1944: Roosevelt und das Jahr der Entscheidung 3806234744, 9783806234749

Das Jahr 1944 gilt als Wendepunkt in der Weltgeschichte. Roosevelt, Churchill und Stalin beschließen den »D-Day« und läu

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German Pages 586 [590] Year 2017

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Auftakt
Der Große Sphinx: 22./23. November 1943
Teil Eins
Der Große Sphinx
Kapitel 1: Teheran
Kapitel 2: „Ich möchte immer nur schlafen – zwölf Stunden am Tag“
Kapitel 3: Flucht, Teil 1
Kapitel 4: Flucht, Teil 2
Kapitel 5: „Dies ist das Jahr 1944“
Kapitel 6: „Wird uns dieses Jahr 1944 den Sieg bringen?“
Teil Zwei
Der Weg ins Jahr 1944
Kapitel 7: Die Anfänge
Kapitel 8: Gottes Mühlen
Kapitel 9: Riesige Friedhöfe
Kapitel 10: Das Riegner-Telegramm
Kapitel 11: 1943
Kapitel 12: „Die Duldung des Judenmordes durch diese Regierung“
Teil Drei
Eine schicksalhafte Entscheidung
Kapitel 13: Gefangen zwischen Wissen und Nichtwissen
Kapitel 14: Der Wind und die Stille
Teil Vier
1945
Kapitel 15: Abrechnung
Danksagungen
Bildnachweise
Anmerkungen
Register
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1944: Roosevelt und das Jahr der Entscheidung
 3806234744, 9783806234749

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Jay Winik

1944 Roosevelt und das Jahr der Entscheidung Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Bertram, Marlies Glaser und Jörn Pinnow

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Für die englischsprachige Originalausgabe: Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel „1944. FDR and the year that changed history“ bei Simon & Schuster, New York. Copyright © 2015 by Jay Winik

Für die deutschsprachige Ausgabe: Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Thomas Bertram, Marlies Glaser und Jörn Pinnow Fachlektorat: Melanie Heusel, Freiburg Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Einbandabbildung: © ullstein bild Einbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3474-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3541-8 eBook (epub): 978-3-8062-3542-5

Für Nathaniel und Evan „BC“ – meine Schätze und die Zukunft



Inhaltsverzeichnis Auftakt Der Große Sphinx: 22./23. November 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil Eins Frühjahr 1944: Alles auf einmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kapitel 1: Teheran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Kapitel 2: „Ich möchte immer nur schlafen – zwölf Stunden am Tag“ . . 78 Kapitel 3: Flucht, Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kapitel 4: Flucht, Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Kapitel 5: „Dies ist das Jahr 1944“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Kapitel 6: „Wird uns dieses Jahr 1944 den Sieg bringen?“ . . . . . . . . . . . . 192

Teil Zwei Der Weg ins Jahr 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Kapitel 7: Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Kapitel 8: Gottes Mühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Kapitel 9: Riesige Friedhöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Kapitel 10: Das Riegner-Telegramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Kapitel 11: 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Kapitel 12: „Die Duldung des Judenmordes durch diese Regierung“ . . . 384

Teil Drei Eine schicksalhafte Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Kapitel 13: Gefangen zwischen Wissen und Nichtwissen . . . . . . . . . . . . . 414 Kapitel 14: Der Wind und die Stille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452

Teil Vier 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Kapitel 15: Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

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Auf dem Weg nach Teheran sehen sich Franklin Delano Roosevelt und ­Winston Churchill während der Kairo-Konferenz die Pyramiden und den Sphinx an. Wie sich herausstellte, war Roosevelt im Jahr 1944 oftmals ­ebenso undurchschaubar wie der Sphinx selbst.

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Auftakt

Der Große Sphinx 22./23. November 1943 Diese Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckte, gehörte zu den ruhigsten und erhabensten der Welt. Jedoch war sie, am Rande der Sahara auf einem Felsplateau gelegen, auch eine der gefährlichsten. In den Sommermonaten flimmerte und wogte das sonnendurchtränkte Gelände rings um den Großen Sphinx bei Temperaturen von über 40 Grad. Unerfahrene Reisende verloren die Orientierung, waren sie doch nie zuvor solch erbarmungsloser Hitze, solch entnervendem Durst, solch unerbittlicher Stille oder einer derart pfadlosen Wüste begegnet. So gleißend war das vom Sand reflektierte Licht, dass das Auge seinen blendenden Schein nicht ertragen konnte. Sogar das Wetter trieb hier ein seltsames Spiel mit Raum und Zeit. Gegen Ende März kam der gefürchtete Chamsin, ein stürmischer, heißer Wüstenwind, der körnigen Staub mit sich führte und das Plateau von Gizeh oft bis zu 50 Tage lang nahezu unbewohnbar machte. Ganze Schafherden waren im Lauf der Jahre in diesen höllischen Stürmen verschwunden, wie auch zahllose Menschen, einfach vom Sand verschluckt. Der sagenumwobene Große Sphinx selbst, eines der ältesten Monumente der Welt, hatte über ein Jahrtausend lang verborgen unter Bergen von Treibsand gelegen. Hier, unter dem weiten blauen Himmel, lagen der Reiz der Antike und der Zauber der Geschichte beieinander, überlagerten sich verschiedene Kulturen auf faszinierendste Weise. Einst waren die Pharaonen durch diese Lande ­gewandelt, ebenso wie Königin Kleopatra und der mächtige Caesar. Antike römische Senatoren in fließenden weißen Togen wurden mit Gold, Silber und zahlreichen anderen Reichtümern in Hülle und Fülle überhäuft, während in späteren Jahrhunderten heilige Männer sich im Gebet geißelten und Menschenmassen den Nil säumten, um ihre Führer hochleben zu lassen oder ihre Bezwinger zu bewundern. Das mittelalterliche Kairo, das sich entlang der NilUfer erstreckte, war eine der weltweit größten Städte. Sie wurde zur Trophäe für das arabische Kalifat und später Herrschaftsgebiet der osmanischen Sultane. Auch Napoleon kam hierher und wollte diese magische, mystische Region unterwerfen, blieb aber letztlich ohne Erfolg. Wie so viele andere Reiche hatte

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Auftakt

auch dieses, das sich über die Wüste und entlang der Flussufer erstreckte, Höhen und Tiefen erlebt und war am Ende größtenteils verblichen. Selbst der Bau des Suezkanals reichte nicht aus, um den Niedergang Ägyptens gänzlich in einen Aufschwung zu verkehren. Auch im 20. Jahrhundert blieb das Land ein Pfand größerer Mächte, diesmal als strategischer Preis im globalen Gerangel zwischen England und Frankreich. Doch obwohl die Pracht des ägyptischen Reiches im Herbst des Kriegsjahrs 1943 längst verschwunden war, hatte es nichts von seiner atemberaubenden Rätselhaftigkeit eingebüßt. Ägypten war noch immer ein Land der Farbe, der überwältigenden Sonnenuntergänge und prächtiger tropischer Gärten, goldgelber Felder und einer Fülle von Blumen. Palmen wiegten sich im Wind, Esel zogen Karren und schleppten Bündel. Die Moscheen mit ihren Minaretten waren voll mit Gläubigen und die lebhaften Straßen ein Sammelsurium aus Kaffeebuden und üppigen Gewürzbasaren, durchzogen vom Rufen der Händler und den Fetzen politischer Gespräche. Kairo selbst war ein dicht bevölkertes Labyrinth, der Anblick von Schlangenbeschwörern und Fakiren war allgegenwärtig, ganz zu schweigen vom überwältigenden Duft des ägyptischen Alltags. Und in ihrem Umland blieb die reiche Vergangenheit stets präsent. Im Südwesten der Stadt erhoben sich die berühmten Pyramiden wie antike Wolkenkratzer oder künstliche Berge über den Horizont. Jahrhundertelang hatten Muslime, Christen und Juden die Geschichte dieser gewaltigen steinernen Gipfel vergessen und sich stattdessen auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt: Es seien die uralten Getreidespeicher des biblischen Patriarchen Josef. Aber nicht alle teilten diese Ansicht. Mehr als ein Herrscher war überzeugt davon, dass die Pyramiden uralte Goldlager verbargen. Einmal hatte ein Kalif aus Bagdad seinen Truppen befohlen, die Cheops-Pyramide anzugreifen. Ein andermal erließ ein Herrscher ein Dekret zum Abriss der Pyramiden. Acht Monate lang mühten sich Bohrer und Steinmetze ab, jeden Tag einen oder zwei der riesigen Steinquader zu entfernen, gaben aber schließlich schon auf, als sie, wie ein Chronist schrieb, noch sehr „weit von dem entfernt waren, was sie sich vorgenommen hatten“. Fortan wurden die Pyramiden im Wesentlichen in Ruhe gelassen, aber nicht so der Sphinx. Als die Osmanen ihr ägyptisches Reich in die vermeintliche Obhut der Mameluken gaben, benutzten diese sein verletzliches Antlitz für Zielübungen. Bei der Öffnung der Pyramiden im 19. Jahrhundert waren es dann in erster Linie westliche Abenteurer, welche die verbliebene Beute mitgehen ließen. Statuen, Mumien, Gemälde und antike Steine wurden in Kisten verpackt und von

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ägyptischen Häfen aus in die Hauptstädte Europas verfrachtet. Als endlich ein junger Winston Churchill eintraf, um die Pyramiden zu malen, waren ihre Geheimnisse bereits größtenteils entschlüsselt und ihre Schätze im Britischen Museum ausgestellt. Unverändert geblieben waren hingegen das unwirtliche Gelände aus Treibsand und der weite Himmel. Des Nachts glänzten die großen Sterne hell, wie sie es seit Jahrtausenden taten. Dem antiken Mythos zufolge entsprach die hoch droben schimmernde Milchstraße einem „Nil am Himmel“, der toten Pharaonen den Weg ins Jenseits wies. Wer allerdings im Jahr 1943 nach oben blickte und diesen Sternenpfad sah, dachte vermutlich nicht an uralte Legenden. Seit der Zweite Weltkrieg wütete, waren die Wege ins Jenseits überfüllt. Alle drei Sekunden wurde ein weiteres Menschenleben auf Erden ausgelöscht. Derweil waren in Kairo abermals massenhaft Menschen aus dem Westen eingetroffen. Knapp über ein Jahr war es her, dass deutsche Verbände unter General Erwin Rommel das 240 Kilometer von Kairo entfernte El Alamein erreicht hatten, von wo aus sie vorhatten, den Suezkanal zu erobern und durch BritischPalästina nach Norden vorzurücken, um sich mit Einheiten der Wehrmacht, die von der Sowjetunion aus nach Süden vorstießen, zu vereinigen. Stattdessen hatte Englands General Bernard Montgomery sie in einer brutalen Schlacht gezwungen, sich in die relative Sicherheit Libyens und Tunesiens zurückzuziehen. Dies war der erste bedeutende Sieg der Alliierten über Deutschland und der erste Wendepunkt eines Krieges, der jetzt erneut nach Ägypten gekommen war. An diesem Nachmittag näherte er sich dröhnend in Gestalt einer dunklen Auto-Karawane, die sich in Richtung Pyramiden und Sphinx schlängelte. Drinnen saßen die wichtigsten Protagonisten der alliierten Kriegsanstrengung: Admiräle, Generäle, Ärzte und die zwei Männer, in deren Händen das Schicksal der westlichen Demokratie lag – Winston S. Churchill und Franklin D. Roosevelt. Es war der 23. November, und ein kühler Wind strich über die angedeuteten Wellen im Sand. Die Regierungschefs Großbritanniens und der Vereinigten Staaten besichtigten Sehenswürdigkeiten und gönnten sich eine Pause vom Kairoer Gipfel – für die Alliierten das erste und wichtigste von drei solcher Treffen in diesem Krieg. Der Ausflug zu den Pyramiden war eine Idee von Churchill gewesen, die er mit feurigem Blick und voller Wärme und Humor in seiner heiseren Stimme – er litt an einer Erkältung –, enthusiastisch verkündet hatte. Kaum hatte der Premierminister die Idee beim Tee in der Präsidenten-

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Villa zur Sprache gebracht, war Roosevelt so begeistert gewesen, dass er versuchte, aus seinem Stuhl aufzustehen – ein seltenes Versehen –, nur um schmerzlich festzustellen, als er die Griffe umfasste und seine Knöchel sich weiß verfärbten, dass er es nicht vermochte. „Mr. President“, insistierte ein hartnäckiger Churchill mit dröhnender Stimme, „Sie müssen einfach mitkommen und den Sphinx und die Pyramiden sehen. Ich habe alles arrangiert.“ Im letzten Moment wurde ein einheimischer Fremdenführer besorgt, um ihnen den Weg zu weisen. Sie fuhren bei Sonnenuntergang los, als die Temperatur schon fiel und die abendlichen Schatten länger wurden. Im Osten auf dem Plateau standen die drei Pyramiden, und im Westen lag ein königlicher Friedhof, der mehr als 4000 Mumien barg. Aber es war das Rätsel des Großen Sphinx mit seinem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Königs, das Roosevelt und Churchill am meisten faszinierte. Moderne Ägypter haben den Großen Sphinx von Gizeh Abu Hol getauft, was so viel bedeutet wie „Vater des Schreckens“, aber für jene, die ihn erbauten, war der Sphinx ein dauerhaftes Symbol der Güte, humorvoll und ehrfurchtgebietend. Während sie nun den Sphinx aus „jedem Blickwinkel“ musterten, sannen die beiden Männer über sein unergründliches Lächeln, seine fehlende Nase und seine rätselhaften Adlerschwingen nach. Dann folgten ihre Augen seinem selbstsicheren starren Blick über die trostlose Ebene von Gizeh und weit darüber hinaus. Was hatte er zu erzählen?, fragte sich Churchill. Als die Sonne hinter den Pyramiden versank, wurden Roosevelt und Churchill, normalerweise die geistreichsten Plauderer, merkwürdig still. Koptische Mönche hatten den Wind, der auf dem Plateau wehte, einst die „Stimme der Ewigkeit“ genannt. Es war, als hätten Roosevelt und Churchill inmitten dieses schrecklichen Krieges, weit entfernt von den Schlachtfeldern Europas, Nordafrikas und des Pazifiks, ausgerechnet gemeinsam einen Ort des Innehaltens gefunden, an dem die Zeit stehengeblieben war. Während die Minuten verstrichen, durchzog ein tröstliches Abendrot den Himmel – eine schmale, rosafarbene Linie über dem Horizont, die das Ende dieses Tages und die langsame Heraufkunft des nächsten anzeigte. Als Churchill seinen Blick vom Sphinx löste, verkündete er leise und mit Glückstränen in den Augen: „Ich liebe diesen Mann.“ Der stets charmante Roosevelt blinzelte bloß im schwächer werdenden Licht und gab nichts von sich preis. Er war in vielerlei Hinsicht ebenso undurchschaubar wie der Sphinx mit seinem verschlossenen und leidenschaftslosen Wesen. Daher war es äußerst passend, dass die Geschichtsschreibung diesen Gipfel später die „Sphinx-Konferenz“ taufte. In den Tagen und Monaten, die

