Das Gesetz: Novelle (1944) 9783110318616, 9783110318562

thomas Mann’s novella, “The Law” portrays the events of the Exodus of the Children of Israel from Egypt in a similar fas

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German Pages 156 Year 2013

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Das Gesetz
Kommentar I
Ironie und Sittlichkeit Thomas Manns Moses-Erzählung „Das Gesetz“
Kommentar II
Recht und Staat - Mythos, Erzählung, Realität Thomas Manns Novelle „Das Gesetz“
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Das Gesetz: Novelle (1944)
 9783110318616, 9783110318562

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Thomas Mann Das Gesetz

Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 39

Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen)

Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster)

Band 39 Redaktion: Zekai Dag˘as¸an

De Gruyter

Thomas Mann

Das Gesetz Novelle (1944)

Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum

De Gruyter

Volker Ladenthin ist Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Thomas Vormbaum war bis zu seiner Pensionierung Inhaber des Lehrstuhles für Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte und ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Juristische Zeitgeschichte an der FernUniversität in Hagen.

ISBN 978-3-11-031856-2 e-ISBN 978-3-11-031861-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Textvorlage: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (Frankfurt am Main 1960) Taschenbuchausgabe 1990. Bd. 8, S. 808–876. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages. Erstdruck: Bermann-Fischer Verlag, Stockholm 1944. Abbildung von Thomas Mann auf dem Schutzumschlag (von Ernest E. Gottlieb, 1944) mit Genehmigung des S. Fischer Verlages. Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ' Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Thomas Mann: Das Gesetz .........................................................................................................1

KOMMENTAR I Volker Ladenthin: Ironie und Sittlichkeit Thomas Manns Moses-Erzählung „Das Gesetz“ .............................................57

KOMMENTAR II Thomas Vormbaum: Recht und Staat – Mythos, Erzählung, Realität Thomas Manns Novelle „Das Gesetz“...........................................................101

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1 Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im Auflodern, darum wußte er besser als jeder Unerfahrene, daß Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst gräßlich ist, und daß du nicht töten sollst. Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein. Bei den Midianitern, einem rührig ausgebreiteten Hirten- und Handelsvolk der Wüste, zu dem er aus Ägypten, dem Lande seiner Geburt, fliehen mußte, da er getötet hatte (das Nähere sogleich), machte er die Bekanntschaft eines Gottes, den man nicht sehen konnte, der aber dich sah; eines Bergbewohners, der zugleich unsichtbar auf einer tragbaren Lade saß, in einem Zelt, wo er durch Schüttel-Lose Orakel erteilte. Den Kindern Midians war dieses Numen, Jahwe genannt, ein Gott unter anderen; sie dachten sich nicht viel bei seinem Dienst, den sie nur zur Sicherheit und für alle Fälle mitversahen. Es war ihnen eingefallen, daß unter den Göttern ja auch vielleicht einer sein könnte, den man nicht sah, ein Gestaltloser, und sie opferten ihm nur, um nichts zu versäumen, niemanden zu kränken und sich von keiner möglichen Seite her Unannehmlichkeiten zuzuziehen. Mose dagegen, kraft seiner Begierde nach dem Reinen und Heiligen, war tief beeindruckt von der Unsichtbarkeit Jahwe’s; er fand, daß kein sichtbarer Gott es an Heiligkeit mit einem unsichtbaren aufnehmen könne, und staunte, daß die Kinder Midians fast gar kein Gewicht legten auf eine Eigenschaft, die ihm unermeßlicher Implikationen voll zu sein schien. In langen, schweren und heftigen Überlegungen, während er in der Wüste die Schafe des Bruders seines midianitischen Weibes hütete, erschüttert von Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht, als wörtlich einschärfende Kundgebung und unausweichlicher Auftrag seine Seele heimsuchten, gelangte er zu der Überzeugung, daß Jahwe kein anderer sei als El’eljon, der Einzig-Höchste, El ro’i, der Gott, der mich sieht, – als Er, der immer schon ‘El Schaddai’, ‘der Gott des Berges’, geheißen, als El’olam, der Gott der Welt und der Ewigkeiten, – mit einem Wort, kein anderer als Abrahams, Jizchaks und Jakobs Gott, der Gott der Väter, will sagen: der Väter der armen, dunklen, in ihrer Anbetung schon ganz konfusen, entwurzelten und versklavten Sippen zu Haus in Ägyptenland, deren Blut von Vaters Seite in seinen, des Mose, Adern floß.

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Darum und dieser Entdeckung voll, mit schwer beauftragter Seele, aber auch bebend vor Begierde, das Geheiß zu erfüllen, brach er seinen vieljährigen Aufenthalt bei den Kindern Midians ab, setzte seine Frau Zipora, ein recht vornehmes Weib, da sie eine Tochter Reguels, des Priesterkönigs in Midian, und die Schwester seines herdenbesitzenden Sohnes Jethro war, auf einen Esel, nahm auch seine zween Söhne, Gersom und Elieser, mit und kehrte in sieben Tagereisen durch viele Wüsten gen Westen nach Ägyptenland zurück, das heißt in das brachige Unterland, wo der Nil sich teilt und wo, in einem Distrikte, der Kos, beziehungsweise auch Goschem, Gosem und Gosen hieß, das Blut seines Vaters wohnte und fronte. Dort begann er sogleich, wo er ging und stand, in den Hütten und auf den Weide- und Arbeitsplätzen, diesem Blut seine große Erfahrung auseinanderzusetzen, wobei er eine bestimmte Art hatte, mit gestreckten Armen seine Fäuste zu beiden Seiten des Körpers bebend zu schütteln. Er benachrichtigte sie, daß der Gott der Väter wiedergefunden sei, daß er sich ihm, Moscheh ben ‘Amram, zu erkennen gegeben habe am Berge Hor in der Wüste Sin, aus einem Busch, der brannte und nicht verbrannte, daß er Jahwe heiße, was zu verstehen sei als: „Ich bin der ich bin, von Ewigkeit zu Ewigkeit“, aber auch als wehende Luft und als ein großes Tosen; daß er Lust habe zu ihrem Blut und unter Umständen einen Bund der Erwählung aus allen Völkern mit ihm zu schließen bereit sei, vorausgesetzt nämlich, daß es sich ihm in völliger Ausschließlichkeit verschwöre und eine Eidgenossenschaft aufrichte zum alleinigen, bildlosen Dienste des Unsichtbaren. Hiermit drang er bohrend in sie und bebte mit den Fäusten dazu an außerordentlich breiten Handgelenken. Und doch war er nicht ganz aufrichtig mit ihnen, sondern hielt hinterm Berge mit mehrerem, was er meinte, ja mit dem Eigentlichen, aus Furcht, sie kopfscheu zu machen. Von den Implikationen der Unsichtbarkeit, also der Geistigkeit, Reinheit und Heiligkeit, sagte er ihnen nichts und wies sie lieber nicht darauf hin, daß sie als verschworene Diener des Unsichtbaren ein abgesondertes Volk des Geistes, der Reinheit und Heiligkeit würden zu sein haben. Aus Sorge verschwieg er es, sie zu erschrecken; denn sie waren ein so elendes, bedrücktes und in der Anbetung konfuses Fleisch, seines Vaters Blut, und er mißtraute ihnen, obgleich er sie liebte. Ja, wenn er ihnen verkündete, daß Jahwe, der Unsichtbare, Lust zu ihnen habe, so deutete er dem Gotte zu und trug in ihn hinein, was möglicherweise auch des Gottes war, zugleich aber mindestens auch sein eigen: Er selbst hatte Lust zu seines Vaters Blut, wie der Steinmetz Lust hat zu dem ungestalten Block, woraus er feine und hohe Gestalt, seiner Hände Werk, zu metzen gedenkt, – daher die

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bebende Begier, die ihn, zugleich mit großer Seelenbeschwernis durch das Geheiß, bei seinem Aufbruch von Midian erfüllt hatte. Womit er aber ebenfalls noch zurückhielt, das war des Geheißes zweite Hälfte; denn es war doppelt gewesen. Nicht nur dahin, daß er den Sippen die Wiederentdeckung des Vätergottes und seine Lust zu ihnen verkünde, hatte es gelautet, sondern zugleich dahin, daß er sie aus dem ägyptischen Diensthause hinausführen solle ins Freie und durch viele Wüsten ins Land der Verheißung, das Land der Väter. Dieser Auftrag war dem der Verkündigung einhängig und unzertrennbar mit ihm verschränkt. Gott – und Befreiung zur Heimkehr; der Unsichtbare – und die Abschüttelung des Joches der Fremde, das war ein und derselbe Gedanke für ihn. Dem Volke aber sprach er noch nicht davon, weil er wußte, daß sich aus dem einen das andere ergeben werde, und auch, weil er hoffte, das zweite auf eigene Hand bei Pharao, dem Könige Ägyptens, auszuwirken, dem er gar nicht so ferne stand. Sei es nun aber, daß dem Volk seine Rede mißfiel – denn er sprach schlecht und stockend und fand öfters die Worte nicht –, oder daß es beim bebenden Schütteln seiner Fäuste die Implikationen der Unsichtbarkeit sowohl wie des Bundesangebots ahnte und merkte, daß er es zu anstrengenden und gefährlichen Dingen verlocken wollte, – es verhielt sich mißtrauisch, halsstarrig und ängstlich gegen sein Bohren, sah nach den ägyptischen Stockmeistern hin und sprach zwischen den Zähnen: „Was stößest du Worte? Und was für Worte sind’s, die du stößt? Es hat dich wohl einer zum Obersten oder zum Richter gesetzt über uns? Wir wüßten nicht wer.“ Das war ihm nicht neu. Er hatte es früher schon von ihnen gehört, bevor er nach Midian floh.

2 Sein Vater war nicht sein Vater, und seine Mutter war seine Mutter nicht, – so unordentlich war seine Geburt. Ramessu’s, des Pharao’s, zweite Tochter ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen und unterm Schutze Bewaffneter in dem königlichen Garten am Nil. Da wurde sie eines ebräischen Knechtes gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen. Er hatte traurige Augen, ein Jugendbärtchen ums Kinn und starke Arme, wie man beim Schöpfen sah. Er werkte im Schweiß seines Angesichts und hatte seine Plage; für Pharao’s Tochter aber war er ein Bild der Schönheit und des Verlangens, und sie befahl, daß man ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon; da fuhr sie ihm

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mit dem kostbaren Händchen ins schweißnasse Haar, küßte den Muskel seines Arms und neckte seine Mannheit auf, daß er sich ihrer bemächtigte, der Fremdsklave des Königskindes. Als sie’s gehabt, ließ sie ihn gehen, aber er ging nicht weit, nach dreißig Schritten ward er erschlagen und rasch begraben, so war nichts übrig von dem Vergnügen der Sonnentochter. „Der Arme“, sagte sie, als sie’s hörte. „Ihr seid auch immer so übergeschäftig. Er hätte schon stillgeschwiegen. Er liebte mich.“ Danach aber wurde sie schwanger, und nach neun Monaten gebar sie in aller Heimlichkeit einen Knaben, den legten ihre Frauen in ein verpichtes Kästlein aus Rohr und verbargen dasselbe im Schilf am Rande des Wassers. Da fanden sie’s dann und riefen: „O Wunder, ein Findling und Schilfknabe, ein ausgesetztes Kindlein! Wie in alten Mären ist es, genau wie mit Sargon, den Akki, der Wasserschöpfer, im Schilfe fand und aufzog in der Güte seines Herzens. Immer wieder kommt dergleichen vor! Wohin nun mit diesem Fund? Das Allervernünftigste ist, wir geben ihn einer säugenden Mutter von schlichtem Stand, die übrige Milch hat, daß er als ihr und ihres redlichen Mannes Sohn erwachse.“ Und sie händigten das Kind einem ebräischen Weibe ein, die brachte es hinab in die Gegend Gosen zu Jochebed, dem Weibe Amrams, von den Zugelassenen, eines Mannes aus Levi’s Samen. Sie säugte ihren Sohn Aaron und hatte übrige Milch; darum, und weil ihrer Hütte heimlich zuweilen Gutes zukam von oben herab, zog sie das unbestimmte Kind mit auf in der Güte ihres Herzens. So wurden Amram und Jochebed sein Elternpaar vor den Menschen und Aaron sein Bruder. Amram hatte Rinder und Feld, und Jochebed war eines Steinmetzen Tochter. Sie wußten aber nicht, wie sie das fragliche Knäblein nennen sollten; darum gaben sie ihm einen halb ägyptischen Namen, will sagen: die Hälfte eines ägyptischen. Denn öfters hießen die Söhne des Landes PtachMose, Amen-Mose oder Ra-Mose und waren als Söhne ihrer Götter genannt. Den Gottesnamen nun ließen Amram und Jochebed lieber aus und nannten den Knaben kurzweg Mose. So war er ein ‘Sohn’ ganz einfach. Fragte sich eben nur, wessen.

3 Als einer der Zugelassenen wuchs er auf und drückte sich aus in ihrer Mundart. Die Vorfahren dieses Blutes waren einst, zur Zeit einer Dürre, als „hungernde Beduinen von Edom“, wie Pharao’s Schreiber sie nannten, mit Erlaubnis der Grenzbehörden ins Land gekommen, und der Distrikt Gosen, im Niederland, war ihnen zur Weidenutzung angewiesen worden. Wer da glaubt, sie hätten umsonst dort weiden dürfen, der kennt ihre Wirte schlecht, die

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Kinder Ägyptens. Nicht nur, daß sie steuern mußten von ihrem Vieh, und zwar daß es drückte, sondern alles, was Kräfte hatte bei ihnen, mußte auch Arbeitsdienst leisten, Fronwerk bei den mancherlei Bauten, die in einem solchen Lande, wie Ägypten es ist, immer im Gange sind. Besonders aber seit Ramessu, seines Namens der Zweite, Pharao war zu Theben, wurde ausschweifend gebaut, das war seine Lust und seine Königswonne. Verschwenderische Tempel baute er über das ganze Land, und drunten im Mündungsgebiet ließ er nicht nur den lange vernachlässigten Kanal erneuern und sehr verbessern, der den östlichsten Nilarm mit den Bitterseen und so das große Meer mit dem Zipfel des Roten Meeres verband, sondern er richtete auch zwei ganze Magazin-Städte am Lauf des Kanales auf, genannt Pitom und Ramses, und dazu wurden die Kinder der Zugelassenen, diese Ibrim, ausgehoben, daß sie Ziegel büken, schleppten und rackerten im Schweiß ihrer Leiber unterm ägyptischen Stock. Dieser Stock war mehr nur das Abzeichen von Pharao’s Aufsehern, sie wurden nicht unnötig damit geschlagen. Auch hatten sie gut zu essen bei ihrer Fron: viel Fisch aus dem Nilarm, Brot, Bier und Rindfleisch recht wohl zur Genüge. Demungeachtet aber paßte und schmeckte die Fron ihnen wenig, denn sie waren Nomadenblut, mit der Überlieferung frei schweifenden Lebens, und stündlich geregelte Arbeit, bei der man schwitzte, war ihnen im Herzen fremd und kränkend. Sich aber über ihren Mißmut zu verständigen und eines Sinnes darüber zu werden, waren diese Sippen zu locker verbunden und ihrer selbst nicht hinlänglich bewußt. Seit mehreren Geschlechtern in einem Übergangslande zeltend zwischen der Väterheimat und dem eigentlichen Ägypten, waren sie von gestaltloser Seele, ohne sichere Lehre und schwankenden Geistes; hatten vieles vergessen, einiges halbwegs aufgenommen, und eines rechten Mittelpunktes ermangelnd trauten sie ihrem eigenen Gemüte nicht, auch nicht dem Ingrimm, der darin war, über die Fron, an dem aber Fisch, Bier und Rindfleisch sie irremachten. Mose nun, angeblich des Amram Sohn, hätte, als er dem Knabenalter entwuchs, wohl ebenfalls für Pharao Ziegel streichen müssen. Das geschah aber nicht, sondern der Jüngling wurde von seinen Eltern genommen und nach Ober-Ägypten in ein Schulhaus gebracht, so ein sehr feines Internat, wo die Söhne syrischer Stadtkönige zusammen mit einheimischen Adelssprossen erzogen wurden. Da wurde er hingetan; denn seine leibliche Mutter, Pharao’s Kind, die ihn ins Schilf geboren, ein zwar lüsternes, aber nicht gemütloses Ding, hatte sein gedacht um seines verscharrten Vaters willen, des Wasserziehers mit Bärtchen und mit den traurigen Augen, und wollte nicht, daß er bei den Wilden bleibe, sondern zum Ägypter gebildet werde und ein Hofamt

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erlange, in halber, verschwiegener Anerkennung seiner göttlichen Halbblütigkeit. So lernte denn Mose, gekleidet in weißes Leinen und eine Perücke auf dem Kopf, Stern- und Länderkunde, Schriftkunst und Recht, war aber nicht glücklich unter den Gecken des vornehmen Internats, sondern ein Einsamer unter ihnen, voller Abneigung gegen die ganze ägyptische Feinheit, aus deren Lust er entsprungen war. Das Blut des Verscharrten, der dieser Lust hatte dienen müssen, war stärker in ihm als sein ägyptisch Teil, und in seiner Seele hielt er es mit den armen Gestaltlosen daheim in Gosen, die nicht Mut hatten zu ihrem Ingrimm, hielt es mit ihnen gegen den lüsternen Dünkel des Mutterblutes. „Wie ist doch dein Name?“ fragten ihn wohl die Genossen vom Schulhause. „Mose heiße ich“, antwortete er. „Ach-Mose oder Ptach-Mose?“ fragten sie. „Nein, nur Mose“, erwiderte er. „Das ist ja dürftig und ausgefallen“, sagten die Schnösel, und er ergrimmte, daß er sie hätte erschlagen und verscharren mögen. Denn er verstand, daß sie mit solchen Fragen nur in seiner Unregelmäßigkeit stochern wollten, die in schwankenden Umrissen allen bekannt war. Hätte er doch selbst nicht gewußt, daß er nur eine diskrete Frucht ägyptischen Vergnügens war, wenn es nicht allgemeine, ob auch meistens nur ungenaue Kenntnis gewesen wäre – bis zu Pharao hinauf, dem die Schäkerei seines Kindes so wenig verborgen geblieben war wie dem Mose die Tatsache, daß Ramessu, der Bauherr, sein LüsternheitsGroßvater war, von schnöden, mörderischen Vergnügens wegen. Ja, Mose wußte dies und wußte auch, daß Pharao es wisse, und hatte ein drohendes Nicken bei dem Gedanken, in der Richtung von Pharao’s Thron.

4 Als er zwei Jahre unter den Stutzern gelebt hatte des thebanischen Schulhauses, hielt er es nicht mehr aus, entwich bei Nacht über die Mauer und wanderte heim nach Gosen zum Vatergeblüt. Unter dem strich er bitteren Angesichtes herum und sah eines Tages, am Kanal, nahe den Neubauten von Ramses, wie ein ägyptischer Aufseher einen der Fronenden, der wohl lässig gewesen war oder widerspenstig, mit seinem Stocke schlug. Erbleichend und mit lodernden Augen stellte er den Ägypter zur Rede, der ihm statt aller Antwort das Nasenbein einschlug, so daß Mose eine Nase mit gebrochenem, flach eingetriebenem Knochen hatte sein Leben lang. Er entriß aber dem Aufseher den Stock, holte fürchterlich aus und zertrümmerte dem Mann den Schädel, daß er tot war auf

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der Stelle. Nicht einmal umgeblickt hatte er sich, ob auch niemand es sah. Es war aber ein einsamer Ort und kein Mensch sonst in der Nähe. So verscharrte er den Erschlagenen ganz allein, denn den er verteidigt, der hatte das Weite gesucht; und es war ihm als sei ihm nach Erschlagen und Verscharren schon immer zu Sinne gewesen. Seine lodernde Tat blieb verborgen, zum mindesten den Ägyptern, die nicht herausbekamen, wo ihr Mann geblieben war, und Jahr und Tag verging über die Tat. Mose fuhr fort, zwischen seines Vaters Leuten umherzustreifen, und mischte sich auf eigentümlich herrische Art in ihre Händel. Einst sah er zwei fronende Ibrim miteinander zanken, und wenig fehlte, daß sie zu Tätlichkeiten schritten. „Was zankt ihr und wollt gar noch raufen?“ sprach er zu ihnen. „Seid ihr nicht elend und verwahrlost genug, daß lieber Blut sollte halten zu Blut, statt einander die Zähne zu blecken? Der da hat unrecht, ich hab’s gesehen. Er gebe nach und bescheide sich, ohne daß der andere sich überhebe.“ Wie es aber geschieht, so waren plötzlich die beiden vereint gegen ihn und sprachen: „Was redest du in unsere Sachen?“ Besonders der, dem er unrecht gegeben, war äußerst patzig und sprach ganz laut: „Das ist denn doch wohl der Gipfel! Wer bist du, daß du deine Ziegennase in Dinge steckst, die dich nichts angehen? Aha, Moscheh bist du, des Amram Sohn, aber damit ist wenig gesagt, und weiß niemand recht, wer du bist, du selber auch nicht. Neugierig sind wir, zu erfahren, wer dich zum Meister und Richter gesetzt hat über uns. Willst du mich vielleicht auch erwürgen, wie du damals den Ägypter erwürgt und verscharrt hast?“ „Still doch!“ machte Mose erschrocken und dachte: Wie ist das herumgekommen? Des Tages noch sah er ein, daß seines Bleibens nicht war im Lande, und ging über die Grenze, wo sie nicht fest war, bei den Bitterseen, durch die Watten. Durch viele Wüsten des Landes Sinai wanderte er und kam nach Midian, zu den Minäern und ihrem Priesterkönige Reguel.

5 Als er von dort zurückkehrte, seiner Gottesentdeckung und seines Auftrages voll, war er ein Mann auf der Höhe der Jahre, stämmig, mit gedrückter Nase, vortretenden Backenknochen, einem geteilten Bart, weitstehenden Augen und breiten Handgelenken, wie man besonders sah, wenn er, was oft geschah, grübelnd Mund und Bart mit der Rechten bedeckte. Von Hütte zu Hütte ging er und von Fronplatz zu Fronplatz, schüttelte die Fäuste zu seiten seiner Schenkel und sprach von dem Unsichtbaren, dem zum Bunde bereiten Gotte der Väter, obgleich er im Grunde nicht sprechen konnte. Denn er war stockend

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gestauten Wesens überhaupt und neigte in der Erregung zum Zungenschlag, war aber außerdem so recht in keiner Sprache zu Hause und suchte in dreien herum beim Reden. Das aramäische Syro-Chaldäisch, das sein Vaterblut sprach und das er von seinen Eltern gelernt, war überdeckt worden vom Ägyptischen, das er sich in dem Schulhause hatte aneignen müssen, und dazu kam das midianitische Arabisch, das er solange in der Wüste gesprochen. So brachte er alles durcheinander. Sehr behilflich war ihm sein Bruder Aaron, ein hochgewachsener, sanfter Mann mit schwarzem Bart und schwarzen Ringellocken im Nacken, der seine großen, gewölbten Augenlider gern fromm gesenkt hielt. Ihn hatte er in alles eingeweiht, hatte ihn ganz für den Unsichtbaren und sämtliche Implikationen gewonnen, und da Aaron aus seinem Barte heraus salbungsvoll-fließend zu reden verstand, so begleitete er Mose meistens auf seinen Werbe-Wegen und sprach statt seiner, allerdings etwas gaumig und ölig und nicht hinreißend genug, so daß Mose durch begleitendes Fäusteschütteln mehr Feuer hinter seine Worte zu bringen suchte und ihm oft auch holterdiepolter auf aramäischägyptisch-arabisch ins Wort fiel. Aarons Weib hieß Eliseba, die Tochter Amminadabs; sie war auch mit vom Schwure und von der Propaganda, sowie eine jüngere Schwester Mose’s und Aarons, Mirjam, ein begeistertes Weib, das singen und pauken konnte. Besonders aber war Mose einem Jüngling geneigt, der seinerseits mit Leib und Seele zu ihm, seiner Verkündigung und seinen Plänen stand und ihm nicht von der Seite wich. Eigentlich hieß er Hosea, der Sohn des Nun (das ist ‘Fisch’), vom Stamme Ephraim. Aber Mose hatte ihm den Jahwe-Namen Jehoschua, auch kurzweg Joschua, verliehen, und den trug er nun mit Stolz, – ein gerade stehender, sehniger junger Mensch mit einem Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und einem bestimmt eingezeichneten Faltenpaar zwischen seinen Brauen, der bei der ganzen Sache seinen eigenen Gesichtspunkt hatte: nicht so sehr den religiösen nämlich, als den militärischen; denn für ihn war Jahwe, der Vätergott, vor allem der Gott der Heerscharen, und der an seinen Namen geknüpfte Gedanke des Entweichens aus diesem Diensthause fiel für ihn zusammen mit der Eroberung neuen und eigenen Siedelgrundes für die ebräischen Sippen, – folgerichtigerweise, denn irgendwo mußten sie wohnen, und kein Land, verheißen oder nicht, würde ihnen geschenkt werden. Joschua, so jung er war, hatte alle einschlägigen Fakten in seinem gerade und fest blickenden Krauskopf und besprach sie unaufhörlich mit Mose, seinem älteren Freunde und Herrn. Ohne über die Mittel zu einer genauen Volkszählung zu verfügen, hatte er veranschlagt, daß die Stärke der in Gosen zeltenden und in den Zwing-Städten Pitom und Ramses wohnenden Sippen, einschließ-

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lich ihrer als Sklaven über das weitere Land verstreuten Glieder, alles in allem ungefähr zwölf- oder dreizehntausend Köpfe betrug, was eine waffenfähige Mannschaft von ungefähr dreitausend ausmachte. Die Zahlen sind später ohne Maß übertrieben worden, aber Joschua wußte sie annähernd richtig, und er war wenig zufrieden damit. Dreitausend Mann war keine sehr schreckliche Streitmacht, selbst wenn man damit rechnete, daß, war man einmal unterwegs, allerlei verwandtes Blut, das im Wüsten umherschweifte, sich diesem Kerne zur Landgewinnung anschließen würde. Größere Unternehmungen konnte man, gestützt nur auf solche Macht, nicht ins Auge fassen; sich damit ins verheißene Land hineinzuschlagen, war untunlich. Joschua sah das ein, und darum trachtete er nach einem Ort im Freien, wo das Geblüt sich erst einmal festsetzen – und wo man es, unter leidlich günstigen Umständen, erst noch eine Weile seinem natürlichen Wachstum überlassen könnte, welches, wie Joschua seine Leute kannte, zweieinhalb aufs Hundert und auf jedes Jahr betrug. Nach einem solchen Hege- und Heckplatz, wo mehr Waffenkraft anwachsen könnte, schaute der Jüngling aus und beriet sich oft mit Mose darüber, wobei es sich erwies, daß er überraschend klar überblickte, wie Ort und Ort in der Welt zueinander lagen und eine Art von Karte der interessierenden Gebreite nach Strecken, Tagemärschen und Wasserstellen im Kopfe hatte, sowie besonders noch nach der Streitbarkeit der Bewohner. Mose wußte, was er an seinem Joschua hatte, wußte wohl, daß er ihn würde nötig haben, und liebte seinen Eifer, obgleich dessen unmittelbare Gegenstände ihn wenig beschäftigten. Mund und Bart mit der Rechten bedeckend hörte er den strategischen Auslassungen des Jünglings zu, indem er dabei an anderes dachte. Für ihn bedeutete Jahwe zwar ebenfalls den Auszug, aber nicht sowohl den Kriegszug zur Landgewinnung, sondern den Auszug ins Freie und in die Absonderung, daß er all dies ratlose, zwischen den Gesittungen schwankende Fleisch, diese zeugenden Männer, milchenden Weiber, sich versuchenden Jünglinge, rotznäsigen Kinder, seines Vaters Blut, für sich habe irgendwo draußen im Freien, ihnen den heilig-unsichtbaren Gott, den reinen, geistigen, einprägen, ihnen denselben zum sammelnden, formenden Mittelpunkt setzen könne und sie bilden möge zu seinem Gebilde, zu einer von allen Völkern verschiedenen, Gott gehörigen, durch das Heilige und Geistige bestimmten Volksgestalt, ausgezeichnet vor allen anderen durch Scheu, Unterlassung, Gottesfurcht, das wollte sagen: Furcht vor dem Gedanken der Reinheit, zügelnde Satzung, welche, da der Unsichtbare eigentlich der Gott aller Welt war, zukünftig alle binden, aber für sie zuerst erlassen und ihr strenges Vorrecht sein sollte unter den Heiden.

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Dies war Mose’s Lust zum Vaterblut, Bildnerlust, die ihm eines war mit des Gottes Gnadenwahl und Bundesgewilltheit; und da er dafür hielt, daß die Gestaltung in Gott allen Unternehmungen vorangehen müsse, die der junge Joschua im Kopfe hatte, ferner auch, daß Zeit dafür nötig sei, freie Zeit draußen im Freien, – so war’s ihm nicht unlieb, daß es mit Joschua’s Plänen noch haperte, und daß sie sich an der unzulänglichen Zahl von waffenfähiger Mannschaft stießen. Joschua brauchte Zeit, daß erst noch auf natürlichem Wege das Volk sich mehre, – übrigens auch dazu, daß er älter würde, er selbst, um sich zum Feldherrn aufwerfen zu dürfen; und Mose brauchte Zeit für das Bildungswerk, nach dem er in Gott begierig war. So stimmten sie überein unter verschiedenen Gesichtspunkten.

6 Unterdessen aber war der Beauftragte nebst seinen nächsten Anhängern, dem beredten Aaron, Eliseba, Mirjam, Joschua und einem gewissen Kaleb, der des Joschua gleichaltriger Busenfreund war, auch ein starker, einfacher, tapferer junger Mann, – unterdessen waren diese alle nicht einen Tag müßig, die Botschaft Jahwe’s, des Unsichtbaren, und seines ehrenden Bundesangebots unter den Ihren zu verbreiten und gleichzeitig deren Bitterkeit über die Arbeit unterm ägyptischen Stock zu schüren, den Gedanken der Abschüttelung dieses Jochs und den der Auswanderung unter ihnen aufzubringen. Jeder übte es auf seine Art: Mose selbst mit stockenden Worten und unter Fäusteschütteln, Aaron in gaumig fließender Rede, Eliseba schwatzhaft überredend, Joschua und Kaleb kommandomäßig, in kurz angebundenen Losungen, und Mirjam, die bald ‘die Prophetin’ genannt wurde, tat es in höherem Ton, mit Paukenbegleitung. Auch fiel ihre Predigt nicht auf steinigen Boden; der Gedanke, sich Mose’s bundeslustigem Gott zu verschwören, sich dem Bildlosen zum Volke zu weihen und unter ihm und seinem Verkünder ins Freie zu ziehen, schlug Wurzel unter den Sippen und begann, ihren einigenden Mittelpunkt zu bilden, – dies noch besonders, weil Mose versprach, oder doch in hoffnungsreiche Aussicht stellte, daß er an oberster Stelle, durch Verhandlungen, die Erlaubnis zu ihrer aller Auszug aus Ägyptenland erlangen werde, so daß dieser sich nicht in der Form gewagten Aufstandes werde vollziehen müssen, sondern nach gütlicher Übereinkunft vonstatten gehen könnte. Sie kannten, wenn auch ungenau, seine halb-ägyptische Schilfgeburt, wußten von der feinen Erziehung, die er zeitweise genossen, und von dunklen Beziehungen zum Hof, über die er verfügte. Was sonst ein Grund des Mißtrauens gegen ihn und der Ablehnung gewesen war, nämlich seine Halbblütigkeit, und daß er mit einem Fuß im Ägyptischen stand, wandelte sich jetzt in eine Quelle des Zutrauens und

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verlieh ihm Autorität. Gewiß, wenn einer, so war er der Mann, vor Pharao zu stehen und ihre Sache zu führen. Und so beauftragten sie ihn mit dem Versuch, bei Ramessu, dem Bau- und Zwingherrn, ihre Entlassung ins Freie zu erwirken, – ihn und seinen Milchbruder Aaron, denn diesen gedachte er mitzunehmen, erstens, weil er selbst nicht zusammenhängend zu sprechen vermochte, Aaron dies aber konnte, dann aber auch, weil dieser über gewisse Kunststücke gebot, mit denen man bei Hofe zu Ehren Jahwe’s Eindruck zu machen hoffte: Er konnte eine Brillenschlange, indem er sie im Nacken drückte, stocksteif machen; warf er den Stock aber zu Boden, so ringelte er sich und „verwandelte sich in eine Schlange“. Weder Mose noch Aaron rechnete damit, daß Pharao’s Magiern dieses Wunder auch bekannt sei, und daß es also nicht als erschreckender Beweis für Jahwe’s Macht würde dienen können. Überhaupt hatten sie kein Glück – es sei vorweggenommen – so listig sie, dem Beschluß eines mit den Jünglingen Joschua und Kaleb gehaltenen Kriegsrates gemäß, die Sache anstellten. Beschlossen war nämlich worden, den König nur um die Erlaubnis zu bitten, daß die ebräischen Leute sich sammelten und drei Tage weit über die Grenze ins Wüste zögen, um dort draußen dem Herrn, ihrem Gott, der sie gerufen habe, ein Opferfest zu feiern und dann zur Arbeit zurückzukehren. Man erwartete kaum, daß Pharao sich von dieser Finte blenden lassen und glauben werde, sie würden zurückkehren. Es war nur eine mildere, höfliche Form, das Gesuch der Freilassung vorzubringen. Aber der König wußte ihnen keinen Dank dafür. Erfolg allerdings hatten die Brüder darin, daß sie überhaupt in das Große Haus und vor Pharao’s Stuhl gelangten, und zwar nicht nur einmal, sondern bei zäh andauernder Verhandlung wieder und wieder. Hierin hatte Mose seinen Leuten nicht zuviel versprochen, denn er fußte darauf, daß Ramessu sein heimlicher Lüsternheits-Großvater war, und darauf, daß beide wußten, daß jeder es wisse. Damit hatte Mose ein starkes Druckmittel in der Hand, und wenn es auch niemals ausreichte, dem König die Zusage zum Auszuge abzugewinnen, so machte es Mosen doch ernstlich verhandlungsfähig und verschaffte ihm ein übers andere Mal Zutritt zu dem Gewaltigen, da dieser ihn fürchtete. Zwar ist die Furcht eines Königs gefährlich, und Mose spielte die ganze Zeit ein gewagtes Spiel. Er war mutig – wie mutig er war, und welchen Eindruck er den Seinen machte, werden wir baldigst sehen. Leicht konnte Ramessu ihn still erwürgen und verscharren lassen, damit endlich wirklich nichts mehr übrig sei von seines Kindes Sinnengrille. Die Prinzessin aber bewahrte jenem Stündchen ein süßes Angedenken und wollte nun einmal nicht, daß ihrem Schilfknaben ein Leid geschehe, – in ihrem Schutze stand er, wie undankbar er ihrer Fürsorge, ihren Erziehungs- und Förderungsplänen auch begegnet war.

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So durften Mose und Aaron vor Pharao stehen, aber die Opferferien im Freien, zu denen angeblich ihr Gott die Ihren berief, schlug er ihnen rundweg ab. Es nützte nichts, daß Aaron in salbungsvollem Zusammenhang redete und Mose leidenschaftlich dazu die Fäuste an seinen Schenkeln schüttelte. Es half auch nichts, daß Aaron seinen Stab in eine Schlange verwandelte, denn Pharao’s Magier machten stehenden Fußes dasselbe, dadurch beweisend, daß dem Unsichtbaren, in dessen Namen die beiden redeten, keine überragende Macht zukomme und daß Pharao die Stimme dieses Herrn nicht hören müsse. „Aber unseren Sippen wird Pestilenz oder Schwert widerfahren, wenn wir nicht drei Tagereisen hinziehen in die Wüste und dem Herrn ein Fest bereiten“, sagten die Brüder. Aber der König antwortete: „Das geht uns nicht nahe. Ihr seid zahlreich genug, mehr als zwölftausend Köpfe, und könnt eine Abminderung wohl vertragen, sei es durch Pestilenz oder Schwert oder harte Arbeit. Du, Mose und Aaron, ihr wollt nichts, als den Leuten Müßiggang gewähren und sie feiern heißen von ihrem schuldigen Dienst. Das kann ich nicht dulden und will’s nicht gewähren. Ich habe mehrere unerhörte Tempel in Arbeit und will außerdem noch eine dritte Magazin-Stadt bauen, außer Pitom und Ramses, zu diesen noch obendrein, dazu brauche ich eurer Leute Arme. Ich danke für den geläufigen Vortrag, und dich, Mose, entlasse ich wohl oder übel sogar in besonderen Gnaden. Aber kein Wort weiter von Wüstenferien!“ Damit war diese Audienz beendet, und war nicht nur nichts Gutes dabei herausgekommen, sondern entschieden Böses kam nachträglich dabei heraus. Denn Pharao, verletzt in seiner Baubegier und unmutig darüber, daß er Mose nicht wohl erwürgen konnte, da sonst seine Tochter ihm einen Auftritt gemacht hätte, gab Order aus, daß man die Gosen-Leute härter mit Arbeit drücke als bisher und nicht den Stock spare, wenn sie säumig wären; zu schaffen solle man ihnen geben, daß ihnen die Besinnung schwinde und alle müßigen Gedanken vergingen an Wüstenfeste für ihren Gott. Und so geschah es. Die Fron wurde härter von einem Tag auf den andern dadurch, daß Mose und Aaron vor Pharao geredet hatten. Zum Beispiel wurde den Leuten das Stroh für die Ziegel nicht mehr geliefert, die sie zu brennen hatten, sondern selbst mußten sie in die Stoppeln gehen, das nötige Stroh zu sammeln, ohne daß darum die Zahl der beizustellenden Ziegel herabgesetzt worden wäre, sondern erfüllt werden mußte die Zahl, sonst tanzte der Stock auf den armen Rücken. Vergebens wurden die ebräischen Obmänner, die man über das Volk gesetzt, bei den Behörden wegen Überforderung vorstellig. Die Antwort war: „Ihr seid müßig, müßig seid ihr, darum schreit ihr und sprecht ‘Wir wollen ausziehen und opfern’. Es bleibt dabei: Selber das Stroh beschafft und dabei die gleiche Zahl Ziegel.“

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7 Für Mose und Aaron war es keine kleine Verlegenheit. Die Obmänner sprachen zu ihnen: „Da habt ihr’s, und das haben wir vom Bunde mit eurem Gott und von Mose’s Beziehungen. Nichts habt ihr erreicht, als daß ihr unseren Geruch stinkend gemacht habt vor Pharao und seinen Knechten, und habt ihnen das Schwert in die Hand gegeben, uns damit umzubringen.“ Darauf war schlecht antworten, und Mose hatte schwere Stunden mit dem Gott des Dornbusches unter vier Augen, wo er ihm vorhielt, wie er, Mose, gleich dagegen gewesen sei, daß ihm dies aufgetragen werde, und gleich gebeten habe, wen immer sonst, nur ihn nicht zu senden, da er nicht ordentlich reden könne. Der Herr aber habe ihm geantwortet, Aaron sei ja beredt. Der habe nun freilich das Wort geführt, aber viel zu ölig, und es habe sich gezeigt, wie verkehrt es sei, eine solche Sache zu übernehmen, wenn man selbst eine schwere Zunge habe und andre rednerisch für sich eintreten lassen müsse. Aber der Gott tröstete und strafte ihn aus seinem Inneren und antwortete ihm von da, er solle sich seines Kleinmuts schämen; seine Entschuldigungen seien reine Ziererei gewesen, denn im Grunde habe er selbst auf die Sendung gebrannt, weil er nämlich ebenso große Lust zu dem Volk und seiner Gestaltung habe wie er, der Gott, ja, daß seine eigene Lust von der des Gottes gar nicht zu unterscheiden, sondern einerlei sei mit ihr: Gotteslust sei es, was ihn zum Werke getrieben, und er solle sich schämen, an ihr beim ersten Mißerfolg zu verzagen. Dies ließ sich Mose gesagt sein, umsomehr, als man im Kriegsrat mit Joschua, Kaleb, Aaron und den begeisterten Weibern zu dem Beschluß gelangte, daß die verstärkte Bedrückung, so böses Blut sie mache, genau betrachtet kein schlechter Anfangserfolg sei; denn böses Blut schaffe sie nicht nur gegen Mose, sondern vorzüglich auch gegen die Ägypter und werde das Volk nur empfänglicher machen für den Ruf des Retter-Gottes und den Gedanken des Auszuges ins Freie. So war es auch; die Gärung wegen des Strohs und der Ziegel wuchs unter den Fronenden, und der Vorwurf, Mose habe ihren Geruch stinkend gemacht und ihnen nur geschadet, trat zurück hinter dem Wunsch, Amrams Sohn möchte doch wieder seine Beziehungen spielen lassen und neuerdings für sie hineingehen zu Pharao. Das tat er, jetzt nicht mehr zusammen mit Aaron, sondern allein, mochte es mit seiner Zunge gehen, wie es wollte; die Fäuste schüttelte er vor dem Stuhl und verlangte in stockenden, stürzenden Worten den Auszug der Seinen ins Freie unter dem Namen von Opferferien in der Wüste. Nicht einmal tat er so, sondern wohl zehnmal, denn Pharao konnte ihm den Zutritt zu seinem Stuhl nicht

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wohl verweigern, zu gut waren Mose’s Beziehungen. Ein Kampf entspann sich zwischen dem König und ihm, zäh und gedehnt, der zwar nie dazu führte, daß jener in Mose’s Ansinnen willigte, wohl aber dazu, daß man eines Tages die Gosen-Leute mehr aus dem Lande stieß und trieb, als daß man sie daraus entlassen hätte, nur froh schließlich, sie los zu sein. Über diesen Kampf und die Druckmittel, welche dabei auf den hartnäckig widerstrebenden König ausgeübt wurden, hat es viel Gerede gegeben, das nicht jedes Hintergrundes entbehrt, doch aber stark den Charakter der Ausschmückung trägt. Man spricht von zehn Plagen, die Jahwe eine nach der anderen über Ägypten verhängt habe, um Pharao mürbe zu machen, indem er zugleich dessen Herz absichtlich gegen Mose’s Anliegen verstockte, um der Gelegenheit willen, mit immer neuen Plagen seine Macht zu beweisen. Blut, Frösche, Ungeziefer, Gewild, Grind, Seuche, Hagel, Heuschrecke, Finsternis und Sterben der Erstgeburt, so heißen diese zehn Plagen, und etwas Unmögliches ist an keiner von ihnen; nur fragt es sich, ob sie, die letzte ausgenommen, mit der es eine undurchsichtige, nie wirklich aufgeklärte Bewandtnis hat, zum Endergebnis wesentlich beitrugen. Der Nil nimmt unter Umständen eine blutrote Färbung an, sein Wasser wird vorübergehend untrinkbar und die Fische sterben. Das kommt so gut vor, wie daß die Frösche des Sumpfes sich über Gebühr vermehren oder die Propagation der immer vorhandenen Läuse sich der Heimsuchung annähert. Auch gab es der Löwen noch viele, sowohl am Rande der Wüste schweifend wie in den Dschungeln lauernd der toten Stromarme, und wenn die Zahl der reißenden Anfälle stieg auf Mann und Vieh, so mochte man’s wohl eine Plage nennen. Wie häufig sind nicht Krätze und Grind in Ägyptenland, und wie leicht fahren nicht aus der Unsauberkeit böse Blattern auf und schwären pestilenzialisch im Volke? Meist ist der Himmel blau dortzulande, und desto tieferen Eindruck muß ein seltenes heftiges Unwetter machen, bei dem das niederfahrende Feuer der Wolken sich mit dem derben Griese des Hagels vermischt, der die Saaten schlägt und Bäume zerdrischt, ohne daß eine bestimmte Absicht damit verbunden wäre. Die Heuschrecke ist ein nur allzu bekannter Gast, und gegen ihr Massen-Anrücken hat der Mensch mancherlei Scheuch- und Absperrungsmittel erfunden, über welche die Gier denn doch wohl obsiegt, so daß ganze Gebreite abgefressener Kahlheit verfallen. Und wer einmal die ängstlich-düstere Stimmung erfahren hat, die eine kosmisch verschattete Sonne auf Erden verbreitet, begreift recht wohl, daß ein lichtverwöhntes Volk einer solchen Finsternis den Namen der Plage gibt. Damit aber ist die Zahl der berichteten Übel erschöpft, denn das zehnte, das Sterben der Erstgeburt, gehört eigentlich nicht in diese Zahl, sondern bildet eine zweideutige Begleiterscheinung des Auszuges selbst, unheimlich zu untersuchen. Die anderen mochten sich teilweise oder – auf einen größeren

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Zeitraum verteilt – sämtlich ereignen: man hat ihre Namen doch mehr oder weniger nur als schmuckhafte Umschreibungen für ein einziges Druckmittel anzusehen, dessen sich Mose gegen Ramessu bediente, nämlich einfach immer nur für die Tatsache, daß Pharao sein Lüsternheits-Großvater war, und daß Mose es in der Hand hatte, dies an die große Glocke zu hängen. Mehr als einmal war der König nahe daran, diesem Drucke zu unterliegen; zum mindesten machte er große Zugeständnisse. Er willigte darein, daß die Männer hinauszögen zum Opferfest, die Weiber, Kinder und Herden aber sollten zurückbleiben. Mose nahm das nicht an: Mit jung und alt, mit Söhnen und Töchtern, Schafen und Rindern müsse man ziehen, denn es gelte ein Fest des Herrn. Da bewilligte Pharao auch Weiber und Brut, und nahm nur das Vieh aus, das solle zum Pfande bleiben. Aber Mose fragte dagegen, woher sie denn Schlacht- und Brandopfer nehmen sollten zum Fest, wenn ihnen das Vieh fehle? Nicht eine Klaue, verlangte er, dürfe dahinten bleiben, – wodurch recht klar wurde, daß es sich nicht um Urlaub, sondern um Auszug handelte. Wegen der Klauen kam es zwischen der ägyptischen Majestät und Jahwe’s Beauftragtem zu einer letzten stürmischen Szene. Mose hatte während der ganzen Verhandlung große Geduld bewährt, doch ebenso wie diese lag fäusteschüttelnder Zornmut in seiner Natur. Es kam dahin, daß Pharao es auf alles ankommen ließ und ihn buchstäblich aus dem Saale jagte. „Fort“, rief er, „und hüte dich, mir je noch einmal vor die Augen zu kommen. Wo doch, so sollst du des Todes sterben.“ Da wurde Mose, der eben noch hoch erregt gewesen, vollkommen ruhig und antwortete nur: „Du hast es gesagt. Ich gehe und will dir nicht mehr vor die Augen kommen.“ Woran er dachte bei diesem furchtbar gelassenen Abschied, war nicht nach seinem Sinn. Aber Joschua und Kaleb, die Jünglinge, nach deren Sinn war es.

8 Dies ist ein dunkles Kapitel, in halben, verhüllten Worten nur abzufassen. Es kam ein Tag, besser gesagt: eine Nacht, eine arge Vesper, wo Jahwe umging, oder sein Würgengel, und die letzte zehnte Plage über die Kinder Ägyptens, oder doch einen Teil von ihnen, das ägyptische Element unter den Bewohnern von Gosen sowie der Städte Pitom und Ramses, verhängte, indem er diejenigen Hütten und Häuser, deren Pfosten zu seiner Verständigung mit Blut bestrichen waren, ausließ und verschonend an ihnen vorüberging. Was tat er? Er stellte ein Sterben an, das Sterben der Erstgeborenen des ägyptischen Elements, womit er manchen heimlichen Wünschen entgegenkam und manchem Zweitgeborenen zu Rechten verhalf, die ihm sonst vorenthalten

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geblieben wären. Die Unterscheidung zwischen Jahwe und seinem Würgengel will wohl vermerkt sein: sie hält fest, daß nicht Jahwe selbst es war, der umging, sondern eben sein Würgengel, – richtiger gesagt wohl eine ganze, vorsorglich zusammengestellte Schar von solchen. Will man die vielen aber auf eine Einzelerscheinung zurückführen, so spricht vieles dafür, sich Jahwe’s Würgengel als eine stracke Jünglingsfigur mit Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und bestimmt gefalteten Brauen vorzustellen, als einen Engelstyp jenes Schlages, der jederzeit froh ist, wenn es mit nutzlosen Verhandlungen ein Ende hat und zu Taten geschritten werden kann. An Vorbereitungen zu entschiedenen Taten hatte es während der zähen Verhandlungen Mose’s mit Pharao nicht gefehlt: Für Mose selbst hatten sie sich darauf beschränkt, daß er, in Erwartung schwerer Ereignisse, Weib und Söhne unterderhand nach Midian, zu seinem Schwager Jethro zurückgeschickt hatte, um nicht bei dem Kommenden mit der Sorge um sie belastet zu sein. Joschua aber, dessen Verhältnis zu Mose unverkennbar demjenigen des Würgengels zu Jahwe ähnelt, hatte nach seiner Art gehandelt und, da er nicht die Mittel und auch noch nicht das Ansehen besaß, die dreitausend waffenfähigen Blutsgenossen unter seinem Befehl auf Kriegsfuß zu bringen, wenigstens eine Rotte daraus erlesen, bewaffnet, exerziert und in Zucht gebannt, so daß für den Anfang etwas damit zu leisten war. Die Vorgänge von dazumal sind in Dunkel gehüllt, – in das Dunkel jener Vesper-Nacht, die in den Augen der Kinder Ägyptens eine Festnacht war für das fronende Blut, das unter ihnen lebte. Wie es schien, wollte dies Blut sich schadlos halten für das verwehrte Opferfest in der Wüste durch ein mit Schmauserei verbundenes Lampen- und Gottesfest an Ort und Stelle, und sogar goldene und silberne Gefäße hatte es sich dazu von der ägyptischen Nachbarschaft ausgeliehen. Unterdessen aber, oder statt dessen, ereignet sich jenes Umgehen des Würgengels, das Sterben der Erstgeburt in allen Wohnungen, die nicht der Ysopbüschel mit Blut gezeichnet hat, diese Heimsuchung, die eine so große Verwirrung, einen so plötzlichen Umsturz der Rechts- und Anspruchverhältnisse mit sich bringt, daß von einer Stunde zur anderen den Moseleuten der Weg aus dem Lande nicht nur offensteht, sondern sie geradezu auf ihn gedrängt werden und ihn für die Ägypter nicht schnell genug einschlagen können. Tatsächlich scheint es, daß die Zweitgeborenen weniger eifrig waren, den Tod derer zu rächen, an deren Stelle sie rückten, als die Urheber ihrer Erhöhung zum Verschwinden anzuspornen. Die Einkleidung lautet: Diese zehnte Plage habe endlich Pharao’s Stolz gebrochen, so daß er Mose’s Vaterblut aus der Knechtschaft entlassen habe. Er schickte den Entwichenen jedoch

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sehr bald eine verfolgende Heeresabteilung nach, die nur wunderbarerweise verunglückte. Sei dem wie ihm sei, auf jeden Fall nahm die Auswanderung die Gestalt der Austreibung an, und die Hast, mit der diese geschah, ist in der Einzelheit festgehalten, daß niemand Zeit hatte, sein Brot für die Reise zu säuern; mit unaufgegangenen Not-Fladen nur konnte man sich versehen, woraus dann Mose dem Volk einen Fest- und Gedenkbrauch machte für alle Zeiten. Im übrigen war man, so groß wie klein, zum Aufbruch völlig bereit gewesen. Die Lenden gegürtet, hatte man, während der Würgengel umging, bei gepackten Karren gesessen, die Schuhe schon an den Füßen, den Wanderstab in der Hand. Die goldenen und silbernen Gefäße, die man von den Landeskindern entliehen, nahm man mit. Meine Freunde! Beim Auszuge aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Mose’s festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen? Mose hatte den fleischlichen Gegenstand seiner Bildungslust, dies formlose Menschentum, seines Vaters Blut, nun im Freien, und Freiheit war ihm der Raum der Heiligung.

