der christlichen Gemeinde“161 an sich erfüllt.162 Mit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu wäre alles eschatologisch Entscheidende geschehen, verwirklicht und abgeschlossen. Entsprechend wäre das Perfektpartizip τετελειωμένων in 12,23 als Beschreibung des gegenwärtig abgeschlossenen Heilszustand jener δίκαιοι zu verstehen. Die Himmelsgemeinschaft, in der sich deren πνεύματα befinden, wäre ein Ausdruck für das, was für verstorbene Generationen des glaubenden Gottesvolkes bereits erreichte, bleibende Realität und für die im „Heute“ irdisch lebenden noch anzustrebende Zukunftshoffnung ist.163 Für dieses Modell spricht vor allem, dass das τελειωθῶσιν in 12,23 exakt dieselbe inhaltliche Bestimmung hätte wie auch sonst im Hebr – allen voran in 11,40. Eine Notwendigkeit zur weiteren Differenzierung bestünde hier nicht. Völlig offen bleibt hingegen, wie das in 12,26–29 ausdrücklich geschilderte Endgericht Gottes eschatologisch einzuordnen ist. Findet es statt, nachdem alle Generationen in die Ruhe eingegangen sind? Dann bezöge es sich aber wohl nur auf die irdische Wirklichkeit. Oder findet es vor dem Eintritt der zum Zeitpunkt des Endgerichts irdisch lebenden Generation statt? Dann bezöge es sich
BRAUN, Hebräer, 439 So auch schon BLEEK, Hebräerbrief, 482; dann auch GRÄSSER, Hebräer III, 320, der dennoch nicht davon ausgeht, dass Hebr damit sagen möchte, dass alle bis dato verstorbenen Glaubensgenerationen in ihrer Vollzahl bereits im Himmel sind. Wen genau er dann aber meint, bleibt bei ihm recht schwammig: Hebr „wird [...] wohl nur darauf abheben wollen, daß zur Festversammlung im Himmel selbstverständlich auch einige Geister vollendeter Gerechter gehören“ (vgl. GRÄSSER, Hebräer III, 320f.; Herv. v. Vf.). 163 Vgl. so u. a. LOADER, Sohn, 44f.; B RUCE, Hebrews, 110. 161 162
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zwar auch nur auf die irdische Wirklichkeit, würde aber diese Generation ebenfalls mit umfassen. Doch beides kann für Hebr nicht zutreffen. Nach 12,26–29 wird unzweifelhaft die gesamte geschaffene – irdische und himmlische – Wirklichkeit dem Richterspruch Gottes unterworfen werden, sodass allein das „Unerschütterliche“ bleiben wird.164 Und da ebendieser Gott der „Richter Aller“ ist, ist nicht nur die zum Zeitpunkt des Gerichts letzte Generation des Gottesvolkes davon betroffen, sondern alle Generationen – auch die bereits verstorbenen. Zudem ist hier der Widerspruch zum eschatologischen Vorbehalt der Vollendung des Gottesvolkes (11,39f.) am stärksten. Will man dem sonst so stringent denkenden Autor des Hebr nicht eine Denklücke unterstellen oder die literarische Integrität von 12,22–24 rein spekulativ bezweifeln,165 ist die Frage nach der angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen 11,39f. und 12,23 mehr als gerechtfertigt.166 Daher müsste dieses eschatologische Modell, das die verstorbenen Glaubensgenerationen bereits in der himmlischen Stadt wähnt, mindestens so modifiziert werden, dass es diesen Aspekten Rechnung trägt. Dem gegenüber steht ein eschatologisches Modell B, wonach alle Generationen des glaubenden Gottesvolkes bis zum Zeitpunkt des Endgerichts noch vor ihrem Eintritt in die himmlische Stadt stehen:167
Abb. 8: Eschatologisches Modell B
S. o. zur Deutung des κριτὴς πάντων S. 209. So aber SAHLIN, Emandationsvorschläge, 85, der darin „eine sekundäre Zutat sehen [möchte; Anm. A. H.], die als Interpretament zu den Worten ἐκκλησίᾳ πρωτοτόκων ἀπογεγραμμένων ἐν οὐρανοῖς gemeint sein dürfte“. Vgl. dazu kritisch u. a. WEISS, Hebräer, 681 Anm. 41. 166 Gegen G RÄSSER, Hebräer III, 319 Anm. 12 sowie 320 mit Anm. 22. Der Vorschlag bei KÄSEMANN, Gottesvolk, 28 Anm. 3, hier schlicht zwei unterschiedliche Traditionen anzunehmen (vgl. daran anknüpfend WEISS, Hebräer, 680 Anm. 40), greift als Lösung kaum, da er so, wie ELLINGWORTH, Hebrews, 681 daran zu Recht kritisiert, das Problem nur verschiebe. 167 Die römischen Ziffern in der Abbildung beziehen sich auf Abb. 5 auf S. Seite 211. 164 165
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In diesem Modell ist die himmlische Festgemeinde (12,22–24) mit ihren eschatologischen Gütern für keine der Glaubensgenerationen in gegenwärtiger Existenz. Die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen sind bisher ebenso wenig in die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott eingegangen wie die bis zum Endgericht lebenden. Das Erlangen der Verheißung steht also für alle noch aus. Die Bedingung des „μὴ χωρὶς ἡμῶν“ aus 11,40 würde sich hier auf den tatsächlichen gemeinsamen Eintritt aller Generationen (vgl. Gruppe I in Abb. 6) in die himmlische Stadt beziehen. Denn „solange es heute heißt“ (3,13) ist dieser noch nicht erfolgt. Sachlich wäre das „μὴ χωρὶς ἡμῶν“ nicht mit dem ersten Kommen des Sohnes und der Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde abschließend erfüllt, sondern mit dem Erreichen der Vollzahl des glaubenden Gottesvolkes und wäre insofern stärker mit dem Gedanken einer göttlichen Erwählung verbunden. Das Heilswerk Jesu hätte für alle Generationen denselben (eschatologischen) Effekt: die Eröffnung des zukünftigen Eintritts in die Gemeinschaft mit Gott im himmlischen Jerusalem. Demnach wäre das erste Kommen des Sohnes der Beginn der eschatologischen Rettung, sein zweites Kommen ihr Abschluss. Dieses Modell beachtet den für Hebr so grundlegenden eschatologischen Vorbehalt der Vollendung ohne einen wie auch immer sich vollziehenden Zwischenschritt. Der Prozesscharakter der Vollendung tritt stärker zugunsten einer ausschließlich futurischen Eschatologie in den Hintergrund, sodass die Himmelsgemeinschaft in 12,22–24 eine Vision der Realität wäre, die durch das zweite Kommen Jesu und dem damit einhergehenden Gericht Gottes einträte.168 Das Perfektpartizip τετελειωμένων in 12,23 wäre in diesem Fall als Ausdruck für die Gewissheit des Heilsstatus der „Geister der Gerechten“ zu verstehen, nicht aber für den tatsächlichen Genuss der Gemeinschaft Gottes. Modell B erzeugt die geringste Spannung zum eschatologischen Vorbehalt der Vollendung im Hebr und nimmt die Bedeutung des Endgerichts ernst. Zugleich muss es aber eine neue Spannung in Kauf nehmen, da das τελειωθῶσιν in 12,23 so letztlich völlig vom sonstigen Verständnis von „Vollendung“ im Hebr abrücken würde. Damit einhergehend müsste auch völlig offen bleiben, was zu den bis zum Zeitpunkt des Endgerichts und dem Eintritt in die himmlische Stadt bereits verstorbenen Glaubensgenerationen aus Sicht des Hebr zu sagen wäre.169 Zudem marginalisiert dieses Modell m. E. auch die für Hebr buchstäblich einschneidende Bedeutung des Redens Gottes im Sohn für dessen Wirklichkeitsverständnis. Denn letztlich gibt es zwischen den Generationen vor (vgl. Gruppe II in Abb. 6) und nach (vgl. Gruppe III in Abb. 6) dem Reden Gottes im Sohn eine überbetont große Kontinuität, da das einmalige Selbst168 Vgl. u. a. SCHOLER, Proleptic, 201–204; R ICHARDSON, Pioneer, 180.215; weniger deutlich auch ELLINGWORTH, Hebrews, 680; 169 Vgl. K OESTER, Hebrews, 546: „[...] Hebrews provides no clarity about a person’s state between death and final judgment“.
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opfer des Sohnes in Kreuzigung und Auferstehung letztlich „nur“ ein zeitlich vorgelagertes Heilsereignis wäre. Sein eigentlicher Effekt stünde noch weitgehend aus. Modell B betont wie Modell A entscheidende Aspekte der eschatologischen Vorstellung des Hebr, doch bei beiden Modellen entstehen so auch sachliche Einseitigkeiten, die sich mit anderen Aspekten in der Gedankenwelt des Hebr reiben. Dies mag zwar bei der Dynamik der vielschichtigen Darstellung eines so komplex denkenden Autors auch gar nicht auszuschließen sein,170 doch sollte auch eine Scheu vor der exegetischen Urteilsfindung nicht die Folge sein. Doch bevor wir uns daher einem dritten – m. E. zielführenderen – eschatologischen Modell zuwenden, sei hier ein exegetisch-religionsgeschichtlicher und zugleich systematisch-theologischer Zwischenschritt vorgenommen. Es ist sinnvoll, der sich im Spannungsfeld von Modell A und B aufdrängenden Frage nach dem Stand der bereits verstorbenen Glaubensgenerationen nachzugehen. Mit jenen suchen die gegenwärtig Lebenden ja schließlich die gemeinsame Vollendung. 4.2.3.2 Der Verbleib der bereits Verstorbenen bis zur Vereinigung Im Hintergrund der Frage nach dem Stand der bereits verstorbenen Glaubensgenerationen steht das Ringen um die religionsgeschichtliche Einordnung des Hebr hinsichtlich des Schicksals der Toten überhaupt. Vertritt Hebr eine – frühjüdisch-apokalyptisch geprägte – ganzleibliche Auferweckung am jüngsten Tag? Oder geht er doch eher von einer – hellenistisch geprägten – schon realen himmlischen Weiterexistenz zumindest eines (unsterblichen) Teils des Menschen nach dessen individuellen Tod aus? Oder handelt es sich hierbei sogar um eine falsche Alternative – nicht nur im Blick auf Hebr? Die Frage nach dem Verbleib der Toten – nicht allein in der Auslegung des Hebr, sondern im christlichen Diskurs generell – bewegt sich seit Luthers Angriff auf die Vorstellung einer s. E. philosophisch überformten Vorstellung einer Unterscheidung von Leib und Seele, aber letztlich vor allem seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in ebendiesem Spannungsfeld.171
170 Vgl. G RÄSSER, Hebräer III, 320 Anm. 22 mit Verweis auf die kritische Besprechung zu Harmonisierungsversuchen zwischen 11,40 und 12,23 bei LÖHR, Hermut: Rez. Rose, Christian, Die Wolker der Zeugen, ThLZ 120 (1995), 887–889. 171 Vgl. die sehr gute Skizze über diese theologische Problemlage bei R ATZINGER, Eschatologie, 91–97. Letztlich hatte auch Luther an der Unterscheidung zwischen Leib und Seele festgehalten, die bis ins 20. Jh. hinein theologischer Konsens blieb. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die sog. „Ganztod-Lehre“ formuliert und von führenden deutschsprachigen Theologen wie Ernst Stange, Paul Althaus, Karl Barth, Emil Brunner, Werner Elert, Oscar Cullmann, Eberhard Jüngel u. a. vertreten. Vgl. den Überblick mit entsprechenden Werkangaben bei SWARAT, Uwe: Jenseits des Todes – Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung des Leibes?, in: Ders./Söding, Thomas (Hg.): Gemeinsame Hoffnung – über
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Die stärker apokalyptisch geprägten Traditionen des Frühjudentums erwarteten ein universales Endgericht am Ende des gegenwärtigen Äons, zu dem in früheren Traditionen zunächst wohl nur die Gerechten, in späteren dann aber auch alle Toten auferweckt werden, damit über ihr Leben ein göttliches Urteil gefällt werde.172 Ihren schriftlichen Ausdruck findet diese Wirklichkeitssicht in alttestamentlich-frühjüdischen Texten wie Dan 12,1–3; Jes 26,7–21 (besonders V. 19); Hos 6,1f.; Ez 37,1–14; 2 Makk 7; PsSal 3,11f.; äthHen 51,1; 91,10; 92,3; 103,4; 4 Esr 7,32; syrBar 42,7; 49,51 oder Syb 4,178–190.173 Dieses apokalyptische Denken verortet die Toten bis zu deren Auferweckung in einem Totenreich (hebräisch ל6ְשׁא, griechisch ᾅδης),174 d. h. in einer Art Zwischenwelt. Grundlegend für diese Vorstellung, an die das neutestamentliche Zeugnis weitgehend anknüpfe,175 ist die zugrunde liegende Anthropologie, da hier keine partielle Unterscheidung des Menschen z. B. in Leib, Seele und/oder Geist vorgenommen wird. Vielmehr gilt der Mensch stets als Einheit, beschrieben durch verschiedene Aspekte. „Danach lebt der Mensch als ganzer, er stirbt als ganzer und er wird als ganzer auferstehen.“176 Demgegenüber stehe, wurzelnd in der Ideenlehre Platons, das hellenistische Menschenbild, welches zunehmend das frühjüdische, aber beizeiten auch das christliche Verständnis beeinflusst habe. Hiernach gibt es ein unsterbliches Prinzip im Menschen, welches von seiner sterblichen Leibeshülle lediglich zeitlich begrenzt umkleidet wird. Stirbt die leibliche Hülle, existiert der unsterbliche Teil fort. Der Gedanke einer ganzheitlichen Auferstehung der Toten findet hier keine Notwendigkeit, da der Mensch mit dem Eintritt seines Todes in seiner nicht-leiblichen Existenz unmittelbar in die himmlische Wirklichkeit aufgenommen wird. Die jüngere Debatte um das nun im Hebr zugrunde liegende Verständnis vom Verbleib der Toten und ihrer Vereinigung mit den im „Heute“ lebenden Glaubenden bewegt sich entsprechend der mehrheitlichen theologischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zwischen diesen beiden Polen. Drei
den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch, Quaestiones Disputatae 257, Freiburg i. Br. 2013, 13–35. 172 Vgl. ausführlich ZEILINGER, Auferstehungsglaube, 11–78; FISCHER, Auferstehungsglaube; STEMBERGER, Günter: Art. Auferstehung der Toten. Judentum, in: TRE 4 (1979), 443–450 sowie WIED, Günther: Der Auferstehungsglaube des späten Israel in seiner Bedeutung für das Verhältnis von Apokalyptik und Weisheit, Univ.-Diss., Bonn 1967, unveröff. Manuskr. 173 Vgl. FISCHER, Art. Auferweckung. 174 Die genaue Übersetzung von שׁ אוֹל ְ ist nicht eindeutig geklärt. Zudem unterscheiden sich die beiden Wörter inhaltlich im Detail ihrer jeweiligen religionsgeschichtlichen Vorstellung bzw. unterliegen Entwicklungen (vgl. ZEILINGER, Auferstehungsglaube, 16–26). 175 Wie selbstverständlich Jesus wohl die Auferweckung der Toten voraussetzte, zeigt das darüber abgehaltene Streitgespräch mit den Sadduzäern in Mk 12,18–27. Jene lehnten, weil sie allein die Thora als verbindlich anerkannten, in der sich keine Zeugnisse von der eschatologischen Totenauferweckung finden, diese Vorstellung ab. 176 FISCHER, Auferstehungsglaube, 88.
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wesentliche Argumente sprechen eher für eine Entscheidung zugunsten der frühjüdisch-apokalyptischen Erwartung einer ganzheitlichen Auferstehung der Toten:177 Erstens scheint die Formulierung πνεύματα δικαίων sich stark an frühjüdisch-apokalyptische Parallelen anzulehnen (vgl. vor allem Dan 3,86LXX; äthHen 103,4; Weish 3,1 u. ö.). Zweitens war diese Vorstellung eines eschatologischen Endgerichts mit der Auferstehung der Toten trotz (späterer) Modifikationen das prägende Wirklichkeitsverständnis in der Umwelt des Hebr im 1. Jh. n. Chr.178 Drittens – und das ist wohl das stechendste Argument – setzt Hebr selbst die „Lehre […] von der Auferstehung der Toten und vom ewigen Gericht“ (διδαχή […] ἀναστάσεώς τε νεκρῶν καὶ κρίματος αἰωνίου) als für seine Adressaten bekannt und von ihnen als bejaht voraus (6,2).179 Deutet man die Vorstellung im Hebr, konkret die πνεύματα δικαίων τετελειωμένων in 12,23 in diesem Sinne, spräche dies eher dafür, dass die bereits verstorbenen Glaubenden noch nicht unmittelbar in die himmlische Gemeinschaft Gottes eingegangen sind, wie der für Hebr wichtige eschatologische Vorbehalt es ja gerade nahelegt (Modell B). Doch gerade jene präsentische Formulierung in 12,23, unsere Ergebnisse zur Vollendung als prozesshaftes Geschehen sowie die berechtigte Beobachtung, dass Hebr sich durchaus profiliert (auch!) im hellenistischen Denken bewegt oder zumindest mit dessen Ausdrucksformen arbeitet, geben Anlass zur Annahme, dass ihm die hellenistische Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele mit ihren Folgen für das Schicksal der Toten nicht fremd gewesen sein dürfte. Dafür spricht das in Modell A stärker betonte „schon“ der Teilnahme der „Geister der vollendeten Gerechten“ an der himmlischen Festgemeinschaft, zu der auch Gott selbst zählt (12,23).180 Hebr spricht zwar nirgends ausdrücklich von der Unsterblichkeit eines Teils des Menschen. Zumindest könnten sowohl die Unterscheidung zwischen „unseren Vätern nach dem Fleisch“ (τῆς σαρκὸς ἡμῶν πατέρες) und Gott als dem „Vater der [bzw. unserer?; Anm. A. H.] Geister“ (πατὴρ τῶν πνευμάτων) in 12,9 als auch die Anrede der
Vgl. STOLZ, Höhepunkt, 175–178. Vgl. BAUCKHAM, Fate, 86. 179 Die Verwendung von διδαχή in Verbindung mit diesen beiden Vorstellungen in 6,2 klingt wie ein regelrechter terminus technicus und zeigt, wie schnell etabliert diese Erwartung im frühen Christentum war. Vgl. dazu auch COCKERILL, Resurrection, der, obwohl die Auferstehung Jesu im Hebr weder oft benannt (außer direkt in 13,20) und nirgends ausdrücklich mit einer Auferstehung der Glaubenden in Verbindung gebracht wird, dennoch überzeugend dafür argumentiert, dass deren eschatologische Auferstehung eng mit dem Heilswerk Jesu verbunden ist und zudem ihren wesentlichen Hoffnungsgrund darstellt (vgl. COCKERILL, Resurrection, 232–234). 180 Vgl. PETERSON, Perfection, 163f.: „Yet it is hard to believe that those so described are in some sort of intermediate state, since they are enjoying the presence of God in the heavenly city itself [...]. At all events, the use of τετελειωμένων, and the very context in which these ‚spirits‘ are found, suggest that nothing is lacking in their situation.“. 177 178
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Adressaten als „solche, die im Leib sind“ (αὐτοὶ ὄντες ἐν σώματι), in 13,3 auf diese Vorstellung hindeuten.181 Es mag verlocken, hier eine eindeutige Entscheidung zu fällen. Doch vielleicht muss die Spannung eines eigenwilligen Gemisches beider Vorstellungen als Möglichkeit für Hebr ausgehalten werden, so wie auch eine einseitige religionsgeschichtliche Zuordnung dieses Schriftstücks immer wieder an die Grenzen des vorfindlichen Textes stößt.182 Für beide Sichtweisen finden sich gute Argumente, was von Beginn an der Tradierung des Hebr für Kopfzerbrechen sorgte. Darauf deutet nicht zuletzt der textkritische Befund von 12,23. Besonders auffällig ist der (wohl sekundäre) Versuch in D*, mit der Änderung des Dativ-Plurals πνευμασιν in den Singular πνευματι der Spannung vermutlich durch die Eintragung einer trinitarischen Leseweise von 12,23f. (Gott – Geist – Sohn/Jesus) Herr zu werden.183 Dass ein (neutestamentlicher) Autor bereits im 1. Jh. n. Chr. in beiden Vorstellungen zugleich denken und schreiben konnte, zeigt auch der Seitenblick auf andere neutestamentlichen Traditionen: Paulus kann sich, obwohl (!) er in 1 Thess 4 und besonders prominent in 1 Kor 15 für die ganzheitliche Auferstehung der Toten argumentiert, in Phil 1,23 den Tod wünschen, um unmittelbar danach „bei Christus zu sein“. Und auch in 2 Kor 5,8 sehnt er sich danach, „aus seinem Leib auszuziehen“ (ἐκδημῆσαι ἐκ τοῦ σώματος), um „beim Herrn heimisch zu werden“ (ἐνδημῆσαι πρὸς τὸν κύριον).184 Innerhalb des lukanischen Doppelwerks erzählt Jesus vom reichen Mann und dem armen Lazarus, die sich beide nach ihrem Ableben in den verschiedenen Teilen des Totenreichs (ᾅδης) wiederfinden (Lk 16,19–31) und Paulus beruft sich gegen die Sadduzäer bei seinem Prozess vor dem Hohen Rat auf seine pharisäische Überzeugung von der Auferstehung der Toten (Apg 23,6–8). Zugleich ist es aber Jesus am Kreuz in Lk 23,39–43, der dem reuevollen Verbrecher zu seiner Seite verspricht: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (σήμερον μετ᾽ ἐμοῦ ἔσῃ ἐν τῷ παραδείσῳ). Sodann knüpft Jesus im Matthäusevangelium in seiner Endzeitrede an die frühjüdisch-apokalyptische Vorstellung des Weltgerichts bei der Wiederkunft des Menschensohns an (Mt 25,31–46; vgl. Mk 13,26f.; Lk 21,27) und zugleich gibt es kein so deutliches Wort über die Unsterblichkeit der Seele 181 So z. B. B RAUN, Hebräer, 415; zurückhaltender A TTRIDGE, Hebrews, 363. Kritisch WEISS, Hebräer, 653, der darin gerade keine anthropologische Bestimmung sieht, sondern einen Ausdruck einzig für die Kennzeichnung des Gegenübers von irdischer und himmlischer Wirklichkeit, welche die Väter bzw. der Vater jeweils repräsentieren. 182 Vgl. B ACKHAUS, Hebräerbrief, 424: „Zwischen dem griechisch-anthropologischen und dem apokalyptisch-universalen Sinn müssen wir nicht trennen, denn Hebr führt beide Vorstellungswelten gezielt zusammen und hält den eigenen Sprachgebrauch nach beiden Seiten offen.“ 183 Vgl. LANE, Hebrews II, 442. 184 Ob für Paulus dabei eine biografische Entwicklung gerade im Hinblick auf die nicht unmittelbar eintretende Parusie und die ermüdende Erfahrung des eigenen Lebensalters zu veranschlagen ist (vgl. SCHNELLE, Paulus, 398–400), sei hier dahingestellt.
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– zumindest hinsichtlich einer irdischen Zugriffsgewalt – im Gegenüber zum vergänglichen Leib wie in Mt 10,28: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen; fürchtet aber vielmehr den, der sowohl Seele als Leib zu verderben vermag in der Hölle!“ Nicht zuletzt kann auch das Johannesevangelium seine stark präsentisch eschatologischen Aussagen (vgl. Joh 5,24) mit der Zukunftserwartung einer Totenauferweckung in Waage halten (Joh 5,25–29). Letztendlich verdanken sich diesem ineinander beider Vorstellungen im neutestamentlichen Zeugnis – sowohl im ganzen als auch innerhalb seiner einzelnen Traditionslinien – auch spätere bis hin zu modernen christlichen Bekenntnissen, die beide Vorstellungen nicht gegeneinander ausspielen oder schlicht zur Frage schweigen. Vielmehr kombinieren sie die unmittelbare Teilhabe an der Gemeinschaft Gottes nach dem Tod und das trotz des noch ausstehende Endgericht mit der leiblichen Auferweckung und Verwandlung zur Verwirklichung des ewigen Reiches Gottes miteinander. So wird diese Balance beider Vorstellungen im Westminster Shorter Catechism von 1646/47 auf Frage 37 („What benefits do believers recieve from Christ at death?“) ausdrücklich festgehalten: „The souls of believers are at their death made perfect in holiness, and do immediately pass into glory; and their bodies, being still united in Christ, do rest in their graves, till the resurrection.“185
Aber auch gegenwärtig finden sich ähnlich Ausführungen, wie sich im Kompendium zum Katholischen Katechismus von 2005 bei Frage 205 zeigt: „Was geschieht im Tod mit unserer Seele und unserem Leib? Durch den Tod wird die Seele vom Leib getrennt. Der Leib fällt der Verwesung anheim. Die Seele, die unsterblich ist, geht dem Gericht Gottes entgegen und wartet darauf, wieder mit dem Leib vereint zu werden, der bei der Wiederkunft des Herrn verwandelt auferstehen wird. Das Wie dieser Auferstehung übersteigt unsere Vorstellung und unser Verstehen.“186
Mit seinem eschatologischen zugleich des „Schon“ und „Noch-nicht“ der Vollendung der Glaubenden – konkret der verstorbenen Glaubenden (12,23) – und ihrer Teilhabe an der himmlischen Wirklichkeit steht Hebr wohl in der Linie dieses zugleichs beider religionsgeschichtlichen Linien. Zumindest gilt dieses Zugleich für die damit einhergehenden Konsequenzen für den Stand der im Glauben als gerecht befundenen Verstorbenen vor dem Endgericht. Bemerkenswert sind hierzu die Überlegungen von Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) in dessen „Eschatologie“, mit denen er sich Ender der 1970er Jahre in diesen Diskurs einschaltete.187 Nach Ratzinger sei die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele nicht aus der griechischen Philosophie ableitbar, weil diese keine einheitliche Vorstellung kenne. Zwar
WESTMINSTER SHORTER CATECHISM, 99. KATECHISMUS DER KATHOLISCHEN KIRCHE, 82f. 187 Vgl. R ATZINGER, Eschatologie, bes. 90–132. 185 186
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unterscheide Platon zwischen Seele und Leib im Menschen, das Ziel dabei sei aber gerade nicht eine Trennung, sondern die innere Einheit des Menschen.188 Die Vorstellung von einer unsterblichen Seele sei vielmehr eine genuin christliche Errungenschaft, die die neutestamentlichen Autoren und die Kirchenväter auf dem Fundament des alttestamentlich-frühjüdischen Zeugnisses als Reaktion auf die Auferstehung Jesu entwickelt haben. Ihre antike Umwelt bot dazu „keinerlei geklärte Auffassungen über das Geschick des Menschen nach dem Tod“189. „Die in der alten Kirche entwickelten Auffassungen über das Fortleben des Menschen zwischen Tod und Auferstehung beruhen auf den durch das Neue Testament in christologischer Zentrierung übermittelten jüdischen Überlieferung von der Scheol-Existenz des Menschen.“190 Die Thesen Ratzingers werden in der heutigen Diskussion keineswegs mehrheitlich rezipiert. Doch zumindest an die eschatologische Vorstellungswelt des Hebr knüpfen sie durchaus harmonisch an.