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auf dieses Treffen folgten, sollte Roosevelt einige der folgenreichsten und schmerzlichsten Entscheidungen des gesamten Krieges treffen.1 Dieselbe Spätnovembersonne ging auch über Adolf Hitlers „Festung Europa“ unter. Und als die Dämmerung hereinbrach, stieg, knapp 1000 Kilometer nordöstlich von Berlin, von Luftwaffenstützpunkten in England ein tiefes Brummen zum Himmel auf. Stundenlang rollten Flugzeuge in Startposition, und Welle auf Welle alliierter Maschinen hob ab. Die Stimmen von Hunderten Piloten kamen krächzend über die Bordsprechanlagen, während Hunderte weiterer Flieger sich in ihre Cockpits setzten und ihre Drehzahlanzeiger prüften. Manche Besatzungsmitglieder gingen noch einmal rasch die Anweisungen im Falle eines Absturzes durch, während wieder andere Karten studierten. Die Bodencrews standen draußen, blickten in den halb dunklen Himmel hinauf und staunten darüber, wie viele Flugzeuge dort oben kreisten. 764 Maschinen hatten sich jetzt in der Luft versammelt und flogen in enger Formation davon. Als die Flugzeuge an Höhe gewannen, gerieten sie in dichte Wolken – eine Armada aus 469 schweren Lancaster-Bombern, 234 Halifax- und 50 StirlingBombern, eskortiert von einem Juwel der Royal Air Force, elf erstaunlich schnellen Mosquitos, die beinahe zur Gänze aus leichtem Holz bestanden. Nach der Überquerung des Ärmelkanals flogen sie in niedriger Höhe, um dem deutschen Radar zu entkommen. Binnen 30 Minuten hatten sie die nördlichen Niederlande hinter sich gelassen und überflogen auf ihrem Weg tief in den deutschen Luftraum die Höhenzüge des Harzes. Sie wussten bereits, was sie erwartete. Der nächtliche Angriff vom 22./23. November war der zweite Einsatz und die vierte Nacht in der Schlacht um Berlin, einer konzertierten Luftoffensive aus 16 Angriffen auf das Nervenzentrum des NS-Staates, die verheerendsten Angriffe auf die deutsche Hauptstadt in diesem Krieg. Berlin, die am stärksten geschützte Stadt des „Dritten Reiches“, schien wie eine undurchdringliche Festung. Sie verfügte über ein hochmodernes Netz aus Luftabwehrstellungen, darunter drei Flaktürme aus Beton. Zerplatzten die tödlichen Flakgranaten, schlitzten rasiermesserscharfe Splitter die Flugzeuge auf und schnitten durch ihre Unterseiten aus Aluminium wie heiße Messer durch Butter. Außerdem besaß Berlin einen Ring aus äußerst treffsicheren 8,8-cmFlugabwehrkanonen und eine Kommandozentrale, die sich ausgerechnet im Zoologischen Garten befand. Flakscheinwerfer suchten den Himmel über der Hauptstadt ab, und lautstarke Rauchgeneratoren pusteten stinkende Schwaden in die Luft, um die Stadt während der Angriffszeiten zu verbergen. Sogar Tarn-

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Auftakt

netze waren zwischen Gebäuden aufgespannt, die es Piloten, Bord- und Bombenschützen erschwerten, einzelne Straßenzüge zu erkennen. Doch dieser sorgfältigen Abwehrmaßnahmen zum Trotz hatte die deutsche Bevölkerung im Juli mit den konzentrierten amerikanischen und britischen Luftangriffen auf Hamburg jäh jedes Sicherheitsgefühl verloren. Diese Reihe von Bombardements hatte in der alten hansischen Hafenstadt, die Hitlers Tor zur Welt darstellte und deren Häuser größtenteils aus Holz bestanden, einen unersättlichen Feuersturm entfacht. Flammen züngelten an Mauern und Dächern empor und sprangen rasch von einem Häuserblock auf den nächsten über, wobei sie alles in ihrem Weg verzehrten. Eine Frau berichtete, ohne zu übertreiben, ganze Stadtteile seien „in ein Flammenmeer getaucht“ gewesen. Nach vier Tagen hatten die Alliierten etwa 43 000 Zivilisten getötet, und halb Hamburg lag in Schutt und Asche. Chaos war die Folge: Traumatisierte Flüchtlinge wurden über Berlin in die relative und – wie sich zeigen sollte – nur vorübergehende Sicherheit des Ostens geschickt, und es dauerte nicht lange, bis auch die Berliner unbedingt aus der Stadt heraus wollten, bevor die alliierten Bomber kamen. Die waren bereits am 18. November mit aller Macht aufgetaucht. Dieses Mal machten die alliierten Verbände in einem Konvoi, der sich Kilometer über den Himmel erstreckte, Anstalten, ihre Angriffe auf die westlichen Bezirke der Stadt zu konzentrieren. Nachdem sie die nordeuropäische Tiefebene passiert hatten, schwenkten sie nach Nordosten um und flogen über die Wälder entlang der Elbe. Als sie etwa 80 Kilometer vor Berlin waren, hielten die Bomber wie üblich für den Überraschungseffekt Funkstille ein und fingen ruhig an, ihre Ziele auszusuchen. In einer Höhe von 10 000 Fuß, wo die Luft merklich dünn und eisig war, näherten sich die Lancaster den Außenbezirken der Stadt und schickten sich an, 7000 Pfund Bomben abzuwerfen. Die Bombenschächte wurden geöffnet, es folgte ein schrilles Pfeifen, als die Geschosse fielen, dann eine Serie donnernder Schläge, als sie ihre Ziele trafen, gefolgt von einer Fontäne in den Himmel spritzender Rauchpilze. Wie ein Bombenschütze später triumphierend erzählte, jubelte er, als sein Flugzeug seine explosive Fracht ausklinkte. „Dies“, stellte er fest, „war Hitlers Stadt!“ Unten am Boden erbebte die Metropole bis in ihre Grundfesten. Überall barsten und stürzten Mauern ein. Durch die Straßen flogen Ziegel und zerbrochenes Glas. Die Luft war lärmerfüllt von Türen, die aus ihren Angeln gerissen wurden, von klirrenden Fenstern und ganzen Bauwerken, die einstürzten, zerdrückt wie Papiertüten. Noch hoch oben blitzten die Explosionen so hell, dass die Cockpits der Bomber kurz von einem strahlenden, fast blendenden gelborangenen Licht erfüllt waren, als flögen die Piloten direkt in die Sonne, nur

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um sofort wieder von Dunkelheit umgeben zu sein. Als die Luftabwehrstellungen ihre Gegenangriffe starteten, mussten die alliierten Piloten durch feindlichen Artilleriebeschuss, allgegenwärtiges Flakfeuer, Explosionen vom Boden und dichten schwarzen Rauch fliegen. Mit jeder Minute, die der Angriff andauerte, stiegen die alliierten Verluste. Zahlreiche Besatzungsmitglieder, auch Piloten, wurden von der Flak und vom deutschen Maschinengewehrfeuer getroffen oder durch Erfrierungen behindert – manche hatten während des Kampfstresses in ihre Overalls uriniert, und in den ungeheizten Cockpits gefror die Flüssigkeit bei Temperaturen von häufig minus zehn Grad Celsius. Irgendwann schien das Geflecht des deutschen Flakfeuers am Himmel dicht genug zu sein, um darüber zu laufen. Daraus gab es für viele Flugzeuge kein Entkommen, sie verwandelten sich in Feuerbälle. In der Stadt darunter waren die Berliner fassungslos über die schiere Wucht der Angriffe. In manchen Straßen loderten die Brände so hell, dass sie die Nacht zum Tag machten. Während der bläuliche Rauch aus den Fenstern getroffener Häuser nach oben quoll, fürchteten die Leute, lebendig begraben oder von den fallenden Bomben getötet zu werden, und fragten sich allmählich, ob wenigstens ihre sterblichen Überreste geborgen würden. Wer konnte, strebte hastig den öffentlichen Bunkern zu, die viele nicht erreichten. Während die Sirenen heulten und der Nachthimmel vom pausenlosen Luftabwehrfeuer erleuchtet wurde, suchten die Menschen sich in Sicherheit zu bringen, und in ihrer Verzweiflung schoben und drängelten und trampelten sie sich bald gegenseitig zu Tode. Für die Berliner sollte es keine Ruhepause geben, denn unaufhörlich nahten weitere Flugzeuge. Die Angriffe und das Blutbad dauerten Stunden. Dabei konnten die Menschen hören, wie Flugzeuge und Bomben unheilvoll immer näher kamen, wie die Explosionen sich quer durch die Stadt fortpflanzten, jede ein bisschen lauter, ein bisschen näher und ein bisschen stärker als die voraufgegangene. „Überall brennt es“, schrieb ein Berliner verzweifelt, „ständig stürzen Ruinen ein.“ Selbst Propagandaminister Joseph Goebbels gestand in einem Tagebucheintrag vom 24. November: „Das Bild, das sich […] bietet, ist geradezu trostlos. Es brennt noch lodernd an allen Ecken und Enden.“ Verängstigte Bewohner taumelten durch die Straßen, die Gesichter in Schals gehüllt, während sie sich keuchend einen Weg zwischen eingestürzten Mauern, über zerbrochenes Glas und durch Wolken von Staub bahnten. Überall rauchten Trümmerhaufen, barsten Wasserleitungen und lagen Wracks von Straßenbahnen, alles war erfüllt von heißer Luft und dem Geruch nach Rauch und verkohlten Ziegeln, der Himmel war übersät von alliierten Flugzeugen.

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Ganze Straßenzüge waren ausgelöscht. Das Diplomatenviertel brannte ab. Die Bahnhöfe erhielten schwere Treffer. Ebenso das Zeughaus und die Musikakademie. Der gesamte Bezirk Tiergarten mit seinen eleganten Villen und einem 210 Hektar großen Park wurde zerstört. Als der Rauch sich lichtete, umfasste die Liste der verwüsteten Ziele die Staatsoper, das Deutsche Theater, die Nationalgalerie, das Hotel Bristol, die Charité, das Städtische Krankenhaus, eine Entbindungsklinik und die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Auch die iranische, italienische, französische und slowakische Botschaft waren betroffen, ebenso der Potsdamer Bahnhof. Am schmachvollsten für die Deutschen war die Tatsache, dass das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion ebenso schwer beschädigt wurde wie die Kaserne der Kaiserlichen Garde. Manche Anwohner sahen in stummem Entsetzen zu, während andere hysterisch schoben und drängelten und sich in den Bunker auf dem Gelände des Zoologischen Gartens quetschten. Weitere Menschen schrien unterdessen auf den Bahnsteigen der S-Bahn oder in den Zügen oder irrten unter Schock einfach ziellos umher. Doch am schlimmsten getroffen wurden die Randbezirke. Der Anblick von Menschen, die lebendig begraben worden waren, von verkohlten, verkrusteten Körpern, geschrumpft auf die Größe kleiner Kinder, und von Leichen, die überall auf den Straßen herumlagen, war grässlich. Wie ein Schlachtfeld sähen die Straßen aus, stellte ein Gestapo-Beamter fest. Selbst der berühmte Zoologische Garten lag in Trümmern. Für die Menschen am Boden blieben die Bombenangriffe fortan eine Tortur, ein unerträglicher Chor nächtlicher Explosionen, dem einzig das Prasseln der Brände entsprach. Alldieweil begann ein merkwürdiger „Regen“ zu fallen, schimmernde Stanniolstreifen, die langsam vom Himmel auf die Straßen herabschwebten. Die Alliierten warfen sie ab, um das deutsche Radar in die Irre zu führen. In dieser Situation boten selbst die Schutzräume nicht immer eine sichere Zuflucht. Ein erschrockener junger Anwohner beobachtete, wie die Decke seines Bunkers für einige Minuten in Zeitlupe zu beben, zu schwanken und zu wackeln begann, bis sie einstürzte. Er gehörte zu den wenigen, die lebend aus den Trümmern geborgen wurden. In der ganzen Stadt dröhnten die Explosionen weiter, oftmals in Achterserien – irgendwann merkten auch die Berliner, dass jedes Flugzeug in seiner Bombenwiege acht Sprengkörper mitführte –, und wenn die alliierten Maschinen für den Heimflug nach Westen abdrehten, sahen die Besatzungen noch 20 Minuten lang den roten Feuerschein am Himmel über Berlin. Ging am Morgen die Sonne auf, bot sich ein verheerender Anblick. Wegen der aus den brennenden Häusern aufsteigenden Rauchwolken konnten die Men-