9 Die Wandermasse, sehr viel geringer nach ihrer Kopfzahl, als legendäre Ziffern es wahrhaben wollen, aber schwierig genug zu handhaben, zu leiten und zu versorgen, eine hinlänglich schwere Schulterlast für den, der die Verantwortung für ihr Los, ihr Fortkommen im Freien trug, schlug den Weg ein, der sich von selber ergab, wenn man, aus guten Gründen, die nördlich der Bitterseen beginnenden ägyptischen Grenzbefestigungen vermeiden wollte: er führte durch das Salzseengebiet, in das der größere, westliche der beiden Arme des Roten Meeres ausläuft, welche das Sinailand zur Halbinsel machen. Mose kannte diese Gegend, da er sie auf seiner Flucht nach Midian und von dort zurückkehrend passiert hatte. Besser als dem jungen Joschua, der nur abgezogene Karten im Kopfe hatte, war ihm ihre Beschaffenheit vertraut, die Natur dieser schilfigen Watten, die die zeitweilig offene Verbindung der Bitterseen mit dem Meerbusen bildeten und durch die man unter Umständen trockenen Fußes das Sinailand gewinnen konnte. Ging nämlich ein starker Ostwind, so boten sie, bei zurückgetriebenem Meere, einen freien Durchgang, – und in dieser Verfassung fanden die Flüchtigen, dank Jahwe’s begünstigender Fügung, das Schilfmeer vor.

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Es waren Joschua und Kaleb, die in der Menge die Nachricht verbreiteten, Mose habe unter Anrufung des Gottes seinen Stab über die Wasser gehalten und sie dadurch bewogen, zurückzutreten und dem Volke den Weg freizugeben. Wahrscheinlich hatte er das auch getan und war mit feierlicher Gebärde in Jahwe’s Namen dem Ostwinde zu Hilfe gekommen. Jedenfalls konnte der Glaube des Volkes an seinen Führer umso mehr eine Stärkung brauchen, als dieser Glaube gerade hier, und hier zuerst, auf eine schwere Belastungsprobe gestellt wurde. Denn hier war es ja, wo Pharao’s Heeresmacht, Mann und Wagen, grimme Sichelwagen, die man nur zu gut kannte, die Auswanderer einholte und um ein Haar ihrer Wanderung zu Gott ein blutiges Ende gesetzt hätte. Die Kunde ihrer Annäherung, von Joschua’s Nachhut ausgegeben, erregte äußersten Schrecken und wildes Verzagen im Volke. Sofort schlug die Reue darüber, daß man „diesem Mann Mose“ gefolgt war, in hellen Flammen auf, und jenes Massen-Murren erhob sich, das sich zu Mose’s Gram und Bitternis bei jeder Schwierigkeit wiederholen sollte, in die man danach noch geriet. Die Weiber zeterten, die Männer fluchten und schüttelten ganz ähnlich die Fäuste an ihren Schenkeln, wie Mose es in der Erregung zu tun pflegte. „Waren nicht Gräber in Ägypten“, hieß es, „darin wir friedlich zu unserer Stunde hätten eingehen können, wären wir zu Hause geblieben?“ Auf einmal war Ägypten „Zu Hause“, da es doch sonst eine Fron-Fremde gewesen war. „Es wäre uns ja besser, den Ägyptern zu dienen, als in der Wildnis durchs Schwert zu verderben!“ So hörte Mose es tausendfach, und es verbitterte ihm sogar die Rettung, die überwältigend war. Er war „der Mann Mose, der uns aus Ägypten geführt hat“, – was Lobpreisung bedeutete, solang’ alles gut ging. Ging’s aber schlecht, so wechselte es sofort die Färbung und meinte murrenden Vorwurf, dem der Gedanke der Steinigung niemals ferne war. Nun denn, es ging, nach kurzer Beängstigung, beschämend und unglaubwürdig gut hier zur Stelle. Mose stand sehr groß da durch ein Gotteswunder und war „der Mann, der uns aus Ägypten geführt hat“ – nun wieder anders herum gemeint. Das Geblüt wälzt sich durch die trockengelegten Watten, ihm nach die ägyptische Wagenmacht. Da stirbt der Wind, die Flut kehrt zurück, und gurgelnd verderben Mann und Roß in verschlingenden Wassern. Der Triumph war beispiellos. Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, sang paukend den Weibern im Reigen vor: „Singet dem Herrn – eine herrliche Tat – Roß und Mann – hat er ins Meer gestürzt.“ Sie hatte es selbst gedichtet. Man muß es sich mit Paukenbegleitung denken.

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Das Volk war tief ergriffen. Die Worte „mächtig, heilig, schrecklich, löblich und wundertätig“ hörten nicht auf, von seinen Lippen zu kommen, und es war unklar, ob sie der Gottheit galten, oder Mosen, dem Gottesmann, von dem man annahm, daß sein Stab die ersäufende Flut über die Macht Ägyptens gebracht habe. Die Verwechslung lag immer nahe. Wenn gerade das Volk nicht murrte, hatte Mose stets seine liebe Not, zu verhindern, daß es ihn selber für einen Gott, für den hielt, den er verkündete.

10 Das war im Grunde so lächerlich nicht, denn was er den Armseligen zuzumuten begann, ging über alles Menschengewöhnliche und konnte kaum im Kopf eines Sterblichen entstanden sein. Der Mund blieb einem dabei offenstehen. Sogleich nach Mirjams Singetanz verbot er jeden weiteren Jubel über den Untergang der Ägypter. Er verkündete: Jahwe’s obere Scharen selbst seien im Begriffe gewesen, in das Siegeslied einzustimmen, aber der Heilige habe sie angelassen: „Wie, meine Geschöpfe versinken im Meer, und ihr wollt singen?“ Diese kurze, aber erstaunliche Geschichte brachte er in Umlauf. Er fügte hinzu: „Du sollst dich des Falles deines Feindes nicht freuen; nicht sei dein Herz froh über sein Unglück.“ Es war das erste Mal, daß dergestalt das ganze Gehudel, zwölftausend und einige hundert Köpfe, die dreitausend Waffenfähigen eingeschlossen, mit Du angesprochen wurde, dieser Redeform, die ihre Gesamtheit umfaßte und zugleich das Auge auf jeden einzelnen, Mann und Weib, Greis und Kind, richtete, einen jeden wie mit dem Finger vor die Brust traf. „Du sollst kein Freudengeschrei machen über den Fall deines Feindes.“ Das war hochgradig unnatürlich! Aber sichtlich hing diese Unnatur mit der Unsichtbarkeit des Gottes Mose’s, der unser Gott sein wollte, zusammen. Den Bewußteren unter dem braunen Gehudel fing es zu dämmern an, was es meinte, und wie Unheimlich-Anspruchsvolles es damit auf sich hatte, sich einem unsichtbaren Gott verschworen zu haben. Man war im Sinailande, und zwar in der Wüste Sur, einem unholden Gelände, das man nur verlassen würde, um in ein ebenso beweinenswertes, die Wüste Paran, zu gelangen. Warum diese Wüsten verschiedene Namen hatten, war unerfindlich; sie stießen dürr aneinander und war alles dasselbe steinige, in toten Hügeln hinlaufende, wasser- und fruchtlose Fluchgebreite, drei Tage lang und vier und fünf. Mose hatte gut getan, das ihm beim Schilfmeer erwachsene Ansehen ungesäumt zu jener übernatürlichen Einschärfung zu benutzen: alsbald schon wieder war er „dieser Mann Mose, der uns aus Ägypten geführt“ – das hieß: „ins Unglück gebracht hat“, und lautes Murren schlug an sein Ohr.

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Nach dreien Tagen wurde das mitgenommene Wasser schmal. Tausende dürsteten, die unerbittliche Sonne zu Häupten und unter den Füßen die bare Trostlosigkeit, ob es nun diejenige noch der Wüste Sur oder schon die der Wüste Paran war. „Was sollen wir trinken?“ Sie riefen es, laut ohne Zartgefühl für das Leiden des Führers an seiner Verantwortlichkeit. Er wünschte, ganz allein nichts zu trinken – nie wieder etwas zu trinken zu haben, wenn nur sie etwas gehabt hätten, damit er nicht hören müßte: „Warum hast du uns lassen aus Ägypten ziehen?“ Allein zu leiden ist leichte Qual im Vergleiche mit der, für solches Gehudel aufkommen zu müssen, und Mose war ein sehr geplagter Mensch, blieb es auch alle Zeit – geplagt über alle Menschen auf Erden. Sehr bald denn auch gab es nichts mehr zu essen, denn wie lange hatten die eilig mitgenommenen Flachbrote wohl reichen können? „Was sollen wir essen?“ Auch dieser Ruf erscholl nun, weinend und schimpfend, und Mose hatte schwere Stunden mit Gott unter vier Augen, wo er ihm vorhielt, wie hart es von ihm gewesen sei, die Last dieses ganzen Volkes auf ihn, seinen Knecht, zu legen. „Hab’ ich denn all das Volk empfangen und geboren“, fragte er, „daß du zu mir sagen magst: ‘Trag es in deinen Armen!’ Woher soll ich Speise nehmen, daß ich all diesem Volk gebe? Sie weinen vor mir und sprechen: ‘Gib uns Fleisch, daß wir essen!’ Ich kann allein soviel Volks nicht tragen, es ist mir zu schwer. Und willst du so mit mir tun, so erwürge mich lieber, daß ich mein Unglück und ihres nicht sehen müsse!“ Und Jahwe ließ ihn nicht ganz im Stich. Die Tränkung angehend, so machten sie den fünften Tag, auf einer Hochebene, über die sie zogen, eine Quelle aus, mit Bäumen daran, die übrigens auch unter dem Namen ‘Quelle Mara’ auf der Karte verzeichnet war, die Joschua im Kopfe trug. Zwar schmeckte ihr Wasser widerlich, dank unzuträglicher Beisätze, was bittere Enttäuschung und weit hinrollendes Murren hervorrief. Aber Mose, erfinderisch gemacht durch die Not, setzte eine Art von Filter-Vorrichtung ein, die die üblen Beimengungen, wenn nicht ganz, so doch zum guten Teile zurückhielt und verrichtete so ein Quell-Wunder, das das Gezeter in Beifallsjauchzen verwandelte und seinem Ansehen sehr auf die Füße half. Das Wort „der uns aus Ägypten geführt hat“ nahm gleich wieder eine rosigere Färbung an. Was aber die Speisung betraf, so geschah gleichfalls ein Wunder, über das zunächst freudiges Staunen herrschte. Denn es erwies sich, daß große Strecken der Wüste Paran mit einer Flechte bedeckt waren, die man essen konnte, der Manna-Flechte, einem zuckrigen Gefilz, rund und klein, wie Koriandersamen zu sehen und wie Bedellion, das sehr verderblich war und übel zu riechen begann, wenn man es nicht gleich aß, sonst aber, zerrieben, zerstoßen und als Aschenkuchen bereitet, eine recht leidliche Notspeise gab, beinahe wie Sem-

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mel mit Honig schmeckend, so fanden einige, und andere fanden: wie Ölkuchen. So war das erste, günstige Urteil, das aber nicht vorhielt. Denn bald, schon nach einigen Tagen, waren die Leute des Mannas satt und müde, sich damit zu sättigen; als einzige Nahrung widerstand es sehr rasch und stieß ihnen auf zum Ekel, so daß sie klagten: „Wir gedenken der Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, der Kürbisse, Pheben, Lauchs, Zwiebeln und Knoblauchs. Nun aber ist unsere Seele matt, denn unsere Augen sehen nichts denn Man.“ So hörte es Mose mit Schmerzen, nebst der Frage natürlich: „Warum hast du uns lassen aus Ägypten ziehen?“ Was er Gott fragte, war: „Wie soll ich tun mit dem Volk? Sie mögen kein Manna mehr. Du sollst sehen, es fehlt nicht weit, so werden sie mich noch steinigen.“

11 Davor war er allerdings so ziemlich geschützt durch Jehoschua, seinen Jüngling, und die reisige Mannschaft, die dieser sich schon zu Gosen herangezogen hatte und die den Befreier umringte, sobald bedrohliches Murren aufkam im Pöbelvolk. Es war eine kleine Mannschaft von Jugendlichen vorderhand, mit Kaleb als Leutnant, aber Joschua wartete nur auf eine Gelegenheit, sich als Feldherr und Vorkämpfer auszuweisen, um alle Waffenfähigen, die ganzen dreitausend, seinem Befehl zu verpflichten. Er wußte auch, daß diese Gelegenheit bevorstand. Mose hatte viel an dem Jüngling, den er auf Gottes Namen getauft; er wäre ohne ihn manchmal ganz verloren gewesen. Er war ein geistlicher Mann, und seine Männlichkeit, stämmig und stark wie sie war, mit Handgelenken, breit wie die eines Steinmetzen, war eine geistliche, in sich gewandte, von Gott gehemmte und heftig befeuerte Männlichkeit, den äußeren Dingen fremd, ums Heilige nur besorgt. Mit einer Art von Leichtsinn, der in eigentümlichem Gegensatz stand zu der grübelnden Nachdenklichkeit, in der er Mund und Bart mit der Hand zu bedecken pflegte, war all sein Denken und Trachten darauf beschränkt gewesen, seines Vaters Geblüt in der Absonderung für sich allein zu haben, um es zu bilden und ungestört aus der heillosen Masse, die er liebte, eine heilige Gottesgestalt zu metzen. Um die Gefahren der Freiheit, die Schwierigkeiten der Wüste und um die Frage, wie soviel Pöbelvolk heil durch sie hindurchzubringen sei, ja, auch nur, wohin er räumlich mit jenen wollte, hatte er sich wenig oder gar nicht bekümmert und sich mitnichten auf praktische Führerschaft vorbereitet. Nur froh konnte er darum sein, Joschua an seiner Seite zu haben, der nun gerade wieder die geistliche Männlichkeit in

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Mosen verehrte und ihm seine stracke, ganz aufs Äußere gerichtete JungMännlichkeit unbedingt zur Verfügung stellte. Ihm war es zu danken, daß man überhaupt in der Wildnis zielgerecht von der Stelle kam und nicht verderblich darin herumirrte. Er bestimmte die Marschrichtung nach den Gestirnen, berechnete die Tagesmärsche und sorgte dafür, daß man in erträglichen, manchmal freilich nur eben noch erträglichen Abständen zu Wasserstellen gelangte. Daß man die rundliche Bodenflechte essen könne, hatte er ausgemacht. Mit einem Wort: er sorgte für das Führeransehen des Meisters und dafür, daß das Wort „– der uns aus Ägypten geführt hat“, wenn es zum Murren geworden war, wieder löblichen Sinn annahm. Das Ziel hatte er klar im Kopfe und steuerte ihm an der Hand der Sterne, im Einverständnis mit Mose, auf kürzestem Wege zu. Denn beide waren ja darin einig, daß man ein erstes Ziel, eine feste, wenn auch vorläufige Unterkunft brauche, einen Aufenthalt, wo sich leben ließe und wo man Zeit gewönne, sogar viel Zeit: teils (nach Joschua’s Gedanken) damit das Volk sich hecke und ihm, dem Heranreifenden, eine stärkere Anzahl Waffenfähiger stelle, teils (nach Mose’s Gedanken) damit er vor allem einmal das Gehudel zu Gott bilde und etwas Heilig-Anständiges, ein reines Werk, dem Unsichtbaren geweiht, daraus haue, – wonach ihm Geist und Handgelenke verlangten. Das Ziel nun war die Oase Kadesch. Wie nämlich an die Wüste Sur die Wüste Paran stieß, so stieß an diese südlich die Wüste Sin, – aber nicht überall und nicht unmittelbar. Denn irgendwo dazwischen lag die Oase Kadesch, vergleichsweise eine köstliche Ebene, ein grünes Labsal im Wasserlosen, mit drei starken Quellen und einer Anzahl kleinerer noch obendrein, lang eine Tagereise und eine halbe breit, mit frischer Weide bedeckt und Ackerboden, ein lockender Landstrich, tierreich und fruchtreich und groß genug, eine Kopfzahl wie diese zu beherbergen und zu ernähren. Jehoschua wußte von dem anziehenden Ländchen, es war bestens verzeichnet auf der Karte, die er im Kopfe hatte. Auch Mose wußte davon, aber daß man darauf lossteuerte und sich Kadesch zum Ziel nahm, war Joschua’s Veranstaltung. Seine Gelegenheit – hier war sie. Eine solche Perle wie Kadesch lag selbstverständlich nicht ohne Besitzer da. Sie war in festen Händen, – in nicht allzu festen, hoffte Joschua. Wollte man sie haben, so mußte man darum kämpfen mit dem, der sie hatte, und das war Amalek. Ein Teil des Stammes der Amalekiter hielt Kadesch in Besitz und würde es verteidigen. Joschua machte Mosen klar, daß Krieg sein, daß eine Schlacht sein müsse zwischen Jahwe und Amalek, und wenn ewige Feindschaft zwischen ihnen daraus erwachsen sollte von Geschlecht zu Geschlecht. Die Oase

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müsse man haben; sie sei der gegebene Raum des Wachstums sowohl wie der Heiligung. Mose war sehr bedenklich. Für ihn war es eine der Implikationen der Unsichtbarkeit Gottes, daß man seines Nächsten Haus nicht begehren solle, und er hielt es seinem Jüngling vor. Aber dieser antwortete: Kadesch sei nicht Amaleks Haus. Er wisse nicht nur im Raume Bescheid, sondern auch in den Vergangenheiten, und er wisse, daß Kadesch ehemals schon – er konnte freilich nicht sagen, wann – von ebräischen Leuten, nahverwandtem Blut, Nachkommen der Väter, bewohnt gewesen sei, die von den Amalekitern versprengt worden seien. Kadesch sei ein Raub, und einen Raub dürfe man rauben. Mose bezweifelte das, aber er hatte seine eigenen Gründe dafür, daß Kadesch eigentlich Jahwe-Gebiet sei und denen zukomme, die mit Jahwe im Bunde waren. Nicht nur seiner natürlichen Reize wegen hieß Kadesch, wie es hieß, nämlich ‘Heiligtum’. Gewissermaßen war es ein Heiligtum des midianitischen Jahwe, den Mose als den Gott der Väter erkannt hatte. Nicht weit davon, gegen Osten und gegen Edom, lag, in einer Zeile mit anderen Bergen, der Berg Horeb, den Mose von Midian aus besucht und an dessen Hang der Gott sich ihm im brennenden Busch offenbart hatte. Horeb, der Berg, war der Sitz Jahwe’s, – einer zum mindesten. Sein ursprünglicher Sitz, wußte Mose, war der Berg Sinai, im Gebirge des tiefen Mittags. Aber zwischen Sinai und Horeb, der Stätte von Mose’s Beauftragung, bestand eine enge Beziehung, eben dadurch, daß Jahwe auf beiden saß: man konnte sie gleichsetzen, man konnte den Horeb auch Sinai nennen, und Kadesch hieß, wie es hieß, weil es, mit einiger Freiheit gesprochen, zu Füßen des heiligen Berges lag. Darum willigte Mose in Joschua’s Vorhaben und ließ ihn seine Vorbereitungen treffen für den Waffengang Jahwe’s mit Amalek.

12 Die Schlacht fand statt, sie ist eine historische Tatsache. Es war eine sehr schwere, hin und her wogende Schlacht, aber Israel ging siegreich daraus hervor. Diesen Namen nämlich, Israel, das heißt: ‘Gott führt Krieg’, hatte Mose vor der Schlacht dem Geblüt zur Stärkung verliehen, mit der Erläuterung, es sei ein sehr alter Name, der nur in Vergessenheit geraten sei; schon Jakob, der Erzvater, habe ihn sich errungen und auch die Seinen damit genannt. Es tat dem Geblüt sehr wohl; so lose seine Sippen zusammengehangen hatten, sie hießen nun alle Israel und kämpften vereint unter diesem geharnischten Namen, in Schlachtreihe gebracht und angeführt von Joschua, dem feldherrlichen Jüngling, und Kaleb, seinem Leutnant.

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Die Amalekiter waren nicht im Zweifel gewesen über den Sinn der Annäherung des Wandervolkes; solche Annäherungen haben immer nur einen Sinn. Ohne den Angriff auf die Oase abzuwarten, waren sie in hellen Haufen daraus hervorgekommen in die Wüste, größer an Zahl als Israel, auch besser bewaffnet, und in hochaufwirbelndem Staub, Getümmel und Feldgeschrei entspann sich der Kampf, ungleich auch deshalb, weil Joschua’s Leute vom Durst geplagt waren und seit vielen Tagen nichts anderes als Man zu essen gehabt hatten. Dafür hatten sie Joschua, den gerade blickenden Jüngling, der ihre Bewegungen leitete, und hatten Mose, den Gottesmann. Dieser hatte sich zu Beginn des Gemenges, zusammen mit Aaron, seinem Halbbruder, und mit Mirjam, der Prophetin, auf einen Hügel zurückgezogen, von dem aus man die Walstatt überblickte. Seine Männlichkeit war nicht die des Krieges. Vielmehr war es seine priesterliche Sache – und alle stimmten ohne Bedenken mit ihm überein, daß nur dies seine Sache sein könne –, mit erhobenen Armen den Gott anzurufen in befeuernden Worten, wie etwa: „Steh auf, Jahwe der Myriaden, der Tausende Israels, daß deine Feinde zerstieben, daß deine Hasser fliehen vor deinem Angesicht!“ Sie flohen nicht und sie zerstoben nicht, oder taten beides vorderhand doch nur örtlich und ganz vorübergehend; denn wohl war Israel wütig vor Durst und Überdruß am Manna, aber der Myriaden Amaleks waren mehr, und sie drangen nach kurzer Entmutigung immer wieder vor, zuweilen bis in gefährliche Nähe des Aussichtshügels. Es stellte sich aber unzweideutig heraus, daß immer, solange Mose die Arme betend zum Himmel erhoben hielt, Israel siegte, ließ er aber die Arme sinken, so siegte Amalek. Darum, weil er aus eigener Kraft nicht unausgesetzt die Arme hochhalten konnte, unterstützten ihn Aaron und Mirjam beiderseits in den Achselhöhlen und faßten auch seine Arme an, daß sie oben blieben. Was das aber heißen will, mag man daran ermessen, daß die Schlacht vom Morgen bis an den Abend währte, in allwelcher Zeit Mose seine schmerzhafte Stellung einhalten mußte. Da sieht man, wie schwer die geistliche Männlichkeit es hat auf ihrem Gebetshügel, – wohl wahrlich schwerer als die, die drunten dreinhauen darf im Getümmel. Auch war es den ganzen Tag lang nicht durchzuführen; die Beistehenden mußten zuweilen für einen Augenblick des Meisters Arme herunterlassen, was aber immer sogleich die Jahwe-Streiter viel Blut und Bedrängnis kostete. Da hißten jene die Arme wieder, und aus dem Anblick schöpften die drunten frischen Mut. Hinzu kam die Feldherrngabe Jehoschua’s, um einen günstigen Ausgang der Schlacht herbeizuführen. Er war ein planender Kriegsjüngling, mit Einfällen und Absichten, der Manöver erdachte, die völlig neu waren, bis dato ganz unerhört, wenigstens in der Wüste; dazu ein Befehlshaber, der den

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Nerv hatte, eine zeitweilige Preisgabe von Gelände ruhig mitanzusehen. Er versammelte seine beste Kraft, eine Auswahl, die Würgengel, am rechten Flügel des Feindes, drückte entschieden auf diesen, drängte ihn ab und war siegreich an dieser Stelle, während freilich indessen die Hauptmacht Amaleks gegen Israels Reihen in großem Vorteil war und ihnen in stürmischem Vordrang viel Raum abgewann. Vermittelst des Durchbruchs jedoch an der Flanke gelangte Jehoschua in Amaleks Rücken, so daß dieser sich gegen ihn wenden, zugleich aber die fast schon geschlagene, doch wieder ermutigt vorgehende Hauptmacht Israels bekämpfen mußte, so daß Kopflosigkeit bei ihm die Oberhand gewann und er an seiner Sache verzagte. „Verrat!“ rief er. „Es ist alles verloren! Hofft nicht mehr zu siegen! Jahwe ist über uns, ein Gott von unergründlicher Tücke!“ Und unter dieser verzweifelten Losung ließ Amalek sich das Schwert entsinken und wurde niedergemacht. Nur wenigen der Seinen gelang die Flucht nach Norden, wo sie sich mit dem Hauptstamm vereinigten. Israel aber bezog die Oase Kadesch, die sich als durchzogen von einem breiten, rauschenden Bach, bestanden mit Nutzsträuchern und Fruchtbäumen und von Bienen, Singvögeln, Wachteln und Hasen erfüllt erwies. Die in den Dorflagern zurückgelassenen Kinder Amaleks vermehrten die Zahl seines eigenen Nachwuchses. Die Weiber Amaleks wurden Israels Weiber und Mägde.

13 Mose, obgleich ihn noch lange die Arme schmerzten, war ein glücklicher Mann. Daß er ein sehr geplagter blieb, über alle Menschen auf Erden, wird sich erweisen. Vorderhand aber war er sehr glücklich über den günstigen Gang der Dinge. Die Auswanderung war gelungen, Pharao’s rächende Macht im Schilfmeer versunken, die Wüstenfahrt gnädig vonstatten gegangen und die Schlacht um Kadesch mit Jahwe’s Hilfe gewonnen worden. Groß stand er da vor seines Vaters Geblüt, im Ansehen des Erfolges, als „der Mann Mose, der uns aus Ägypten geführt hat“, und das war es, was er brauchte, um sein Werk beginnen zu können, das Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren, des Bohrens, Wegsprengens und Formens in Fleisch und Blut, wonach er begehrte. Glücklich war er, dies Fleisch nun abgesondert im Freien für sich zu haben in der Oase mit Namen ‚Heiligtum’. Sie war seine Werkstatt. Er zeigte dem Volke den Berg, der unter anderen Bergen im Osten von Kadesch hinter der Wüste zu sehen war: Horeb, den man auch Sinai nennen mochte, buschig bewachsen zu zwei Dritteln hinauf und oben kahl, den Sitz Jahwe’s. Daß er es war, schien glaubhaft, denn es war ein eigentümlicher

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Berg, ausgezeichnet vor seinen Geschwistern durch eine Wolke, die, niemals weichend, dachförmig über seinem Gipfel lag und tags grau erschien, nachts aber leuchtete. Dort, hörte das Volk, an dem buschigen Hange des Berges, unterhalb des felsigen Gipfels, hatte Jahwe zu Mose aus dem brennenden Dornstrauch geredet und ihn beauftragt, sie aus Ägypten zu führen. Sie hörten es mit Furcht und Zittern, die bei ihnen noch die Stelle von Ehrfurcht und Andacht einnahmen. Wirklich pflegten sie alle, auch die bärtigen Männer, mit den Knien zu schlottern wie wilde Memmen, wenn Mose ihnen den Berg mit der Dauerwolke zeigte und sie bedeutete, daß der Gott dort saß, der Lust zu ihnen hatte und ihr alleiniger Gott sein wollte, und Mose schalt sie, die Fäuste schüttelnd, ob dieses ordinären Gebarens und ließ es sich angelegen sein, sie mit Jahwe mutig-vertrauter zu machen, indem er ihm auch mitten unter ihnen, zu Kadesch selbst, eine Stätte errichtete. Denn Jahwe hatte eine bewegliche Gegenwart, – das hing, wie so manches andere, mit seiner Unsichtbarkeit zusammen. Er saß auf dem Sinai, er saß auf dem Horeb, – nun schuf ihm Mose, kaum daß man sich zu Kadesch in den Dorflagern der Amalekiter ein wenig eingerichtet, ein Heim daselbst, ein Zelt in der Nähe des eigenen, das er das Begegnungs- oder Versammlungszelt, auch wohl die Stiftshütte nannte, und worin er heilige Gegenstände unterbrachte, die eine Handhabe zur Verehrung des Bildlosen boten. Vorwiegend waren es Dinge, die Mose nach der Erinnerung dem Kult des midianitischen Jahwe entnahm: eine Art von Kasten vor allem, mit Tragestangen, auf welchem nach Mose’s Aussage – und er mußte es wissen – die Gottheit unsichtbar thronte, und die man würde mit ins Feld hinausnehmen und vor sich hertragen können zum Kampf, wenn etwa Amalek anrücken und Rache zu nehmen versuchen sollte. Ein eherner Stab mit Schlangenkopf, auch die Eherne Schlange genannt, war bei der Lade verwahrt, zum Andenken an Aarons gutgemeintes Kunststück vor Pharao, doch mit dem Nebensinn, daß es zugleich auch der Stab sein sollte, den Mose ausgereckt hatte über das Schilfmeer, daß es sich teile. Besonders noch aber barg das Jahwe-Zelt auch das sogenannte Ephod, die Schüttel-Tasche, aus der, als Ja oder Nein, Recht oder Unrecht, Gut oder Böse, die Orakel-Lose ‘Urim und Tummim’ sprangen, wenn man gezwungen war, in einer schweren Streitfrage, den Menschen unlösbar, unmittelbar Jahwe’s Schiedsgericht anzurufen. Meist nämlich richtete Mose selbst, an Jahwe’s Statt, in allerlei Streit- und Rechtsfragen, die sich unter den Leuten aufwarfen. Es war sogar das erste, was er zu Kadesch tat, daß er eine Gerichtsstelle einrichtete, wo er an bestimmten Tagen Streitfragen schlichtete und Recht sprach: dort wo die stärkste Quelle entsprang, die immer schon Me-Meriba, das ist: ‘Prozeßwasser’, geheißen

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hatte, dort sprach er Recht und ließ es heilig erfließen, wie das Wasser der Erde entquoll. Bedenkt man aber, daß es insgesamt zwölftausendfünfhundert Seelen waren, die seiner alleinigen Gerechtsame unterstanden, so ermißt man, was für ein geplagter Mann er war. Denn umso mehr Rechtsuchende drängten sich immer zu seinem Quellsitze, als das Recht dem verlassenen und verlorenen Geblüt etwas ganz Neues war und es bisher kaum gewußt hatte, daß es so etwas gäbe, – da es denn nun erfuhr, erstens, daß das Recht mit der Unsichtbarkeit Gottes und seiner Heiligkeit ganz unmittelbar zusammenhänge und in ihrem Schutze stehe, zweitens aber, daß es auch das Unrecht umfasse, was das Pöbelvolk lange Zeit nicht begreifen konnte. Denn es dachte, wo Recht erflösse, da müsse jeder recht bekommen, und wollte anfangs nicht glauben, daß einer zu seinem Recht kommen könne auch dadurch, daß er zu seinem Unrecht kam und mit langer Nase abziehen mußte. Ein solcher bereute dann wohl, daß er die Sache nicht lieber mit seinem Streitpartner nach früherer Art vermittelst eines Steins in der Faust ausgemacht habe, wodurch sie vielleicht einen anderen Ausgang genommen hätte, und lernte nur mühsam von Mose, daß dies gegen die Unsichtbarkeit Gottes gewesen wäre, und daß niemand mit langer Nase abzöge, der unrecht bekommen habe von Rechtes wegen; denn das Recht sei gleich schön und würdevoll in seiner heiligen Unsichtbarkeit, ob es einem nun recht oder unrecht gäbe. So mußte Mose nicht allein Recht sprechen, sondern auch Recht lehren noch dazu und war sehr geplagt. Er hatte ja selbst im thebanischen Internat das Recht gelernt, die ägyptischen Gesetzesrollen und den Codex Hammurapi’s, des Königs am Euphrat. Das half ihm zur Urteilsklärung in vielen vorkommenden Fällen, so zum Beispiel, wenn ein Ochs einen Mann oder Weib zu Tode gestoßen hatte, so war der Ochse zu steinigen, und sein Fleisch sollte nicht gegessen werden, der Herr des Ochsen aber war unschuldig, ausgenommen der Ochse wäre bekanntermaßen schon immer stößig gewesen und der Herr habe ihn schlecht verwahrt: dann sei auch dessen Leben verwirkt, außer, er könne es ablösen mit dreißig Silberschekeln. Oder, wenn jemand eine Grube eröffnete und deckte sie nicht ordentlich zu, so daß ein Ochs oder Esel hineinfiel, so sollte der Herr der Grube den Mann des Schadens mit Geld versöhnen, das Aas aber sollte ihm gehören. Oder was sonst noch vorkam an Körperverletzung, Sklavenmißhandlung, Diebstahl und Einbruch, Flurschädigung, Brandlegung und Mißbrauch von Anvertrautem. In allen diesen Fällen und hundert anderen fand Mose das Urteil, in Anlehnung an Hammurapi, gab recht und unrecht. Aber es waren für einen Richter der Fälle zu viele, der Quellsitz war überlaufen, untersuchte der Meister das einzelne Vorkommnis nur einigermaßen treulich, so ward er nicht fertig, mußte vieles zurückstellen, Neues kam immer hinzu, und er war geplagt über alle Menschen.

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14 Darum war es ein großes Glück, daß sein Schwager Jethro, von Midian, ihn zu Kadesch besuchte und ihm einen guten Rat erteilte, auf den er von selbst, seiner gewissenhaften Eigenmächtigkeit wegen, nicht gekommen wäre. Mose hatte nämlich bald nach der Ankunft in der Oase nach Midian hinabgeschickt zu seinem Schwäher, daß dieser ihm sein Weib Zipora und seine beiden Söhne zurücksende, die er ihm während der ägyptischen Tribulationen ins Zelt gegeben hatte. Jethro aber kam freundlicherweise selbst, ihm Weib und Söhne persönlich zu überhändigen, ihn zu umarmen, sich bei ihm umzusehen und von ihm zu hören, wie alles gegangen sei. Er war ein beleibter Scheich, heiter blickend, mit ebenen, gewandten Gebärden, ein Weltmann, eines entwickelten, gesellschaftlich wohl geübten Volkes Fürst. Sehr festlich empfangen, kehrte er ein bei Mose, in dessen Hütte, und vernahm nicht ohne Erstaunen, wie einer seiner Götter, und gerade der Bildlose unter ihnen, sich an Mose und den Seinen so außerordentlich bewährt und wie er gewußt habe, sie von der Ägypter Hand zu erretten. „Wer hätte es gedacht!“ sagte er. „Er ist offenbar größer, als wir vermuteten, und was du mir erzählst, legt mir die Befürchtung nahe, daß wir seiner bisher zu lässig gepflegt haben. Ich will dafür sorgen, daß er auch bei uns zu höheren Ehren kommt.“ Auf den nächsten Tag wurden öffentliche Brandopfer anberaumt, wie Mose sie selten veranstaltete. Nicht übertrieben viel hielt er von Opfern; sie seien nicht wesentlich, sagte er, vor dem Unsichtbaren, und opfern täten die anderen auch, die Völker der Welt. Jahwe aber spreche: „Auf meine Stimme hört vor allen Dingen, das ist: auf die meines Knechtes Mose, dann werd’ ich euer Gott sein und ihr mein Volk.“ Diesmal aber gab es Schlacht- und Brandopfer, für Jahwe’s Nase sowohl als auch zur Feier von Jethro’s Ankunft. Und wieder am nächsten Tag, schon früh am Morgen, nahm Mose seinen Schwäher mit zum Prozeßwasser, damit er einer Gerichtssitzung beiwohne und sähe, wie Mose saß, das Volk zu richten. Das stand um ihn herum von Morgen bis Abend, und war keine Rede von Fertigwerden. „Nun bitte ich dich um alles, Herr Schwager“, sagte der Gast, als er mit Mose von der Stätte hinwegging, „was machst du Mann dir für Plage! Sitzest allein, und alles Volk steht um dich herum von Morgen bis Abend! Warum tust du denn das?“

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„Ich muß doch“, antwortete Mose. „Das Volk kommt zu mir, daß ich richte zwischen einem jeglichen und seinem Nächsten und zeige ihnen Gottes Recht und seine Gesetze.“ „Aber Bester, wie kann man so ungeschickt sein!“ sagte Jethro wieder. „Regiert man denn so, und muß sich ein Herrscher so schinden, daß er alles allein macht? Du müdest dich ab, daß es ein Jammer ist, und kannst kaum aus den Augen sehen, bist auch deiner Stimme verlustig vom Richten. Dazu ist das Volk nicht weniger müde. So fängt man doch das nicht an, du kannst auf die Länge nicht alle Geschäfte allein ausrichten. Es ist ja das gar nicht nötig, – höre auf meine Stimme! Wenn du das Volk vor Gott vertrittst und vor ihn bringst die großen Geschäfte, die alle angehen, so ist das völlig genug. Sieh dich aber um“, sagte er mit bequemen Bewegungen, „unter deinem Gehudel nach rechtlichen Leuten, ein bißchen angesehenen, und setze sie über das Volk: über tausend, über hundert, ja über fünfzig und zehn, daß sie sie richten nach dem Recht und nach den Gesetzen, die du dem Volk gestellt. Und nur wo eine große Sache ist, die sollen sie an dich bringen, alle geringen aber erledigen sie, – du brauchst davon gar nichts zu wissen. Ich hätte auch mein Bäuchlein nicht und wäre gar nicht abkömmlich gewesen, dich zu besuchen, wenn ich dächte, von allem wissen zu müssen, und es treiben wollte wie du.“ „Aber die Richter werden Geschenke nehmen“, antwortete Mose schwermütig, „und die Gottlosen recht haben lassen. Denn Geschenke machen die Sehenden blind und verkehren die Sache des Gerechten.“ „Weiß ich auch“, erwiderte Jethro. „Weiß ich ganz gut. Aber etwas davon muß man in den Kauf nehmen, wenn nur Recht gesprochen wird überhaupt und eine Ordnung ist, werde sie auch etwas verwickelter durch Geschenke, das macht nicht soviel. Siehe, die da Geschenke nehmen, das sind gewöhnliche Leut’, aber das Volk besteht auch aus gewöhnlichen Leuten, darum hat es Sinn fürs Gewöhnliche, und wird ihm das Gewöhnliche gemütlich sein in der Gemeinde. Dazu aber, ist einem seine Sache verkehrt worden vom Richter über zehn, weil der vom Gottlosen genommen hat, so soll er den Dienstweg einschlagen und den Rechtszug verfolgen; er soll den Richter aufrufen über fünfzig und den über hundert und schließlich den über tausend, – der bekommt am allermeisten Geschenke und hat darum einen freieren Blick, bei dem wird er schon Recht finden, wenn’s ihm nicht vorher zu langweilig geworden ist.“ So äußerte Jethro sich, mit ebenen Gebärden, die einem das Leben erleichterten, wenn man sie nur sah, und zeigte, daß er eines entwickelten Wüstenvolkes Priesterkönig war. Schwermütig hörte Mose ihm zu und nickte. Er hatte die bestimmbare Seele des einsamen, geistlichen Mannes, der nachdenklich nickt

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zu der Klugheit der Welt und einsieht, daß sie wohl recht haben mag. Auch befolgte er wirklich den Rat des gewandten Schwähers – es war ganz unumgänglich. Er setzte Laienrichter ein, die an der großen Quelle und an den kleineren Recht erfließen ließen nach seinen Belehrungen und die alltäglichen Fälle beurteilten (wenn etwa ein Esel in eine Grube gefallen war); und nur die Kapital-Fälle kamen an ihn, den Priester Gottes, über die ganz großen aber entschieden die heiligen Lose. So war er nicht länger über Gebühr in die Geschäfte verstrickt, sondern bekam die Arme frei für das weitere Bildungswerk, das er an dem ungestalten Volksleib zu tun gedachte, und für das ihm Joschua, der strategische Jüngling, die Werkstatt erstritten, nämlich die Oase Kadesch. Zweifellos war das Recht ein wichtiges Beispiel für die Implikationen der Unsichtbarkeit Gottes, aber doch nur ein Beispiel, und eine gewaltige, lange, in Zorn und Geduld zu bewältigende Arbeit würde es sein, aus den ungebärdigen Horden nicht nur ein Volk zu bilden wie andere mehr, dem das Gewöhnliche gemütlich war, sondern ein außergewöhnliches und abgesondertes, eine reine Gestalt, aufgerichtet dem Unsichtbaren und ihm geheiligt.

15 Das Geblüt merkte bald, was es heißen wollte, einem zornig-geduldigen, dem Unsichtbaren verantwortlichen Werkmann gleich Mosen in die Hände gefallen zu sein, und merkte, daß jene unnatürliche Weisung, es sei jedes Freudengeschrei zu unterlassen über des Feindes Ersaufen, nur ein Anfang gewesen war – und zwar ein vorwegnehmender Anfang, der schon weit im Gebiet der Reinheit und Heiligkeit lag und viele Voraussetzungen hatte, die zu erfüllen waren, ehe man dahin gelangte, eine solche Forderung nicht als völlig unnatürlich zu empfinden. Wie es aussah in dem Gehudel, und wie sehr es ein bloßer Rohstoff war aus Fleisch und Blut, dem die Grundbegriffe der Reinheit und Heiligkeit abgingen; wie sehr Mose von vorn anfangen und ihnen das Früheste beibringen mußte, das merkt man den notdürftigen Vorschriften an, mit denen er daran herumzuwerken, zu meißeln und zu sprengen begann – nicht zu ihrem Behagen; der Klotz ist nicht auf des Meisters Seite, sondern gegen ihn, und gleich das Früheste, was zu seiner Formung geschieht, kommt ihm am allerunnatürlichsten vor. Immer war Mose unter ihnen, bald hier, bald da, bald in jenem Dorflager, gedrungen, mit seinen weitstehenden plattgetriebenen Nase, schüttelte die Fäuste an breiten rüttelte, mäkelte, krittelte und regelte an ihrem Dasein,

diesem und bald in Augen und seiner Handgelenken und rügte, richtete und

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säuberte daran herum, indem er die Unsichtbarkeit Gottes dabei zum Prüfstein nahm, Jahwe’s, der sie aus Ägypten geführt hatte, um sie sich zum Volk zu nehmen, und der heilige Leute an ihnen haben wollte, heilig, wie Er es war. Vorläufig waren sie nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, daß sie ihre Leiber einfach ins Lager entleerten, wo es sich treffen wollte. Das war eine Schande und eine Pest. Du sollst außen vor dem Lager einen Ort haben, wohin du zur Not hinauswandelst, hast du mich verstanden? Und sollst ein Schäuflein haben, womit du gräbst, ehe du dich setzest; und wenn du gesessen hast, sollst du’s zuscharren, denn der Herr, dein Gott, wandelt in deinem Lager, das darum ein heilig Lager sein soll, nämlich ein sauberes, damit Er sich nicht die Nase zuhalte und sich von dir wende. Denn die Heiligkeit fängt mit der Sauberkeit an, und ist diese Reinheit im Groben aller Reinheit gröblicher Anbeginn. Hast du das aufgefaßt, Ahiman, und du Weib Naemi? Das nächste Mal will ich bei jedem ein Schäuflein sehen, oder der Würgengel soll über euch kommen! Du sollst sauber sein und dich viel mit lebendigem Wasser baden um der Gesundheit willen; denn ohne die ist keine Reinheit und Heiligkeit, und Krankheit ist unrein. Denkst du aber, Pöbelei ist gesünder denn saubere Sitte, so bist du ein Blödian und sollst geschlagen sein mit Gelbsucht, Feigwarzen und Drüsen Ägyptens. Übst du nicht Sauberkeit, so werden böse schwarze Blattern auffahren und Keime der Pestilenz gehen von Blut zu Blut. Lerne unterscheiden zwischen Reinheit und Unreinheit, sonst bestehst du nicht vor dem Unsichtbaren und bist nur Pöbel. Darum, wenn ein Mann oder Weib einen fressenden Aussatz hat und einen bösen Fluß am Leibe, Grind oder Krätze, die sollen unrein sei und nicht im Lager gelitten werden, sondern hinausgetan sein draußen davor, abgesondert in Unreinheit, wie der Herr euch abgesondert hat, daß ihr rein wäret. Und was ein solcher angerührt hat, und worauf er gelegen, und der Sattel, worauf er geritten, das soll verbrannt werden. Ist er aber rein worden in der Absonderung, so soll er sieben Tage zählen, ob er auch wirklich rein ist, und sich gründlich mit Wasser baden, dann mag er wiederkommen. Unterscheide! sage ich dir, und sei heilig vor Gott, sonst kannst du nicht heilig sein, wie ich dich haben will. Du ißt ja alles durcheinander, ohne Wahl und Heikligkeit, wie ich sehen muß, das ist mir ein Greuel. Du sollst aber das eine essen und das andere nicht, und sollst deinen Stolz haben und deinen Ekel. Was da die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das magst du essen. Was aber wiederkäut und hat Klauen, spaltet sie aber nicht, wie das Kamel, das sei euch unrein, und sollt’s nicht essen. Wohlgemerkt, das gute Kamel ist nicht unrein als Gottes lebendig Geschöpf, aber als Speise schickt es sich nicht, sowenig als wie das Schwein, das sollt ihr auch nicht essen, denn es

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spaltet die Klauen wohl, wiederkäut aber nicht. Darum unterscheidet! Alles, was Flossen und Schuppen hat in den Wassern, das mögt ihr essen, aber was ohne solche darin herumschlüpft, das Molchgezücht, das ist zwar auch von Gott, aber als Speise soll es euch eine Scheu sein. Unter den Vögeln sollt ihr verschmähen den Adler, den Habicht, den Fischaar, den Geier und ihresgleichen. Dazu alle Raben, den Strauß, die Nachteule, den Kuckuck, das Käuzlein, den Schwan, den Uhu, die Fledermaus, die Rohrdommel, den Storch, den Reiher und Häher sowie die Schwalbe. Ich habe den Wiedehopf vergessen, den sollt ihr auch vermeiden. Wer wird das Wiesel essen, die Maus, die Kröte oder den Igel? Wer ist so pöbelhaft, die Eidechse, den Maulwurf und die Blindschleiche zu verzehren oder sonst irgend etwas, was da auf Erden schleicht und auf seinem Bauche kreucht? Ihr tut es aber und macht eure Seele zum Scheusal! Wen ich noch einmal eine Blindschleiche essen sehe, mit dem will ich abfahren, daß er’s nicht wieder tut. Denn er stirbt zwar nicht dran, und es ist nicht schädlich, ist aber schimpflich, und euch soll vieles schimpflich sein. Darum sollt ihr kein Aas essen, das ist auch noch schädlich. So machte er ihnen Speisevorschriften und schränkte sie ein in Dingen der Nahrung, aber nicht nur in diesen. Ebenso tat er es in Dingen der Lust und Liebe, denn auch darin ging es bei ihnen drunter und drüber nach rechter Pöbelart. Du sollst die Ehe nicht brechen, sagte er ihnen, denn sie ist eine heilige Schranke. Weißt du aber auch, was das sagen will, die Ehe nicht brechen? Hundert Einschränkungen bedeutet es mit Rücksicht auf Gottes Heiligkeit und nicht nur, daß du deines Nächsten Weib nicht begehren sollst, das ist das wenigste. Denn du lebst im Fleisch, bist aber dem Unsichtbaren verschworen, und die Ehe ist der Inbegriff aller Reinheit im Fleisch vor Gottes Angesicht. Darum sollst du nicht ein Weib nehmen und die Mutter dazu, um nur ein Beispiel zu nennen. Das schickt sich nicht. Und sollst nie und nimmer bei deiner Schwester liegen, daß du ihre Scham siehst und sie deine, denn es ist eine Blutschande. Nicht einmal bei deiner Tante sollst du liegen, das ist weder ihrer würdig noch deiner, und sollst davor zurückschrecken. Wenn ein Weib ihre Krankheit hat, sollst du sie scheuen und nicht herantreten an den Brunnen ihres Blutes. Wenn aber einem Mann was Schamhaftes zustößt im Schlaf, der soll unrein sein bis zum nächsten Abend und sich fleißig mit Wasser baden. Ich höre, du hältst deine Tochter zur Hurerei an und nimmst Hurengeld von ihr? Tu das nicht mehr, denn beharrst du darauf, will ich dich steinigen lassen. Was fällt dir ein, beim Knaben zu schlafen wie beim Weibe? Das ist ein Unding und Völkergreuel, und sollen beide des Todes sterben. Treibt aber

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einer es mit dem Vieh, sei es Mann oder Weib, die, sollen nun vollends ausgerottet sein und erwürgt werden mitsamt dem Vieh. Man stelle sich ihre Bestürzung vor über all die Einschränkungen! Sie hatten zunächst das Gefühl, daß überhaupt vom lieben Leben beinahe nichts übrigbleibe, wenn man all dies befolgte. Er sprengte mit dem Meißel an ihnen herum, daß die Stücke flogen, und das war sehr wörtlich zu nehmen, denn mit den Ahndungen, die er auf die schlimmsten Überschreitungen der Schranken setzte, war es kein Spaß, und hinter seinen Verboten standen der junge Joschua und seine Würgengel. „Ich bin der Herr, euer Gott“, sagte er, auf die Gefahr hin, daß sie ihn wirklich selbst dafür hielten, „der euch aus Ägyptenland geführt und abgesondert hat von den Völkern. Darum sollt ihr auch absondern das Reine vom Unreinen und nicht den Völkern nachhuren, sondern mir heilig sein. Denn ich, der Herr, bin heilig und habe euch abgesondert, daß ihr mein wäret. Das Allerunreinste ist, sich um irgendeinen Gott zu kümmern, außer um mich, denn ich heiße ein Eiferer. Das Allerunreinste ist, sich ein Bild zu machen, sehe es nun aus wie ein Mann oder Weib, ein Ochs oder Sperber, ein Fisch oder Wurm, denn damit ist man schon abtrünnig von mir, auch wenn das Bild mich vorstellen soll, und könnte ebensogut mit seiner Schwester schlafen oder mit einem Vieh, das liegt ganz nahe dabei und ergibt sich gar bald daraus. Hütet euch! Ich bin unter euch und sehe alles. Hurt einer den Tier- und Totengöttern Ägyptens nach, dem will ich’s eintränken. Ich will ihn in die Wüste jagen und ihn absondern wie einen Auswurf. Insgleichen wer da dem Moloch opfert, an den ihr, wie ich wohl weiß, auch noch eine Erinnerung habt, daß er ihm seine Kraft verbrennt, der ist ein Übel, und übel will ich mit ihm verfahren. Darum sollst du deinen Sohn oder deine Tochter nicht durchs Feuer gehen lassen nach blöder Völkerart, noch achten auf Vogelflug und -schrei, noch munkeln mit Wahrsagern, Tagewählern und Zeichendeutern, noch die Toten befragen und nicht Zauber treiben mit meinem Namen. Ist einer ein Schurke und führt dabei meinen Namen im Munde zur Zeugenschaft, der führt ihn am allerunnützlichsten, ich will ihn fressen. Aber Zauber und Völkergreuel ist es bereits, sich Male zu stechen, sich kahl zu scheren über den Augen und sich das Gesicht zu zerschneiden aus Trauer um einen Toten, – ich will’s nicht dulden.“ Wie groß war ihre Bestürzung! Nicht einmal Trauerschnitte sollten sie sich machen und sich nicht ein bißchen tätowieren. Sie merkten, was es auf sich hatte mit der Unsichtbarkeit Gottes. Es bedeutete große Einschränkung, mit Jahwe im Bunde zu sein; da aber hinter Mose’s Verboten der Würgengel stand und sie nicht gern in die Wüste gejagt werden wollten, so kam ihnen das, was er verbot, bald fürchterlich vor, – anfangs nur im Zusammenhang mit der

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Strafe; diese aber verfehlte nicht, die Sache selbst zu einem Übel zu stempeln, bei dessen Begehung einem übel zumute war, der Strafe nicht einmal mehr zu gedenken. Halte dein Herz im Zaum, sagte er ihnen, und wirf nicht dein Auge auf eines anderen Habe, daß du sie haben möchtest, denn leicht bringt dich das dazu, sie ihm zu nehmen, sei es durch heimliche Entwendung, was eine Feigheit ist, oder indem du ihn totschlägst, was eine Roheit ist. Jahwe und ich wollen euch weder feig noch roh, sondern die Mitte davon sollt ihr sein, nämlich anständig. Habt ihr soviel begriffen? Stehlen ist schleichendes Elend, aber zu morden, sei es aus Wut oder Gier, oder gieriger Wut, oder wütender Gier, das ist eine lodernde Untat, und wer sie begeht, gegen den will ich mein Antlitz setzen, daß er nicht weiß, wo er sich bergen soll. Denn er hat Blut vergossen, da doch das Blut eine heilige Scheu und ein großes Geheimnis ist, mir eine Altargabe und eine Versöhnung. Blut sollt ihr nicht essen und kein Fleisch, wenn es im Blute ist, denn es ist mein. Wer nun aber gar beschmiert ist mit eines Menschen Blut, dessen Herz soll an kaltem Entsetzen kranken, und ich will ihn jagen, daß er vor sich selber davonläuft bis ans Ende der Welt. Sagt Amen dazu! Und sie sagten Amen, in der Hoffnung noch, daß mit dem Mord eben nur Tötung gemeint sei, zu dem nicht gar viele Lust hatten, oder doch nur gelegentlich. Aber es stellte sich heraus, daß Jahwe dem Wort einen so weiten Sinn gab wie dem Ehebruch, und alles mögliche darunter verstand, so daß Mord und Totschlag sehr früh begannen: bei jeder Verletzung des anderen durch Falschheit und Übervorteilung, wozu doch fast alle Lust hatten, floß schon sein Blut. Sie sollten nicht fälschlich handeln untereinander, nicht gegen jemanden aussagen als Lügenzeuge, rechtes Maß brauchen, rechte Pfunde und rechten Scheffel. Es war höchst unnatürlich, und vorderhand war es nur die natürliche Furcht vor Strafe, die einen Schein von Natürlichkeit warf auf Gebot und Verbot. Daß man seinen Vater und seine Mutter ehren solle, wie Mose verlangte, hatte ebenfalls einen weiteren Sinn, als man im ersten Augenblick gleich vermutete. Wer die Hand erhob gegen seine Erzeuger und ihnen fluchte, – nun ja, mit dem wollte er abfahren. Aber die Ehrerbietung sollte sich auf die erstrecken, die seine Erzeuger auch nur hätten sein können. Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen, die Arme kreuzen und dein dummes Haupt neigen, verstehst du mich? So will es der Gottesanstand. – Der einzige Trost war, daß, da der Nächste einen nicht erschlagen durfte, man Aussichten hatte, ebenfalls alt und grau zu werden, so daß dann die anderen vor einem aufstehen mußten.