Das eben formulierte Zwischenfazit vom zugleich beider Vorstellungen im Hebr (bzw. im Neuen Testament generell) führt uns nun zu weiteren Überlegungen, wie Hebr den Stand der Glaubensgenerationen bis zum Eschaton versteht und ihre gemeinsame Vollendung denkt.
4.3 Die Vereinigung der Glaubenden und die Vollendung ihrer Vollendung – Ein drittes eschatologisches Modell Die Spannung zwischen Modell A zu B zeigt sich vor allem an der Frage, ob die bis zum Zeitpunkt des Endgerichts bereits verstorbenen Glaubensgenerationen schon Anteil an der himmlischen Wirklichkeit haben oder nicht und wenn ja, in welcher Weise. Der Blick hinter die religionsgeschichtlichen „Kulissen“ dieser Diskussion hat dabei – wie schon an manch anderer Stelle im Hebr – ein spannungsreiches „Jein!“ als Antwort hervorgebracht. Dies lässt uns einseitig weder zugunsten von Modell A noch B entscheiden. Das vielschichtige Wirklichkeitsverständnis des Hebr legt ein ebenso vielschichtiges eschatologisches Modell nahe, in dem die Spannweite zwischen dem „Schon“ und dem „Noch-nicht“ der Vollendung des glaubenden Gottesvolkes in all seinen Generationen nicht zu einseitig verschoben wird. Deshalb scheint mir ein eschatologisches Modell C, in gewisser Weise als Kombination aus Modell A und B, der richtige Weg zu sein, um die mehrdimensionale eschatologische Darstellung im Hebr so weit als möglich zu erfassen:191
Vgl. RATZINGER, Eschatologie, 118f. RATZINGER, Eschatologie, 121. 190 R ATZINGER, Eschatologie, 121 (Herv. v. Vf.). 191 Die römischen Ziffern in der Abbildung beziehen sich auf Abb. 5 auf S. 211. 188 189
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Abb. 9: Eschatologisches Modell C
Auch hier ist, wie in Modell A, das τελειωθῶσιν in 12,23 ein Ausdruck für die Vollendung, d. h. für den Zu- und Eintritt in die Gegenwart Gottes im himmlischen Jerusalem. Aber im Unterschied zum ersten Modell und in Übereinstimmung zum zweiten wird hier der eschatologische Vorbehalt im Hebr auch für die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen nicht ausgehebelt. Vielmehr trägt es dem Prozesscharakter der Vollendung der Glaubenden im Hebr Rechnung, der durch ein – freilich paradoxes – zugleich von „Schon“ und „Nochnicht“ des Eschatons geprägt ist. Man müsste also über die „Geister der vollendeten Gerechten“ und damit über alle bis zum Endgericht verstorbenen Glaubenden sagen, dass die Vollendung ihrer Vollendung noch aussteht. Unterstützt wird diese Annahme durch die Sonderstellung der „Gottesruhe“ (κατάπαυσις) inmitten der himmlischen Bildwelt.192 Denn obwohl der Zugang zur himmlischen Wirklichkeit durch das Heilswerk des Sohnes offen steht, obwohl sich die gegenwärtig lebenden Glaubenden der Faktizität ihrer Teilhabe an der himmlischen Festgemeinde gewiss sein dürfen und obwohl die verstorbenen Glaubensgenerationen bereits Teil eben jener Festgemeinde sind, heißt es in 4,9: „Also bleibt noch eine Ruhe dem Volk Gottes übrig.“ (ἄρα ἀπολείπεται σαββατισμὸς τῷ λαῷ τοῦ θεοῦ)193. Die Präsensform ἀπολείπετα 192 Vgl. umfassend LAANSMA, Rest, 252–358. Dass der Gedanke daran aufgrund der Beschränkung der Verwendung von κατάπαυσις auf Kap. 3 u. 4 auch nur dort und nicht im gesamten sich anschließenden Schreiben präsent sein soll, kann ich im Blick auf eine reale Situation sowohl des Verfassens als auch des Rezipierens (vermutlich durch Verlesen) des Schreibens nicht nachvollziehen (so aber LÖHR, Umkehr, 270). Ein Autor – zumal ein so stringent denkender wie Hebr – operiert doch i. d. R. an einem Abschnitt nicht völlig losgelöst von seinen zuvor schriftlich festgehaltenen Gedanken. 193 Dass Hebr hier einmalig – als einziger biblischer Beleg generell – vom σαββατισμός (Sabbatruhe) statt der sonst in 3,7–4,13 durchweg verwendeten κατάπαυσις spricht, führt zu keiner entscheidenden sachlichen Veränderung. Beide beziehen sich letztlich auf dieselbe Sache (ELLINGWORTH, Hebrews, 255). HOFIUS, Katapausis, 106–110 sieht darin eine jeweilige Akzentuierung des zeitlichen und des räumlichen Aspekts der Ruhe: „Wer in Gottes „Ruhestätte“ [κατάπαυσις; Anm. A. H.] eingegangen ist, der findet dort die Ruhe, die erforderlich ist, um eine Sabbatfeier des Lobes und der Anbetung Gottes halten zu können.“
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zeigt die gegenwärtige Realität dieses „Noch-Nicht“ an – nicht nur für Hebr und seine Adressaten, von denen er zwei Verse weiter ausdrücklich in der ersten Person Plural sprechen kann, sondern für das (ganze) Gottesvolk. Hebr spricht an keiner Stelle von einem bereits erfolgten Eintritt in diese Ruhe. Stets ist sie eine reine Zukunftsgröße, deren Eintritt im „Heute“ freilich gewiss ist.194 Insofern scheint es mir im Blick auf die Frage nach einem geeigneten eschatologischen Modell durchaus gerechtfertigt zu sein, die „Ruhe“ als eine eschatologische Größe anzusehen, die trotz aller – wie auch immer konkret erlebten – präsentischen Teilhabe an der himmlischen Wirklichkeit erst „ganz am Ende“ – als Vollendung der Vollendung – für das gesamte glaubende Gottesvolk zu erwarten ist.195 Die Realisierung der Ruhe ist der heilsgeschichtliche Gegenpol oder vielmehr Zielpunkt der Schöpfung (4,3f.).196 An diesen Zielpunkt sollen alle Glaubensgenerationen gemeinsam als das Bessere an ihrer Vollendung gelangen (11,39f.). Die bereits verstorbenen Glaubensgenerationen (II und IV; vgl. Abb. 6) befinden sich bereits in einem Zustand der Teilhabe an der himmlischen Wirklichkeit, welchen die gegenwärtig lebende Glaubensgeneration (V; vgl. Abb. 6) noch als zukünftigen, aber im ganzheitlichen Vollzug des Glaubenslebens bereits erfahrbaren Zustand vor sich hat. Der Grund dafür liegt in der einzigartigen Bedeutung des Redens Gottes im Sohn, das die Wirklichkeit sowohl horizontal als auch vertikal „einschneidet“ und die Gegenwart bis zur Wiederkehr des Sohnes zum zwischenzeitlichen und -räumlichen „Heute“ wandelt. Hier sind Vergangenheit und Zukunft, vorher und nachher, Schöpfung und Neuschöpfung miteinander verschränkt.197 Das erste Kommen Jesu ist für Hebr die Eröffnung des Eintritts in die verheißene Ruhe – jenes Hoffnungsgut, wonach sich die Glaubenden unter der alten Heilsordnung so sehr sehnten (11,13– 16.35). Einzig die dafür notwendige und hinreichende Bedingung der Gewissensreinigung konnten die alttestamentlichen Glaubenszeugen nicht durch die noch so gewissenhaft durchgeführten äußeren Reinigungsrituale der alten Heilsordnung erfüllen (10,1.4.11). Die Realisierung dieser inneren Reinigung als wesentliches Kennzeichen der neuen Heilsordnung (8,12) bleibt für Hebr einzig dem gehorsamen Selbstopfer des Sohnes vorbehalten, der aber nach 9,15 (HOFIUS, Katapausis, 110). Ähnlich LAANSMA, Rest, 300. Der σαββατισμός würde dann stärker den Beziehungsaspekt zwischen Gott und Mensch in den Blick nehmen, κατάπαυσις den konkreten Ort, an dem sich diese Beziehung ereignet. Diese Verhältnisbestimmung halte ich im Hebr für gut denkbar, sofern sie beide Aspekte nicht voneinander trennt. 194 Vgl ähnlich R ISSI, Theologie, 127f. Einzig die negative Kehrseite – die Verweigerung des Eintritts in Gottesruhe – ist eine bereits eingetretene Realität (3,11.18; 4,3.5). 195 Vgl. SCHOLER, Proleptic, 202–204; LAANSMA, Rest, 309f. 196 Gerade im Hinblick auf diese schöpfungstheologisch-heilsgeschichtliche Bedeutung der „Ruhe“ und das Verständnis des Glaubens als Beziehungsgeschehen ist die Bewertung bei RISSI, Theologie, 128 beachtenswert: „Der Ruheort ist im Hebr personal verstanden: er bedeutet die vollendete Gemeinschaft mit dem Gott, der mit den Seinen feiern wird.“ 197 S. o. II.3.1.3.
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damit genau das (auch) für die als treu befundenen Glaubenszeugen unter der alten Heilsordnung erbracht hat: „Und darum ist er Mittler eines neuen Bundes, damit, da der Tod geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfangen.“
Aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive kann, ja muss die Aussage in 9,15 tatsächlich als die „theologische Mitte des ganzen Schreibens“198 gewertet werden. „Der jetzt eröffnete wahre Gottesdienst führt bleibend in die himmlische Realität und stiftet damit bereits jetzt Erlösung […].“199 Für die verstorbenen Glaubenden bedeutet dies, dass sie seit dem einmaligen, wirksamen Heilswerk des Sohnes tatsächlich an der himmlischen Realität teilhaben. Dies gilt für die Glaubenden unter der alten Heilsordnung als diejenigen, die auf das Reden Gottes im Sohn warteten. Es gilt aber auch für die Glaubenden, die seitdem von dem Reden Gottes im Sohn her lebten und in dieser Realität gestorben sind.200 Sie sind Teil der himmlischen Festversammlung, die Gott ihren Schöpfer preist und an der auch die irdisch lebenden Glaubenden im „Heute“ teilnehmen (12,22–24).201 Doch zugleich steht jenen wie diesen das endzeitliche „unerschütterliche“ Verheißungsgut des endgültigen Ruhens in der ungetrübten Gegenwart Gottes noch aus (4,9).202 Denn obwohl der Sohn sein Heilswerk vollbracht und sich zur Rechten Gottes im Himmel gesetzt hat (1,3), wartet er noch auf die universale Verwirklichung, d. h. auf das Sichtbarwerden seiner Herrschaft über die gesamte Wirklichkeit (10,13). Deshalb können „wir ihm noch nicht alles unterworfen“ sehen (2,8). Dieser Vorbehalt in 2,8 darf nicht auf den bloßen Umstand der irdischen Existenz der Adressaten bzw. der gegenwärtig lebenden Glaubenden reduziert werden. Das Schauen der Herrschaft des Sohnes ist nicht allein lokal-vertikal eingeschränkt (im Gegenüber von irdischer und himmlischer Wirklichkeit), sondern auch zeitlich-horizontal. Denn die Durchsetzung dieser Herrschaft tritt erst (!) mit der Wiederkunft des Sohnes (10,37) und dem damit einhergehenden Weltgericht Gottes (12,26–29) ein. Dass für Hebr das universale Endgericht Gottes und die Wiederkunft des Sohnes zusammengehören,203 zeigt sich auch an der aus Hag 2,6bLXX übernommenen zeitlichen Bestimmung des Endgerichts in 12,26 – ἔτι ἅπαξ (noch
FREY, διαθήκη, 517. BACKHAUS, Hebräerbrief, 328f. 200 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 352. 201 Vgl. FILTVEDT, Creation, 176. 202 Vgl. G ÄBEL, Engel, 235 Anm. 197. 203 So auch K ÄSEMANN, Gottesvolk, 29; LOADER, Sohn, 57–59; R ISSI, Theologie, 126f.; ROSE, Verheißung, 185; SCHENCK, Cosmology, 189; STOLZ, Höhepunkt, 299–301 u. a. 198 199
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einmal).204 Zwar bezieht sich die Wendung im unmittelbaren Zusammenhang auf die in 12,18–22 geschilderte Theophanie am Sinai, die Hebr wohl als alttestamentlichen Typus zum eschatologischen Endgericht versteht (12,26a).205 Doch das schon in 9,26–28 nahezu technisch gebrauchte ἅπαξ weckt auch die Erinnerung an die Einmaligkeit des die ganze Wirklichkeit „umstülpenden“ Heilswerkes des Sohnes und seine „ein für alle Mal“ (ἐφάπαξ) erbrachte Heilsgewissheit (7,27; 9,12; 10,10.).206 „The God who has made provision ‚once for all‘ for the salvation of his people by speaking through his Son will speak ‚once more‘ – in a judgement so final that it will shake heaven and earth and bring God’s own into the full enjoyment of that ‚salvation‘.“ 207
So sperrig die Vorstellung erscheinen mag, aber die bereits verstorbenen Glaubenden sind bis zu diesem Zeitpunkt Teil der himmlischen Wirklichkeit und zugleich noch nicht im vollen Maße in die Ruhe in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott eingegangen. Auch sie warten auf das, was sie „nicht ohne uns“ (11,40) und „wir nicht ohne sie“ erleben sollen. Vielmehr lässt sich m. E. kaum über den Zustand der Toten sagen. Das von mir vorgeschlagene eschatologische Modell C steht – gerade im Blick auf meine vorausgegangenen religionsgeschichtlichen Überlegungen – der von Otfried Hofius im Anschluss an eine Studie von Joachim Jeremias vorgeschlagenen und von Christian Rose modifizierten Vorstellung eines leiblosen Zwischenzustandes der Verstorbenen recht nahe. Danach befinden sich die Geister (πνεύματα; 12,23) der bis zum Zeitpunkt der Parusie verstorbenen Glaubenden aller Generationen im himmlischen Jerusalem, haben aber die unmittelbare Gegenwart Gottes im himmlischen Heiligtum noch nicht betreten. Dorthin sei allein Jesus im Zuge seines Selbstopfers eingetreten. Fortan warten die verstorbenen Glaubenden darauf, am Ende der Zeit mit ihren wieder auferweckten Leibern vereinigt zu werden und ihrem himmlischen Hohepriester in das Heiligtum zu ihrer ewigen Sabbatruhe (σαββατισμός) folgen zu können.208 Strukturell betrachtet, vertrete ich denselben Gedankengang, jedoch unterscheidet das hier beschriebene Modell C sich insofern von dieser Vorstellung, als dass es keine Mutmaßungen über die Topografie der himmlischen Stadt anstellt. Die Schnittmenge beider Modelle besteht eindeutig im eschatologischen Vorbehalt der Vollendung – die Vollendung der Vollendung – allerdings lässt sich über die lokale Ausformung dieses Vorbehalts m. E. vom Hebr her 204 Vgl. STOLZ, Höhepunkt, 292–295. Sodann legt, wie wir bereits gesehen haben, die Formulierung „Gott, Richter Aller“ (κριτὴς θεὸς πάντων) in 12,23 eine Verbindung zur Schöpfungsmittlerschaft und universalen Herrschaft des Sohnes nahe (s. o. S. 209). 205 Vgl. LANE, Hebrews II, 479. Allerdings wird in 12,18–22 keine Erschütterung erwähnt. Die Verbindung besteht in erster Linie durch das machtvolle Sprechen Gottes. 206 Vgl. C OCKERILL, Hebrews, 666. 207 C OCKERILL, Hebrews, 666. 208 Vgl. JEREMIAS, Karfreitag, 197–201; H OFIUS, Katapausis, 181 Anm. 359; R OSE, Wolke, 330–332.
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keine Aussage treffen. Den entscheidenden Unterschied sehe ich nicht im Aufenthalt der Verstorbenen in einem bestimmten (noch unzureichenden) Teil der Himmelsstadt (z. B. der Vorhof des Heiligtums), sondern in der Bedeutung des endzeitlichen Gerichts für die Vollendung des Gottesvolkes, aber letztlich für die Vollendung der ganzen Wirklichkeit, durch die universale Aufrichtung des Königreiches (βασιλεία; 1,8; 12,28) Gottes. Dieses Endgericht (12,26–29) ist als das die ganze Wirklichkeit erschütternde Gottesurteil (12,26) zu verstehen, aus dem allein das „unerschütterliche Reich“ (βασιλεία ἀσάλευτος) als „bleibend“ (μένειν; vgl. die μένουσα πόλιν in 13,14) hervorgehen wird (12,27f.), in dem das Gottesvolk sodann in der Ruhe Gottes weilen darf. Mit seiner leichten Abwandlung dieses Gerichtswortes aus Hag 2,6bLXX lässt Hebr keinen Zweifel am wirklichkeitsumspannenden Ausmaß dieses Gerichts:209 Hag 2,6bLXX
Hebr 12,26b
ἔτι ἅπαξ ἐγὼ σείσω ὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν
ἔτι ἅπαξ ἐγὼ σείσω οὐ μόνον τὴν γῆν ἀλλὰ καὶ τὸν οὐρανόν
Noch einmal werde ich erschüttern den Himmel und die Erde
Noch einmal werde ich erschüttern nicht nur die Erde, sondern auch den Himmel
Durch die Umstellung von „Himmel“ und „Erde“ betont Hebr, dass das Gericht sich eben nicht nur auf die sichtbare geschaffene Wirklichkeit bezieht. Dieser stilistische Eingriff ist umso wirkungsvoller, wenn man annimmt, dass seine Adressaten sich möglicherweise über den griechischen Wortlaut des Prophetenwortes bewusst waren.210 Hinzu kommt, dass Hebr den Vers aus Hag 2,6bLXX verkürzt wiedergibt. Werden dort zu den von Gott erschütterten Dingen auch noch das Meer (θάλασσα) und das Festland (ξηρός) gezählt – sodass diese Viererreihe dort wohl eher für die sichtbare Schöpfung steht – reduziert Hebr prägnant auf Himmel und Erde als Umschreibung der gesamten geschaffenen Wirklichkeit.211 Es lässt sich jedoch nur schwer beurteilen, ob Hebr diesen Vorgang als Verwandlung der bisherigen Schöpfung oder als deren Wegnahme im Zuge einer Neuschöpfung versteht. Die Rede von der μετάθεσις der „zu erschütternden Vgl. KOESTER, Hebrews, 547. Vgl. MICHEL, Hebräer, 473: „Durch diese Neuformung gewinnt das Zitat an Wucht.“ 211 Hier gilt es freilich himmlische Metaphorik des ganzen Schreibens mitzuhören. Dass die Eigenschaft des „Geschaffen-Seins“ (ὡς πεποιημένων; 12,27) nicht ausschließlich für die irdische Realität vorbehalten ist, zeigt ja die Beschreibung des himmlischen Heiligtums als οὐ χειροποιήτου, τοῦτ᾽ ἔστιν οὐ ταύτης τῆς κτίσεως in 9,11 in (vgl. auch 8,2 „καὶ τῆς σκηνῆς τῆς ἀληθινῆς, ἣν ἔπηξεν ὁ κύριος, οὐκ ἄνθρωπος“). Einen – von vielen Auslegern beschworenen Dualismus zwischen Himmel und Erde – vermag ich daher in 12,26–29 nicht in dieser Form zu erkennen. Der eigentliche Dualismus besteht zwischen dem Schöpfer und seiner (gesamten) Schöpfung. 209 210
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Teil II: Exegetischer Hauptteil
Dinge“ (σαλευομένοι) in 12,27 könnte für beides infrage kommen – als Betonung der Diskontinuität („Wegnahme/Ablösung“) oder als Betonung der Kontinuität („Verwandlung“).212 Bei diesem Wort schwingen mehr oder weniger immer beide Aspekte mit. Die beiden anderen Belege im Hebr sprechen eher für ersteres, denn nach 7,12 (μετατίθημι) wird das levitische Priestertum nicht umgewandelt, sondern an dessen Stelle tritt ein völlig neues (7,11). Sodann wird nach 11,5 (μετάθεσις/μετατίθημι) Henoch durch Glauben entrückt (Gen 5,24; vgl. Sir 44,16; 49,16), d. h. von einem Ort an einen anderen gebracht. Aber auch hier gibt es freilich ein jeweils bleibendes Moment. Μετάθεσις findet sich in der LXX einzig in 2 Makk 11,24, wo von einem „Übergang“ von der jüdischen zur hellenistischen Lebensart die Rede ist. Aufgrund der Unvereinbarkeit beider Lebensarten – zumindest aus Sicht des 2 Makk – ist hier wohl stärker die Diskontinuität im Blick, wobei auch die Kontinuität wiederum in der handelnden Person bestehen bleibt. Ähnlich ambivalent zeigt sich auch der Befund für die dazugehörige Verbform μετατίθημι in der LXX und im Neuen Testament. Hierbei kann die Rede sein von der Entrückung eines Menschen (Gen 5,24; Weish 4,10; Sir 44,16), der Überführung eines Leichnams (Apg 7,16), der Verrückung von Grundstücksgrenzen (Dtn 27,17; Spr 23,10; Hos 5,10), der positiven wie negativen Sinnes- und Herzenswandlung des Menschen (1 Kön 20,25; Est 4,17; 2 Makk 4,46; Sir 6,9; Jes 29,14; ferner 3 Makk 1,16; 4 Makk 3,18), der Abkehr von den Weisungen der Väter bzw. des Evangeliums (2 Makk 7,24; Gal 1,6) oder dessen Pervertierung (Jud 1,4) sowie der Fruchtbarmachung von Land (Jes 29,17) als auch dem Versenken der Berge im Meer (Ps 45,3). Allerdings wird der Ausdruck nur im Hebr (allenfalls in Ps 45,3) ausdrücklich eschatologisch verwendet.213 Der Abschnitt in 12,26–29 rückt wohl stärker den Aspekt der Diskontinuität einer Neuschöpfung in den Fokus – wie er dann auch mit dem Psalmzitat in 1,10f. (= Ps 101,26–28LXX) korrelieren würde –,214 ohne, dass dadurch die Kontinuität von Schöpfung und Neuschöpfung in der Vorstellung des Hebr völlig ausgehebelt werden darf.215 Denn Kontinuität besteht im Gegenüber zur geschaffenen Wirklichkeit zweifellos durch den, der diese durch sein machtvolles Wort hervorgebracht und erhalten hat. Dessen Urteil ist es auch, das letztlich alles wieder erschüttern wird: der in seinem Sohn sprechende Gott (1,2;
Vgl. BAUER, Wörterbuch, 1034. Vgl. GRÄSSER, Hebräer III, 335. 214 Vgl. A TTRIDGE, Hebrews, 380f. 215 Vgl. STOLZ, Höhepunkt, 310–319. Gegen G RÄSSER, Hebräer III, 332: „Für Hebr liegt die heilvolle Zukunft damit außerhalb der Schöpfung [...].“ (Herf. v. Vf.). Vgl. anders ELLINGWORTH, Hebrews, 688: „[...] their [d. s. die Dimensionen der geschaffenen Wirklichkeit; Anm. A. H.] destruction may be implied, but total annihilation probably lies beyond the author’s horizon.“ 212 213
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
247
12,25).216 Wer seine Stimme hört und sein Herz nicht verhärtet, sondern glaubt, wird im Gericht gerettet werden. Erneut zeigt sich das durch und durch pastorale Anliegen des Autors, denn bei aller Mahnung, Gottes Größe und Gerechtigkeit nicht gering zu schätzen (12,29), ist es doch die Vergewisserung seiner Adressaten, die ihn motiviert. Gerade weil die Konsequenzen einer Abkehr so groß wären (10,31), umso „dankbarer“ (ἔχωμεν χάριν) soll sich die in der Zukunft verankerte Glaubensgewissheit aufgrund des Heilswerkes des Sohnes (vgl. Joh 3,18) im Leben der Glaubenden „im Gott wohlgefälligen Dienst“ (δι᾽ ἧς λατρεύωμεν εὐαρέστως τῷ θεῷ) zeigen (12,28). Wem dieses Zeugnis zuteilgeworden ist – zum Zeitpunkt des Endgerichts bereits verstorben oder lebend–, der geht in die eschatologische Ruhe in der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott ein. Der Unterschied zur „Situation“ vor der Parusie des Sohnes und dem Endgericht zeigt sich in der universalen Sichtbarkeit der universalen Herrschaft des Sohnes zur Rechten Gottes.217 „Dem Warten der Christen [besser, des ganzen Gottesvolkes; Anm. A. H.] auf den Eingang in das Heil (9,28) entspricht also auch ein Warten Christi (10,13) auf den Abschluß der Weltgeschichte.“218 Durch dieses „Noch-Nicht“ der universalen Herrschaft des Sohnes (1,13; 2,8) ist aber auch das „Noch-Nicht“ der Vollendung der Vollendung des ganzen glaubenden Gottesvolkes letztendlich bestimmt.219 „Hat die Gemeinde durch die αἰωνία λύτρωσις den Zugang zum himmlischen Heiligtum und damit die Teilhabe am kultisch-eschatologischen Präsens (10,19ff) schon gegenwärtig, so hat sie in der Herrscherstellung des Hohenpriesters (5,10), der αἴτιτος σωτηρίας ist (5,9), ihr Verheißungsziel noch vor sich. Die Gemeinde, die den Zugang zum Heiligtum schon jetzt hat, ist zugleich angefochten und wartet – jetzt am Leiden Christi teilhabend – auf ihre Verherrlichung als Anteilhabe an der Herrlichkeit des Sohnes (2,10; vgl. Röm8,17c [sic!]). Ist das Werk Christi als hohepriesterliches Selbstopfer das kultisch-eschatologische ‚Schonjetzt‘ der Gemeinde, so begründet die aus Leiden erlangte δόξα des Hohepriesters und die damit gesetzte futurisch-eschatologische Differenz zwischen dem Leiden der Gemeinde und der Vollendung Christi ihr Hoffnungsziel.“ 220
Diese Sicht ist insofern für das Verständnis des Hebr von immenser Bedeutung, als es die Glaubensbewegung der Gemeinde, die auch ich hier meistens als 216 Vgl. H EGERMANN, Hebräer, 263. Dass Gott als der Sprechende für Hebr die entscheidende Konstante in seinem Wirklichkeitsverständnis ist, haben wir bereits mehrfach gesehen (s. o. S. 123 oder auch den Exkurs zur „Worttheologie im Hebr“ ab S. 71). 217 Vgl. SCHIERSE, Verheißung, 99f.; daran anknüpfend K LAPPERT, Eschatologie, 54f. Hebr spricht hier freilich nicht wie Paulus in 1 Kor 15,24 von einer Herrschaftsübergabe des Sohnes an den Vater. Vielmehr fällt dies für ihn wohl zusammen. 218 K LAPPERT, Eschatologie, 54. 219 Vgl. K LAPPERT, Eschatologie, 54. K LAPPERT spricht hier treffend von einer „Klammer des Weges Christi zu seiner Herrschaft“, innerhalb derer die „eschatologische Existenz der Gemeinde“ – besser umfassender ausgedrückt: „des ganzen glaubenden Gottesvolkes“ – zu verstehen ist. 220 K LAPPERT, Eschatologie, 54f. Herv. v. Vf.