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schen kaum atmen. Verängstigte Bewohner taumelten durch die Straßen, stolperten über Scherben und Schutt, der allerorten unter den Füßen knirschte. Die Überreste Hunderttausender von Leben traten nun eindrücklich zutage: zerschmetterte Kronleuchter, Scherben von Vasen und Kristallschalen und Berge zerschlagenen Porzellans. Unterdessen loderten die Brände weiter, und der Himmel selbst hatte sich schmutziggelb verfärbt. Bei der Besichtigung der rauchenden Trümmer meinte Goebbels, man sehe nichts als Mauerreste und Schutt. Am Ende der Woche war das Leben in Berlin zur Hölle auf Erden geworden. Fast eine halbe Million Deutsche war obdachlos, und etwa 10 000 waren verletzt. Die Toten wurden in Aulen und Turnhallen aufgebahrt, wo sie ihrer Identifizierung harrten. Allein in dieser einen Woche waren 4000 Menschen getötet worden. Nichtsdestotrotz gaben sich Hitlers strammste Anhänger unverzagt: In der ganzen Stadt setzten Nationalsozialisten kleine Fahnen und Hakenkreuze oben auf die Trümmer. Während die Bombardierung der Reichshauptstadt durch die Alliierten Millionen von Bürgern im besetzten Europa, die vom skrupellosen NS-Regime drangsaliert wurden, neue Hoffnung machte, erschütterte sie den Glauben der Deutschen an die Fähigkeit ihres Staates, sie zu schützen. Hermann Göring, Hitlers designierter Nachfolger und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, hatte geschworen, dass nicht eine einzige feindliche Bombe auf den heiligen Boden der deutschen Hauptstadt fallen würde. Aber, wie ein amerikanischer General geprahlt hatte, „in 60 Sekunden [kann] die gesamte Anstrengung von 100 Jahren zerstört werden“. Mit einem Gefühl der Vorahnung fasste ein Berliner die Stimmung der Stadt nach der gnadenlosen Luftoffensive zusammen: „Wir sind unseren Feinden schutzlos ausgeliefert“, murmelte er. Und während die alliierten Flugzeuge in die relative Sicherheit des britischen Luftraums zurückkehrten, hatten Roosevelt und Churchill natürlich weiterhin genau das im Sinn.2 Doch es gab auch jene, welche die Bomber noch nicht erreicht hatten, so verzweifelt sie auch warteten und so inständig sie um ihr Eintreffen baten. Sehnsüchtig blickten sie gen Himmel und fragten sich: Wann kommen die Alliierten? Weit entfernt von den Schlachtfeldern und von der Diplomatie in Kairo, nur einen Tag bevor die Alliierten ihren Luftangriff auf Berlin starteten, schleppten sich mehr als 500 holländische Bürger an einem kleinen Hain mit kahlen Obst-

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Auftakt

bäumen vorbei und begaben sich eine Rampe hinunter zu einem von Erdhügeln umschlossenen Raum. Einige schluchzten, aber von den meisten war nur ein leises Murmeln und das Geräusch erschöpft vorwärts stapfender Füße zu hören. Die Kleinsten wurden auf Hüften getragen oder von einem älteren Kind an die Hand genommen. Die Alten und Kranken bewegten sich langsam, mit schon zum Boden hin gebeugten Knochen. Unterwegs stießen rund 165 Polen zu ihnen. Die meisten hatten Angst, aber wovor genau, das wussten nur wenige. Der Raum, der sie erwartete, war ungewöhnlich kalt. Die schweren Türen schlugen hinter ihnen zu. An den gescheuerten Wänden waren schwache Kratzspuren zu sehen. Eine junge Polin fing laut an zu schreien: „Das deutsche Volk wird […] teuer bezahlen für unser Blut. Nieder mit Unzivilisiertheit und Grausamkeit in Gestalt von Hitlers Deutschland!“ Beinahe gleichzeitig knieten die Polen sich auf den Boden, fassten einander an den Händen und fingen an zu beten. Dann ertönte ein anderes Geräusch – Gesang. Es war haTikwa („die Hoffnung“), die informelle Nationalhymne des jüdischen Volkes. „Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren / zu sein ein freies Volk, in unserem Land“, sangen die Holländer. Dann fielen die Polen ein, fanden einen passenden Refrain. „Noch ist Polen nicht verloren“, sangen sie, die Worte ihrer eigenen Nationalhymne. Hunderte von Stimmen schwollen im Innern dieses einen Raumes an: „Solange ist unsere Hoffnung … nicht verloren.“ Unmittelbar jenseits der Wände war das Rumpeln ankommender Lastwagen zu hören. Sie waren mit dem Symbol des Roten Kreuzes markiert, dem universellen Zeichen der Hilfe für die Kranken, die Verwundeten, die Verschleppten und die Vertriebenen. Aber es sollte nicht sein. Während die nackten Kinder zitterten – 166 von ihnen befanden sich jetzt im Raum –, erreichte der Gesang einen Höhepunkt. Draußen auf dem harten Untergrund stehend, begannen die Wachen hastig, Dosen von den Rotkreuz-Lastern zu laden. Derweil klappten SS-Männer seelenruhig ein Guckloch auf. Auf dem Dach oben klimperte etwas. Das Gas fing an, nach unten zu strömen, und das Schreien hob an. So sah sie aus, die westliche Welt an der Wende zum Jahr 1944, dem Jahr der Entscheidung. Es war diese Welt, die Franklin D. Roosevelt und die Alliierten zu retten versuchten, als die drei Großmächte – die USA, die Sowjetunion und Großbritannien – zum ersten Mal für dreieinhalb spannungsgeladene Tage in Teheran zusammenkamen.3

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Teil Eins

Frühjahr 1944 Alles auf einmal

Nach der erfolgreichen D-Day-Invasion beobachtet General Dwight ­D. Eisenhower, der alliierte Oberbefehlshaber, auf dem Weg von Südengland in die Normandie am 7. Juni 1944 vom Deck eines Kriegsschiffes aus die Fliegeraktivität. Präsident Roosevelt bestimmte ihn zum Befehls­haber der „Operation Overlord“, weil er eine geborene Führerfigur sei.

Kapitel 1

Teheran Franklin Delano Roosevelt hatte nie nach Teheran reisen wollen. Den ganzen Herbst 1943 über nutzte der Präsident seinen viel gepriesenen Charme und sein Charisma, um die beiden anderen alliierten Staats- und Regierungschefs – Winston Churchill und Josef Stalin – dazu zu bewegen, irgendwo anders zusammenzukommen, bloß nicht dort. Die Konferenz, ihre erste gemeinsame überhaupt, war ein Jahr lang vorbereitet worden, und jetzt sah es wegen der heiklen Frage, wo sie stattfinden sollte, schon vor ihrem Beginn so aus, als stünde sie kurz vor dem Scheitern. US-Außenminister Cordell Hull, der zu einem Besuch nach Moskau entsandt worden war, hatte die irakische Hafenstadt Basra vorgeschlagen, wohin Roosevelt leicht per Schiff hätte reisen können. Roosevelt selbst brachte Kairo, Bagdad oder Asmara, die Hauptstadt der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea am Roten Meer, ins Spiel. Dies seien, betonte der Präsident, allesamt Orte, wo er leicht in ständigem Kontakt mit Washington, D.C., bleiben könne, was für ihn als Verantwortlichen zu Kriegszeiten unerlässlich sei. Aber der sowjetische Führer Josef Stalin blieb ungerührt und konterte, er als Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte müsse ebenso in Verbindung mit seinen Stellvertretern in Moskau stehen. Stalin behauptete darüber hinaus, dass die am Fuße des Elburs-Gebirges gelegene iranische Hauptstadt über Telegrafenund Telefonverbindungen nach Moskau verfüge. „Meine Mitarbeiter bestehen auf Teheran“, kabelte er unverblümt zur Antwort an Roosevelt und fügte hinzu, dass er unter dieser Bedingung jedoch einen Termin Ende November für das Treffen akzeptieren würde. Außerdem sei er mit der Entscheidung der Amerikaner und Briten einverstanden, sämtliche Pressevertreter auszuschließen. Roosevelt, der noch immer hoffte, Stalin, den er „Onkel Joe“ nannte, umstimmen zu können, telegrafierte noch einmal wegen Basra: „Ich bitte Sie, daran zu denken, dass ich auch eine große Verpflichtung gegenüber der amerikanischen Regierung habe und die amerikanischen Kriegsanstrengungen in vollem Umfang aufrechterhalten muss.“ Die Antwort aus Moskau fiel kurz und bündig aus: Nein. Stalin war unnachgiebig, und er ließ nun durchblicken, dass er gegebenenfalls die ganze Vereinbarung einer dreiseitigen Konferenz platzen

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lassen könnte. Erst nachdem er, was Teheran betraf, seinen Willen bekommen hatte und Roosevelt sich anschickte, über den Atlantik in Richtung Mittelmeer in See zu stechen, beruhigte sich Stalin wieder. Unverzüglich telegrafierte Roosevelt an Winston Churchill: „Eben erfahre ich, dass Onkel Joe nach Teheran kommen wird. […] ich war mir doch noch im Zweifel, ob er seine frühere Zusage […] aufrechterhalten werde. […] jetzt besteht meines Erachtens kein Hindernis mehr, dass wir ihn zwischen dem 27. und 30. dort treffen.“1 So kam es, dass Roosevelt am Samstag, den 27. November, gegen 6.30 Uhr morgens auf dem Wüstenflugplatz bei den Pyramiden außerhalb Kairos an Bord der Sacred Cow ging, einer silbern schimmernden Douglas C-54 Skymaster, die 49 Passagiere und drei Mann Besatzung befördern konnte, um zur letzten Etappe seiner bedeutsamen Reise aufzubrechen. An deren Ende würde er insgesamt 28 000 Kilometer zurückgelegt und dabei fast acht Zeitzonen durchquert haben. Josef Stalin seinerseits brauchte bloß von Moskau aus genau nach Süden zu reisen. Seine Hin- und Rückreise würde nur knapp 5 000 Kilometer umfassen. Aber all dies schien vergessen, da die Führer der drei Großmächte sich endlich und zum ersten Mal in mehr als vier Jahren Krieg von Angesicht zu Angesicht begegnen sollten, um politische Leitlinien festzuschreiben und das Gemetzel zu beenden. Es wurde die wichtigste Konferenz des Konflikts. Wie Churchill später schrieb: „Die aus der amerikanischen Verfassung erwachsenen Schwierigkeiten, der Gesundheitszustand des Präsidenten, die Hartnäckigkeit Stalins […], all das wurde von der zwingenden Notwendigkeit einer Dreieraussprache und der Unmöglichkeit, eine andere Lösung als den Flug nach Teheran zu finden, weggewischt. So erhoben wir uns im ersten Morgengrauen des 27. November bei herrlichem Wetter in Kairo in die Luft und trafen auf verschiedenen Routen und zu verschiedenen Stunden wohlbehalten am langgesuchten Treffpunkt ein.“2 Im Nachhinein ist es schwierig, die Strapazen und die Kühnheit dieser Reise zu ermessen. Der an den Rollstuhl gefesselte Präsident der Vereinigten Staaten flog in Kriegszeiten und ohne Geleitschutz durch Militärmaschinen über den Mittleren Osten hinweg, und das nicht einmal in seinem eigenen Flugzeug. Die erste offizielle Präsidentenmaschine mit dem Spitznamen Guess Where II war nichts weiter als ein umgebauter B-24-Bomber mit der Bezeichnung C-87A Liberator gewesen, und Roosevelt hatte sie nie benutzt.3 Nachdem eine andere C-87A abgestürzt war und man festgestellt hatte, dass die Konstruktion eine beunruhigende Feuergefahr barg, etwas, wovor sich Roosevelt besonders fürchtete,4 wurde Guess Where II stillschweigend aus dem präsidialen Dienst ausgemustert. Eleanor Roosevelt benutzte die Maschine allerdings auf einer

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Goodwilltour durch Lateinamerika, und auch höhere Mitarbeiter des Weißen Hauses flogen damit, nicht aber Präsident Franklin D. Roosevelt, der das Fliegen ohnehin verabscheute. Der gelähmte Präsident zog fast jede Art des Reisens auf festem Boden vor, aber selbst hier hatte er Bedenken. Zunächst einmal konnte er es nicht ertragen, mit einem Zug zu fahren, der schneller als 50 Stundenkilometer fuhr. Wirklich sicher fühlte er sich nur in seinem Präsidentenzug, der über eine spezielle Aufhängung zur Stützung seines Unterkörpers verfügte, dessen Seitenwände gepanzert und dessen Scheiben kugelsicher waren. Als versierter Segler fühlte er sich auch auf dem Wasser wohl, wo er mit dem Stampfen und Rollen der Wellen zurechtkam. Aber Fliegen? Das war eine ganz andere Geschichte, eine mit beträchtlichem persönlichen Risiko. Schon Turbulenzen waren problematisch, weil sich der Präsident „nie […] mit seinen Beinen gegen die heftigen Stöße und Erschütterungen stemmen konnte“, erinnerte sich Mark Reilly, der Leiter von Roosevelts Secret-Service-Sonderabteilung. Und Roosevelt wusste sehr wohl, wie eingeschränkt er durch seine nutzlosen Beine war – er hätte ja nicht einmal die Chance gehabt, aus einem Flugzeugwrack zu kriechen. Vor jener Reise von Kairo nach Teheran hatte Roosevelt erst zwei Flüge gewagt, einen davon nach Chicago im Jahr 1932, um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten anzunehmen. Auf diesem Flug waren bis auf Roosevelt und sein erwachsener Sohn Elliott sämtliche Passagiere luftkrank geworden. Vor dem Start hatten hilfsbereite Mechaniker einen der Sitze entfernt, um für Roosevelt mehr Platz zu schaffen, aber keiner der Passagiere hatte Sicherheitsgurte, sodass sich alle an die gepolsterten Armlehnen ihrer Aluminiumsitze klammern mussten, um nicht hin und her geschleudert zu werden, als die Maschine in Turbulenzen geriet. Der Motorenlärm in der Kabine war ohrenbetäubend, und die Höchstgeschwindigkeit der Maschine lag bei knapp über 160 Stundenkilometern. Zwei Militärflugzeuge, die als Geleitschutz fungierten, und eine Chartermaschine, die Reporter beförderte, kehrten angesichts von Gewittern und schweren Gegenwinden um, während die Maschine, in der Roosevelt saß, sich unermüdlich weiter durch die Unwetter kämpfte. Im Januar 1943 stieg Roosevelt dann abermals in den Himmel auf, um sich in Casablanca mit Churchill zu treffen. Seine achtköpfige Delegation startete von Miami in einem Flugzeug für 40 Passagiere, dem Dixie Clipper, machte einen Sprung über die Karibik nach Brasilien und überquerte dann in 19 Stunden den Atlantik von Südamerika nach Westafrika. Die Boeing 314 Clipper war ein Flugboot und besaß, obwohl sie über geräumige Kabinen und Schlafkojen einschließlich eines Doppelbetts für Roosevelt verfügte, keinen