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Zuletzt aber zeigte sich, daß Alter ein Gleichnis war für das Alte im allgemeinen, für alles, was nicht von heute und gestern war, sondern von weither kam, das fromm Überlieferte, den Väterbrauch. Dem sollte man Ehre erweisen und Gottesfurcht. So sollst du meine Feiertage heiligen, den Tag, da ich dich aus Ägypten führte, den Tag der ungesäuerten Brote, und immer den Tag, da ich von der Schöpfung ruhte. Meinen Tag, den Sabbat, sollst du nicht mit Arbeitsschweiß verunreinigen, ich verbiete es dir! Denn ich habe dich aus dem ägyptischen Diensthause geführt, mit mächtiger Hand und mit ausgestrecktem Arm, wo du ein Knecht warst und ein Arbeitstier, und mein Tag soll der Tag deiner Freiheit sein, die sollst du feiern. Sechs Tage lang sollst du ein Ackerer sein, oder ein Pflugmacher, oder ein Topfdreher, oder ein Kupferschmied, oder ein Schreiner, aber an meinem Tag sollst du ein rein Gewand anlegen und gar nichts sein, außer ein Mensch, und deine Augen aufschlagen zum Unsichtbaren. Du warst ein geschundener Knecht in Ägyptenland – gedenke dessen bei deinem Gehaben gegen die, die fremd sind unter dir, die Kinder Amaleks zum Beispiel, die dir Gott in die Hände gab, und schinde sie nicht! Sieh sie an wie dich selbst und gib ihnen gleiches Recht, oder ich will dreinfahren, denn sie stehen in Jahwe’s Schutz. Mache überhaupt nicht einen so dummdreisten Unterschied zwischen dir und den anderen, daß du denkst, du allein bist wirklich und auf dich kommt’s an, der andere aber ist nur ein Schein. Ihr habt das Leben gemeinsam, und es ist nur ein Zufall, daß du nicht er bist. Darum liebe nicht dich allein, sondern liebe ihn gleicherweise und tue mit ihm, wie du wünschen würdest, daß er mit dir täte, wenn er du wäre! Seid lieblich miteinander und küßt die Fingerspitzen, wenn ihr einander vorübergeht, und neigt euch mit Lebensart und sprecht den Gruß: „Sei heil und gesund!“ Denn es ist ebenso wichtig, daß jener gesund ist, wie daß du es bist. Und ist’s auch nur äußere Lebensart, daß ihr so tut und küßt die Fingerspitzen, so gibt euch die Gebärde doch etwas ins Herz von dem, was darin sein soll gegen euren Nächsten. – Sagt Amen zu alledem! Und sie sagten Amen.

16 Mit dem Amen aber war wenig getan, – sie sagten es nur, weil er der Mann war, der sie mit Glück aus Ägypten geführt, Pharao’s Wagen versenkt und die Schlacht um Kadesch gewonnen hatte, und bis ihnen leidlich, oder auch scheinbar nur, in Fleisch und Blut übergegangen war, was er sie lehrte und ihnen auferlegte, die Schranken, Gebot und Verbot, das dauerte lange, und ein

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gewaltiges Stück Arbeit war es, dessen er sich da unterwunden: aus dem Gehudel dem Herrn ein heiliges Volk aufzurichten, eine reine Gestalt, die da bestände vorm Unsichtbaren. Im Schweiß seines Angesichtes werkte er daran zu Kadesch, seiner Werkstatt, indem er seine weitstehenden Augen überall hatte, – metzte, sprengte, formte und ebnete an dem unwilligen Klotz mit zäher Geduld, mit wiederholter Nachsicht und öfterem Verzeihen, mit loderndem Zorn und strafender Unerbittlichkeit, und wollte doch oft verzagen, wenn sich das Fleisch, in dem er arbeitete, so widerspenstig und vergeßlich-rückfällig erwies, wenn wieder die Leute mit dem Schäuflein zu graben versäumten, Blindschleichen aßen, mit ihrer Schwester schliefen oder auch mit dem Vieh, sich Male stachen, mit Wahrsagern hockten, auf Diebstahl schlichen und einander totschlugen. „O Pöbelvolk!“ sagte er dann zu ihnen. „Ihr werdet sehen, der Herr wird einmal plötzlich über euch kommen und euch vertilgen.“ Zum Herrn selbst aber sagte er: „Was soll ich machen mit diesem Fleisch, und warum hast du deine Gnade von mir genommen, daß du mir aufhalst, was ich nicht tragen kann? Lieber will ich einen Stall ausmisten, der sieben Jahre nicht Wasser und Spaten gesehen, und ein Dschungel lichten mit bloßen Händen zum Fruchtfeld, als daß ich dir hieraus eine reine Gestalt errichte. Wie komme auch ich dazu, das Volk in den Armen zu tragen, als ob ich’s geboren hätte? Ich bin ihm nur halb verwandt, von Vaters Seite. Darum, so bitte ich dich, laß mich meines Lebens froh sein und schenk mir die Aufgabe, sonst aber erwürge mich lieber!“ Aber Gott antwortete ihm aus seinem Inneren mit so deutlicher Stimme, daß er’s mit Ohren hörte und aufs Angesicht fiel: „Gerade weil du ihnen nur halb verwandt bist, von seiten des Verscharrten, bist du der Mann, sie mir zu bearbeiten und sie mir aufzurichten zum heiligen Volk. Denn stecktest du mitten darin und wärst recht einer von ihnen, so sähst du sie nicht und könntest nicht Hand an sie legen. Außerdem ist das alles nur Ziererei, daß du wehklagst vor mir und willst dich losbitten vom Werke. Denn du siehst wohl, daß es schon anschlägt bei ihnen, und hast ihnen schon ein Gewissen gemacht, daß ihnen übel zumute ist, wenn sie Übles tun. Darum stelle dich nicht vor mir, als hättest du nicht die größte Lust zu deiner Plage! Es ist meine Lust, die du hast, Gotteslust ist es, und ohne sie würde dir das Leben zum Ekel, wie Manna dem Volk, schon nach wenigen Tagen. Nur wenn ich dich erwürgte, freilich, dann könntest du ihrer entraten.“ Das sah der Geplagte ein, nickte mit dem Kopf zu Jahwe’s Worten, während er auf dem Angesicht lag, und stand wieder auf zu seiner Plage. Er war aber ein geplagter Mann nicht nur als Bildner des Volks, sondern Plage und Kummer reichten in sein Familienleben hinein: Da gab es Ärger, Scheelsucht

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und Zank um seinetwillen, und war kein Friede in seiner Hütte, – durch seine Schuld, wenn man wollte; denn seine Sinne waren Ursach’ des Ungemachs, – die waren erregt vom Werk und hingen an einer Mohrin, an der bekannten Mohrin. Man weiß, daß er damals mit einer Mohrin lebte, außer mit seinem ersten Weibe Zipora, der Mutter seiner Söhne, – mit einer Person vom Lande Kusch, die schon als Kind nach Ägypten gelangt war, unter dem Geblüte in Gosen gelebt und sich dem Auszuge angeschlossen hatte. Zweifellos hatte sie schon manchen Mann erkannt, und dennoch nahm Mose sie an sich als Bettgenossin. In ihrer Art war sie ein prachtvolles Stück, mit Bergesbrüsten, rollendem Augenweiß, Wulstlippen, in die sich im Kuß zu versenken ein Abenteuer sein mochte, und einer Haut voller Würze. Mose hing gewaltig an ihr um seiner Entspannung willen und konnte nicht von ihr lassen, obgleich er dabei die Gegnerschaft seines ganzen Hauses zu tragen hatte: nicht nur seines midianitischen Weibes und ihrer Söhne, sondern besonders auch die seiner Halbgeschwister Mirjam und Aaron. Zipora nämlich, die viel von dem ebenen Weltsinn ihres Bruders Jethro hatte, fand sich noch leidlich mit der Rivalin ab, besonders da diese ihren weiblichen Triumph über sie verbarg und sich sehr unterwürfig gegen sie hielt; sie behandelte die Mohrin mehr mit Spott als mit Haß und begegnete auch dem Mose eher ironisch in dieser Sache, als daß sie ihrer Eifersucht hätte die Zügel schießen lassen. Die Söhne aber, Gersom und Elieser, die zu Joschua’s reisiger Schar gehörten, besaßen des Sinnes für Zucht zuviel, daß sie sich empörerisch gegen den Vater hätten stellen mögen; man merkte ihnen nur an, daß sie sich ärgerten und schämten um seinetwillen. Ganz anders lagen die Dinge bei Mirjam, der Prophetin, und Aaron, dem Salbungsvollen. Ihr Haß auf die Bett-Mohrin war giftiger als der der anderen, weil er mehr oder minder der Auslaß war für eine tiefere und allgemeinere Mißgunst, die sie gegen Mose verband: Seit längerem schon hatten sie begonnen, ihm sein nahes Verhältnis zu Gott, sein geistliches Meistertum, seine persönliche Erwähltheit zum Werk zu neiden, die sie großenteils für Einbildung hielten; denn sie erachteten sich für ebenso gut, ja besser als ihn und sagten untereinander: „Redet denn der Herr allein durch Mose? Redet er nicht auch durch uns? Wer ist dieser Mann Mose, daß er sich so über uns erhoben hat?“ – Dies lag dem Anstoß zugrunde, den sie an seinem Verhältnis zur Mohrin nahmen, und immer, wenn sie dem Bruder, zu seinem Leide, keifend mit Vorwürfen zusetzten von wegen der Leidenschaft seiner Nächte, bildeten diese nur den Ausgangspunkt für weitere Anklagen: bald kamen sie ab davon auf das Unrecht, das ihnen geschehe durch seine Größe.

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So waren sie einst, als der Tag sich neigte, bei ihm in der Hütte und quälten ihn, wie ich sagte, daß sie ihn zu quälen pflegten: die Mohrin hier und die Mohrin da, und daß er an ihren schwarzen Brüsten hinge, und welch ein Skandal es sei, welche Schmach für Zipora, sein erstes Weib, und welche Bloßstellung für ihn selbst, der doch beanspruche, ein Gottesfürst zu sein und Jahwe’s alleiniges Mundstück auf Erden [...]. „Beanspruche?“ sagte er. „Was Gott mir auferlegt hat zu sein, das bin ich. Wie häßlich aber von euch, wie gar sehr häßlich, daß ihr mir meine Lust mißgönnt und die Entspannung an meiner Mohrin Brüsten! Denn es ist keine Sünde vor Gott, und ist kein Verbot unter allen Verboten, die er mir eingab, daß man bei einer Mohrin nicht liegen solle. Nicht, daß ich wüßte.“ Ei, ja, sagten sie, er suche sich die Verbote aus nach eigenem Geschmack und werde wohl nächstens noch aufstellen, daß es geradezu geboten sei, bei Mohrinnen zu liegen, denn er halte sich ja für Jahwe’s alleiniges Mundstück. Dabei seien sie, Mirjam und Aaron, Amrams, des Levi-Enkels, echte Kinder, er aber sei doch am Ende nur ein Findling aus dem Schilf und solle ein wenig Demut lernen, denn daß er so auf der Mohrin bestände, ungeachtet des Ärgernisses, daraus spreche auch nur sein Stolz und Dünkel. „Wer kann für seine Berufenheit?“ sagte er. „Und wer kann dafür, daß er auf den brennenden Dornbusch stößt? Mirjam, ich habe immer deine prophetischen Gaben geschätzt und nie geleugnet, daß du es wohl kannst auf der Pauke [...].“ „Warum hast du mir dann meine Hymne ‘Roß und Mann’ verboten?“ fragte sie, „und mir untersagt, den Weibern vorzupauken im Reigen, weil angeblich Gott es seinen Scharen verwiesen habe, über den Untergang der Ägypter zu jubeln? Das war abscheulich von dir!“ „Und dich, Aaron“, fuhr der Bedrängte fort, „habe ich als Hohen Priester beim Stiftszelte angestellt und dir die Lade, das Ephod und die Eherne Schlange untergeben, daß du ihrer wartest. So schätze ich dich.“ „Das war das wenigste, was du tun konntest“, versetzte Aaron, „denn ohne meine Beredsamkeit hättest du nie das Volk für Jahwe gewonnen, bei der Blödigkeit deines Mundes, noch sie zum Auszug bewogen. Du aber nennst dich den Mann, der uns aus Ägypten geführt hat. Wenn du uns aber schätzest und dich nicht dünkelhaft über die echten Geschwister erhebst, warum hörst du dann nicht auf unsere Worte und verstockst dich gegen die Mahnung, daß du den ganzen Stamm in Gefahr bringst mit deiner Schwarzbuhlerei? Denn dieselbe ist ein gallenbitterer Trank für Zipora, dein midianitisch Weib, und

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ganz Midian stößest du damit vor den Kopf, also daß Jethro, dein Schwäher, uns noch mit Krieg überziehen wird, alles um deiner schwarzen Grille willen.“ „Jethro“, sagte Mose mit großer Selbstbeherrschung, „ist ein ebener, weltläufiger Herr, der wohl verstehen wird, daß Zipora – geachtet sei ihr Name! – einem hoch geplagten und schwer beauftragten Manne wie mir nicht mehr die nötige Entspannung zu bieten hat. Die Haut meiner Mohrin aber ist wie Zimmet und Nelkenöl in meiner Nase, an ihr hängt mein ganzer Sinn, und darum bitte ich euch, liebe Freunde, gönnt sie mir doch!“ Aber das wollten sie nicht. Sie heischten keifend, daß er sich nicht nur von der Mohrin trennen und sie seines Bettes verweisen solle, sondern daß er sie auch ohne Wasser hinaus in die Wüste stieße. Da schwoll dem Mose die Zornesader hoch auf, und heftig begann er mit den Fäusten zu beben an seinen Schenkeln. Bevor er jedoch noch den Mund öffnen konnte zu einer Erwiderung, geschah ein ganz anderes Beben, – Jahwe schritt ein, er setzte sein Angesicht gegen die hartherzigen Geschwister und nahm sich seines Knechtes Mose an, daß sie’s nimmer vergaßen. Etwas Entsetzliches und nie Dagewesenes geschah.

17 Die Grundfesten bebten. Die Erde stieß, schütterte und schlingerte unter ihren Füßen, daß sie sich auf ihnen nicht halten konnten, sondern alle drei hin und her taumelten in der Hütte, deren Tragepfeiler wie von Riesenfäusten geschüttelt wurden. Es wankte aber die Feste nicht nur nach einer Seite, sondern auf ganz verzwickte und schwindlichte Weise nach allen zugleich, so daß es ein Grauen war, und in einem damit geschah ein unterirdisches Brüllen und Poltern und von oben und außen ein Schall wie von einer sehr starken Posaune, dazu noch anderes Dröhnen, Donnern und Prasseln. Es ist sehr seltsam und eigentümlich beschämend, wenn man eben im Begriffe war, in Zorn auszubrechen, der Herr aber nimmt’s einem vom Munde und bricht selber aus – viel mächtiger, als man hätte ausbrechen können, und schüttelt die Welt, da man nur seine Fäuste hätte schütteln können. Mose war noch am wenigsten schreckensbleich, denn jederzeit war er auf Gott gefaßt. Aber mit Aaron und Mirjam, den Schreckensbleichen, stürzte er aus dem Hause: da sahen sie, daß die Erde ihr Maul aufgetan hatte, und ein großer Riß klaffte dicht vor der Hütte, der war sichtlich für Mirjam und Aaron bestimmt gewesen und hatte sie nur um ein paar Ellen verfehlt, sonst hätte sie beide die Erde verschlungen. Und sahen: der Berg im Morgen hinter der

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Wüste, Horeb oder Sinai, – ja, was begab sich mit Horeb, und was ging vor mit dem Berge Sinai! Ganz und gar stand der in Rauch und Flammen, schleuderte glühende Brocken zum Himmel mit fernem Knallgetöse, und Feuerbäche liefen an seinen Seiten hinunter. Sein Qualm, darin es blitzte, verdunkelte die Sterne über der Wüste, und ein langsamer Aschenregen fing an, auf die Oase Kadesch niederzugehen. Aaron und Miriam fielen auf ihre Stirnen, denn der ihnen zugedachte Riß hatte sie sehr entsetzt, und die Offenbarung Jahwe’s am Berge belehrte sie, daß sie zu weit gegangen waren und törlich gesprochen hatten. Aaron rief: „Ach, mein Herr, dieses Weib, meine Schwester, hat häßlich gefaselt, nimm doch meine Fürbitte an und laß die Sünde nicht auf ihr bleiben, womit sie sich versündigt hat an dem Gesalbten des Herrn!“ Und Mirjam schrie auch zu Mose und sprach: „Herr, man konnte nicht törlicher reden, als mein Bruder Aaron getan. Vergib ihm doch, und laß die Sünde nicht auf ihm bleiben, damit nicht Gott ihn verschlinge, weil er dich so lose mit deiner Mohrin geneckt!“ Mose war nicht ganz sicher, ob wirklich Jahwe’s Kundgebung den Geschwistern galt und ihrer Lieblosigkeit, oder ob es sich nur so traf, daß er eben jetzt an ihn seinen Ruf ergehen ließ, damit er wegen des Volks und des Bildungswerks mit ihm rede, – denn solches Rufs war er stündlich gewärtig. Er ließ sie aber bei ihrer Annahme und antwortete: „Ihr seht es. Fasset aber Mut, Kinder Amrams, ich will ein gutes Wort für euch einlegen droben bei Gott auf dem Berge, wohin er mich ruft. Denn nun sollt ihr sehen, und alles Volk soll sehen, ob euer Bruder entnervt ist von schwarzer Buhlschaft, oder ob Gottesmut in seinem Herzen wohnt wie in keinem sonst. Auf den feurigen Berg will ich gehen, ganz allein, empor zu Gott, daß ich seine Gedanken vernehme und furchtlos mit dem Fürchterlichen verkehre auf du und du, fern von den Menschen, aber in ihrer Sache. Denn längst schon weiß ich, daß Er alles, was ich sie gelehrt zu ihrer Heiligung vor Ihm, dem Heiligen, ins Bündige bringen will und ins Ewig-Kurzgefaßte, damit ich’s herniedertrage zu euch von Seinem Berge und das Volk es besitze im Stiftszelt, mit der Lade zusammen, dem Ephod und der Ehernen Schlange. Lebt wohl! Ich kann auch verderben in Gottes Aufruhr und in den Feuern des Berges, – das mag wohl sein, ich muß damit rechnen. Kehre ich aber wieder, so bringe ich euch aus Seinen Donnern das Ewig-Kurzgefaßte herab, Gottes Gesetz.“

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Wirklich war dies sein fester Vorsatz, auf Leben und Tod hatte er’s beschlossen. Denn um das Gehudel, das halsstarrige, immer rückfällige, in Gottesgesittung zu bannen und sie die Gebote fürchten zu lassen, war gar nichts wirksamer, als daß er sich bar und allein in Jahwe’s Schrecken emporgetraute, auf den speienden Berg, und ihnen von da das Diktat herniedertrüge, – dann, dachte er, würden sie’s halten. Darum, als sie von allen Seiten zu seiner Hütte gelaufen kamen, mit den Knien schlotternd ob dieser Zeichen und um des zerreißenden Wankens der Erde willen, das sich noch einmal und zweimal abgeschwächt wiederholte, verwies er ihnen das ordinäre Schlottern und sprach ihnen anständige Fassung zu: Gott rufe ihn, sagte er, um ihretwillen, und er wolle zu Jahwe steigen, oben auf den Berg, und ihnen, will’s Gott, etwas mitbringen. Sie aber sollten nach Hause gehen und sich sämtlich auf einen Auszug vorbereiten: heiligen sollten sie sich und ihre Kleider waschen und sich ihrer Weiber enthalten, denn morgen sollten sie ausziehen aus Kadesch in die Wüste, näher zum Berge, und sollten ihm gegenüber ein Lager aufschlagen und da auf ihn warten, bis er vom furchtbaren Stelldichein zu ihnen zurückkäme und ihnen vielleicht etwas mitbrächte. So geschah es, oder doch ähnlich. Denn Mose hatte, nach seiner Art, nur daran gedacht, daß sie ihre Kleider wüschen und sich den Weibern nicht nahten, Joschua ben Nun aber, der strategische Jüngling, gedachte dessen, was sonst noch nötig war für solchen Volksausflug, und sorgte mit seiner Schar für alles Erforderliche, was mitzunehmen war an Wasser und Zehrung für Tausende in der Wüste; ja auch für einen Verbindungsdienst sorgte er zwischen Kadesch und dem Lager draußen gegen den Berg. Kaleb, seinen Leutnant, ließ er mit einer Polizeiabteilung zu Kadesch bei denen zurück, die nicht mitziehen konnten oder wollten. Die anderen aber, als der dritte Tag gekommen und alle Zurüstung getroffen war, zogen aus mit Karren und Schlachttieren dem Berge entgegen, eine Tagereise und noch eine halbe weit: da machte Joschua ihnen ein Gehege, noch in gemessener Entfernung von Jahwe’s qualmendem Sitz, und verbot ihnen streng in Mose’s Namen, daß keiner sich solle beikommen lassen, auf den Berg zu steigen, noch auch nur dessen Fuß zu berühren: dem Meister allein sei es vorbehalten, so nahe zu Gott zu gehen; auch sei es lebensgefährlich, und wer den Berg anrühre, der solle gesteinigt oder mit dem Bogen erschossen werden. Leicht ließen sie sich’s gesagt sein, denn Pöbelvolk hat gar keine Lust, allzu nahe zu Gott zu gehen, und für den gemeinen Mann sah der Berg nicht im mindesten einladend aus, weder am Tage, wo Jahwe in einer dicken, von Blitzen durchzuckten Wolke auf ihm stand, noch gar bei Nacht, wo diese Wolke glühte und der ganze Gipfel dazu.

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Joschua war außerordentlich stolz auf den Gottesmut seines Herrn, der schon am ersten Tage, vor allem Volk, allein und zu Fuß, am Wanderstabe, nur ausgerüstet mit einer irdenen Flasche, ein paar Wecken und einigem Werkzeug: Haue, Meißel, Spachtel und Stichel, sich auf den Weg zum Berge gemacht hatte. Sehr stolz war der Jüngling auf ihn, und glücklich über den Eindruck, den solche heilige Kühnheit auf die Menge machen mußte. Aber auch besorgt war er um den Verehrten und hatte ihn sehr gebeten, sich doch ja nicht zu unmittelbar nahe an Jahwe heranzutrauen und sich vor der heißen Schmelzbrühe zu hüten, die an den Seiten des Berges herunterlief. Im übrigen, hatte er gesagt, werde er ihn schon dann und wann dort oben besuchen und bei ihm nach dem Rechten sehen, damit es dem Meister in Gottes Wildnis nicht am Nötigsten fehle.

18 Mose also durchschritt am Stabe die Wüste, die weitstehenden Augen auf den Berg Gottes gerichtet, der wie ein Ofen rauchte und öfters spie. Der Berg war eigentümlich gestaltet: mit umlaufenden Rissen und Einschnürungen, die ihn in verschiedene Stockwerke zu teilen schienen und hinanführenden Wegen glichen, solche aber nicht waren, sondern eben nur Abstufungen mit gelben Rückwänden. Den dritten Tag gelangte der Berufene über Vorhöhen an des Berges rauhen Fuß: da begann er hinaufzusteigen, die Faust um den Wanderstab geschlossen, den er vor sich her setzte, und stieg ohne Weg und Steg, durch geschwärztes, verbrühtes Gebüsch hindurch, manche Stunde lang Schritt vor Schritt immer höher in Gottes Nähe, so weit, wie eben ein Mensch es vermochte, denn allmählich benahmen die schweflich nach heißen Metallen riechenden Dämpfe, von denen die Luft erfüllt war, ihm den Atem, und Husten befiel ihn. Aber bis zur obersten Einschnürung und Terrasse kam er, unter dem Gipfel, wo man einen weiten Blick auf die kahle, wilde Gebirgskette zu beiden Seiten und hinaus in die Wüste bis gegen Kadesch hatte. Auch das Gehege des Volks sah man näherbei klein in der Tiefe sich abzeichnen. Hier fand der hustende Mose eine Höhle in der Bergwand, mit vorspringendem Felsdach, das ihn schützen konnte gegen geschleuderte Brocken und rinnende Brühe: darin nahm er Wohnung und richtete sich ein, um nach kurzem Verschnaufen das Werk in Angriff zu nehmen, das Gott ihm befahl, und das ihn unter beschwerlichen Umständen – denn die Metalldämpfe lagen ihm immer schwer auf der Brust und verliehen selbst dem Wasser einen Schwefelgeschmack – nicht weniger als vierzig Tage und vierzig Nächte hier oben festhalten sollte.

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Warum aber so lange? Müßige Frage! Das Ewig-Kurzgefaßte, das BündigBindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz galt es zu befestigen und in den Stein Seines Berges zu graben, damit Mose es dem wankelnden Pöbelvolk, seines verscharrten Vaters Blut, herniedertrage in das Gehege, wo sie warteten, und es unter ihnen stehe, von Geschlecht zu Geschlecht, unverbrüchlich, eingegraben auch in ihre Gemüter und in ihr Fleisch und Blut, die Quintessenz des Menschenanstandes. Gott befahl ihm laut aus seiner Brust, zwei Tafeln zu hauen aus dem Berg und das Diktat hineinzuschreiben, fünf Worte auf die eine und fünf auf die andere, im ganzen zehn Worte. Die Tafeln zu schaffen, zu glätten und zu einigermaßen würdigen Trägern des Ewig-Kurzgefaßten zu machen, war keine Kleinigkeit; für den einsamen Mann, mochte er auch die Milch einer Steinmetzentochter getrunken und breite Handgelenke haben, war es ein vielem Mißlingen ausgesetztes Stück Arbeit, das von den vierzig Tagen allein ein Viertel in Anspruch nahm. Die Beschriftung aber war ein Problem, dessen Lösung die Zahl der Bergtage Mose’s leicht sogar auf über vierzig hätte bringen können. Denn wie sollte er schreiben? Im thebanischen Internat hatte er sowohl die schmuckhafte Bildschrift Ägyptens nebst ihrer geläufigen Zurichtung wie auch das keilig-heilige Dreiecksgedränge vom Euphrat erlernt, in welchem die Könige der Welt auf Tonscherben ihre Gedanken tauschten. Er hatte dazu bei den Midianitern die Bekanntschaft eines dritten Bedeutungszaubers aus Augen, Kreuzen, Käfern, Bügeln und verschieden gestalteten Schlangenlinien gemacht, der, im Sinailande gebräuchlich, mit Wüsten-Ungeschick den Bildern Ägyptens abgesehen war, dessen Marken aber nicht ganze Worte und DingIdeen, sondern nur Teile von solchen, offene Silben bezeichneten, die zusammenzulesen waren. Keine dieser drei Methoden der Gedankenbefestigung wollte ihm passen, – aus dem einfachen Grunde nicht, weil eine jede an die Sprache gebunden war, die sie bedeutungsweis’ redete, und weil Mose sich vollkommen darüber im klaren war, daß er unmöglich und nimmermehr das Zehn-Worte-Diktat auf babylonisch, ägyptisch oder im Sinai-Beduinen-Jargon würde zu Stein bringen können. Das konnte und durfte allein in der Sprache des Vatergeblütes, der Mundart geschehen, die es redete, und in der er es sittlich bearbeitete, – ob sie’s nun würden ablesen können, oder nicht. Und wie sollten sie’s ablesen, da man es schon gleich gar nicht schreiben konnte und ein Bedeutungszauber für ihre Rede schlechterdings nicht zur Hand war? Inbrünstig wünschte Mose einen solchen herbei, – nämlich einen, den sie bald, recht bald würden ablesen können, also einen, den Kinder, wie sie waren, in wenigen Tagen würden lernen können, folglich auch einen, der in wenigen

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Tagen, mit Hilfe von Gottes Nähe, auszudenken und zu erfinden war. Denn ausgedacht und erfunden mußte die Schriftart sein, da sie nicht vorhanden war. Was für eine drängende und gedrängte Aufgabe! Er hatte sie im voraus gar nicht erwogen, hatte nur ‘Schreiben’ gedacht und nicht bedacht, daß man so ohne weiteres gar nicht schreiben könne. Sein Kopf glühte und rauchte davon wie ein Ofen und wie der Gipfel des Berges, befeuert vom inbrünstig volkstümlichen Wunsche. Ihm war, als gingen ihm Strahlen vom Kopf, als träten ihm Hörner oben aus der Stirn vor wünschender Anstrengung und einfacher Erleuchtung. Er konnte nicht Zeichen für alle Worte erfinden, deren das Blut sich bediente, oder für die Silben, aus denen sich seine Worte zusammensetzten. War auch der Wortschatz gering derer dort unten im Gehege, zu viele Marken würden es sein, daß man sie schüfe in gemessenen Bergtagen, und vor allem auch, daß man sie rasch möchte lesen lernen. Darum machte er’s anders, und Hörner standen ihm ab von der Stirn vor Stolz auf den Gotteseinfall. Er sammelte die Laute der Sprache, die mit den Lippen, mit Zunge und Gaumen und mit der Kehle gebildet wurden, indem er die wenigen leer tönenden davon absonderte, die, von jenen eingefaßt, abwechselnd in den Worten vorkamen und von ihnen erst zu Worten gemacht wurden. Auch der umgebenden Geräuschlaute waren es nicht übermäßig viele, kaum zwanzig; und wenn man ihnen Zeichen verlieh, die zum Hauchen und Fauchen, zum Mummeln und Rummeln, zum Platzen und Schmatzen nach Übereinkunft aufforderten, so konnte man sie, unter Aussparung der Grundlaute, die sich von selbst aus ihnen ergaben, zu Worten und Dingbildern zusammenfügen, – zu jedem beliebigen, zu allen, die es gab, nicht nur in der Sprache des Vaterbluts, sondern in allen Sprachen, – man hätte sogar ägyptisch und babylonisch damit schreiben können. Ein Gotteseinfall. Eine Idee mit Hörnern. Sie sah demjenigen ähnlich, von dem sie kam, dem Unsichtbaren und Geistigen, dessen die Welt war, und der, obgleich er sich das Blut dort unten besonders erlesen, der Herr auf Erden war allenthalben. Sie war auch höchst angemessen ihrem nächsten und dringendsten Zweck, für den und aus dem sie geboren war: dem Text der Tafeln, dem bündig-bindenden. Denn wohl war dieser zunächst gemünzt auf das Blut, das Mose aus Ägypten geführt, weil Gott und er gemeinsam Lust zu ihm hatten; wie aber mit der Handvoll Zeichen notfalls die Worte aller Sprachen der Völker geschrieben werden konnten, und wie Jahwe der Gott der Welt war allenthalben, so war auch, was Mose zu schreiben gedachte, das Kurzgefaßte, von solcher Art, daß es als Grundweisung und Fels des Menschenanstandes dienen mochte unter den Völkern der Erde – allenthalben.

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So probierte denn Mose feurigen Kopfes in loser Anlehnung an die Marken der Sinaileute Zeichen aus an der Felswand für die fallenden, prallenden und knallenden, die zischenden und gischenden, schnurrenden und murrenden Laute mit seinem Stichel, und als er die Sigel in einer gewissen Gefälligkeit wohl unterschieden beisammen hatte, – siehe, da konnte man die ganze Welt damit schreiben, das, was da Raum einnahm, und was keinen Raum einnahm, das Gemachte und das Gedachte, – reinweg alles. Und er schrieb, will sagen: er stichelte, meißelte und spachtelte in den splittrigen Stein der Tafeln, die er mühsam zuerst gemacht, und mit deren Erstellung diejenige der Buchstaben schon Hand in Hand gegangen war. Daß aber dies alles vierzig Tage dauerte, darüber kann es kein Wundern geben. Ein paarmal kam Joschua, sein Jüngling, zu ihm hinauf, um ihm Wasser und Fladen zu bringen, ohne daß das Volk es gerade zu wissen brauchte; denn es dachte, Mose lebte dort oben von Gottes Nähe und seinem Gespräch allein, und aus strategischen Gründen wünschte Joschua es bei dieser Annahme zu lassen. Darum waren seine Besuche nur kurz und geschahen bei Nacht. Mose aber saß vom Aufgang des Tageslichtes über Edom bis zu seinem Erlöschen hinter der Wüste und werkte. Man muß ihn sich vorstellen, wie er dort oben saß, mit bloßem Oberleib, die Brust mit Haaren bewachsen und von sehr starken Armen, die er wohl von seinem mißbrauchten Vater hatte, – mit seinen weitstehenden Augen, der eingeschlagenen Nase, dem geteilten, ergrauenden Bart, und, an einem Fladen kauend, zuweilen auch hustend von den Metalldämpfen des Berges, im Schweiße seines Angesichts die Tafeln behaute, abmeißelte, glattscheuerte, wie er vor den an die Felswand gelehnten kauerte und sorglich im Kleinen schuftend seine Krähenfüße, diese alles vermögenden Runen in die Flächen einsenkte, nachdem er sie mit dem Stichel vorgezeichnet. Er schrieb auf die eine Tafel: Ich, Jahwe, bin dein Gott; du sollst vor mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen. Du sollst meinen Namen nicht liederlich führen. Meines Tages gedenke, daß du ihn heiligst. Ehre deinen Vater und deine Mutter. Und auf die andere Tafel schrieb er: Du sollst nicht morden. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen.

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Du sollst deinem Nächsten nicht Unglimpf tun als ein Lügenzeuge. Du sollst kein begehrlich Auge werfen auf deines Nächsten Habe. Dies war es, was er schrieb, unter Auslassung der tönenden Leerlaute, die sich von selbst verstanden. Und immer war ihm dabei, als stünden ihm Strahlen gleich einem Paar Hörner aus dem Stirnhaar hervor. Als Joschua das letzte Mal auf den Berg kam, blieb er ein wenig länger, zwei ganze Tage; denn Mose war noch nicht fertig mit seiner Arbeit, und sie wollten zusammen hinuntergehen. Der Jüngling bewunderte aufrichtig, was sein Meister geleistet, und tröstete ihn ob einiger Lettern, die trotz aller aufgewandten Liebe und Sorgfalt zu Mose’s Kummer zersplittert und unkenntlich waren. Aber Joschua versicherte ihm, daß der Gesamteindruck dadurch keinen Abtrag leide. Was Mose zuletzt noch tat in Joschua’s Anwesenheit, war, daß er die vertieften Buchstaben mit seinem Blute ausmalte, damit sie sich besser hervorhöben. Kein anderer Farbstoff war zur Hand, womit es zu leisten wäre; so stach er sich mit dem Stichel in den starken Arm und wischte sorglich das tröpfelnde Blut in die Lettern, daß sie rötlich leuchtend im Steine standen. Als die Schrift trocken war, nahm Mose unter jeden Arm eine Tafel, gab seinen Stab, an dem er gekommen war, dem Jüngling zu tragen, und so stiegen sie miteinander vom Berge Gottes herab, dem Gehege des Volkes zu, gegenüber dem Berg in der Wüste.

19 Als sie nun in gewisse Nähe des Lagers gekommen waren, in entfernte Hörweite, drang ein Geräusch zu ihnen, dumpf, mit Gequiek, wovon sie sich keine Rechenschaft zu geben wußten. Mose war es, der es als erster hörte, aber es war Joschua, der es zuerst zur Sprache brachte. „Hörst du den seltsamen Krach da“, fragte er, „den Tumult, das Getöse? Da ist was los, meiner Meinung nach, eine Rauferei, ein Handgemenge, wenn ich nicht irre. Und es muß heftig und allgemein sein, daß man’s hört bis hierher. Ist es, wie ich denke, so ist’s gut, daß wir kommen.“ „Daß wir kommen“, antwortete Mose, „ist jedenfalls gut, aber soviel ich unterscheide, ist das keine Schlägerei und kein Raufgemenge, sondern eine Lustbarkeit und etwas wie ein Singetanz. Hörst du nicht höheres Gejohle und Paukenkrach? Joschua, was ist in die gefahren? Laß uns ausschreiten!“ Damit nahm er seine beiden Tafeln höher unter die Achseln und schritt schneller aus mit dem kopfschüttelnden Jehoschua. „Ein Singetanz [...] Ein Singetanz [...]“, wiederholte er immer nur beklommen und schließlich in offenem Schrecken; denn daß man es mit keiner Balgerei zu tun hatte, bei der einer oben lag

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und der andere unten, sondern mit einem Gaudium in Einigkeit, litt bald keinen Zweifel mehr, und fragte sich nur, was für eine Art von Einigkeit das war, in der sie jodelten. Auch das fragte sich bald nicht mehr, wenn es sich je gefragt hatte. Die Bescherung war fürchterlich. Als Mose und Joschua das hohe Balkentor des Lagers durcheilten, bot sie sich ihnen dar in schamloser Unzweideutigkeit. Das Volk war los. Es hatte alles abgeworfen, was Mose ihnen heiligend auferlegt, die ganze Gottesgesittung. Es wälzte sich in haarsträubender Rückfälligkeit. Gleich hinter dem Tor war ein freier Platz, von Hütten frei, der Versammlungsplatz. Da ging es zu, da trieben sie es, da wälzten sie sich, da feierten sie eine elende Freiheit. Vor dem Singetanz hatte alles sich vollgefressen, man sah es auf den ersten Blick, überall trug der Platz die Spuren der Schlachtung und Völlerei. Und wem geopfert, geschlachtet, sich vollgeschlagen? Da stand’s. Inmitten der Blöße auf einem Stein, einem Altar-Sockel stand es, ein Bild, ein Machwerk, ein Götzenunfug, ein güldenes Kalb. Es war kein Kalb, es war ein Stier, der richtige, ordinäre Fruchtbarkeitsstier der Völker der Welt. Ein Kalb heißt es nur, weil es nicht mehr als mäßig groß war, eher klein, auch mißgegossen und lächerlich gestaltet, ein ungeschickter Greuel, aber als Stier allerdings nur allzugut zu erkennen. Um das Machwerk herum ging ein vielfacher Ringelreigen, wohl ein Dutzend Kreise, von Männern und Weibern, Hand in Hand, zu Cymbelgeläut und Paukenknall, die Köpfe verdrehten Auges im Nacken, die Knie zum Kinn geschleudert, mit Kreischen, Röhren und krasser Huldigung der Gebärden. Verschieden herum ging es, ein Schandringel immer nach rechts, der andere nach links; im Innern aber des Wirbels, vorm Kalbe, sah man Aaron hopsen, in dem langen Ärmelkleid, das er als Verweser der Stiftshütte trug, und das er hochgerafft hatte, damit er seine langen, haarigen Beine schleudern könnte. Und Mirjam paukte den Weibern vor. Dies war nur die Reigenrose ums Kalb. Aber ringsherum in der Freiheit ereignete sich das Zubehör; es ist hart, zu gestehen, wie das Volk sich entblödete. Einige aßen Blindschleichen. Andere lagen bei ihrer Schwester und das öffentlich, dem Kalbe zu Ehren. Wieder andere saßen da einfach und leerten sich aus, des Schäufleins uneingedenk. Man sah Männer dem Stier ihre Kraft verbrennen. Irgendwo tachtelte einer seine leibliche Mutter rechts und links. Bei diesem entsetzlichen Anblick schwoll Mosen die Zornesader zum Platzen. Hochroten Angesichts schlug er sich, die Ringe des Reigens zerreißend, der taumelnd zum Stillstand kam und dessen Verüber mit betretenem Grinsen glotzten, da sie den Meister erkannten, geraden Wegs zum Kalbe durch, dem

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Kerne, der Quelle, der Ausgeburt des Verbrechens. Hoch hob er die eine Gesetzestafel mit gewaltigen Armen und schmetterte sie nieder auf das lachhafte Biest, daß es in den Beinen zusammenknickte, schlug wieder und aber zu mit solcher Wut, daß zwar auch die Tafel in Stücke ging, das Machwerk aber bald eine formlose Masse war; schwang dann die zweite Tafel und gab dem Greuel den Rest, zermalmte ihn gänzlich, und, da die zweite noch heil war, zerschmetterte er sie mit einem Hieb am steinernen Sockel. Da stand er mit bebenden Fäusten und stöhnte aus tiefster Brust: „Du Pöbelvolk, du gottverlassenes! Da liegt, was ich dir herniedergetragen von Gott und was Er für dich geschrieben mit eigenem Finger, daß es dir ein Talisman sei gegen die Misere der Unbildung! Da liegt’s in Scherben bei deines Abgottes Trümmern! Was fang’ ich nun an mit dir vor dem Herrn, daß er dich nicht fresse?“ Und sah Aaron, den Springer, bei sich stehen, mit niedergeschlagenen Augen und öligen Löckchen im Nacken, lang und blöde. Den nahm er vorn am Gewand und schüttelte ihn und sprach: „Wo kommt der güldene Belial her, der Unflat, und was hat das Volk dir getan, daß du es in solches Verderben stößest, wo ich auf dem Berge bin, und böckelst ihm selber vor im Luderreigen?“ Aaron aber antwortete: „Ach, lieber Herr, laß deinen Zorn über mich nicht ergrimmen und auch über meine Schwester nicht, wir mußten weichen. Du weißt, daß dies Volk böse ist, es hat uns gezwungen. Verzogst du doch allzulange und bliebst auf dem Berg eine Ewigkeit, so dachten wir alle, du kämest nicht mehr. Da sammelte sich das Volk wider mich und schrie: ‘Niemand weiß, was aus diesem Mann Mose geworden ist, der uns aus Ägypten geführt hat. Er kommt nicht mehr. Wahrscheinlich hat ihn das Maul des Berges verschlungen, womit er speit. Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen können, wenn Amalek kommt! Wir sind ein Volk wie ein anderes und wollen eine Ausgelassenheit haben vor Göttern, die wie anderer Leute Götter sind!’ So sprachen sie, Herr, denn, mit Verlaub gesagt, sie glaubten, sie wären dich los. Sage aber, was hätte ich machen sollen, da sie sich wider mich sammelten? Ich befahl ihnen an, mir alle ihre güldenen Ohrringe zu bringen von ihren Ohren, die schmolz ich im Feuer und machte eine Form und goß das Kälblein, ihnen zum Gott.“ „Ganz unähnlich gegossen war’s auch noch“, warf Mose verächtlich ein. „Es eilte so sehr“, erwiderte Aaron, „denn schon den nächsten Tag, das ist heute, wollten sie ihre Ausgelassenheit haben vor herzhaften Göttern. Darum

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händigte ich ihnen das Gegossene ein, dem du alle Ähnlichkeit doch nicht absprechen solltest, und sie freuten sich und sprachen: ‘Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten geführt haben.’ Und wir bauten einen Altar davor, und sie brachten Brandopfer und Dankopfer und aßen, und danach spielten und tanzten sie etwas.“ Mose ließ ihn stehen und schlug sich wieder zurück durch die aufgelösten Glieder des Reigens zum Tore hin, da stellte er sich unters Borkengekreuz mit Jehoschua und rief aus aller Macht: „Her zu mir, wer dem Herrn angehört!“ Da kamen viele zu ihm, die gesunden Herzens waren und es nicht gern getrieben hatten, und Joschua’s Waffenjugend sammelte sich um die beiden. „Ihr Unglückseligen“, sagte Mose, „was habt ihr getan, und wie soll ich nun eure Sünde versühnen vor Jahwe, daß er euch nicht verwirft als ein unverbesserlich halsstarrig Volk und frißt euch auf? Macht euch einen güldenen Belial, sobald ich den Rücken drehe! Schmach über euch und mich! Seht ihr die Trümmer da, ich meine nicht die des Kalbes, die hole die Pest, ich meine die anderen? Das ist die Gabe, die ich euch verhieß und euch herniederbrachte, das Ewig-Kurzgefaßte, der Fels des Anstandes. Die zehn Worte sind’s, die ich bei Gott für euch schrieb in euerer Sprache, und schrieb sie mit meinem Blut, mit dem Blut meines Vaters, mit eurem Blute schrieb ich sie. Nun liegt das Mitgebrachte in Scherben.“ Da weinten viele, die es hörten, und war ein großes Schluchzen und Schneuzen auf dem Lagerplatz. „Es wird sich vielleicht ersetzen lassen“, sagte Mose. „Denn der Herr ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung – und läßt niemand ungestraft“, donnerte er plötzlich, indem ihm das Blut zu Kopfe schoß und die Ader ihm wieder zum Platzen schwoll, „sondern heim suche ich, sagte er, die Missetat bis ins dritte und vierte Glied als der Eiferer, der ich bin. Hier wird ein Gericht gehalten werden“, rief er, „und eine blutige Reinigung verordnet sein, denn mit Blut war’s geschrieben. Ausgemacht sollen die Rädelsführer sein, die da zuerst nach güldenen Göttern geschrien und frech behauptet haben, das Kalb habe euch aus Ägypten geführt, wo ich allein es getan habe – spricht der Herr. Die sollen des Würgengels sein, und soll nicht die Person dabei angesehen werden. Zu Tode soll man sie steinigen und mit Geschoß erschießen, und wären’s dreihundert! Die anderen aber sollen allen Schmuck von sich tun und trauern, bis ich wiederkehre – denn ich will wieder hinaufgehen auf Gottes Berg und sehen, was ich allenfalls noch für dich ausrichten kann, halsstarrig Volk!“

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20 Mose wohnte den Hinrichtungen nicht bei, die er des Kalbes wegen angeordnet hatte, sie waren des stracken Jehoschua’s Sache. Er selbst war wieder auf dem Berg, vor seiner Höhle unter dem rumorenden Gipfel, während das Volk trauerte, und blieb abermals vierzig Tage und vierzig Nächte allein in den Dünsten. Warum aber wieder so lange? Die Antwort lautet: Nicht nur, weil Jahwe ihn anwies, die Tafeln noch einmal zu machen und das Diktat aufs neue hineinzuschreiben; denn damit ging es ein wenig schneller diesmal, da er schon Übung hatte und vor allem die Schrift schon besaß. Sondern auch, weil er mit dem Herrn, bevor dieser die Erneuerung gewährte, einen langen Kampf zu bestehen hatte, ein Ringen, bei dem Zornmut und Barmherzigkeit, Werkmüdigkeit und Liebe zum Unternommenen einander das Feld streitig machten, und bei dem Mose viel Überredungskunst und klugen Appell aufbieten mußte, um Gott davon abzuhalten, daß er den Bund für gebrochen erkläre und sich nicht nur von dem halsstarrigen Pöbelvolk lossage, sondern es auch zerscheitere, wie Mose in loderndem Zorn mit den Tafeln des Gesetzes getan. „Ich will nicht vor ihnen herziehen“, sagte Gott, „um sie ins Land der Väter zu führen, bitte mich nicht darum, ich kann mich auf meine Geduld nicht verlassen. Ich bin ein Eiferer und lodere, und du sollst sehen, eines Tages kenne ich mich nicht mehr und fresse sie unterwegen auf.“ Und er bot Mosen an, er wolle das Volk, das nun einmal mißgegossen sei wie das güldene Kalb und an dem nichts zu bessern sei, – unmöglich könne man sich’s zum heiligen Volk aufrichten, sondern nichts bleibe übrig, als es zusammenzuschlagen, – er bot ihm an, Israel, wie es da sei, zu zerschmettern und auszutilgen, ihn selbst aber, Mosen, zum großen Volk zu machen und mit ihm im Bunde zu leben. Was Mose aber nicht wollte, sondern: „Nein, Herr“, sagte er, „vergib ihnen ihre Sünde; wo nicht, so tilge mich auch aus deinem Buch, denn ich will’s nicht überleben und kein heilig Volk werden für meine Person statt ihrer.“ Und er nahm Gott bei der Ehre und sprach: „Stelle dir, Heiliger, das doch vor: Wenn du dies Volk nun tötest wie einen Mann, so würden die Heiden sagen, die das Geschrei vernähmen: ‘Pah! Der Herr konnte mitnichten dies Volk ins Land bringen, das er ihnen geschworen hatte, er war’s nicht imstande; darum hat er sie geschlachtet in der Wüste.’ Willst du dir das nachsagen lassen von den Völkern der Welt? Darum laß nun die Kraft des Herrn groß werden und sei gnädig der Missetat dieses Volkes nach deiner Barmherzigkeit!“

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Namentlich dies Argument war es, womit er Gott überwand und ihn zur Vergebung bestimmte, wenn auch noch immer mit Einschränkung nur, denn die Verkündigung wurde ihm allerdings, daß von diesem Geschlechte keiner das Land der Väter sehen solle, außer Joschua und Kaleb. „Eure Kinder“, entschied der Herr, „will ich hineinbringen. Aber die jetzt über zwanzig sind ihres Alters, die sollen das Land nicht mehr sehen, sie sind mit ihren Leibern der Wüste verfallen.“ „Gut, Herr, es soll gut sein“, antwortete Mose. „Dabei wollen wir’s lassen.“ Denn da der Bescheid mit seinen und Joschua’s eigenen Absichten wohl übereinstimmte, argumentierte er nicht weiter dagegen. „Laß mich nun die Tafeln erneuern“, sagte er, „daß ich den Menschen dein Kurzgefaßtes herniederbringe. Am Ende war es ganz gut, daß ich die ersten im Zorn zerschmetterte. Es waren ohnedies ein Paar ungeratene Lettern darin. Ich will dir nur gestehen, daß ich unterderhand daran dachte, als ich sie zerscheiterte.“ Und wieder saß er, von Joschua heimlich getränkt und geatzt, und metzte und meißelte, schrubbte und glättete, – saß und schrieb, mit dem Handrücken manchmal die Stirn wischend, griffelnd und spachtelnd die Schrift in die Tafeln, – die wurden besser sogar als das erstemal. Danach strich er wieder die Lettern mit seinem Blute aus und stieg hinab, das Gesetz unter den Armen. Israel aber ward angesagt, daß es die Trauer beenden und seinen Schmuck wieder anlegen solle, – ausgenommen die Ohrringe natürlich: die waren zu bösem Zwecke vertan. Und alles Volk kam vor Mose, daß er ihm das Mitgebrachte überhändige, die Botschaft Jahwe’s vom Berge, die Tafeln mit den zehn Worten. „Nimm sie hin, Vaterblut“, sagte er, „und halte sie heilig in Gottes Zelt, was sie aber besagen, das halte heilig bei dir im Tun und Lassen! Denn das BündigBindende ist es und Kurzgefaßte, der Fels des Anstandes, und Gott schrieb’s in den Stein mit meinem Griffel, lapidar, das A und O des Menschenbenehmens. In eurer Sprache hat er’s geschrieben, aber in Sigeln, mit denen man notfalls alle Sprachen der Völker schreiben kann; denn Er ist der Herr allenthalben, darum ist sein das ABC, und seine Rede, möge sie auch an dich gerichtet sein, Israel, ist ganz unwillkürlich eine Rede für alle. In den Stein des Berges metzte ich das ABC des Menschenbenehmens, aber auch in dein Fleisch und Blut soll es gemetzt sein, Israel, so daß jeder, der ein Wort bricht von den zehn Geboten, heimlich erschrecken soll vor sich selbst und vor Gott, und soll ihm kalt werden ums Herz, weil er aus Gottes Schranken trat. Ich weiß wohl, und Gott weiß es im voraus, daß seine Gebote nicht werden gehalten werden; und wird verstoßen werden gegen die Worte immer

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und überall. Doch eiskalt ums Herz soll es wenigstens jedem werden, der eines bricht, weil sie doch auch in sein Fleisch und Blut geschrieben sind und er wohl weiß, die Worte gelten. Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ‘Sie gelten nicht mehr’. Fluch ihm, der euch lehrt: ‘Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete.’ Der ein Kalb aufrichtet und spricht: ‘Das ist euer Gott. Zu seinen Ehren tuet dies alles und dreht euch ums Machwerk im Luderreigen!’ Er wird sehr stark sein, auf goldenem Stuhl wird er sitzen und für den Weisesten gelten, weil er weiß: Das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf. Das aber wird auch alles sein, was er weiß, und wer nur das weiß, der ist so dumm wie die Nacht, und wäre ihm besser, er wäre nie geboren. Weiß er doch von dem Bunde nichts zwischen Gott und Mensch, den keiner brechen kann, weder Mensch noch Gott, denn er ist unverbrüchlich. Blut wird in Strömen fließen um seiner schwarzen Dummheit willen, Blut, daß die Röte weicht aus den Wangen der Menschheit, aber sie kann nicht anders, gefällt muß der Schurke sein. Und will meinen Fuß aufheben, spricht der Herr, und ihn in den Kot treten, – in den Erdengrund will Ich den Lästerer treten hundertundzwölf Klafter tief, und Mensch und Tier sollen einen Bogen machen um die Stätte, wo Ich ihn hineintrat, und die Vögel des Himmels hoch im Fluge ausweichen, daß sie nicht darüber fliegen. Und wer seinen Namen nennt, der soll nach allen vier Gegenden speien und sich den Mund wischen und sprechen: ‘Behüte!’ Daß die Erde wieder die Erde sei, ein Tal der Notdurft, aber doch keine Luderwiese. Sagt alle Amen dazu!“ Und alles Volk sagte Amen.