248
Teil II: Exegetischer Hauptteil
Pilgerschaft hin zur himmlischen Stadt beschrieben habe, aus der Perspektive dessen wahrnimmt, der die (Heils-)Geschichte des Gottesvolkes und damit letztlich aller Wirklichkeit verwirklicht und vollendet. Nimmt man beide Perspektiven als Teile eines Ganzen wahr und ernst, greift m. E. auch der alte religionsgeschichtliche Streit nicht mehr, ob die Glaubenden nun hin zu ihrer überirdischen Heimat „wandern“221 (Käsemann) oder auf deren Sichtbarwerden „warten“222 (Hofius).223 Das Warten drückt die Gewissheit über die die von Gott hervorgebrachte Vollendung aus, das Wandern die dabei erfahrene (mühsame) Nachfolge in der irdischen Lebenswirklichkeit. Die Herrschaft des Sohnes ist der heilsgeschichtliche Ziel- und Fixpunkt des Redens Gottes in eben diesem, seinen Sohn (1,1–4). Es begann mit Leben und Wirken Jesu von Nazareth als der Erniedrigung des Sohnes in seiner Fleischwerdung und gehorsamen Lebenshingabe (2,3.9; 12,2), manifestierte sich mit dessen Auferstehung und Inthronisation zur Rechten Gottes (1,3; 8,1; 10,12; 12,2) und findet in der eschatologischen Durchsetzung seiner Herrschaft zu seiner Vollendung (2,8; 9,28; 10,37). „Die jetzt bevorstehende, letzte Umwandlung bringt und bezweckt eine Überführung der Schöpfung in einen Zustand der Dauer, des niemals mehr erschütterten Bleibens. [...] Die neue Welt entsteht nicht einfach durch die Preisgabe der Schöpfung [...]. Vielmehr wurde mehrfach angedeutet, daß am Ende alles für immer von Gott her beherrscht sein wird, und zwar von Gott in Christus.“224
Für die Glaubenden – bereits verstorben und noch lebend – bedeutet dies, dass ihr Eintritt in die Ruhe nicht allein ein quasi „innerstädtischer“ himmlischer Vorgang ist.225 Vielmehr öffnet sich die himmlische Stadt nach außen und wird in ihrer universalen Realität als βασιλεία Gottes Wirklichkeit. Parusie und Endgericht bewirken eine qualitative Veränderung, weil die Herrschaft Gottes quantitativ sichtbar wird. „Am ‚Ende aller Dinge‘ steht kein abstraktes göttliches Sein, sondern die Herrschaft Gottes als lebenerfülltes Reich.“226 Zusammen mit der Gott preisenden Engelsschar (12,22) füllen dieses Reich die zahlreichen Generationen des glaubenden Gottesvolkes mit Leben, die durch ihre Rettung im Endgericht in der Gemeinschaft mit Gott bleibend vereinigt werden, sodass das „Bessere“ ihrer Vollendung Wirklichkeit wird.
Vgl. v. a. KÄSEMANN, Gottesvolk, 5–39. Vgl. v. a. HOFIUS, Katapausis, 116–151. 223 Vgl. ähnlich LAANSMA, Rest, 310–314. Freilich nährten sich die beiden kontrahierenden Standpunkte aus je eigenen religionsgeschichtlichen Deutungen des Hebr, die den eigentlichen Kernpunkt der Diskussion ausmachten. 224 H EGERMANN, Hebräer, 264; vgl. im Anschluss daran K LAPPERT, Glaube, 251f. 225 So aber tendenziell bei der Unterscheidung in Heiligtum und himmlische Stadt bis zum Eschaton als Aufenthalt der verstorbenen Glaubenden bei HOFIUS, Katapausis, 181 Anm. 359; HOFIUS, Vorhang, 77 Anm. 159f.; ROSE, Wolke, 331. 226 STROBEL, Hebräer, 172. 221 222
4. Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes
249
Die geschichtliche Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde durch das Reden Gottes im Sohn ist somit tatsächlich ein unumgänglicher Schritt zur Erfüllung der in 11,40 formulierten Bedingung der Vollendung (μὴ χωρὶς ἡμῶν), wie er in Modell A betont wird. Denn sie ist das Resultat des entscheidenden Heilsereignisses im Sohn. Doch zwei Dinge müssen hier stets ergänzt werden: 1. Die Entstehung der neutestamentlichen (christlichen) Gemeinde ist nicht das Ziel des Heilsplanes Gottes – weder als Vorhersehung noch als Reaktion auf die Ablehnung des fleischgewordenen Sohnes Jesus von Nazareth unter seinen jüdischen Volksverwandten. Das Ziel des Heilsplanes ist die eschatologische Gemeinschaft des ganzen glaubenden Gottesvolkes durch das Heilswerk des Sohnes. Dass dessen konkrete und einmalige Geschichtlichkeit die Entstehung der Generationen nach ihm als die neutestamentliche Gemeinde (oder als christliche Kirche) konsequenterweise mit sich führt, darf und kann nicht – trotz der Herausforderungen einer späteren, schmerzhaft vollzogenen religionsgeschichtlichen Ausdifferenzierung von Juden- und Christentum – zur Abwertung der früheren führen. Das glaubende Gottesvolk erhält seine Herrlichkeit vom Sohn her, nicht eine Generation aus sich selbst heraus im Gegenüber zur anderen. 2. Die Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde bleibt als notwendiger Schritt im Heilsplan Gottes stets ein Schritt auf der Zielgeraden, nicht der Zieleinlauf selbst. Dieser geschieht erst eschatologisch mit der – dem menschlichen Urteilsvermögen völlig entzogenen (!) – Vollzahl aller Generationen des glaubenden Gottesvolkes, das als Ganzes aufgrund seines Glaubens durch das Endgericht hindurch gerettet werden wird (12,27–29).
Teil III
Ertrag und Ausblick
1. Israeltheologie im Lichte des Hebräerbriefes Zu Beginn dieser Arbeit habe ich die Frage nach einer positiven eschatologischen Heilsperspektive für Israel aus christlicher Sicht im Lichte des Hebr gestellt. Eine solche auf der Grundlage seines theologischen Gesamtentwurfs zu formulieren, scheint mir der einzig zielführende Weg zu sein, um das Zeugnis des Hebr nicht nur als „neutral“ bzw. als letztendlich „gleichgültig“ gegenüber dem jüdischen Glauben zu verstehen, sondern gewinnbringend in das jüdischchristliche Gespräch einzubeziehen. Das erste und das zweite Kapitel im exegetischen Hauptteil haben zunächst gezeigt, dass sich für Hebr keine eschatologische Heilsperspektive formulieren lässt, die den soteriologischen Vorbehalt der Christologie ausklammert. Zwar ist es für Hebr der Glaube als positives Beziehungsgeschehen des Menschen hin zu Gott, der ebendiese über sämtliche innerweltliche Grenzen hinweg eint und die notwendige Bedingung für den Eintritt in die eschatologische Ruhe darstellt. Doch auch der Glaube bleibt für Hebr an den christologischen Vorbehalt gebunden, sodass er seine bleibende Wirklichkeit erst durch das Heilswerk des Sohnes letztgültig entfalten kann. Damit ist unserer Ausgangsfrage zu einer Seite eine deutliche Grenze gesetzt: Es gibt für Hebr kein Heil ohne das sühneschaffende Werk des Sohnes. Doch was ist mit der anderen Seite? Lässt sich der jüdische Gottesdienst nach dem Reden im Sohn, der sich irdisch nicht zu Jesus als Sohn und Hohepriester bekennt, dennoch eschatologisch mit diesem sühneschaffenden Werk positiv in Verbindung setzten? Die (bemerkenswert offene) Eschatologie des Hebr lässt diese Frage ausdrücklich zu, weil sie, wie Kapitel drei und vier des exegetischen Hauptteils gezeigt haben, von einem durch Gott gesetzten Vorbehalt der gemeinsamen Vollendung bestimmt wird. Dieser Vorbehalt besteht im (erst) gemeinsamen Eintritt in die himmlische Ruhe. Zu Beginn des fünften Kapitels im zweiten Hauptteil haben wir gesehen, dass das Wirklichkeitsverständnis des Hebr eine Unterscheidung des glaubenden Gottesvolkes in verschiedene Glieder ermöglicht, ja sogar erfordert.1 Das entscheidende Kriterium ist dabei das Reden Gottes im Sohn (1,1–4) als Kulminationspunkt zwischen Schöpfung und Neuschöpfung. Dieses Reden im Sohn
1
S. o. II.4.1.
254
Teil III: Ertrag und Ausblick
bündelt die Wirklichkeit vor sich – wie Lichtstrahlen in einer Linse – und lässt sie sodann von sich ausgehen.2 Jene Verhältnisbestimmung in Unterscheidung und Zuordnung der Generationen des Gottesvolkes erlaubt es nun – unter Beachtung aller unserer bisherigen Ergebnisse – über eine weitere „Gruppe“ und ihrem Verhältnis zur Vollendung des Gottesvolkes nachzudenken. Auf diese Weise lässt sich die Frage nach dem Stand des Judentums im „Heute“ und somit hinsichtlich seiner eschatologischen Heilsperspektive vom Gedankengang des Hebr her stellen: Kann es für Hebr nach dem Reden Gottes im Sohn Glaubende unter dem Geltungsbereich der alten Heilsordnung geben, die, wie die alttestamentlichen positiven Glaubenszeugen vor dem Reden im Sohn, einen für Hebr eschatologisch zielführenden Glauben von Gott bezeugt bekommen, der die strikte Christozentrik seiner Soteriologie aber nicht umginge, sondern – wie für alle Glaubensgenerationen – in den Heilsplan Gottes einschlösse? Mit den Worten des Apostels Paulus: Kennt Hebr in seiner Eschatologie ein physisches „πᾶς Ἰσραήλ“ (Röm 11,26) oder zumindest ein „Ἰσραήλ ὡς πλεῖστος“ – so umfassend als (aufgrund des christologisch verbürgten Glaubens) möglich? Eine Antwort auf diese Frage scheint mir die entscheidende Größe für einen jüdisch-christlichen Dialog zu sein, der von christlicher (!) Seite aus eine „Hoffnung“ für den jüdischen Dialogpartner formuliert, so er die Christologie nicht zugunsten eines von Christus unabhängigen Heilsweges des Judentums aufzugeben sucht. Zumindest für Hebr wäre dieser Schritt keine denkbare Option. Dieser Antwortversuch kann gewagt werden, soweit dies aus der Perspektive des Hebr systematisch-theologisch nötig und zugleich exegetisch möglich ist.
1.1 Der eine Heilsweg des einen glaubenden Gottesvolkes Die Christozentrik ist für den theologischen Gedankengang im Hebr, wie ich ihn für die israeltheologische Fragestellung dieser Arbeit ausgewertet habe, durchweg bestimmendes Element. Am deutlichsten – und damit für die christlich-jüdische Verhältnisbestimmung am herausforderndsten – tritt diese Christozentrik im Vergleich der alten und neuen Heilsordnung (Soteriologie) zutage.3 Dies gilt aber auch für sein Wirklichkeitsverständnis4 und sodann für die Einheit und Ausrichtung des glaubenden Gottesvolkes (Ekklesiologie) auf seinem Weg hin zur himmlischen Stadt (Eschatologie)5. Als „Bindemittel“ dieser 2 Vgl. H ENGEL, Heilsgeschichte, 23. Ein ähnliches Bild für diese konsequente Christushermeneutik gebraucht auch DEINES, Bedeutung, 328 (s. o. das Zitat auf S. 153). 3 S. o. II.1. 4 S. o. II.3.1. 5 S. o. v. a. II.2.3.
1. Israeltheologie im Lichte des Hebräerbriefes
255
einzelnen theologischen Topoi erwies sich dabei stets der Glaube (Pisteologie), den Hebr in seiner spezifischen Denkweise mit dem Reden Gottes im Sohn ins Verhältnis setzt.6 In und durch diesen Glauben als treues Beziehungsgeschehen gegenüber Gott wurden Menschen unter dem Geltungsbereich der alten Heilsordnung, sogar über die ethnischen Grenzen Israels hinweg (11,31), auf das für sie noch zukünftige Reden Gottes im Sohn hingeordnet, bis es in Raum und Zeit für sie in ihrer Realität eingetreten ist. Seit dem Reden Gottes im Sohn reihen sich nun in und durch diesen Glauben Menschen in diese Gemeinschaft ein, indem sie sich unter dieses ihnen vorausgegangene Heilsereignis stellen und treu daran festhalten (11,1). Die Grundstruktur der Soteriologie hat sich für die Generationen vor und nach dem Reden Gottes im Sohn durch dieses Reden nicht verändert. Entscheidend ist das positive Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott, das für einen ungetrübten Vollzug „weg von den toten Werken, hin zum Dienst für den lebendigen Gott“ die Reinigung des Gewissens des Menschen bedarf (9,14). Man sollte hier von einer heils- bzw. offenbarungsgeschichtlichen Veränderung zwischen der „Situation“ vor und nach dem Reden Gottes im Sohn sprechen, und zwar in dem Sinne, als dass das seit der Schöpfung anvisierte Reden Gottes im Sohn die hinreichende Realisierung für die zuvor (schattenhaft) geoffenbarte notwendige Bedingung der ungetrübten Gottesbeziehung darstellt. Allerdings wird die bleibende Verwirklichung dieser Beziehung erst mit dem eschatologischen Sichtbarwerden des die gesamte Wirklichkeit umfassenden Herrschafts(be)reiches Gottes eintreten. Stark vereinfacht formuliert: Die Umstände haben sich geändert, nicht aber der Kern der Sache (13,8!). Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die beiden in ihrer soteriologischen Grundstruktur identischen Heilsordnungen, die alte und die neue, hinsichtlich der Letztgültigkeit ihrer Sühnewirkung nicht gleich wirksam denkbar sind. Diese Unterscheidung muss m. E. gerade auch in der Auslegung derjenigen Texte im Hebr beachtet werden, die am häufigsten Anlass zum Vorwurf einer Judenfeindlichkeit gegeben haben. In komprimierter Form bringt Hebr die Unvereinbarkeit beider Heilsordnungen hinsichtlich ihrer sühnestiftenden und damit rettenden Funktion für den Menschen in 13,(8)9– 13 am Ende seines Schreibens zum Ausdruck. Da dieser Abschnitt zu den umstrittensten im Hebr zählt, wenn es um sein (und unser) Verhältnis zum Judentum geht, soll er an dieser Stelle noch einmal betrachtet werden. Die Proklamation „Jesus Christus, gestern und heute derselbe und bis in alle Ewigkeit“ (13,8) stellt den Grund der „besseren Hoffnung“ (7,19) noch einmal unmissverständlich heraus. Was dann folgt, ist eine Erinnerung an eben jene Unvereinbarkeit beider Heilsordnungen. Dass dabei im ersten Teil von 13,9 mit den „verschiedenartigen und fremden Lehren“ (διδαχαί ποικίλαι καὶ ξέναι) allgemein vor jeder Form von anderen Lehren, welche die Bedeutung Jesu schmälern, als potenzielle Gefahr für den Glauben gewarnt wird, scheint mir am plausibelsten. Weder sehe ich die Notwendigkeit, hier über eine konkrete heidnische Irrlehre (im Gegenüber zur jüdisch-christlichen Tradition als ganzer oder speziell zur christlichen)
6
S. o. v. a. II.2.4.
256
Teil III: Ertrag und Ausblick
zu spekulieren noch diesen Ausdruck allein auf den jüdischen Sühnekult zu beziehen. Ebenso wenig gibt es Anlass, die beiden Adjektive ποικίλος und ξένος jeweils auf das eine oder das andere zu deuten. Vielmehr zeigt die selbstverständliche Verwendung von διδαχή für die Tauflehre in 6,2, dass Hebr diesen Ausdruck an sich nicht wertet. Sodann ergeben die beiden Adjektive als Einheit im Gegenüber zur Einmaligkeit Jesu (13,8) Sinn. Insofern die Bestimmungen zum alttestamentlichen Opferkult diese infrage stellen, gehören auch sie zu diesen Lehren. Das zeigt sich umso mehr, da Hebr im Anschluss sehr wohl die jüdischen Speisevorschriften in den Blick nimmt (13,9b). Dass Hebr mit der Verneinung der „Festigung des Herzens“ (βεβαιοῦσθαι τὴν καρδίαν) durch „Speisen“ (βρόματα) auf die alttestamentlichen Speisevorschriften abzielt, lässt sich der Zeitform des Verbes (οὐκ) ὠφελήθησαν entnehmen. Der ausdrückliche Verweis auf die Vergangenheit (Aorist) steht wohl in Verbindung mit der alten Heilsordnung, die im „Heute“ am Vergehen ist und ganz allgemein gleich zu Beginn des Schreibens als das „frühere“ (πάλαι) Reden Gottes subsumiert worden ist. Dieser (zeitlich-horizontale) Gedanke spielt dann auch die entscheidende Rolle in der einzigen weiteren Erwähnung von βρόματα im Hebr in 9,10. Dort besteht die alttestamentliche Heilsordnung aus „Satzungen des Fleisches“ – darunter auch über „Speisen“ –, die „bis zur Zeit einer richtigen Ordnung auferlegt sind“. Es liegt nahe, den Ausdruck in 13,10 in gleicher Weise zu verstehen.7 Die „Gnade“ (χάρις), in der das Herz – gerade nicht durch die Satzungen der alten Heilsordnung – wirksam gefestigt wird, bezieht sich im Duktus des Hebr auf das von menschlicher Seite aus unverfügbare und unerbringbare Heilsgeschehen des Reden Gottes im Sohn (vgl. 2,9), der allein vor dem Thron der Gnade im himmlischen Heiligtum Sühne erwirkt hat (4,16). Dass die dadurch erwirkte, soteriologisch notwendige Reinigung des Gewissens allein von Gott her durch seine dazu im Sohn gestiftete neue Heilsordnung gewirkt wird, äußert sich sodann in 13,10 darin, dass „diejenigen, die dem Zelt dienen“ (οἱ τῇ σκηνῇ λατρεύοντες) keine „Vollmacht“ bzw. „Befugnis“ (ἐξουσία) haben, von diesem „Altar“ (θυσιαστήριον) zu essen. Der „Dienst am Zelt“ ist von Kap. 8 und 9 herkommend zweifelsfrei auf das Heiligtum in Form der Stiftshütte bzw. des Tempels bezogen (vgl. 8,1–6; 9,1–9.21). Dass aber mit „denjenigen, die dienen“ (λατρεύοντες) nicht allein die levitischen Priester (8,4f.), sondern letztlich alle, die unter der alten Heilsordnung Gottesdienst feiern, gemeint sein dürften, zeigen die allgemeineren Aussagen in 9,9 und 10,2. Zumal gilt auch für die Glaubenden unter der neuen Heilsordnung, dass sie alle Gott „dienen“, nur eben unter anderen Vorzeichen (9,14; 12,28). Allein ihnen ist durch die Reinigung ihres Gewissens im Heilswerk des Sohnes die ἐξουσία gegeben, sich in der „Gewissheit des Glaubens“ (10,22) am Altar der neuen Heilsordnung – den, sie „haben“ (ἔχω) – stärken zu lassen. Das „Wir-Haben“ (ἔχομεν) des Altars erinnert sprachlich an den Glaubensbesitz der Gemeinde in Form ihres Bekenntnisses zu Jesus, dem hohepriesterlichen Sohn Gottes und den von ihm erwirkten Zugang zu Gott (vgl. 4,14f.; 6,18f.; 8,1; 10,19.34f.). Dass Hebr dabei (auch) konkret auf die Feier des Abendmahls als Ausformung und Sichtbarwerden dieses „neuen“ Heilsstandes im „Heute“ abzielt, schließt diese Deutung auf die grundsätzliche Gegenüberstellung von alter und neuer Heilsordnung hinsichtlich ihrer Geltungsfunktion für den Einzelnen nicht aus, sondern vielmehr mit ein.
Die Unterscheidung zwischen soteriologischer Grundstruktur und Geltungsfunktion hat auch Knut Backhaus umfassend in seiner Habilitationsschrift zur
7
Vgl. ELLINGWORTH, Hebrews, 708.
1. Israeltheologie im Lichte des Hebräerbriefes
257
Deutung von διαθήκη im Hebr herausgearbeitet.8 Denn im Hebr stehen sich nicht zwei „Bünde“ gegenüber, sondern zwei Antworten auf die Frage, wie innerhalb des einen Bundes eschatologisches Heil erlangt wird: durch die Heilsordnung in Form der levitischen Kultthora oder durch die des Heilswerkes Jesu. Es lässt sich also festhalten: Es gibt für Hebr nur einen einzigen, allgemeinmenschlichen „Heilsweg“ (ברית/διαθήκη), der in sich zwei unterschiedliche, aber zugleich strukturell identische „Heilsordnungen“ (πρῶτος/καινός) ermöglicht. Für Hebr (und das ganze NT) ist es jedoch aufgrund der Bedingtheit (Sündhaftigkeit) des Menschen allein die in Christus bestehende Ordnung, die end-, letzt- und vollgültig zum Ziel führt. Dieser Gedanke sollte daher nun aber gerade nicht mit der Vorstellung von zwei separaten „Heilswegen“ verwechselt werden, da beide Heilsordnungen strukturell völlig identisch sind und die eine die andere nicht (zeitlich) ablöst, wie Karl Löning richtig festhält: „Insofern vertritt der Hebräerbrief eine Ein-Bund-Konzeption. Die Antithese der zwei diathekai bezieht sich auf den Wandel der Ordnungen im Verhältnis Gottes zu demselben Bundespartner.“9
Somit kann und sollte hinsichtlich des Hebr konzeptionell nicht von einer „Zwei-Bünde-Theologie“ (oder ähnlichem) gespochen werden.10 Man mag damit vielleicht sogar das sachgemäße meinen, terminologisch wird es dem Gedanken des Hebr nicht gerecht und führt zu schnell in die ihm unsachgemäße Vorstellung von zwei separaten Heilswegen.