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Druckausgleich, und in größeren Höhen wurde der Präsident stets kreidebleich und musste manchmal mit Sauerstoff versorgt werden.5 Jedenfalls war diese erste Flugreise eines amtierenden Präsidenten kaum geeignet, ihn zu bekehren. „Du kannst Deine Wolken haben“, schrieb er seiner Frau Eleanor, die im Gegensatz zu ihm eine begeisterte Fliegerin war, „mich langweilen sie.“6 Jetzt aber, nur zehn Monate später, befand er sich schon wieder hoch droben in den Lüften, diesmal in der Sacred Cow. Die gut 2000 Kilometer lange Reise führte Roosevelt an jenem Morgen ostwärts, dröhnend durch den strahlenden Sonnenschein über den Suezkanal und die riesige Weite der Wüste Sinai hinweg. Dann ging der Pilot tiefer und kreiste in geringer Höhe über den heiligen Stätten Jerusalem und Bethlehem, die im morgendlichen Sonnenschein glitzerten. Anschließend stieg die Maschine über Ketten uralter Wadis, dann über die heilige Stätte Masada, jene markante Festung im Judäischen Gebirge, in der eine kleine Gruppe von Juden im Frühjahr des Jahres 73 n. Chr. den Tod der Sklaverei vorzog, nachdem sie einer ganzen römischen Legion fast drei Monate lang getrotzt hatten.7 Als das Flugzeug Bagdad erreichte, drehte der Pilot nach Nordosten ab und folgte anschließend der Fernstraße von Abadan nach Teheran, die das Flugzeug durch eine schwierige Abfolge zerklüfteter Gebirgspässe leitete. Doch es gab keine Alternative: Die Maschine musste unter 6000 Fuß bleiben, um die Sauerstoffversorgung für den Präsidenten stabil zu halten. Als Roosevelt aus dem Fenster des Flugzeugs starrte, ragte unter ihm eine Kette von Bergen aus einer Steinwüste auf, die einer braunen, verblichenen Mondlandschaft glich. Das Land lag weit und leer, abgesehen von dem erhebenden Anblick von Zügen und Lastwagenkolonnen, die mit Kriegsmaterial aus amerikanischer Produktion beladen unterwegs waren Richtung Ostfront. Um drei Uhr nachmittags landete die Maschine des Präsidenten endlich auf einem Flugplatz der Roten Armee in Teheran, wo Stalin bereits wartete. Er war 24 Stunden vor den Briten und Amerikanern in der Stadt eingetroffen und hatte sich in der russischen Gesandtschaft niedergelassen, um persönlich die Verwanzung einer privaten Zimmerflucht zu überwachen, welche der amerikanische Präsident beziehen würde.8 „Schäbig“ – mit diesem Wort beschrieb Elliott Roosevelt Ende November 1943 Teheran.9 Die iranische Hauptstadt war beinahe buchstäblich eine Kloake. Außer in der amerikanischen, der sowjetischen und der britischen Gesandtschaft gab es praktisch nirgends fließend Wasser. Einwohner und Besu-

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cher schöpften ihr Trinkwasser gleichermaßen aus einem Bach im Rinnstein, der auch als Abwasserkanal diente. Im Stadtzentrum war ein Großteil des öffentlichen Trinkwassers daher durch Müll und Abfälle verunreinigt. Mit jedem Schluck riskierte man Fleckfieber oder Ruhr, und Ausbrüche von Typhus waren an der Tagesordnung. Die Stadt war aber auch in anderer Hinsicht unattraktiv, war sie doch von alliierten Truppen besetzt, und es fehlte selbst an den grundlegendsten Dingen des täglichen Bedarfs. Ein Sack Mehl konnte einen gut und gerne ein Jahresgehalt kosten. Die Stadt war also weit entfernt davon, auch nur Erinnerungen an eine sagenumwobene und glamouröse Vergangenheit zu wecken. Ohnehin war Teheran unter den Hauptstädten der Welt beinahe ein ebensolcher Neuling wie das junge Washington, D.C., das zu Beginn kaum mehr als eine pittoreske, halb bäuerliche Ansiedlung gewesen war und als „Stadt der großartigen Entfernungen“ verspottet wurde.10 Im Gegensatz dazu hatten Teherans insgesamt etwa 20 000 Einwohner im Jahr 1800 innerhalb sechs Meter hoher Lehmmauern gelebt, von einem zwölf Meter breiten und bis zu neun Meter tiefen Graben umgeben. Die Stadt war früher ausschließlich durch insgesamt vier Tore zugänglich gewesen, doch im Jahr 1943 waren diese längst abgerissen, und jenseits der ursprünglichen Mauern war eine neuere Stadt entstanden. Verschwunden waren viele der malerischen alten Häuser, die zu einer verschachtelten Reihe kunstvoller Höfe und sagenhafter persischer Gärten hin gelegen waren. Verschwunden waren die mit Datteln und Feigen, Honig und Henna beladenen Eselskarren, die unterwegs waren zu den belebten Märkten. Stattdessen boten nun neue Häuser einen Blick auf breite Straßen mit ausreichend Platz für Automobile, Lastwagen und nur noch gelegentlich einem Pferd oder einem Karren. Jenseits dieser modernen Boulevards ging die Stadt in einen weiten, kargen Raum über, der aus kaum mehr bestand als Weideland und Ölfeldern. Die Fahrt der Regierungschefs und begleitenden Berater vom Flugplatz in die Teheraner Innenstadt war alles andere als beschaulich, führte sie der Weg doch über weite Strecken zwischen neugierigen Zuschauern hindurch und kilometerlang über ungeschützte Straßen. Auch Winston Churchill hatte, als er eine Dreiviertelstunde nach den Amerikanern eintraf, eine Fahrt hinter sich, die ähnlich gefährlich gewesen war wie jene von Erzherzog Franz Ferdinand 1914 durch die Straßen von Sarajevo. Churchills Tochter Sarah, die bei ihm war, bezeichnete die Autofahrt als „schaurig“. Die Straßen waren uneben, überall gab es Menschenaufläufe, und die Sicherheitsvorkehrungen waren äußerst dürftig. Churchill selbst bemerkte trocken: „Wenn man sich vorgenommen

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hätte, das grösste Risiko zu laufen […], hätte man das Problem nicht besser lösen können.“11 Der Premierminister und seine Tochter reisten in einem ungesicherten Wagen, während ihr britischer Sicherheitstrupp in einem geschlossenen Jeep folgte, viel zu weit entfernt, um bei eventuellen Schwierigkeiten von großem Nutzen zu sein. Die Strecke in die Stadt war gesäumt von herrlichen Schimmeln der persischen Kavallerie, und in Teheran selbst drängten sich Menschen zwischen die blendend weißen Tiere. Die alliierten Sicherheitstrupps fürchteten unterdessen ständig eine zielgenau geworfene Granate oder einen Pistolenschuss, und das aus gutem Grund: Gegen Ende der Fahrt kam der britische Wagen im Verkehr zum Stehen, und neugierige Iraner umschwärmten das Fahrzeug. Churchill lächelte die Menge die ganze Zeit unerschrocken an, bis der Verkehr sich teilte und er wieder unterwegs war. Sobald er seine von einem Regiment indischer Sikhs streng bewachte Botschaft erreichte hatte, wimmelte er alle Treffen ab und begab sich direkt zu Bett – mit einer Flasche Scotch und jeder Menge Wärmflaschen.12 Während Churchill es sich in seinem Bett bequem machte, verbrachte Roosevelt seine erste und einzige Nacht in der Residenz des amerikanischen Gesandten am Stadtrand von Teheran. Die Residenz war gut sechs Kilometer von der sowjetischen und der britischen Botschaft entfernt, die im Zentrum der Stadt fast nebeneinander lagen. Die amerikanische Botschaft selbst war gut anderthalb Kilometer entfernt. Dennoch sollten weder Roosevelt noch Stalin und Churchill später durch die unberechenbaren Straßen Teherans fahren, um sich zu treffen. Sei es aus Paranoia, aus Angst vor einem Attentat oder aus Hinterlist, Stalin schien vor allem etwas gegen eine Fahrt zur amerikanischen Residenz zu haben. Am Tag von Roosevelts Ankunft lehnte er sogar eine Einladung des Präsidenten zum Abendessen ab, indem er Erschöpfung vorschützte. Stattdessen berichteten die Sowjets, während Roosevelt sich einlebte, den Amerikanern besorgt, dass ihre Geheimdienste einen Attentatsplan gegen einige oder alle Staatsführer auf der Konferenz aufgedeckt hätten. Das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, kurz NKWD, der Vorläufer des KGB (Komitee für Staatssicherheit), behauptete, 38 Fallschirmjäger der Wehrmacht seien in der Nähe von Teheran über russischem Territorium abgesprungen. Der Verbleib von 32 sei inzwischen bekannt, doch von den sechs übrigen fehle jede Spur, und diese hätten einen Funksender. Ob das echte oder vorgespielte Besorgnis war, blieb ungewiss. Auf jeden Fall bot Stalin, um einem Problem vorzubeugen, Roosevelt für die verbleibende Zeit in Teheran eine Zimmer-

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flucht in dem schwer bewachten sowjetischen Komplex an. Hatte Roosevelt eine erste solche Einladung von Stalin noch durch einen Boten höflich ausgeschlagen, so nahm der Präsident sie diesmal an. Am folgenden Tag zog er mit seinem persönlichen Stab in den weiträumigen sowjetischen Komplex.13 Nach außen hin zeigte Roosevelt wenig Anzeichen von Besorgnis, im Gegensatz zu seinem Geheimdienst. Äußerst beunruhigt wegen der offensichtlichen deutschen Gefahr, postierte er die Agenten entlang der gesamten Hauptroute und schickte sodann einen schwer bewaffneten Konvoi aus Personenwagen und Jeeps als Köder los. Sobald diese Kavalkade losgefahren war und sich langsam einen Weg durch die Hauptstraßen Teherans bahnte, wurde Roosevelt eilig in ein anderes Auto mit einem einzigen Jeep als Eskorte gesetzt und „im Affenzahn“ durch die alten Seitenstraßen Teherans zur sowjetischen Gesandtschaft expediert. Roosevelt amüsierte sich köstlich über das „Räuber-und-Gendarm“Spiel, wie er die Aktion nannte, aber die zu seinem Schutz abgestellten Agenten, die es besser wussten, hatten fürchterliche Angst.14 Sobald sie sich innerhalb des sowjetischen Geländes befanden, stellten die Secret-Service-Agenten fest, dass sie zahlenmäßig ziemlich in der Minderheit waren. In ganz Teheran waren bereits etwa 3000 NKWD-Agenten zu Stalins persönlichem Schutz aufgeboten. Und nirgendwo war diese Präsenz offenkundiger als innerhalb der sowjetischen Residenz. „Auf Schritt und Tritt“, stellte Mike Reilly fest, „sah man irgendeinen ungehobelten Kerl in weißer Lakaienlivree, der geschäftig makelloses Glas polierte oder staubfreie Möbel wischte. Wenn sie beim Staubwischen oder Polieren mit den Armen wedelten, war an jeder Hüfte der klare, kalte Umriss einer Luger Automatik zu sehen.“15 Tatsächlich hatte sogar Scotland Yard weit mehr Leute zum Schutz von Churchill abgestellt als die Amerikaner für Roosevelt. Endlich konnte die Teheraner Konferenz der alliierten Mächte beginnen. In den kommenden Tagen würden die drei Staats- und Regierungschefs und ihre Militärs nichts Geringeres tun, als den alliierten Kurs für den Rest des Krieges festzulegen und einen Frieden zu skizzieren. Doch wie die Sicherheitsvorbereitungen der Amerikaner war auch der Gipfel selbst mehr oder weniger improvisiert. Die Amerikaner hatten sich bis zu ihrem Eintreffen nicht einmal ­Gedanken darüber gemacht, wer bei den Besprechungen auf höchster Ebene Protokoll führen sollte. Um dieses eklatante Versehen auszubügeln, schnappte man sich in aller Eile aus dem nahe gelegenen amerikanischen Militärlager vier Soldaten mit Stenografie-Kenntnissen und beauftragt sie, nach jeder Sitzung