Kommentare

KOMMENTAR I

Volker Ladenthin

Ironie und Sittlichkeit Thomas Manns Moses-Erzählung „Das Gesetz“ 1. Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte 1.1 Thomas Manns Rekonstruktion von Zeit, Anlaß und Intention „In unserem New Yorker Hotel suchte uns eines Tages der Agent Armin Robinson auf, um uns, recht bestechend, den Plan eines nicht nur auf englisch, sondern in vier, fünf anderen Sprachen noch zu veröffentlichenden Buches zu entwickeln, das den Titel ‘The Ten Commandments’ führen sollte. Die Idee war moralischpolemisch. Zehn international bekannte Schriftsteller sollten in dramatischen Erzählungen die verbrecherische Mißachtung des Sittengesetzes, jedes einzelnen der zehn Gebote behandeln, und von mir wünschte man, gegen ein Honorar von eintausend Dollar, eine kurze essayistische Einleitung. [...] Ich sagte zu und unterzeichnete zwei Tage später [...] einen [...] Vertrag, [...] mit dem ich [...] Rechte [...] auf eine Arbeit besiegelte, [...] mit der ich es weit ernster nehmen sollte, als der Anlaß forderte.“1

Mit diesen Worten scheint Thomas Mann den Entstehungsanlaß seiner „long short story“2 „Das Gesetz“ biographisch für die Nachwelt zu dokumentieren. Der Bericht findet sich in seinem großen Essay über die Entstehung des Doktor Faustus und betrifft zeitlich die künstlerische Latenzphase nach dem Abschluß der Josephs-Tetralogie und vor dem Beginn des Doktor FaustusRomans im Jahre 1942. Das beschriebene Gespräch fand laut Tagebuch am 24. November 1942 statt, aber es war – nicht ganz in Übereinstimmung mit den Formulierungen im Essay3 – nicht der Ursprung des Projekts, sondern nur 1

2 3

Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. MK 115. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Dritter Band. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 88 ff., hier S. 93. Thomas Mann, Brief an Agnes E. Meyer vom 28.I.1943, in: Thomas Mann, Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt/M. 1979, S. 293. Zudem fand die Unterzeichnung – zumindest laut Tagebuch – nicht zwei Tage später, also am 26. November statt, da Thomas Mann (Tagebücher 1940–1943. Hg. v. Peter de

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die Verabredung zur Anfertigung eines Textes. Am 21. Juli 1942 erwähnt Thomas Mann das Projekt zum ersten Mal, allerdings nicht das Projekt eines Buches, sondern den „Plan des 10 Gebote-Propaganda-Films“4. Robinson hatte die Idee, einen Episodenfilm zu drehen, der die Verbrechen der Nazis in kleinen Geschichten aufzeigt, die an den 10 Geboten orientiert waren. Bis zum 1. Oktober 1942 ist vom Filmprojekt die Rede, vom 24. November 1942 an spricht Th. Mann nur noch vom Buchprojekt. Die biographische Passage im Doktor Faustus-Essay ist nicht nur in biographischer, sondern auch in literaturtheoretischer Hinsicht bedeutsam; sie spricht an, was die folgende Untersuchung leiten wird. Dem Biographen fällt auf, daß Thomas Mann, trotz der scheinbaren Offenheit und Offenlegung, die wirkliche Entstehungsgeschichte verschleiert, die nun nur noch mit Hilfe der Tagebücher rekonstruierbar wird. Zudem beschreibt Thomas Mann die Intention des Projekts als „moralisch-polemisch“ gegen die „verbrecherische Mißachtung des Sittengesetzes“ der Nationalsozialisten gerichtet – eines zweifellos ernsten Anliegens im Hinblick auf den Anlaß –, schließt aber den Satz dann erwartungswidersprechend mit dem Bekenntnis, er habe die Arbeit „ernster genommen, als der Anlaß forderte“: Welcher Anlaß ist gemeint? Der der realen Geschichte (also die Mißachtung des Sittengesetzes durch die Nationalsozialisten) oder der Anlaß des Sammelbandes (also die moralisch-polemische Absicht)? Sind beides keine Anlässe, Fordernisse des Tages, die man in den 40er Jahren nicht ‘ernst’ genug nehmen konnte – und mußte? Thomas Mann distanziert sich, im gleichen Moment, wie er den Anlaß ernst nimmt, von diesem als eines Anlasses, über den er nun sagt, daß man ihn gar nicht so ernst zu nehmen hätte brauchen – und distanziert sich noch einmal von der Distanzierung – indem er sagt, daß er es aber doch getan habe: den ernsten Anlaß, der gar nicht so viel Ernst forderte, ernst genommen. Eine zweite Eigenheit fällt an der zitierten autobiographischen Passage auf, nämlich die Frage, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verstehen sind, als Mißachtung des Sittengesetzes (von dem es nur eines gibt: nämlich sittlich zu handeln) oder als Mißachtung jedes „einzelnen der zehn Gebote“ – wobei vorzustellen ist, daß es weitere Gebote und Verbote gibt. Soll also das Handeln der Nationalsozialisten als illegitim oder als illegal verstanden werden? Richtet sich die Empörung dagegen, daß die Nationalsozialisten gegen das Prinzip der Gerechtigkeit oder gegen positives Recht verstoßen haben?

4

Mendelssohn. Frankfurt/M. 1982) am 28.11. notiert: „Mit Robinson beim Rechtsanwalt zur Unterfertigung des Kontraktes über den 10 Gebote-Beitrag“ notiert und erneut am 2.12.1942: „Signierung des Kontrakts mit Robinson“. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 21.VII.42, S. 454.

Kommentar I

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Einige Seiten später verdeutlicht Thomas Mann seine Sichtweise in dieser Frage: Sein Beitrag soll sich mit „dem Sittengesetz überhaupt“ beschäftigen, und er ergänzt, daß damit „die menschliche Zivilisation selbst“ gemeint sei5. Wenn aber die kurze Passage so zu verstehen ist, daß dem Nationalsozialismus nicht nur ein Verstoß gegen geltendes Recht, sondern gegen die Gerechtigkeit – das Sittengesetz überhaupt – vorzuwerfen sei, wieso kommt Thomas Mann dann zu der Bewertung, daß er eine Arbeit begann, die er „weit ernster“ nahm, „als der Anlaß forderte.“ Noch einmal ist zu fragen: Welcher Anlaß wäre noch ernster zu nehmen als ein Verstoß gegen „das Sittengesetz“? Auch diese Frage wird im Folgenden zu verfolgen sein. Eine dritte Eigenheit fällt auf: Während „zehn international bekannte Schriftsteller“ in „dramatischen Erzählungen“ die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen jedes der 10 Gebote behandeln sollten, wurde Thomas Mann – dem dann elften Schriftsteller? – „eine kurze essayistische Einleitung“ abgefordert. Thomas Manns Beitrag wurde aber schließlich nicht Essay, sondern „short novel [...]“6 genannt, und Thomas Mann wurde zu einem der insgesamt zehn Autoren. So steht sein Text als erste Erzählung im Sammelband – sie ist (schon von der Anzahl 10=10 Gebote) also doch nicht ein Text über ‘das Gesetz’, sondern ein Text über ‘eines der Gebote’, nämlich das erste. Nun könnte Thomas Mann schlicht seine Pläne geändert haben – das hat er auch – aber gleichwohl bleibt der essayistische Anspruch erhalten: „Längst hatte ich mich gefragt, warum ich zu jenem Buch der Zelebritäten nur mit einem essayistischen Vorwort, – warum nicht lieber mit […] einer Erzählung“ einen Beitrag leisten könne. Thomas Mann würde sich mit dieser Entscheidung in die Riege der „zehn international bekannten Schriftsteller“ einordnen – aber das geschieht nun doch nicht, denn seine Erzählung ist nicht Erzählung in der Reihe der anderen Erzählungen, sondern wird als „Vorspiel auf der Orgel“7 – also den anderen Erzählungen als einleitende Erzählung – dem „GeboteBuch“8 voranstehen. Zudem soll sie nicht – wie alle anderen Erzählungen – eines der zehn Gebote betreffen, sondern die „Erzählung von der Erlassung der Gebote“ sein – also ihre Einführung oder Fundierung betreffen. Damit würden den zehn Geboten neun Erzählungen gegenüberstehen, und eine Erzählung, die gar nicht ein einzelnes Gebot, sondern deren „Erlassung“ – das 5 6 7 8

Alle drei Zitate: Thomas Mann, Entstehung, S. 95. Thomas Mann zitiert aus der Rezension Mareks, in: Mann, Thomas: Tagebücher 1940– 43, 20.XII.1943, S. 660. Thomas Mann, Entstehung, S. 95. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 20.XII.1942, S. 511.

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Wort ist im Original kursiv gedruckt – beträfe, also doch Vorwortcharakter hätte. Die Erzählung Thomas Manns gehört zur Reihe und steht doch außerhalb dieser Reihe; sie ist „Erzählung“ und doch „Vorspiel“ zu den Erzählungen – und damit eben nicht nur Erzählung, sondern doch auch wieder einführendessayistisch. Auch hier zeigt sich ein „Sowohl-als-auch“, ein Pendeln zwischen dem Besonderen der Erzählung und dem Allgemeinen des Essays. Und es fragt sich weiter: Welchem literarischen Genre ist die musikalische Form des „Vorspiels“ zuzurechnen? Eine erzählerische Einleitung, die Diskursives mit Narrativem verbindet? Auch hier muß eine genauere Untersuchung Klärung verschaffen. Dabei müssen die Einzelschritte bei der Entstehung der Geschichte nicht untersucht werden, weil hier die Befunde mit den neuen Quellen publiziert vorliegen9.

1.2 Die Editionen Vor einer Analyse ist die Editionsgeschichte noch kurz nachzutragen: Die Erzählung bekam zuerst den englischen Titel „Thou shalt have no other gods before me“ und wurde – nach einigen Vorversuchen10 – schließlich von Georg R. Marek ins Englische übersetzt. Der englischsprachige Text erschien wie geplant zuerst in dem Sammelband „The Ten Commandments. Ten Short Novels of Hitler’s War Against the Moral Code“ im Verlag Simon and Schuster, New York 1943. Die deutsche Edition der Anthologie greift auf die dritte amerikanische Auflage (1944) dieser Anthologie zurück und erschien erstmalig im August 198811; Thomas Manns Text dieser Ausgabe wurde nicht aus dem Englischen rückübersetzt; vielmehr griff das Lektorat indirekt auf das Original zurück, in diesem Fall auf eine Druckvorlage, die in einer Einzelpublikation im Jahre 1983 erschienen war12. 1945 erschien eine Einzelausgabe der Erzählung im Verlag Alfred Knopf, New York; die Erzählung trug nun den Titel „The Table of the Law“ und war von 9 10 11

12

Klaus Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns. Frankfurt/M. 1998. Vgl. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 1.V.1943, S. 569 f. Die zehn Gebote. Zehn Erzählungen über Hitlers Krieg gegen die Moral. Mit Beiträgen von Thomas Mann, Rebecca West, Franz Werfel, John Erskine, Bruno Frank, Jules Romains, Andé Maurois, Sigrid Undset, Hendrik Willem van Loon, Louis Bromfield. Hg. v. Armin L. Robinson mit einem Vorwort von Hermann Rauschning. Aus dem Englischen und dem Französischen von Ulrich Walberer. Frankfurt/M. 1988. [Fischer, Verboten und verbrannt/Exil. Bd. 5186. Lektorat Ulrich Walberer] Vgl. den „Hinweis“ ebd. S. 524: Thomas Mann, Das Gesetz. S. Fischer Verlag. Reihe Fischer Bibliothek. Frankfurt/M. 1983.

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Helen Lowe-Porter neu übersetzt worden. (Auch in der wechselnden englischen Betitelung zeigt sich die geschilderte Ambivalenz des „short novel“13, einmal (scheinbar) eines (hier: das erste) der zehn Gebote zu betreffen, und zum anderen Erzählung von der Gebotstafel überhaupt zu sein. Die Separatedition führte zu einem Rechtsstreit, der in Thomas Manns Tagebüchern aus dem Jahre 1944 in seiner Langwierigkeit und Langweiligkeit nachzuverfolgen ist. Als erster Druckort der Erzählung in deutscher Sprache ist Los Angeles 1944 (in numerierten Exemplaren) und als zweiter Stockholm 1944 nachgewiesen; dann findet die Erzählung die Aufnahme in Ausgaben der „Ausgewählten Erzählungen“14, „Erzählungen“15, „Sämtlichen Erzählungen“16 bzw. Gesamtausgaben17. Erwähnenswert ist weiter eine von Käthe Hamburger edierte und kommentierte Ausgabe18, die zum ersten Mal zusätzlich zum Text die Quellen zusammenstellt, die Thomas Mann nachweislich benutzt hat, sowie begleitende Texte anführt; schließlich ist unter den Editionen herauszuheben Klaus Makoscheys Rekonstruktion und Dokumentation der Quellen (einschließlich der Unterstreichungen und Randbemerkungen in den von Thomas Mann herangezogenen Büchern) und der Notizen19. Die Anthologie aus dem Jahre 1943 hatte ein (literarisches) Nachspiel: Im Jahre 1966 veranstaltete Jens Rehn eine Radioreihe, zu der deutsche Autoren „exemplarische Erzählungen über eines der zehn Gebote“20 verfassen sollten. Das nach der Radioreihe publizierte Buch hieß ebenfalls „Die Zehn Gebote“ und berief sich explizit auf das Vorbild aus dem Jahre 1943. 13 14

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Thomas Mann zitiert aus der Rezension Mareks: Thomas Mann, Tagebücher 1940– 1943, 20.XII.1943, S. 660. Thomas Mann, Ausgewählte Erzählungen. Stockholm 1945 [1948: 6.–12. Aufl.]. [= Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann] In dieser Ausgabe sind einige Erzählpassagen anders eingeteilt, die Erzählung ist in XVIII statt in XX Abschnitte unterteilt. Ich danke für diesen Hinweis Frau Kerstin Haring. Thomas Mann, Erzählungen. Berlin: Aufbau Verlag 1955. Thomas Mann, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/M: (Bücher der Neuzehn) 1963. Thomas Mann, Gesammelte Werke Bd. XII. Berlin: Aufbau Verlag 1955. Käthe Hamburger [Hg.]: Thomas Mann, Das Gesetz. Vollständiger Text der Erzählung. Dokumentation. Frankfurt/M: – Berlin 1964 (= Dichtung und Wirklichkeit. Hg. v. Hans Schwab-Felisch u. Wolf Jobst Siedler. Bd. 17). Klaus Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns. Frankfurt/M. 1998. Jens Rehn, Vorwort, in: Die Zehn Gebote. Exemplarische Erzählungen. Herausgegeben von Jens Rehn. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7 f., hier S. 7. Die Beiträge wurden eigens für eine Sendereihe im RIAS im Jahre 1966 geschrieben, dann 1967 als Buch publiziert und 1969 erneut in der hier zitierten Taschenbuchausgabe veröffentlicht.

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Die Erzählung wird nach der vorliegenden Ausgabe zitiert; Seitenangaben als Ziffern direkt hinter den Zitaten.

2. Zur Interpretation 2.1 Widersprüchliche Schreibintentionen Thomas Manns In einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1933 wird Thomas Mann mit folgenden Worten zitiert: „Denn für jemanden, der stets gemeint hat, daß Gerechtigkeit, Toleranz und Freiheit die kostbarsten Güter der Welt sind, ist das heutige Deutschland untragbar.“21 Thomas Mann stellt sich hier als politischer Mensch dar, so daß es nahe liegt, diese Haltung auch auf seine Literatur zu übertragen. Aber schon Sohn Klaus hatte darauf hingewiesen, daß das einzige Thema von Thomas Manns Schriften „Thomas Mann“ sei. Anläßlich der Rede seines Vaters zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag notiert Klaus Mann: „Sehr merkwürdig, wie ihm alles zur autobiographischen – gar zu autobiographischen – Studie gerät. [...] Mangel an einer objektiven Neugierde.“22 Hans Mayer hatte in einem Aufsatz über den politischen Standort des Autors materialreich zu belegen versucht, daß die politische Attitüde bei Thomas Mann aufgesetzt, also Rolle gewesen sei. Hans Mayer schließt: „Etwas ‘höhere Heiterkeit’ zu bewirken, das bezeichnete er 1937 als eigentliches Ziel seiner Produktivität.“23 Und – ein letzter Beleg – in seinem „Porträt“ stellt Theodor W. Adorno, der in den USA mit Thomas Mann nachbarschaftlichen Umgang pflegte, fest: Der „Praxis mißtraute er nicht nur als Politik, sondern als jeglichem Engagement.“24 Dem entspricht, was Thomas Mann in einer Ansprache 1947 über „Die Aufgabe des Schriftstellers“ sagt: „Wir sind Künstler und haben es als solche mit dem ‘Schönen’ zu tun.“25 21

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David Ewen, Thomas Mann äußert sich über den Nazi-Staat. [Übersetzung], [zuerst in: The New York Times. 10. September 1933], zit. nach: Volkmar Hansen / Gert Heine (Hg.), Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955. Hamburg 1983, S. 197–202, hier S. 199. Thomas Mann hat sich von diesem Interview vehement distanziert. Vgl. ebd. Klaus Mann, Tagebücher 1936–1937. Hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek bei Hamburg 1995, 28.VI.1936, S. 60. Schreibweise so im Original. V.L. Hans Mayer, Thomas Mann. Frankfurt/M. 1980, S. 367. In: Theodor W. Adorno, Zu einem Porträt Thomas Manns. [1962], in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur III. Frankfurt/M. 1974, S. 19 ff, hier S. 24. Freilich heißt es – widersprüchlich hierzu – einige Seiten (S. 27) weiter: „Er konnte es sich über alles Maß zu Herzen nehmen, wenn einer ihn einen Nihilisten schalt; seine Sensibilität erstreckte sich bis ins Moralische.“ Thomas Mann, Die Aufgabe des Schriftstellers. [1947], in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. MK

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Drei unterschiedliche Autoren mit unterschiedlichen Schreibkonzepten, die Thomas Mann aus der Nähe – aber eben auch aus der Perspektive als Schriftsteller oder Wissenschaftler – betrachten konnten, kommen zu dem gleichen Ergebnis; Anlaß genug, diesem Ergebnis zu trauen. Freilich sind die Aussagen – und viele ließen sich hinzufügen – lediglich Aussagen zur allgemeinen Schreibmotivation Thomas Manns, nicht zu der hier zur Interpretation anstehenden Erzählung. Man muß also die allgemeinen Befunde durch Aussagen über die Intention genau dieser Erzählung ergänzen.

2.2 Widersprüchliche Intentionen der Erzählung Die Erzählung „Das Gesetz“ verdankt ihre Entstehung, wie dargestellt, einem äußeren Anlaß. Der Sammelband war als ein Buch mit politischer Wirkabsicht geplant. So schreibt der Herausgeber Armin L. Robinson: „[I]ch hoffe, daß dies Buch mithelfen wird, jenen die Augen zu öffnen, die immer noch nicht recht begriffen haben, was die Nazi-Barbarei wirklich ist.“26 Es geht einmal um Erkenntnis, zum anderen aber auch um die Evokation einer moralischen Haltung. Sie wird bereits durch die Prädikation „Nazi-Barbarei“ und den Untertitel des Sammelbands („Hitlers Krieg gegen die Moral“) deutlich, denn Anlaß der Publikation war ja eine vorab fixierte (und begründete) sittliche Haltung gegenüber denen, deren ‘Augen’ noch nicht ‘geöffnet’ sind und die „immer noch nicht recht begriffen“ haben. Die künftigen oder zumindest anzusprechenden Leser, so wird vom Initiator und Herausgeber des Buches gemutmaßt, verfügen bisher weder über ausreichendes Wissen noch die nötige Einstellung, die Weltlage, speziell den Nationalsozialismus, richtig und sittlich angemessen zu beurteilen. Der Sammelband umfaßt Texte sehr unterschiedlicher Qualität, aber mit einem gleichen literarischen Programm: Sie sollen zeigen, daß der Nationalsozialismus ein ideologisch-politisches Gewaltsystem sei, getragen von Menschen, die die „zehn Gebote zerstören wollten“27. Anläßlich dieser Intention ist zu fragen, warum fiktionale Texte sich diesem Thema mit dieser Intention widmen sollen? Fiktionale Texte könnten, anders als Sachtexte, die Zerstörung der Moral in einer sozialen Wirklichkeit nur behaupten, nicht aber am Material belegen. Statt der behaupteten Anschuldigungen bedürfte es der soziologischen

26 27

118. Politische Schriften und Reden. Dritter Band. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 304 ff, hier S. 305. Daß Thomas Mann sogleich anschließt, daß dies aber nicht heiße, daß „wir Ästheten wären“, widerspricht diesem Satz nicht, sondern unterscheidet Kunst (= Schönes) vom Leben („Humanität“). Robinson, Vorbemerkung des Herausgebers, S. 7. Robinson, Vorbemerkung des Herausgebers, S. 7.

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Daten oder der politischen Analyse, die die unterstellten verbrecherischen Absichten belegen würden. Sollte es dann in den Erzählungen nicht um sachliche Aufklärung über politische Zustände, sondern um Evozierung von sittlichen Einstellungen zu den – dann als bekannt vorausgesetzten – Sachverhalten gehen? Dann aber wäre zu fragen, warum moralische oder politische Einstellungen ausgerechnet durch fiktionale, erzählende Texte evoziert werden sollen, da diese doch nicht argumentativ strukturiert sind, eine sittliche Haltung also nicht begründen? Sollte aber Sittlichkeit gegenüber der Geschichte durch Geschichten evoziert werden, die die Gefühlsebene ansprechen, so wäre diesen Geschichten gegenüber der Einwand zu formulieren, daß sie nicht Aufklärung betrieben, sondern Manipulation. Weder können fiktionale Erzählungen also eine sachliche oder argumentative Aufklärung ersetzen, noch sollten sie eine ethische Argumentation durch suggestive Mittel (des Erzählens) übergehen. Und wenn sie das eine oder das andere oder beides beabsichtigten, dann dürften diese Geschichten nicht mit der Zustimmung Thomas Manns gerechnet haben können – denn gegen beide Formen des Erzählens hat sich Thomas Mann explizit gewandt. Im Rückgriff auf Goethe wertet er „deutlich genug“ den „moralische[n], politische[n], gesellschaftliche[n] Kritizismus des Künstlers als ein Überschreiten seiner Grenzen, als ein[en] Verstoß gegen die Bescheidenheit“28. Bereits ein Planungsgespräch über den Sammelband kommentiert er mit den Adjektiven „[b]eunruhigend und beklemmend“29, um dann nach der Lektüre der anderen Beiträge festzustellen: „Manches ist geradezu lächerlich und kompromittierend, z.B. eine Beschreibung der Rebekka West von Kopenhagen, so ignorant, daß man sich in Europa den Bauch halten wird.“ Und das abschließende Urteil: „Sehr zu bedauern.“30 Und in der Tat: Die Anthologie enthält – bis auf Thomas Manns „SinaiPhantasie“31 – moralische Exempla, kolportagehaft, durchsichtig in Intention und Gestaltungsart, eindimensional in der Anlage und Durchführung32. Als 28

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Thomas Mann, Der Künstler und die Gesellschaft. [1952], in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. MK 118. Politische Schriften und Reden. Dritter Band. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 339 ff., hier S. 340. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 20.XII.1942, S. 511. Thomas Mann, Brief an Erich von Kahler vom 16.I.1944, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 349. Thomas Mann, Brief an Bruno Walter vom 6.V.1943, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 311. Warum sich Thomas Mann auf eine gemeinsame Publikation mit den Autoren einließ, mag offen bleiben; vielleicht hilft die Beobachtung Adornos, daß Thomas Mann „in der

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Jens Rehn 1966 den Versuch eines ähnlichen Sammelbandes startet, muß er über das Vorbild aus dem Jahre 1943 feststellen: „Die Idee (dieses Buches) war also moralisch-polemisch. Daß dieses Buch letzten Endes die Dezennien nicht überstand, mag an den Zeitläufen und Lebensumständen [...] gelegen haben. Die einzige Prosa, die die Jahre unbeschadet hinter sich ge33 lassen hat, ist die Erzählung ‘Das Gesetz’ von Thomas Mann.“

Diesem Urteil eilte Thomas Mann voraus: „Ich fürchte ehrlich, daß mein Beitrag mit Abstand der beste ist.“34 Was aber zeichnet diese Erzählung aus, die zugleich politisch wie ironisch, engagiert wie entlastend sein will? Was erwartete Thomas Mann vor ihr?

2.3 Thomas Mann: Moralisch oder ironisch? Thomas Manns nachträgliche Absichts-Erklärungen waren nicht so eindeutig, wie es die politische Vorgabe verlangte oder intendierte: Offiziell scheint sich die Intention der „Mose-Novelle“35 genau dem zu fügen, was er zuvor theoretisch abgelehnt oder doch ironisiert hat: In einem für das amerikanische Publikum gehaltenen Vortrag über die Josephstetralogie beschreibt er die Erzählung „Das Gesetz“ als eine „gegen das Nazitum gerichtete Verteidigung menschlicher Gesittung“36. So eindeutig, wie es scheint, ist aber schon diese Aussage nicht, denn in den Sätzen zuvor stellt Thomas Mann die Moses-Erzählung37 in eine Reihe mit jenen „aktiven Erholungen, wie sie mir nach der Entlastung von einer jahrelang angetragenen Aufgabe mit einer gewissen Regelmäßigkeit zufallen.“38 Verteidigung oder Erholung? Oder: Die Verteidigung als Erholung?

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Emigration“ „solche um sich“ „duldete“, „die ihm kaum mehr boten als ihren guten Willen.“, in: Theodor W. Adorno, Zu einem Porträt Thomas Manns. [1962], in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur III. Frankfurt/M. 1974, S. 19 ff., hier S. 23. Jens Rehn, Vorwort, in: Die Zehn Gebote. Exemplarische Erzählungen. Herausgegeben von Jens Rehn. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7 f., hier S. 7. Thomas Mann, Brief an Erich von Kahler, 16.I.1944, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 349. Thomas Mann, Brief an Bruno Walter vom 6.V.1943, S. 311. Thomas Mann, Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ‘Joseph und seine Brüder’ in einem Bande. [1948], in: Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. MK 119. Autobiographisches. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 359 ff., hier S. 360. Der Erzähler spricht von „Mose“ (Nom. Sing.), während Thomas Mann in den Paratexten immer von Moses spricht. Die vorliegende Interpretation behält diese Dichotomie, die einen leichten Lesewiderstand bei der Aufnahme der Erzählung ergibt, bei. Thomas Mann, Sechzehn Jahre, S. 360.

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In einem Brief an seinen Sohn Klaus nennt er das „Gesetz“ eine „realistischgroteske Geschichte“, bei der es sich einerseits „natürlich schlechtweg um die menschliche Gesittung handelt“, andererseits eine Geschichte, die ihn „sehr amüsiert“39. „Es war mir ernst mit dem Gegenstande, so scherzhaft das Legendäre behandelt und soviel voltairisierender Spott [...] die Darstellung färbt.“40

Ernsthaftigkeit und Scherzhaftigkeit, Gesittung und Spott – wie paßt das zusammen? Noch einmal der Versuch einer Antwort: „Der Fluch am Ende gegen den Elenden, dem in unseren Tagen Macht gegeben war, sein Werk, die Tafel der Gesittung zu schänden, kam mir von Herzen und läßt wenigstens zum Schluß keinen Zweifel an dem kämpferischen Sinn der übrigens leichtwiegenden Improvisation.“41

Was heißt „wenigstens zum Schluß“? Zuvor also sind doch Zweifel am kämpferischen Sinn möglich? Die hier zum Ausdruck kommende Bewertung der Erzählung („leichtwiegend“) wird oft wiederholt: Thomas Mann spricht davon, daß die Erzählung ihm „gar keine Mühe macht“42. Ich werde im Folgenden beide Absichten – die ernste und die spottende also, die ethische und die ästhetische – beim Wort nehmen und die Geschichte vor dem doppelten Hintergrund interpretieren – und schließlich eine Synthese versuchen.

3. These: Ernste Anliegen 3.1 Die Funktion der Moses-Geschichte aus dem Blickwinkel von Rechtsphilosophie und Ethik Die Geschichte der Verkündigung der 10 Gebote durch Gott hat in der Rechtsphilosophie und in der Ethik eine ganz bestimmte Bedeutung43. Sie erhält ihre 39

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Thomas Mann, Brief an Klaus Mann v. 9.III.1943, zit. in: Klaus Mann, Briefe und Antworten. 1922–1949. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 503 ff., hier S. 504. Thomas Mann, Die Entstehung, S. 95. Thomas Mann, Die Entstehung, S. 95. Thomas Mann, Brief an Klaus Mann v. 9.III.1943, zit. in: Klaus Mann, Briefe und Antworten. 1922–1949. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 503 ff., hier S. 505. Ich habe diese Funktion in zwei Aufsätzen gesondert dargelegt. Vgl. Volker Ladenthin, Glaube-Moral-Politik, in: Katholische Bildung 103 (2002) H. 11, S. 446–453 und – bezogen auf Thomas Mann – in dem Aufsatz: Die Moral und der Mann Moses. Warum unsere Gesetze gelten, in: Engagement (2002) H. 4, S. 270–274.

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Bedeutung gerade aus der Kritik materialer, das heißt tradierter, konventioneller Ethiken und eines durch Tradition legitimierten Rechtssystems. Traditionelle materiale Ethiken und positives Recht erhielten ihre Legitimation und Autorität durch die Überlieferung; sie galten, weil sie galten oder überliefert waren. Sittlichkeit war mit der geltenden Sitte identisch44. Angesichts des Verlustes teleologischer Weltbilder gerieten alle Formen ontologischer Ethiken oder Rechtsvorstellungen in die Kritik; ihr naturalistischer Fehlschluß, aus dem Sein ein Sollen abzuleiten, hielt der Forderung nach sittlicher Vernunft nicht stand. Ethiken und Gesetzeswerke seit dem Zeitalter der Aufklärung verlegten die moralische Autorität in das Vernunfturteil des Subjekts. Immanuel Kants Ethik – um ein Beispiel zu nennen – fordert eine autonome Moral und bezeichnet es als Aufgabe des als frei gedachten Subjekts, eigenständig Prinzipien (Grundsätze) und Normen (Handlungsanweisungen) für sittliches Handeln zu finden45. Die Legitimation wird als Aufgabe und Arbeit der Vernunft gesehen, die sowohl die Prinzipien findet und begründet, wie angesichts dieser Prinzipien auf vernünftige Weise Normen – also fallbezogene Handlungsanweisungen – findet. Dieses Modell ist analog zu jenen Ethiken, die statt der Vernunft – als letztbezüglichem Legitimationsmodus (Kant) – die (immer schon vorausgesetzte) Idee der Kommunikationsgemeinschaft oder die (immer schon angewandte) Sprache (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel) postulieren und aus ihnen die Maximen ethischen Handelns ableiten. In einer vernunft- oder sprachfundierten Ethik – und dies soll unsere Fragestellung leiten – stellen sich die Fragen, warum es überhaupt ‘Ethik’ gibt, warum es sie geben soll, und warum man sich an das, was die Vernunft als Prinzip für sittliches Handeln aufweist, halten soll. Das Problem der postkonventionellen Ethiken besteht also darin, daß die Begründung von moralischen Normen – also auch von Gesetzen – allein durch die Vernunft erfolgen kann46. Die Berechtigung aber, Gesetze von der Vernunft festlegen zu lassen, ist nicht wieder aus der Vernunft ableitbar, denn diese Berechtigung kann nicht von der

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Gerhard Mertens, Sitte und Sittlichkeit. Bedingungen ethischen Handelns in der Moderne, in: Volker Ladenthin / Reinhard Schilmöller (Hg.), Ethik als pädagogisches Projekt. Opladen 1999, S. 21 ff. Lutz Koch, Kants ethische Didaktik, in: I.M. Breinbauer / L. Koch / V. Ladenthin / J. Rekus (Hg.), Systematische Pädagogik. Bd. 4. Würzburg 2003. Vgl. Volker Ladenthin, Menschenrechte, Recht und Bildung, in: Volker Ladenthin / Reinhard Schilmöller (Hg.), Ethik als pädagogisches Projekt. Grundfragen schulischer Werterziehung. Opladen 1999, S. 43–61.

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gleichen Autorität sein wie die Vernunft, da sie diese begründen will. Es sind dies die Fragen der ‘Letztbegründung’. Das Problem der Letztbegründung stellt sich in allen modernen Ethiken. Dabei geht z.B. Jürgen Habermas um der menschlichen Geschichtlichkeit und der Zukunftsfähigkeit willen davon aus, daß der Anspruch einer Letztbegründung „gar nicht erhoben werden sollte“ und Vernunft auch als Sprache diesen Statuts gar nicht „beanspruchen kann“; Karl-Otto Apel hingegen versucht im Rückgriff auf das „Apriori der Sprache und der Kommunikationsgemeinschaft“ die „Möglichkeit der transzendentalpragmatischen Letztbegründung“47 einer Ethik aufzuzeigen. Im letzten Fall werden jedoch Annahmen gemacht, die nicht zu begründen sind. Einmal setzt die Begründung eben jenes schon als Mittel ein, was sie doch erst begründen will (die Sprache). Zum anderen wird in der transzendentalpragmatischen Voraussetzung des ‘Immer-schon-in-derSprache-Seins’ impliziert, daß dieses „In-der-Sprache-sein“ ein gutes „In-derSprache-sein“ ist. Aus dem transzendentalpragmatisch abzuleitendem Umstand, daß der Mensch „immer schon in der Sprache ist“, ist nicht zwingend abzuleiten, daß dies auch ein guter Zustand ist. Er ist lediglich nicht zu umgehen; hieraus folgt aber nicht schon seine Sittlichkeit – allenfalls seine Faktizität48.

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Karl-Otto Apel, Die transzendentalpragmatische Begründung der Kommunikationsethik und das Problem der höchsten Stufe einer Entwicklungslogik des moralischen Bewußtseins. [1986], in: Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Frankfurt/M. 1990, S. 306–369, hier S. 348 f. Ich habe in früheren Arbeiten eher jene Argumente schlüssig gefunden, die aus der Nichthintergehbarkeit der Sprache ihre Autorität für den Wahrheitsdiskurs und den Sittlichkeitsdiskurs begründeten. So habe ich versucht, die Existenzialität (Unhintergehbarkeit) des pädagogischen Diskurses aus eben dieser Grundannahme abzuleiten. (Vgl. Volker Ladenthin, Sprachkritische Pädagogik. Beispiele in systematischer Absicht. Band 1: Rousseau – mit Ausblick auf Thomasius, Sailer und Humboldt. Weinheim 1996.) Freilich kann man sich dem Einwand nicht verschließen, daß aus einer (empirischen ebenso wie transzendentallogischen) Faktizität nicht zwingend die „Gutartigkeit“ dieser Faktizität nachzuweisen ist. Diese Voraussetzung muß man aber machen, wenn man aus der Existenz der Kommunikationsgemeinschaft ethische Prinzipien ableiten will. Ich habe diesen Bedenken Raum gegeben in: Volker Ladenthin, Gespräch und Sprache, in: Ursula Frost (Hg.), Das Ende der Gesprächskultur. Zur Bedeutung des Gesprächs für den Bildungsprozeß. Münster 1999 (= Münstersche Gespräche zu Themen der wissenschaftlichen Pädagogik: Heft 15), S. 28–72. Allerdings ist zu bedenken, daß die Annahme, die Kommunikationsgemeinschaft sei apriori gelingende Gemeinschaft ebenso unbeweisbar ist wie die gegenteilige Annahme, daß sie prinzipiell zum Mißlingen des Lebens beiträgt. Kurz: Auch im Letztbegründbarkeits-Disput zwischen Habermas und Apel bleibt die Frage offen, warum der Mensch seiner eigenen Sprachlichkeit, die er nicht macht, aber benutzen muß und vervollkommnen kann, auch in sittlicher Hinsicht vertrauen darf, so daß er zu Recht aus ihrem Funktionieren sittliche Prinzipien ableitet.

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Angesichts dieser Fragestellungen kommt der alttestamentarischen Geschichte von der göttlichen Gesetzgebung eine besondere, nämlich legitimatorische Bedeutung zu. Sie gibt auf die Grundfragen und die Frage der Letztbegründung eine Antwort: Zwar mögen die Moral und die Gesetze von den Menschen angewandt werden, zwar mögen sie zuvor von Menschen ausgelegt werden. Und sie mögen auch von den Menschen aus allgemeinen Prinzipien zu Normen appliziert werden: Aber daß es ein Gesetz gibt und daß seine Existenz gut ist und nicht in der freien Verfügung von Menschen steht, ist nicht Menschenwerk. Über die Fundierung der Moral verfügen nicht die Menschen; sie ist von Gott verfügt, der einem Menschen diese Verfügung mitgeteilt hat – nicht, um sie von der Vernunft prüfen zu lassen, sondern um die Vernunft zu beauftragen, gemäß dieser Voraussetzung zu wirken. Die biblische Geschichte der göttlichen Gesetzgebung erzählt nicht, daß die alltägliche Moral und das positive Recht von Gott gegeben wurden; sie legitimiert nicht eine eigene materiale, eine religiöse Ethik oder Gesetzgebung. Das wäre Fundamentalismus. Sie erzählt vielmehr, daß das Prinzip der Moralität von Gott eingefordert (und damit begründet) wurde und daß die Idee der Moral und der Gerechtigkeit göttlichen (also nicht von Menschen zu bezweifelnden oder zu leugnenden) Ursprungs sind. Auch die im Alten Testament überlieferten 10 Gebote sind keine Einzelfallvorschriften (Normen) oder Regeln. Es sind Gebotsformulierungen von solch großer Allgemeinheit, daß sie als Prinzipien gelten können. Es sind Prinzipien zur öffentlichen Sozialordnung (Arbeitsregelung, Eigentumsrecht), zur Konstitution von intersubjektiven Kleingemeinschaften (Ehe, Familie, Konfliktlösung), zur Kommunikation (Lügeverbot) und zur Begründung der Autorität des Gesagten. Insofern ist die Geschichte der Gesetzestafeln nicht die Geschichte der Einführung einer normativen Moral, sondern die Erklärung dafür, warum es Sittlichkeit gibt, warum sich die Vernunft legitimiert ‘fühlen’ darf, warum es Menschen geben kann, die gegenüber anderen Menschen Normen einfordern. Die Begründung lautet: Sie können dies, weil die Kategorie des Sittlichen und die die Sittlichkeit erweisende Vernunft als von Gott gegeben verstanden werden. Die Kategorien Sittlichkeit und Vernunft gelten aber nicht, weil Menschen ihre Gültigkeit beanspruchen, sondern weil ein außerhalb der Menschen stehendes, gleichwohl für sie gültiges Absolutes ihre Gültigkeit verbürgt. Dieses zwar außerhalb menschlicher Vernunft stehende, für diese Vernunft aber verbindliche Absolute ist ‘Gott’. Innerhalb einer Kultur, die an Gott glaubt, kommt somit der Tatsache der sittlichen Aufgabenstellung und der Prinzipien absolute, also von Menschen nicht anzuzweifelnde Autorität zu. In diesem Sinne ist die alttestamentarische

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Moses-Geschichte auch von jenen Autoren interpretiert worden, die sich der Erzählung reflexiv-erzählerisch bemächtig haben (und die Thomas Mann zu seinen Vorstudien gelesen hatte). So schreibt Johann Wolfgang von Goethe in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans“, daß bei der Moses-Geschichte zu unterscheiden sei zwischen dem, „was gelehret und was geboten wird. Unter dem ersten (der Lehre) verstehe ich das, was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäß sein würde, und unter dem zweiten (den Geboten), was das Volk Israels besonders angeht und verbindet.“49 Das Einzige, was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäß ist, ist die Einsicht, daß beim Handeln zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist. Erzählt werde in der alttestamentarischen Geschichte von dem Versuch, „ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zu führen“, wie Sigmund Freud es nennt. Und auch er interpretiert diese Geschichte als Erzählung von der Letztbegründung des Sittlichen: „Der göttliche Geist, der selbst das Ideal ethischer Vollkommenheit ist, hat den Menschen die Kenntnis dieses Ideals und den Drang, ihr Wesen dem Ideal anzugleichen, eingepflanzt.“50 So schlüssig diese Letztbegründung in sich ist – sie entlastet die Menschen von einer letzten Begründungspflicht, stattet aber die Menschen, die sich auf sie berufen, mit der Autorität der Vernunft und des vernünftigen Urteils aus –, so problematisch werden diese Erzählung und ihr Geltungsanspruch in einer politisch-sozialen Situation, in der die Vielfalt von Religionen mit jeweils eigenen Absolutheitsansprüchen faktisch ebenso selbstverständlich ist wie der Zweifel an der Existenz Gottes. Eine religiöse Begründung der Gesetze mag dann noch für einzelne Menschen möglich sein. Aber diese Begründung kann nicht mehr allgemeinverbindlich sein. In diesem Sinne schreibt Freud: „Wir können nur bedauern, wenn gewisse Lebenserfahrungen und Weltbeobachtungen es uns unmöglich machen, die Voraussetzungen eines höchsten Wesens anzunehmen.“51 49

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Johann Wolfgang von Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. II. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1978 (11. Aufl.), S. 126–267. Darin: Israel in der Wüste. [1797], S. 207–225, hier S. 209. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. [1939], in: Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion. Frankfurt/M. 1981, S. 25–133, hier S. 122. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 65. Zur Religionskritik Freuds und zur Kritik der Religionskritik Freuds vgl. Volker Ladenthin, Religion – ihre Zukunft ohne Illusion. Bildungstheoretische Überlegungen zu Erich Fromms Begründung der Religion, in: Johannes Claßen (Hg.), Erich Fromm – Erziehung zwischen Haben und Sein. Eitorf 2002, S. 227–254.

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So entsteht eine legitimationstheoretisch interessante Situation. Die Überführung von Sitte in Sittlichkeit, die Transformation von normregulierten zu ethisch selbstbestimmten Individuen befreit den Menschen aus der Vorherrschaft von Mächten, die seiner Vernunft nicht zugänglich sind. Sie befreit den Menschen zu dem, was seine Vernunft an Gültigem hervorbringt. Da aber die Vernunft allen Menschen gleich ist, bleibt die Frage offen, wie denn Herrschaft über andere Menschen und wie Geltungsansprüche gegenüber anderen Geltungsansprüchen begründet (und durchgesetzt) werden können. Solange Herrschafts- und Geltungsansprüche sich mittels Vernunft begründen und widerlegen, ist diese Frage unproblematisch zu beantworten, da das Recht des besseren Arguments gilt. Zwar läßt sich schon hier das Problem der Begründungsansprüche der Vernunft thematisieren, wie es in der Novelle ausdrücklich von Aaron angesprochen wird: „Wenn du uns aber schätzest und dich nicht dünkelhaft über die echten Geschwister erhebst, warum hörst du dann nicht auf unsere Worte und verstockst dich gegen die Mahnung, daß du den ganzen Stamm in Gefahr bringst mit deiner Schwarzbuhlerei?“ (40)

Schon vorher hatte der Erzähler die legitimationstheoretische Frage dem dumpfen Ahnen des Volkes unterstellt und unterschoben. „Was stößest du Worte? Und was für Worte sind’s, die du stößt? Es hat dich wohl einer zum Obersten oder zum Richter gesetzt über uns? Wir wüßten nicht wer.“ (5) / „Neugierig sind wir, zu erfahren, wer dich zum Meister und Richter gesetzt hat über uns.“ (9)

Wenn aber die Vernunft die Frage nach der Berechtigung der Vernunft als letztem Urheber von Geltungsansprüchen stellt, entsteht ein Legitimationsdefizit. Eine Antwort auf diese Frage kann zwar vielleicht von der Vernunft gefunden, nicht aber mit der Vernunft begründet werden. Zur Begründung des Geltungsanspruchs der Vernunft (und der mit ihr hergestellten Gedanken) muß also auf etwas verwiesen werden, was die Vernunft zwar einsehen aber nicht begründen kann. Dieses „Etwas“ ist in der biblischen Tradition „Gott“, der zwar von Menschen verstanden werden, den die Vernunft also einsehen kann, der aber nicht von eben dieser Vernunft geschaffen werden kann. Der Gedanke des absoluten Gottes löst (erkenntnistheoretisch) die Aporie einer sich selbst begründenden Vernunft. Und der Gedanke eines absoluten Gottes löst (ethisch) die Frage nach dem Grund, sich an das, was die Vernunft eingesehen hat, zu halten (Motivation). Der Mensch kann frei denken, solange er die Vernunft als von Gott gegeben (und damit absolut) ansieht. Allerdings muß er die Kränkung (oder Gnade) zulassen, gerade in der letzten Frage nicht der eigenen Vernunft vertrauen zu dürfen (oder müssen), sondern einem (Offenbarungs-)Glauben. Dies ist – systematisch betrachtet – eine tiefe Kränkung (oder

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unverdiente Gnade) der sich autonom dünkenden Vernunft und – faktisch betrachtet – ein politisch-soziales Problem angesichts der historischen Pluralität von Religionen. Wenn diese Legitimation aber entfällt (weil es andere Religionen mit inkompatiblen Absolutheitsansprüchen gibt, weil Menschen nicht mehr an Gott glauben), fragt es sich nach Möglichkeiten, die Berechtigung von vernünftiger Erkenntnis und Sittlichkeit so zu begründen, daß diese Begründung nicht zu bezweifeln wäre. Dann aber kann es keine Wahrheit und keine Sittlichkeit mehr geben – jedenfalls keine, die durch Vernunft begründet wird. Dann gibt es keine letztbegründete moralische Instanz zur Regulierung widersprüchlicher Forderungen über die Gestaltungen der Welt mehr, sondern nur noch Evidenzen, Plausibilitäten, Kompromisse, Mehrheitsentscheidungen – letztlich aber faktische Macht, also (nicht legitimierte) Gewalt. Dies ist – systematisch betrachtet – eine Beleidigung der Vernunft und – faktisch betrachtet – eine Zerstörung der Pluralität. Totalitarismus entsteht, wenn nicht mehr vernünftige Argumentation die Urteile und das Handeln der Menschen bestimmt, sondern die Vernunft durch Macht ersetzt wird. Eine Vernunft, die sich nicht selbst vernünftig begründen kann, ist aber nicht mehr vernünftig. Thomas Mann hat sich dieser Interpretation der biblischen Geschichte außerhalb der Erzählung ebenso angeschlossen wie innerhalb. Ausdrücklich betont er mehrfach: „Während der Arbeit, oder vorher schon, hatte ich ihr [der ‘Geschichte’] den Titel ‘Das Gesetz’ gegeben, womit nicht sowohl der Dekalog, als das Sittengesetz überhaupt, die menschliche Zivilisation selbst bezeichnet sein sollte.“52

An anderer Stelle nimmt Thomas Mann die biblische Identifikation von Sittlichkeit mit dem mosaischen Gesetz vorsichtig zurück: „Hat man nicht das Gefühl, daß doch eine solche Instanz da ist? Und möge es nicht die christliche Moral sein, so ist es schlechthin der Geist des Menschen, die Humanität selbst als Kritik, Ironie und Freiheit, verbunden mit dem richtenden Wort.“53 Gleichwohl legt diese Stelle eine neue Linie, die es nachzuzeichnen gilt. Thomas Mann bezeichnet die „Ironie“ (neben Kritik und Freiheit) als dem christlichen Moralgebot gleichgesetzter Grund-Satz der Ethik. Leistet die Ironie eben jene Legitimation, die die alttestamentarische Erzählung beansprucht?