1.2 Kontinuität und Innovation im Geschichtshandeln Gottes Es gibt m. E., wie eben bereits ausgeführt, keinen auf der Grundlage des Hebr gerechtfertigten Anlass, in zwei eigenständige „Heilswege“ vor und nach dem Reden Gottes im Sohn zu unterscheiden. Dies geschieht jedoch z. B. in der sog. dispensationalistischen Hermeneutik und der darin grundlegenden Unterschei-
Vgl. BACKHAUS, Bund. LÖNING, Krise, 113. Vgl. sachlich ähnlich THEOBALD, Michael: Zwei Bünde und ein Gottesvolk. Die Bundestheologie des Hebräerbriefes im Horizont des christlich-jüdischen Gesprächs, ThQ 176 (1996), 307–325. Leider behält dieser, obwohl sachlich das Richtige meinend, die in die Irre führende Rede von „zwei Bünden“ terminologisch bei. 10 Vgl. so aber z. B. PAWLIKOWSKI, John T.: Christ in the Light of the Christian-Jewish Dialogue, SJC, New York et al. 1982; THOMA, Clemens: Christliche Theologie des Judentums, CiW, Ser. 6 Das Buch der Bücher 4a/b, Aschaffenburg 1978; MUSSNER, Traktat; PARKERS, James W.: The Foundations of Judaism and Christianity, London 1960; SCHRECKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 104 in Aufnahme von KÜNG, Kirche, 146. Vgl. zudem den Überblick bei PAWLIKOWSKI, Art. Judentum und Christentum, 393–402. 8 9
258
Teil III: Ertrag und Ausblick
dung in zwei „Gottesvölker“ (Israel und Kirche).11 Dies geschieht aber auch in all jenen Ansätzen, die im Bestreben um einen – aus ihrer Sicht einzig auf diese Weise ermöglichten – jüdisch-christlichen Dialog, die soteriologische Notwendigkeit der Christologie zumindest in Teilen infrage stellen. Für Hebr ist dies aber gerade unter keinen Umständen denkbar. Das Reden Gottes im Sohn führt für Hebr zu keiner Diskontinuität innerhalb des glaubenden Gottesvolkes. Dieses ist vielmehr gerade durch das Reden Gottes über all seine Generationen hinweg miteinander verbunden. Ein Bruch entsteht durch das Reden Gottes im Sohn hinsichtlich der Notwendigkeit des alttestamentlichen Sühnekults, der aufgrund (!) der Bedingtheit – biblisch ausgedrückt, aufgrund der Sündhaftigkeit – der menschlichen Geschöpfe, deren Trennung zu ihrem Schöpfer nicht hinreichend eschatologisch wirksam überbrücken kann. Dazu benötigt(e) es das umfassende Heilswerk des Sohnes. Gottes Handeln in und durch seinen Sohn ist kein Neueinsatz innerhalb seines Geschichtshandelns an seiner Schöpfung, wohl aber ist es, wie Franz Mußner treffend beschreibt, höchst „innovierend“. „Das ‚transzendierende Überbieten‘ […] alles Alten im Christusgeschehen […] hat nichts mit ‚kosmischen‘ oder ‚ontologischem‘ Dualismus und ‚dualistischer Weltanschauung‘ zu tun, gehört vielmehr zum definitiv innovierenden, rettenden und ‚bruchlosen‘ [!] Handeln Gottes ‚im Sohn‘.“12
Diese Ein- und Zuordnung von Kontinuität und Innovation kann für unsere Frage nach dem Verhältnis der christlichen Kirche zum Judentum aus Sicht des Hebr kaum an Bedeutung überschätzt werden, der hier dem Zeugnis der großen Erzählcorpora im Alten Testament über Gottes Geschichte mit seiner Schöpfung verpflichtet ist.13 In der anthropologischen Grundausrichtung aller Menschen als Geschöpfe im Gegenüber zu ihrem Schöpfer gibt es keinerlei Unterschied zwischen Christen- und Judentum, wie es letztlich auch keinen zwischen allen Menschen überhaupt gibt. Offenbarungsgeschichtlich gibt es sodann aber wohl eine „Aussonderung“ Israels. Diese vollzieht sich insofern, als die notwendige Bedingung des Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch – alttestamentlich ausgedrückt, die Heiligung (Lev 11,44f.; 19,2 u. ö.) – einem bestimmten Volk (Israel), der Nachkommenschaft eines von Gott zum Segen Vieler auserwählten Mannes (Abraham), durch die Gewährung vorläufiger Realisierungsmöglichkeiten (Opferkult) geoffenbart wird. Dadurch rückt dieses Volk in eine „Nähe“ zu 11 Vgl. FOSTER, Art. Dispensationalism, 597; G ELDBACH, Dispensationalismus, 195f.; RAEDEL, Art. Dispensationalismus, 1490–1492. 12 M USSNER, Handeln, 17f. 13 Vgl. H ENGEL, Heilsgeschichte, 3. Dass das atl. Zeugnis grundlegend vom Geschichtsbezug des zielgerichteten Wirkens Gottes bestimmt ist, kann trotz der kontroversen Forschungslage zur historischen Rekonstruktion sowohl des vorstaatlichen Israels als auch der Entstehung der großen Geschichtsentwürfe im einzelnen und als Gesamtschau kaum bestritten werden. Für Hebr spielt diese Diskussion ohnehin keine Rolle.
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Gott, die innerhalb der Menschheit einzigartig ist und bleibt. Diese Nähe wird von Gott her durch sein aktives Handeln in der Geschichte zugunsten dieses Volkes begründet (vgl. Ex 20,2f.; Lev 11,45; Dtn 4,20 u. ö.) und soll sich von ebendiesem Volk her im Glauben an Gott ausdrücken, wie wir ihn für das alttestamentliche Zeugnis festgehalten hatten.14 Und doch ist auch für die Menschen dieses Volkes die ihnen gewährte Nähe zu Gott nicht so ungetrübt, um über alle Zeiten hin Bestand zu haben. Denn auch ihre Beziehung zu Gott bleibt durch die menschliche Sünde unvollkommen (1 Kön 8,46; Ijob 15,14; Ps 14,3; 51,7; Spr 20,9; Koh 7,20), verkehrt sich immer wieder in die verhängnisvolle Abwendung (Ps 78,8–20) und bedarf einer von Gott her erbrachten inneren Reinigung (Ps 51,8–12; Jes 43,25; Jer 31,34; 33,8; Mi 7,18). Entscheidend für das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch – auch das des Menschen, der zu diesem ausgesonderten Volk zählt – ist und bleibt der Glaube (Hab 2,4b; Hebr 10,38f.). Für Hebr stiftet der Glaube durch die gesamte Menschheit und damit auch durch das ausgesonderte Volk Israel hindurch eine einzigartige Gemeinschaft – eine ecclesia invisibilis des Glaubens – das eine glaubende Gottesvolk.
1.3 Das glaubende Gottesvolk und das Motiv des „heiligen Restes“ Mit seiner Ekklesiologie des einen glaubenden Gottesvolkes steht Hebr in gewisser Weise in Analogie zum Gedanken des sog. „Restes“, der in der alttestamentlichen Prophetie mit konkretem Blick vor allem auf das babylonische Exil, die Schar derer meint, die Gott treu bleiben. Jene hat sich Gott für seine Rettung ausersehen und erhält sie (vor allem Jes 1,9; 4,2–6; 6,13; 7,3; 10,20– 27; 30,17; Jer 50,20; Am 5,15; Mi 5,6; Zef 2,9; 3,12; ferner schon 1 Kön 19,18). Jes 7,9 bindet dieses Bleiben in seinem berühmten Wortspiel ausdrücklich an den Glauben. Damit modifiziert dieser Gedanke die Rede von der Erwählung ganz Israels gerade hinsichtlich der realen Erfahrung des Ungehorsams und seiner von Gott verhängten Folgen.15 Die Ausweitung dieses „Restgedankens“ auf die (eschatologische) Zukunft in Verbindung mit der Hoffnung auf die messianische Rettung ist auch im alttestamentlichen Zeugnis selbst schon angelegt (Jes 11,1f.; Sach 13,8). Vor allem in der Aufnahme des Restgedankens in apokalyptischen Texten zeigt sich sodann dieses eschatologische Verständnis (vgl. 4 Es 9,7f.; 12,34; 13,48; äthHen 90,30; syrBar 40,2). Einzelne Gruppierungen im Frühjudentum konnten die Rolle des „Restes“ im Heilsplan Gottes exklusiv auf sich selbst beziehen, wobei die Zugehörigkeit 14 15
S. o. II.2.1. Vgl. GÜNTHER, Art. λείπω, 187.
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zu diesem Rest sich freilich durch die je eigene theologische Überzeugung ergab. So verstand z. B. die Qumrangemeinschaft sich selbst als das „wahre“ Israel und heiliger Rest, umgeben von den einst zur Ausrottung verdammten Feinden Gottes (vgl. CD 1,4).16 Ähnliches kann durchaus auch für die Zeloten angenommen werden.17 Wenn frühe Christen denselben Gedanken – ausdrücklich oder zumindest der Sache nach – auf sich und ihr Bekenntnis bezogen (vgl. Röm 2,28f.; 11,3–5; Gal 4,28; Phil 3,3; ferner Lk 2,34; Offb 2,9), sollte dieser Schritt daher als ein Deutungsangebot heute auch nicht zu sehr verwundern.18 Hebr argumentiert – anders als Paulus (vgl. Röm 9,27–29) – nicht ausdrücklich mit diesem Gedanken noch lässt sich für ihn eine bewusste Rezeption der entsprechenden Traditionen nachweisen. Aber seine Ekklesiologie, die von einer durch ein bestimmtes Kriterium ausgesonderten Gruppe von Menschen ausgeht, zeigt zumindest deutliche Analogien.19 Besonders gilt dies im Blick auf jene Traditionen, die den Restgedanken nicht ausschließlich an Israel binden, sondern im Blick auf die ganze Schöpfung deuten (vgl. äthHen 83,8; 4 Es 13,26). Im Hebr ist diese Vorstellung jedoch nicht allein auf ein endzeitliches Szenario beschränkt, sondern ein Charakteristikum des glaubenden Gottesvolkes an sich zwischen Schöpfung und Neuschöpfung.
1.4 Hebr 11,39f. und Röm 9–11 Das ekklesiologische Motiv des Restes, das in Hebr freilich nirgends erwähnt, aber der Sache nach vorhanden ist, führt uns zu dem in dieser Arbeit immer wieder angerissenen kurzen Vergleich mit Paulus’ israeltheologischen Überlegungen im Römerbrief. Wesentlich für meinen Ansatz war die bislang in der Forschung meist unterbelichtete Wahrnehmung von Hebr 11,39f. als Schlüsselstelle für den theologischen Gesamtentwurf des Hebr (allen voran für seine Eschatologie). Dies gilt gerade hinsichtlich der israeltheologischen Implikationen dieser Verse. Wie ich in Kapitel drei des Hauptteils ausführlich dargelegt habe, erblickt Hebr hier einen göttlichen Heilsplan für die Gesamtheit des im Glauben geeinten
Vgl. BECKER, Heil, 62–64 sowie GÜNTHER, Art. λείπω, 188 mit weiteren Belegen. Vgl. HENGEL, Zeloten, 144 mit Anm. 335. 18 Vgl. u. a. D EINES, Roland: Der Messiasanspruch Jesu im Kontext frühjüdischer Messiaserwartungen, in: Baum, Armin D./Häusser, Detlef/Rehfeld, Emmanuel L.: Der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus, WUNT II 425, Tübingen 2016, 49-106 sowie umfassend: BÜHNER, Ruben: Hohe Messianologie. Übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentumm, erscheint vrs. 2020 bei Mohr-Siebeck (WUNT II). 19 V. a. auch die Rezeption von Jes 28,16, die, folgt man O. Betz (s. o. S. 193, Anm. 12), für 11,1 als gedanklicher Hintergrund dient, gehört wohl in diesen Zusammenhang (vgl. Mt 21,42; Röm 9,33; 1 Petr 2,8). 16 17
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Gottesvolkes, dessen Ziel er in der gemeinsamen noch ausstehenden Vollendung aller Glaubenden erblickt. Gemeint ist hier der gemeinsame Eintritt in die eschatologische Ruhe, d. h. in die ewig bleibende, ungetrübte Gemeinschaft mit Gott. Dabei ist dieser Eintritt nicht ohne ihre notwendige Bedingung des Heilswerkes des Sohnes zu denken, der als Erster und bislang Einziger in diese Gemeinschaft mit Gott eingetreten ist. Mit seiner Vorstellung eines göttlichen Heilsplanes formuliert Hebr eine vergleichbare, analoge Überlegung zu Paulus’ Antwort auf die Frage nach der eschatologischen Perspektive Israels in Röm (9-)11. Auch für Paulus gibt es bei seinen Ausführungen zwei Eckpfeiler: Zum einen kann er die Soteriologie ausschließlich christologisch beantworten, und zwar anhand der Pisteologie, die er zur Christologie ins Verhältnis setzt (Röm 3,16f.28–30; 10,4). Anders als Hebr stellt Paulus daraufhin aber selbst ausdrücklich die Frage nach dem eschatologischen Verbleib derjenigen Juden, die Jesus nicht als Christus bekennen (Röm 11,1). Dabei wird sein zweiter Eckpfeiler sichtbar, nämlich der einer von Gott bewusst geplanten offenen Eschatologie, insofern diese eine positive Perspektive für den eschatologischen Verbleib Israels ausdrücklich offen hält (Röm 11,25f.). Doch auch für Paulus gilt hier das notwendige Kriterium des Glaubens im Gegenüber zum Ungehorsam (vgl. Röm 11,23: „wenn [!] sie nicht im Unglauben bleiben“). Bis zu diesem Zeitpunkt steht die Vollendung aller Glaubenden aus, weil Gott – hier mit den Worten des Hebr – „etwas Besseres“ (Hebr 11,30) vorgesehen hat. Für diese Zusammengehörigkeit aller Glaubenden gebraucht Paulus dabei das Bild von den natürlichen und unnatürlichen Zweigen eines Ölbaums (Röm 11,17–24). Ist es bei Paulus die Fülle der Heiden, die erst noch zum glaubenden Gottesvolk hinzutreten soll (Röm 11,25), so ist dies für Hebr dessen letzte Generation, die Generation nach dem Reden im Sohn.20 Insofern verfolgen Paulus und Hebr eine vergleichbare, analoge, wenn auch nicht sach- und sprachidentische Überlegung zur eschatologischen Heilsperspektive Israels im Lichte des Christusereignisses. Dies sollte gerade in kirchlichen Verlautbarungen hinsichtlich des jüdischchristlichen Dialogs zukünftig stärker berücksichtigt werden. Denn die Diskussion bezieht sich hier seit dem Zweiten Weltkrieg nahezu ausschließlich auf Röm 9–11 als exegetische Schlüsselstelle. Hebr, so er nicht ohnehin nur als „Stolperstein“ gebrandmarkt wird, wurde dabei kaum als wegweisende Gesprächsgrundlage einbezogen.21 In der EKD-Studie „Christen und Juden III“ aus dem Jahr 2000 heißt es dazu sogar ausdrücklich, dass „dem Hebräerbrief
20 Freilich liegt hier zugleich ein wesentlicher Unterschied beider Entwürfe vor, da Hebr der Diskussion um die Einheit von Juden- und Heidenchristen innerhalb des Gottesvolkes keine Beachtung schenkt. 21 Vgl. die Darstellung v. a. der katholischen Diskussionspartner seit der Erklärung über die Haltung der Röm.-Kath. Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ von 1965 bei SVARTVIK, Stumbling, 316–328.
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keine vergleichbare Schlüsselstellung zugewiesen werden“22 könne, wie dies hingegen in der Vorgängerstudie „Christen und Juden III“ von 1991 für Röm 9–11 getan worden sei. Dem eigenen Anspruch, „[b]ei dem Versuch, zu einer theologischen Verhältnisbestimmung von Christen und Juden in der Gegenwart zu gelangen“23, sich nicht nur „auf einzelne Schriftstellen“24 zu berufen, sondern den „Gesamtzusammenhang neutestamentlicher Verkündigung zu beachten“25, wird zumindest diese Entscheidung damit nicht gerecht. Vielmehr meine ich, dass dem Hebr aus christlicher Sicht für den jüdischchristlichen Dialog die Schlüsselposition zuerkannt werden sollte, die ihm aufgrund seiner theologischen Leistungsfähigkeit für diesen Dialog gebührt. Paulus beschreitet in Röm 9–11 einen zwar passionierten, aber zugleich auch etwas gewundenen Denkweg, der am Ende auf die recht unvermittelte Offenbarung (?) „πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται“ (Röm 11,26) als Lösung hinausläuft. Diese ergibt sich aber nicht ohne weiteres stringent aus seinen vorherigen Überlegungen. Ohne Paulus und Hebr hier (wieder einmal) gegeneinander ausspielen zu wollen, darf – wie ich mich bemüht habe aufzuzeigen – bei Hebr aber mit Recht von einem positiven israeltheologischen Ansatz gesprochen werden, der in dessen Gesamtreflexion eingebettet ist. Gleichwohl bedarf es größerer Anstrengungen die dafür notwendigen Denkvoraussetzungen im Hebr zutage zu fördern, als dies bei Röm 9–11 der Fall ist. Auch dieser Umstand dürfte wohl dazu geführt haben, dass Hebr in christlichen Beiträgen zum jüdisch-christlichen Dialog bislang zu Unrecht ein Schattendasein gefristet hat.
1.5 Wird „ganz“ Israel gerettet werden? Nimmt man nach Hebr den Glauben als das entscheidende Kriterium für die eschatologische Rettung aller Menschen ernst – auch ganz Israels –, liegt der Gedanke nahe, dass dann jeder, bei dem Gott diesen Glauben findet, im Gericht bestehen und in die himmlische Ruhe eintreten wird. An diesem Gedanken ist zunächst auch nichts falsch, denn die Liste der positiven Glaubenszeugen mündet formal, aber auch sachlich in eine offene Zahl. Zugleich muss aber die für Hebr unumgängliche Christologie als notwendige Bedingung der eschatologischen Vollendung der Glaubenden bedacht werden. Denn für Hebr kann der Glaube nicht an sein eschatologisches Ziel der ungetrübten Gottesgemeinschaft gelangen, bliebe die Reinigung des Gewissens aus. Grund dafür ist nicht eine Bedingtheit des Glaubens, sondern die Bedingtheit der Glaubenden. Da die alles entscheidende Bezugsgröße dieser CHRISTEN UND JUDEN III, 209. CHRISTEN UND JUDEN III, 209. 24 C HRISTEN UND JUDEN III, 209. 25 C HRISTEN UND JUDEN III, 209. 22 23
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Reinigung das Reden Gottes im Sohn ist, ist eine Heilsvermittlung sola fide sed sine Christo (allein durch Glauben, aber ohne Christus) für Hebr nicht denkbar. Die alte und die neue Heilsordnung können nach Hebr nicht beide zugleich von einem Menschen für die (Wieder-)Herstellung seiner Beziehung zu Gott beansprucht werden (13,10!), ohne dass dabei entweder die eine sich letztlich als „nutzlos“ erweisen (7,18; 8,13) oder die andere (für Hebr ebenso folgenreich) als zu gering geschätzt (2,3; 6,4–6) werden würde. Dennoch ist damit der „Richterspruch“ für die im „Heute“ lebenden Glaubenden, die sich durch die alte Heilsordnung Gott nahen und ihm dienen (9,9; 10,2), m. E. nicht per se gefällt, wie immer wieder an dieser und anderer Stelle kritisiert worden ist. Denn insbesondere das vielschichtige Wirklichkeitsverständnis des Hebr lässt nun einen (vorläufigen) „Zwischenweg“ zu. Zunächst muss auch dafür hinsichtlich derer, die sich unter der alten Heilsordnung Gott nahen (wollen), wieder zwischen den Generationen vor und nach dem Reden Gottes im Sohn unterschieden werden. Wie wir bereits festgehalten haben, unterscheidet Hebr einzig anhand des Kriteriums des Glaubens, wer zum Volk Gottes gehört und wer nicht. Dies gilt für beide – vor und nach dem Reden im Sohn. Die Ansprache Gottes in Form seines Verheißungswortes muss sich mit dem Glauben des Menschen verbinden, damit dieser zum tatsächlichen Träger dieser Verheißung wird (4,2). Diese Notwendigkeit des Glaubens hat zur Folge, dass für Hebr selbstverständlich auch Teile des alttestamentlichen Volkes Israels nicht (mehr) zum Gottesvolk, als der (Mit-)Erbengemeinschaft der Verheißung, gehören können. Weil sie sich im Ungehorsam abgewandt haben, haben sie so auch ihr eschatologisches Ziel verwirkt. Dies gilt ausdrücklich sowohl für Esau (12,16f.) als auch für die negativen Glaubenszeugen während der Zeit der Wüstenwanderung (3,11.16f.). Wer hingegen glaubt, gehört zum Gottesvolk. Hier sei noch einmal ausdrücklich betont, dass die positiven alttestamentlichen Glaubenszeugen – sowohl die in Kap. 11 erwähnten als auch die noch zu ergänzenden – zum größten Teil bewusst unter der alten Heilsordnung ihren Gottesdienst verrichteten. Ihr Glaube löst jene Glaubenszeugen also nicht aus der alten Heilsordnung heraus – quasi als präexistentes Christentum –, sondern schließt den gewissenhaften Vollzug des Gottesdienstes nach der alttestamentlichen Kultordnung gerade ein. Aber der Glaubende unter der alten Heilsordnung strebt damit letztlich nach dem, was vor allem in der prophetischen, aber auch weisheitlichen Kritik so vehement eingefordert wird: die Aufrichtigkeit des Herzens, die sich im Hören und Tun des Willens Gottes äußert (vgl. Jes 1,10–17; Hos 4,7–13; 6,6; Am 5,21–24; Mal 1,6–29; 3,6–12; Spr 15,8.29; 21,3; Ps 50; 1 Sam 15,20–22; sodann neutestamentlich Mt 7,21–24; 12,50; Lk 6,46; 11,28; Joh 13,15–17; Röm 2,13; Jak 1,22). Wer glaubt, bekennt sich zu Gott als dem Einzigeinen (11,6), den er „mit ganzem Herzen und mit ganzer Lebenskraft und mit allem Vermögen“ liebt (Dtn 6,4f.). Dennoch ist Hebr hier keine Werkgerechtigkeit
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vorzuwerfen, da er die notwendige Reinigung des Gewissens einzig an ein von Gott gewirktes Geschehen, nämlich das vom Menschen unerwirkbare Heilsereignis im Sohn, bindet (2,9; 13,9). Aber er verkürzt diese „Rechtfertigung“ auch nicht um die Notwendigkeit der „Heiligung“. Für die glaubenden Generationen vor dem Reden Gottes im Sohn kommt ihr Glaubensweg mit dem Reden Gottes im Sohn daher zu einem vorläufigen Abschluss. Der Vollzug des Glaubens ist bei ihnen in gewisser Weise vorgelagert und muss sich schließlich mit dem Heilsereignis im Sohn verbinden, auf das hin er für Hebr – auch ohne direktes Wissen der alttestamentlichen Glaubenden – ausgerichtet war. Ob Hebr die Vorstellung einer Höllenfahrt Christi (vgl. 1 Petr 3,19f.; 4,6; ferner Mt 12,40; Apg 2,31; Röm 10,7; Eph 4,9) voraussetzt – im Spachduktus des Hebr also ein Hören des Redens Gottes im Sohn derer, die bereits verstorben sind –, kann weder bewiesen noch ausgeschlossen werden. Hebr nennt sie in 6,2 nicht, wobei diese Stelle auch nicht als vollständige Liste eines abgeschlossenen Credos missverstanden werden sollte. Zwar spricht Hebr nirgends ausdrücklich davon, wie das Heilsereignis im Sohn mit den bereits Verstorbenen in Verbindung tritt, aber dass es in Verbindung tritt und auch treten muss, ist in 9,15 eindeutig belegt. Und auch sonst lassen unsere bisherigen Untersuchungen diese Vermutung zu. Doch was ist nun mit denjenigen Generationen all derer, die sich nach dem Reden Gottes im Sohn bewusst unter den Geltungsbereich der alten Heilsordnung stellen und sich darin Gott nähern wollen? Damit kommen wir zum Kern unserer eigentlichen Frage. Zunächst gilt auch hier aus Sicht des Hebr: Wessen Gottesdienst nicht durch den Glauben bestimmt ist, kann hier definitiv nicht ans Ziel gelangen. Eine „partielle Allversöhnung“ aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk ist für Hebr ausgeschlossen, da diese – wie schon vor dem Reden Gottes im Sohn – kein hinreichendes Kriterium darstellt. Dennoch scheint der vom Glauben bestimmte Gottesdienst unter der alten Heilsordnung auch nach dem Reden im Sohn nicht per se sinnlos zu sein. Die vorläufig mögliche, aber nicht hinreichende Sühnefunktion der alten Heilsordnung ist für Hebr mit dem Reden Gottes im Sohn offenbart worden, welches zugleich selbst diese hinreichende Funktion erfüllt. Damit erblickt Hebr das „nahe Ende“ der alten Heilsordnung, wobei er dieses zugleich auch als deren „Ziel“ versteht (vgl. Paulus über Jesu als τέλος des Gesetzes in Röm 10,4). Im Wirklichkeitsverständnis des Hebr entsteht nun durch die Einleitung des Neuen eine „zwischenräumliche Zwischenzeit“ – das „Heute“ – in der sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart überschneiden. Das bedeutet, dass auch die alte Heilsordnung – in enger Verbindung mit der schwindenden geschaffenen Wirklichkeit bis zum Endgericht – noch „in Kraft“ ist, wenn auch verblassend im Angesicht des Lichtes des Sohnes (7,19; 8,13). Mit dem ersten Kommen des Sohnes ist die geschaffene Wirklichkeit für Hebr gerade nicht an ihren Abschluss gekommen, wohl aber an ihren entscheidenden Kristallisa-
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tionspunkt. Insofern ist ein von Glauben bestimmter Gottesdienst unter der alten Heilsordnung als Möglichkeit des προσέρχεστθαι auch für Hebr konsequenterweise nicht ausgeschlossen. Einen gewissen Sonderfall stellen die Generationen des glaubenden Gottesvolkes nach dem Reden im Sohn dar, die das „himmlische Gut“ des Heilsereignisses im Sohn schon ergriffen („geschmeckt“) hatten, sich aber von ihm noch einmal bewusst abwenden, um ihr Geschick in der alten Heilsordnung zu suchen (6,4–6). Hier gilt nach Hebr die Warnung, die auch Paulus aufgebracht über die Christen in Galatien verhängt (Gal 5,3f.): „Ich bezeuge aber noch einmal jedem Menschen, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr seid von Christus abgetrennt, die ihr im Gesetz gerechtfertigt werden wollt; ihr seid aus der Gnade gefallen.“ Hebr formuliert letztlich dieselbe Warnung, nur dass er die unheilvolle Konsequenz für das eschatologische Gericht damit bereits als vollzogen erblickt und keine Gelegenheit mehr zur erneuten Umkehr sieht. Auch von Esau meint Hebr, dass dieser keine Gelegenheit mehr zur Umkehr gefunden habe. Gleiches gilt wohl auch für die ungehorsamen Väter während der Wüstenwanderung. Ob ihr Ungehorsam dennoch unter die in 9,15 bedachten Übertretungen unter der ersten Heilsordnung fällt, muss offenbleiben. Vermutlich zählt Hebr sie nicht zu den „Berufenen“. Paulus mag hier durchaus anderer Meinung sein. Für diejenigen, die jedoch noch nicht „die himmlische Gabe geschmeckt haben“ und ihren Gottesdienst noch immer unter der alten Heilsordnung verrichten, besteht aber in der besonderen Situation des „Heute“ durchaus die Möglichkeit, diesen gewissenhaft zu vollziehen und sich dabei treu gegenüber Gott zu verhalten. Offenbleiben muss dabei, inwiefern zwischen „Nicht-Wissen“ und „Ablehnen-trotz-Wissen“ unterschieden werden müsste bzw. ab welchem Zeitpunkt das eine in das andere (verhängnisvoll) übergeht. In Hebr 6,4–6 sind eindeutig Gemeindeglieder im Blick, die fatalerweise zurückgewichen sind (10,39). Auch Paulus denkt darüber nach, inwiefern Israel hätte „glauben können“, weil sie eigentlich vom rechten Weg gewusst haben. Dennoch ist dieses Israel, das an dieser Stelle aus Sicht des Paulus keine Entschuldigung hat, dasselbe Israel, für das er eben jene eschatologische Hoffnung in Röm 11 formuliert, sofern er sich dort nicht einzig auf die zum Zeitpunkt der Parusie lebende Generation bezieht.