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ein Diktat aufzunehmen. Aber es gab immer noch keine Tagesordnung und niemanden, der angewiesen worden wäre, die Treffen zu organisieren oder sich um die Logistik zu kümmern. Eine Folge davon war, dass der amerikanische Generalstabschef George C. Marshall tatsächlich das erste Treffen verpasste. Er hatte die Anfangszeit falsch verstanden und sich stattdessen die Sehenswürdigkeiten der Stadt angesehen. Außerdem war der Präsident ohne irgendwelche Positionspapiere, das ­bürokratische Lebenselixier Washingtons, in Teheran eingetroffen. Kurz, die Konferenz war ein klassischer Roosevelt.16 Wie immer hielt er nichts von Regeln oder Vorschriften, wenn sie ihm nicht passten. Seine Pläne waren einfach: improvisieren, seinen eigenen Instinkten folgen und seine eigene Agenda betreiben. Er war hauptsächlich nach Teheran gekommen, um seinen legendären Prospero-Zauber auf Stalin wirken zu lassen.17 Im Prinzip wollte sich Roosevelt den sowjetischen Führer zum Freund und Verbündeten machen, ihn ins Boot holen, wie es ihm sein Leben lang mit so vielen geglückt war. Nur wenige Männer in der amerikanischen Geschichte haben eine derartige Kombination aus erstaunlichen politischen Talenten und überragenden Führungsqualitäten in die Präsidentschaft eingebracht wie Franklin D. Roosevelt. Er war von Natur aus ein Heuchler, Intrigant und Betrüger, aber er besaß auch einen unbezähmbaren Willen und ein tiefsitzendes Gefühl der Unsterblichkeit. Dass, als Roosevelt zum ersten Mal ins Weiße Haus gewählt wurde, ernsthaft von einer Revolution die Rede war, und das politische System Amerikas kurz davor zu stehen schien, sich aufgrund der erheblichen Belastungen durch die Große Depression von innen zu zersetzen, wird allzu leicht vergessen. Aber durch Improvisation und Anpassung, seine legendäre Rednergabe und sein ständiges Experimentieren gelang es Roosevelt, eine entmutigte Nation moralisch aufzurichten. Jetzt, wo sich das Geschick der Alliierten auf den weit entfernten Kriegsschauplätzen allmählich wendete, erwartete die Welt von ihm, dass er dasselbe im Krieg vollbrachte. Wie wäre er genau zu beschreiben? Niemand auf der globalen Bühne war ihm gegenüber neutral, und er war in jedem Sinne sui generis, einzigartig. Politisches Genie und begeisterter Ehrgeiz vereinten sich in ihm auf staunenswerte Weise. Er war ein Aristokrat wie Thomas Jefferson, ein Populist wie Andrew Jackson, schlau wie Abraham Lincoln und beliebt wie George Washington. Er war so zügellos wie originell, so Respekt einflößend wie kosmopolitisch, so quicklebendig wie extravagant und so provozierend, wie er rätselhaft sein

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konnte. Und er war großgewachsen, eine Tatsache, die verborgen blieb, nachdem Polio seinem zuvor etwas o-beinigen Gang ein Ende setzte: Er maß 1,85 Meter, der viertgrößte Präsident der Nation, größer als Ronald Reagan oder Barack Obama. Doch hatte sich auch sein Aufstieg zu historischer Größe angedeutet? Er wurde am späten Abend des 30. Januar 1882 als Sohn enorm reicher und privilegierter Eltern geboren – „ein hübscher kleiner Bursche“ – und blieb ein Einzelkind. Ein Verwandter beschrieb ihn mit beeindruckender Weitsicht als „anständig, lieb und gewitzt“. Seine Mutter, Sara Ann Delano, die ihn abgöttisch liebte, nahm beherrschenden Einfluss auf sein Leben, doch seinen Vater James, einen Anwalt, der schon Mitte fünfzig war, als Franklin zur Welt kam, verehrte er. Aufgezogen auf dem Familienanwesen in Hyde Park, New York, war er faktisch der Mittelpunkt eines Universums. Roosevelt wurde von Privatlehrern und Erzieherinnen zu Hause unterrichtet und von allen möglichen Haushaltshilfen bemuttert, alles unter den wachsamen Augen von Sara. Von klein auf wurden ihm die Feinheiten der Schreibkunst, die öden Einzelheiten der Arithmetik und die Lektionen der Geschichte eingepaukt. Und dank eines Schweizer Lehrers lernte er, Deutsch, Französisch und Latein fließend zu sprechen. Außerdem entwickelte er ein soziales Verantwortungsgefühl dafür, dass die vom Glück Begünstigten den weniger Glücklichen helfen sollten. Seine Mutter las ihm jeden Tag vor – auch aus seinen Lieblingsbüchern Robinson Crusoe und Der schweizerische Robinson –, während sein Vater ihn zum Reiten, Segeln und auf die Jagd mitnahm. Franklin führte ein verhätscheltes, behütetes Leben. Als er noch ganz klein war, steckte seine Mutter ihn in Kleider und ließ seine Locken lang wachsen, später zog sie ihm Schottentracht an. Mit sieben Jahren trug er dann endlich Hosen – kurze Hosen, die zu Mini-Matrosenanzügen gehörten. Er hatte bis zum Alter von neun Jahren nachweislich noch nie allein gebadet und als Junge nur wenige Freunde. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er unter oftmals berühmten Erwachsenen, so lernte er etwa schon mit fünf Präsident Grover Cleveland kennen. Dieser bettete Franklins Kopf in seine Hand und sagte: „Mein kleiner Mann, ich wünsche dir etwas Seltsames. Mögest du niemals Präsident der Vereinigten Staaten werden.“18 Die Familie Roosevelt reiste ausgiebig, hielt sich jedes Jahr zeitweilig in Europa auf, überwinterte in Washington, D.C., wo die Familie das prunkvolle Stadthaus des belgischen Gesandten in der eleganten K Street mietete, und verbrachte den Sommer auf Campobello Island, einem herrlichen Eiland vor der zerklüfteten Küste von Maine, wo Franklin sich in das Wasser verliebte und in ihm eine lebenslange Leidenschaft für das Segeln wuchs. Er besaß dort ein

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Boot, die sechseinhalb Meter lange New Moon, ein Geschenk seines Vaters, und begann von einer Karriere bei der Marine zu träumen. Auch Reiten lernte er schon in jungen Jahren. Bereits im Alter von vier Jahren tollte er mit einem Esel herum und später, als er sechs war, mit einem WelshPony. Doch so sehr er verhätschelt wurde, waren seine Eltern auch bestrebt, dem jungen Franklin Verantwortungsgefühl anzuerziehen. Wie? Indem sie ihm Hunde zum Aufpassen gaben: zuerst einen Spitz-Welpen, dann einen Bernhardiner, später einen Neufundländer und schließlich einen prachtvollen roten Irish Setter. Zugleich entwickelte er sich zum passionierten Sammler: von ausgestopften Vögeln, die an seinen Wänden hingen; weiter von Marine-Americana, die er als leidenschaftlicher Segler schätzte; und, seit seinem fünften Lebensjahr, von Briefmarken, für die er sich sein Leben lang interessierte. Am Ende füllte seine Sammlung mehr als 150 Alben mit über einer Million Marken. Als Franklin neun Jahre alt war, erlitt sein Vater einen leichten Herzinfarkt, und obwohl James noch weitere zehn Jahre lebte, war er fortan körperlich ausgesprochen schwach. Für Franklin, der seinen Vater verehrte und vergötterte, war dies geradezu niederschmetternd. Fünf Mal im Laufe der nächsten sieben Jahre suchte die Familie die warmen Mineralbäder im deutschen Bad Nauheim auf, die im Ruf standen, heilende Kräfte für kränkliche Herzpatienten zu besitzen. James und Sara schworen jedenfalls auf die Wirkung der Bäder und, wie vorauszusehen, auch der kleine Franklin, der später Mineralquellen in Warm Springs, Georgia, aufsuchen würde. Wie ging Roosevelt mit der Krankheit seines Vaters um? Wie mit allem anderen: erstaunlich gelassen. Sein Rettungsanker war hier, obwohl er nicht darüber redete, teilweise sein episkopaler Glaube. Er glaubte damals – und insgeheim für den Rest seines Lebens –, mit dem nötigen Gottvertrauen würde alles ein gutes Ende nehmen. Im Alter von 14 Jahren trat er in die Groton School ein, damals die angesehenste Privatschule im ganzen Land. Das Schulgeld war unverschämt hoch, nur die Superreichen konnten es sich leisten. Der Zweck der Schule ging weit über die Pflege der intellektuellen Entwicklung hinaus. Gefördert werden sollte auch der „mannhafte christliche Charakter“ der privilegiertesten Jungen Amerikas, in moralischer ebenso wie in körperlicher Hinsicht. „Charakter, Pflicht, Land“ lautete das tägliche Credo, und der Alltag war beinahe klösterlich. Roosevelt war intelligent und besaß eine rasche Auffassungsgabe, was ihm eine Auszeichnung in Latein einbrachte, und er war ein fähiger Debattierer. Mehr allerdings auch nicht, denn er war weder ein origineller Denker noch besonders reflektiert. Aber der Gründer der Schule, Reverend Endicott Peabody, ein charismatischer episkopaler Geistlicher, sollte großen Einfluss auf Roosevelt

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ausüben, mehr als jeder andere, ausgenommen, wie Franklin eines Tages bekannte, sein Vater und seine Mutter.19 Für Peabody, der das Ethos eines wehrhaften Christentums verkörperte, war sportlicher Widerstreit ebenso wesentlich bei der Erziehung der Groton-Schüler wie der Unterricht selbst. Da er in der Behaglichkeit und Abgeschiedenheit von Hyde Park aufgewachsen war, blieb Roosevelt folglich ein Außenseiter: Er hatte noch nie einen Mannschaftssport betrieben und war ohnehin nicht besonders sportlich. Wie zu erwarten, steckte man ihn in ein Footballteam, das größtenteils Außenseitern und Eigenbrötlern vorbehalten war; es war die zweitschlechteste Mannschaft. Beim Baseball lief es kaum besser: Hier spielte er im schlechtesten Team. Doch seine Leidenschaft für diesen Sport ließ, so unbegabt er auch war, nie nach. Kraft der Begeisterung erhielt er im Baseballteam sogar eine Schulauszeichnung, allerdings nicht für seine spielerische Leistung, sondern wegen seiner Bemühungen als Zeugwart. Als er sich im Herbst 1900 in Harvard einschrieb, waren ihm die Ideale von Groton zur zweiten Natur geworden: Arbeite hart und ernte den Lohn, stürze dich in den Wettstreit und akzeptiere Anstrengung als den Schlüssel zum Erfolg. Hatte das verwöhnte Einzelkind Roosevelt dort in Groton den zwanglosen Umgang mit seinesgleichen erlernt, so entwickelte es in Harvard, Amerikas elitärster Universität, damals vom legendären Präsidenten Charles W. Eliot geleitet, die Fähigkeit, diese anzuführen. Dennoch legte Roosevelt die Lebensweise des reichen Müßiggängers kaum ab. Seine Welt war die der eleganten Lebemänner mit guten Beziehungen; der Cocktails und Polo-Spiele; der Jagd mit Hunden und der Cross-Country-Pferderennen; des Tennis in Bar Harbor und des Segelsports in Newport. Er wohnte auch nicht auf dem Campus, sondern mietete in der Mount Auburn Street für die verschwenderische Summe von 400 Dollar im Jahr eine luxuriöse Drei-Raum-Ecksuite, besaß ein Pferd und war in der regen gesellschaftlichen Saison ein beinahe wöchentlicher Gast auf den Jagdbällen, den üppigen Dinners mit Smokingzwang und den fortwährenden Debütantinnenpartys. Als der Porcellian, der erlauchteste Harvard-Club, ihn ablehnte, war er geknickt.20 Dafür war er unter den Auserwählten der studentischen Verbindung Alpha Delta Phi und Mitglied der Hasty Pudding Theatricals, der 1795 gegründeten ersten amerikanischen Studententheatergesellschaft, der er als Bibliothekar diente. Außerdem wurde er in die Redaktion der Uni-Zeitung Harvard Crimson gewählt, deren Chefredakteur er schließlich wurde – eine große Ehre. Seine Aufgaben beim Crimson waren umfangreich und oftmals ermüdend – „die Zeitung beansprucht jeden Moment meiner Zeit“, schrieb er seiner Mutter –, aber er hielt sich bewundernswert und entwi-

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ckelte in dieser Zeit ein Verständnis für die innere Funktionsweise der Medien, was ihm später, als er die politische Arena betrat, gute Dienste leisten sollte. Sein eigentliches Studium absolvierte er mehr oder weniger mit links, ohne sich allzu sehr zu verausgaben. Dank seiner Ausbildung auf der Groton School konnte er die obligatorischen Erstsemester-Veranstaltungen überspringen. Was die Wahlfächer betraf, so mied er theoretische Kurse wie Philosophie, stattdessen faszinierten ihn Geschichte, Staatsführung und Volkswirtschaftslehre, ein Thema, über das er später äußern sollte: „Alles, was man mir beibrachte, war falsch.“21 Und wie auf der Groton brachte er es nicht zu akademischen Ehren, obwohl seine Noten ordentlich waren. Im Spätherbst seines ersten Studienjahrs erhielt er die Nachricht, dass sein Vater erneut zwei kurz aufeinanderfolgende Herzinfarkte erlitten hatte. Die Familie eilte nach New York, damit James in größerer Nähe der Spezialisten sein konnte, dennoch verschlechterte sich sein Zustand weiter. Im Kreise seiner Lieben, die sich um sein Bett versammelt hatten, starb er schließlich am 8. Dezember 1900 um 2.20 Uhr morgens. Obwohl es emotional ein großer Verlust war, sollte es der Familie materiell auch weiter an nichts fehlen. Sara hatte zwei Jahre zuvor von ihrem Vater eine Summe geerbt, die heute etwa 37 Millionen Dollar entspräche, und James hinterließ ihr und Franklin bei seinem Hinscheiden ein Anwesen, das heute über 17 Millionen Dollar wert wäre. Schmerzerfüllt meisterte die Familie die Lage durch Reisen. Statt sich im darauf folgenden Sommer wieder nach Campobello Island zu begeben, verbrachten Franklin und Sara zehn Wochen außer Landes in Europa: zuerst auf einem eleganten Kreuzfahrtschiff, das sie durch die majestätischen Fjorde Norwegens und rund um den Polarkreis führte, wo sie Kaiser Wilhelm II. begegneten. Dann reisten sie weiter nach Dresden, wo Sara als Mädchen zur Schule gegangen war, und genossen anschließend die Sommerfrische am Genfer See. Schließlich reisten sie weiter nach Paris, wo sie erfuhren, dass Präsident William McKinley einem Attentat zum Opfer gefallen war, womit sich ihr Leben radikal änderte: Plötzlich waren sie nicht einfach nur reich, sondern Teil der politischen Nomenklatura, trat doch der unnachahmliche Theodore Roosevelt, Franklins Cousin, die Nachfolge McKinleys an. Jener erste Winter ohne James war ein schwieriger Übergang. Sara fand das Leben ohne ihn öde. Sie bemühte sich nach besten Kräften, sich zu beschäftigen, indem sie die vielen Arbeiter auf dem Anwesen beaufsichtigte und sich um die häufig komplizierten, teilweise chaotischen geschäftlichen Angelegenheiten des Besitzes kümmerte. Aber bald schon richtete sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf ihren Sohn.