52 53

Thomas Mann, Entstehung, S. 95. Vgl. auch den bereits zitierten Brief an Klaus Mann vom 9.III.1943. Thomas Mann, Die Aufgabe des Schriftstellers, S. 306.

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Das Problem ist: Wenn Thomas Mann diese Geschichte unter seinem Namen erzählt, kann sie dann die gleiche Autorität beanspruchen wie die durch Tradition legitimierte biblische Erzählung? Oder anders gefragt: Wie muß er die Moses-Geschichte nacherzählen, damit seine Nacherzählung die gleiche Autorität bekommt wie die biblische Nacherzählung? Wie erzählt Thomas Mann jene „beautiful fable“, „[o]ne of the best short novels he has written“?54 Könnte es nicht sein, daß die Tatsache und die Art der Erzählung ihr genau das nimmt, weswegen sie erzählt wurde: Die auratische Qualität einer authentischen Erzählung über die unzweifelhafte Begegnung eines Menschen mit Gott? Schließlich: Warum erzählt Thomas Mann die längst erzählte Geschichte erneut? Über Thomas Mann sagt der Herausgeber der Geschichtensammlung, daß er (Thomas Mann) „die Geschichte bei[trug] von dem Mann, der der Welt die Zehn Gebote vermittelte.“55 Nicht nur die kulturimperialistische Deutung der Mosesfigur („der Welt“ statt Israel oder zumindest der Alten Welt) fällt auf, sondern auch, daß Thomas Manns Beitrag als Geschichte eines Mannes charakterisiert wird, der moralisch wirkte. Wird unterstellt, daß die Erzählung einer für die Ethik in der Tat bedeutsamen Handlung und Person56 geeignet ist, „die Augen zu öffnen“ und die Herrschaft der Nationalsozialisten als „NaziBarbarei“ zu beurteilen? Es ist notwendig, angesichts der Paratexte des Erzählungsbandes zu fragen: Wie schreibt Thomas Mann die „Moses-Phantasie“57 – und wozu?

3.2 Eine Parabel über Volksbildung? Ende März 1941 berichtet Hermann Hesse in einem Brief an Thomas Mann, der diesen am 31. Mai 1941 in Pacific Palisades erhielt, von einem Besuch: „Dieser Tage kam ein merkwürdiger Besuch: Momme Nissen, einst der Schüler, Freund und Prophet Langbehns, des Rembrandtdeutschen. Ich wußte nur vom Hö58 rensagen, daß einst sowohl Langbehn wie Nissen katholisch geworden sei.“

Die etwas herablassende Bemerkung Hesses bezieht sich auf Momme Nissen, der in den 30er Jahren ein vormals in Deutschland sehr berühmtes Buch erneut 54 55 56 57 58

Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 20.XII.43, S. 660. Robinson, Vorbemerkung des Herausgebers, S. 7. Vgl. Ladenthin, Die Moral und der Mann Moses, S. 270 ff. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 6.XII.42, S. 505. Hermann Hesse, Brief an Thomas Mann vom Ende März 1941, in: Hermann Hesse – Thomas Mann, Briefwechsel. Hg. v. Anni Carlsson. Frankfurt/M. 1968, S. 90 ff., hier S. 91.

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herausgegeben hatte: „Rembrandt als Erzieher“59. Dieses Buch war 1889 anonym erschienen; sein Verfasser wurde als „Rembrandtdeutscher“ bezeichnet – auch noch nachdem man ihn als Julius Langbehn (1851–1907) identifiziert hatte. Das Buch hatte bis 1907 über 45 Auflagen; 1936 ging das Buch in die 90. Auflage.60 Momme Nissen hatte noch 1930 – immerhin 40 Jahre nach Erscheinen des Buches – eine Apologie dieser Schrift publiziert61. Julius Langbehn ist einer der Gründungstheoretiker jenes Teils der Reformpädagogik, die man „Kunsterziehungsbewegung“ nannte. Die Kunst soll zum Erzieher werden, so, wie die Erziehung selbst als eine Kunst verstanden wurde. Rembrandt wird dabei als Volkserzieher gedeutet, und Volkserziehung als „Einfluß Rembrandtscher Gesinnung [...] auf das sittliche und das geistige Leben [...] [des deutschen] Volkes“, der Erzieher wird zum „Wegführer“62. In seinem Antwortschreiben an Hermann Hesse geht Thomas Mann auf dessen Bemerkungen nicht direkt ein. Gleichwohl gibt es einen Satz, der einen inneren Bezug zu der Bemerkung Hesses erkennen läßt: Dem Zweifel an einem baldigen Zusammentreffen schließt Thomas Mann folgende allgemeine Reflexion an: „Es wird ein langer, schrecklicher Prozeß, fürchte ich, und vielleicht muß er lang sein, wenn er die Völker auf eine höhere Stufe ihrer sozialen Bildung bringen soll.“63

Das Thema der Volksbildung als einer neben der Individualbildung zentralen Aufgabe für die Beendigung des Nationalsozialismus wird ausdrücklich und sehr persönlich konnotiert angesprochen. Damit greift aber Thomas Mann genau jenes Thema auf, das Julius Langbehn mit seinem Buch angesprochen hatte: Die Frage nach der Möglichkeit einer Volksbildung, nach einer sozialen Bildung. Während die traditionelle Bildungstheorie das Individuum zum Zentrum des pädagogischen Handelns macht, kommt in der Theorie der Sozialpädagogik die Frage auf, ob eine Gemeinschaft Subjekt eines Bildungsprozesses sein kann, in den der einzelne sich einfügt. Damit ist das bildungstheoretische Problem aber auch benannt: Entweder man versteht sittliches 59 60 61 62 63

[Anonym], Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 1890. Vgl. Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 214. Momme Nissen, Der Geist des Ganzen von Julius Langbehn, dem Rembrandtdeutschen. Zum Buch geformt von Benedikt Momme Nissen. Freiburg/Br. 1930. August Julis Langbehn, Rembrandt als Erzieher, zit. nach: Hermann Lorenzen (Hg.), Die Kunsterziehungsbewegung. Bad Heilbrunn/Obb. 1966, S. 7 ff., hier S. 11. Thomas Mann, Brief an Hermann Hesse vom 13.VII.1941, in: Hermann Hesse – Thomas Mann, Briefwechsel, S. 95.

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Handeln als individuell autonome Entscheidung; dann kann es keine kollektive Erziehung geben, die den einzelnen von der Entscheidung, sittlich zu handeln, entlastet oder ihn in eine kollektive Entscheidung zwingt. Oder aber man schreibt Gemeinschaften ein ihnen eigenes Ethos zu, das sie konstituiert64 und auf dessen Boden sich überhaupt erst Individualität und Sittlichkeit als Lebensmöglichkeit entwickeln können. Thomas Mann hatte sich dieser Frage angesichts des Nationalsozialismus schon einmal gestellt, nämlich als er 1938 die Einführung zu Erikas Manns Buch „Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ schrieb. In diesem Buch wird die staatliche Organisation des Bildungswesens als Verhinderung von Bildung beschrieben. Indem der Staat als Volkserzieher tätig werde, verhindere er die Bildung seiner Bürger. Dies zeigt Thomas Mann im Hinblick auf das nationalsozialistische Erziehungsprogramm. Da der nationalsozialistische Staat politisch in Bildungsprozesse eingreife, zerstöre er sie. Dabei gebe es grundsätzlich keinen Widerspruch zwischen Macht und Bildung – freilich nur, wenn die Macht sich selbst begrenze: „Macht [muß] einen Inhalt und Sinn, eine innere Berechtigung haben [...], um echte, menschlich anerkannte und darum haltbare Macht zu sein, und daß diese Rechtfertigung immer nur vom Geist kommt. Ist es nicht hoffnungslos und närrisch, ein Gut mit Mitteln gewinnen zu wollen, die dieses erstrebte Gut selbst völlig aushöh65 len und entwerten?“

Damit ist die Frage gestellt, als deren Beantwortung sich die Moses-Novelle lesen läßt (und – wir werden diesen Gedanken später aufgreifen – die zugleich ein Kriterium für die Beurteilung der Prinzipien für Volksbildung abgibt): Wie muß eine Gemeinschaft konstituiert sein, damit die individuelle Sittlichkeit mit der öffentlichen Moral einhergehen kann, so daß die Macht einen Rechtsanspruch gegenüber dem einzelnen hat, wie dieser umgekehrt in seiner sittlichen Freiheit nur anläßlich einer Mißachtung der sittlichen Prinzipien eingeschränkt werden darf. Theoretisch betrachtet müssen die ethischen Prinzipien für Staat wie Individuum die gleichen sein; Sittlichkeit und Moral müssen den gleichen Rechtsgrund haben, auch wenn Gesetzgebung und individuelle Handlungsnormen unterschiedlich in Inhalt und Umfang sein können. Eben dieser Grundsatz aber – so Thomas Mann – werde von den nationalsozialistischen „Erziehern“ mißachtet: 64

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Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität herausbilden? in: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt/M. 1976 u.ö., S. 92 ff. Thomas Mann, Einführung, in: Erika Mann, Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. [1938]. München 1986, S. 5 ff., hier S. 7.

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Volker Ladenthin „Ein Voluntarismus dieser Art, eine solche Durchpolitisierung von Wahrheit und Forschung [...] hat etwas Krampfhaftes, Gewaltsames und Ungesundes, das darauf hindeutet, wie wenig sie der Natur des Volkes eigentlich gemäß ist, dem sie auferlegt wird oder das sie sich auferlegen zu müssen glaubt. Der Ruhm der deutschen Nation bestand immer in einer Freiheit, die das Gegenteil patriotischer Borniertheit 66 ist. In einer Beziehung zum objektiven Geist.“

Liegt es nicht nahe, nach solchen diskursiven Überlegungen zu fragen, ob Thomas Mann nun in der Moses-Novelle versuchen wird, diesen objektiven Geist wieder freizulegen? Lassen wir die Frage vorerst unbeantwortet; zumindest aber deutet diese Vorgeschichte an, wie zu erklären ist, daß Thomas Mann die Moses-Gestalt mit den „Züge[n] [...] von Michelangelo selbst“67 ausstattete und die Metapher des Bildhauerischen auf den Bereich der Volksbildung überträgt. Zur weiteren Verdeutlichung ist es hilfreich, auf eine Rezension hinzuweisen, an der Klaus Mann im August 1935 arbeitete68 und die am 9. Februar 1936 im Pariser Tageblatt unter dem Titel „Ein wirklicher Vorläufer“ erschien. Klaus Mann rezensiert hier die erwähnte, von Momme Nissen besorgte Neuausgabe von Langbehns Buch „Rembrandt als Erzieher“. Klaus Mann sah in Julius Langbehn zwar keinen Parteigänger, wohl aber einen Vorläufer des Nationalsozialismus, und zwar unter anderem, weil er einen „volkstümlichen Autokratismus“ fordere, eine Monarchie, „und schließlich in dem Schrei nach dem ‘Führer’, dem ‘starken Mann’“69 gipfle. Den Schluß des Artikels bildet ein Zitat, das sich wie ein Verweis auf die dann von Thomas Mann gewählte Metaphorik liest: „‘Die Griechen hatten eine Kultur aus Marmor, die Deutschen sollten eine solche aus Granit haben.’ Das Land, in dem Sätze wie dieser für ‘tief’ gehalten werden konnten, bekam weder eine Kultur aus Mamor, noch ‘eine solche’ aus Granit, sondern den Nationalsozialismus.“70

Zwar ist nicht belegbar, daß Thomas Mann diesen Text Klaus Manns kannte; aber da recht bald nach dem Erscheinen mehrere politische Gespräche zwischen Thomas Mann und Klaus Mann stattfanden71, ist es naheliegend anzu66 67 68 69

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Thomas Mann, Einführung/Zehn Millionen Kinder, S. 7. Thomas Mann, Brief an Anna Jacobson v. 28.VIII.1944, in: Thomas Mann, Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt/M. 1979, S. 388. „Noch recht animierte und gehässige Beschäftigung mit dem ‘Rembrandt-Deutschen’.“ Klaus Mann, Tagebücher 1934–1935, 20.VIII.1935, S. 122. Klaus Mann, Ein wirklicher Vorläufer, in: Pariser Tageblatt. 9. Februar 1936, zit. nach: Klaus Mann, Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936. Hg. v. Uwe Naumann u. Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 384 ff., hier S. 389. Klaus Mann, Ein wirklicher Vorläufer, S. 389. Vgl. die Eintragungen um den 30.VI.1936 in den Tagebüchern von Klaus und Thomas Mann.

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nehmen, daß auch die Frage der Volkserziehung diskutiert wurde. Unabhängig jedoch von biographischen Details zeigt sich die Nähe zu der MosesErzählung, wenn man die Metaphorik des Erzählers untersucht. In Thomas Manns Erzählung heißt es über Moses, daß er Lust zur Gestaltung des Volkes habe „wie der Steinmetz Lust hat zu dem ungestalten Block, woraus er feine und hohe Gestalt, seiner Hände Werk, zu metzen gedenkt.“ (4) Die Entscheidung für die Wahl Michelangelos als Metapher für Moses (und damit als Metapher für die Volksbildung) wird deutlich, wenn man Langbehns Rembrandtbuch und den Tenor der Rezension Klaus Mann sowie das Buch Erika Manns über die nationalsozialistische Staatserziehung zusammennimmt. Thomas Mann übernimmt die Metapher von „Rembrandt als Erzieher“ und metaphorisiert Michelangelo – in der Gestalt des Moses – zum Erzieher der Menschen, zum „Bildner des Volks“ (38). In Thomas Manns Erzählung wird also die Vorstellung vom Künstler als Erzieher aufgenommen und die Tätigkeit Moses’ als künstlerische Arbeit an einer „Rohmasse“ metaphorisiert. Es werden nicht Michelangelos Schriften erziehungstheoretisch ausgelegt, sondern die Volkserziehung wird analog zum Schaffensprozeß des bildenden Künstlers dargestellt. Das Gesetzwerk wird als Kernstück dieser Volkserziehung angesehen – es ist ebenfalls in Stein gemeißelt: „Ich [...] komme nun zum Eigentlichen, der Gesetzgebung, die ich als eine Art michelangeleskem Skulpturwerk an einem Rohmaterial von Volkskörper behandle.“72

Die Michelangelo-Metaphorik in der Erzählung ist von Beginn an bemerkt und in ihrer Genese gedeutet worden73. Sie ist von Thomas Mann bewußt – und symbolisch – eingesetzt worden: „Wahrscheinlich unter dem unbewußten Einfluß von Heine’s Moses-Bild gab ich meinem Helden die Züge […] von Michelangelo selbst, um ihn als mühevollen, im widerspenstigen menschlichen Rohstoff schwer und unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen.“74

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Thomas Mann, Brief an Agnes E. Meyer vom 17.II.1943, in: Thomas Mann, Briefe II. 1937–1947, S. 298. Vgl. Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen, S. 26: „So offensichtlich liegt [in Heines Formulierung, daß Moses ‘den wahren Künstlergeist’ zeige, ‘der den Menschen-Obelisken’ ‘meißelte’ (Heinrich Heine, Sämtl. Schriften. München 1976. Bd. VI/1, S. 481)] (...) der Keim des Mose im Gesetz als eines leidenschaftlichen Bildhauers, der aus der rohen Masse der ägyptischen Hebräer in der Wüstenoase Gottes Volk herausarbeitet, daß es weiterer Hinweise aus den Tagebüchern oder durch Selbstkommentare nicht bedarf.“ (Makoschey verweist zu den bekannten Stellen auf den Tagebucheintrag vom 22. Februar 1942.) Thomas Mann, Die Entstehung, S. 95.

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Moses-Michelangelo wird zum Volksbildner75, er ist von „Bildnerlust“ (12) angetrieben – ein Wort, das die Doppeldeutigkeit von Bildung und Bildnerei aufnimmt. Er war in „all sein[em] Denken und Trachten darauf beschränkt gewesen, seines Vaters Geblüt in der Absonderung für sich allein zu haben, um es zu bilden und ungestört aus der heillosen Masse, die er liebte, eine heilige Gottesgestalt zu metzen.“ (23)

Das Motiv zur Volksbildung wird am Eingang der Erzählung psychologisch in Moses’ Sehnsucht nach „Ordnung“, dem „Unverbrüchlichen“ und „Gebot und Verbot“ gesehen, dann aber sogleich durch dessen Einsicht in die „unermessliche[n] Implikationen“ (3) eines monotheistischen Gottesbildes als theoretisch begründet erklärt. Das Ziel der Volksbildung – dies wird schon im siebten Absatz der Erzählung erwähnt – sei die Aufrichtung einer „Eidgenossenschaft“ (4), freilich einer, die zwei Ziele habe: Die Anerkennung des einen unsichtbaren Gottes und die Beendigung der ägyptischen Knechtschaft: „Gott – und Befreiung zur Heimkehr; der Unsichtbare – und die Abschüttelung des Joches der Fremde, das war ein und derselbe Gedanke für ihn.“ (5)

Die Besonderheit dieser Art Volksbildung ist die „Redeform, die ihre Gesamtheit umfaßte und zugleich das Auge auf jeden einzelnen, Mann und Weib, Greis und Kind, richtete...“ (21)

Öffentliche Moral und individuelle Sittlichkeit werden als aus einem Prinzip heraus ansprechbar und gestaltbar angesehen. Für Moses-Michelangelo wird das Volk zum „Gegenstand seiner Bildungslust“ (19) wie umgekehrt daraus „der Glaube des Volkes an seinen Führer“ (20) erwächst – letztes eine Formulierung, die nunmehr das Lesemerk auf Thomas Manns bildungstheoretische Durchdringung des Sachverhalts „Volksbildung“ richtet. Diese Formulierung verweist in einer solchen Deutlichkeit auf die Sprachregelungen des nationalsozialistischen Deutschlands (wie es in der oben angeführten Bemerkung 75

So wie Thomas Mann die Freundschaft Michelangelos zu Vittoria Colonna auch als Bildungsprozeß – nun freilich an Michelangelo – in der Steinmetzmetaphorik entfaltete: Er sei zweimal zur Welt gekommen: „... erst nur als Modell seiner selbst, in schlechtem Ton, dann aber durch sie, durch Neugeburt im Steine, als volkommenes Werk, und zwar durch züchtigende und zähmende Arbeit, die ihre Güte an seinem ursprünglich wilden Wesen getan, zusetzend, was ihm gefehlt habe wegfeilend, was roh und überschüssig an ihm gewesen sei.“ Auch hier wird Bildung im Sinne der Erschaffung eines „Bildes“, einer Statue, als Formung eines passiv bleibenden Objekts verstanden – und damit in ihrer pädagogischen Besonderheit verfehlt. Thomas Mann, Die Erotik Michelangelos, in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. MK 115. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Dritter Band. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 233–241, hier S. 238.

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Klaus Manns über Langbehn zu lesen war), daß sie den Sachverhalt, den Thomas Mann erklärtermaßen gestalten wollte, in problematischer – nämlich selbstwidersprüchlicher Weise – vorführt. So wird der ethisch begründeten mosisch-michelangelesken Volksbildungsarbeit gleich anfänglich ein unlauteres Verfahren unterstellt: „Und doch war er nicht ganz aufrichtig mit ihnen...“ (4), nämlich mit den Menschen seines Volkes. Moses-Michelangelo verschweigt bei seinen Reden anfänglich das „Eigentliche“ – freilich aus verständlichen, d.h. letztlich moralischen Motiven, „aus Furcht, sie kopfscheu zu machen“ (4): „Aus Sorge verschwieg er es, sie zu erschrecken“ (4). Das volkserzieherische Handeln wird als ein Handeln charakterisiert, das über das Ziel weiß, von der Richtigkeit des Zieles überzeugt ist, sich zur Durchsetzung des Zieles legitimiert fühlt, aber diese Ziele anfänglich ‘noch zurückhält’ (5), weil es die Einsichtsfähigkeit des Volkes überfordern würde. Überhaupt ist das Volk Objekt eines „Bohrens, Wegsprengens und Formens“ (27). Das Volk wird als roher Steinblock, als unförmige Masse gedacht, die es zu gestalten gelte, „damit er vor allem einmal das Gehudel zu Gott bilde und etwas Heilig-Anständiges, ein reines Werk, dem Unsichtbaren geweiht, daraus haue“ (24). Mit dieser Auffassung begibt sich die Erzählung in einen inneren Widerspruch. Thomas Mann beschreibt die Volksbildung des Typus Moses-Michelangelo als „Lust zu [...] seiner Gestaltung“ (15), als „Bildnerlust“ (12) in dem Sinne, daß der „ungestalte Volksleib“ (32), ein „bloßer Rohstoff [...] aus Fleisch und Blut“ (32), ein „Klotz“ (32) in jene „Formung“ (32) gebracht werde, die dem „Bildner des Volks“ (38) vorschwebt. Die Fragen sind nur: Welche Form schwebt dem Volksbilder vor und wie ist diese Form begründet? Da aber die eigene „Lust zu dem Volk und seiner Gestaltung“ (15) „von der des Gottes gar nicht zu unterscheiden, sondern einerlei sei mit ihr“ (15), müßte doch das Bildungsziel Moses-Michelangelos mit dem Bildungsziel Gottes identisch sein. Noch genauer formuliert: Eigentlich ist die Zuwendung zu Gott dieses Bildungsziel, Bildung also als Formung des Menschen zum Ebenbild Gottes. Wie aber sieht das Bild Gottes aus? Dazu sagt der Erzähler ganz in der Tradition des alten Testaments, daß von Gott kein Bild zu machen sei, daß das Volk sich also „dem Bildlosen [...] zu weihen“ (12) habe. Gerade von der „Unsichtbarkeit“ Gottes und den „unermeßlichen Implikationen“ dieser Unsichtbarkeit war Moses-Michelangelo ja „tief beeindruckt“ (3). Damit aber ist Bildung als Nachbildung nicht mehr möglich – denn eben die Einsichtsmöglichkeit in dieses Vorbild leugnet der Begriff der „Unsichtbarkeit“. (Deshalb auch die harten Strafen gegen jene, die wieder einen sichtbaren Gott – wie das goldene Kalb – verehrten.) Dieser Widerspruch bleibt in der Geschichte unausgespro-

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chen. Die Erzählung beschreibt einerseits Bildung als Nachbildung, benennt als Bildungsziel die Ebenbildlichkeit Gottes – nennt dann aber Gott mehrfach den „Bildlosen“. Mit diesem Widerspruch ist auch eines der zentralen Probleme der Geschichte des Bildungsbegriffs benannt. Der Begriff der Bildung (oder Formung) legt ein normatives Verständnis dergestalt nahe, daß der Bildner seine Zöglinge nach (s)einem bestehenden Vorbild forme. Aber in der christlichen Tradition war dieses Vorbild einzig und allein Gott – dieser aber eben bildlos. So ist (im christlichen Selbstverständnis) dem Menschen die Aufgabe gestellt, zum Ebenbild Gottes zu werden, ohne daß zu erfahren wäre, wie denn Gottes Bild aussieht. Diese Wendung ist für die spezifisch deutsche Geschichte des Bildungsbegriffs bedeutsam. Aus der auf den ersten Blick normativen und materialen Vorstellung von Bildung, nämlich der (nachträglichen) Formung eines Rohstoffs zum Abbild eines bereits bestehenden fertigen Endbildes, ergibt sich – bei näherer (theologischer) Betrachtung – genau das Gegenteil: Bildung im christlichen Sinne ist eben nicht Nachbildung, sondern Herausbildung im Anspruch eines Ideals, dessen Inhalte keiner kennt, keiner kennen kann, weil es bildlos ist. Bildung wird als Aufforderung zur Selbsttätigkeit verstanden, also als ein gemeinsames Bemühen von Erzieher und Zögling, ausgerichtet an dem Ideal, daß der zu Bildende lernt, sich selbst zu bestimmen. Das Ideal ist in dieser Theorie die gültige Selbstbestimmung, ganz in dem christlichen Sinne, daß Gott die Existenz von Geltungsansprüchen verbürgt, ihre Inhalte aber durch menschliche Selbsttätigkeit (also durch geschichtliche Vernunft) erst noch bestimmt werden müssen. Bildung in diesem Sinne ist also weder Formung einer rohen Masse noch das „Sich-selbst-überlassen“ eines (im Keime) schon fertigen Menschen, sondern die Aufgabe und der Prozeß gültiger Selbstbestimmung. Der theologische Bildungsbegriff schützt dabei die nachfolgende Generation vor allen unbegründeten normativen Ansprüchen der älteren Generation – eben weil nicht die Anpassung an die faktische oder gewünschte Gesellschaft das Bildungsziel ist, sondern die Akzeptanz der Aufgabe, nach Wahrheit und Sittlichkeit zu suchen, ohne ihren jeweiligen Inhalt schon zu kennen. Denn dieser Inhalt der geforderten Sittlichkeit ist nicht göttlich, sondern geschichtlich. Bildung als Erwerb der Ebenbildlichkeit Gottes meint dann nicht Orientierung an einer Norm, sondern Akzeptanz von Prinzipien mit der Aufgabe, selbst Normen zu finden. Die Gottesvorstellung schützt damit den Bildungsvorgang vor der Verzweckung der nachfolgenden Generation und ihrer Anpassung an Faktisches; sie schützt den Zögling davor, sich nur als Abbild eines Vorbildes gestalten (und nicht frei entfalten) zu können. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen meint dann, daß der Mensch nicht schon bestimmt ist, sondern die Aufgabe hat, sich selbst zu bestimmen.

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Diese Auffassung von Bildung müßte auch für jede Konzeption von Volksbildung gelten. Volksbildung kann dann nicht heißen, ein Volk nach dem zu formen, was die ‘Führung’ des Volkes als Ziel ausweist. Sondern Volksbildung müßte Instandsetzung einer räumlichen und zeitlichen Gemeinschaft für eine vernünftige Selbstbestimmung heißen. Nimmt man diese Idee als Idee von Bildung an, dann kann es auch keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Volksbildung und Individualbildung geben: Denn dann evoziert der Prozeß der Volksbildung individuell gebildete Bürger wie umgekehrt diese dazu beitragen, die sozialen und politischen Probleme gemäß den auch individuell geltenden Grundsätzen zu lösen. Volksbildung ist dann – genau betrachtet – nichts anders als die Organisation von Individualbildung. Anklänge an diese Auffassung lassen sich auch in dem bereits erwähnten Vorwort Thomas Manns zu Erika Manns Bildungsbericht (und bei Klaus Mann) finden. In der Erzählung aber wird Moses-Michelangelo als Volksbildner angesprochen, der sein Volk nicht in die Selbstbestimmung führt, sondern es in eine vorab bestimmte Gestalt überführt – obwohl diese Gestalt für Moses-Michelangelo gar nicht aus dem Gottesbild ableitbar sein kann. Bildung geschieht nicht durch Überzeugung, sondern durch List und Zwang. Bildung wird als Eingriff in die Selbstbestimmung durch Strafe (z.B. auch durch strafendes Recht) gestaltet: „Das Geblüt merkte bald, was es heißen wollte, einem zorniggeduldigen, dem Unsichtbaren verantwortlichen Werkmann gleich Mosen in die Hände gefallen zu sein [...]. Wie es aussah in dem Gehudel, und wie sehr es ein bloßer Rohstoff war aus Fleisch und Blut, dem die Grundbegriffe der Reinheit und Heiligkeit abgingen; wie sehr Mose von vorn anfangen und ihnen das Früheste beibringen mußte, das merkt man den notdürftigen Vorschriften an, mit denen er daran herumzuwerken, zu meißeln und zu sprengen begann – nicht zu ihrem Behagen; der Klotz ist nicht auf des Meisters Seite, sondern gegen ihn, und gleich das Früheste, was zu seiner Formung geschieht, kommt ihm am allerunnatürlichsten vor.“ (32)

Indem Thomas Mann die Bildungsarbeit als Formung einer unförmigen Rohmasse in eine gewünschte Gestalt – d.h. das Bildungssubjekt als Objekt von Maßnahmen und Zwang – beschreibt, setzt er den Bildungsvorgang in einen Widerspruch zum Bildungsziel. Gelesen als volksbildnerisches Engagement, gar als eine politische Option in einem materialen Sinne („Was ist gelungene Volksbildung?“), wäre die Erzählung also selbstwidersprüchlich. Sie wäre eine den Stand der damaligen erziehungstheoretischen Diskussion unberücksichtigt lassende Positionierung, eigentlich als eine dem ‘volkspädagogischen’ Denken der Nationalsozialisten – wie Klaus und Erika Mann es darstellen – nicht allzu ferne Theorie zu bewerten.

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Die Erzählung ist also nicht mit Gewinn als politische Erzählung über gelungene Volksbildung und die Schaffung von Rechtsbewußtsein zu lesen; als politische Erzählung entspricht die Moses-Geschichte sogar dem, was Thomas Mann einen Tag nach der Unterzeichnung des Verlagskontrakts über seinen Beitrag zur Anthologie „Die Zehn Gebote“ notierte: „Empfand [...] daß es mir in tiefster Seele gleichgültig ist, was nach dem Débacle des NationalSozialismus geschieht“76. Würde man demnach die „Moses-Geschichte“77 aus der Theorie der Sozialpädagogik als Exemplum, als Fallgeschichte gar betrachten, bliebe sie hinter dem, was die Vernunft als Grundstruktur des Pädagogischen beschrieben hat – und was auch Thomas Mann akzeptiert –, zurück. Eine solche Bewertung der Geschichte als „politische Erzählung“ würde aber unberücksichtigt lassen, daß der Erzähler seinem Thema gegenüber eine ironische Haltung einnimmt. Diese läßt sich abheben, wenn man sich eine Lesehaltung zu eigen macht, die Thomas Mann für die Lektüre des erziehungspolitischen Buches seiner Tochter Erika empfiehlt: Das Buch habe zwar einen „abscheulichen Gegenstand“: „Aber, sonderbar, es ist das Gegenteil einer abscheulichen Lektüre. (Sie sei) [...] angetan, unser Entsetzen in Heiterkeit aufzulösen.“78 Die Heiterkeit, in die das Buch allen Schrecken auflöse, rühre daher, daß es dem „empörend Negativen“ „das Positive und Rechte, Vernunft, Güte und Menschlichkeit“ entgegensetze – und zwar „tröstlich entgegensetze“79. Die Heiterkeit rührt also aus dem Trost, der aus der Evokation des Guten angesichts des Bösen erwächst. Die Nationalsozialisten werden mephistophelisch gedeutet, weil das Böse, das sie zeigen, das moralisierende Urteil und damit die Moral wecke. Die Darstellung und Bewertungen von Handlungen als unmoralische Handlungen setzt das „Faktum der Moral“ voraus. Die Darstellung des Abscheulichen (als Abscheulichem) setzt die Geltung der Kategorie voraus, die zwischen abscheulich und nicht-abscheulich unterscheiden läßt. Die Gewißheit über die Geltung dieser Kategorie versetzt (auch angesichts des Abscheulichen) in „Heiterkeit“. Hier ist wieder jenes Wort, auf das wir eingangs hinwiesen: „Heiterkeit“ als Eigenheit der Literatur? Dieser Eigenheit gilt es weiter auf die Spur zu kommen.

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Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 7.XII.1942, S. 506. Thomas Mann, Brief an Agnes E. Meyer vom 25.XII.1943, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 343. Thomas Mann, Einführung/Zehn Millionen Kinder, S. 5. Thomas Mann, Einführung/Zehn Millionen Kinder, S. 5.

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4. Die Antithese: Die Ironisierung der Geschichte „Es wird ein Scherz getrieben mit dem heilig kanonischen Text“, stellte Käthe Hamburger in ihrer Stilanalyse fest, um dann zu dem überraschenden Ergebnis zu kommen: „Blasphemie? Keineswegs.“80 Angesichts der fundamentalen Bedeutung der Moses-Geschichte für die Ethik – eine Bedeutung, die Thomas Mann durchaus präsent war – wäre die Ironisierung der „Konstituierung des Sittengesetzes“81 ein Problem. Denn Ironie dem Geschehen gegenüber würde eben genau das aufheben, was doch als Fundament dienen soll: Das Geschehen war als auratischer (d.h. unzweifelhafter) Verweis auf die Einführung der Kategorie der Ethik und ihre Letztbegründung, als alle (sittliche) Vernunft fundierend und als unabweisbare Motivation, dieser eigenen Vernunft auch zu folgen, verstanden worden. Aber die Ironisierung des Geschehens (oder der Geschichte?) ist nicht zu überlesen. Sie beginnt mit der durchgängig ambivalenten Bewertung der Erzählung, wie sie Thomas Mann in den Paratexten gibt. Durchweg wird die Erzählung in einer sie aufhebenden Doppeldeutigkeit mit Begriffen beschrieben, die sich wechselseitig ausschließen, so, wie sie im Tagebuch anläßlich einer Lesung des Schlusses bezeichnet wird: „[K]omisch und eindrucksvoll“82. Die ironische Gestalt des Erzählens dieser Geschichte soll kurz an einigen Details gezeigt werden; zu verweisen ist auf die Analysen Käthe Hamburgers, die auf den modernen Sprachton hinweist, in dem zuweilen biblische Ereignisse geschildert oder kommentiert werden; es wäre zu verweisen auf die Hervorhebung von Lächerlichkeiten, wenn es um grundsätzlichen Frage geht (die „Schäufelchen“); es wäre aber auch nach der Metaphorik zu fragen: Es überrascht, daß eine Geschichte, die intentional der nationalsozialistischen Blutund Boden-Ideologie entgegengesetzt werden soll, dem nationalsozialistischen Rassismus also ebenso wie seinem imperialistischen Expansionsdrang, immer wieder genau diesen Aspekt und diese Metaphorik als zentral für die Geschichte Israels betont. Schon Käthe Hamburger war aufgefallen, daß vom israelischen „Volk [...] fast stets die Rede [ist] als vom Blut, dem Geblüt, dem Vaterblut“83. Und auffallend ist es auch – bei allen Bezügen zu Sigmund Freuds Herkunftsdeutung – daß Moses, der Baumeister Israels, kein 80 81 82 83

Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk. Zit. nach: Frankfurt/M. 1984, S. 192. Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 181. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 13.III.1943, S. 549. Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 183.

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„blut“reiner Israelit ist, sondern Mischling zwischen einer Ägypterin und einem Israeli. Durchbricht diese Metaphorik nicht die aufklärerische Intention? Ironisiert sie nicht den Anspruch, den die Geschichte als Geschichte einer Begegnung des Menschen mit Gott haben soll? Thomas Mann amüsierte der Gedanke, daß ausgerechnet derjenige, der das Sittengesetz begründen will, ihm nicht folgt. Dies wird in der Erzählung mehrfach dargestellt – etwa im Disput um Moses’ Zweitfrau – und schließlich ausdrücklich thematisiert. In einer Ansprache an den Leser – ein theoretischer Einschub gewissermaßen – entwickelt der Erzähler folgende Argumentation: „Meine Freunde! Beim Auszug aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Mose’s festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein.“ (19)

Soweit die historische, d.h. auf einen Einzelfall bezogene Überlegung über die Theorie des Endsiegs (‘letzte Mal’). Der den Leser als Freund ansprechende Erzähler fährt jedoch fort, indem er, was vielleicht im Einzelfall zu rechtfertigen war, ins Allgemeine hebt und rechtfertigt: „Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen?“ (19)

Wie schon bei den bildungstheoretischen Passagen unterscheidet der Erzähler zwischen Ziel und Verfahren, erlaubt dem Verfahren eine Qualität, die dem Ziel widerspricht. Wie aber soll Rechtmäßigkeit sich durch Gewalt legitimieren, wenn Gewalt nicht prinzipiell auch rechtmäßig sein kann? Der Erzähler überhöht in dieser Passage die Gewalt als „Opfer“ an die Unreinheit (also an etwas prinzipiell Schlechtes) und vernachlässigt, daß es legitimierte Gewalt geben kann. Den Begriff des „Opfers“ an etwas nicht-Göttliches zu binden, hat zudem einen heidnischen Zug. Im Verständnis einer monotheistischen Religion kann man der „Unreinheit“ nichts opfern. Im Abschnitt XI löst der Erzähler die Ambivalenz so, daß er allein Moses ein sittliches Bewußtsein zuspricht, Joshua aber als jemanden kennzeichnet, der – aus Einsicht in die politische Verwirklichung – mit dem Gesetz bricht, um dessen willen Moses doch in die Wüste gezogen war. Moses zeigt Bedenken, willigt aber schließlich doch in die unsittliche Tat um der Heilsgewißheit willen ein: Zwar teilt er nicht die machtpolitischen Argumente Joshuas, entwickelt aber eine theologische Begründung, die am Ende zu der gleichen Tat führt, wie die machtpolitische Begründung. Religion wird als Ideologie ironisiert, denunziert.

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Das moralische Ansinnen Moses’ wird zudem dadurch ironisiert, daß der Erzähler denjenigen, der für die Verwirklichung des religiösen Ziels auf Erden sorgt, mit jenen Symbolen ausstattet und mit jenen Begriffen belegt, die für den zeitgenössischen Leser unmittelbar auf den Nationalsozialismus, bzw. den Faschismus verweisen mußten. Dies geschieht besonders in dem ambivalenten Kapitel, in dem es um die Eroberung der Oase Kadesch durch die soeben aus Ägypten geflohenen Israeliten geht. Nach einem Verweis auf die Ideologie der ‘Macht des Blutes’ findet sich auch ein Verweis auf die Ideologie des Imperialismus. Joshua nämlich beachtet nicht so sehr den religiösen Gesichtspunkt als eher den militärischen und entwickelt den Gedanken der „Eroberung neuen und eigenen Siedelgrundes“ (10) – die Assoziation zur nationalsozialistischen Ideologie vom ‘Volk ohne Raum’ mit seinem ‘Drang nach Osten’ ist allzunaheliegend. Die Ideologie, die Joshua anführt, um die Eroberung der Oase Kadesch zu rechtfertigen, ist gerade jene, mit der Hitler seine Einmärsche und Angriffskriege gerechtfertigt hat: „Er wisse nicht nur im Raume Bescheid, sondern auch in den Vergangenheiten, und er wisse, daß Kadesch ehemals schon – er könne freilich nicht sagen, wann – von ebräischen Leuten, nahverwandtem Blut, Nachkommen der Väter, bewohnt gewesen sei, die von den Amalekitern versprengt worden seien. Kadesch sei ein Raub, und einen Raub dürfe man rauben.“ (25)

Nun war und ist eine solche Argumentation, daß ein zur Zeit von einem anderen Volk – der Erzähler schreibt beharrlich immer wieder und wieder „Blut“ – besetztes Gebiet, früher einmal von Mitgliedern des angreifenden Landes bewohnt worden sei, eines der geradezu ‘klassischen’ PropagandaArgumente für den Beginn eines Krieges; als solche lassen sich aber die Handlungen des biblischen Moses’ mit jenem historisch sich legitimierenden Machtanspruch konnotieren, den eben auch der Nationalsozialismus gegenüber seinen Angriffszielen erhoben hat. Was mögen zeitgenössische deutsche Leser assoziiert haben, als sie die Soldaten der aus Ägypten ausziehenden Israeliten als „Joschua’s Waffenjugend“ (51), als „Schar“ (18), „Rotte“ (18) bezeichnet gefunden hatten und lasen, daß Moses wie Joshua, vom Berge Sinai kommend, das „hohe Balkentor des Lagers“ (49) durchschritten, in dem die Israeliten wohnten? Assoziiert man nicht heute noch ‘HJ’ bzw. ‘Konzentrationslager’, wenn man die beiden Worte „Waffenjugend“ und „Lager“84 hört? Warum stellt sich Moses mit Joshua unter ein „Borkengekreuz“ (51). Was assoziiert man 1943, wenn Gesetzes84

Zur zeitlichen Konnotation „Lager“ – Konzentrationslager vergleiche den gleichnamigen Artikel bei: Dolf Sternberger / Gerhard Storz / W.E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. [1957]. München 1962, S. 70 ff.

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übertreter als „Rädelsführer“ (51) bezeichnet werden, und liest, daß Joshua einen „Verbindungsdienst“ und eine „Polizeiabteilung“ (43) eingerichtet habe? Die Teilung zwischen Befehl und Ausführung – die gerade angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus immer wieder angesprochen wurde – wird ausdrücklich benannt: „Mose wohnte den Hinrichtungen nicht bei, die er des (goldenen, V.L.) Kalbes wegen angeordnet hatte, sie waren des stracken Joshua’s Sache. Er selbst war wieder auf dem Berg...“ (52) Die von Gott gesandten „Würgengel“ (17) werden so charakterisiert, daß man „die vielen aber auf eine Einzelerscheinung“ (18) (einen Typus also) zurückführen kann: es ist der Typus Joshuas, ein „Engelstyp jenes Schlages, der jederzeit froh ist, wenn es mit nutzlosen Verhandlungen ein Ende hat und zu Taten geschritten werden kann“ (18). Das bekannte Motiv, nicht nur des Nationalsozialismus’, sondern des Faschismus’ überhaupt, die Tat als Grund des Handelns anzusehen und einem Kult des Aktionismus („Bewegung“) zu huldigen, wird hier entfaltet. Viktor Klemperer weist materialreich nach, daß der nationalsozialistische Sprachschatz – und damit sein Denken – (ausgehend vom Aktionismus des italienischen Futurismus) „vom Willen zur Bewegung, zum Handeln beherrscht“ ist85. Der Würgengel Gottes wird so parallelisiert zu einer faschistischen Schlägertruppe. Und sie sind der Typus „Joshua“. Aber die Verweise auf den Nationalsozialismus durch die Gestaltung der Person Joshuas (oder Jehoshuas) sind noch deutlicher: Jehoshua wird gekennzeichnet als ein Jüngling, der sich eine „reisige Mannschaft“ (23) herangezogen hat – man stutzt bei dem Adjektiv. Gemeint ist wohl nicht eine „reisende“, eine sich auf der Reise durch die Wüste befindliche Mannschaft, sondern eine, die wie „Reisig“ in den Einzelteilen schwach, deren Kraft gebündelt aber kaum zu brechen ist: Eben dies war das Bild, das im italienischen „Faschismus“ als Symbol benutzt wurde: „Fascismo ist abgeleitet von it[alienisch] fascio ‘[Ruten]bündel’, das seinerseits auf gleichbed. lat. fascis zurückgeht“86. Mit dieser Macht „sorgte [er] für das Führeransehen des Meisters“ (24), eine Formulierung, die ebenfalls in die Gegenwart Thomas Manns verwies. Schließlich wird Joshua – wie eine Arno Breker-Figur – beschrieben als ein „gerade blickende[r] Jüngling, der ihre Bewegungen leitete“. (26) Wenn es eines Begriffes bedürfte, um den Nationalsozialismus zu kennzeichnen, dann jenes, mit dem er sich selbst kennzeichnete: Die „Bewegung“. Der Plural schwächt die Konnotation ab – aber wohl nicht genug, denn der Nachdruck der Geschichte in der Anthologie „Die zehn Gebote“ von 1988 schreibt dann – 85 86

Victor Klemperer, ‘LTI’: Die unbewältigte Sprache. [1946]. München 1969, S. 229. Art. Duden, Faschismus.

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allerdings gegen die bisherige Orthographie – „Bewegung“87. Diese drei Begriffe – „reisige Mannschaft“, „Führeransehen“ und „Bewegungen“ – fallen auf drei Buchseiten, sind also so eng beieinander, daß sie einem Leser, der ein Buch gegen Hitlers Herrschaft lesen will und über ein wenig Vorwissen verfügt, auffallen müssen. Der Erzähler stattet Joshua, den willigen Helfer Moses’, mit Kennzeichen aus, die ihn als dem Faschismus/Nationalsozialismus verwandt erscheinen lassen, und ironisiert so seine bibelüberlieferte Gestalt und zugleich die Moses’. Wir finden ein ironisches „sowohl-als-auch“. Die Ambivalenz gerade in der Wortwahl irritiert. Sie verträgt sich nicht mit der moralischen Intention der Erzählung. Sie amüsiert eher. Sie zeigt den moralischen Moses, der sich jener unmoralischen Ideologie und Machtmittel bediente, deren sich auch der Faschismus/Nationalsozialismus bedient. Das „Gesetz“ ironisiert die Geschichte der Inauguration der Ethik. Moses ist mit dem Verbrechen, gegen das die Geschichte über ihn angehen will, im zwingend verbindlichen Bunde. Die aufgeführten Formulierungen versetzen eine „Einleitung“ zu einem Band, in „deren einzelne Erzählungen alle die 10 Gebote und ihre Mißhandlung durch Hitler behandeln“88, in eine merkwürdige, bedenkliche Ambivalenz. Die Geschichte ironisiert die Moral, indem sie davon erzählt, daß das Moralische so moralisch nicht war. Und so fragt sich, ob das Unmoralische in der Gegenwart so unmoralisch doch nicht ist – weil in der Geschichte Vergleichbares erzählt wurde. Das Unerhörte des Alten Testaments wird als eine Geschichte erzählt, wie man sie jeden Tag lesen und hören konnte; die biblische Geschichte von einer Begegnung Gottes mit den Menschen wird auf ein realistisches Geschehen zurückgeführt und dadurch um genau das entfernt, das sie einst (und eigentlich) ausmachte: Daß die Menschen den Antrieb, Moral von Unmoral zu unterscheiden und moralisch zu handeln, nicht aus der Vernunft selbst ableiten können, sondern einer Kraft bedürfen, die hierzu außervernünftig „motiviert“. Die Grundhaltung des (den Mythos aufklärenden) Erzählers wird explizit beschrieben; sie gilt für die gesamte Erzählung. Es ist die ironische Distanz von der Authentizität der biblischen Vorschrift:

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Die Textgrundlage an dieser bedeutsamen Stelle im Kapitel XII ist nicht eindeutig. Die Edition der Erzählung von Walberer – die auf eine separate Edition der Geschichte aus dem Jahre 1983 zurückgreift – schreibt „Bewegung“ (S. 43); die Edition der Erzählungen von 1986 schreibt „Bewegungen“ (im Sinne von „Schlachtbewegungen“). Thomas Mann, Brief an Bruno Walter vom 6.V.1943, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 311.

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Volker Ladenthin „Über diesen Kampf und die Druckmittel [...] hat es viel Gerede gegeben, das nicht jedes Hintergrundes entbehrt, doch aber stark den Charakter der Ausschmückung trägt.“ (16)

Korrigiert wird, daß die Menschen „geringer nach ihrer Kopfzahl, als legendäre Ziffern es wahrhaben wollen“ (19), waren. Hinzu kommen Formulierungen wie „Tätsächlich scheint es...“ (18), „Sei dem wie ihm sei, auf jeden Fall...“ (19) und: „Die Schlacht fand statt, sie ist eine historische Tatsache.“ (25) Der Erzähler zeigt, daß er sowohl über die Kenntnis der alttestamentarischen Überlieferung verfügt, wie auch eine Einsicht in das Geschehen selbst hat (und nicht nur die weitere Literatur kennt). Die Wirkung ist, daß die Geschichte nicht mehr geglaubt werden muß, sondern daß das Geschehen glaubhaft gemacht wird. Glaubwürdig ist es durch die Verbindung von Überlieferung und verstehender, d.h. entmythisierender Nacherzählung. Durch die Glaubwürdigmachung wird die Notwendigkeit, an ein Geschehen (jenseits von Vernunft) zu glauben, desavouiert. Die Glaubwürdigkeit der Geschichte ersetzt den Glauben an sie. Es fragt sich, ob man eine Geschichte über Gottes Wirken so nacherzählen kann, daß Gottes Wirken glaubwürdig ist. Kann man an Gott nicht nur glauben, kann man ihn glaubhaft darstellen? Es stellt sich die Frage nach dem Gottesverständnis. Ironie einem naiven Gottesglauben gegenüber zeigen jene Passagen, in denen der Erzähler Gott und Moses „als identisch erscheinen lassen“89 will bzw. unverblümt als Projektion oder Scheinbegründung darstellt. An diesen Stellen drängt sich die formulierte Frage auf, ob es für den Erzähler einen, genauer: den alttestamentarischen Gott überhaupt gibt oder ob dieser nicht vielmehr eine Projektion ist, auf die man jene Legitimationsprobleme verschieben kann, mit denen nicht nur der Moses der biblischen Tradition konfrontiert wird. Ist Gott eine Erfindung des Menschen? Ist Gott eine Ideologie, mit dessen Autorität sich Gehorsamkeit einfordern oder – wie in der Erzählung – sogar erzwingen läßt? Wird Gott nur insoweit akzeptiert, wie Moses seiner „für die Durchsetzung des Werkes beim Volk bedarf“90, wie man seiner rhetorisch benötigt oder wie man ihn sich vernünftig denkt? Ist Gott nicht als Offenbarung, sondern nur als Vernunftprodukt zugelassen? Zuweilen ist im Text Gott ein nützliches Argument für Moses, zuweilen spricht Gott selbst. Es gibt Textstellen, in denen der Erzähler ganz naiv von Gott spricht, sogar mehrfach von Gottes ‘Eingriff’ (41) in die Geschichte:

89 90

Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 186, mit weiteren Belegen. Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 186.