Zugleich braucht es aus Sicht des Hebr auch für diese Gruppe die Reinigung des Gewissens, ohne die ihr Glaube keinen eschatologisch wirksamen, weil soteriologisch letztgültigen Bestand haben würde. Das Fundament dafür ist mit dem einmaligen Reden Gottes im Sohn gelegt worden. Die Annahme dieses Geschehens ist aber als noch ausstehend und erst mit der Parusie eintretend denkbar, da bis dato kein einziger Mensch in die Gottesruhe eingetreten und seine Vollendung vollendet worden ist. Die Parusie hätte dann denselben, nun aber auch abschließenden Effekt wie das erste Kommen des Sohnes für die Glaubensgenerationen vor dem Reden Gottes im Sohn.
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Ähnlich beschreibt auch Franz Mußner – mit Blick auf Röm 9–11 – die Rettung „ganz Israels“ als ein von Gott eschatologisch gewirktes Geschehen, das sich in Korrespondenz zu der durch ihn gewirkten „Verstockung“ Israels vollzieht.26 Insofern auch diese Rettung nicht aufgrund von Israels Werken geschieht, sondern allein aus Gottes Gnade, sieht Mußner das solus Christus bzw. die darin verbürgte Rechtfertigung auch bei diesem Rettungshandeln gewahrt. Inwiefern sich der Glaube Israels dabei aber auf Christus beziehen muss, bleibt zumindest an dieser Stelle bei Mußner jedoch eigentümlich schwammig. Er bemüht hier den von Dieter Zeller in dessen Untersuchungen zu Röm 11,25– 27 aufgeworfene Rede vom „Sonderweg Israels“.27 Zeller spricht aber als Fazit seiner Überlegungen bewusst nicht von einem soteriologischen Sonderweg (was auch Mußner anerkennt), der das solus Christus zumindest partiell aufhebe. Vielmehr ziele das Heilshandeln Gottes auch an Israel auf letztlich denselben Sinn, wie sein Heilshandeln an allen Menschen generell. Darauf, dass seine gesamte Schöpfung (wieder) in den Lobpreis Gottes einstimmt. „Die eingangs gestellte Frage, ob die Geschichte Israels auf die Berufung der Heiden hingeordnet ist, oder umgekehrt diese ein Moment der Geschichte Gottes mit seinem Volk sei, erweist sich […] als überholt. […] Da alles Handeln Gottes doxologischen Sinn hat, gibt es nirgends im Feld des Geschichtlichen eine Aura der Vollendung, etwa ein Volk, das ein anderes in sich inkorporiert. Jede Phase der Heilsgeschichte weist über sich hinaus. Was wir in [Röm] 15,7ff für die Heidenchristen feststellten, das gilt am Ende des 11. Kapitels [= Röm 11] auch für die Juden: daß sie wieder von Gott angenommen werden, führt recht verstanden zu seinem Lob. Darin sind alle heilsgeschichtlichen Gaben wieder ihrem Ursprung vereignet.“28
Was Zeller hier für den Römerbrief beschreibt, verstehe ich in Analogie zu dem, was Hebr mit dem für alle Menschen geltenden Ziel der Gottesruhe beschreibt. Ich kann mich daher der Rede vom „Sonderweg Israels“ insofern anschließen, als sie nicht auf eine soteriologische, sondern auf eine offenbarungsgeschichtliche Sonderstellung inmitten des einen Heilsweges Gottes mit seiner Schöpfung abzielt. In dieser offenbarungs- bzw. heilsgeschichtlichen Sicht der Wirklichkeit mit ihrer eschatologisch-soteriologischen Christozentrik lässt sich m. E. für die unter der alten Heilsordnung Glaubenden im „Heute“ bis zur Wiederkunft des Sohnes gerade auch mit dem Zeugnis des Hebr eine begründete Hoffnung formulieren: dass der wiederkehrende Christus auch der künftig erwartete Messias ist.29 Vgl. MUSSNER, Traktat (Neuauf.), 57–63, bes. 59f. ZELLER, Juden, 245–269. 28 ZELLER, Juden, 268f. 29 Diese Formulierung verdanke ich Landesbischof a. D. Dr. Carsten Rentzing, bei dessen Vortrag am 28. Juni 2017 anlässlich des fünfzehnjährigen Jubiläums des Wiederaufbaus der Dresdner Synagoge vor dem Freundeskreis Dresdner Synagoge e. V. Er hat mir dankenswerterweise erlaubt, sie in dieser Arbeit zu verwenden. 26 27
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Eine selbstkritische Anfrage, die hier eingeräumt werden muss und soll, stellt dabei jedoch die ganz praktische Überlegung dar, wer dann eigentlich zu jenen zu zählen sei, die auch nach dem Reden im Sohn ihren Gottesdienst unter der alten Heilsordnung entsprechend gewissenhaft verrichten. Das ist weder für die Zeit des Hebr selbst noch für die heutige Zeit pauschal zu beantworten: Zum einen, war noch ist „das“ Judentum als homogene Größe greifbar, zum anderen ist das „heutige“ Judentum nicht ohne weiteres mit dem antiken Frühjudentum gleichzusetzen. Denn der Bezug auf den levitischen Opferkult – der Zentralgegenstand der Auseinandersetzung im Hebr – ist freilich schon lange nicht mehr gegeben. Insofern ließe sich gegen diese hier angestellten Überlegungen berechtigterweise einwenden, dass es sich dabei um ein rein abstraktes und unterbestimmtes Konstrukt handle, das keinen Bezug zur konkreten Realität habe, genauer gesagt, dass es auf diese nicht angewandt werden könne. Dennoch lassen es m. E. drei Gedanken zu, die hier formulierte positive Heilsperspektive nicht allein als (theoretisches) Konstrukt für Hebr und seine Zeit aufzufassen, sondern dafür eine Anwendung auf die Gegenwart zu wagen. Erstens finden sich unter den im Hebr ausdrücklich benannten positiven Glaubenszeugen als Glieder des glaubenden Gottesvolkes zahlreiche Beispiele, die ihre Gottesbeziehung vor bzw. unabhängig von der Institution des levitischen Opferkultes geführt und dabei ein gutes Glaubenszeugnis erlangt haben (Abraham, Rahab u. a.). Daran zeigt sich, dass die levitische Kultordnung als alte Heilsordnung ab deren Einsetzung zwar grundlegend zu dem einen Heilsweg gehört, beide Größen aber nicht einfach deckungsgleich sind. Vielmehr gibt es innerhalb des einen Heilsweges Aspekte, die geschichtlich wandelbar sind.30 Zweitens ist das Frühjudentum (ebenfalls) eine äußerst plurale Größe, wobei gerade im Diasporajudentum der Jerusalemer Tempelkult ohnehin eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Dennoch spricht beispielsweise Paulus in Röm 9– 11 pauschal von seinen jüdischen Geschwistern „nach dem Fleisch“ (9,3), von „Israeliten“ (9,4), um deren eschatologische Rettung er ringt, wobei die praktische Frage, wer dann damit wirklich konkret gemeint ist, offenbleibt und auch offenbleiben kann.31 Drittens möchte ich zu bedenken geben, ob eine (schroffe) Gegenüberstellung zwischen antikem Frühjudentum und seiner späteren Entwicklung nicht doch immer auch eine bereits aus christlicher Sicht vorgeprägte einseitige Perspektive ist. Doch es sollte von christlicher Seite der Gedanke zugelassen und gewagt werden, inwiefern der Entwicklung des Judentums nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. bzw. nach der Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde weiterhin (freilich aus christlicher Perspektive!) eine heilsgeschichtliche Relevanz zukommt. Denn die alte Heilsordnung ist nach S. o. III.1.1 ab S. 254. So lässt sich hinsichtlich Röm 9–11 auch keine Aussage darüber treffen, welche Rolle bei Paulus‘ Gedanken über das eschatologische Geschick Israels z. B. Prosylten bzw. Konversion überhaupt spielen. 30 31
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dem Hebr nicht beendet, sondern am Schwinden. Sie dauert aber solange an, wie auch der alte Äon andauert und das, obwohl der neue Äon nach dem hier aufgezeigten Wirklichkeitsverständnis des Hebr schon angebrochen ist. Es ließe sich nun gewiss einwenden, dass dieses Schwinden der alten Heilsordnung mit dem geschichtlichen Ende des Jerusalemer Tempels und damit des levitischen Opferkultes augenscheinlich doch zu seinem tatsächlichen Ende gefunden habe. Ohne dabei in Spekulation über die Entstehungsumstände des Hebr zu verfallen, sei freilich noch einmal darauf verwiesen, dass Hebr die Zerstörung des Tempels nicht erwähnt. Sollte er bereits auf sie zurückschauen, wäre ohnehin naheliegend, dass er sich in seiner Auseinandersetzung mit der Kulttora auf eine Größe bezieht, die so in seiner Realität nicht (mehr) vorhanden ist. Neben dieser historischen Frage scheint es mir zugleich unumgänglich, wenn auch nur schwer durchführbar, danach zu fragen, inwieweit die alte Heilsordnung mit dem Ende des Tempelkults nicht einfach aufgehört hat, sondern vielmehr ein ihr wesentlicher und lange Zeit andauernder Aspekt in neue „Formen“ übergegangen ist.32 Die Frage nach einer solchen Kontinuität der alten Heilsordnung nach 70 n. Chr. (bis heute), ohne dabei letztlich doch wieder bei der Annahme von zwei separaten „Gottesvölkern“ zu enden, kann hier jedoch nicht weiter erörtert werden, wäre aber hinsichtlich der von mir aufgeworfenen Fragen (und Antwortversuchen) aus meiner Sicht ein lohnenswertes Vorhaben. Dass sich Juden selbst heute in genau dieser (heilsgeschichtlichen) Kontinuität verstehen, steht ja außer Frage. Es ist – aus dieser Perspektive heraus – eben der bzw. ein „anderer“ Ausgang der alttestamentlich bezeugten Geschichte Israels, der dieses nicht als auf Jesus hinauslaufend begreift. Aus neutestamentlicher bzw. aus christlicher Perspektive ist dieser Ausgang denkbar, nur freilich nicht bekennbar. Denn jene erblickt die Kontinuität der alten Heilsordnung in der Einführung der neuen im Sohn Jesus Christus.33
Ungeachtet dessen gilt es nun aber auch zu betonen, dass mit der hier vorgetragenen Perspektive ein Instrumentarium zum Fällen eines pauschalen individuellen Heilsurteils weder gesucht noch gefunden worden ist. Solch ein Urteil bleibt ohnehin allein Recht und Vermögen Gottes.
32 Wie diese beiden Perspektiven hinsichtlich der Kontinuität mit einander in einen fruchtbaren Dialog treten können, zeigen m. E. beispielsweise die Auseinandersetzung mit der Lehre Jesu aus jüdischer Sicht in: NEUSNER, Jacob: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog, Freiburg i. Br. 2007 (engl. Original: A Rabbi Talks with Jesus von 1993) und deren Aufnahme und Diskussion in: RATZINGER, Joseph: Jesus von Nazareth, Bd. 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Herder spektrum 6033, Freiburg i. Br. 2007, 134–160. 33 Es sei zudem angemerkt, dass je später Hebr datiert wird, desto brisanter wird die Frage nach einer solchen Kontinuität bzw. desto relevanter werden die aus ihm gewonnen israeltheologischen Perspektiven für die Gegenwart.
2. Die Kritik am Hebräerbrief – Ein Versuch der Verständigung Zu Beginn dieser Arbeit stand die forschungsgeschichtlich vielfach und vielfältig beantwortete Frage im Raum, ob der häufig erhobene Vorwurf einer wie auch immer genau terminierten Judenfeindlichkeit gegenüber dem Hebr sachgemäß ist oder nicht. Ich habe versucht aufzuzeigen, wie eine exegetisch gerechtfertigte positive eschatologische Heilsperspektive für Israel von einem christlichen Standpunkt aus im Lichte des Hebr formuliert werden kann und m. E. auch muss. In diesem Sinne lautet meine Antwort freilich entschieden: „Nein!“ Dennoch soll von diesem Ergebnis her nun noch einmal in aller Kürze auf die Stimmen der Diskussion um das Verhältnis des Hebr zum Judentum eingegangen werden, die hier bisher ein negatives Urteil gefällt haben. Wie ist das Verhältnis des Hebr zum Judentum nun terminologisch zu fassen? Zur Debatte standen verschiedene Ausdrucksformen wie „Judäophobie“, „Israelvergessenheit“, „Antijudaismus“ oder „Antisemitismus“. Die beiden erstgenannten kommen m. E. für Hebr nicht infrage. Es kann beim Hebr in keiner Weise, wie ich mich bemüht habe, aufzuzeigen, von Berührungsängsten oder Ressentiments gegenüber dem jüdischen Glauben gesprochen werden. Ebenso wenig ist mit gutem Gewissen der letztlich tragische Umstand, seine eigenen jüdischen Wurzeln vergessen zu haben, für das Gesamtzeugnis des Hebr auszumachen. Hinsichtlich der zwei anderen Ausdrücke – „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ – ist die häufig vorgenommene Unterscheidung zwischen beiden auch m. E. notwendig, um dem Hebr, wie auch dem ganzen NT, nicht etwas zu unterstellen, was historisch so in keiner Weise für die ersten beiden Jahrhunderte n. Chr. (und weit darüber hinaus) greifbar wird: eine systematische Anfeindung und Ausgrenzung von Juden aufgrund rassistisch begründeter (!) Überzeugungen.1 Auf das Wort „Antisemitismus“ sollte daher im neutestamentlichen Fachdiskurs generell verzichtet werden, da er selbst bei genaueren Differenzierungen in der heutigen Zeit immer eine unausweichliche und geschichtlich einseitige Färbung mit sich bringt. Eine Debatte um eine neutestamentlich sachgemäße Israeltheologie wird dadurch einzig und allein gelähmt, aber niemals zielführend befruchtet. Damit steht zuletzt der Ausdruck des 1
S. o. I.1.1.
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(religiösen) „Antijudaismus“ zur Diskussion. Doch auch hier gilt es genauer hinzuschauen. Rainer Kampling betont ebenfalls die Berechtigung einer Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antijudaismus, nimmt dann aber für letzteren eine brauchbare Unterscheidung in vier Typen des religiösen Antisemitismus vor:2 „Die Transgressivität: Damit ist gesagt, dass im Christentum alle Verheißungen an das Volk Gottes erfüllt sind, es demnach keine Berechtigung mehr für den jüdischen Glauben gibt. Die Inklusivität: Da das Judentum nicht mehr Volk Gottes ist, ist das wahre Israel nun die Kirche. Wollte ein Jude Teil an Israel haben, müßte er nach diesem Modell notwendigerweise in der Kirche leben. Die Exklusivität: Wort und Heil Gottes gibt es allein in der Kirche. Das im Alten Testament offenbarte Wort Gottes ist im Neuen zum Ziel und in der Kirche zu seinem eigentlichen Sinn gekommen. Die Superiorität: Der christliche Glaube und die Kirche haben das aufgenommen, was an Israel heilig und gut war. Durch das Evangelium wird es noch besser erkennbar und lebbar und führt so zu einer Verbesserung der Menschen. Die Kirche und sie allein ist Erbin Israels, während das Judentum aus seiner eigenen Tradition vertrieben wird und ihm jeder Anteil daran bestritten wird.“3
Diese Unterscheidung ist hilfreich, aber letztlich reicht m. E. keiner der vier Typen aus, um Hebr hinsichtlich seiner israeltheologischen Perspektiven vollends zu beschreiben. Am ehesten käme die „Superiorität“ dafür infrage, allerdings findet sich im Hebr gerade nicht die Betonung der Kirche als Erbin Israels, welche in der Auslegung so oft als Substitution (Ablösung) beschrieben wurde. Die Unterscheidung zwischen Juden und Christen existiert für Hebr nicht – historisch kann sie es (noch) nicht, theologisch soll sie es nicht. Gleichwohl kann es die letztgültige Vereinigung dieser beiden – aus Sicht des Hebr anachronistisch voneinander unterschiedenen – „Gruppen“ des einen glaubenden Gottesvolkes nur als Christusökumene geben, und zwar in der eigentlichen semitischen Bedeutung dieses Titels, als Messiasökumene. Freilich ist das Bekenntnis zu diesem Messias als „Sohn“, der nach neutestamentlich-christlicher Überzeugung geschichtlich als Jesus von Nazareth greifbar geworden ist, immer aus der Perspektive einer Christushermeneutik formuliert, wie sie in Hebr 1,1–4 zum Ausdruck kommt. Gerade hier scheint es keine Einheit zwischen Synagoge und Kirche geben zu können, insofern ein Großteil des Judentums diese Hermeneutik nicht annimmt und von der Kirche auch in keiner legitimen Weise dazu gezwungen werden könnte, sollte noch dürfte. Deshalb erblickte Rosemary Ruether in der Messiasfrage ja gerade den entscheidenden Stolperstein für einen heutigen jüdisch-christlichen Dialog.4 2 Vgl. K AMPLING, Christentum; D ERS.: Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdisziplinären Fragestellung, in: Bergmann, Werner/Körte, Mona (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, 67–81. 3 K AMPLING, Christentum, 75f. (Herv. v. Vf.). Vgl. dazu: B ERNHARDT, Absolutheitsanspruch, 35–45. 4 S. o. I.1.2 ab S. 8.
2. Die Kritik am Hebräerbrief – Ein Versuch der Verständigung
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Dabei entsteht dieser für sie vor allem durch eine Überbetonung auf christlicher Seite, dass mit Jesus alles „Messianische“ bereits sichtbar eingetroffen sei.5 Dagegen betonte sie: „Das letzte Ereignis der messianischen Ankunft muß aber immer noch auf jenes endgültige Ziel der Geschichte bezogen werden, wenn das Böse besiegt ist und Gottes Wille auf Erden geschieht.“6 Genau in diesem Punkt ist Ruether mit Blick auf die Eschatologie des Hebr zuzustimmen. Denn er weist, wie wir gesehen haben, eine stark futurische Ausrichtung auf und löst die Bedeutung des zweiten Kommens des Sohnes, insbesondere für das Sichtbarwerden von dessen messianischer Herrschaft gerade nicht auf. Zwar hatte Ruether den Gedanken eines zweiten Kommens des Messias als christliche Verlegenheitsauskunft angesichts des Ausbleibens des Sichtbarwerdens der messianischen Heilszeit zunächst noch abgelehnt: „Originally Christians also linked Jesus’ Messianic role intimately to the final salvation of the world. But as this event failed to materialize, Christian theology pushed it off into a vague future – i.e., the ‚Second Coming‘ – and reinterpreted Jesus’ Messianic role in inward and personal ways that bore little relation to what the Jewish tradition had meant by the ‚coming of the Messiah‘“7
Doch nur wenige Jahre später beschritt sie selbst einen gedanklichen Weg, den ich für entscheidend in der Frage nach einer positiven eschatologischen Heilsperspektive trotz oder vielmehr gerade wegen der soteriologischen Bedeutung des (ersten) Christusgeschehens erachte: „Ich glaube, daß diese paradigmatische und proleptische Sicht des messianischen Werkes Jesu die einzige theologisch und historisch haltbare Deutung ist, die mit dem biblischen Glauben und mit realem historischen Denken übereinstimmt. Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir das Christentum mit dem Kontext dieses Ereignisses, seinem ursprünglich jüdischen Zusammenhang, wieder verbinden können und so den wirklichen historischen Jesus wieder entdecken, der einem antijüdischen Christentum immer entgehen muß.“8
Im einem solchen proleptischen „schon, aber noch nicht“, wie ich es für das Wirklichkeitsverständnis des Hebr aufgezeigt habe, liegt m. E. der entscheidende Ansatz, um der von Ruether zu Recht kritisierten Überbetonung nicht zu erliegen. Hier trifft sich m. E. die Kritik Ruethers und die von mir oben formulierte Hoffnung aus christlicher Sicht zu einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage, sodass das Zeugnis des Hebr für das jüdisch-christliche Gespräch gerade nicht als Grenzstein, sondern als Wegweiser fungieren kann. Zugleich fordert diese so von Ruether formulierte Perspektive den christlichen Gesprächspartner enorm heraus und führt ihn (gegenwärtig) in eine Aporie: Die eigentliche „Israelvergessenheit“ besteht auf christlicher Seite darin, das Heil
Vgl. RUETHER, Nächstenliebe, 229–233. RUETHER, Nächstenliebe, 233. 7 R UETHER, Anti-Judaism, 13, Zitat aus: PAWLIKOWSKI, Historicizing, 151. 8 R UETHER, Nächstenliebe, 233. 5 6
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Teil III: Ertrag und Ausblick
Israels und die Person Jesu eschatologisch voneinander zu trennen, solange dieser von der christlichen Kirche als Christus bekannt wird.