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Am Jahresanfang verbrachte Franklin zu Ehren der Präsidententochter Alice, die ihre Debütantinnenparty feierte, drei stürmische Tage im Weißen Haus. Zweimal lud der Präsident ihn während seines Aufenthalts auf ein privates Gespräch zum Tee. „Mit die interessantesten und amüsantesten drei Tage, die ich jemals hatte“, schrieb Franklin seiner Mutter.22 Kurz nachdem Roosevelt nach Harvard zurückgekehrt war, zog seine Mutter nach Boston, um sich ihm zuzugesellen, hielt sie doch das Leben allein in Hyde Park nicht aus. Sie bezog eine Wohnung, schloss neue Freundschaften und wurde Teil der abgeschlossenen, elitären Welt des Bostoner Geldadels. Und sie wurde erneut eine Konstante in Roosevelts Leben, der sich keineswegs darüber ärgerte, sondern es genoss, sie in seiner Nähe zu haben. Nicht selten bat er seine Mutter sogar, seine Verabredungen zu billigen. Roosevelt liebte die Gesellschaft von Frauen. Während seiner ersten 15 Lebensjahre hatte er kaum Kontakt zum anderen Geschlecht gehabt, was sich aufgrund der Prüderie des Viktorianischen Zeitalters auch auf der Groton School kaum änderte. In Harvard jedoch lagen die Dinge anders. Hier verliebte er sich in die reizende Frances Dana, allerdings redete ihm seine Mutter eine Ehe aus, weil Frances Katholikin und die Roosevelts und Delanos Protestanten waren. Es folgte Alice Sohier, die Tochter einer angesehenen North-Shore-Familie, die in einem eleganten Stadthaus in Boston lebte. Roosevelt und Alice sprachen über Heirat, und er gestand ihr, dass er sich sechs Kinder wünsche. Vor dieser Aussicht schreckte Alice jedoch zurück. Einer engen Freundin vertraute sie an: „Ich will keine Kuh sein.“23 Im Herbst 1902 beendete sie die Beziehung und ging stattdessen nach Europa. Nun lernte Roosevelt eine großgewachsene, „hoheitsvolle“, „fohlenhafte“ blauäugige junge Frau namens Eleanor kennen, seine Nichte sechsten Grades und die verwaiste Tochter seines Patenonkels Elliott Roosevelt. In gewisser Weise war die Annäherung von Eleanor und Franklin sorgfältig choreografiert. Als Geschöpfe der eleganten New Yorker Gesellschaft besuchten sie in jenem Herbst das wichtigste Reitturnier im Madison Square Garden, wo sie sich in der Familienloge niederließen. Später faulenzten sie gemeinsam auf dem gepflegten Rasen in Springwood, unter den wachsamen Augen einer Anstandsdame. Abends speisten sie an Bord von Roosevelts motorisierter Segeljacht, der HalfMoon. Und schon am Neujahrstag gehörten sie in Washington zum inneren Kreis, als Theodore – der sowohl Eleanors Onkel als auch Franklins Cousin war – im East Room des Weißen Hauses stand und lange Schlangen von Anhängern herzlich begrüßte. Bald darauf dinierten sie inmitten von poliertem Silber und

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glitzernden Kronleuchtern im Bankettsaal des Weißen Hauses mit Theodore persönlich. Aber Franklins Gedanken waren weit weg von der Politik. „E ist ein Engel“, schrieb ein verliebter Roosevelt in sein Tagebuch. Eleanors Welt war noch behüteter und weit tragödienreicher als die von Franklin. Als Eleanor acht war, starb ihre Mutter, Anna Rebecca Hall, die oft durch Migräne und Anfälle tiefer Depression geschwächt war, an Diphterie. Zwei Jahre später starb ihr Vater, Elliott. Der charmante Playboy hatte unter zahlreichen inneren Dämonen gelitten, und seine Exzesse waren hemmungslos gewesen: Er war ein verwegener Schürzenjäger, und wenn er kein Morphium oder Laudanum nahm, dann trank er schwer, bis zu einem halben Dutzend Flaschen Schnaps pro Tag. Mal war er zu betrunken, um einem Taxifahrer zu sagen, wo er wohnte, ein andermal wäre er beinahe aus seinem Wohnzimmerfenster gesprungen. Am 13. August 1894 verlor er das Bewusstsein, und am nächsten Morgen war er tot. Fortan lebte Eleanor bei ihrer Großmutter mütterlicherseits in ihrem eleganten Stadthaus in der West 37th Street, auf dem Anwesen der Familie am Hudson, oder sie ging in Wimbledon Park in England aufs Internat, wo sie ein ebenso freudloses Leben führte. Häufig umgeben von Köchen, Butlern, Hausmädchen, Waschfrauen, Kutschern und Privatlehrern, hatte sie nur wenige Freundinnen und praktisch keinerlei Umgang mit anderen Kindern, ausgenommen Theodore Roosevelts Tochter Alice. Im Gegensatz zu Franklins Mutter war Eleanors Großmutter eine strenge Zuchtmeisterin. Eleanors Leben bestand aus Üben und noch mal Üben: Klavier, Tanzunterricht, Rasentennis, Schießen und Reiten. Wie Franklin wurde sie außerdem privat in Deutsch und Französisch unterrichtet, und Letzteres sprach sie später fließend. So wie dieser mühelos auf Deutsch zu plaudern vermochte, führte sie ausgedehnte Unterhaltungen auf Französisch und tat sich mit der Zeit auch in Italienisch hervor. Dennoch fehlte es ihr an Selbstvertrauen, und sie hielt sich für ein hässliches Entlein. Aber im Laufe der Monate lernte sie schlauerweise, ihre Selbstzweifel zu kompensieren. Als sie mit 15 Jahren in die Allenswood Academy eintrat, ein Internat in England, das in vielerlei Hinsicht ebenso renommiert war wie die Groton School und wo der Unterricht komplett auf Französisch stattfand, wurde sie zum beliebtesten Mädchen der Schule. Sie war ernst, eifrig und fleißig. Und sie war ziemlich schnell von Begriff. Die Rektorin der Schule, eine glühende Feministin, lehrte Eleanor, die orthodoxen Konventionen ihrer Zeit zu hinterfragen und ihre Gedanken offen zu äußern, eine skandalöse Freiheit im patriarchalischen Viktorianischen Zeitalter.24 Schon in jungen Jahren war sie eine leidenschaftliche

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Progressive, interessierte sie sich für das politische Geschehen. Später erklärte sie, dass sie unter Anleitung der Rektorin, die großen Einfluss auf sie hatte, einen „freien Geist und eine starke Persönlichkeit“ entwickelt habe. Und im Gegensatz zu Franklin, dessen sportliche Erfolge bestenfalls bescheiden waren, schaffte sie es im Feldhockey in die erste Mannschaft und wurde sogar deren Spielführerin. An den kühlen Herbsttagen des Jahres 1903 gingen Roosevelt und Eleanor aus, natürlich immer mit einer Anstandsdame. Er bat sie, nach Cambridge zu kommen zum großen Spiel – Harvard gegen Yale. Am nächsten Tag schlenderten die beiden unter einem klaren Himmel am Nashua River entlang. Roosevelt machte ihr einen Antrag, und sie nahm an. Als er seiner Mutter an Thanksgiving davon erzählte, war Sara entgeistert, war er doch ihrer Ansicht nach einfach noch zu jung. Sie bat das junge Paar dringend, die Verlobung noch ein Jahr geheim zu halten. Aber weder hatte sie grundsätzlich etwas gegen Eleanor einzuwenden, noch versuchte sie, die Heirat zu verbieten. In der Zwischenzeit schrieb Eleanor Briefe an Franklin, die vor Zuneigung überliefen – sie nannte ihn „kleiner Liebling“ oder „Franklin Liebster“. Umgekehrt gab er ihr den Spitznamen „Little Nell“.25 Ein Jahr später, im September 1904 zogen Franklin und seine Mutter in ein Stadtpalais in der Madison Avenue 200, einen wuchtigen Backsteinbau in der Nähe der imposanten Villa des Unternehmers J. P. Morgan, und Franklin nahm ein Jurastudium an der Columbia University auf. Am 11. Oktober schenkte ein beschwingter Roosevelt Eleanor endlich einen Verlobungsring von Tiffany’s. Sie war erst zwanzig, und ihre Übereinkunft war nun offiziell. Als ihre Verlobung bekannt gegeben wurde und sie eine Flut von Glückwünschen erhielten, bestand Theodore darauf, dass die Hochzeit im Weißen Haus, „unter seinem Dach“, gefeiert würde, wogegen sich die Brautleute sträubten.26 Stattdessen fand die aufwändige Hochzeit in den zwei Stadthäusern von Eleanors Großtante statt. Zylinder und elegante Kutschen gaben sich ein Stelldichein, und Theodore selbst war zugegen, um die Braut dem Bräutigam zuzuführen. Das Paar fuhr zweimal in die Flitterwochen: Nachdem es sich zunächst nur bescheiden für eine Woche zurückgezogen hatte, folgte eine dreimonatige Besichtigungstour, die es nach London, Schottland, Paris, Mailand, Verona, Venedig, Sankt Moritz und in den Schwarzwald führte. Roosevelt kaufte Eleanor ein Dutzend Kleider sowie einen langen Zobelmantel, sich selbst einen Silberfuchsmantel und eine alte Bibliothek aus 3000 ledergebundenen Bänden. An der Columbia Law School war er, wie schon in Harvard, ein mittelmäßiger Student, der Zweier, Dreier und eine Vier bekam. Leicht gelangweilt, wohl-

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habend und ein bisschen blasiert, ließ er sich durch das Studium selten vom Vergnügen abhalten.27 Ein Columbia-Professor meinte, Roosevelt habe wenig Talent für die Rechtswissenschaft – tatsächlich fiel er anfangs in Vertrags- und Zivilprozessrecht durch – und er gebe sich keine Mühe, das mit harter Arbeit zu kompensieren. Dennoch bestand Roosevelt in seinem dritten Studienjahr mühelos die New Yorker Anwaltsprüfung, woraufhin er die Universität prompt vorzeitig verließ, ohne jemals seinen Abschluss zu machen. Derweil teilte Sara den jungen Eheleuten an Weihnachten 1905 mit, dass sie eine Firma beauftragt habe, ein Stadthaus für sie zu bauen („ein Weihnachtsgeschenk von Mama“), das an ein zweites Haus angrenzen würde, in dem sie zu wohnen gedachte. Die Ess- und Wohnzimmer der beiden Häuser wären jeweils durch eine Schiebetür miteinander verbunden.28 Als eine Frau mit eigenen Vorstellungen war Eleanor höchst unzufrieden damit, dass Sara derart über die Familie bestimmte. Aber Roosevelt reagierte mit Unverständnis und tat so, als gäbe es kein Problem. Wie Eleanor selbst erklärte: „Ich glaube, er dachte immer, dass sich eine Sache von selbst erledigen würde, wenn man sie nur lange genug ignorierte.“29 Drei Jahre später schenkte Sara Roosevelt und Eleanor ein zweites Haus, ein elegantes Stranddomizil an den wunderschönen Gestaden von Campobello Island. Das weitläufige Haus besaß 34 Zimmer, gepflegte Rasenflächen, schimmerndes Kristall und Silber und sieben Kamine sowie vier komplette Bäder – allerdings keinen Strom. Alles in allem war ihr Lebensstil verschwenderisch. Nicht genug damit, dass sie drei Häuser besaßen, verfügten sie auch stets über mindestens fünf Dienstboten, mehrere Automobile und Kutschen, eine große Jacht und viele kleinere Boote. Roosevelt liebte das Wasser weiterhin. Wie es ihrem gesellschaftlichen Rang entsprach, gehörten sie exklusiven Clubs an, kleideten sich modisch und spendeten ihr Geld für verschiedene wohltätige Zwecke. Und ihre fünf Kinder? Sie wurden von Gouvernanten, Kindermädchen und anderen Bezugspersonen aufgezogen. Eleanor, ernst wie immer, war der strengere der beiden Elternteile. Schon ihre Großmutter war immer eher mit einem „Nein“ denn mit einem „Ja“ bei der Hand gewesen, und sie hielt es genauso. Franklin hingegen war herzlich, fröhlich und einnehmend. Wie seine Tochter Anna einmal sagte: „Vater war lustig.“30 Doch er war mehr als das. Schon früh habe er – wie er mit ungewöhnlicher Offenheit gestand – wenig Geschmack an der Juristerei gefunden. Ebenso wenig reichte es ihm, die Sommer auf Campobello Island zu verbringen, in Newport zu segeln oder seine Zeit auf den Debütantinnenpartys der Saison zu verbringen. Vielmehr habe er vor, sich um ein Amt zu bewerben, und verfolge den