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„Es stellte sich aber unzweideutig heraus, daß immer, solange Mose die Arme betend zum Himmel erhoben hielt, Israel siegte, ließ er aber die Arme sinken, so siegte Amalek.“ (26)

Zwar wird auch dieser Hinweis auf Gottes Eingreifen in die Geschichte, in seinen Krieg, psychologisierend erklärt („aus dem Anblick schöpften die drunten frischen Mut“ (26), so daß nicht das Gebet, sondern der Anblick des Betenden den Israeliten zum Sieg verholfen haben könnte), aber die Episode schließt mit der eindeutigen Bemerkung, daß die „Schlacht um Kadesch mit Jahwe’s Hilfe gewonnen worden“ (27) war. Dann aber, im entscheidenden Schluß, folgt Gott schließlich der menschlichen Vernunft: „Namentlich dies Argument war es, womit er Gott überwand...“ (53). ‘Überzeugte’ hätte man zu lesen erwartet, aber wenn ein menschliches Argument Gott überzeugt (weil es das bessere Argument ist und Gottes ursprüngliche Absicht mithin falsch), dann ist Gott mit dem Überzeugungserfolg ‘überwunden’. Dann ist die menschliche Vernunft die Letztbegründung für alles Tun, auch für Gott – nicht Gottes Gewährung dieser Vernunft. So hat denn, in diesem Dialog Moses’ mit Gott, auch Moses das letzte Wort: „Dabei wollen wir’s lassen.“ (53) Die Ironie beraubt die gesamte Geschichte ihrer intentionalen Ernsthaftigkeit, erhebt den Erzähler – der zuweilen aus allwissender Sicht mit dem Leser plaudert – über das Geschehen. Der Erzähler verfügt über das biblische und das heutige Wissen und erzählt aus dieser Haltung. Nur – worauf richtet sich die Ironie? Thomas Mann delegitimiert die biblische Geschichte als Glaubensgeschichte, als zu glaubende (nicht zu überprüfende) Geschichte, indem er unter der Geschichte ein (glaubwürdiges) Geschehen hervorsucht. Die „Erweiterungen, Ausmalungen, Erfindungen, Veränderungen“, die Zitate, die wörtlichen und indirekten Übernahmen von Bibelstellen – gerade in jenen Details, bei denen man es nicht erwarten würde – sollen die Geschichte neu erzählen, und zwar so, daß man das Geschehen vollständig (also gewissermaßen rational) nachvollziehen kann. (Zu diesem Nachvollzug gehört auch, daß die Frage nach der Existenz Gottes offen gelassen wird.) Wie schon die als ursprünglich überlieferten Texte der Bibel nicht ursprünglich sind, sondern auf Überlieferungen zurückgreifen, so daß es nur einen logischen Ursprung, nicht aber eine Überlieferung des zeitlichen Urtextes der biblischen Geschichten gibt, so reiht sich der Text Thomas Manns als neue „Ausgestaltung und sprachliche Variation des Grundtextes“91 in die unendliche (anfangslose und endlose) Überlieferungsgeschichte ein. Aber eine Variation ist nicht 91

Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 200.

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einfach nur Paraphrase, sie ist auch „im weitesten Sinne Anwendung“92 oder sogar Aufhebung der biblischen Geschichte. Dieser These soll zum Schluß der Überlegungen nachgegangen werden.

5. Die Synthese: Die Ästhetik und Ethik des ironischen Erzählens 5.1 Das Problem Von seinen 56 Rundfunkansprachen an „Deutsche Hörer!“ (die von Thomas Mann merkwürdigerweise geduzt werden) widmet er die vom 25.4.1943 der Novellensammlung „Die zehn Gebote“. Darin stellt er zuerst das Konzept der Novellensammlung vor, dann seine eigene Erzählung und schließlich liest er jene „Worte, mit denen [...] [Moses] die Gesetzestafeln seinem Volk überhändigt.“93 Thomas Mann begründet die Auswahl gerade dieser Stelle (es ist der Schluß der Erzählung)94 damit, daß sich diese Worte „in den Rahmen meiner Sendungen an euch, deutsche Hörer, fügen“95. Er erwähnt, daß der Text „Das Gesetz“ „die Einleitung“ für einen Sammelband engagierter Geschichten sei, „das erste Stück dieses Buches“96, kommentiert aber: „Es ist auch nur eine Geschichte, [...] die natürlich dargestellte Geschichte des Mannes, der den Dekalog, das kurzgefaßte Sittengesetz der Humanität, empfing“97. Herausgestellt wird also ausdrücklich der nicht-diskursive Charakter der „Einleitung“ 92 93

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95 96 97

Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 202. Thomas Mann, Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland, in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Hans Bürgin. Bd. III: Politische Schriften und Reden. Frankfurt/M. / Hamburg 1968, S. 185 ff. Ansprache vom 25.4.1943, S. 250 ff., hier S. 251. Auf deutsche Radiohörer muß der Text etwas verwirrend gewirkt haben: „In den Stein des Berges metzte ich das ABC des Menschenbenehmens, aber auch in dein Fleisch und Blut soll es gemetzt sein, Israel (!), so daß jeder, der ein Wort bricht von den zehn Geboten, heimlich erschrecken soll....“ (Mann, Deutsche Hörer!, S. 251): Es klingt für einen Radiohörer, der den gesamten Text ja nicht kennt, als ermahne Thomas Mann zuerst die noch in Deutschland lebenden Juden – zumal die männlichen den Namen Israel tragen mußten – sich sittlich zu verhalten. Es wirkt, als seien sie Adressat der Ansprache. Die vorausgesetzte Übertragungsleistung, daß die Ansprache Moses an „Israel“ als Appell Thomas Manns an die Deutschen zu lesen ist, ist angesichts einer 10jährigen antisemitischen Propaganda nicht unbedingt gesichert. Sie setzt geradezu die Identifikation der deutschen Hörer mit dem in der Erzählung angesprochen Volk Israel voraus. Thomas Mann, Deutsche Hörer!, S. 251. Thomas Mann, Deutsche Hörer!, S. 251. Thomas Mann, Deutsche Hörer!, S. 251.

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und die ‘natürliche Darstellung’. „Natürlich“ – im Gegensatz zu was? Zugleich spannt Thomas Mann die Erzählung in einen politischen Rahmen – den der Radioansprachen – und in den Rahmen der Ethik. Wie passen nun moralische Intention und literarische Erzählung, Fundierung der Ethik und Ironie des Erzählens zusammen? Lassen sich die bisher herausgestellten Ergebnisse in eine Synthese bringen? In den letzten Abschnitten wurden die Ironisierungen vorgestellt; es wurde gezeigt, daß der Text hochambivalent ist, eine verstörende Terminologie aufweist. Der Umstand aber, daß Thomas Mann die Schlußpassage der Erzählung in einer historischen Situation als unmittelbare Botschaft, geradezu als Appell vortrug, belegt, daß es ihm auch ernst um die Geschichte war. In der Schlußpassage wird immerhin der absolute Anspruch der mosaischen Gesetzgebung ausgesprochen: Die Verkündigung der 10 Gebote wird als ‘Bund’ „zwischen Gott und Menschen“ beschrieben, „den keiner brechen kann, weder Mensch noch Gott, denn er ist unverbrüchlich.“ (54) Der Akt der göttlichen Gesetzgebung, die Besieglung des „Bündig-Bindende[n]“ (46) wird in einer ernst wirkenden Passage beschrieben, die frei von aller Ironie ist. Die Geschichte hat demnach zwei Stimmungszentren; einmal das Parodistisch-Ironische, zum anderen das Ernsthafte. Beide Intentionen sind aber nicht miteinander verbunden. Diese Interpretation erfährt Unterstützung durch die folgende Tagebuchnotiz: „Schloß [Kapitel] XII ab und komme zur Hauptsache.“98 Das mosaische Gesetz wird als „ewig-Kurzgefaßtes“ benannt, als „Gottes gedrängtes Sittengesetz“, als „Quintessenz des Menschenanstands“ (45) – alles Formulierungen, die den ethischen Charakter der Erzählung hervorheben. Es mochte nicht nur Karl August Horst scheinen, als fordere „ihr Anspruch [...] andere als nur ästhetische Maßstäbe.“99 Eine solche Argumentation könnte sich auf Vielerlei berufen – jedoch nicht auf den ganzen Text. Er liegt als ambivalente Erzählung vor; erst ihr Kontext und nur einige Passagen des Textes laden diese Erzählung mit ethischer und rechtsphilosophischer Bedeutung auf. So sehr die Erstpublikation der Erzählung es nahelegt, sie aus einem diskursiven Interesse heraus zu lesen und zu beurteilen, so sehr legt die unmittelbar nach der Erstpublikation erfolgte einzelne „reizend [...] kleine Luxus-Ausgabe“100, eine autonome, also mit einem ganz 98 99

Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 13.II.1943, S. 536. Karl August Horst, Der Prophet ohne Gott. Zu Thomas Mann Moses-Biographie, in: Rheinischer Merkur 23. Juli 1949, S. 3–4, hier S. 3. 100 Thomas Mann, Brief an Agnes E. Meyer vom 3.XII.1944, in: Thomas Mann, Briefe II 1937–1947, S. 403.

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anderen Paratext versehene Publikation es nahe, sie aus einem literarischen (Luxus-)Interesse heraus zu lesen – eine Perspektive, die wir zum Abschluß wählen wollen. Die entscheidende Frage ist, welche Bedeutung die Ironie für die Geschichte hat.

5.2 Die Ironie. Allgemeines Eine Ironie, angewandt in einer Erzählung, die vorgibt, Tatsachen zu vergegenwärtigen, „schüttelt [...] mit dem ironischen Gestus, der den eigenen Vortrag zurücknimmt, den Anspruch ab, Wirkliches zu schaffen, dem doch keines seiner Worte entrinnen kann, am sinnfälligsten vielleicht in der Spätphase [...], wo der Dichter [...] durch den Habitus der Sprache den Guckkastencharakter der Erzählung, die Unwirklichkeit der Illusion einbekennt, und eben damit, nach seinem Wort, dem Kunstwerk jenen Charakter des höheren Jux zurückgibt, den es besaß, ehe es mit der Naivität der Unnaivität den Schein allzu ungebrochen als Wahres präsentierte.“101

Soweit Theodor W. Adorno über den Stil Thomas Manns. Wolfgang Emmerich präzisiert die ironische Haltung der Mannschen Prosa und schreibt der Ironie eine „doppelte Funktion“ zu: Die Ironie verwandele einerseits das „Wirkliche in Fiktion und bewahrt damit den Kunstcharakter“ und entlarve andererseits die „Fiktion des Wirklichen als Fiktion und hebt sie damit auf“102. Die erzählte Begebenheit wird im Vorgang ihrer Konstitution aufgelöst. Das ironische Erzählen zerstört den Anspruch, daß es so „wirklich gewesen ist“, wie es erzählt wird. Zugleich ist das Erzählen hierzu notwendig; es konstituiert sich selbst. Die Ironie der Erzählung verbietet es, sie als Beschreibung von vorausgesetzten Tatsachen zu verstehen. Die ironische Erzählung ereignet sich im Erzählen, wohl wissend, daß es nichts außer ihr gibt, was zu diesem Erzählen beiträgt. Die Literatur bekommt eine autonome Position. Ihr Gehalt ist nicht danach zu bemessen, wie nahe sie den „Tatsachen“ oder wie angemessen sie einem vernünftigen Diskurs ist.

101 Theodor W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. [1954], in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur I. Frankfurt/M. 1973, S. 61 ff., hier S. 68 f. 102 Wilhelm Emrich, Die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts und ihr geschichtlicher Sinn, in: Deutsche Literatur in unserer Zeit. Mit Beiträgen von W. Kayser, B. von Wiese, W. Emrich, Fr. Martini, M. Wehrli, Fr. Heer. 2. durchgesehene Aufl. Göttingen 1959, S. 58–79, hier S. 60 f.

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5.3 Die Ironie im „Gesetz“ Überträgt man diese grundsätzlichen Überlegungen über die Funktion der Ironie im Spätwerk Thomas Manns konkret auf die Moses-Novelle, so wäre zu folgern, daß diese nicht eine neue Erzählung von der Begegnung des Menschen mit Gott ist, sondern die Ironisierung – Aufhebung – dieser als immer schon gegeben geglaubten Begegnung. Damit wird der Geltungsanspruch der Erzählung, die nacherzählt wird, destruiert103. Die Basis ihrer Glaubwürdigkeit – das vorausgesetzte Geschehen der Begegnung Gottes mit den Menschen – wird in Frage gestellt. So kommt es zu dem von Thomas Mann ausdrücklich notierten Urteil, daß man die Geschichte „gelegentlich [als, V.L.] zu rationalistisch gefunden“104 habe. Die Erzählung fällt zudem auseinander – so wie es Thomas Mann auch ausdrückt, wenn er einerseits betont, daß es ihm mit dem Gegenstande „ernst“ gewesen sei, „das Legendäre“ jedoch „scherzhaft“ und mit „voltairisierendem Spott“105 behandelt worden sei. Das Problem des in diesem Falle behandelten Sujets ist nur: Das Legendäre ist der Gegenstand. Nicht die vermeintliche Tatsache der Geschichte zur Einführung eines Sittengesetzes, sondern der Glaube, daß dieses Sittengesetz göttlichen Ursprungs sei, ist Grund für die Paranäse der mosaischen Geschichte. Nicht eine Tatsache, sondern der Glaube an sie stiftet den Geltungsgrund für die Ethik. Nicht die vorliegenden Gesetzestafeln, sondern der Glaube an den göttlichen Ursprung der Sittlichkeit stiftet eine Letzt‘begründung’ für ethisches Handeln. Bei Thomas Mann wird gerade diese Geschichte ironisiert und damit ihrer prinzipiellen Geltung beraubt. Diese problematische Folge einer an sich unproblematischen, weil literarischen Erzählweise ist von Karl August Horst bemerkt und auch beanstandet worden: „Thomas Mann hat in einem Interview die einsichtige Äußerung getan, er widerrate der deutschen Jugend, die ohnehin an Skepsis erkrankt sei, die Lektüre seiner Werke, deren Ironie ihr nicht förderlich sein möchte. Wie wenig vermochte sich diese Ironie selber in Schranken zu halten! Sie ist längst kein Salz mehr, sondern 106 ätzende Säure.“ 103 Dies hat wohl zuerst Werner Georg Kümmel (Das Moses-Buch Thomas Manns und die Bibel, in: Neue Schweitzer Rundschau. Neue Folge 12 (1945). S. 544–550) so formuliert: „Hier tritt die Religion des modernen Menschen an die Stelle des biblischen Gottes...“ 104 Thomas Mann, Tagebücher 1944–1946. Hg. von Inge Jens. Frankfurt/M. 1986, 13.I.1944, S. 9. 105 Thomas Mann, Die Entstehung, S. 95. 106 Horst, Der Prophet ohne Gott, S. 4. Hervorheb. v. Horst.

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Die indirekt zitierte Äußerung von Thomas Mann spricht allerdings nicht von Ironie, sondern von Parodie: „Ich glaube nicht, daß mein Werk der deutschen Jugend heute zuträglich ist. Die Jugend, so heißt es, sei voller Mißtrauen, sie sei skeptisch, mitunter sogar nihilistisch. Da ist das Parodistische meiner Bücher nicht gut für sie.“107

Bezöge man diese allgemeine Äußerung, wie Horst es unternimmt, auf die Moses-Novelle, dann würde der das ethische Fundament zerstörende Anspruch der Geschichte noch verstärkt. Die Ironisierung der biblischen Geschichte zerstört den Geltungsgrund, den sie erhebt. Würde sich die Ironie gegen die Rekonstruktion eines „Wie-es-denn-tatsächlich-gewesen-ist“ wenden, so wäre die Ironie erhellend; indem sie aber eine ausschließlich zu glaubende Begebenheit als Gegenstand wählt, bezweifelt sie nicht die Tatsache, sondern das Legendenhafte, kurz: den Glauben. Da zudem der Zweifel am Glauben in der Ironie gegenüber der (biblischen) Erzählung, nicht aber der Tatsache gegenüber, gestaltet wird, entäußert sich die Ironie aus einer Haltung dessen, der weiß, wie es denn ‘wirklich’ – d.h. ohne Glauben – gewesen sei. Damit setzt sich die Geschichte Thomas Manns an die Stelle der biblischen Überlieferung – und eben dies bemerkt Horst: „Man weiß, was es mit dem Gott Abrahams und dem Gesetz Mosis auf sich hatte. Man ist Moralstifter wie der Mahomet Voltaires und verständigt sich zwinkernd mit dem Höchsten.“108 Die Nacherzählung bemüht nicht den Glaubensakt. Sie ironisiert ihn vielmehr, so daß zwischen Literatur und Glaube, Ästhetik und Theologie nicht nur zu unterscheiden, sondern zu trennen ist. Wie kann aber dann der normative Anspruch der Erzählung, Fundierung des Ethischen zu sein, gerettet werden? Es wäre nun zu fragen, ob es Thomas Mann in der Erzählung gelingt, die transzendente Gewißheit bei gleichzeitig weltimmanenter Ungewißheit über den Wahrheitsgehalt der Erzählung in eine weltimmanente Gewißheit bei gleichzeitiger Indifferenz gegenüber den Geltungsansprüchen der Transzendenz – also der Religion – zu begründen. Läßt sich das, was absolut verbindlich war, aber geglaubt werden mußte, durch aufklärende (salzende, ätzende oder destruierende) Ironie in etwas transformieren, was nicht geglaubt zu werden braucht, sondern erfahren werden kann und deshalb erneut, aber eben nicht religiös absolut verbindlich ist?

107 Arnold Bauer, Wandlung eines Dichters. Ein zweites Gespräch mit Thomas Mann, in: Neue Zeitung. 21. Juni 1949. [Nachgedruckt in: Volkmar Hansen / Gert Heine (Hg.), Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955. Hamburg 1983, S. 296– 300, hier S. 298.] Hervorheb. v. mir, V.L. 108 Horst, Der Prophet ohne Gott, S. 4.

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5.4 Die Fundierung der Moral durch die Literatur Friedrich Schiller hatte mit seiner Nacherzählung der Moses-Geschichte den Versuch unternommen, die Geschichte Moses in ihrer Bedeutung für die Ethik zu bewahren, ohne dabei auf eine explizit religiöse, ausschließlich zu glaubende Voraussetzung zurückzugreifen. Er deutet die Religion Moses’ als „Vernunftreligion“109, und Moses als Ethiker, der sich einer Offenbarungserzählung als „wirksamen Instrumentes“110 bedient, um sich dem begrenzten Verständnisvermögen (des unterdrückten und daher ungebildeten hebräischen Volkes) verständlich zu machen. Schiller zeigt auf, daß diese Geschichte in Bildern als Bedeutung enthält, was die Vernunft aus sich selbst konstruieren könnte. Er argumentiert, daß die Geschichte von Moses erfunden wurde, um mit ihr jenes politische Ziel zu begründen, das er verfolgte, und um sich selbst unhintergehbar zu „legitimieren“111 – so daß die Geschichte zwar geglaubt werden kann, für den, der denkt, aber nicht geglaubt werden muß, weil er durch sein Denken zu eben dem Inhalt kommt, der von anderen geglaubt wird. Diese Lösung schien ihm zu seiner Zeit möglich. Doch die Transzendentalphilosophie sah sich mit dem Vorwurf der Selbstreferentialität konfrontiert, da sie die Vernunft durch sich selbst begründe. Somit stellt sich die Frage, warum die Aussagen der Vernunft als gültig angesehen werden? Dieser Frage stellte sich Schiller nicht. Der Glaube wird als Beschränkung der Geltung aufgefaßt, da er eben nicht zwingend sei und nicht intersubjektiv verbindlich gemacht werden könne; zugleich ist er aber eine Fundierungskraft, die die Vernunft nicht erreicht und nie erreichen kann, weil sie sich nicht selbst legitimieren kann. Schiller fragt also anläßlich der Moseserzählung nach der Möglichkeit, den „Aberglauben [...] auszurotten, aber den Glauben [...] (zu) erhalten.“112 Genau dieses Kunststück soll nun nach Thomas Mann das Kunststück der Moses-Novelle vollbringen. Es soll einerseits die absolute Geltung von Moral aufzeigen – wissend, daß zuvor nur dem Glauben diese Legitimationsleistung gelang, ohne andererseits diese absolute Geltung durch den Verweis auf eine nicht absolut (d.h. voraussetzungslos) geltend zu machende Religion zu „legitimieren“. Diesen Hiatus, einen moralischen Vernunftanspruch nicht wieder durch Vernunft oder Moral zu legitimieren, versucht nun Thomas Mann in der Form der 109 Friedrich von Schiller, Die Sendung Moses, in: Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Leipzig o.J. Bd. X. Prosaische Schriften, S. 268 ff., hier S. 276. 110 Schiller, Die Sendung Moses, S. 275. 111 Schiller, Die Sendung Moses, S. 275. 112 Schiller, Die Sendung Moses, S. 277.

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Erzählung, die aber zugleich nur Erzählung ist, weil es das, was sie erzählt, gar nicht ohne sie gibt. Zur Rekapitulation die falschen Lösungen dieses Problems: Eine realistische Erzählung kann einen Geltungsanspruch stellen; dessen Grund liegt aber außer ihr. Damit setzt eine realistische Erzählung etwas voraus, was sie doch beweisen will: Tatsachen. Oder eine Erzählung kann einen Geltungsanspruch dadurch erheben, daß das, was sie – parabelhaft – erzählt, auch durch Vernunft einzuholen ist und deshalb gilt. Damit wäre aber die Erzählung überflüssig, oder zumindest nachgängig bzw. illustrierend gegenüber dem argumentierenden Verstand. Thomas Manns ironische Erzählung emanzipiert nun die Erzählung einerseits von dem Verweis auf eine außer ihr bestehende Realität, dessen Abbild zu sein sie vorgibt. Diese Realität ist im Fall der biblischen Geschichte die Realität des Glaubensaktes (nicht die historischen Vorgänge, denn die biblischen Geschichten sind keine Geschichtsschreibung, sondern dem Selbstverständnis nach Erzählungen von der Begegnung Gottes mit dem Menschen.) Die Geschichte destruiert das, was sie abzubilden vorgibt (die Gottes-Begegnung des Menschen) umso stärker, je mehr sie es ‘abbildet’. Die Zunahme an Abbildungsarbeit zerstört das Abgebildete. Zumindest die Glaubensrealität, von der die Geschichte (in der Bibel) erzählt, gibt es in dem Maße immer weniger, wie die Geschichte Thomas Manns von ihr erzählt. Übrig bleibt eine Sprache, die nicht die Welt, sondern sich selbst meint und hieraus eine neue Welt entstehen läßt. Thomas Manns Ironie emanzipiert aber andererseits die Erzählung auch von einem diskursiven Gehalt, der durch den Verstand einzuholen wäre, da die Geschichte nichts meint, was sie nicht zugleich widerruft. (Das war am Beispiel die Volksbildungstheorie gezeigt worden.) Die Moses-Novelle bedarf also weder der Anerkennung als Erzählung von Tatsachen (durch die Verwalter dieser ‘Tatsachen’, die rechtshistorische Wissenschaft; durch die Verwalter des Glaubens, der Theologie) noch der nachträglichen bzw. letztendlichen Legitimation durch den Verstand (durch die Verwalter des Verstandes, die Philosophie). Das, was sie erzählt, lebt nicht von Gnaden einer (vorausgesetzten) Tatsächlichkeit oder des Glaubens und nicht von Gnaden des (nachträglich rechtfertigenden) Verstandes. Die (ironische) Fiktion erhält ein eigenes Recht zwischen Tatsache und Verstand. Die Fiktion kann nicht anders rekonstruiert werden als durch die Lektüre. Sie bestätigt sich selbst. Man kann also die Geschichte nicht anders erzählen, als sie sich erzählt. Man kann dem Gehalt der Geschichte nicht diskursiv vorauseilen. Die Geschichte setzt keine Tatsachen und keinen Glauben voraus; sie konstituiert eine

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eigene, literarische Wirklichkeit. (Die Moses-Novelle Thomas Manns erzählt nicht eine (vorausgesetzte) Tatsache nach, sondern stellt eine Geschichte vor.) Die Geschichte setzt aber auch keine Vernunft voraus, die das außerhalb der Geschichte begründen könnte, was die Geschichte selbst darstellt. Die erzählte Geschichte ist weder bedeutsam, weil sie von etwas erzählt, was sich tatsächlich ereignet hat oder geglaubt werden muß, noch weil sie eine Vernunftwahrheit beinhaltet. (Auch liegt kein bedeutungsfreier Jux vor.) Gleichwohl wird die Geschichte erzählt. Man muß also die Geschichte glauben – aber nicht in einem religiösen Sinne, sondern in dem Sinne, daß die Geschichte, die erzählt wird, ihren eigenen Ablauf glaubwürdig macht, ohne daß die Geschichte selbst (ohne diese Erzählung) zu glauben wäre. Der Erzähler hat die „Aufgabe, sie zu beschreiben, als wäre sie wirklich vorhanden.“113 (In einer Tagebuchnotiz über die anfänglichen Schreibprobleme beim Doktor Faustus benennt Thomas Mann die „menschenfigürliche Ausgestaltung [...], die Füllung mit prägnanten Umgebungsfiguren“ kurz die „mehrfache [...] VollRealität“114 als Bedingungen für das glaubwürdige Erzählen.) Da man die Geschichte aber glauben kann, weil man ihr folgt und sie in ihren Partikeln für vernünftig hält, so daß man ihr folgen kann, muß man sich auch dem Erzählten beugen. Die Geschichte stimmt, weil ihre Erzählung stimmt (nicht ihre Referenz, nicht ihre Vernunft). Wenn aber der Vorgang des Erzählens stimmt, dann muß auch das in diesem Vorgang Erzählte stimmen, weil das Erzählen und das Erzählte immer zusammenfallen und nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Wer also die Geschichte für glaubwürdig hält, muß ihr glauben – nicht in einem empirischen oder einem vernünftigen Diskurs, sondern in einem sprachlichen Sinn. Die Geschichte erzählt eine Geschichte, die in sich stimmig ist und deshalb geglaubt werden muß. Der Gegenstand der Moses-Novelle ist aber die Geltung der Moral; sie wird nicht dadurch erwiesen, daß auf eine (religiöse) Erzählung oder auf eine ihr vorausgesetzte Tatsache verwiesen wird, sie wird nicht dadurch erwiesen, daß das Erzählte als Parabel für einen Vernunftschluß illustrierend eingesetzt wird. Vielmehr wird die Geltung der Moral dadurch erwiesen, daß ihre Fundierung erzählend dargestellt wird, diese Erzählung aber als Summe einzelner Evidenzen der „zweiten Sinnlichkeit“115 bei der Literatur, also der sprachlichen Realisation erfahrbar wird. Ihr Geltungsgrund liegt in der sprachlichen Erfah113 In: Theodor W. Adorno, Zu einem Porträt Thomas Manns. [1962], in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur III. Frankfurt/M. 1974, S. 19 ff., hier S. 26. 114 Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943, 11.IV.43, S. 562. 115 Adorno, Zu einem Porträt Thomas Manns, S. 23.

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rungsfähigkeit der Leser: In dem Maße, wie sie der Sprache vertrauen (können), kann die Geschichte Geltung beanspruchen. Wenn sie aber der Sprache und der in ihr erzählten Geschichte vertrauen, dann kommt der Geschichte absolute, d.h. unhintergehbare Geltung zu. Denn die Geschichte ist dann ja Produkt des Lesers, er hat sie nachvollzogen d.h. hervorgebracht. Er wurde weder durch Argumente gedrängt noch durch Verweis auf eine Tatsache gezwungen, ihr zuzustimmen. Vielmehr hat er die Geschichte in der Sprache selbst erfahren und sie konstituiert. Wenn er die Geschichte gelesen hat und das Geschehen als Geschichte akzeptiert hat, dann kann er sich der Geschichte nicht mehr versagen. Die verstehende Lektüre ist akzeptierende Applikation. Verstehen und Akzeptieren fallen zusammen. Dieses Konzept ist der Versuch, die Differenz zwischen Ethik und Ästhetik zu überwinden, Moral und Kunst zu verbinden: Denn die „Prinzipien“, die für Thomas Mann „die Existenz des Dichters, des Schriftstellers definieren [...] sind, Erkenntnis und Form – beides zugleich und auf einmal. Das Besondere ist, daß dieses beides für ihn eine organische Einheit bildet, worin eines das andere bedingt, fordert, hervorbringt.“116 Die Ironie ist dabei Bedingung der Möglichkeit dieser Ästhetik. Denn sie verhindert, daß der Leser sein Weltwissen und seine Vernunft, sein Wissen über Tatsachen und eine ethische Begründung als Geltungsgrund für oder gegen die Geschichte einbezieht. Die Ironie verhindert aber auch, daß die Geschichte als Parabel gezwungen wird, lediglich eine Illustration der Vernunft zu sein. Denn beide Male käme ein Legitimationsproblem auf: Wie begründet man jenen Diskurs, mit dem man Tatsachen benennt; wie begründet man, daß man der Vernunft folgen soll? Schöne Literatur hat dieses Begründungsproblem nicht. Sie ist immer schon in dem Medium, das nach seiner Begründung fragt und die Geltung, die unbezweifelbar ist, vorführt. Literatur ist Letztbegründung. (Freilich auch nicht mehr.) Diesen Anspruch kann Thomas Mann einlösen, weil er das Problem des Literarischen als Sprachproblem aufgreift – so daß schließlich auch das Ethische ein Sprachproblem ist. Wenn nämlich das ironische Erzählen weder der Tatsachen noch der Vernunft bedarf, dann bleibt doch nur Sprache übrig, Sprache an sich: „Denn so verhält es sich, daß der Geist der Erzählung ein bis zur Abstraktheit ungebundener Geist ist, dessen Mittel die Sprache an sich und als solche, die Sprache

116 Thomas Mann, Der Künstler und die Gesellschaft, S. 344.

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selbst ist, welche sich als absolut setzt [...]. Gott ist Geist, und über den Sprachen ist die Sprache.“117

Thomas Mann unternimmt es, das Prinzip der Moralität nicht mehr religiös, sondern ästhetisch zu fundieren. Insofern ist Horsts Argument, daß sich Thomas Mann als Religionsstifter betätigt, nicht ganz von der Hand zu weisen. Nur ist es eben nicht die Religion, die Mann neu stiftet – und auch nicht ein moralisches Denken – sondern der Versuch, Sittlichkeit weder diskursiv (und selbstreferentiell) noch theologisch (also durch einen Glaubensakt) zu fundieren, sondern ästhetisch, d.h. unhintergehbar, vorvernünftig – also magisch. Die Frage, der sich Thomas Mann stellt, lautet: ‘Läßt sich die Moses-Geschichte (noch) so erzählen, daß sie – obwohl sie weder stimmt noch etwas parabolisieren soll – verbindlich ist?’ Die Ironie des Erzählers gilt theologischen und realistischen Implikationen – und er wendet sich dagegen, daß die Fiktion anderes sein soll als Fiktion – aber dieses eben doch sein muß. Der Fiktion kommt eine legitimierende Aufgabe zu; da diese nicht „rational“ sein kann, ist es die magische Funktion des Fiktionalen. Ganz in diesem Sinne hat Adorno den eigenartigen Realismus Thomas Manns mit seiner Ironie und dem Magischen zusammengebracht, nämlich den „paradoxen Sachverhalt, daß die Beschwörung solcher Bilder, also das eigentlich Magische des Kunstobjektes, um so vollkommener gerät, je authentischer die Realien sind.“118 Das Geschehen, etwas zu erzählen, in dem Gut und Böse zu unterscheiden sind, setzt nun schon diese Kategorien als gültig voraus, die angeblich zu bezweifeln sind. Wer der Erzählung folgt, kann ihr nur folgen, wenn er ethische Kategorien anwendet – also kann er sie nicht mehr bezweifeln. Wer nach der Sittlichkeit des Handelns Moses’ oder Joshuas fragt, klagt schon Prinzipien der Sittlichkeit ein. Und wer sich einer Geschichte zuwendet, die „Das Gesetz“ lautet, ist schon motiviert, nach dem Gesetz zu fragen. Wer aber das Ethische an sich, die Prinzipien und die Motivation bezweifelt, kann die Geschichte nicht verstehen; wenn er sie verstanden hat, hat er seinen Zweifel schon überwunden und die Kategorien akzeptiert. Es gibt nur ein drinnen oder ein draußen, es gibt keinen Zweifel. Ebenso beschreibt die Erzählung nicht, was gelungene Volkbildung ist, sondern läßt erfahrbar werden, daß Bildung immer schon als nötig und möglich vorausgesetzt wird und ein vom Absoluten, d.h. der Idee der Menschenwürde ausgehender Auftrag ist. Die Kritik an Inhalten des (abziehbaren) Bildungsbegriffs setzt seine prinzipielle Akzeptanz voraus. 117 Thomas Mann, Der Erwählte. Frankfurt/M. 1951, S. 13. 118 Theodor W. Adorno, Aus einem Brief über die ‘Betrogene’ an Thomas Mann. (vom 18.I.1954), in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Bd. XI. Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1974, S. 676 ff., hier S. 679.

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So gelingt dem ironischen Erzählen gerade durch Abkehr von Faktizität und Vernunft die Begründung der Kategorien, weil es zeigt, daß wir immer schon voraussetzen, was wir vielleicht bezweifeln wollen, die Geltung der Idee der Sittlichkeit. Insofern liefert der Text Thomas Mann eine Letztbegründung für Moral. Und nun ist zu verstehen, was Thomas Mann über die Fundierung der Moral geschrieben hatte: „Hat man nicht das Gefühl, daß doch eine solche Instanz da ist? Und möge es nicht die christliche Moral sein, so ist es schlechthin der Geist des Menschen, die Humanität selbst als Kritik, Ironie und Freiheit, verbunden mit dem richtenden Wort.“119 Bleibt aber eine letzte Frage: Warum gibt es eine Literatur, die sich der Indienstnahme als Tatsachenbeschreibung und der Indienstnahme als Vernunftillustration entzieht und nur noch Sprache sein will? Aber das wäre ein anderes Thema120.

119 Mann, Die Aufgabe des Schriftstellers, S. 306. 120 Eine erweiterte Fassung dieses Textes in meinem Buch Gerechtes Erzählen. Studien zu Thomas Manns Erzählung ‘Das Gesetz’, zu Theodor Storm und Ernst Toller. Würzburg, Königshausen & Neumann 2010.

KOMMENTAR II

Thomas Vormbaum

Recht und Staat – Mythos, Erzählung, Realität Thomas Manns Novelle „Das Gesetz“ I. Vorüberlegungen „Das Gesetz“ – eine Novelle, die einen der Zentralbegriffe des Rechts im Titel trägt, muss die Neugier des literarisch interessierten Juristen wecken, auch wenn er weiß, dass rechtliche bzw. juristische Fragen als solche den Autor wenig interessiert haben; Thomas Mann war alles andere als ein „Dichterjurist“1 – nicht nur, weil er kein ausgebildeter Jurist war, sondern auch, weil ihn rechtstheoretische Fragen wenig interessierten. Umso mehr stellt sich die Frage, ob juristische und rechtshistorische Fragestellungen – selbst wenn sie nur in einem weiten, nicht technischen Sinne als solche verstanden werden – die angemessene Kategorie sind, mit der man Fragen an ein solches Werk herantragen kann, oder ob sie diesem von vornherein inkommensurabel sind. Andererseits bietet eben der Titel der Novelle, der ja durch deren Inhalt keineswegs desavouiert wird2, die Legitimation für ein solches Vorhaben. So wollen die folgenden Überlegungen auch nicht als „juristische Kontrolle“ der erzählten Handlung verstanden werden. Es soll genügen, wenn aus der juristischen Perspektive ein Licht auf das Werk geworfen wird, in welches getaucht es Konturen und Einzelaspekte preisgibt, die marginal sein mögen, aber 1 2

Die Bezeichnung ist geprägt durch das Werk von Eugen Wohlhaupter, Dichterjuristen. 3 Bde. Hrsg. von H.G. Seifert. Tübingen 1955. Er meint ja keineswegs einen unspezifischen Begriff von „Gesetz“ oder eine soziologische oder ökonomische Gesetzmäßigkeit („Parkinson’s Gesetz; „Murphy’s Gesetz“), auch nicht ein naturwissenschaftliches Gesetz, sondern durchaus einen dem Juristen vertrauten Begriff im Sinne einer generell-abstrakten Regelung (materieller Gesetzesbegriff) und einer in herausgehobene Weise (auf den berühmten zwei Tafeln) verkündeten Regelung (formeller Gesetzesbegriff), letzterem fehlt freilich nach heutigem Verständnis das Element einer formalisierten Gesetzgebungsprozedur; doch dies zu verlangen, wäre wirklich anachronistisch – nicht nur mangels vorhandener Formvorschriften, sondern auch deshalb, weil die Novelle (auch) von der Entstehung nicht eines Gesetzes, sondern des Gesetzes im allgemeinen handelt.

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immerhin das Gesamtbild auf bescheidene Weise ergänzen. Ohnehin erscheint dies ja bei einem literarischen Kunstwerk ab einer gewissen Qualität als die einzig angemessene Herangehensweise, denn dieses zeichnet sich regelmäßig durch Polydimensionalität aus, ermöglicht also unterschiedliche Betrachtungsebenen und Schnittflächen – und dies gilt gerade für die Werke Thomas Manns3. Die Probleme der (mehrdimensional verstandenen) „Volksbildung“ und ihrer politischen und ethischen Implikationen sind von Volker Ladenthin umfänglich erörtert worden. Obwohl Ladenthin auch die rechtsphilosophischen Implikationen nicht unerwähnt lässt, bleibt für den Juristen und Rechtshistoriker doch Raum, um auf einer anderen Problemebene – seiner Problemebene – noch einige Fragen aufzuwerfen. Sie müssen freilich ihrerseits notwendig fragmentarisch sein, werden aber andererseits dort, wo der Kontext es nahelegt, ihren Ursprungsbereich überschreiten.

Es stellt sich allerdings ein weiteres Problem möglicher Kategorienverfehlung. Die Moses-Novelle als literarisches Werk greift ihrerseits einen literarischen Bericht auf – den alttestamentarischen Mythos vom Auszug der Kinder Israels aus Ägypten4. Die Manier, in der Thomas Mann in seiner Joseph-Tetralogie den biblischen Bericht in einer ironisch rationalisierenden, zugleich aber verständnisvollen, nicht denunzierenden Weise nacherzählt, hat in seiner kurz nach Abschluss des Mammutwerkes entstandenen Novelle eine zusätzliche „voltairisierende“5 Note erhalten6 – was im Einzelnen zu Ergebnissen führt, die gerade im Hinblick auf den Entstehungskontext der Novelle zu irritieren vermögen; darauf wird zurückzukommen sein. 3

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Einige Gedanken dazu vom Verf. dieses Kommentars in dem Beitrag: T.V., Zauberberg und Läuterungsberg. Zur Dante-Rezeption bei Thomas Mann, in: Ders., Diagonale – Beiträge zum Verhältnis von Rechtswissenschaft und Literatur. Münster, Berlin 2011, S. 197 ff. Generell zum Verhältnis von Rechtswissenschat und Literatur Klaus Lüderssen, Die Juristen und die schöne Literatur – Stufen der Rezeption, in: Ders., Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film. 2. Auflage Baden-Baden 2002, S. 3 ff. Die Charakterisierung als Mythos schließt nicht aus, dass der Erzählung ein historischer Kern innewohnt; dies ist bei Mythen nicht selten der Fall, es gilt für Ilias und Odyssee ebenso wie für den Pentateuch und das Gilgamesch-Epos. Darauf hat T.M. selbst schon bald nach Fertigstellung der Novelle mehrfach hingewiesen: Brief an Paul Amann vom 14. Januar 1944, in: Hans Wysling / Marianne Fischer (Mitarb.) (Hrsg.), Thomas Mann. Teil II: 1918–1943 (Dichter über ihre Dichtungen [im Folgenden: DüD]. Band 14/II). München, Frankfurt 1979, S. 643; Brief an Karl Kerényi vom 14. Mai 1945, ebd. S. 647 f.; Brief an Schalom Ben-Chorion vom 10. August 1945, ebd., S. 650 f.; Brief an Otto Basler vom 1. Juli 1945, ebd., S. 652; Brief an Fred Michael vom 21. Dezember 1946, ebd., S. 653 f.; s. auch Hans R. Vaget, Das Gesetz, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas Mann-Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart 2001, S. 605 ff., 607. Zu Thomas Manns Arbeit am Mythos, verglichen mit derjenigen Sigmund Freuds und Arnold Schönbergs, s. Jan Assmann, Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006, bes. S. 188 ff.

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Während der Mythos als solcher nicht unmittelbar Gegenstand der folgenden Betrachtungen ist, können diese doch von der Art der Rezeption des alttestamentarischen Berichts in der Novelle nicht absehen, denn die Transformation von Mythos in Erzählung beeinflusst auch die Betrachtung der letzteren aus juristischer und rechtshistorischer Sicht7.

II. „Nation building“? Eine ethnisch, sprachlich und historisch verbundene Gruppe von einiger Größe verlässt – nicht ohne Schwierigkeiten – ein Land, in dem sie unter Fronherrschaft gestanden hat, zieht durch die Wüste, erobert eine recht umfangreiche Oase und wird dort vorübergehend sesshaft; ihr wichtigster Anführer gibt ihr eine Art von Grundgesetz sowie zahlreiche konkrete Verhaltensgebote, organisiert eine gestufte Gerichtsbarkeit und setzt seine Gebote teils mit – militärisch abgesicherter – Gewalt, teils mit generell-abstrakten Strafdrohungen durch und formt aus der bis dahin wenig kohärenten Gruppe ein homogenes soziales Gebilde: Der rechtshistorisch Interessierte fragt sich, ob man es hier mit der Geschichte der Entstehung einer Nation, eines Staates („nation building“) zu tun hat. Er fragt es freilich mit gemischten Gefühlen, weil er sich gerade als Rechtshistoriker des anachronistischen Charakters der Fragestellung bewusst ist; andererseits weiß er, dass die Novelle – auch unabhängig von ihrem konkreten zeitgeschichtlichen Anlass – ihren auch ironischen Reiz gerade 7

Im Übrigen bedeutet die Rationalisierung des Mythos auch nicht unbedingt eine gänzliche metabasis eis allo genos, einen vollständigen Sprung vom Mythos zum Logos. Aus der Dialektik der Aufklärung wissen wird, dass „schon der Mythos […] Aufklärung [ist] und Aufklärung […] in Mythologie zurück[schlägt]“: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [zuerst 1944]. Frankfurt a.M. 1988, S. 6; s. auch die Exemplifizierung am „Grundtext der europäischen Zivilisation“ (S. 52), der Odyssee: a.a.O., S. 50 ff. („Odysseus oder Mythos und Aufklärung“). Wie es eine Dialektik der Aufklärung gibt, gibt es aber eben auch eine Dialektik des Mythos. Zum Verhältnis von Rationalität und Mythos s. auf verschiedenen Referenzebenen Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos. München 1985, S. 239 ff. – Auf der religionsgeschichtlichen und -philosophischen Ebene stellen sich andere Fragen: Die mythische Zeit ist die Zeit der ewigen Wiederkehr, oder besser: Wiedergeburt. Das „Einst“ (in illo tempore) ist ein solches der Vergangenheit, welche zyklisch neu ersteht; mit der monotheistischen Offenbarung wird die Wiederkehr in die ferne Zukunft verlegt; in illo tempore wird nunmehr im doppelten Sinne des vergangenen und des zukünftigen „Einst“ verstanden: Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. TB-Ausgabe Reinbek 1966, S. 88; s. auch Assmann (wie Fußn. 6), S. 197; es vollzieht sich der Übergang vom zyklischen zum linearen Denken. Wenn Mose mit Gott in eine Debatte auch über strategische Gesichtspunkte der Behandlung der Tänzer um das Goldene Kalb eintritt (S. 52 f.), so zeigt dies deutlich den neuen historischen, nach vorne „offenen“ Blick. „Dieser Gott ist nicht nur ein neuer, sondern ein werdender“ (Assmann, a.a.O.).

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daraus gewinnt, dass sie das Historische bzw. Mythische mit moderner Begrifflichkeit überformt. In der Staatslehre werden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, vor allem seit Georg Jellinek, die Elemente der Staatlichkeit aus der Sicht eines rechtssoziologischen Staatsbegriffs in der Trias Staatsgebiet – Staatvolk – Staatsgewalt erblickt8. Versuchen wir also mit dem ausgesprochenen Vorbehalt das Geschehen der Novelle im Lichte dieser Elemente zu betrachten.

1. Das Land Schon beim ersten Element, dem Staatsgebiet, stoßen wir auf Probleme. Die Novelle schildert, insofern in Übereinstimmung mit der alttestamentarischen Überlieferung, wie eine Menschengruppe, die viele – oder doch mehrere – Generationen zuvor nach Ägypten eingewandert war, dort in der nordöstlichen Provinz Gosen sesshaft bzw. angesiedelt wurde, mit der Zeit jedoch von der ägyptischen Obrigkeit, deren Erinnerung an den zum Verwalter des Pharao aufgestiegenen Jakob-Sohn Joseph zunehmend verblasst war – der Pharao „wusste nicht mehr von Joseph“9 –, zu harten Fronarbeiten herangezogen wird. In diesem Zeitabschnitt kann selbstverständlich von einem „Gebiet“ nicht die Rede sein; wir haben es einfach mit dem soziologischen Phänomen der Siedlungsverdichtung einer Gruppe innerhalb des von einem Herrenvolk dominierten Gebietes zu tun. Auch mit dem Auszug in die Wüste und der Besitznahme der Oase Kadesch findet zunächst nur eine räumliche Verschiebung statt, auch dort kann noch nicht von dem Entstehen eines Staatsgebietes gesprochen werden, wenngleich Oase „eine köstliche Ebene, ein grünes Labsal im Wasserlosen [war], mit frei starken Quellen und einer Anzahl kleinerer noch obendrein, lang eine Tagereise und eine halbe breit“ (24). Zwar werden die Völker, die dem Volk der Juden den Besitz dieser Oase streitig machen, besiegt, doch ist die Oase erklärtermaßen nicht das Ziel der Wüstenwanderung, sondern nur der Ort, an dem das Volk herausgebildet werden soll, bevor der Weg ins verheißene Land fortgesetzt werden kann; das dort sich aufhaltende Kollektiv befindet sich im Nomadenstadium – wenn auch in einem solchen besonderer Art, da es ja ein konkretes Land als Ziel vor Augen hat. Auch später, nach Besiegung der kanaanitischen Stämme (nach alttestamentarischer Überlieferung mehr als vierzig Jahre nach den in unserer Novelle 8

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S. z.B. Günther und Erich Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre. 7. Auflage Stuttgart 1971, S. 20. – Der (eigentliche) juristische Staatsbegriff sieht den Staat als eine „mit Selbstordnungsmacht ausgestattete Gebietskörperschaft“ (ebd., S. 21). 2. Mose („Exodus“) I 8 ff.

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nacherzählten Vorgängen) und der Ansiedlung in Palästina, erscheint übrigens die Berechtigung, von einem „Staatsgebiet“ des Volkes Israel zu sprechen, immer noch zweifelhaft. In der Forschung ist die Frage umstritten. Gab es ein auf die zwölf nach den Söhnen Jakobs10 benannten Stämme aufgeteiltes Territorium, das man so bezeichnen könnte? Seit einer Monographie von M. Noth aus dem Jahre 1930 über das System der 12 Stämme Israels findet die Deutung einer „Amphiktyonie“11 Anhänger12: „Dem Wesen nach ist eine Amphiktyonie ein vorstaatlicher und nichtstaatlicher Zusammenschluss von 12 oder 6 Stämmen zum gemeinsamen Kult eines Gottes an einem zentralen Heiligtum. Die Pflege des gemeinsamen Heiligtums oblag monatlich oder zweimonatlich im Turnus den einzelnen Stämmen; hieraus erklärt sich die Zwölf- oder Sechszahl […]. Wenngleich vorstaatlich und noch nicht als Staat organisiert, kann auch ein noch so lockerer Verband von Stämmen nicht ohne ein Mindestmaß an Organisation, also an Recht – geschrieben oder ungeschrieben – existieren. Dem entspricht es tatsächlich, dass die vorstaatliche Epoche als ‘Richterzeit’ bezeichnet zu werden pflegt, weil nach der alttestamentarischen Tradition Israel von ‘Richtern’ ‘gerichtet’ worden ist. Dem Richter, so wurde angenommen, oblag die Pflege des Bundesrechts“13.

Wir müssen – und können – zur Amphiktyonie-These nicht Stellung nehmen; klar aber ist, dass auch nach dem siegreichen Einzug „die Niederlassung der Stämme Israels im Lande Kanaan ein langwieriger und mühsamer Vorgang [war]. Noch blieben so manche kanaanitischen Enklaven. Erst einige Generationen später fielen die letzten kanaanitischen Festungen.“14

Doch dies greift über die zeitlichen Grenzen der Moses-Novelle hinaus, der wir uns damit wieder zuwenden, nachdem wir festgestellt haben, dass in ihr jedenfalls vom Erreichen von Staatlichkeit mangels eines Staatsgebietes nicht gesprochen werden kann – jedenfalls nicht im Sinne der modernen Staatslehre. Diese nüchterne rechtshistorische Feststellung vernachlässigt allerdings die Bedeutung des „verheißenen Landes“ sowohl für den alttestamentarischen Bericht wie für die 10 11 12 13

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An die Stelle des „Ägypters“ Joseph und des Priesters Levi waren allerdings die Söhne Josephs, Menasse und Ephraim, getreten. Die Bezeichnung geht etymologisch zurück auf die griechischen Wortbestandteile Įȝijȓ („um… herum“) sowie țIJȓȗȦ („bauen, wohnen“), also: um etwas herum wohnen. Das Folgende nach Antonius H. Gunneweg, Geschichte Israels bis Bar Kochba. 5. Auflage. Stuttgart u.a. 1984, S. 45 ff. Gunneweg, a.a.O., S. 46; dort auf S. 47 auch die etwa seit den 60er Jahren gegen die Amphiktyonie-These erhobenen Einwände; relativierend bereits Elias Auerbach, Wüste und gelobtes Land. Geschichte Israels von den Anfängen bis zum Tode Salomos. Berlin 1932, S. 72 f.; Auerbach war im übrigen einer der wichtigsten Gewährsleute Thomas Manns bei der Abfassung der Novelle. Max Wurmbrand / Cecil Roth, Das Volk der Juden. 4000 Jahre Kampf ums Überleben. Sonderausgabe Frechen (Komet) o.J., S. 27 f.