3. Anregungen für eine christliche Israeltheologie und das jüdisch-christliche Gespräch Der Hebräerbrief ist eine von vielen Stimmen im Neuen Testament, auch hinsichtlich einer Beurteilung des jüdisch-christlichen Verhältnisses. Damit verbunden sind vor allem die Frage nach der Beziehung von Altem und Neuen Testament und damit konkrete Ausformungen dieser Frage, sei es nach den alttestamentlichen Weisungen zu Kult, Recht und Moral, der Bedeutung des Landes (Israel) oder dem Messias. Dennoch fordern m. E. die zu dieser Frage hinführenden und zugleich über sie hinausgehenden Überlegungen, die ich hier anhand dieser einen neutestamentlichen Stimme zum Verständnis der (biblisch gedeuteten) Wirklichkeit und damit zur Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung im Allgemeinen und dem jüdischen Volk im Besonderen vorgetragen habe, dazu heraus, das gesamte neutestamentliche, aber letztlich biblische Zeugnis miteinzubeziehen. Denn wir haben gesehen, dass viele der z. T. sehr spezifischen Sichtweisen im Hebr zugleich Darstellungsweisen ein und derselben Überzeugung sind, welche die frühen Christen, so sie uns im neutestamentlichen Zeugnis begegnen, miteinander geteilt haben. Für sie alle war der Gedanke grundlegend, dass sich Gott, der Schöpfer und Neuschöpfer aller Dinge, auf die Geschichte ebendieser seiner Schöpfung in Raum und Zeit einlässt und sie in der Sendung seines Sohnes zu ihrem eigentlichen (Ursprungs-)Ziel führen wird. Dieses Ziel besteht in der Gemeinschaft mit ihm. Das jüdische Volk, wie es durch das biblische Zeugnis auf Abraham und Sarah zurückgeführt wird, spielt dabei eine herausragende Rolle, da es die Realisierung der Geschichtlichkeit der Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung ist. Diese Realisierung findet aus Sicht der neutestamentlichen Schriften seine Bestimmung im Kommen des Messias, den eine wachsende Zahl von Juden und alsbald auch Nicht-Juden im 1. Jh. n. Chr. in der Person Jesu von Nazareth er- und bekannt hat. Dieser Jesus von Nazareth, der auf einzigartige Weise zugleich als Sohn Gottes und damit als Gott selbst bekannt wurde und wird, ist zunächst ein Deutungsangebot der alttestamentlich-jüdischen Hoffnung auf einen solchen von Gott dazu gesalbten „Retter“. In der inneren Gewissheit dieses Angebotes und in der sich von da aus erstreckenden Wirklichkeitsperspektive ist Jesus damit aber zugleich Sinn und Ziel der gesamten Geschichte, die Gott zum Heil aller lenken will (vgl. Röm 11,32; 1 Tim 2,4). Aus dieser neutestamentlichen Pers-
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pektive lässt sich daher gerade nicht von einer Ablösung Israels durch ein anderes Volk – weder physisch noch geistig – sprechen: „An die Stelle der statischen Sicht der Substitution oder Nicht-Substitution tritt so die dynamische Betrachtung der ganzen Heilsgeschichte, die in Christus ihre ἀνακεφαλαίωσις (vgl. Eph 1,10) findet.“1 In diesem Wort „Heilsgeschichte“ (und der damit verbundenen Idee einer gesamtbiblischen theologischen Konzeption), das Joseph Ratzinger in seiner für die Grundfrage dieser Arbeit m. E. bedenkenswerten, aber leider auch vielfach missverstandenen und kritisierten Schrift „Gnade und Berufung ohne Reue“2 bewusst aufgreift und das auch in dieser Arbeit immer wieder Verwendung gefunden hat, sehe ich eine wesentliche Herausforderung sowie einen bleibenden und zugleich neuen Auftrag für die biblischen Wissenschaften und die kirchliche Verkündigung.3 Herausfordernd insofern, als es sich dabei nicht um die Entwicklung von etwas Neuem, sondern um die Rückgewinnung bzw. Reformulierung von etwas durch die theologischen Weichenstellungen im 19. und 20. Jh. ins Abseits Gerücktem handelt. Doch ohne eine solche „Gesamtschau“ zerfällt die biblisch bezeugte christliche Botschaft in ein individuelles Dafürhalten, das seine Plausibilität allein in der Subjektivität des Einzelnen begründet weiß. Freilich ist eine solche „Gesamtschau“ immer zugleich „nur“ ein Deutungsangebot der Wirklichkeit mit ihrer durch Raum und Zeit bestimmten Geschichte. Denn unter „Heilsgeschichte“ verstehe ich eine für den Glauben einsichtige Abfolge von Ereignissen innerhalb der Weltgeschichte, die dadurch herausgehoben ist, dass sie durch das Wort der Verheißung begleitet ist, bis diese zu ihrer endgültigen Erfüllung und schließlich zu ihrer Vollendung findet.4 Solches Denken ist christliche Geschichtsdeutung und -aneignung, die ausgehend und bedingt vom Glauben an Jesus Christus sowohl die individuelle Lebensgeschichte als auch letztlich die Weltgeschichte als zielRATZINGER, Gnade, 394. Vgl. RATZINGER, Gnade. 3 Vgl. die wichtigen Beiträge im Sammelband FREY, Jörg/K RAUTER, Stefan/LICHTENBERGER, Hermann (Hg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, WUNT 248, Tübingen 2009, der anlässlich eines Symposiums zum 80. Geburtstag (2007) Martin Hengels herausgegeben worden ist. In seinem eigenen Vortrag rief Hengel quasi als sein wissenschaftliches Vermächtnis dazu auf, sich der Frage nach Gottes Heilshandeln in der menschlich greifbaren und beschreibbaren Geschichte in der Theologie – gerade auch in der biblischen Wissenschaft – wieder neu zu stellen (vgl. HENGEL, Heilsgeschichte). 4 Vgl. ähnlich DEINES, Recognition, 322. Den Arbeiten von Roland Deines zu diesem Thema verdanke ich für meine eigenen Überlegungen in dieser Untersuchung viele entscheidende Anstöße und ich halte sie für diese, m. E. so gewichtige Frage, wegweisend (vgl. DEINES, Roland: Acts of God in History. Studies Towards Recovering a Theological Historiography, hg. v. Christoph Ochs u. Peter Watts, WUNT 317, Tübingen 2013; ebenso die generellen israeltheologischen hermeneutischen Überlegungen im Zuge seiner Untersuchung über Bedeutung des Landes Israel in DEINES, Bedeutung, 327–330). 1 2
3. Christliche Israeltheologie und das jüdisch-christliche Gespräch
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gerichtet erkennt, sich aber nicht zu einem lückenlosen Gesamtentwurf universaler Geschichtsdeutung verselbstständigen darf. Die Bedingtheit menschlicher Einsicht in den Sinnzusammenhang aller Ereignisse muss heilsgeschichtliches Denken stets wahren: Gerade hier gilt der theologisch notwendige Auftrag historisch-kritischer Exegese. Eine solche gesamtbiblische, heilsgeschichtliche Linie rational denkbar zu beschreiben und so für die Generationen des 21. Jahrhunderts (wieder neu) verstehbar auszuformulieren ist m. E. auch die notwendige Voraussetzung für das Bestreben um einen Dialog mit dem Judentum. Denn anders, als mancher zu schnell negativ urteilen möchte, verbirgt sich darin gerade nicht die Haltung einer einseitigen (christlichen) Überheblichkeit, sondern die Herausforderung zur beidseitigen Demut – demütig insofern, als beide Dialogpartner sich darum bewusst werden, dass sie sich beide auf ein und denselben Gott bezogen wissen. Dieser einzigeine Gott ist der in den biblischen Schriften bezeugte Verheißungsgeber, aber – und das ist für beide Dialogpartner wichtig – auch der eigentliche Besitzer aller Verheißungen. Denn Gott selbst ist nach jüdischer und christlicher Überzeugung zugleich Ursprung, Weg und Ziel der Verheißungen. Der christliche Dialogpartner erkennt nun den Erben der Verheißung im Sohn Gottes, dessen Antlitz er in Jesus von Nazareth er- und bekennt. Für die Frage nach dem Besitz der Verheißung und damit nach der Identifizierung mit dem Volk Gottes sind beide Dialogpartner also herausgefordert, einen Schritt zurückzutreten. Dies ist freilich ein Schritt, den jeder Partner zuerst selbst gehen muss, bevor er ihn vom anderen einfordert. Es geht weder allein um das Heil Israels noch allein um das Heil der Christen. Vielmehr geht es um das Heil der gesamten Menschheit, um derentwillen Israel offenbarungsgeschichtlich unumgänglich ausgesondert wurde (Gen 12,1–3). Eine durchaus bemerkenswerte Initiative hin zu einem solchen Schritt ging am 03. Dezember 2015 von einer Erklärung jüdisch-orthodoxer Rabbiner zum jüdisch-christlichen Verhältnis aus. Dort heißt es: „[W]e acknowledge that Christianity is neither an accident nor an error, but the willed divine outcome and gift to the nations. In separating Judaism and Christianity, G-d [sic!] willed a separation between partners with significant theological differences, not a separation between enemies. […] Both Jews and Christians have a common covenantal mission to perfect the world under the sovereignty of the Almighty, so that all humanity will call on His name and abominations will be removed from the earth. We understand the hesitation of both sides to affirm this truth and we call on our communities to overcome these fears in order to establish a relationship of trust and respect. […] In imitating G-d, Jews and Christians must offer models of service, unconditional love and holiness. We are all created in Gd’s Holy Image, and Jews and Christians will remain dedicated to the Covenant by playing an active role together in redeeming the world.“5
5 Vgl. die Erklärung „To Do the Will of Our Father in Heaven: Toward a Partnership between Jews and Christians“, dokumentiert auf der Homepage des Center for Jewish–
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Dass diese verheißene Erlösung zum Heil nun durch den Sohn Jesus Christus geschieht, ist eine (heils-)geschichtshermeneutische Einsicht, die sich natürlich überhaupt erst aus dem Reden Gottes im Sohn ergibt und für den Einzelnen dadurch an Plausibilität gewinnt, dass seine Existenz in Verbindung mit diesem Reden tritt. Aus Sicht des christlichen Dialogpartners zeigt sich gerade hier der demütige Schritt zurück. Nicht sie haben die Verheißung und Israel kann daran Anteil bekommen, sondern beide Seiten nehmen Anteil an der Verheißung des Sohnes. Das mag die Antwort von „außen“ betrachtet immer noch einseitig zugunsten des christlichen Bekenntnisses verschieben. Aber weiter kann dieses sich auch nicht wagen, will es sich selbst nicht widerlegen und somit vom Dialog ausschließen. „Ich vermute, dass die Rezeption des Hebr für den jüdisch-christlichen Dialog genau darin liegt, dass er sich mit seiner Christologie aus dem Gespräch mit der (alttestamentlichen) Schrift heraus zur Beschreibung der innersten Mitte christlicher Identität eignet und diese Identität in Beziehung zum biblischen Weltentwurf Israels setzt. Gerade so vermag er einen Dialog zu befruchten und zu vertiefen, der aus der ureigenen und unverwechselbaren Identität der Gesprächspartner leben muss, wenn er denn tatsächlich Dialog […] werden soll. Hebr bringt auf seine unverwechselbare Weise die urchristliche Geschichte der Begegnung mit Gott in den Dialog ein […]. Christus, die universale Antwort des Hebr, wird nicht konsensfähig in solchem Dialog, aber gemeinsame Fragen dürften letztlich eher zum Verstehen führen als gemeinsame Antworten.“6
Der Hebr führt den christlichen Dialogpartner von beiden Seiten an eine Grenze: Er drängt ihn dazu, in seiner Anstrengung um eine eschatologische Heilsperspektive Israels nicht abzulassen und zugleich die aus seiner Glaubensgewissheit heraus erkannte Notwendigkeit und Unersetzlichkeit des Heilswerkes Jesu an keiner Stelle aufzugeben. „Captain of Israel’s host and Guide Of all who seek the land above, Beneath Thy shadow we abide, The cloud of Thy protecting love; Our strength, Thy grace; Our rule, Thy word; Our end, the glory of the Lord.“7
Christian Understanding and Cooperation (CJCUC): http://cjcuc.org/2015/12/03/orthodoxrabbinic-statement-on-christianity/ (zuletzt eingesehen am 26.07.2019). 6 B ACKHAUS, Gottesvolk, 211f. 7 W ESLEY, Hymns, Nr. 133.
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Register der antiken Autoren und Texte 1. Altes Testament Genesis 1,1 1,7 1,16 1,24 1,25 2,1–3 2,2 3 3,8 4,7 5,24 9,9 12,1–3 14 14,18–20 15,6 15,15 17 17,2 18,19 21,5 22,16f. 25 25,7 25,8–10 25,24–26 25,26 37,18 47,3 49,1 50,24
159 159 159 159 159 155 114 162 114 121 246 65 275 73–75, 83 150 103 113 154 65 113 151 127 152 151 151 151 151 178 113 158 113
Exodus 3,16 4,5 4,22 7,1 13,25–14,4
113 113 207 113 120
14,10–12 14,31 15,20 15,23f. 16,1f. 17,1–7 17,2f. 18,7 19,12–25 20,2f. 20,11 20,18 24,8 25,40 25–27 26,33 28 28,1 29,9 30,13 31,12–17 32,32f. 40,15
120 103 113 120 120 155 120 199 204 65, 259 155 204 72 88, 159, 161 88 88 82 71 76 150 155 207 76f.
Levitikus 3,19 9 9,7 11,44f. 16 16,6 16,17 16,20 16,27 17,11 19,2 21,17 21,21 26,40
67 228 80f. 258 91 80 80 86 86 92, 106 258 217 217 113
300 Numeri 11,14–16 11,45 12,7 14,11 14,18 14,21–23 14,23 14,24 18,3 18,21–24 20,2f. 20,12 21,4f. 23,12 24,14 24,17 25,13 26,65 35,25–28 Deuteronomium 1,8 1,12 1,32 1,36 4,11f. 4,16 4,20 4,30 4,31 5,22 5,23–29 5,23–25 6,4f. 6,10 7,12 8,18 9,5 9,19 10,22 10,35 11,6 12,5 12,23 12,29 18,15–20 18,15 27,17 29,12 29,24 30,20 31,20
Stellenregister
120 259 136 103 113 121 73 121 89 75 120 136 120 121 158 83 76 121 77 113 109 102 121 204 204 259 158 113 204 228 229 263 113 113 113 113 204 204 204 109 196 204 204 154 113 246 113 113 113 113
34,10
79
Josua 5,13–15 24,2
228 113
Richter 4,4 6,4 18,15
113 109 199
Rut 1,12
109
1. Samuel 13,21 13,23 14,4 15,20–22
109 109 109 263
2. Samuel 5,7–10 7,12–14 14,22 22,3
196 83 75 134
1. Könige 1,47 3,6 8,21 8,46 9,3 9,4 9,6f. 20,25
75 191 113 259 196 191 197 246
Esther 4,14 5,2
246 199
Hiob 6,26 13,6 15,14 16,21 22,20 23,4 23,7
110 110 259 110 109 110 110
Psalmen 2,7 8,1 8,4f.
82 72 114
301
Stellenregister 8,5 9,9LXX 9,12 11(10LXX),7 14,3 14,7 15(14LXX),18 17(16LXX),2 19(18LXX),13 20,3 29(28LXX),9 37(36LXX),13 38(37LXX),6 38(37LXX),8 40(39LXX) 40(39LXX),7–9 40(39LXX),18 45,3 45(44LXX),7f. 48,3 48,13 50(49LXX) 50,2 51(50 LXX),6 51(50 LXX),4 51,7 51,8–12 65,2 67(66LXX),5 68(67LXX),3 68(67LXX),10 69,29 69,36 72(71LXX),14 74,2 74(73LXX),16 75(74LXX),3 78,8–20 84,8 87,2 87,5 87,6 88(87LXX),48 95(94LXX) 95(94LXX),1 95(94LXX),7f. 95(94LXX),8–11 95(94LXX),8 95(94LXX),9f. 95(94LXX),11 96(95LXX),10 97,8 99(98LXX),4
72 191 196 191 259 196 178 191 106 196 159 178f. 109 109 134 96f. 80f. 246 79, 144, 191 197 197 80, 263 196f. 92 106 256 259 197 191 109 159 207 196 110 196 159 191 259 197 196 196 207 109 121, 154 72 115 120 72 155 73, 115, 192, 223 191 197 191
99(98LXX),9 102,20–22 102(101LXX),26–28 102(101LXX),26 104(103LXX),4 105(104LXX),8 105(104LXX),15 110(109LXX),4 111(110LXX),7f. 122 125,1f. 132 132,13 137,1 137,6 138(137LXX),3 138(137LXX),15 139(138LXX),3 147,12
191 197 144, 159, 246 79, 159 159 113 113 71, 73f., 76, 82f., 154 191 197 196 197 196 197 197 178 109 179 197
Sprüche 1,23 1,25 1,30 5,12 6,23 8 12,1 13,18 15,8 15,10 15,23 15,29 16,17 20,9 21,3 23,10 27,5 28,13 29,1 29,15
110 110 110 110 110 160 110 110 263 110 110 263 110 259 263 246 110 110 110 110
Kohelet 7,20
259
Jesaja 1,8f. 1,16 1,10–17 1,27 2,3 3,1
197 106 92, 263 197 196f. 197
302 4,3 8,17 8,18 11,1 14,32 24,23 26,7–21 26,12 27,13 28,16–18 28,16 29,14 29,17 40,9 40,28 41,27 43,25 46,13 51,3 51,11 51,16 52,7f. 53,9 53,12 53,13 56,1–7 66,23
Stellenregister 207 134 196 83 196 197 236 110, 179 197 197 102, 193, 196, 260 246 246 197 159 197 259 197 197 197 197 197 92 92 95 155 155
Jeremia 4,6 197 4,31 197 6,2 197 6,23 197 7,7–11 92 9,18 197 10,17 109 11,10 113 18,10 113 23,5 83 23,20 158 23,22 109 30(37LXX),24 158 31(38LXX) 52, 94, 96 31,6 196f. 31,9 207 31,12 197 31(38LXX), 31–34 65f., 68, 72, 211 31(38LXX), 34 259 33,8 259 38(45LXX),32 113 41(48LXX),13 113 49(25LXX),39(19LXX)158 50,5 197
Klagelieder 1,8
197
Ezechiel 5,3 13,9 13,14 16,4 19,5 26,11 37,1–14 38,16 43,11 46,11
196 207 111 196 109 109 236 158 109 206
Daniel 3,86LXX 10,14 12,1 12,1–3
237 158 207 236
Hosea 2,13 3,5 4,4–18 4,7–13 5,9 5,10 6,1f. 6,6 9,5 11,1 14,2f. 14,3
206 158 92 262 110 246 236 92, 263 206 207 92 143
Joel 4,16
196
Amos 5,21 5,21–24 5,21–27
206 263 92
Jona 3,5 103 Micha 3,10–12 4,1 4,7 4,10 4,11–13 6,1–8
197 158 197 197 197 92
303
Stellenregister 7,18 Nahum 2,8 Habakuk 2,1 2,4 Zefania 3,11–20 3,11–13
259 109 111 52, 99, 102, 139, 230, 259 197 197
Haggai 2,6
52, 243, 245
Sacharja 2,5–9 2,14 8,12f. 8,22f. 9,9
201 197 197 197 197
Maleachi 1,6–29 2,10 3,6–12
263 113 263
2. Deuterokanonische Schriften Baruch 3,32
159
1. Makkabäer 2,20 2,50 4,10 7,29 7,33 11,6 12,17
113 113 113 199 199 199 199
2. Makkabäer 2,7 4,46 6,18–30 7 7,1–42 7,24 8,15 10,28 11,24
67 246 151 236 151 246 113 76 246
Sirach 6,9 16,12
246 110
20,1 41,7 29,15–16 41,21 44,16 49,16
110 67 76 199 246 249
Tobit 3,3 5,10 9,6 10,11
113 199 199 199
Weisheit 1,9 2,14 3,1 4,10 9,1f. 9,2 9,3 11,7 17,7 18,5 18,22
110 110 230, 237 246 160 159 191 110 110 110 113
304
Stellenregister
3. Alttestamentliche Pseudepigraphen 4. Esra (Apokalypse) 7,32 236 13,26 260 1. Henoch (äthiopisch) 22,7 121 51,1 236 83,8 260 91,10 236 92,3 236 103,4 230, 236f. Josef und Asenat 54,5–10
78 78 78 78 78 78 105 105 113 133
Mose-Apokalypse 40,4
121
Psalmen Salomons 2,15 3,11f. 9,1 9,10 12,1
191 236 110 113 113
Sibyllinen 4,178–190
236
105
Himmelfahrt des Mose 1,1 159 Jubiläen 4,31 19,15f. 20,1–22,30
14,13f. 14,18 14,20 15,4 15,7 15,11 15,24 16,22 16,25 17,10
121 151 151
3. Makkabäer 1,8 1,16 2,10
199 246 113
4. Makkabäer 2,21 3,18 4,25 5,25 6,13 7,19 13,17 13,23
159 246 178 78 78 113 113 78
Syrische Baruch-Apokalypse 42,7 236 49,51 236 Testament Abrahams 13,2 121 Testament Benjamins 7,3f. 121 7,5 121 Testament Josefs 20,1
113
4. Qumran Damaskusinschrift (CD) 1,4 260
11 QMelch
73
305
Stellenregister
5. Philo von Alexandrien De Abrahamo 1,257 26 268 271 273
77 74 105 105 105
De somniis 1,102
De specialibus legibus 3,150 92 De vita Mosis 2,135
De agricultura 1,12 1,117
206 206
De cherubim 1,52 1,65 27–29
121 121 150
De congressu eruditionis gratia 43f. 150 De opificio mundi 13,26f. 150 De sacrificiis Abelis et Caini 1,2f. 121 1,52 121 1,88 121 94 74
150
74
Legatio ad Gajum 1,12 206 Legum allegoriae 1,128f. 2,12 3,79 3,79–83 3,134 3,144
77 150 73 150 77 77
Quaestiones et solutiones in Genesis 1,62 121 2,28 150 Quis rerum divinarum heres sit 186 150
6. Flavius Josephus Antiquitates Judaicae 1,54 121 1,180 73 1,235f. 113 3,123 89 3,180f. 89 3,224–257 49 3,324 113 3,377 113 12,128 77 18,259f. 151 20,179–184 50
Bellum Judaicum 1,10 2,272–276 2,562 5,184 5,186 5,208f. 6,438
50 50 50 88 88 88 73
Contra Apionem 2,77
49
306
Stellenregister
7. Rabbinisches Schrifttum Yoma 1,1
82
8. Neues Testament Matthäus 1,1 3,9 5,47 7,21–24 10,6 10,28 12,40 12,50 13,24–30 13,35 13,44 13,45 13,47f. 18,12f. 20,1–16 21,42 23,34 23,35 23,41 25,27 25,31–46 25,34 26,24
83 183 199 263 31 239 264 263 195 159 195 195 195 195 195 260 200 118 200 181 238 159 72
Markus 1,2 1,15 4,3–8 4,26–32 9,15 10,40 10,47f. 12,1–9 12,18–27 12,35–37 13,26f. 13,28f. 14,11
72 105 195 195 199 200 83 195 236 73, 83 238 195 113
Lukas 1,31 1,40
83 199
2,4f. 2,23 2,34 6,46 10,20 11,28 11,50 12,16–21 13,6–9 16,16 16,19–31 21,27 22,32 23,39–43 24,13–35
83 72 260 263 207 263 159 195 195 158 238 238 220 238 108
Johannes 1,1–4 1,5 2,11 3,18 5,24 5,25–29 6,29 6,35 7,38 7,39 7,40–43 8,37–39 8,39–42 8,56 9,35 11,25 12,11 12,24 12,44 13,15–17 14,2f. 17 17,23 17,24 20,24–29 20,29
78f., 160 83 125 247 239 239 125 125 72 125 83 183 185 135 125 125 125 195 125 263 200 220 179 159 108 108
307
Stellenregister Apostelgeschichte 2,25 2,29–32 2,31 4,12 7,2–53 7,5 7,16 12 13 13,16–41 13,22f. 14 16 17,30f. 18 18,2 18,22 19,4 20 20,21 21,29 23,6–8 24,16 24,24 Römer 1,1 1,17 1,3 2,13 2,28f. 3,4 3,16f. 3,28–30 4,3 4,16 4,21 6,4–8 7,23 8 8,1 8,16–29 8,17 8,24 8,29 9–11 9,3f. 9,4–6 9,7f. 9,14 9,20f.
178f. 83 178f., 264 83 118 113 246 50 195 118 83 195 195 105 195 49 199 125 195 105, 125 178 238 94 125 54 99 83 263 260 72 261 261 72 177 113 174 83 99 139, 174 174 184, 247 108 179, 184 36, 40, 45, 146, 214, 260–268 99 183 185 44, 99, 105 179
9,27–29 9,33 10,4 10,7 10,11 10,17 10,18f. 11 11,1 11,2 11,3–5 11,16f. 11,16–19 11,17–24 11,23 11,25–27 11,25–36 11,26 11,32 11,36 15,7–9 15,40 16,3
260 260 90, 96, 261, 264 264 72 112 178 36, 265f. 44, 98, 261 72 260 127 140 261 261 146, 261, 266 36 214, 254, 262 273 97 266 83 199
1. Korinther 1,1 1,2 1,8 1,18–20 1,31 2,9 8,6 11,23 13,12 15 15,3 15,10 15,24
54 139 110 108 72 200 97, 160 54 108, 209 238 54, 72 179 247
2. Korinther 1,1 1,12 2,12 3,5 4,17f. 5,1 5,7 5,8 5,10 5,17 5,21 9,9
54 94 161, 195 110 108 130 135, 174, 209f. 238 181 108, 139 91 72
308
Stellenregister
Galater 1,1 1,6 2,4 2,16 2,17 3,4f. 3,7–9 3,8 3,11 3,15–22 3,16 3,19 4,7 4,21–31 4,22–28 4,28 4,30 5,3f.