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kühnen Plan, eines Tages Präsident zu werden. Zuerst gedenke er, Abgeordneter in der State Assembly zu werden – ein schlecht bezahlter Teilzeitjob in Albany –, dann stellvertretender Marineminister und schließlich Gouverneur des Staates New York. Theodore hatte es exakt nach diesem Plan ins Weiße Haus geschafft. Wieso also nicht auch Franklin? Und vom Anfang einmal abgesehen, sollte es beinahe so kommen, wie er vorhergesagt hatte. Der Abgeordnete, von dem Roosevelt annahm, er würde ihm seinen Sitz überlassen, lehnte sein Ansinnen ab. Roosevelt war trotzdem entschlossen. Zunächst drohte er, als Unabhängiger anzutreten, ließ sich dann aber überreden, als Demokrat für den Senat des Staates New York zu kandidieren, und zwar im 26. Senatsdistrikt, der in 54 Jahren nur einen einzigen Demokraten ins Amt gewählt hatte.31 Ein Dreierausschuss nominierte Roosevelt, und eine Lokalzeitung, der republikanische Poughkeepsie Eagle, schoss aus dem Hinterhalt, er sei von den Demokraten mehr wegen seiner dicken Brieftasche als wegen anderer heilbringender Qualitäten „entdeckt“ worden. Roosevelt fuhr in einem hellrot lackierten offenen Tourenwagen, der einem Klavierstimmer gehörte, auf Stimmenfang durch den Distrikt. Diese Art von Wahlkampf würde er in Zukunft immer wieder führen. Zusammen mit zwei anderen lokalen Kandidaten kurvte er in diesem neumodischen Automobil mit schlappen 22 Meilen pro Stunde kreuz und quer durch den Bezirk. Und während er so die staubigen, ausgefahrenen Straßen hinunter holperte, ließ er das Wahlkampfmobil stets rechts ranfahren und den Motor ausstellen, sobald eine Pferdekutsche oder ein Heuwagen auftauchte, um weder Tiere zu erschrecken noch einen Wähler zu verärgern. Anfangs war er kein großer Redner. Seine Aussagen waren zu abstrakt, und er baute zu sehr darauf, sich selbst und anderen zu schmeicheln. Aber er redete überall – auf einer Veranda, am Straßenrand, oben auf einem Heuballen. Eleanor pflegte seinen Stil als „langsam“ zu bezeichnen. „Hin und wieder“, bemerkte sie, „entstand eine lange Pause, und ich war jedes Mal in Sorge, weil ich Angst hatte, er würde nie mehr fortfahren.“ Mit ihrem kritischen Auge fand sie, er wirke „großsprecherisch, äußerst nervös“ und sogar „ängstlich“. Aber er schaffte es glänzend, persönlichen Kontakt zu den Menschen herzustellen – seine lebhaften Hände schienen permanent ausgestreckt zu sein, bereit, die nächste geöffnete Handfläche zu ergreifen. Trotzdem war die Kampagne oft schlecht geführt. Einmal, bei einer Reise durch den östlichen Rand des Distrikts, traf er am Spätnachmittag in

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einer Kleinstadt ein, sprang aus dem Wagen, steuerte direkt auf das Hotel zu und lud jeden in der Bar zu einem Drink ein – auf seine Kosten. Erst als der Barkeeper anfing einzugießen, fiel Roosevelt ein zu fragen, wo genau er war: Sharon, Connecticut – nicht nur im falschen Distrikt, sondern auch im falschen Staat. Roosevelt ließ sich nichts anmerken, grinste, bezahlte und gab die witzige Geschichte dann jahrelang zum Besten. Auch hatte er keine Skrupel, Profit aus seiner Verwandtschaft zu schlagen, verwendete bewusst dieselben Redewendungen wie Theodore Roosevelt und stellte sich einer Zuhörerschar manchmal mit den Worten vor: „Ich bin nicht Teddy“, um darauf hinzuweisen, dass er zwar ein anderer, aber eben auch ein Roosevelt war. Am Wahltag eroberte Franklin D. Roosevelt den Distrikt mit mehr als 1100 Stimmen Vorsprung, trotz einer republikanischen Aufholjagd in letzter Minute. Die Roosevelts mieteten ein Haus in Albany, für die fürstliche Summe von 4800 Dollar im Jahr. Eleanor, anfällig für wiederkehrende Depressionen, war zunächst zögerlich, was das Haus, was die Aufgabe ihres Mannes, was die Politik im Allgemeinen betraf, aber sie biss die Zähne zusammen und hielt es für die Pflicht einer Ehefrau, an den Interessen ihres Mannes teilzuhaben – was ihr Mann, nachdem er ihren Schwung beim Golf beobachtet hatte, umgehend relativierte. Roosevelt stürzte sich ins politische Leben, konnte seine Politikerkollegen jedoch nicht immer für sich gewinnen. Besonders schwer tat er sich damit, die irisch-katholischen Demokraten zu erreichen. Roosevelts Vater hatte Iren verachtet, selbst die irischen Angestellten in seinem Haushalt, und ein führender New Yorker Politiker, James Farley, behauptete, Eleanor habe einmal zu ihm gesagt: „Franklin fällt es schwer, mit Leuten locker umzugehen, die ihm gesellschaftlich nicht ebenbürtig sind.“32 Eleanor stritt das energisch ab, obwohl sie sich in eigenen frühen Briefen selbst alles andere als aufgeschlossen und unvoreingenommen äußerte. Über eine Feier zu Ehren des jüdischen Bankiers Bernard Baruch (der später ein enger Vertrauter werden sollte) schrieb sie einmal: „Ich würde mich lieber aufhängen lassen als dort gesehen zu werden.“33 Und tatsächlich fühlte sich Roosevelt bisweilen sichtlich unbehaglich, wenn er außerhalb seines engen Kreises mit Leuten aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammenarbeiten musste. Später räumte er gegenüber seinem Arbeitsminister ein: „Als ich in die Politik ging, war ich anfangs ein schrecklich fieser Kerl.“34 Überdies war er, wenn überhaupt, nur ein sehr gemäßigter Progressiver: Erst 1912 unterstützte er öffentlich das Frauenwahlrecht, und selbst nach dem verheerenden Brand in der Triangle Shirtwaist Company am

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25. März 1911, bei dem 146 meist minderjährige Näherinnen starben, wollte er partout kein Arbeitsreformgesetz unterstützen. Zwei Jahre nachdem Roosevelt seinen Sitz im Staatssenat gewonnen hatte, trat er zur Wiederwahl an, und Woodrow Wilson bewarb sich um die Präsidentschaft, gegen Theodore, der als Kandidat einer dritten Partei, der von ihm neu gegründeten Progressive Party, antrat. Roosevelt unterstützte Wilson, wobei ihm allerdings die Politik über die Verwandtschaft ging und er wie immer vor allem seine eigenen Interessen im Blick hatte.35 So begeisterte er auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten die Delegierten vordergründig von Wilson, aber ebenso sehr von sich selbst. Einer der Männer, die er so nebenbei für sich einnahm, war Josephus Daniels, ein Mitglied des Democratic National Committee und außerdem Herausgeber des News & Observer in Raleigh, North Carolina, was später noch von Bedeutung sein sollte. Doch zunächst musste Roosevelt seine Wiederwahl für den Staatssenat sicherstellen, und dieses Ziel war plötzlich in Gefahr: Im September erkrankte Roosevelt in New York City so schwer an Typhus, dass er das Bett nicht verlassen, geschweige denn Wahlkampf führen konnte.36 Als er endlich wieder völlig hergestellt war, schien seine politische Karriere plötzlich gefährdet zu sein. Es war Eleanor, die ihn rettete, indem sie sich mit Louis Howe aus Albany in Verbindung setzte, einem hartgesottenen Zeitungsjournalisten und politischen Impresario, der fasziniert von Roosevelt war. Sie bat Howe, sich zu überlegen, ob er nicht die Kampagnen-Organisation übernehmen wolle, und dieser willigte gern ein. Dabei schien er als Frontmann zunächst wenig geeignet und für den Patrizier Roosevelt eine merkwürdige Wahl zu sein. Howe war untersetzt, asthmatisch und ging gebückt, dazu kamen ein narbiges Gesicht und Lippen, zwischen denen ständig eine Zigarette klemmte, und ein eher zurückhaltendes Verhältnis zur Körperhygiene. Aber er war ein politisches Genie, das schnell zu Roosevelts Stellvertreter wurde.37 Howe schaltete ganzseitige Zeitungsanzeigen und inszenierte eine Kampagne mit Postwurfsendungen vervielfältigter Briefe, die Roosevelts Unterschrift trugen. In den letzten sechs Wochen übernahm er faktisch den Wahlkampf. Und in einer dramatischen Abkehr von früheren Standpunkten modelte er Roosevelt zum ausgewachsenen Progressiven um, dem Arbeitnehmerrechte am Herzen lagen, der das Frauenwahlrecht befürwortete und über die politischen Macher der Republikaner schimpfte. Mit Howe am Ruder gewann Roosevelt die Wiederwahl mit noch größerem Vorsprung als im Jahr 1910. Der Staatssenat war jedoch nur ein Sprungbrett, und Roosevelt hatte schon früh, vor allem gegenüber Wilson, verlauten lassen, dass er eine Aufgabe in Wa-

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shington wolle. Zwei Angebote lehnte er ab – als Staatssekretär im Finanzministerium und als Steuereinnehmer für den Hafen von New York – und bestand auf seinem Wunschposten: Staatssekretär im Marineministerium. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Wilson gab ihm den Marinejob,38 wo er unter Josephus Daniels dienen sollte, mit dem er sich bereits während seiner Kampagne für den Staatssenat angefreundet hatte. Nun bekleidete Roosevelt also denselben Posten, der seinem Cousin Theodore den Weg ins Weiße Haus geebnet hatte. Im Marineministerium lernte Roosevelt die Bürokratie und die Bräuche Washingtons kennen. Er brachte Louis Howe mit, und das ermöglichte ihm, auch die New Yorker Politikszene im Auge zu behalten. Roosevelt genoss das Drumherum und das Zeremoniell, wollte sich aber mit der zweiten Liga nicht zufriedengeben, sondern ins Zentrum der Macht. Für einen reibungslosen Schiffsverkehr zu sorgen war nicht die Rolle, die Roosevelt erstrebte. Deshalb bemühte er sich um einen Sitz im US-Senat, scheiterte aber. Seine Kandidatur wurde von seiner eigenen Partei und vom Präsidenten persönlich zurückgewiesen – besonders demütigend für Roosevelt war, dass Wilson offen einen Konkurrenten unterstützte. Bei der parteiinternen Vorwahl erlitt Roosevelt eine Schlappe und verzieh dem Mann nie, der gegen ihn angetreten war: James W. Gerard, US-Botschafter in Deutschland und ehemaliger Richter am Obersten Gericht des Staates New York. Der Erste Weltkrieg bot Roosevelt zwar Gelegenheit, Pläne für den Ausbau der US Navy zu entwickeln, doch auch diese wurden zunächst ignoriert. Breiter auf sich aufmerksam machte er erstmals durch seine immer überzeugenderen Reden vor dem Kongress, und schließlich verschaffte ihm seine Haltung als „Demokrat in Bereitschaft“ einen Posten in Wilsons Wiederwahlkampagne 1916. Roosevelt wurde auf Wahlkampfreise nach Neuengland und in die Mittelatlantikstaaten geschickt, und hier benutzte er zum ersten Mal seine Gartenschlauch-Analogie, um zu veranschaulichen, wie er sich Beistand in der Not vorstellte.39 „Wenn das Haus meines Nachbarn brennt, was mache ich dann? Ich gebe ihm meinen Gartenschlauch. Wenn das Feuer gelöscht ist, berechne ich ihm dafür keine 15 Dollar, sondern erhalte den Schlauch zurück.“ Im Laufe der Zeit veränderte, modifizierte und verfeinerte er diese Analogie immer wieder, und sie wurde eines der berühmtesten Motive in seiner politischen Karriere. Er sollte sie später auch während des Zweiten Weltkriegs benutzen, um einer skeptischen amerikanischen Nation seine Lend-Lease-Politik für Großbritannien zu verkaufen. Als die Vereinigten Staaten nach der Torpedierung von drei Dampfern schließlich im April 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, war die Marine für Roosevelt endlich genau der richtige Platz. Sie verfügte zum damaligen Zeit-