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Novelle, denn ohne die Aussicht auf dieses Land würde der Auszug aus Ägypten und in die Wüste nicht stattfinden. Und so könnte man der Novelle – wie auch dem biblischen Bericht – bescheinigen, dass sie zumindest bei historischer Betrachtung je nach Betrachtungsweise eine Randunschärfe der modernen Staatstheorie aufdecken: das angestrebte Land als ideelle Kategorie. Bedenkt man, dass die drei genannten Elemente in funktionaler Abhängigkeit voneinander stehen, so kann diese ideelle Komponente immerhin einen gewissen Ersatz für die reale Existenz liefern. Die moderne Staatslehre kann freilich geltend machen, dass sie sich auf eine Zeit bezieht, in der die Welt aufgeteilt ist. Der gesamte Globus ist mit einem Netz roter (Grenz-) Linien überzogen, deren gewaltsame Verrückung oder Beseitigung völkerrechtswidrig ist und gegen die Charta der Vereinten Nationen verstößt; erst recht ist es unzulässig, die ansässige Bevölkerung zu vertreiben und stattdessen die eigene anzusiedeln15. Für historisch fernere Zeiten gilt dies indessen nicht – jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.

Für die Frage nach dem Entstehen einer Nation bzw. eines Staates (deren anachronistischen Charakter für die biblischen Ereignisse wir bereits eingeräumt haben) und die daraus abgeleitete Frage nach einem Staatsgebiet bleibt es indes bei dem gefundenen Ergebnis, denn zum einen kann deren Beantwortung sich nur an Fakten halten – wobei es hier gleichgültig ist, ob es sich um historische, mythische oder erzählerische Fakten handelt –; zum anderen ist die Vision des verheißenen Landes ein Faktor der sozialen Stabilisierung und wird uns damit bei der Frage nach Staatsvolk und Staatsgewalt wieder begegnen. Und dass das gesamte Planen Moses‘ und seiner Helfer von Beginn an auf eine geographische Basis gerichtet sein musste, liegt auf der Hand: „Der […] Gedanke des Entweichens aus diesem Diensthause fiel für ihn [sc.: Joschua] zusammen mit der Eroberung neuen und eigenen Siedelgrundes für die ebräischen Sippen, – folgerichtigerweise, denn irgendwo mußten sie wohnen, und kein Land, ob nun verheißen oder nicht, würde ihnen geschenkt werden“. (10)

Außerdem war die „Personaldecke“ noch zu dünn, um an die Eroberung des verheißenen Landes zu denken. Schon aus militärischen Gründen musste man daher „nach einem Ort im Freien“ suchen, „wo das Geblüt sich erst einmal festsetzen – und wo man es, unter leidlich günstigen Umständen, erst noch eine Weile seinem natürlichen Wachstum überlassen könnte“ (11)

Die Bevölkerungsplanung Joschuas ging von einem Bevölkerungswachstum „zweieinhalb aufs Hundert und auf jedes Jahr“ aus (11). Damit aber sind wir bereits beim nächsten Element angelangt. 15

Vgl. z.B. § 8 Abs. 3 Nr. 2 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB). Dass dieses Problem heutzutage ausgerechnet wieder im Verhältnis Israel/Palästina auftaucht, gehört wahrlich zu den tragischen Fußnoten der Weltgeschichte – wobei der Ausdruck „Fußnote“ angesichts der weltpolitischen Brisanz des Problems eine drastische Untertreibung bedeutet.

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2. Das Volk Waren wir beim Element „Gebiet“ versucht, Fehlanzeige zu erstatten, so scheint beim Merkmal „Volk“ die positive Feststellung keine Probleme zu bereiten – jedenfalls dann, wenn man, modern gesprochen, unter Volk die Summe der Staatsangehörigen versteht16. Die ist, wenn man vom bürokratischen Kontext des Begriffs „Staatsangehörigkeit“ absieht, ohne weiteres zu bejahen. Dass die Grenzen zur Außenwelt ein wenig „ausfransen“, weil das Kollektiv sich dem Zutritt weiterer Personen öffnet (10 f., 27), begründet keinen Einwand, denn der Bestand eines Staatsvolkes ist unabhängig vom Wechsel seiner Mitglieder17. In der Staatslehre tauchen auch Hinweise auf besondere Merkmale wie Abstammungsgemeinschaft, Kulturgemeinschaft oder Schicksalsgemeinschaft auf18. Ob man das Vorliegen eines dieser Elemente verlangt, kann hier dahinstehen, denn das Volk, das Mose aus Ägypten in die Wüste führt, ist zumindest eine Schicksalsgemeinschaft; eine Abstammungsgemeinschaft ist es, wenn man die bereits erwähnten Randunschärfen beiseitelässt, ebenfalls19. Damit könnten wir dieses Kapitel an sich abschließen. Thomas Mann macht nun aber gerade die Umbildung eines „Gehudels“ (21) zu einem „Volk“ zu einem der Kernthemen, wenn nicht sogar dem Kernthema seiner Novelle. Zu Beginn seiner Tätigkeit fehlt es den in Gosen unter der Fron Leidenden am Zusammenhalt, die Sippen sind „zu locker verbunden“, um sich über ihren Missmut zu verständigen; sie sind sich „ihrer selbst nicht hinlänglich bewußt“; sie sind „von gestaltloser Seele, ohne sichere Lehre und schwankenden Geistes“ und ermangeln „eines rechten Mittelpunktes“ (7)20. Sie wollen niemanden, der „zum Meister und Richter“ über sie gesetzt ist (5, 9); der unsichtbare Gott soll ihnen „zum sammelnden, formenden Mittelpunkt“ werden und sie „zu seinem Gebilde“ formen, „zu einer von allen Völkern verschiedenen […] Volksgestalt“ (11). Und mit Hilfe Aarons und Mirjams kann Mose einen ersten Erfolg verbuchen:

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Vgl. Küchenhoff, Staatslehre (wie Fußn. 8), S. 38; dort auch Aufzählung anderer Ansätze zur Begriffsbestimmung. Küchenhoff, a.a.O., S. 20. Küchenhoff, a.a.O., S. 38. Hier braucht also auch auf die aktuell diskutierte Alternative „Volk oder Bevölkerung“ (s. Hans Haackes Projekt „Der Bevölkerung“ im Berliner Reichstagsgebäude) (noch) nicht eingegangen zu werden. S. auch die „armen Gestaltlosen daheim in Gosen“ (8); „dies formlose Menschentum“ (19).

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Thomas Vormbaum „Der Gedanke, sich Mose’s bundeslustigem Gott zu verschwören, sich den Bildlosen zum Volke zu weihen und unter ihm und seinem Verkünder ins Freie zu ziehen, schlug Wurzel unter den Sippen und begann, ihren einigenden Mittelpunkt zu bilden“ (12)

Liest man genau, so wird hier nicht nur das Entstehen einer Kulturgemeinschaft (und damit der letzten der erwähnten Konkretisierungen des Volkes) geschildert, sondern auch das Heranwachsen eines subjektiven Elements, nämlich des Zusammengehörigkeitsgefühls, das mitunter als weiteres Element des Staatsvolkes genannt wird21. Was weiter zum Volk zu sagen ist, lässt sich bei näherer Betrachtung nur schwer vom letzten Element, der Staatsgewalt, unterscheiden und trennen, denn es ist letztere, mit deren Hilfe das Volk „herausgebildet“ werden soll.

3. Die Herrschaft „Le plus fort n’est jamais assez fort pour être toujours le maître, s’il ne transforme sa force en droit et obéissance 22 en devoir“

Sehen wir nun auf das dritte Element, die Staatsgewalt. Rechtssoziologisch gesehen ist sie die Frage nach der Herrschaft.

a) Herrschaftstyp Herrschaft ist nach Max Weber die Chance, „für spezifische (oder für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“23. Die Fügsamkeit kann auf ganz verschiedenen Motiven beruhen: „von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen“24. Jede Herrschaft versucht den Glauben an ihre „Legitimität“ zu erwecken und zu pflegen. Je nach Art der beanspruchten Legitimität ist das Motiv des Gehorchens verschieden, weswegen es sich empfiehlt, „die Arten der Herrschaft 21

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So z.B. bei Küchenhoff, Staatslehre (wie Fußn. 8), S. 40. Ob dies wirklich ein notwendiges Element darstellt, scheint mir ebenso diskussionswürdig wie die ebd. vertretene Auffassung, dass für den soziologischen Volksbegriff eine Kumulation aller drei konkretisierenden Elemente (Abstammungs-, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft) erforderlich sei. Jean Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique / Der Gesellschaftsvertrag (1762), hier zitiert nach dem zweisprachigen Text in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Strafrechtsdenker der Neuzeit. Baden-Baden 1998, S. 114 ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, hrsg. von Johannes Winckelmann. Erster Halbband. Köln, Berlin 1964, S. 157. Ebd.

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nach dem ihnen typischen Legitimitätsanspruch zu unterscheiden“25. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich „drei reine Typen von legitimer Herrschaft unterscheiden“ nämlich solche – rationalen Charakters, – traditionalen Charakters und – charismatischen Charakters26 Es handelt sich um Idealtypen, von denen „keiner […] historisch wirklich ‘rein’“ vorzukommen pflegt27. Berücksichtigt man dies, so lässt sich – unter vorübergehender Vernachlässigung der beiden anderen Elemente – jedenfalls die in der Oase Kadesch ausgeübte Herrschaft unschwer als eine solche charismatischen Charakters kennzeichnen28. Im Mittelpunkt der Novelle steht die Gestalt des Moses; und man braucht nicht lange zu suchen, um eines der durchgängigen Themen des Werkes Thomas Manns, die Künstlerproblematik, auch hier zu entdecken. Dass ein Erzähler, der von Moses berichtet, Michelangelos Statue am Fragment gebliebenen Grabmal Papst Julius‘ II. vor Augen hat, liegt nahe: „Er war ein geistlicher Mann, und seine Männlichkeit, stämmig und stark wie sie war, mit Handgelenken, breit wie die eines Steinmetzen, war eine geistliche, in sich gewandte, von Gott gehemmte und heftig befeuerte Männlichkeit, den äußeren Dingen fremd, ums Heilige nur besorgt. Mit einer Art von Leichtsinn, der in eigentümlichem Gegensatz stand zu der grübelnden Nachdenklichkeit, in der er Mund und Bart mit der Hand zu bedecken pflegte […].“ (23)

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Ebd. A.a.O., S. 159. A.a.O., S. 160. Hier stimmt das Bild der Novelle mit den religionswissenschaftlichen Äußerungen zum biblischen Moses-Bild überein: „Überall ist er der Repräsentant Israels, an den sich JHWHs Reden und Handeln wendet; und er ist zugleich Repräsentant JHWHs, der sich als solcher an Israel wendet und Israel JHWHs Handeln vermittelt“; A. Frederik J. Klijn, Artikel „Mose“, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK). Durchgesehene Sonderausgabe der 3. Auflage 1993–2001. Band 6. Freiburg/ Breisgau 2006, Sp. 486 ff., hier Sp. 487.

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Daniele de Volterra, Michelangelo (um 1565), Florenz, Museo Nazionale del Bargello

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Michelangelo Buonarroti, Moses (um 1514), Rom, San Pietro in Vincoli

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Michelangelo Buonarroti, Prophet Jeremias (um 1510), Rom, Sixtinische Kapelle

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Das ist ziemlich deutlich; doch enthüllt ein zweiter Blick, dass der Mose der Novelle derjenige ist, der selber gestaltet, dem selber Tätigkeiten und Eigenschaften eines Bildhauers zugeschrieben werden. Und so wird denn in einer bemerkenswerten Umkehrung das Produkt des künstlerischen Aktes, die Statue des Moses in der römischen Kirche San Pietro in vincoli, in die Gestalt ihres Schöpfers, Michelangelo, transformiert29. Wie dieser sich am steinernen Material abarbeitet, um die Marmorgestalt des Moses hervorzutreiben, so arbeitet sich der Mose der Novelle am „fleischlichen Gegenstand seiner Bildungslust, dies[em] formlose[n] Menschentum“ (19) ab, „um es zu bilden und […] aus der heillosen Masse […] eine heilige Gottesgestalt zu metzen“ (23) und so „das Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren, des Bohrens, Wegsprengens und Formens in Fleisch und Blut“ zu vollbringen (27)30.

Ein wichtiges Element charismatischer Herrschaft ist ihre außeralltägliche Herkunft31. Die klassische Form ist das göttliche Auserwähltsein. Diese finden wir bei auch Mose – bei ihm allerdings in der gesteigerten Form, dass er selbst den Gott propagiert, der ihn sendet: Der Erzähler berichtet zunächst, Mose sei „in langen, schweren und heftigen Überlegungen, […] erschüttert von Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht […] seine Seele heimsuchten32, 29

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Thomas Mann selbst sagt freilich wiederholt, er habe seinem Moses nicht die Züge von Michelangelos Moses, sondern von Michelangelo selbst gegeben: T.M., Die Entstehung des Doktor Faustus, in: Gesammelte Werke in 13 Bänden. TB-Ausgabe. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V, S. 154 ff.); im Ergebnis macht dies aber keinen großen Unterschied, wie die Ikonographie der Strahlen bzw. Hörner an der Stirn zeigt; S. 46: „Ihm war, als gingen ihm Strahlen vom Kopf, als träten ihm Hörner oben aus der Stirn vor wünschender Anstrengung und einfacher Erleuchtung“; „Hörner standen ihm ab von der Stirn vor Stolz auf den Gotteseinfall [sc. Erfindung der Buchstabenschrift]“; S. 48: „Und immer war ihm dabei, als stünden ihm Strahlen gleich einem Paar Hörner aus dem Stirnhaar hervor“. Andererseits hat Thomas Mann die Gestalt des Propheten Jeremia an der Decke der Sixtinischen Kapelle als das Vorbild der Mund und Bart mit der Hand bedeckenden Gestalt benannt; und eine Skulptur mit „geteiltem Bart“ ist nicht nur die Moses-Statue, sondern auch die Michelangelo-Statue auf dem Buchumschlag der Michelangelo-Biographie von Hermann Grimm, die sich in Thomas Manns Nachlassbibliothek befindet; s. Hans Wysling (unter Mitarb. von Yvonne Schmidlin) (Hrsg.), Bild und Text bei Thomas Mann. Eine Dokumentation. Bern und München 1975, S. 354 f. S. auch S. 35: „Er sprengte mit dem Meißel an ihnen herum, dass die Stücke flogen […]; S. 38: „Im Schweiß seines Angesichtes werkte er daran zu Kadesch, seiner Werkstatt, indem er seine weitstehenden Augen überall hatte, – metzte, sprengte, formte und ebnete an dem unwilligen Klotz mit zäher Geduld […]“. Kunstsinn verrät Moses aber auch im konventionellen Sinne, wenn er selbst noch in seinem Zorn über das Goldene Kalb dessen künstlerische Ausführung kritisiert (S. 50: „‘Ganz unähnlich gegossen war’s auch noch’, warf Mose verächtlich ein“). Max Weber (wie Fußn. 23), S. 184. Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk. Der Joseph-Roman. Die MosesErzählung „Das Gesetz“. München 1981, S. 222, spricht von einer Schilderung als „extreme Steigerung eines inneren Erkenntnisvorgangs“.

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[…] zu der Überzeugung [gelangt], dass Jahwe […] kein anderer sei als Abrahams, Jizchaks und Jakobs Gott, der Gott der Väter“ (3). Mose selbst lässt er dann zu den geknechteten Leuten von Gosen sagen, „der Gott der Väter [habe] sich ihm, Moscheh ben ‘Amran, zu erkennen gegeben […] aus einem Busch, der brannte und nicht verbrannte“ (4). Wohl weil die Erzählung vom brennenden Dornbusch damit bereits im Sinne eines intensiven „Hervordenkens“ des einen Gottes interpretiert ist33, verzichten Erzähler (und Autor) hier auf eine weitere Deutung, obwohl dies möglich gewesen wäre: „Man wäre bereit, das berichtete Geschehen in den Bereich der Legende zu verweisen, wenn wir nicht heute in der Lage wären, das Phänomen eines brennenden und doch nicht verbrennenden Strauches zu kennen und zu erklären. Es gibt in jenen Gegenden ein Gewächs (Diptam), das in sich azetonartige Stoffe entwickelt, die sich unter besonderen klimatischen Umständen plötzlich entzünden können. Ist der Brennstoff verzehrt, erlischt die Flamme, ohne dass der Strauch selbst Zeichen der Verbrennung aufweist. […] Dem ‘Wunder’ liegt ein an sich natürlicher Vorgang zugrunde. Mit dieser naturwissenschaftlichen Erklärung soll nun aber durchaus nicht – wie es der Rationalismus tat – der religiöse Wundercharakter geleugnet werden.“34

Das dialektische Verhältnis Gottes und seines Gesandten führt dazu, dass der Unterschied zwischen beiden sich mitunter verwischt. Gleichsetzungen Moses mit Jahwe finden sich teils offen angesprochen35, teils in versteckter Form – so, wenn die Formel „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat“36, vom Volk umgewandelt wird in „der Mann Mose, der uns aus Ägypten geführt hat“ (20)37, oder wenn Joschua (mitsamt seiner „Schar“) als der Wür33

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Die u.a. von Siegmund Freud vertretene These, dass der jüdische Monotheismus aus dem Aton-Kult Echnatons stamme, konnte Thomas Mann nicht übernehmen, weil er Echnaton kurz zuvor in seiner Joseph-Tetralogie bereits als den Pharao Josephs dargestellt hatte, sodass eine Verwendung in der viele Generationen später spielenden Moses-Erzählung nicht mehr möglich war; stattdessen schloß er sich der – in der Forschung überwiegend vertretenen – Midianiter-Hypothese; s. Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk (wie Fußn. 32), S. 212. Gustav Mensching, Leben und Legende der Religionsstifter. München 1962, S. 22. So, wenn Mose im (Selbst?-) Gespräch mit Gott zu hören bekommt, dass er, Mose, „ebenso große Lust zu dem Volke und seiner Gestaltung [habe] wie er, der Gott, ja daß seine eigene Lust von der des Gottes gar nicht zu unterscheiden, sondern einerlei mit sei mit ihr: Gotteslust sei es, was ihn zum Werk getrieben, und er solle sich schämen, an ihr beim ersten Mißerfolg zu verzagen“ (15) (man beachte die Doppeldeutigkeit [genetivus subjectivus oder objectivus?] des Wortes „Gotteslust“). S. z.B. 2. Mose (Exodus) 20, 2. Womit zugleich eine Anspielung auf Siegmund Freuds Moses-Buch anklingt; eben dort (Freud, Mann Moses und die monotheistische Religion. Amsterdam 1939, S. 49, wird bereits darauf hingewiesen, dass es ihnen „wahrscheinlich nicht leicht [wurde], das Bild des Mannes Moses von dem seines Gottes zu scheiden“).

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geengel Gottes dingfest gemacht wird, und sodann festgestellt wird, dass das „Verhältnis [Joschuas] zu Mose unverkennbar demjenigen des Würgengels zu Jahwe ähnelt“ (18). Für unsere Betrachtung kommt es nicht darauf an, ob die von Mose gemachte „Entdeckung“ (4), dass der Gott Jahwe38, dessen Kult er bei den Midianitern – als einen der vielen dort gepflegten – kennen gelernt hat, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sei, Ausdruck einer wirklichen Kontinuität mit der Patriarchenzeit oder Ausdruck einer Neubegründung und Rückprojektion gewesen ist. Die historische Frage zu behandeln, ist nicht unsere Aufgabe39; die Novelle aber kann kaum anders interpretiert werden als im Sinne einer Neubegründung und Instrumentalisierung der Lehre eines unsichtbaren Gottes.

Vor dem Auszug aus Ägypten ist die Stellung Moses freilich zunächst alles andere als charismatisch, und er muss in einer Mischung aus eigener Überredungskunst und der Hilfe des Propagandisten Aaron, der Eventveranstalterin Mirjam und des Hells Angel Joschuah tätig werden; Erfolg hat er letztlich, weil die Aktion „Würgeengel“ dazu führt, dass „die Auswanderung die Gestalt der Austreibung an[nahm]“ (19). Schon im ersten Satz wird auf seine „unordentliche“ Geburt hingewiesen – er entstammt einer Verbindung zwischen einem hebräischen Knecht und der Tochter Pharaos, ist „halbblütig“ (12). Thomas Mann greift damit auf eine Hypothese zurück, die vor ihm u.a. Heinrich Heine40 und Sigmund Freud41 aufgestellt haben42. Und es folgt sogleich eine psychoanalytisch gefärbte

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Der Name des von Mose verkündeten Gottes, dessen Konsonanten im biblischen Text JHWH (oder JHVH) lauten, ist in seiner heute in der wissenschaftlichen Literatur üblichen Namensform ‘Jahve’ nur aus den griechischen Kirchenvätern erschlossen worden. Da der Gottesname den Juden als so heilig galt, dass er nicht ausgesprochen werden durfte, wurde an seiner Stelle das Wort ‘Adonaj’ (‘Herr’) gelesen. Um den Vorlesenden darauf aufmerksam zu machen, wurde deshalb das Tetragramm JHWH mit den Vokalzeichen von ‘Adonaj’ versehen, woraus die vor 1287 nicht nachweisbare Form ‘Jehovah’ entstanden ist; vgl. Thomas Vormbaum, Der Judeneid im 19. Jahrhundert. Darstellung und Deutung. Berlin 2006, S. 24. Dazu Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk (wie Fußn. 32), S. 216 ff. S. dazu Volkmar Hansen, Thomas Manns Erzählung „Das Gesetz“ und Heines MosesBild, in: Heine Jahrbuch 13 (1974), S. 132 ff. Sigmund Freud, Der Mann Moses (wie Fußn. 37), der allerdings Mose als reinen Ägypter ansieht. Und damit nicht zuletzt eine plausible Antwort auf die Frage liefern konnten, wieso der gottgleiche Pharao bereit sein konnte, den Anführer einer kleinen unterdrückten Minderheit in Audienz zu empfangen; s. auch S. 8: „Ja, Mose wußte dies (sc. dass Pharao sein Großvater war) und wußte auch, daß Pharao es wisse, und hatte ein drohendes Nicken bei dem Gedanken, in der Richtung von Pharaos Thron“.

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Konsequenz: „darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot“ (3)43. Eine Überkompensation der eigenen Unordentlichkeit durch besondere Liebe zum Ordentlichen also44. Was aber ist hier das „Ordentliche“? Genau betrachtet besitzt es zwei Dimensionen, von denen die eine durch die parataktisch hinzugefügten Merkmale „das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot“ (3) bezeichnet werden. Dies ist die geistig-ethische Dimension, die für Thomas Mann zweifellos neben der Künstlerproblematik ein wichtiger Aspekt seiner Erzählung war: „die Erhellung einer psychologisch plausiblen Genealogie der Moral“, die „Geburt der Gesittung aus dem Geist der Unordentlichkeit“45. Es mag allerdings auch einen objektiven Zusammenhang zwischen der „unordentlichen“ Geburt Moses und der charismatischen Herrschaft geben, und der Erzähler selbst weist, wenngleich ironisch, darauf hin, wenn er den (angeblich) überraschten Findern des ausgesetzten Neugeborenen den Hinweis auf König Sargon von Akkad (24. Jh. v. Chr.) in den Mund legt (6). Auch dieser stieg aus unordentlichen Verhältnissen zum Gründer des ersten mesopotamischen Großreiches empor. Es handelt sich wohl im konkreten Kontext um eine Zutat des Erzählers; sie entspricht aber der religionsgeschichtlichen Forschung: „Die Erzählung von der Geburt des Moses rezipiert die der Herrscherlegitimation der neuassyrischen Sargoniden dienende Erzählung von der Geburt des Königs Sargon“46.

Die uns hier interessierende Dimension ist indes eine eher vordergründige, nämlich diejenige der äußeren Ordnung, der Organisation, also der Herstellung einer – und sei es nur rudimentären – „Staatlichkeit“.

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Wer genau liest, wird feststellen, dass dieses Moment sich fortsetzt in der Gestalt seines neben Aaron wichtigsten Gehilfen Jehoschua oder Joschua; dieser war, wie ausdrücklich erwähnt wird, „vom Stamme Ephraim“ (11). Ephraim, der erste dieses Stammes, war aber nicht einer der zwölf Söhne Jakobs, sondern ein Sohn Josephs, der seinen Vater Jakob und seine Brüder nach Ägypten geholt und dort angesiedelt hatte. Joseph aber, der es in der ägyptischen Hierarchie weit nach oben gebracht hatte, war mit einer Ägypterin verheiratet gewesen, so dass Ephraim und seine Nachkommen, wenn schon nicht „unordentlicher“, so doch „gemischter“ Geburt waren. Wie Moses zählte Joschua zwar Jakob zu seinen Vorfahren, besaß aber auch ägyptische „Blutbeimengungen“. Rudolf Smend, Thomas Mann: Das Gesetz, in: Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen, hrsg. von Wilfried Barner. Göttingen 1997, S. 232 ff., 241, hält dies allerdings für eine „nicht ganz hieb- und stichfeste Psychologie“. Hans R. Vaget (wie Fußn. 5), S. 608. Eckart Otto, Artikel „Mose“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Studienausgabe der 4. Aufl. Tübingen 2008, Sp. 1534 ff., hier Sp. 1536; auch Käthe Hamburger, Thomas biblisches Werk, S. 205, weist auf den Sargon-Mythos hin; s. auch Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984, S. 272.

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b) Herrschaftsmittel Die beiden wichtigsten Instrumente der „Herrschaft“ Moses wurden bereits genannt: Die unmittelbare Gewalt und die Gottesfurcht. aa) Gewalt Für das zuerst genannte Element steht in der Novelle Joschua. Er hatte „bei der ganzen Sache [sc. dem Auszug aus Gosen] seinen eigenen Gesichtspunkt“: „nicht so sehr den religiösen nämlich, als den militärischen; denn für ihn war Jahwe, der Vätergott, vor allem der Gott der Heerscharen, und der an seinen Namen geknüpfte Gedanke des Entweichens aus diesem Diensthaus fiel für ihn zusammen mit der Eroberung neuen und eigenen Siedelgrundes für die ebräischen Sippen“ (10)

„Moses wußte, was er an seinem Joschua hatte, wußte wohl, daß er ihn würde nötig haben“ (11). In der Wüste überkommt ihn zwar die Sorge, das Volk könnte ihn im Falle der Erfolglosigkeit steinigen, „davor war er allerdings so ziemlich geschützt durch Jehoschua, seinen Jüngling, und die reisige Mannschaft, die dieser sich schon zu Gosen herangezogen hatte und die den Befreier umringte, sobald bedrohliches Murren aufkam im Pöbelvolk.“ (23)

Und Joschua ist es auch, der die Rädelsführer des Tanzes ums goldene Kalb exekutiert47. bb) Gottesfurcht Müssen die Instrumente des Herrschaftsmittels „Gewalt“ durch Joschua erst einexerziert, auf- und ausgebaut werden, so gilt Ähnliches auch für die Gottesfurcht. Sie muss eingeübt werden. Zu Beginn, in Gosen, ist es ein mühsames Geschäft mit ihr. Die Leute von Gosen sind nach Jahren der Versklavung „in ihrer Anbetung schon ganz konfus“ (3). Hinderlich sind auch Moses Sprachund Sprechschwierigkeiten (9 f.), die aber durch Aaron, der „aus seinem Barte heraus salbungsvoll-fließend zu reden verstand“, und durch das Singen und Pauken Mirjams ausgeglichen werden (10). Erleichtert wird das Geschäft auch dadurch, dass die Verkündung Jahwes „einhängig und unzertrennbar mit [dem Auftrag zur Befreiung] verschränkt“ wird (5). In der Oase Kadesch erfährt die Gottesfurcht ihre erste Steigerung zur eigentlichen Wortbedeu47

„Moses wohnte den Hinrichtungen nicht bei, die er des Kalbes wegen angeordnet hatte, sie waren des stracken Jehoschua’s Sache“ (52). Der Erzähler hat zuvor – wohl um der Schlüssigkeit der Handlung willen – Joschua während der Vorgänge ums goldene Kalb in Moses Nähe auf dem Berg weilen lassen.

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tung. Die Wolke über dem Berge Horeb, „die tags grau erschien, nachts aber leuchtete“, und die mit dem Berg verknüpfte Erzählung vom brennenden Dornbusch hörten die Israeliten „mit Furcht und Zittern, die bei ihnen noch die Stelle von Ehrfurcht und Andacht annahmen“. Mose rügt sie deswegen; und um sie mit Jahwe „mutig-vertrauter zu machen“, errichtet er ihm „auch mitten unter ihnen […] eine Stätte“ – eine Stiftshütte mit heiligen Gegenständen, „die Mose nach der Erinnerung dem Kult des midianitischen Jahwe entnahm“ (28). Und als die Erde bebt und ihr Maul auftut, ein großer Riss klafft, der Berg in Rauch und Flammen steht und glühende Brocken zum Himmel schleudert, Feuerbäche an seiner Seite hinunterlaufen und ein Aschenregen auf die Oase herniedergeht, lässt Mose seine Kritiker, welche dies als Zeichen Jahwes zum Schutze seines Knechtes ansehen und ihn um Vergebung bitten, bei ihrer Meinung (42). cc) Das Gesetz Doch wie Jean-Jacques Rousseau richtig erkannt hat, ist auch der Stärkste auf die Dauer niemals stark genug, um immer Herrscher zu bleiben, wenn er seine Stärke nicht in Recht und den Gehorsam nicht in Pflicht verwandeln kann. Dies gilt auch für die charismatische Herrschaft, welche auf die Dauer der „Veralltäglichung des Charismas“48 bedarf. (1) Die Unsichtbarkeit des Rechts Bei diesem Vorgang verknüpft der Erzähler die Verkündung des Gottes Jahwe mehrfach mit dem Wesen des Rechts. Der Berührungspunkt ist das Unsichtbare, „denn dieses schien ihm [Mose] geistig heilig und rein“ (3); und so erfährt denn das Volk an der Quelle der Rechtsprechung, dass „das Recht mit der Unsichtbarkeit Gottes und seiner Heiligkeit ganz unmittelbar zusammenhänge und in ihrem Schutz stehe. […] Das Recht sei gleich schön und würdevoll in seiner heiligen Unsichtbarkeit, ob es einem nun recht oder unrecht gäbe“ (29). So wie die Verehrung des unsichtbaren Gottes einen mühsamen Sublimierungsprozess gegenüber der handfesten Verehrung sichtbarer Götzengestalten verlangt, so setzt auch die Vorstellung eines Rechts, das sich von der Vorstellung der gewaltsamen Interessendurchsetzung emanzipiert, einen Abstraktionsund Internalisierungsprozess voraus. Ohne Rückfälle gelingt weder der eine noch der andere Prozess. Als Mose verbietet, sich über den Fall des besiegten Feindes zu freuen, fängt es „den Bewußteren unter dem braunen Gehudel […] zu dämmern an, was es meinte, und wie 48

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Fußn. 23), a.a.O., S. 182.

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Unheimlich-Anspruchsvolles es damit auf sich hatte, sich einem unsichtbaren Gotte verschworen zu haben“ (21), und es merkt bald, dass „jene unnatürliche Weisung, es sei jedes Freudengeschrei zu unterlassen über des Feindes Ersaufen, nur ein Anfang gewesen war“ (32).

(2) Die Organisation des Rechts Zur reinen, vor allem der genuinen charismatischen Herrschaft gehört, dass sich im charismatischen Führer alle Kompetenzen bündeln; es gibt keinen Verwaltungsstab, keine Zuständigkeiten, „kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze“49. Auch Mose versucht in der Oase Kadesch zunächst, Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern seines Volkes als Richter zu entscheiden. Um in diese Rolle zu gelangen, bedurfte es eines Vorlaufes, waren doch in Gosen die Leute nicht bereit, ihn als „Obersten oder Richter“ (5) bzw. als „Meister und Richter“ (9) anzuerkennen, wie zweimal ausdrücklich erwähnt wird. Erst als er das Volk „im Freien“ hat, gelingt es ihm mit Hilfe von Joschuas Reisigen und mit Gottesfurcht in diese Rolle zu gelangen. „Das erste [!], was er zu Kadesch tat, [war], daß er eine Gerichtsstelle einrichtete, wo er an bestimmten Tagen Streitfragen schlichtete“ (28). Doch auf die Dauer wird ihm diese Tätigkeit zur Plage; sein Schwager Jethro kommt ihm zu Hilfe und belehrt ihn (in einem Gespräch, das zu den witzigsten der Novelle gehört), dass er eine Gerichtsorganisation aufbauen müsse und sich selbst nur die wichtigsten Fälle vorzubehalten brauche „Wenn du das Volk vor Gott vertrittst und vor ihn bringst die großen Geschäfte, die alle angehen, so ist das völlig genug“ (31). Wir sehen hier erste Schritte, mit denen das Element der rationalen oder legalen Herrschaft an die Seite der charismatischen Herrschaft tritt. (3) Funktionen des Rechts Die Rechtssoziologie belehrt uns über die verschiedenen Funktionen des Rechts. Sie nennt: die Bereinigung von Konflikten, die Verhaltenssteuerung; die Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft; die Gestaltung von Lebensbedingungen und die Rechtspflege50. Wir finden die meisten Funktionen in der Novelle angesprochen, wenn auch natürlich in „wissenschaftlicher“ Gliederung und Reihenfolge. Die Rechtspflege haben wir bereits zuletzt angesprochen; die Gestaltung von Lebensbedingungen, worunter vor allem die (wertfrei gemeinte) ideologische Funktion des Rechts verstanden wird51, brauchen wir ebenfalls nicht näher zu behandeln, da sie bereits im Zusammenhang 49 50 51

A.a.O., S. 180. Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie. 4. Auflage München 2000, S. 119 ff. Rehbinder, a.a.O., S. 132.

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mit der Unsichtbarkeit des Rechts und seiner Verknüpfung mit dem Göttlichen erwähnt worden ist: Gottesverkündung und Rechtsetzung sind gleichermaßen Mittel zur Herausbildung des Volkes Gottes, an der Mose arbeitet. (4) Konfliktbereinigung Dass Moses als erstes eine Gerichtsstätte schafft, um Konflikte zu beheben, zeigt, dass er diese wichtige Funktion des Rechts verstanden hat; letztlich geht es um die Herstellung einer Friedensordnung, in der individuelle Konflikte nicht mehr mit der Faust oder „mit dem Stein in der Faust“ (29) bereinigt werden. Hier geht es noch nicht um die Schaffung und Durchsetzung des Sittengesetzes, sondern um die Schaffung und Durchsetzung seiner Voraussetzungen; nicht nur im Sinne einer Herstellung der objektiven „Rahmenbedingungen“, sondern auch und mehr noch im Sinne einer Einübung der Implikationen des Rechts. Auf die Implikationen der Unsichtbarkeit des Rechts wurde schon hingewiesen. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Neu war dem Volk nämlich auch, „dass [das Recht] auch das Unrecht umfasse, was das Pöbelvolk lange nicht begreifen konnte. Denn es dachte, wo Recht erflösse, da müsse jeder Recht bekommen, und wollte anfangs nicht glauben, dass einer zu seinem Recht kommen könne auch dadurch, daß er zu seinem Unrecht kam und mit langer Nase abziehen mußte.“ (29)

Dieser Passus enthält nicht nur ein ingeniöses, für den Juristen freilich rasch durchschaubares Spiel mit den verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Recht“ im Sinne der objektiven Rechtsordnung und im Sinne des subjektiven Rechtshabens, sondern formuliert auch avant la lettre das Problem der Legitimation durch Verfahren – und zwar sowohl Sinne der Herstellung von Legitimation eines Urteilsspruchs durch Verfahren als auch im Sinne des gleichnamigen Buches von Niklas Luhmann, der unter dieser Formel die Absorption von Protest des Unterlegenen aufgrund vorherigen Sich-Einlassens auf das Verfahren versteht52. Auf dieser Ebene des Rechts geht es ersichtlich noch nicht um die Verkündung eines göttlichen Gesetzes und/oder des Sittengesetzes, sondern um konkrete Konfliktlösungen, für die man in der Masse der Fälle Regeln aufstellen kann, die so oder so lauten können. Mose bedient sich daher auch unbefangen positivrechtlicher Regeln. Im thebanischen Internat, der ägyptischen Aristokratenschu52

Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. (Soziologische Texte. Bd. 66). 2. Auflage. Darmstadt und Neuwied 1975, S. 121. – Indem beispielsweise die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Angeklagten sich zur Frage „guilty or not guilty“ äußerten und Beweisanträge stellten, hatten sie sich auf das Verfahren eingelassen und konnten anschließend schwerlich die Legitimität des Verfahrens anzweifeln.

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le, hatte er neben Stern- und Länderkunde und Schriftkunst auch das Recht gelernt (8), und zwar die „ägyptischen Gesetzesrollen und den Codex Hammurapi’s, des Königs am Euphrat“ (29). In der Oase Kadesch konnte er es nun anwenden. „In einer schweren Streitfrage, den Menschen unlösbar“, wurde aber immer noch „unmittelbar Jahwe’s Schiedsgericht“ angerufen, indem die OrakelLose befragt wurden (28). Die weiteren Fälle betrafen neben Regelungen, die wir heute dem zivilrechtlichen Deliktsrecht zuordnen würden, auch schon Taten, die zugleich als Straftaten anzusehen sind, wie Körperverletzung, Sklavenmisshandlung, Diebstahl, Einbruch, Flurschädigung, Brandlegung und Missbrauch von Anvertrautem. Auch hier stützt Mose sich auf Hammurapi (29). (5) Verhaltenssteuerung Waren die zuletzt genannten Handlungen solche, die seit dem Codex Hammurapi bis heute gesetzliche Regelungen finden, so bilden die Reinheitsgebote, welche Mose aus der Heiligkeit ableitet (33), eine autochthone Regelungsmaterie. Teilweise sind in ihnen frühe Hygiene- und Seuchenbekämpfungseinsichten in Verhaltensnormen umgesetzt, weshalb die Novelle hier auch zunächst die poenae naturales (Gelbsucht, Feigwarzen, Blattern und Pestilenz) nennt (33); hinzu treten rigide Speisevorschriften, Vorschriften „in Dingen der Lust und Liebe“ (34), aber auch solche, die sich später auf den Tafeln vom Sinai, wenn auch in anderer Reihenfolge, wiederfinden, darunter – als das „Allerunreinste“ – sich um irgendeinen Gott zu kümmern außer Jahwe (35). Vor allem im letzten Punkt kennt Mose kein Erbarmen: „Ich will ihn in die Wüste jagen und ihn absondern wie einen Auswurf“ (35). Manches von dem, was hier geboten und verboten wird, findet sich in den Strafgesetzbüchern bis in die Gegenwart, anderes hingegen nicht. Es war später eine der schweren Aufgaben der Strafrechtsphilosophen der Aufklärungszeit, eine Differenzierung zu treffen, welche sich nicht dem Verdikt des Bibelverstoßes aussetzte. Hier wie auch (in geringerem Maße) bei den Geboten der Sinai-Tafeln, bestand eine Argumentationslinie darin, Gebote, welche nur für das Volk der Juden bestimmt waren, von solchen zu unterscheiden, welche universelle Geltung haben sollten53.

Die letzte Stufe ist jene, auf der Mose unter Verwendung einer eindrucksvollen Inszenierung den Berg besteigt, um das „Ewig-Kurzgefaßte, Gottes Gesetz“ (42), herabzubringen. Hier wird nicht nur die Einsicht erkennbar, dass das Geschriebene größeren Eindruck macht als das nur mündlich Verkündete54; es 53 54

Helmut v. Weber, Der Dekalog als Grundlage der Verbrechenssystematik, in Festschrift f. W. Sauer. Berlin 1949, S. 44 ff. Mose weiß dies sehr gut: „Das Ewig-Kurzgefaßte, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz galt es zu befestigen und in den Stein seines Berges zu graben, damit Mose es dem wankenden Pöbelvolk […] herniedertrage in das Gehege, wo sie

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werden auch zwei Klugheitsgebote der Rechtsetzung befolgt: Zum einen schafft der generell-abstrakte, d.h. für eine unbestimmte Vielzahl von Personen und Fällen formulierte Rechtssatz Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit und vermittelt damit die Allgemeingültigkeit und Dauerhaftigkeit der Norm; zum anderen dient die „prägnante“ Kürze der Gebots- und Verbotssätze deren leichterer Implementierung. Dies gilt – wie leicht einsehbar ist – sowohl für die Gebote des positiven Rechts als auch für die Gebote des Naturrechts bzw. des Sittengesetzes. Letzteres gilt zwar unabhängig von gesetzgeberischem Kalkül; doch ist die Botschaft der Novelle eindeutig: Jedes Recht, egal welcher Dignität, muss eingepflanzt und gegen die widerstrebenden Rechtsunterworfenen durchgesetzt werden. Damit stellt sich die Frage nach den Mitteln der Durchsetzung. (6) Das Strafrecht Was unternimmt Mose, um die Verhaltensnormen durchzusetzen? Neben den bereits erwähnten Mitteln „Gewalt“ und „Gottesfurcht“ ist es der Einsatz des Strafrechts. Zwar erfahren wir nur vereinzelt von (recht drastischen) Strafdrohungen, doch geht der Text, wie sich zeigen wird, von solchen aus. Denn das Volk war zunächst „bestürzt“ (35 f.) über manche Gebote und Verbote, mit denen ihm lieb gewordene Gewohnheiten untersagt wurden. „Da aber hinter Mose’s Verboten der Würgeengel stand und sie nicht gern in die Wüste geschickt werden wollten, so kam ihnen das, was er verbot, bald fürchterlich vor, – anfangs nur im Zusammenhang mit der Strafe; diese aber verfehlte nicht, die Sache selbst zu einem Übel zu stempeln, bei dessen Begehung einem übel zumute war, der Strafe nicht einmal mehr zu gedenken.“ (36 f.)

Hier wird in einem einzigen Satz eine Straftheorie formuliert. Die Strafrechtswissenschaft kennt mehrere Ansätze zur Legitimierung des Strafrechts. Neben der sog. absoluten Theorie, welche die Strafe nicht durch einen gesellschaftlichen Zweck legitimiert (was nicht ausschließt, dass er als willkommene Folge angesehen wird), sondern nur durch einen am Maß der begangenen Tat bemessenen Tat- und Schuldausgleich, stehen die sog. relativen Theorien oder Zwecktheorien, welche eben diesen gesellschaftlichen Zweck verfolgen. Sie werden wiederum unterteilt in individualpräventive Theorien und generalpräventive Theorien. Die ersteren richten sich auf den Verurteilten, der von erneuten Taten abgehalten werden soll (durch Besserung, Abschreckung oder Unschädlichmachung), spielen aber in der Strategie Moses keine Rolle55. Die

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warteten, und es unter ihnen stehe, von Geschlecht zu Geschlecht, unverbrüchlich, eingegraben auch in ihre Gemüter und in ihr Fleisch und Blut“. (45) Wenn man sie nicht in der Aufforderung Moses an die „Mitläufer“ des Tanzes um das Kalb erblicken will, sie sollten „ihren Schmuck von sich legen und trauern“ (51)

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generalpräventiven Theorien bezwecken eine Einwirkung auf die Allgemeinheit. Das Mittel dieser Einwirkung kann die verhängte Strafe oder die Strafdrohung sein. Deshalb muss man den zitierten Passus aus der Novelle genau lesen: Wo dort von „Strafe“ die Rede ist, ist zumindest auch von Strafdrohung die Rede. Heute wird die Generalprävention durch Strafverhängung verbreitet als verfassungswidrig angesehen, und dies mit Recht, denn mit ihr wird der Verurteilte zwecks Abschreckung anderer instrumentalisiert56. Auch von ihr ist in der Novelle nicht die Rede, obgleich angenommen werden kann, dass das Volk durch Fälle der Vertreibung in die Wüste und durch die Exekution der Rädelsführer des Tanzes ums Kalb ihre Wirkung ausgeübt haben. Im Zentrum der Darstellung steht die Generalprävention durch Strafdrohung. Die Strafrechtstheorie unterscheidet hier zwischen negativer und positiver Generalprävention. Während die negative Generalprävention auf Abschreckung setzt, geht es der positiven Generalprävention darum, mit der Strafdrohung das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung zu stärken57; sie unterstützt somit die Internalisierung, die „Einverseelung“ von Normen – psychoanalytisch gesprochen: die Ausbildung und Stärkung des Über-Ich, des Gewissens58. Die Novelle kennt beide Formen der Generalprävention und bringt sie in ein zeitliches Verhältnis. Zunächst setzt Mose auf die negative Generalprävention. Das Volk empfindet die Forderung nach Schonung des Feindes und manche andere Forderung als „völlig unnatürlich“ (32): „Bei jeder Verletzung des anderen durch Falschheit und Übervorteilung, wozu doch fast alle Lust hatten, floß schon sein Blut. Sie sollten nicht fälschlich handeln untereinander, nicht gegen jemanden aussagen als Lügenzeugen, rechtes Maß brauchen, rechte Pfunde und rechten Scheffel. Es war höchst unnatürlich, und vorderhand war es nur die natürliche Furcht vor Strafe, die einen Schein von Natürlichkeit warf auf Gebot und Verbot.“ (36)

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Ein Rest hat sich allerdings leider auch im geltenden Recht mit dem Hinweis auf die „Verteidigung der Rechtsordnung“ in §§ 47 Abs. 1 und 56 Abs. 3 StGB erhalten. Was die Adressaten angeht, ist die negative Generalprävention gegenüber den Tatgeneigten wirksam, die sie von der Tatbegehung abschrecken will, während die positive Generalprävention sich an alle wendet, um Tatgeneigtheit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Da in der Novelle aber das „Pöbelvolk“ insgesamt als tatgeneigt angesehen wird (S. 49: „Das Volk war los“), tritt der Unterschied insoweit nicht zutage. Auf die strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Probleme und Bedenken im Zusammenhang mit dieser Theorie kann hier nicht näher eingegangen werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Theorie, welche zur Zeit die in der Strafrechtslehre herrschende sein dürfte, erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, also erst Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Novelle, zu ihrer vollen Entfaltung gelangt ist.

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Vor allem aber: „Hinter seinen Verboten standen der junge Joschua und seine Würgengel“ (35). Am Anfang steht also die Abschreckung; aber auch der Gedanke der positiven Generalprävention findet Berücksichtigung. Es bedurfte zwar intensiver Einwirkung „ehe man dahin gelangte, eine solche Forderung nicht als völlig unnatürlich zu empfinden“ (32), doch immerhin gelangt man so weit, dass Gott zu Mose, der seinen Auftrag resigniert zurückgeben will sagt: „Denn du siehst wohl, dass es schon anschlägt bei ihnen, und hast ihnen schon ein Gewissen gemacht, daß ihnen übel zumute ist, wenn sie Übles tun.“ (38)

Mit anderen Worten: Das Volk beginnt die Gebote zu internalisieren. Doch schließt dies Rückfälle nicht aus, wie der Tanz ums Kalb zeigt. (7) Das Reine und das Unvollkommene Wie ein roter Faden zieht sich durch die Novelle die Vorstellung von der menschlichen Unvollkommenheit und Triebhaftigkeit, welche durch Erziehung, Verdrängung, Sublimierung im Zaum gehalten werden muss – Thomas Mann kannte eben Freuds Unbehagen an der Kultur. Auch das Recht, vor allem das Strafrecht, ist, wie gesehen, ein Mittel dieser Einhegung. Die Durchsetzung der Sittlichkeit gegen Widerstände ist eines der großen Themen der Erzählung. Sie liefert aber auch ein Gegengewicht, und dieses kann man als ihren humanistischen Aspekt bezeichnen. Dies beginnt bei Moses selbst, dessen Vorgeschichte durch einen Totschlag gekennzeichnet ist und der weiß, dass die Disziplinierung auch ihm selbst gelten muss, denn „es war ihm als sei ihm nach Erschlagen und Verscharren schon immer zu Sinne gewesen“ (9). Sein Festhalten an der Mohrin gegen alle Vorhaltungen seiner Umwelt und seine hilflose Bitte, sie ihm doch zu gönnen (worin er letztlich sogar die – vermeintliche? – Unterstützung Jahwes erfährt [41]), zeigen ihn als Mensch mit seinen Widersprüchen. Außer bei den Rädelsführern lässt er Milde für die Tänzer ums goldene Kalb walten (51), und in heftigem Kampf mit Jahwe (oder sich selbst?) erreicht er die göttliche Vergebung. Mose „weiß im Voraus, daß seine Gebote nicht werden gehalten werden; und wird verstoßen werden gegen die Worte immer und überall. Doch eiskalt ums Herz soll es wenigstens jedem werden, der eines bricht, weil sie doch auch in sein Fleisch und Blut geschrieben sind und er wohl weiß, die Worte gelten.“ (54)

Die Einsicht in das Unvollkommene menschlichen Bemühens um das Recht erstreckt sich auch auf die Rechtspflege. Jethro klärt Mose darüber auf, dass die Schwäche und Bestechlichkeit der Richter dazu gehört. „Etwas davon muß

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man in den Kauf nehmen, wenn nur Recht gesprochen wird überhaupt und eine Ordnung ist59, werde sie auch etwas verwickelter durch Geschenke, das macht nicht so viel“. Man könne den durch die Bestechung Benachteiligten auf den „Dienstweg“ verweisen. Mose lässt sich überzeugen: „Er hatte die bestimmbare Seele des einsamen, geistlichen Mannes, der nachdenklich nickt zu der Klugheit der Welt und einsieht, daß sie wohl recht haben mag“ (32). Dies ist nicht Resignation, sondern Einsicht in die Renitenz der Wirklichkeit, eine Einsicht, die Welt und Mensch ihre Eigenheit belässt, die Spannungen zwischen Welt und Mensch mildert, unauflösbare Spannungen aber aushält – kurz: Weisheit60.

4. Zusammenfassung Kehren wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück, so können wir zusammenfassen: Staatstheoretische Begrifflichkeit vermag zu einem strukturierteren Verstehen der Handlung der Novelle beizutragen, während umgekehrt die Novelle diese Begrifflichkeit zu modifizieren vermag. Lässt man sich nämlich auf die problematische Fragestellung nach der Staatlichkeit ein, so ist, wenn man von einer statischen Betrachtungsweise ausgeht, die Antwort zwar nicht eindeutig, tendenziell sogar negativ. Eine andere, lebensnähere Betrachtung ergibt sich aber, wenn man stattdessen eine diachrone und dynamische Betrachtung wählt. Dann schildert die Novelle die Entstehung und Entwicklung der herangezogenen Elemente und zeigt ihre Beziehungen untereinander auf. Die geographische Basis (Gebiet) ist ideell mit dem „verheißenen Land“ präsent und wird provisorisch mit der Eroberung der Oase Kadesch erlangt; aus einem „Gehudel“ wird ein „Volk“ geformt mittels der Einübung der Verehrung eines einzigen Gottes, mittels Einübung ethischer und alltagsmoralischer Regeln sowie seiner Vergrößerung durch Bevölkerungspolitik; die Staatsgewalt hat ihren Ursprung in der Ausbildung (im doppelten Wortsinn) 59

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Jethro spricht damit eine – wenn auch nicht unbestrittene – Erkenntnis der modernen Rechtssoziologie aus; s. nur Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren (wie Fußn. 52), S. 21: „Ein System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muss, kann nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung garantieren. Funktionale Spezifikation auf der einen Seite schließt die in der anderen Richtung aus“. – Der Goethe-Kenner Thomas Mann wird bei der Passage auch an den Ausspruch des Klassikers gedacht haben: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen“; dazu eingehend Klaus Lüderssen, „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen“. Notizen über Goethes Verhältnis zum Recht, in: Ders., Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film. 2. Auflage. Baden-Baden 2002, S. 89 ff. Näher Thomas Vormbaum, Der Judeneid im 19. Jahrhundert (wie Fußn. 38), S. 276 f.