54 83, 246 174 125 139 96 177 178f. 99 154 183 113 184 201 185 260 72 265
Epheser 1,1 1,4 1,5 1,10 1,15 2,12 2,19 2,20f. 3,5 3,6 3,8f. 3,12 4,9 6,8
54 97, 159 179, 184 97, 274 125 196 130, 196 137 83 184 97 94 264 181
Philipper 1,6 1,23 1,27 2,5 2,6 2,9–11 2,9 2,12–14 2,13 3,3 3,20 4,3 4,21
110, 179 238 196 141 78 78 79 179 110 260 130, 196 207 139
Kolosser 1,1
54
1,4 1,15–17 1,15 1,18 3,25
125 78, 160 97 184 181
1. Thessalonicher 1,8–10 2,2 2,14 4 4,13 5,23f.
105 195 139 238 229 110
1. Timotheus 1,1 2,4 2,10 3,9 6,3
54 274 113 94 222
2. Timotheus 1,2 2,8 3,15 4,19 4,20
54 83 125 199 195
Titus 1,1
54
Philemon 1,5 1,23
125 139
Hebräer 1,1–10,18 1,1–4,13 1,1–2,4 1,1–4
1,1 1,2
1,3 1,4–2,18
58 58 58 53, 58, 63, 65, 78f., 85, 90, 97, 135, 137, 153, 160, 248, 253, 270 45, 113, 116, 135, 154, 160 59, 78, 97, 137, 143, 153f., 156f., 159f., 162, 184, 192, 207, 210, 246 109, 144, 153, 159f., 184, 190, 208, 210, 243, 248 58, 63
Stellenregister 1,4 1,5–14 1,5 1,6 1,7 1,8–12 1,8 1,10–12 1,10 1,12 1,13 1,14 2,1–4 2,1 2,2 2,3 2,5–18 2,5 2,6 2,7 2,8 2,9 2,10–17 2,10 2,11–13 2,12 2,13 2,14 2,16 2,17f. 3,1–5,10 3,1–4,14 3,1–6 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 3,7–4,13 3,7–4,11 3,7–11
143, 159, 170 28, 53, 159 72, 78, 82 174, 184, 192, 207 159, 162 144 78, 160, 190–192, 208, 245 159f., 165 79, 130, 159, 246 160 78, 138. 192, 247 154, 207 55 53, 154 55, 79, 88, 135, 219 53–55, 79, 95, 137, 153, 156, 219, 248, 263 173 190f. 46, 67, 72 83, 207 159, 191, 210, 217, 220, 243, 247f. 160, 248, 256, 264 78 130, 138, 159, 173f., 184, 202, 207f., 247 72, 174 67 117, 134 140, 171 31 49, 79, 117, 134, 136, 138, 162, 171 58 58 28, 53, 63, 135f., 138, 140, 142, 154 53, 59, 100, 107, 136f., 142 134, 136f., 190 79, 159, 190 159, 190, 210 137, 190 78, 100, 102, 106, 137, 140, 143f., 156, 184, 190, 202 241 53, 55, 154f. 72f.
3,7f. 3,9f. 3,11 3,12–14 3,12 3,13 3,14 3,15–4,11 3,15 3,16–18 3,18 3,19 4,1–6 4,1 4,2 4,3 4,3–5 4,4 4,5 4,6–9 4,6 4,7 4,8 4,9–11 4,9 4,10 4,11 4,12 4,13 4,14–10,39 4,14–10,18 4,14–7,28 4,14–5,10 4,14–16 4,14 4,15 4,16
309 53, 67, 156, 219 113, 117, 127f. 192, 223, 242, 263 53, 55, 65, 102, 105 212 68, 105, 123, 127, 134, 156, 171, 225, 234 100, 102, 106, 139f., 144, 156, 175, 184 67 67, 156, 219 117, 128, 263 192, 223, 242 102, 223 114 53, 114, 122, 155, 168, 192, 220, 223f. 102, 112, 115, 263 53, 67, 102, 114, 127, 158f., 192, 223–225, 242 155 159 192, 223, 242 53, 66, 114 115, 156, 168, 223f. 67, 72, 115, 156, 219, 223 223 53, 63, 107, 115, 215 223, 241, 243 159, 192, 223f. 65, 122, 171, 192, 220, 223f. 90, 209 159 28 58, 63, 66, 69f., 129, 173 85 83, 117, 173 58f., 228, 256 78, 98, 100, 142, 144, 161, 190, 220, 256 49, 68, 77–81, 85, 91, 93, 134, 162 53, 56, 94, 102, 106, 161, 171, 190,
310
5,1–10,18 5,1–10 5,3 5,4 5,5f. 5,6 5,7–6,12 5,7–10 5,7 5,8 5,9 5,10 5,11–10,39 5,11–6,20 5,11–6,8 5,12–6,2 5,12 6,1 6,2 6,4–6 6,4 6,5 6,6 6,7f. 6,9 6,10–12 6,11f. 6,12 6,13–15 6,13 6,14 6,15 6,17 6,18 6,19 6,20 7,1–10,18 7,1–19 7,1–10 7,1–3 7,1
Stellenregister 208, 210, 218–220, 225, 228, 256 53, 55, 77 49, 59, 68f., 70–73, 78, 80, 85, 171, 174 80f. 88 82 160 170 80f., 162, 173 134, 137 79, 81, 85, 134 141, 173, 184, 247 247 58 58 55 54 47, 123 55, 102, 105f., 162 83, 209, 229, 237, 256, 264 116f., 122, 128, 155, 190, 263, 265 107, 122, 140, 221 160 78 65, 116, 130 170f. 105 54, 102, 122, 140, 143, 156 122f., 167, 171, 177, 183, 207 114, 116f. 65, 118, 127, 183 67, 183 118, 167, 182f. 116, 123, 183, 207 72, 106, 116, 126f., 140, 143, 171, 183, 256 98, 161, 190, 228, 256 71, 73, 160, 224f., 228 64, 139 28, 154 49, 55, 71, 73–75, 78, 150 136 59
7,6 7,7 7,8 7,11–19 7,11 7,12–16 7,12 7,13f. 7,15 7,16 7,17 7,18f.
7,20–28 7,20–22 7,21 7,22 7,23–25 7,24 7,25 7,26–28 7,26 7,27f. 7,28 8,1–6 8,1–3 8,1 8,2 8,3f. 8,4f. 8,5 8,6 8,7–13 8,9 8,10–12 8,10 8,11 8,12 8,13
183, 192 170 166 82, 154 66, 71, 82, 90, 114, 245 95 49, 84, 91, 245 83 71, 83 59, 74, 83, 93 71, 73, 83, 160, 166 56, 63, 67, 69, 84, 90, 95, 140, 143f., 170, 174, 220, 255, 263f. 80 64f., 73, 76, 93, 143f. 160 170, 212 75, 77–80 160 141, 163, 218–220, 224 80–82, 85, 93, 134 160f., 190 59, 78–81, 134, 244 160, 173f. 85–90, 161, 256 85 59, 81, 138, 153, 160, 190, 192, 208, 248, 256 85–88, 161f., 190, 245 49, 85 48, 73, 87f., 107, 130, 159, 161, 165, 256 190, 256 68, 94, 144, 170, 211, 212 28, 49, 65–69, 72, 90f., 97, 114, 129, 211 113, 130 94, 106 130 211 90, 212, 242 90, 100, 144, 158, 165, 263f.
Stellenregister 9,1–12 9,1–10 9,2–5 9,2 9,3 9,4 9,6–9 9,8–10 9,9 9,10f. 9,11–28 9,11–15 9,11 9,12 9,13 9,14
9,15 9,16f. 9,18–28 9,18–23 9,19 9,20 9,21–23 9,21 9,22 9,23 9,24–28 9,24 9,25 9,26–28 9,26 9,27 9,28 9,38f. 10,1–18 10,1–10 10,1–4 10,1 10,2 10,3
161 85–90, 256 88 86–88 86–88, 267 267 48, 80, 87, 89 28, 86, 88, 96 90, 129, 174, 256, 263 49, 55, 76, 87, 90f., 161, 256 91–95 212 161f., 162, 190, 245 86, 91, 93, 134, 144, 190, 212, 224, 244 91, 106, 139, 212 80, 90f., 93f., 105f., 129, 131, 168, 175, 185, 187, 210–212, 219, 225, 227, 255f. 94, 134, 144, 184f., 207f., 211f., 231, 242f., 264f. 65, 76, 93 76 93 212 67, 72 87, 92, 106f. 212, 256 159 161, 170, 190 94 86f., 90, 93f., 161f., 190, 224 86, 93, 171 244 89, 93–95, 153, 156, 158f., 170 209 89, 92, 95, 129, 248 219 95–98, 117, 134 28 48, 68, 95 174, 190, 218–220, 242 90, 94, 96, 129, 153, 256, 263 96
10,4 10,5–10 10,5 10,9 10,10 10,11 10,12–14 10,12 10,13 10,14–17 10,14 10,15–17 10,15 10,18 10,19–13,21 10,19–23 10,19 10,21 10,22–39 10,22
10,23–36 10,23–25 10,23 10,24 10,25 10,26–31 10,26 10,27 10,29–31 10,29 10,30 10,31 10,32–34 10,32 10,34 10,35 10,36–38 10,36 10,37 10,38f.
311 212, 242 70, 80f., 96f. 67, 96, 158f. 171 97, 134, 139, 159, 244 49, 242 155 81, 91, 160, 248 192, 243, 247 76, 91, 97 174–176 72f., 95 67, 97, 162, 166 49, 69, 98, 144 58 58, 63, 98, 225, 228 56, 86f., 94, 106, 161, 163, 212, 247, 256 190 109 56, 90f., 99, 102, 106, 129, 159, 163, 210, 212, 218–220, 256 54, 63 65, 99f. 126, 140, 142, 144, 151, 220 105, 123, 134 106, 117, 122f., 128, 222 55 130, 155 209 219 78 209 212, 247 47, 49f., 106, 119 55 170, 256 102, 106, 119, 129, 220, 256 217 102, 106, 167, 171, 181f. 72, 243, 248 52, 59, 99, 102, 106, 109, 119, 129, 131, 139, 144, 166,
312
10,39 11 11,1–12,13 11,1–12,3 11,1–38 11,1–3 11,1
11,2 11,3 11,4–7 11,4 11,5 11,6
11,7 11,8–21 11,8–10 11,8 11,9 11,10 11,11 11,13–16 11,13 11,14 11,16 11,17–19 11,17 11,18 11,19 11,20–38 11,20 11,22
Stellenregister 185, 194, 209, 220, 230, 259 100, 102, 106, 109, 117, 119, 128, 265 36 58 230 117 101, 152 102f., 107–110, 112, 115, 118, 128, 131, 151, 190, 193, 199, 208, 220f., 224f., 255 113, 118, 122, 137, 147, 166, 168f., 185 59, 111, 114, 143, 151–153, 159f. 118, 151, 167 117, 119f., 128f., 166–168 117, 166, 168, 246 100, 102, 106, 109, 112, 126, 129, 166, 168, 185, 192, 210, 218f., 220, 263 111, 117, 119, 129, 158, 207 151 117f., 183, 190 129f., 190, 207 114, 129f., 151, 168, 183, 207 129f., 162, 190, 201, 214 114, 117f., 168 100, 114, 162, 168, 199, 202, 214, 217, 242 122, 129f., 143, 147, 159, 166, 181, 196, 199f., 229 129f., 161, 170, 190, 197, 202 107, 129, 170, 190, 192, 199–201 117f. 183 218 119, 181 118 116f., 119f., 183 119, 151, 218
11,23 11,24–29 11,24–26 11,27 11,28 11,29 11,30f. 11,32 11,33 11,35 11,38 11,39f.
12,1–17 12,1–3 12,1–2 12,1
12,2
12,3 12,4–17 12,4 12,5–8 12,5f. 12,7 12,12–16 12,13 12,14–21 12,14 12,6f. 12,16–29 12,16f. 12,18–22 12,18 12,18–29
119 137, 151 119, 121f., 138 111, 118f. 171, 207 130 118, 151, 255, 261 51f., 118f., 151, 166 114, 118, 167, 191 83, 121, 151, 171, 242 130, 158 40, 44, 114, 129, 147, 165–187, 213f., 217, 224, 227, 229, 231–235, 242, 244, 249, 260– 268 54 109, 131, 134, 136, 139, 147, 182, 193, 220 131f. 68, 94, 102, 106, 114, 116, 119, 122f., 131, 133, 141, 147, 177, 205f. 102, 117, 131, 134, 138, 141f., 144, 153, 163, 168, 173, 184, 187, 190, 202, 205, 208, 210, 224, 226f., 248 49, 65, 131, 171, 205 194 47, 50, 68, 131, 152 78, 184 67, 72, 131 184 205 171 58 65, 205 117 211 116, 120, 122, 128, 155, 167, 205, 207, 263 244 205, 218, 220 165, 194, 204
313
Stellenregister 12,22
12,22–24
12,22–28 12,23
12,24 12,25f. 12,25–29 12,26–29 12,26 12,27–29 12,27 12,28 12,29 13 13,1–17 13,1 13,3 13,4 13,5 13,6 13,7 13,8–13 13,8 13,9f. 13,10–13 13,11 13,12 13,13 13,14
13,15 13,17 13,18 13,19
107, 130, 161, 163, 190, 194, 199, 202, 204–208, 212, 214, 218–220, 228f., 248 148, 188f., 192, 194, 202–207, 210– 212, 219–221, 230– 234, 243 189 129, 190, 206, 209, 214, 220, 229f., 232–235, 237–239, 241, 244 28, 94, 144, 170, 203, 209–213, 219 130, 159, 190, 219, 247 36, 55, 209 231–233, 243, 245f. 52, 67, 209, 243– 245 249 159, 171, 201, 204, 221, 245f. 161, 190–192, 201, 204, 220, 245, 247, 256 247 29 65 105, 134 49, 152, 238 209 220 72 102, 117, 119, 138 255f. 73, 160, 255f. 28, 53, 55, 87, 106, 220, 255f., 263f. 28 48f., 86 134, 143, 161, 171 220 35, 130, 139, 148, 161, 165, 187, 189f., 192, 199– 202, 214, 217, 228, 245 142f., 220 119, 171 90 171
13,20 13,21 13,22–25 13,22 13,23 13,24
59, 212 110, 139, 160 58, 120 98, 107 47, 120 47, 119
Jakobus 1,22 2,3 2,5 2,8 2,21–25
263 72 113 72 118
1. Petrus 1,1 1,7f. 1,9 1,17 1,19 1,20 2,1–10 2,4 2,8 2,11 2,22 3,7 3,19f. 4,6 5,1 5,4 5,13
130 108 181 196 93 97, 159 137 222 260 130, 196 91 184 264 264 174 181 199
2. Petrus 2,19
113
1. Johannes 2,25 3,2 3,5 3,12 5,1
113 209 91 121 184
2. Johannes 1,13
199
Judas 1,4 1,11
246 121
Offenbarung 2,9
260
314 3,5 3,12 5,5 12,6 13,8 16,12 17,8
Stellenregister 207 196 83 200 97, 159, 207 200 159, 207
20,15 21,1–27 21,2 21,18–21 22,14 22,16 22,19
207 196 200 199 196 83 196
9. Apostolische Väter Barnabas 3,6 4,12 5,5 6,14 9,7 16,4
179 181 159 179 179 49
1. Clemens 4,1–7 7,4–12,8 9,3f. 10,1–7 12,1 17,1 17,5 19,2 27,2 43,1 53,4 56,3f. 64,1
121 105 47 47 47 47 47 47 47 47 207 47 47
2. Clemens 5,1 11,5
196 181
Hirt des Hermas Similitudines 1,1–9 2,2,9
195 207
Visiones 1,3,2
207
Ignatius Brief an Polykarp 6,2
181
10. Kirchenschriftsteller und Schriften Ambrosius von Mailand
Cyprian
Hexaemeron 7,42
196
Epistulae 63,4
Brief an Diognet 5,1–5 5,9
196 196
Eusebius
Clemens von Alexandria Stromateis 4,161,3
73
73
Historia Ecclesiastica 3,18,4 50 4,26,6 50 6,14,4 54 6,25 50f. 6,25,14 51
315
Stellenregister Johannes Chrysostomus Homilien über den Brief an die Hebräer 32,1,18–24 206 Tertullian Ad Nationes 1 7–9
49 49
Adversus Marcionem 3,24,3f. 195 De Corona militis 13 196 De Pudicitia 20
54
Apologeticum 5,3f.
49
12. Griechisch-römische Literatur Platon Hippias minor 363c
Tacitus 206
Plinius der Jüngere Epistulae 10,96 10,96,1
50
Xenophon 195 50
Sueton Vita Divi Claudii 25
Annales 15,44
49
Hellenika 7,4,28
206
Register der zitierten neuzeitlichen Autoren Adams, E. 159, 162 Alexander, P. S. 11 Allen, D. L. 47f., 51 Anderson, C. P. 30f. Angenendt, A. 92 Attridge, H. W. 47f., 59, 65, 67, 70, 73–75, 82f., 86–92, 94, 97, 109, 115, 122, 125, 136, 143, 149, 154, 167, 179, 183, 200, 203, 218, 230, 239, 243, 246 Backhaus, K. 19, 25, 28, 43, 47–49, 55, 57–59, 65–68, 70f., 74, 76–78, 80, 82, 84, 86, 88, 90f., 93f., 96f., 107, 109– 112, 122f., 130, 136, 140, 142, 149, 153, 166, 173f., 183–185, 190f., 199– 201, 203, 205f., 208f., 218, 221–223, 228, 230, 238, 243, 257, 276 Barrett, C. K. 149 Barth, K. 76 Bartlet, V. J. 47 Bateman, H. W. 47, 51, 54 Bauckham, R. 11, 17, 74, 78, 237 Bauer, W. 67, 110, 113, 122, 127, 160, 167, 181, 246 Baum, G. 8f. Beck, N. A. 12f., 39 Becker, J. 260 Behm, J. 64 Beker, C. J. 17 Bendemann, R. 194, 196, 198, 201, 208 Bengel, J. A. 74, 206, 230 Berger, K. 109, 206, 209 Bergmann, W. 5, 270 Bernhardt, R. 270 Betz, O. 102, 126, 193f, 260 Beyer, H. W 83 Black, D. A. 132 Bleek, F. 24, 206, 230, 232 Bockmuehl, M. 120 Böhm, M. 101, 111 Bornkamm, G. 143 Brandenburger, E. 141
Brands, G. 195 Braun, H. 48, 67, 69, 75, 77f., 86–88, 93, 96, 101, 109, 115, 127, 133, 152, 160, 166f., 169, 177, 181, 184, 196, 199, 206, 217, 230, 232, 238 Brewer, D. I. 55, 73 Bruce, F. F. 47f., 54f., 122, 152, 177, 208, 218, 230, 232 Buber, M. 101 Bühner, R. 260 Bultmann, R. 124 Cadoux, C. J. 47 Chapman, J. 51 Chazan, R. 4 Cockerill, G. L. 48, 51, 56, 59, 67, 70, 74, 78f., 83f., 87, 89, 97, 110, 132, 139, 143, 152, 183, 199f., 203, 207, 224, 230, 237, 244 Cody, A. 85 Cohen, S. J. D. 27, 34 Cosby, M. R. 167 Cremer H. 64 Croy, N. C. 132 Cullmann, O. 80, 92, 158 Cunningham, P. 17 Dan, J. 4 Dautzenberg, G. 101, 106, 125f. Deines, R. 153, 157, 254, 260, 274 Deissmann, A. 64 deSilva, D. A. 48, 56, 67, 94, 161, 169, 177, 217, 223, 230 Dibelius, M. 70, 174, 217 Dommershausen, W. 85 Dörrie, H. 108–110 Dubare, A.-M. 51 Dunn, J. D. G. 4, 28, 33, 39 Ebner, M. 194f., 197, 202 Eckardt, A. R. 9 Eichler, J. 183
318
Autorenregister
Eisele, W. 19, 149, 199 Ellingworth, P. 3, 47f., 56, 59, 75, 90, 98f., 148, 152, 161, 166f., 169, 172, 177f., 191, 199f., 206, 217, 230, 233f., 241, 246, 256 Emmrich, M. 89f. Erlemann, K. 47f., 195 Eskenazi, T. C. 39 Evans, C. 28 Fein, H. 4, 6 Feld, H. 54 Filtvedt, O. J. 112, 159, 243 Fischer, A. 236 Fischer, H. 236 Ford, J. M. 51 Foster, D. A. 258 Frankemölle, H. 17 Freudmann, L. C. 13f., 43 Frey, J. 65f., 69, 92, 94f., 105, 123, 158, 161, 189f., 212, 243, 274 Friedrich, G. 70, 113 Fruchtenbaum, A. G. 48 Fuhrmann, S. 65, 80 Gäbel, G. 49, 226, 243 Gäckle, V. 153, 222 Gager, J. G. 6, 11f. Gaston, L. 39 Gelardini, G. 23f. Geldbach, E. 258 Gese, H. 92f. Gleason, R. C. 55 Goodmann, M. 11 Goppelt, L. 52, 150 Gräßer, E. 24, 43f., 47f., 50, 54, 56, 58f., 65–68, 70–74, 76f., 79, 81, 83–87, 89, 91–93, 95f., 101f., 106–113, 115, 118f., 125f., 130f., 133, 135f., 139f., 143, 148, 152f., 156, 166–169, 171, 177, 179, 181, 185, 191, 199f., 203, 206f., 209, 213, 218, 222f., 230, 232f., 235, 246 Grimm J. 104 Grimm W. 104 Grundmann, W. 82 Günther, W. 259f. Guthrie, D. 47, 90, 169, 177, 230 Guthrie, G. H. 52f., 57–59, 67, 72, 78, 82, 86, 96, 136, 153, 204 Haacker, K. 103 Hagner, D. 11, 28, 48
Hahn, S. W. 93 Hamm, D. 132, 134 Harder, G. 109 Hare, D. R. A. 39 Harnack, A. 51 Hartenstein, F. 155 Haubeck, W. 76, 86, 170 Hauck, F. 81f. Hays, R. B. 35–37, 44, 67, 95 Heen, E. M. 206 Hegermann, H. 48, 55, 65, 67f., 81, 89, 95, 97, 100, 107, 115, 118, 138, 140, 142f., 169, 177, 230, 247f. Heidel, A.-C. 148 Heil, J. 4 Hengel, M. 11, 81, 149, 196, 254, 258, 260, 274 Henrix, H. 16 Hewitt, T. 51 Hieke, T. 104f. Hirsch-Luipold, R. 103 Hoffmann, C. 4 Hofius, O. 65, 78, 82, 86–89, 93, 115, 149, 153, 230, 241f., 244, 248 Hoppin, R. 51 Horning, E. B. 132 Hübner, H. 52, 72f. Hughes, P. E. 48, 54f., 69, 203 Hunt, B. P. W. S. 3 Hurst, L. D. 149 Isaac, J. 7 Isaacs, M. E. 21–23, 49, 223 Jang, S.-I. 218, 222 Janowski, B. 92 Jaroš, K. 54 Jeremias, J. 244 Jewett, R. 51 Johnson, L. T. 48f., 225 Johnson, W. G. 165 Jordaan, G. J. C. 212 Kampling, R. 43, 92, 270 Karrer, M. 19, 40, 47–50, 55, 57–59, 65, 67f., 70, 74, 79, 83, 87, 97, 152, 166, 169, 171, 180, 182, 191, 194, 203– 206, 208–210, 219, 230 Käsemann, E. 44, 115, 123, 127, 148, 206, 211, 217, 233, 243, 248 Kibbe, M. 201, 212 Kim, L. 27–29 Kirby, V. T. 51
Autorenregister Klaasen, W. 20f. Klaiber, W. 83 Klappert, B. 122, 134, 164, 174f., 194, 247f. Klein, A. 103 Kleinig, J. W. 138, 169, 184 Koester, C. R. 47, 51, 56f., 67f., 73, 79, 88–90, 94, 96f., 100, 121, 131, 136, 142f., 148f., 167, 184, 201, 203–205, 234, 245 Kolb, F. 195 Koosed, J. 13 Körte, M. 5f. Körting, C. 155 Köster, H. 109, 125 Kraus, W. 16f., 26, 52, 148 Krauter, S. 274 Krey, P. D. W. 206 Krüger, O. 165 Kümmel, W. 105 Küng, H. 36, 257 Kuss, O. 101 Kutsch, E. 64 Laansma, J. 241f., 248 Lampe, P. 56, 195 Lane, W. L. 28, 33f., 47–50, 52, 54, 57, 67, 78, 88–91, 94, 97, 109f., 118, 131, 138, 166–168, 177, 179, 184, 199, 203f., 217f., 230, 238, 244 Lange, E. 222 Langmuir, G. I. 4 Lanzinger, D. 155 Laub, F. 59, 91, 125f., 136, 141, 143, 202 Layton, S. C. 140 Legg, J. 51 Lehne, S. 41 Leonhard-Balzer, J. 151 Lewicki, T. 72, 96, 112 Liddel H. G 69, 110, 202, 211 Lichtenberger, H. 274 Lindars, B. 56, 71 Lindsay, D. R. 102 Lips, H. v. 122 Littell, F. 7 Loader, W. R. G. 232, 243 Löhr, H. 82, 86–88, 90, 92f., 105, 128, 154, 156, 206f., 218, 222f., 235, 241 Lohse, E. 101f., 124 Löning, K. 257 Lührmann, D. 101–103, 124, 145 Luther, M. 51f., 54, 95
319
Mackie, S. D. 17, 228f. Manson, T. 47 Markschies, C. 196f. März, C.-P. 24 Mason, E. F 29 McCormack, B. L. 85 McKelvey, R. J. 81 Meeks, W. 194 Metzger B. 67, 191 Michaelis, W. 179 Michel, O. 48f., 52, 65, 69f., 74, 78, 85, 87, 89, 127, 136, 149, 152f., 172f., 179, 203, 207, 217, 230, 245 Mitchel, A. C. 48 Moffatt, J. 47, 149, 230 Montefiore, H. 47f. Morgan, T. 103 Mußner, F. 35, 69, 123, 257f., 266 Nauck, W. 58 Nicholls, W. 14–16, 27, 43 Nicklas, T. 11 Nissilä, K. 70 O’Brien, P. T. 47f., 208 Ochs, P. 6 Parkes, J. W. 7 Pawlikowski, J. T. 257, 271 Perry, T. S. 29f. Peterson, D. 55, 81, 173–175, 218, 237 Pilhofer, P. 66 Pixner, B. 51 Polkinghorne, J. 73 Preisker, H. 76 Prigent, P. 196 Rabens, V. 158 Radu, G. 99 Raedel, C. 258 Ramsey, W. M. 51 Rascher, A. 78 Ratzinger, J. 235, 239f., 268, 274 Rechberger, U. 83 Rendtorff, R. 16 Rhee, V. S. 125, 132 Richardson, C. A. 123, 125, 134, 234 Riesner, R. 47, 51, 79 Riggenbach, E. 47f., 55, 64f., 166f., 200f., 203, 206f., 217 Rissi, M. 47, 82, 87, 105, 109, 125, 175f., 242f.
320
Autorenregister
Roloff, J. 123 Rose, C. 101f., 107–109, 112, 116, 118, 130, 132, 142, 152, 169, 172, 243f., 248 Rothschild, C. K. 54 Rudnig-Zelt, S. 103f. Ruether, R. 8f., 271 Rüsen, J. 157 Sahlin, H. 233 Salom, A. P. 86 Sandmel, S. 9f., 43 Schaller, B. 21 Schenck, K. L. 148f., 158, 161–163, 243 Schenker, A. 52, 68 Schick, E. 110 Schierse, F. J. 69, 113f., 130, 194, 204, 217, 247 Schlatter, A. 101, 107–109, 112, 118, 124f., 128 Schliesser, B. 101, 111, 128 Schmithals, W. 24 Schnackenburg, R. 125 Schnelle, U. 50, 56, 120, 149, 197, 238 Schniewind, J. 113 Scholer, J. M. 217, 223, 234, 242 Scholtissek, K. 163 Schreckenberg, H. 17, 36, 257 Schulz, D. 46, 125, 133 Schulz, S. 105f., 111, 217 Schunack, G. 48, 56, 67, 69, 89, 226 Schwaetzer, I. 16 Scott, E. E. E. 3 Scott R. 69, 110, 202, 211 Seesemann, H. 203, 206 Severin, H.-G. 195 Siebenthal, H. v. 76, 86, 112, 170 Siegert, F. 114, 150f. Small, B. C. 148f. Söding, T. 101f., 105–107, 109f., 112, 125, 134, 138, 141, 145 Söllner, P. 200f., 203f., 208, 212 Spicq, C. 101, 111, 149, 205f., 208– 211 Stegemann, E. W. 4–6, 17, 26f., 195 Stegemann, W. 5, 26f., 195 Stemberger, G. 236 Still, T. D. 126 Stolz, F. 196 Stolz, L. 189, 191–194, 208, 220, 230, 237, 243f., 246 Strobel, A. 48, 55, 64, 87, 93, 97, 142f., 149, 203, 209, 230, 248
Stuhlmacher, P. 47f., 50, 78, 124 Svartvik, J. 32f., 34, 39, 44, 260 Svendsen, S. N. 150 Swarat, U. 235 Swetnam, J. 48, 51 Theißen, G. 18, 20, 39, 74, 148, 194, 203, 217 Theobald, M. 5, 72, 96, 257 Thiessen, J. 26, 47, 230 Thiessen, M. 35, 121 Thoma, C. 257 Thompson, J. W. 128, 149, 159 Thüsing, W. 142, 174 Tiwald, M. 194, 196, 198, 201, 208 Trobisch, D. 51 Ueberschaer, F. 103f. Vanhoye, A. 58f., 169 Voulgaris, C. 51 Walker, P. 54 Wall, R. 28, 33f. Walser, G. A. 68 Webster, J. 79 Weiß, A. 10, 195 Weiß, H.-F. 47f., 52f., 54f., 58f., 65– 67, 69–71, 74f., 77–79, 82, 85f., 88–90, 94f., 96f., 100f., 109, 111–113, 118, 131–133, 136, 139, 142f., 148f., 152, 158–160, 167–169, 175, 177, 179, 183, 185, 191, 194, 203, 206–208, 222, 230, 233, 238 Welch, A. D. 51 Wengst, K. 92 Wesley, C. 276 Westcott, B. F. 47f., 52, 81, 201, 203, 207, 217 Wevers, J. W. 52 Wied, G. 236 Wilckens, U. 109, 111f. Wildberger, H. 104 Williamson C. M. 13, 20 Williamson, R. 81, 151 Wilson, S. G. 17 Windisch, H. 65, 70f., 79, 89, 169, 177, 217f., 230 Witetschek, S. 195 Witherington, B. 35, 48, 55 Wolmarans, J. L. P. 67 Wrogemann, H. 41f.
Autorenregister Zahn, T. 47 Zeilinger, F. 236 Zeller, D. 266 Zimmermann, G. 12
321
Sachregister Aaron, aaronitisch, aaronitische Ordnung 70f., 74, 76f., 80–83, 85, 113 Abbild (siehe Schatten) Abel 28, 36, 117f., 121, 151, 166, 170, 212 Abendmahl, Herrenmahl 54, 217, 222, 256 Abraham 30f., 36, 73–75, 99, 113, 116f., 118, 119, 121, 130, 143, 150– 154, 167–170, 178, 181–185, 190, 258, 273 Allerheiligstes (siehe Heiligtum) Anbetung, anbeten (siehe Lobpreis) Anfechtung, angefochten sein (siehe Versuchung) Angst, Furcht, furchtbar, Schrecken 5, 41, 98, 120, 204, 239, 269 Anthropologie 92–94, 123–131, 180– 182, 235–240 Antijudaismus, antijüdisch 3–6, 7–9, 12, 14f., 17f., 20f., 24, 26–30, 34, 39, 136, 269–271 Antisemitismus, antisemitisch 4–7, 8, 10, 15, 43, 269f. Äon, Zeitalter, Zeitenwende 95, 151, 156, 160, 215, 236, 268 Apokalyptik, apokalyptisch 21, 113, 149, 235–239, 259 Auferstehung, Auferweckung – aller Menschen bzw. der Gläubigen 119, 170f., 235–240, 244 – Jesu 54, 80–83, 153, 232–235, 248 Auferweckung (siehe Auferstehung) βασιλεῖα (siehe König) Bedingtheit (siehe Sünde, siehe auch Anthropologie) Bekehrung (siehe Buße)
Bekenntnis, bekennen 7f., 11, 13, 15, 28, 39, 41, 53–55, 59, 63, 73, 94, 107, 113, 128, 130, 142–145, 226, 253, 256, 260, 263, 268, 270, 275f., 282 besser, das Bessere (siehe auch Synkrisis) 21f., 64, 68, 76, 84, 90, 98, 121, 147, 154, 161f., 169–188, 211, 214, 220, 227, 232, 242, 248, 255 Blut, blutig (siehe auch Opfer) 28, 50, 76, 91–93, 96, 159, 170, 203, 205, 210–212, 219, 224 Bund (siehe Heilsordnung) Bürge, bürgen (christologisch) 76, 93, 98, 127, 129, 140–144, 176, 183– 185, 193, 224–227, 254, 266 Bürgerrecht (siehe auch Land und Stadt) 130, 195f., 205, 209, 221f. Buße, Bekehrung, Umkehr 105, 122, 155. 207, 211, 217f., 265 Christologie, christologisch 63f., 69– 98, 124–144, 210–212 David, davidisch 36, 72, 76, 82f., 115, 117, 154–156, 179, 196, 223 Dialog – allgemein 41–43 – jüdisch-christlicher 6, 16, 33, 38– 43, 181, 254, 258, 261–263, 269– 276 διαθήκη (siehe Heilsordnung) Einheit, Vereinigung (siehe Gemeinschaft) eintreten, Eintritt (siehe hineingehen) Engericht (siehe Gericht) Endzeit, endzeitlich (siehe Eschatologie)
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Sachregister
Engel 22, 28, 53, 55, 63, 78f., 135, 154, 159f., 162, 170, 203–207, 248 Erbe, erben, Erbbesitz – der Sohn als Erbe (christologisch) 78f., 184–190, 192, 207, 210, 275 – die Glaubenden als Erbengemeinschaft 30f., 64, 115f., 123, 130, 152, 154, 177, 183–190, 207, 243, 263 Erhöhung (siehe Inthronisation) Erlösung (siehe Soteriologie) Ersatztheologie (siehe Substitution) Eschatologie, eschatologisch, eschatisch, Endzeit, endzeitlich (siehe auch Ruhe) 32–45, 58, 95, 98–100, 102, 106–112, 114–116, 119–134, 137–149, 157f., 164, 165–188, 200– 249, 254–267, 270f. Evangelium 18, 246, 270 Ewigkeit, ewig 44, 74–79, 83, 91, 130, 150, 163f., 174, 184f., 191–193, 196, 219, 221, 237, 239, 243, 244, 261 Fall, gefallene Schöpfung (siehe Sünde) Freimut, freimütig, Zuversicht, zuversichtlich 56, 87, 94, 98, 102, 106– 112, 119f., 136, 138, 144, 163, 170, 175, 204f., 209f., 219, 225, 227f. Frühjudentum, frühjüdisch (siehe Judentum) Fürbitte, Fürsprache, Fürsprecher (christologisch) 94, 141 Furcht, furchtbar (siehe Angst) Fürsprache, Fürsprecher (siehe Fürbitte) Gegenüberstellung, gegenüberstellen (siehe Synkrisis) Geist, geistlich, geistig (siehe auch Heiliger Geist) 31, 80, 111, 149, 151, 185, 199, 203, 204f., 214, 218, 221, 229–244, 274 Gemeinschaft, Gemeinde, Kirche, Versammlung, Einheit, Vereinigung – mit Gott gegenwärtig, Gottesbeziehung gegenwärtig 21f., 92f., 102– 144, 163, s217–229 – mit Gott eschatologisch, Gottesbeziehung eschatologisch (siehe Ruhe)
– der Glaubenden ekklesiologisch (siehe auch Erbe) 47–59, 72f. 116– 124, 137–141, 226–229, 259f. – der Glaubenden eschatologisch (siehe auch Ruhe und Vollendung) 47–59, 72f. 116–124, 137–141, 226– 229, 259f. Gerechtigkeit, gerecht, rechtfertigen 31, 69, 73, 91f., 96, 99, 102, 119, 121, 129, 144–146, 191, 205–207, 209f., 214, 229–241, 247, 263, 265 Gericht, Richter, richten, Endgericht, Jüngster Tag 81, 90, 95, 102, 116, 119, 121, 129, 166–168, 197, 203– 211, 219f., 230, 231–249, 261, 265– 268 Geschichte, geschichtlich (siehe auch Zeit) 19, 35f., 71, 74, 82–84, 94, 97, 108, 111, 118, 121, 128, 135, 137f., 150–158, 168, 175, 187, 216, 223, 247, 249, 257–259, 266f., 270–275 Geschichtsdeutung, Geschichtsaneigngun, Geschichtspotential (siehe Heilsgeschichte) Gesetz (siehe Heilsordnung, alte) Gewissen, gewissenhaft, Gewissensreinigung 56, 81, 89–98, 106, 126– 131, 139, 145, 168, 175f., 185, 200– 202, 204f., 210–212, 219, 242, 255f., 263–268 Gewissheit, Vergewisserung (siehe auch Freimut) 34, 41, 59, 110–112, 120, 128, 134, 170, 199, 205, 216, 219, 224–226., 234, 241f., 244, 247f., 256, 273, 276 Glaube, glauben, Pisteologie, pisteologisch (siehe auch Vertrauen) – im AT/in der LXX 101–105 – im Neuen Testament allgemein 108, 125f. – im Hebr 101f., 105–146 Glaubensmüdigkeit, glaubensmüde, Zurückweichen (siehe auch Zweifel) 23, 50, 54f., 59, 93f., 107, 114, 117, 119, 122, 128, 131f., 170, 193 Glaubenszeugen (siehe auch Gottesvolk) 116–144 Gnade, gnädig 80f., 96–99, 106f., 256, 265f.
Sachregister Gnosis, gnostisch 9, 44, 148 Gottes Sprechen (siehe Offenbarung) Gottesbeziehung (siehe Gemeinschaft) Gottesdienst, gottesdienstlich 96, 106, 122, 133, 141f., 209–211, 217–219, 264–268 Heil, Heilsgut (siehe auch Ruhe) 68, 107–112, 162, 181 Heiliger Geist 53, 72f., 89, 97, 166, 238 Heiligtum, Allerheiligstes, Kult, kultisch, Tempel, Tempelkult, Stiftshütte – irdisches 85–95, 224, 255f. – himmlisches 85–95, 115, 161f., 211f., 224, 244–247, 255f. Heiligung (siehe auch Gerechtigkeit) 72f., 258f., 264 Heilsgeschichte, heilsgeschichtlich, Geschichtsdeutung, Geschichtsaneigngun, Geschichtspotential 14, 35– 37, 87–90, 97, 114, 118f., 148–165, 214–217, 223f., 248–276 Heilsmittler (siehe Mittler) heilsnotwendig, heilsentscheidend 54f., 84, 106, 116, 120f., 129, 139, 144f., 166–168, 205, 219, 230, 242, 263 Heilsordnung, Bund, διαθήκη, Tora – allgemein bzw. semantisch 64f., 212, 257 – alte, Kult, Gesetz, Tora, kultisch, alttestamentlicher Opferkult, Tempel, Tempelkult 3, 10, 12f., 28, 35f., 44, 58, 63–100, 113f., 118, 124, 135, 137, 147, 157f., 165, 174, 176, 184– 186, 204, 206, 211, 217–220, 242f., 253, 255–257, 263–268 – neue 12f., 35f., 44, 58, 63–100, 114, 119, 124, 129, 135, 143, 146f., 157f., 165, 170, 174, 184–186, 203f., 211– 213, 243, 255–257, 263 Heilsperspektive, Heilshoffnung 40–45, 260–268 Heilsweg (siehe auch Heilsordnung) 16, 68, 254–257, 266f. Heimat (siehe Land) Henoch 117f., 151, 166, 246
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Herr, κύριος, JHWH 65, 72f., 78f., 104, 140, 159f. Herrenmahl (siehe Abendmahl) Herrscher, herrschen, Herrschaft (siehe König) Herz 73, 80, 106, 115f., 121, 156, 246f., 256, 263 Himmel, himmlisch 19, 22–25, 79, 81, 85–93, 107–110, 115, 144–146, 159–162, 189–213, 214, 220–228, 231–249 Himmelfahrt (siehe Inthronisation) hineingehen, eintreten, Eintritt, Zugang 22, 35, 45, 56, 85, 89f., 93–95, 107, 115, 129–131, 136, 139, 145, 155– 157, 163–165, 172––249 herantreten, hinzutreten, sich (Gott) nähern 89, 163, 168, 174, 208, 210, 215, 217–223, 226–229, 244, 264 Hohepriester, Hohepriestertum (siehe Priestertum) Hölle (siehe Verdammung) Holocaust, Shoa 4, 6,7, 15, 16, 42, 43 Inkarnation 74, 80, 140, 162 Inthronisation, Erhöhung, Himmelfahrt (christologisch) 80–82, 85, 92, 128, 143, 153, 160f., 173f., 184, 192, 220, 227, 248 Israeltheologie, israeltheologisch 5f., 16, 32–45, 148, 181, 253–276 Israelvergessenheit, israelvergessen 5, 6, 269, 271 Jerusalem – irdisches 22f., 48–50, 196f., 268 – himmlisches 7, 107, 130, 161, 190, 193f., 199–213, 218, 234, 241–249 Judäophobie, judäophob 5, 6, 269 Judenpolemik, judenpolemisch 7, 11, 13f., 16–38, 58, 135f., 167, 255f. Judentum, jüdisch – antikes, Frühjudentum, frühjüdisch 13, 21f., 26f., 34f., 49, 55, 73, 92f., 101–105, 113, 116–121, 150f., 152– 160, 196f., 230, 235–240, 259f. – modernes (nicht antikes) 4–6, 16, 36, 38, 261, 267f., 275 Jüngster Tag (siehe Gericht)
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Sachregister
κατάπαυσις (siehe Ruhe) Kindschaft Gottes (siehe Sohn) Kirche (siehe Gemeinschaft) König, Königreich, Königsherrschaft, βασιλεῖα, Herscher, Herrschaft, herschen 78, 82f., 151, 174, 190–193, 201, 208–210, 220, 243–248, 255, 271 Kontinuität und Diskontinuität (siehe auch Heilsgeschichte) 13f., 19f., 21, 33, 101–146, 153–155, 235–240, 254–260 Kontrast, kontrastieren (siehe Synkrisis) Kosmologie, Raum, räumlich (siehe auch Schöpfung) 21f., 70, 115, 129f., 148f., 158–165, 201 Kreuz, Kreuzigung, gekreuzigt, Kreuzestod (siehe auch Opfer) 78–81, 91–95, 134, 155, 232, 235, 238 Kult, kultisch (siehe Heiligtum, siehe auch Heilsordnung und Opfer) Land, Vaterland, Heimat (siehe auch Verheißung und Bürgerrecht) 22, 31, 35, 114, 119–121, 129f., 138, 143, 161f., 168, 170f., 190, 199, 202, 248, 273 Lobpreis, (lob)preisen, Anbetung, anbeten 95, 99, 143, 197, 210, 214, 217, 222, 243, 266 Melchisedek 55, 59, 70–84, 98, 136, 154, 170 Messias, messianisch 6–9, 16, 28f., 35, 39, 55, 73, 83, 114, 139, 153, 259f., 269–273 Mittler, Mittlerschaft, Heilsmittler – der Engel (siehe Engel) – Jesu 22, 69, 71, 76, 77, 84–95, 128, 141, 143f., 153, 160, 184, 203–219, 225, 228, 243f., 263 – der (levitischen) Priester 22, 71, 77, 84–95 – des Mose 150 Mose 13, 22, 27–30, 36, 53, 63, 72–74, 77, 79, 88, 113f., 117–141, 150, 154 Mystik, mystisch 228f.
Neuschöpfung (siehe auch Eschatologie und Schöpfung) 155, 158, 165, 187, 190, 231–249, 254, 260 Offenbarung, Gottes Sprechen 63f., 76–79, 94f., 97, 112–116, 135f., 153f., 162, 255 Opfer, opfern, Opferkult, Opfertod (siehe auch Blut) – alttestamentlich 20, 68, 76, 82, 89, 91–100, 174, 256, 258f., 267f. – Jesu (Selbstopfer) 68, 73, 76, 78, 80f., 87, 91–100, 134f., 139, 143f., 155, 162, 170, 174–176, 184f., 210, 219, 223–225, 234f., 242, 244, 274 – der Glaubenden 31, 118, 121, 143, 181 Parusie, Wiederkunft 108, 115, 135, 156, 192, 238f., 242–244, 247f., 265–267, 270–272 Paulus, paulinisch 3, 9, 10, 15, 17, 31, 40, 44, 50f., 54, 68f., 71, 96, 99, 101, 110, 105, 114, 120, 124–126, 134f., 139–141, 146f., 153f., 158, 161, 178f., 185, 195, 201, 218, 214, 229, 238, 247, 254, 260–267 Pisteologie, pisteologisch (siehe Glaube) (Mittel)Platonismus, (mittel)platonistisch 19, 21, 149, 235–240 Priester, Pristertum, Hohepriester, Hohepriestertum – antikes (allgemein) 19f., 219 – Jesu 58f., 63–100, 115, 128f., 134– 145, 154, 161, 165, 170, 174f., 207, 210, 212, 220, 224, 244, 247, 253 – des Melchisedek (siehe Melchisedek) – levitisches, aaronitisches 19, 22, 48f., 53, 63–100, 1350, 165, 170, 174, 217, 219, 224, 246, 256 Qumran 14, 30, 75, 151, 260 Raum, räumlich (siehe Kosmologie) rechtfertigen (siehe Gerechtigkeit) Reinigung, reinigen (siehe auch Gewissen) 56, 89–98, 106, 126–146, 155,
Sachregister 168, 175f., 185, 204f., 210, 212, 219, 255f., 259, 262–265 Relektüre, rereading (siehe auch Rezeption und Heilsgeschichte) 14, 33– 37, 87–90, 96, 114 Restgedanke (ekklesiologisch) 259f. Rezeption – des AT im Hebr 14, 35f., 52f., 64– 100, 114–116, 120f., 143f., 150–165, 178f., 183, 191, 204–207, 217f., 228–231, 245f. – des AT im NT allgemein 7, 64f., 113, 154, 207 – des NT allgemein 64f. richten, Richter (siehe Gericht) Ruhe, ruhen, Ruheort κατάπαυσις, Sabbat, Sabbatruhe, Heilsgut 10, 22, 31, 35, 44, 53, 102, 107, 114–116, 121, 129f., 135, 137, 145, 149f., 154–157, 162, 165, 167–178, 183–193, 199f., 210, 214, 219–227, 230–249, 254, 261–266 Sabbat, Sabbatruhe (siehe Ruhe) Schatten, Abbild 74, 87f., 90, 107, 161, 185, 199, 224, 255 Schöpfung, Schöpfungsmacht, Schöpfungsmittlerschaft (siehe auch Neuschöpfung und Kosmologie) 20, 53, 59, 78f., 97, 111, 114f., 127, 129f., 143f., 151–153, 155, 158–162, 165, 187, 190, 196f., 199f., 223, 242, 244–248, 254f., 258, 260, 266, 274 Schrecken (siehe Angst) Schriftgebrauch (siehe Rezeption) Schriftwirklichkeit 53, 71–75 Schuld (siehe Sünde) Seele 98, 100, 131, 225, 235–240 Septuaginta (LXX) 30, 52f., 64–68, 72–74, 76, 78, 85f., 96, 101–103, 109–115, 120f., 129f., 143f., 150f., 155, 158f., 179, 199, 206, 246 Shoa (siehe Holocaust) Sinai – Berg 35, 165, 202–205, 211, 228f., 244 – Bundesschluss bzw. Tora (siehe Heilsordnung)
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Sohn, Sohnschaft bzw. Kindschaft Gottes (siehe auch Erbe) – Jesu (siehe auch Christologie) 15, 22, 36, 45, 53, 58f., 63f., 69, 72–100, 109, 113, 116, 120, 123, 135–145, 153–165, 170, 137f., 178, 182–193, 202, 205, 207–249, 263–276 – der Glaubenden (siehe auch Gemeinschaft) 78f., 173f., 184, 202, 207, 226f. Soteriologie, soteriologisch, Erlösung 63–100, 131–146, 178–186, 254– 268 Stadt – antike (allgemein) 77, 107, 194–196 – himmlische, zukünftige 35f., 45, 122, 130, 139, 145, 148, 161–165, 174–178, 185–190, 193f., 197–249, 254 sterben (siehe Tod) Stiftshütte (siehe Heiligtum) Substitution, Supersessionism, Ersatztheologie 13, 17, 29, 36, 257, 270, 274 Sühne, sühnen, Sühneopfer, Sühnetod, Sühnetheologie, sühnetheologisch 63, 70, 78–98, 129, 134f., 143–145, 157–160, 165, 170, 185f., 192, 207, 210–212, 253–258, 264 Sünde, Sünder, sündig(en), Sündlosigkeit, sündlos, Schuld, Bedingtheit, Schwachheit, Fall, gefallene Schöpfung 20, 67f., 78–82, 84f., 91–97, 106, 114f., 127–134, 144–146, 150, 155, 162, 170, 185f., 204, 257–259 Supersessionism (siehe Substitution) Synagoge, synagogal 8, 11, 19, 23, 25, 30, 270 Synkrisis, Vergleich, Kontrast, kontrastieren, Gegenüberstellung, gegenüberstellen 13–15, 20f., 66–100, 153f., 157f., 161f., 170f., 174, 184, 204–206, 211, 255f. Taufe, taufen 217f., 256 Tempel, Tempelkult (siehe Heiligtum) Theophanie 202–205, 211, 244 Tod, Tote, Verstorbene, sterben 229– 240
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Sachregister
Tora (siehe Heilsordnung, alte) Umkehr (siehe Buße)
Vollendung, vollenden (siehe auch Gemeinschaft) 173–177, 184, 214–249
Vaterland (siehe Land) Verdammung, verdammen, Verderben, Hölle 8, 39, 106, 239, 260, 264 Verderben (siehe Verdammung) Vereinigung (siehe Gemeinschaft) Vergebung, vergeben (siehe auch Gewissen und Reinigung) 68, 91–95, 196f., 212f. Vergleich (siehe Synkrisis) Verheißung, verheißen, verheißungsgeschichtlich 7, 22, 28, 30f., 35, 44, 58, 84, 93, 98, 104, 112–146, 149, 152, 154, 156, 166–194, 199, 222– 276 Versammlung (siehe Gemeinschaft) Versöhnungstag 82 Versuchung, versuchen, Anfechtung, angefochten sein 13, 23, 28,f., 40, 49, 79–81, 85, 106, 111, 120, 126– 131, 133, 136f., 156, 170, 173, 221, 247 Vertrauen (siehe auch Glauben) 103– 116, 134–138, 142, 178
Wiederkunft (siehe Parusie) Wirklichkeitsverstädnnis 94, 109–112, 148–165, 214–249 Zeit, Zeitverstädnnis, Zeitpunkt (siehe auch Äon, Eschatologie und Wirklichkeitsverständnis) 82f., 85–90, 148–165, 177f., 214–249 Zeitalter (siehe Äon) Zeitenwende (siehe Äon) Zion (siehe auch Stadt) 35f., 146, 161– 165, 190, 193f., 196–197, 201–212 Zugang (siehe hineingehen) Zurückweichen (siehe Glaubensmüdigkeit) Zuversicht, zuversichtlich (siehe Freimut) Zweifel, zweifeln (siehe auch Glaubensmüdigkeit) 59, 63f., 69, 79f., 98, 111, 120, 127f.