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militärischer Kräfte, durch Berufung auf göttliche Autorität und durch Strafdrohungen, welche durch eine Justizorganisation gestützt werden. Untereinander stehen diese Elemente in funktionalem Zusammenhang. Die Aussicht auf das verheißene Land macht den Auszug aus der Knechtschaft erst denkbar, das erste Rudiment von Herrschaft, Joschuas „Eingreiftruppe“ macht ihn erst möglich, ihr Ausbau ermöglicht die Eroberung der Oase Kadesch, und die dort vorgenommene Strukturierung und Organisierung der Herrschaft trägt wesentlich zur „Ausbildung“ des Volkes bei.

III. Exkurs: Ein anderer Blick Fragt man sich, welche anthropologische „Botschaft“ in der Novelle enthalten ist, so kann die Antwort zwar nicht eindeutig sein, weil ja ein Vorgang geschildert wird; dennoch wird man sagen können, dass es sich um eine skeptische Anthropologie handelt. Die Durchsetzung des (Sitten-) Gesetzes bedarf immer wieder der Durchsetzung durch staatlichen Zwang und staatliche Strafe, durch eine „Erziehungs-Diktatur“61. Der Naturzustand ist tendenziell nicht derjenige Rousseaus, sondern derjenige des Thomas Hobbes. 1939, wenige Jahre vor dem Erscheinen der Mose-Novelle erscheint – ebenfalls in den USA – John Steinbecks Roman Früchte des Zorns („The Grapes of Wrath“). Er erzählt die Geschichte der Farmerfamilie Joad, welche mit ihrer gesamten Habe und mit allen Familienmitgliedern einschließlich der gebrechlichen Großeltern ihren Pachthof in Oklahoma verlässt, um auf einem klapprigen LKW mit tausenden anderen auf den Treck in Richtung Westen nach Kalifornien zu gehen. Ihnen schließt sich der ehemalige Priester Jim Casy an. Der auf intensive Recherchen des Autors gestützte Roman war bei seinem Erscheinen eine Sensation; wegen seiner scharfen Sozialkritik war er heftigen Angriffen seitens der politischen Rechten und der Kirchen ausgesetzt. 1940 erhielt Steinbeck (später, 1962, Nobelpreisträger) für ihn den Pulitzerpreis.

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Helmut Spelsberg, Thomas Manns Durchbruch zum Politischen in seinem kleinepischen Werk. Marburg 1972, S. 43; s. auch Frank Fechner, Thomas Mann und die Demokratie. Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers. Berlin 1990, S. 213; Børge Kristansen, Freiheit und Macht. Totalitäre Strukturen im Werk Thomas Manns. Überlegungen zum „Gesetz“ im Umkreis der politischen Schriften, in: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck (Thomas-Mann-Studien. 7). Bern 1987, S. 53 ff., 63: „[wird ] dem Leser klargemacht, dass die moralischen Vorschriften nur deswegen eingehalten werden, weil eine verfügbare Machtinstanz im Hintergrund steht“.

Kommentar II

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Ob Thomas Mann den Roman gelesen hat, ist nicht bekannt62; wohl aber hat er höchstwahrscheinlich 1940 dessen Verfilmung durch John Ford in einem Kino in Princeton angeschaut: Im Tagebuch findet sich zum 8. März 1940 der Eintrag: „Später […] ins Play House: Steinbeck-Film, social document, zu lang, ausgezeichnete Hell-Dunkel-Aufnahmen, zu oft. Gute Schauspieler. Dicke Giehse. Angenehmes Menschenantlitz der jungen männlichen Hauptfigur“63

Geht man mit Peter de Mendelssohn64 davon aus, dass es sich bei dem in Princeton angeschauten Film wirklich um The Grapes of Wrath gehandelt hat65, so bezieht sich die Bemerkung über die „dicke Giehse“ auf Jane Darwell, die Darstellerin der Mutter Joad, welche „in der Tat eine große äußere Ähnlichkeit mit der Münchner Schauspielerin Therese Giehse hat“66, und die Bemerkung zur „jungen männlichen Hauptfigur“ auf Henry Fonda, der den Tom Joad verkörpert. Ob John Steinbeck beim Abfassen seines Romans an Parallelen zum Auszug Israels aus Ägypten gedacht hat, weiß ich nicht. Recherchen im Internet ergeben, dass nur wenige Interpreten sich den Hinweis auf Kalifornien als das „Gelobte Land“ entgehen lassen; weiter gehende Parallelen finden sich nur vereinzelt67, obwohl sie sich – wenn auch mit Einschränkungen – anbieten. 62

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Es erscheint aber auch unwahrscheinlich, denn die Lektüre eines Romans dieses Umfangs (in der aktuellen deutschen Taschenbuchausgabe bei dtv 531 Seiten) hätte gewiss Niederschlag in den Tagebüchern gefunden. Hans Rudolf Vaget, der die vierzehn Jahre Thomas Manns in den USA unter allen Aspekten minutiös (und doch spannend) nachgezeichnet hat, kommt zum Ergebnis: „Eine Reihe von amerikanischen Autoren scheint Thomas Mann lediglich über die Verfilmung ihrer Bücher gekannt zu haben. Das betrifft vor allem John Steinbeck, den Nobelpreisträger von 1962. […] Thomas Mann gewann […] über die Jahre eine ungefähre Vorstellung von John Steinbecks Werk und Bedeutung über das Medium Film; einen Beleg für die Lektüre eines Steinbeck-Buches gibt es jedoch nicht“; Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt am Main 2011, S. 331 f. Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1982, S. 42. Und mit H.R. Vaget (s. vorher gehende Fußn., S. 331), der aber wohl de Mendelssohn folgt. Peter de Mendelssohn, Kommentar zur Tagebucheintragung vom 8.III.1940, a.a.O., S. 709. Ebd. Beispielsweise meint Esther Slevogt in der Besprechung einer Bühneninszenierung des Romans im Gorki-Theater 2010, „Steinbecks Roman [ziehe] mit fast biblischer Wucht Parallelen zwischen den westwärts durch die wüsten Landschaften des Kapitalismus wandernden Arbeitsmigranten und den alttestamentarischen, durch die Wüste ins gelobte Land irrenden Israeliten“ (http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com

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Strukturelle Gemeinsamkeiten und zugleich Elemente eines Gegenmodells zur Moses-Novelle lassen sich jedenfalls erkennen: Eine Familie – ihr Name „Joad“ könnte, mit oder ohne Absicht des Autors, auf das Volk der Juden anspielen68 – macht sich zusammen mit vielen anderen Familien, die wie sie durch das Zusammentreffen einer Trockenperiode mit der wirtschaftlichen Depression der frühen 30er Jahre, aber auch durch ausbeuterische Landspekulanten von ihren Farmen vertrieben worden sind, über die Route 66 – „die Straße eines Volkes auf der Flucht“ (143) – auf den Treck nach Westen in Richtung Kalifornien, wo sie, wie sie gehört haben, Arbeit, vor allem als Obstpflücker finden und zu bescheidenem Wohlstand gelangen können; dort gibt es Arbeit beim Obstpflücken unter den Bäumen im Schatten und hohe Löhne (124 f.); für Farmer, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, zweifellos das „verheißene Land“. Sie werden bitter enttäuscht; Arbeit bekommen sie dort nur als Lohndrücker und Streikbrecher. Der Treck geht freilich nicht, wie derjenige der Kinder Israel, nach Osten, sondern nach Westen69; er endet zwar im „verheißenen Land“ Kalifornien, doch erweist dieses sich als den Migranten feindlich gesinnt. Brutale Sheriffs und ihre Hilfstruppen schikanieren die „Oakies“, wo sie können. Feindlich gesinnt sind zwar – naturgemäß – auch die Amalekiter als Bewohner der Oase Kalesch gegenüber den einwandernden Israeliten; doch während die Israeliten die Fluten des Roten Meeres – noch dazu trockenen Fußes – überwinden, endet die Fahrt der Familie Joad in der durch einen großen Regen ausgelöste Flut, die ihnen ihr letztes Hab und Gut raubt. Während die Kinder Israel in der Oase zum Volk gebildet werden, kommen der Familie Joad durch Tod und Tren-

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_content &view=article&id=5068&catid=38&Itemid=40); und auf der website http:// www.shitesite.de/2011/03/08/durchgelesen-john-steinbeck-fruchte-des-zorns/ wird in einer Besprechung derselben Inszenierung auf die Camps hingewiesen – dazu noch unten –, „die entlang der Route 66 entstehen. Dort übernachten all die enteigneten Landwirte, die nun auf dem Weg nach Kalifornien in die erhoffte bessere Zukunft sind, in provisorischen Lagern, und zwischen ihnen entsteht eine Art neuer Gesellschaftsvertrag im Sinne Rousseaus, allerdings ganz ohne Obrigkeit“. Die Namensähnlichkeit ist zwar im Englischen („Jews“) weniger deutlich als im Deutschen, aber doch immer noch wahrnehmbar. Ein Umstand, der gewiss das Interesse Thomas Manns erregt hätte, wenn er diesen Vergleich angestellt hätte, spielt er doch in den Josephs-Romanen mit dem Umstand des „falschen“ Laufs des Nils von Süden nach Norden T.M., Joseph in Ägypten, in: Joseph und seine Brüder 2. (Gesammelte Werke in 13 Bänden. TB-Ausgabe. Frankfurt a.M. 1990. Bd. V), S. 779 f. – Dass T.M. selbst ein „Migrant nach Westen“ war (und zwar im doppelten Sinne, nämlich erst in die USA und dann innerhalb der USA) muss hier ebenso übergangen werden wie der Umstand, dass seine inneramerikanische Migration gerade in Kalifornien endete.

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nung mehrere Mitglieder abhanden; ihre Irrfahrt endet äußerlich in der Katastrophe70. Für diesen Exkurs wesentlich ist aber ein anderer Punkt: Weder an der Familie Joad noch an den anderen Migranten gen Westen wird religiös oder sonst wie „gemeißelt“; Familie Joad ist so wenig ein „Gehudel“ wie die anderen Migranten; das Bild, das von den – überwiegend informell entstandenen – Camps am Rande der Route 66 gezeichnet wird, sieht ganz anders aus: Man geht friedlich miteinander um; Interessenkonflikte werden ausdiskutiert und friedlich gelöst; man teilt das Wenige was man hat, miteinander. Ethische Pflichten – die Beerdigung des Großvaters am Rande der Landstraße71 – werden gewissenhaft erfüllt. In einem bundesstaatlichen Camp – offenbar eine Einrichtung im Rahmen des Rooseveltschen New Deal – funktioniert die Selbstverwaltung reibungslos. Es ist, als ob die Welt hier nach den Gedanken des apostaten Predigers Casy funktioniert. Bevor Tom Joad die Familie verlässt, berichtet er seiner Mutter von Gedanken Casys: „Er hat gesagt, mal ist er in die Wildnis, um seine Seele zu finden, und er hat nur gefunden, dass er für sich alleine gar keine Seele hat. Er hat gesagt, er hat gefunden, dass er einfach ein kleines Stück von ‘ner großen Seele hat. Die Wildnis ist nicht gut gewesen, hat er gesagt, weil sein kleines Stückchen Seele nichts war ohne das andere große Stück […]. Ich habe gedacht, ich habe nie richtig zugehört. Aber jetzt weiß ich, dass einer alleine nichts ist“ „Er war ein guter Mensch“, sagte Mutter Tom fuhr fort: „Er hat mal was aus der Schrift gesagt. Das hat nicht geklungen wie die Schrift. Zweimal hat er’s gesagt, und ich weiß es noch“ „Wie geht’s denn, Tom?“

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Wie Moses hat Tom Joad vor Beginn der Erzählzeit im Zorn eine Tötung begangen, die im Grenzbereich der Notwehr lag. (Seine Freiheitsstrafe ist nach vier verbüßten Jahren unter der Auflage ausgesetzt worden, dass er den Staat Oklahoma nicht verlässt und sich regelmäßig meldet [66 f.]). Er als das hellste, auf seine natürlich-schlichte Weise „philosophische“ Glied der Familie Joad, wächst im Laufe der Handlung zu deren Reflexionszentrum heran, muss aber kurz vor Ende der Handlung seine Familie verlassen, um sich der möglichen Verfolgung wegen der Tötung des Mitglieds der StreikbrecherKolonne, das Casy erschlagen hat, zu entziehen. – Wer will, kann in den Gestalten von Tom Joad und Casy Personen sehen, die den Gestalten von Moses und Aaron funktional äquivalent, wenn auch inhaltlich kontrastierend sind. Ist Casey der Intellektuelle und Sinngeber der amerikanischen Migranten, so Tom Joad die durch Erfahrung – auch durch die Erfahrung der begangenen Tötungshandlung und der dafür erlittenen Strafe – gereifte Führungspersönlichkeit S. 168 ff. findet eine regelrechte Antigone-Szene statt; der Rolle des Kreon äquivalent sind hier die Überlegungen, an der Zeit und der Ausstattung des Toten zu sparen.

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Thomas Vormbaum „Es geht: ‘zwei sind besser als einer, denn sie finden guten Lohn für ihre Mühen. Wenn sie fallen, so hebt der eine den anderen auf, aber wehe dem, der alleine ist, wenn er fällt, denn er hat keinen, der ihn aufhebt’. Das ist’n Teil davon“ „Und weiter?“, fragte Mutter. „Sag’s doch weiter, Tom“. „Nur noch’n Stückchen. ‘Und wenn zwei beieinander liegen, so haben sie es warm. Aber wie kann einer alleine es warm haben? Und wenn einer ihn beherrscht, so sollen zwei sich widersetzen, ein dreifaches Seil ist nicht leicht zu zerbrechen’“. „Und das ist aus der Schrift?“ „Ja, Casy hat’s gesagt. Aus dem ‘Prediger’ hat er gesagt“72.

Hier wird nicht mit Strafdrohungen oder notfalls mit direkter Gewalt eine Moral implementiert. Gerade in der Extremsituation handeln die Menschen spontan mitmenschlich und solidarisch. Und so endet Steinbecks Roman mit jener Szene, in der die Mutter Joad und ihre Tochter Rosashawn, die kurz zuvor ein totes Kind zur Welt gebracht hat, nach einer trockenen Unterkunft für die durch Menschen und Naturgewalten um Alles gebrachte Familie suchen und eine Scheune finden, in der ein zahnloser, kurz vor dem Hungertod stehender Greis liegt. Nach kurzer Beratung mit der Mutter rettet Rosashawn ihm das Leben, indem sie ihm die Brust reicht. „Sie blickte auf und durch die Scheune, und ihre Lippen schlossen sich und lächelten geheimnisvoll“ (531). Diese Idylle der Mitmenschlichkeit inmitten der Katastrophe, die an eine Szene in Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chili“ erinnert73, kann man als Gegenmodell zur Oase Kadesch ansehen. Während dort die Sittlichkeit mit den Mitteln der Obrigkeit begründet wird, ist es hier die Obrigkeit, welche diese gefährdet. Tom bringt es auf den Punkt: „Ich habe mir überlegt, wie’s in dem staatlichen Camp war, wie alle Leute für sich selber gesorgt haben, und wenn’s Streit gegeben hat, wie sie den selber geschlich72 73

S. 490; die Stelle findet sich in der Tat im Prediger Salomo, 4, 9–12. Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili (H. v. Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/3). Basel, Frankfurt/M. 1993, S. 26 f. Es ist die Szene nach dem Erbeben: „Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mittheilen, als ob das allgemeine Unglück Alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte“. Und die Szene, in der „ein junger wohlgekleideter Mann, mit einem Kinde auf dem Arm, zu Josephen trat, und sie mit Bescheidenheit fragte: ob sie diesem armen Wurme, dessen Mutter dort unter den Bäumen beschädigt liege, nicht auf kurze Zeit ihre Brust reichen wolle“ (S. 22), könnte fast auf einen intertextuellen Bezug im Roman von Steinbeck denken lassen.

Kommentar II

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tet haben. Und keine Bullen haben mit ihren Pistolen gewinkt, aber es war bessere Ordnung, wie die Bullen jemals schaffen können. Ich habe mir überlegt, warum wir das nicht überall machen können“ (490 f.)

IV. Zeitgeschichtliche Irritationen 1. Ausgangspunkt „Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ‘Sie [sc. die Gebote] gelten nicht mehr’. Fluch ihm, der euch lehrt: ‘Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete’.[...] Blut wird in Strömen fließen um seiner schwarzen Dummheit willen, Blut, daß die Röte weicht aus den Wangen der Menschheit, aber sie kann nicht anders, gefällt muß der Schurke sein.“ (54)

Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Erzähler mit diesen Worten denjenigen im Blick hat, dem er einen solchen Aufruf zur Aufhebung des Dekalogs zutraut – Adolf Hitler (auch wenn dieser den ihm zugeschriebenen Ausspruch wohl nicht getan hat)74. Haben wir es also mit einer antifaschistischen Novelle zu tun? Nimmt man nur die zitierten Sätze in den Blick, so erscheint die bejahende Antwort zwingend; und auch die Intention des Autors ging wohl in diese Richtung75.

2. Problematische Aspekte Aber abgesehen von der Frage, ob der zitierte Passus ein organischer Teil des Ganzen ist76, lassen andere Passagen der Novelle die Antwort schwerer fallen. Man versetze sich in die Lage eines Juden des Jahres 1943, der die Nacherzählung des Auszugs aus Ägypten liest. Nicht nur auf ihn, sondern auch auf manchen politisch sensiblen nichtjüdischen Zeitgenossen wird manche Passage der Novelle irritierend gewirkt haben.

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Thomas Mann war von einem angeblichen Hitler-Zitat in Hermann von Rauschnings Buch „Gespräche mit Hitler“ ausgegangen, das inzwischen nicht mehr als authentisch angesehen wird: „Der Tag wird kommen, an dem ich gegen die Gebote die Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten werde. Und die Geschichte wird unsere Bewegung als die große Schlacht für die Befreiung der Menschheit erkennen, Befreiung vom Fluche des Sinai“, s. Hans R. Vaget, Das Gesetz (wie Fußn. 5), S. 606. Stefan Strohm, Selbstreflexion der Kunst. Thomas Manns Novelle „Das Gesetz“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 321 ff., 322, weist denn auch darauf hin, dass die „Entstehung des Doktor Faustus“ „als Intention der Erzählung ‘Das Gesetz’ eindeutig einen Eingriff ins Zeitgeschehen erkennen“ lasse. Darauf ist noch zurückzukommen.

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a) Dass die „Wunder“, mit denen Aaron Pharao beeindrucken will, als technische Tricks entlarvt werden (14) und dass die meisten der von Gott gesandten „ägyptischen Plagen“ als Erscheinungen hingestellt werden, welche zwar unschön sind, jedoch den ägyptischen Alltag ohnehin begleiten (16), dass der Zug durchs Rote Meer als ein Zug durchs Watt bei günstig stehendem Wind gedeutet wird (19)77, wird man noch als rationale Verdeutlichungen des Mythos, die der biblischen Erzählung wenig von ihrer Würde nehmen, ansehen können; ebenso die Deutung des Quell-Wunders mit „einer Art von FilterVorrichtung“ (22) und des Manna-Wunders damit, dass „große Strecken der Wüste Paran mit einer Flechte bedeckt waren, die man essen konnte, der Manna-Flechte, einem zuckrigen Gefilz, rund und klein wie Koriandersamen zu sehen und wie Bedellion, das sehr verderblich war und übel zu riechen begann, wenn man es nicht gleich aß, sonst aber […] eine recht leidliche Notspeise gab“ (22)

Dass die göttliche Strafe für die Verehrung des Kalbes – keiner Zwanzigjährigen wird das verheißene Land sehen – Moses‘ und bevölkerungspolitischen Vorstellungen entgegenkommt und deshalb als Strafe empfunden wird (53), mag man mit einigen Wohlwollen noch derselben Kategorie zuordnen78.

der über Joschuas gar nicht ebenfalls

b) Recht bedenklich erscheint aber schon die „geschichtspolitische“ Begründung, welche Joschua vor der Eroberung der Oase Kadesch und der Vertreibung der dort siedelnden Amalekiter in den Mund gelegt wird, und auf die Mose gegen starke eigene Zweifel eingeht: „Kadesch sei nicht Amaleks Haus. Er wisse nicht nur im Raume Bescheid, sondern auch in den Vergangenheiten, und er wisse, daß Kadesch ehemals schon – er konnte freilich nicht sagen wann – von ebräischen Leuten, nahverwandtem Blut, Nachkommen der Väter, bewohnt gewesen sei, die von den Amalekitern versprengt worden seien. Kadesch sei ein Raub, und einen Raub dürfte man rauben.“ (25)

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Ähnlich übrigens die Deutung bei Chaim Herzog / Mordechai Gichon, Die biblischen Kriege. Augsburg 2000, S. 38 ff., die sich auf eine These des früheren britischen Gouverneurs des Sinai Major Jarvis berufen. Auf derselben Problemebene liegt die Vorstellung Moses, Joschuas und der „begeisterten Weiber“, dass [nach der ersten, erfolglosen Intervention Moses bei Pharao] die verstärkte Bedrückung gar kein schlechter Anfangserfolg sei; denn böses Blut schaffe sie nicht nur gegen Mose, sondern auch gegen die Ägypter und werde das Volk nur empfänglicher machen für den Ruf des Rettergottes und des Auszuges ins Freie“ (15). Und dass dies nicht nur ein gern hingenommener Nebeneffekt, sondern eine geplante Reaktion war, wird ebenfalls angesprochen: Moses und seine Helfer waren „nicht einen Tag müßig, die Botschaft Jahwe’s des Unsichtbaren […] unter ihnen zu verbreiten und gleichzeitig deren Bitterkeit über die Arbeit unterm ägyptischen Stock zu schüren“ (12).

Kommentar II

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c) Sehr bedenklich muss dem Leser, der die zeitgeschichtlichen Umstände der Entstehung der Novelle kennt, auch die Deutung vorkommen, welche der Tötung der ägyptischen Erstgeburt durch Gottes „Würgeengel“ gegeben wird79. Dass sie als eine „arge Vesper“ (17) bezeichnet wird80, gibt bereits die Richtung an. „Die Unterscheidung zwischen Jahwe und seinem Würgeengel will wohl vermerkt sein: sie hält fest, dass nicht Jahwe selbst es war, der umging, sondern eben sein Würgeengel – richtiger gesagt wohl eine ganze, vorsorglich zusammengestellte Schar [!] von solchen. Will man die vielen aber auf eine Einzelerscheinung zurückführen, so spricht vieles dafür, sich Jahwe’s Würgeengel als eine stracke Jünglingsgestalt mit Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und bestimmt gefalteten Brauen vorzustellen, als einen Engelstyp jenes Schlages, der jederzeit froh ist, wenn es mit nutzlosen Verhandlungen ein Ende hat und zu Taten geschritten werden kann.“ (18)

Michelangelos David mag dieser Beschreibung des Würgeengels – also Joschuas – als Vorbild gedient haben81; es fällt aber nicht schwer, stattdessen an Heydrich oder an einen anderen SS-Mann zu denken. Und die nähere Schilderung der Vorbereitungen der Aktion muss diese Vorstellung bestärken, wenn man bedenkt, dass den [deutschen] Zeitgenossen die Worte „Schar“ und „Rotte“ als Bezeichnungen von SS-Einheiten bekannt waren: „Joschua […] hatte nach seiner Art gehandelt und, da er nicht die Mittel und auch noch nicht das Ansehen besaß, die dreitausend waffenfähigen Blutsgenossen unter seinen Befehl auf Kriegsfuß zu bringen, wenigstens eine Rotte [!] daraus erlesen, bewaffnet, exerziert und in Zucht gebannt.“ (18)

d) Wurde bereits bemerkt, dass Mose sich gelegentlich mit Jahwe identifiziert, so deutet manches auch auf eine Parallelisierung mit Hitler hin. Das Aufsteigen aus „unordentlicher Geburt“ bis zur Führerrolle82; der Einsatz militärischer Gewalt (Joschua) und ideologischer Propaganda (Aaron), Einschüchterung und Einlullen, Führerkult und Eroberungszüge – und eben jene „Nacht der langen 79

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Käthe Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk (wie Fußn. 32), S. 128, meint allerdings, dass „die Blasphemie, die er sich erlaubt […] gewissermaßen gemildert [wird], indem dem Bibeltext selbst unterschoben wird, dass es vielleicht doch weniger göttlich-dämonisch zuging, der Würgeengel der Auslegung größeren Spielraum lässt, als wenn Jahwe selbst im Spiel wäre“. In Anspielung auf die „Sizilianische Vesper“ des Jahres 1282; der Hinweis findet sich bereits bei Goethe, Israel in der Wüste, in: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). 7. Band. Weimar 1888 (Neudruck 1999), S. 156, S. 163. Die Beschreibung des Joschua findet sich wörtlich schon vorher in der Novelle, und dort unverhüllt auf ihn bezogen (10), weshalb er bei der zweiten Erwähnung nicht noch einmal beim Namen genannt zu werden braucht Dem „Ägyptischen“ in Moses Stammbaum mag bei Hitler das „Österreichische“ entsprechen.

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Messer“. Moses Heiligung der Mittel durch den Zweck erscheint noch unverblümter als Carl Schmitts Rechtfertigung der Röhm-Morde („Der Führer schützt das Recht“): „Beim Auszuge aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Mose’s festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen? Mose hatte den fleischlichen Gegenstand seiner Bildungslust, dies formlose Menschentum, seines Vaters Blut, nun im Freien, und Freiheit war ihm der Raum der Heiligung.“ (19)

Jacques Darmaun83 hat unter der Überschrift „Die Kehrseite“ noch weitere Aspekte zusammengetragen: Die biblische Geschichte werde durch die ironisierende Darstellungsweise entweiht; der Gott Moses sei „ein eifersüchtiger, jähzorniger, in seinen Wutausbrüchen ungerechter Gott“, der sogar so weit gehe, den Ehebruch zu schützen; mit der „unordentlichen“ Geburt Moses entstehe die jüdische Religion „aus dem Rachegeist eines Deklassierten“; die vierzig Tage und Nächte auf dem Sinai seien „Teil einer ungeheuren Inszenierung, um dem Volk zu imponieren“, die Ideologie nutze „alle Mittel der Propaganda aus“; Mose sei „ein Robespierre, ein unerbittlicher Gesetzesvollstrecker, dessen Intoleranz und Radikalität die ursprünglich reine Idee abwerten, deren Träger er war“. Darmaun sieht diese Auflistung allerdings nur als einen ersten Schritt, in einem zweiten Schritt wird diese Interpretation wieder „aufgefangen“: Der Erzähler rede im Grunde über Deutschland. Die negativen Seiten des Volkes und Moses seien im Grunde auf Deutschland bezogen, Deutschland suhl[e] sich im barbarischen Pfuhl primitivster Instinkte. Joschua weise Züge des Teufels auf, und die Gestalt Moses verweise auf Martin Luther und damit auf die Zwielichtigkeit der deutschen Entwicklung, welche dieser verkörpere, aber eben auch auf „Bruder Hitler“ als den zum Führer aufgestiegenen Parvenü. Von dort aus gelangt der Interpret zur bekannten Aussage Thomas Manns, dass es nicht ein gutes und ein böses Deutschland gebe, sondern das böse Deutschland das fehlgegangene gute sei. Dies ist sehr plausibel und liefert gewiss eine mögliche zeitgeschichtliche Interpretation der Novelle84. Es bleibt allerdings die Frage, warum Thomas 83

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Jacques Darmaun, „Das Gesetz“ – Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit, in: Volkmar Hansen (Hrsg.), Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Stuttgart (RUB 8810) 2002, S. 270 ff., hier S. 278–284. Frederick A. Lubich, „Fascinating Fascism“. Thomas Manns „Das Gesetz“ und seine Selbst-de-Montage als Moses-Hitler, in: Ders., Wendewelten. Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945. Würzburg 2002, S. 17 ff., hat aus tiefenpsychologischer, den Aspekt der Verführungskraft des Faschismus einbeziehender Sicht die (Selbst- und Fremd-) Identifizierung Thomas Manns mit Moses und

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Mann, wenn er den Umschlag der deutschen Geschichte in die Barbarei und die Protagonisten dieses Vorgangs zum Gegenstand einer Novelle in jenem Sammelband machen wollte, der die Verstöße gegen die 10 Gebote vom Sinai/Horeb thematisierte, sich gerade das Volk Israel und seinen Propheten als Demonstrationsobjekt gewählt hat. Die Bedenken werden sich nur bedingt immanent, d.h. aus dem Inhalt der Novelle selbst erklären, besänftigen oder gar ausräumen lassen. Man muss auch die Person des Autors und die Umstände der Entstehung des Werkes heranziehen.

3. Beschwichtigungen a) Thomas Mann selbst hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die MosesNovelle für ihn ein humoristisches, entspannendes Nachspiel zur großen Josephs-Tetralogie gewesen sei85. Man muss sich vor Augen halten, dass er die letztere wenige Monate vorher abgeschlossen hatte und damit am Ende einer Befassung mit der altisraelischen Geschichte stand, die ihn – mit Unterbrechungen86 – mehr als anderthalb Jahrzehnte begleitet und ihn nach Auskunft seiner Frau zeitweise regelrecht zum Orientalistik-Experten hatte werden lassen87. Es lag also vom Bewusstseins- wie vom Kenntnisstand her nahe, sich weiter in diesem vertrauten Bezirk zu bewegen. War dieser Entschluss aber einmal gefasst, so lag es nahe, den vertrauten Weg der Rationalisierung des Mythos, der in der Tetralogie mit solcher Empathie und Sympathie für die jüdische Geschichte beschritten worden war, fortzusetzen. b) Hier ist nun aber jenes „voltairisierende“ Element in die Darstellung eingedrungen – eine Haltung, wie sie weniger Voltaires Candide88, wohl aber dessen Schauspiel Mahommed und seinem Roman La Pucelle zugrunde liegt. Damit gewinnt das Motiv der Entlarvung des Religiösen, das Écrasez

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Hitler diskutiert. Er hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auch in der NS-Propaganda die Metapher von Hitler als „Bildhauer Deutschlands“ gebraucht wurde (Bildbeispiel aus dem „Kladderadatsch“ a.a.O., S. 25). S. z.B. Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, in: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 19.1 Essays VI 1945– 1950. Hrsg. von Herbert Lehnert. Frankfurt a.M. 2009, S. 409 ff., hier S. 418 f. – Zum „Monstrum“ s. T.M., Brief an Käte Hamburger vom 15. Dezember 1943, in: Thomas Mann / Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955. Hrsg. von Hubert Brunträger. (Thomas-Mann-Studien. Bd. 20). Frankfurt a.M. 1999, S. 74. Vor allem durch „Lotte in Weimar“. Katja Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren. Hrsg. von Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt a.M. 1976 u.ö., S. 150. Den T.M., wie er berichtet, gerade in jener Zeit wieder gelesen hatte; s. z.B. Brief an Schalom Ben-Chorin vom 10.8.1945 (Wysling, DüD [wie Fußn. 5], S. 651).

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l’infâme wie es besonders in der Schilderung der Person und der Handlungen Joschuas zutage tritt, zu Lasten der verständnisvollen, wohlwollenden Haltung ein größeres Gewicht89. Mit Voltaire, in dessen Nachfolge sich Thomas Mann hier selbst stellt, dringt eines der ambivalenten Motive der Aufklärung in die Darstellung ein: der Kampf um die Säkularisierung und gegen den religiösen Obskurantismus und Antirationalismus. Dass diese Angriffe sich auch gegen die jüdische Religion richteten, hat den Aufklärungsphilosophen häufig den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen90, wobei aber übersehen wurde, dass sich die Kritik auch gegen die christliche Geistlichkeit richtete91. Thomas Mann hätte unter Berufung auf diese Tradition verlangen können, dass religiöse Menschen derartige Kritik aushalten müssten – und mehr oder weniger versteckt hat er es auch getan, indem er auf das Einfließen des Voltairianischen in seinen Text hinwies92. Es wäre interessant zu wissen, ob sich nur die jüdische Orthodoxie durch die Novelle in ihrem religiösen Empfinden getroffen fühlte93 oder auch größere Kreise des Judentums. Bei einer öffentlichen Lesung aus seiner Novelle scheint die Aufnahme – so berichtet jedenfalls der Autor selbst – begeistert gewesen sein94. c) Was speziell die Gestalt des Mose angeht, so kann man neben der Lutheroder der Hitler-Parallele (die der „immanenten“ Sphäre der Novelle angehören) auch an eine andere Bezugsperson denken: Hat Thomas Mann bei dieser „Führer“-Gestalt nicht vielleicht (auch) den von ihm verehrten amerikanischen Präsidenten Roosevelt vor Augen gehabt? Dies könnte eine Erklärung dafür 89

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Als „voltairianisch“ im weiteren Sinne kann man auch den – die Grenze vom Ironischen zum Zynischen streifenden – Hinweis verstehen, dass den ägyptischen Zweitgeborenen die Ermordung der Erstgeborenen gar nicht so unangenehm gewesen sei (18) – ein Gedanke, der sich übrigens bereits bei Goethe findet: Johann Wolfgang Goethe, Israel in der Wüste (wie Fußn. 80), S. 163, der sogar noch weiter geht, und meint, dass man bewusst nur die Erstgeborenen getötet habe, um den „Eigennutz der Nachgebornen zu beschäftigen, und der augenblicklichen Rache durch eine eilige Flucht entgehen zu können“. Der im Einzelfall – beispielsweise bei Voltaire – auch zutraf. S. dazu eingehend und mit dem Versuch der Differenzierung Thomas Vormbaum, Der Judeneid im 19. Jahrhundert (wie Fußn. 38), S. 224 ff. Brief an Paul Amann vom 14.1.1944 (Wysling, DüD [wie Fußn. 5], S. 643); Brief an Karl Kerényi vom 7.2.1945 (a.a.O., S. 648); Brief an Schalom Ben-Chorin vom 10.8.1945 (a.a.O., S. 650); Brief an Otto Basler vom 1.9.1945 (a.a.O., S. 652); Brief an Fred Michael vom 21.12.1946 (a.a.O., S. 654). Darmaun, a.a.O., S. 278, erwähnt nur sie, was aber wohl nicht als exklusive Aussage gemeint ist. Brief an Agnes E. Meyer vom 7.1.1945 (Wysling, DüD [wie Fußn. 5], S. 647).

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liefern, dass er im Zusammenhang mit Mose die Verwendung des Begriffs „Führer“ als unproblematisch ansieht, ist er doch der Meinung, dass bei Roosevelt „einmal das Führermotiv mit dem höheren und geistigen Interesse zusammentrifft“95. „Er verehrte Roosevelt – nicht als Führer einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie, sondern als mächtigen Autokraten, der als Einziger willens und in der 96 Lage schien, Hitler zu beseitigen.“

Und Roosevelt war es ja auch, der ein widerstrebendes Volk und Land mühsam davon überzeugen musste, gegen den deutschen Führer ins Feld zu ziehen, wie Mose sein Volk zum Auszug in die Wüste und zur Befolgung der Gebote des unsichtbaren Gottes. d) Hatte Thomas Mann sich einmal entschlossen, die Geschichte vom Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft und der Verkündung des Gesetzes zum Gegenstand der Novelle zu machen, so folgten daraus gewisse Eigengesetzlichkeiten einer novellistischen Darstellung – wenngleich zweifellos auch insoweit noch Spielräume blieben. Was beispielsweise die „unordentliche Geburt“ des Mose angeht, so schuf sie gerade die nötige Distanz zu „seines Vaters Blut“, um eine gewisse Subjekt/Objekt-Beziehung des Gestalters zum Gestalteten zu wahren97; sie trägt aber auch zur Stimmigkeit des „Plot“ bei, denn „die feine Erziehung98, die er zeitweise genossen“, und seine „dunklen Beziehungen zum Hof, über die er verfügte“ (12), verleihen ihm Autorität bei den Israeliten, verschaffen ihm die intellektuellen Fähigkeiten für sein Unternehmen und öffnen ihm den Audienzsaal des Pharaos (13 f.), seines „Lüsternheits-Großvaters“99. Im Übrigen konnte Thomas Mann sich darauf berufen,

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Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1982. Eintragung vom 1. November 1940, S. 173; siehe auch den Hinweis bei Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik. Frankfurt am Main. 2005, S. 133. Görtemaker, a.a.O., S. 141, der in diesem Zusammenhang (wie in seinem ganzen Buch) darauf hinweist, dass man von Thomas Mann eine ausgefeilte politische Theorie nicht erwarten kann. Ob die Gesamteinschätzung Thomas Manns als im Grunde unpolitischen Menschen wirklich durchgängig trägt, wie es Görtmaker anhand zahlreicher Beispiele immerhin plausibel macht, bedürfte wohl noch weiterer Diskussion. Im hier angesprochenen Punkt trifft sie m.E. zu. Ähnlich Bernd M. Kraske, Ein hohes Lied der Gesittung. Die Moses-Novelle „Das Gesetz“, in: Ders., Nachdenken über Thomas Mann. Sechs Vorträge. Glinde 1997, S. 133 ff., hier S. 153. Nämlich „Stern- und Länderkunde, Schriftkunst und Recht“ (8). Ebenfalls relativierend mag der Hinweis auf Sargon von Akkad (24. Jh. v. Chr.) wirken; dazu bereits der Text.

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dass vor ihm schon andere die Hypothese einer ägyptischen Abstammung Moses vertreten hatten100. e) Was die Unordentlichkeit des Volkes, dieses „formlosen Menschentums“ (19), dessen Alltagsverhalten sich im Negativabdruck der Mosaischen Gardinenpredigten und Ordnungssatzungen ablesen lässt, angeht, so lässt sich auch hier eine Lesart vertreten, welche der Novelle eine humane Deutung gibt. Folgt man Hans R. Vaget, so wird gerade mit der Betonung des „Unordentlichen“, das an Moses Wiege und am Anfang des Auszuges aus Ägypten gestanden und während des Marsches zur Oase Kadesch und auch dort noch stattgefunden hat, „jede Vergötzung der Ordnung […] als unsittlich verworfen“101. f) Ein letzter Aspekt der „Unordentlichkeit“: Die Absicht, in der Nachfolge Heinrich Heines Mose als Künstler darzustellen102, musste ihre Eigendynamik entfalten. Ein Bildhauer, der die Form aus dem Stein hervortreiben will, hat es notwendig zunächst mit einer ungestalten Materie zu tun. Wird die BildhauerMetapher auf die Gestaltung eines Volkes übertragen, so muss letzteres notwendig als ein chaotischer „Haufen“, als ein „Pöbelvolk“103, ein „Gehudel“ dargestellt werden. Und zu einer Künstler-Novelle gehört weiterhin – sonst wäre sie bestenfalls langweilig, schlimmstenfalls gegenstandslos – die Resistenz des zu bearbeitenden Stoffes, die sich Mose in der Renitenz des Volkes darbietet und sein Werk erschwert. g) Aus der Wahl des Stoffes folgen schließlich auch Verwandtschaften von deutscher und israelitischer „Befindlichkeit“104: „‘Volk ohne Raum’, das war die Wirklichkeit Israels und die Wahnvorstellung Deutschlands – die Landeroberung wird das gemeinsame Projekt ihrer Bewegung. Die im Zuge des Exodus von Moses propagierte Reinheitserziehung hatte fortschrittlich zivilisatorische Bedeutung und konkretisierte sich in den Formen von Körperhygiene, Inzestverbot und Dietvorschriften. Hitlers Reinheits-Fanatismus hingegen war eine Demenz-Erscheinung der abendländischen Décadence, eine sich 100 Vor allem Heinrich Heine und Thomas Mann, welche diese Hypothese allerdings in andere Kontexte gestellt hatten. 101 Hans R. Vaget, Das Gesetz (wie Fußn. 5), S. 609. – Herbert Lehnert, Thomas Manns Erzählung ‘Das Gesetz’ und andere erzählerische Nachspiele im Rahmen des Gesamtwerks, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjS) 43 (1969), S. 515 ff., hier S. 537, weist darauf hin, dass der Autor, wenn er seine Komik auf Moses bezieht, letztlich auch sich selbst meint. 102 S. dazu Volkmar Hansen, Thomas Manns Erzählung „Das Gesetz“ und Heines MosesBild, in: Heine-Jahrbuch 13 (1974), S. 132 ff. 103 Der Ausdruck ist freilich aus der Lutherschen Bibel-Übersetzung übernommen. 104 „Befindlichkeit“ hier im doppelten (objektiven und psychologischen) Wortsinne verstanden.

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in rückschlägigen Vorstellungen von Blutschande und Rassenzucht ausbreitende Degenerationsphobie. Um das Einhalten der hebräischen Reinheitsgebote bzw. faschistischen Rassengesetze zu gewährleisten, brachten Moses wie Hitler Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung vollständig in ihre Gewalt.“

Die Parallelen sind also vorhanden, sie sind jedoch äußerlich, formal. Dort hingegen, wo es um Inhalte geht, werden sie nicht nur aufgegeben, sondern sogar konterkariert. Dies gilt beispielsweise für die Mahnung „Du sollst kein Freudengeschrei machen über den Fall deines Feindes“ (21), die Hitlers Gedankenwelt gewiss fremd war. Und es gilt insbesondere für die rassische Komponente: Die Bevölkerungsperspektive Joschuas und Moses ist gerade umgekehrt zu derjenigen des deutschen Führers. Geht es anfangs noch um die Hoffnung, dass „allerlei verwandtes Blut, das in Wüsten umherschweifte, sich diesem Kern zur Landgewinnung anschließen würde“ (11), so vermehrten nach dem Sieg über die Amalekiter „die in den Dorflagern zurückgelassenen Kinder Amaleks […] die Zahl seines [Israels] eigenen Nachwuchses. Die Weiber Amaleks wurden Israels Weiber und Mägde“ (27). Und die Konkubine, die Mose sich genehmigt, ist – auch biblisch bezeugt – eine Mohrin. h) Ob das die Novelle abschließende Anathema dessen, der die Gebote vom Sinai aus Prinzip leugnet, das Licht aussenden kann, in dessen Schein die (scheinbar?) problematischen Aspekte der Novelle interpretiert werden müssen, ist umstritten. Der auch vom Autor selbst vertretenen These, dass es der Fluchtpunkt der Erzählung sei105, steht die Auffassung gegenüber, dass es nur eine heterogene Zutat sei106. Welcher Auffassung man hier folgt, ist auch eine Frage der Quantifizierung, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll, da es nur darum ging, ein Problem aufzuzeigen, das aus der zeithistorischen Einbettung der Novelle folgt.

4. Resümee und Ergänzung Mögen somit manche Bedenken angesichts von Gegenfaktoren und im Wege der Interpretation sich mildern lassen, so bleibt doch die Feststellung, dass die Novelle angesichts der Zeitumstände ihrer Entstehung auf einem recht schmalen Grat wandelt. Thomas Mann hatte denn auch gewisse Mühe, den 105 So vor allem in seiner Rundfunkansprache vom 24.4.1943 (Wysling, DüD [wie Fußn. 5], S. 639 ff.); ebenso Lubich, Fascinating Fascism (wie Fußn. 84), S. 26, auch mit Nachw. zur Gegenauffassung; wohl auch Karl Joseph Kuschel, „Mein Gott, die Menschen …“. Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der Mose-Novelle „Das Gesetz“, in: Dietmar Mieth (Hrsg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen 2000, S. 237 ff., hier S. 248 ff. 106 Vaget, Das Gesetz (wie Fußn. 5), S. 606.

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vor allem von jüdischer Seite vorgetragenen Bedenken zu begegnen107. Auf jeden Fall war es eine heikle Entscheidung, zur Exemplifikation des deutschen Volkes und seines Führers ausgerechnet das Volk Israel und seinen ersten Propheten heranzuziehen und überdies den Stoff auch noch „voltairisierend“ zu bearbeiten. Der Historiker und Rechtshistoriker, dem die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts präsent ist108, möchte noch auf einen letzten Problempunkt hinweisen, der freilich aus nachvollziehbaren Gründen von jüdischer Seite nicht gerügt worden ist: Das zentrale Thema der Novelle ist die Erziehung eines Volkes. Genauer noch wäre es von der Erziehung zu einem Volke zu sprechen. Rechtssoziologisch soll – dies wurde schon erwähnt – aus einer „Bevölkerung“ ein „Volk“ gemacht werden. Was Moses hier, wenn man die Bildhauer-Metapher weitertreibt, dem Volk im Wortsinne „einhämmert“, sind die Gebote des Dekalogs, aber auch die einzelnen Reinheitsgebote, diese aber nicht nur als für sich selbst stehende ethische Gebote, sondern auch als Instrumente der „Formung“ des Volkes. Man könnte es als die Arbeit an der Homogenisierung des Volkes Israel bezeichnen. Warum ist dies aus (rechts-) historischer Sicht problematisch? Dazu müssen wir uns vor Augen führen, in welchen weiteren historischen und rechtshistorischen Kontext die Entstehung der Novelle eingebettet ist. Es ist notwendig der Kontext von Antisemitismus und Recht (vor allem Staatsrecht). Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die sog. Erste Emanzipation109 – nicht zuletzt unter französischem Einfluss – die Juden aus dem Ghetto befreit hatte, gab es auf politischer, juristischer und theoretischer Ebene Versuche, die volle Emanzipation zu verhindern. Eines der zentralen Argumente gegen sie war die vor allem von Friedrich Julius Stahl propagierte, sich aber insgesamt in den restaurativen und romantischen Zeitgeist einfügende Lehre vom „christ107 Thomas Mann an Richard Weil, 9.8.1945 (Wysling, DüD [wie Fußn. 5], S. 650): „Diese Arbeit ist von orthodoxer jüdischer Seite vielfach als kränkend für das Judentum und seinen Helden und Meister Moses angegriffen worden. […] Es handelt sich dabei immer nur um allgemein Menschliches, für das das Jüdische nur repräsentativ ist“. Thomas Mann an Schalom Be-Chorin, 10.8.1945 (a.a.O., S. 650 f.): „[…] Das spezifisch Jüdische stand aber gar nicht im Vordergrund meines Bewusstseins. […] Trotzdem, vor dem Forum jüdischer Pietät bedarf ich gar sehr der Nachsicht, das weiß ich wohl“; ähnlich Brief an Otto Basler vom 1.9.1945 (a.a.O., S. 651 f.); Brief an Drorah Bat-Galim vom 9.2.1946 (a.a.O., S. 652 f.); Brief an Fred Michael vom 21.12.1946 (a.a.O., S. 653 f.). 108 Ob man dies auch bei Thomas Mann annehmen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Ist es nicht der Fall, so sind die folgenden Sätze nur als objektiver Hinweis zu verstehen. 109 Näher Vormbaum, Der Judeneid (wie Fußn. 38), S. 56 f. u.ö.

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lichen Staat“. Die Antisemitismusforschung rügt bis heute die Tendenz zur Homogenisierung der Gesellschaft, welche mitunter in den Kontext eines Früh-Antisemitismus gestellt wird110. Wenn diese Tendenz in der Novelle als diejenige der Tätigkeit Moses dargestellt wird, so kann man daran eine – wenn auch subtilere bzw. abstraktere – Kritik in als den zuvor behandelten Punkten üben. Auch hier lassen sich freilich Repliken formulieren: Das Formierungs- und Homogenisierungswerk Moses zielt zwar in einem ersten Schritt auf das Volk Israel, doch wird allenthalben klargestellt, dass es über dieses Volk hinausweist111. Hierauf kann freilich abermals repliziert werden, dass auch die Konzeption vom christlichen Staat den Juden die Option der Taufe offen hielt, also noch nicht rassistisch konnotiert war (Stahl selbst war getaufter Jude). Das Thema soll hier nicht weiter verfolgt werden, weil es im zeitgeschichtlichen Kontext der Entstehung der Novelle keine Rolle gespielt hat. Immerhin: Den Ruf des von Moses Steinmetzarbeit sich überfordert fühlenden Volkes „Wir sind ein Volk wie ein anderes und wollen eine Ausgelassenheit haben vor Göttern, die wie anderer Leute Götter sind“ (50), hätte, vom deutschen Volke ausgestoßen und befolgt, diesem und der Menschheit sicherlich manches erspart112.

110 Ebd., S. 213 ff. 111 Dies gilt übrigens auch für die Formel vom Auserwählten Volk, das keinen Exklusivitätsanspruch enthält, sondern nur die besondere Rolle meint, den universellen Gott als erstes Volk in der Person Moses – in den Worten Thomas Manns – „hervorgedacht“ zu haben, bzw. von ihm als Vermittler dieses Gottes ausgewählt worden zu sein. Dass die Missverständnisse, die von außerjüdischer Seite mit diesem Begriff verbunden worden sind, gelegentlich auch von Juden gepflegt worden sind und dass ein solches Missverständnis auch für einzelne Juden eine Versuchung zur Missdeutung darstellt, steht auf einem anderen Blatt; s näher http://www.judentum-projekt.de/religion/ religioesegrundlagen/auserwaehlt/index.html. In der Novelle kommt die Ambivalenz zum Ausdruck, dass „der Unsichtbare eigentlich der Gott aller Welt war, zukünftig alle binden, aber für sie zuerst erlassen und ihr strenges Vorrecht sein sollte unter den Heiden“ (11). Der Weg von der „ganz konfusen“ Verehrung zum Henotheismus und von dort zum Monotheismus war eben der Weg von Menschen mit ihren Schwächen, und als solchen schildert ihn die Novelle. 112 Dieser Kommentar (und damit das ganze Buch) hat eine klippenreiche Vorgeschichte. Nachdem mehrere Aspiranten ihren Auftrag nach mehr oder weniger langer Zeit aus jeweils nachvollziehbaren persönlichen Gründen zurückgegeben haben, habe ich mich schließlich entschlossen, die Aufgabe selbst zu übernehmen, bin aufgrund anderer Verpflichtungen meinerseits in Verzug geraten. Zu den Vorgängern gehörte auch mein Kollege Jörg Tenckhoff, dessen Vorarbeiten am weitesten gediehen waren. Ich danke ihm, dass er mir seine Materialien zur Verfügung gestellt hat. Zwar trage ich für die Anlage und Durchführung des Kommentars die volle Verantwortung, doch wäre der Kommentar ohne diese Vorarbeit gewiss noch später erschienen.

Juristische Zeitgeschichte Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen Abteilung 1: Allgemeine Reihe 1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLG-Bezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006)

22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011) 23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2013) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013)

Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte – Symposium der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810–1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NS-Strafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)

Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)

23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011)

Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) 2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) 3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) 4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) 5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) 6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) 7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) 8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) 9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)

Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)

7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peace-keeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013)

Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001) 4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001)

8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung (2001) 9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007)

30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013)

Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)

Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006) 3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007)