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punkt über 60  000 Mann und 197 Schiffe im aktiven Dienst. Am Ende des Krieges sollten es fast 500 000 Mann und mehr als 2000 Schiffe sein, eine gewaltige Zahl. Roosevelt stürzte sich begeistert in den Ausbau und war so erfolgreich, dass er gezwungen war, einen Teil seines frisch beschafften Nachschubs mit der Armee zu teilen. „Sprechen Sie deswegen mit dem jungen Roosevelt“, wurde schnell zur stehenden Redensart in Washington. Aber Roosevelt, ebenso ehrgeizig wie ruhelos, war weiterhin unzufrieden. Er träumte von einem militärischen Einsatz – auch hier trat er in die Fußstapfen seines Cousins –, wurde aber auf Schritt und Tritt von seinen Vorgesetzten ausgebremst, die ihm keinesfalls erlauben wollten, nach Übersee zu gehen, ganz zu schweigen davon, sich für irgendeine Gattung der Streitkräfte zu melden. Stattdessen versuchte er mittels seiner Überredungskünste die Schaffung einer 240 Meilen langen Sprengstoffkette unter Wasser durchzusetzen, um deutschen U-Booten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Roosevelts Position in der Marine und seine Arbeit zum Schutz der Schiffswerften machten ihn etwa bei den Führern der Tammany Hall beliebt, eine Organisation der Demokratischen Partei in New York City, welche die Politik der Stadt beherrschte. Auch in der Hauptstadt waren die Roosevelts sehr gefragt. Täglich trafen Einladungen ein, und Eleanor stellte schnell fest, dass sie wegen des gesellschaftlichen Trubels eine Privatsekretärin brauchte. Im Jahr 1914 stellte sie Lucy Mercer ein, die an drei Vormittagen in der Woche kommen sollte. Wenig später informierte Eleanor ihren Mann darüber, dass sie nach sechs glücklichen Geburten keine weiteren Kinder mehr wolle und er daher im Bett seiner Frau nicht mehr willkommen sei. Roosevelt war ein großgewachsener, attraktiver Mann von 34 Jahren. Als er zum ersten Mal für den Staatssenat kandidiert hatte, waren Frauen in Scharen gekommen, um seine Reden zu hören, obwohl sie nicht wählen durften. Jetzt hatte er zudem eine gesellschaftliche Stellung, einen Anflug von Reife und weitläufige Interessen. Lucy, Eleanors Teilzeit-Privatsekretärin, war alles, was ihre Arbeitgeberin nicht war, feminin und selbstsicher, dazu hatte sie eine sanfte Stimme und eine „Spur von Feuer in ihren Augen“. Sie war ebenfalls groß und schlank, dazu kamen blaue Augen und langes hellbraunes Haar. Und obwohl ihre Familie ihre finanziellen Mittel längst erschöpft hatte, gehörte sie dennoch demselben erlauchten gesellschaftlichen Kreis an wie die Roosevelts. Noch während sie in ihrem Haus arbeitete, besuchte Lucy dieselben großen Abendessen und Gesellschaften wie Franklin und Eleanor. Mitten unter den Gästen begannen Roosevelt und Lucy zunächst, miteinander zu flirten, woraus still und heimlich mehr wurde. Roosevelt und Lucy unternahmen Bootstouren

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auf dem Potomac River und lange private Autofahrten in Virginia – allein. Einmal erblickte Alice Roosevelt Longworth, Theodores älteste Tochter, die auf Eleanors Hochzeit ihre Brautjungfer gewesen war, die beiden, wie sie nebeneinander in Roosevelts Roadster fuhren. Alice schrieb Franklin und erwähnte, dass er sie überhaupt nicht bemerkt habe: „Deine Hände ruhten auf dem Lenkrad, aber Dein Blick ruhte auf dieser total entzückenden Dame.“40 Eleanor roch Ärger: Nicht lange nach einer von Franklin und Eleanor veranstalteten Bootstour auf dem Potomac beendete die misstrauische Ehefrau Lucys Beschäftigungsverhältnis. Wahrscheinlich tat sie es unter dem Vorwand, den Sommer über fort zu sein, schließlich hatte sie keinen Beweis für irgendein Verhältnis. Lucy meldete sich beinahe augenblicklich zur Marine, und wie zu erwarten, war ihr erster Posten eine Tätigkeit als Sekretärin im Marineministerium. So verließ sie Roosevelts Haus zunächst nur, um in sein Büro einzuziehen. Doch Marineminister Daniels entfernte sie schon ein paar Monate später von ihrem Posten und dann gänzlich aus der Marine, möglicherweise, weil er um die Verbindung zwischen Roosevelt und Lucy wusste. Ihrer Leidenschaft setzte er damit allerdings kein Ende. Fast 30 Jahre lang trafen sich Franklin und Lucy weiter und schrieben einander. Und in Roosevelts letzten bewussten Momenten im April 1945 war es nicht Eleanor, sondern Lucy, die bei ihm war, deren Stimme er hörte und deren Gesicht er sah. Im Jahr 1918 war Franklin D. Roosevelt endlich entschlossen, in den Krieg zu ziehen. Seine vier republikanischen Roosevelt-Cousins hatten sich alle zum Militärdienst gemeldet. So wie der junge österreichische Kunstmaler Adolf Hitler begierig auf den Fronteinsatz war, wollte Roosevelt zumindest einen Fuß auf europäischen Boden setzen, wenn auch nicht in voller Uniform. Dann kündigte eine Kongress-Delegation an, dass sie beabsichtige, während des Sommers Marine-Einrichtungen zu inspizieren. Minister Daniels entsandte Roosevelt mit dem Auftrag, etwaigen Problemen auf die Spur zu kommen. Während er auf einem Zerstörer den Atlantik überquerte, hörte er, wie wegen eines vermeintlichen U-Boot-Angriffs der Schiffsalarm ertönte, und stürzte an Deck. Doch der Angriff fand nie statt, im Wasser rührte sich nichts, und der Zerstörer blieb unbehelligt. Roosevelt aber fand diesen Verlauf unbefriedigend. Sein Biograf, Jean Edward Smith, hat dazu angemerkt: „Wenn Roosevelt die Geschichte im Laufe der Jahre nochmals erzählte, kamen die U-Boote immer näher, bis er sie beinahe mit eigenen Augen gesehen hatte.“41

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Eine Woche nachdem sein Cousin Quentin Roosevelt in einem Luftkampf über Frankreich getötet worden war, traf Franklin in England ein. Kaum hatte sein Schiff angelegt, rauschte ein Rolls-Royce mit ihm nach London, wo er den König und den Premierminister traf und von wo er mit einer starken Abneigung gegen den britischen Munitionsminister Winston Churchill – „eine[n] der wenigen Männer im öffentlichen Leben, die unhöflich zu mir waren“, wie er Joseph Kennedy später erzählte – wieder abreiste. Danach begab sich Roosevelt nach Paris, wo die Weine des Präsidenten tiefen Eindruck auf ihn machten: „perfekt in ihrer Art und perfekt serviert“.42 Und überall erwarteten ihn Briefe, sowohl von Eleanor als auch von Lucy Mercer. Dann endlich fuhr er an die Front und sah die vernarbten Schlachtfelder des Krieges: Château-Thierry, den Wald von Belleau, Verdun. Allein in Verdun hatte es etwa 900  000 Opfer gegeben. Teilweise und vollständig explodierte Granaten hatten die Gefechtsstellungen und Gräben vernichtet, und auf dem Schlachtfeld war nichts mehr auszumachen außer brauner, aufgewühlter Erde, die Roosevelt schweigend anstarrte. Doch noch immer dürstete es ihn nach echtem Kampf. Einmal pfiff eine Granate vorbei und landete mit einem „dumpfen Wumm“ in der Nähe, woraufhin sich Roosevelt in Richtung des Geräuschs davonmachte und einen Koffer mit wichtigen Papieren auf dem Trittbrett seines Automobils vergaß. Doch trotz all seiner leichtfertigen Begeisterung machte die durch die Kämpfe angerichtete Verwüstung bleibenden Eindruck auf Roosevelt. Später erwähnte er die Bilder, die er bei einem Gang durch den Wald von Belleau gesehen hatte: „vom Regen fleckige Liebesbriefe“ oder mit nichts weiter als einem verwitterten Gewehrkolben gekennzeichnete Grabstätten.43 Von Frankreich aus reiste Roosevelt weiter nach Italien, wo er erfolglos versuchte, eine Kommandostruktur für den Mittelmeerraum auszuhandeln, dann kehrte er zunächst nach England zurück und machte sich schließlich wieder auf den Weg in die USA. Entschlossen wie immer, hatte er bei seiner Rückkehr nach Washington vor, seinen Posten aufzugeben, um sich erneut an die Front zu begeben. Doch wieder kam ein anderer Feind dazwischen: die Spanische Grippe. Roosevelt ereilte sie an Bord der USS Leviathan, wo er in seiner Kabine zusammenbrach. Seine Grippe wurde verschlimmert durch eine beidseitige Lungenentzündung. In Schweiß gebadet lag Roosevelt halb bewusstlos und dem Tode nahe in seiner Koje. Doch er hatte mehr Glück als viele andere und überlebte. Der Tod kam oft während der Überfahrt, und sowohl Offiziere als auch Mannschaftsdienstgrade, die an Bord verstarben, wurden auf See bestattet. Als das Schiff dann im Hafen anlegte, wurde Roosevelt im Krankenwagen

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zum New Yorker Stadtpalais seiner Mutter gebracht. Vier Sanitäter trugen seinen entkräfteten Körper die Treppe hinauf. Eleanor war eilig eingetroffen, um sich um ihn zu kümmern, und packte treu und brav seine Taschen aus. Dabei entdeckte sie Bündel mit Liebesbriefen, ordentlich verschnürt, alle von Lucy Mercer. Die Briefe bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen, und, wie Eleanor später sagte, „[ihre] eigene besondere Welt brach für [sie] zusammen“.44 Wie verschiedene Familienmitglieder berichteten, bot Eleanor Franklin die Scheidung an, damit er Lucy heiraten könne, aber sowohl Louis Howe als auch Sara Roosevelt waren entsetzt über diese Idee und überzeugten ihn davon, dass eine Scheidung das Ende seiner politischen Karriere bedeuten würde. Gut möglich, dass Sara drohte, ihn zu enterben, sollte er Eleanor wegen Lucy verlassen. Am Ende jedenfalls blieb er, und Eleanor blieb auch. Roosevelt erholte sich weder von der Lungenentzündung noch von der Entdeckung seiner Liaison mit Lucy rechtzeitig, um seinen Posten aufzugeben und sich zum Kriegsdienst zu melden. Stattdessen beharrte er, als der Frieden kam, nachdrücklich darauf, nach Europa zurückzukehren, um dort die Demobilisierung der Marine zu leiten, und Daniels gab schließlich nach. Franklin und Eleanor wurden zusammen entsandt, und diese Reise war ein Wendepunkt: Vier Tage nach dem Auslaufen aus dem Hafen von New York traf die Nachricht ein, dass Teddy Roosevelt tot war. Und noch vor Ende des Jahres sollte Präsident Woodrow Wilson nach einem schweren Schlaganfall halbseitig gelähmt sein. Sein lang gehegter Traum von einem Völkerbund sollte zusammenbrechen, und der Präsidentschaftswahlkampf 1920 beginnen. Auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten hielt Roosevelt die sekundierende Rede für den Gouverneur des Staates New York, Al (Alfred E.) Smith; außerdem nominierte ihn die Partei als Vizepräsidentschaftskandidaten für Gouverneur James M. Cox aus Ohio. Wieder schämte Roosevelt sich nicht, Profit aus seinem Namen zu schlagen: Wie schon bei seiner Kandidatur für den New Yorker Staatssenat übernahm er abermals viele von Theodores typischen Redewendungen – etwa die Gratulation „Bully for you!“ („Bravo!, „Gut gemacht!“). Doch die Kampagne scheiterte früh, und Warren Harding besiegte Cox und Roosevelt mit landesweit mehr als 60 Prozent der direkten Stimmen und beeindruckenden 404 Stimmen im Electoral College, dem Wahlmännerkollegium.45 Immerhin erwies sich die Niederlage für Roosevelt in finanzieller Hinsicht als Erfolg. Für die stolze Summe von 25 000 Dollar im Jahr, größtenteils dafür, dass er seinen Namen als Aushängeschild hergab, wurde er Vizepräsident einer Finanzgesellschaft, der Fidelity and Deposit Company of Maryland. Die Demokraten, glaubte Roosevelt, müssten in naher Zukunft eine längere Durststrecke

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überwinden. Und da seine Zukunft noch vor ihm lag, zog er es vor, sich in sein Sommerhaus auf Campobello Island, Maine, zurückzuziehen. Es begann im Sommer 1921 als vages Unwohlsein und dumpfer Schmerz in den Beinen. Dann kamen Erschöpfung und Schüttelfrost hinzu. Er stocherte lustlos in seinem Essen herum und fror selbst unter einer schweren Wolldecke. Als er am Morgen ins Bad ging, gab sein linkes Bein unter ihm nach. Er rasierte sich und schaffte es zurück ins Bett. Damals konnte er es noch nicht wissen, aber dies war der letzte Gang, den er jemals ohne fremde Hilfe unternehmen würde. Inzwischen hatte er Fieber, und die Schmerzen in seinem Bein und im Rücken waren stärker geworden. Die Familie versuchte es mit Massagen, aber ohne Erfolg. Nur eine Woche später wären seine verzweifelten Ärzte schon über die Andeutung einer Bewegung in einer von Roosevelts Zehen froh gewesen. Nichts derartiges war zu erkennen, sondern er vermochte nicht einmal mehr, allein auf die Toilette zu gehen. Man legte ihm einen Katheter, und Eleanor stand nachts auf, um ihn zu entleeren. Bis Ende August trat keine Besserung ein, und bis Ende September hatte ein beträchtlicher Muskelschwund eingesetzt. Schließlich stellte man bei ihm Poliomyelitis fest, zu deutsch Kinderlähmung, wobei neuere medizinische Forschungen anhand seiner Krankenakten darauf hindeuten, dass es sich um eine Form des Guillain-Barré-Syndroms gehandelt haben könnte. Was auch immer die Ursache war, das Ergebnis stand zweifelsfrei fest: Er blieb gelähmt. Trotzdem machte Franklin D. Roosevelt am 15. Oktober 1921 einen Riesenfortschritt, indem es ihm gelang, sich aufzusetzen. Er war nach New York City zurückgebracht worden, und Ende Oktober verließ er dort das Krankenhaus. Ein intensiver Trainingsplan wurde ausgearbeitet, um ihm zu ermöglichen, an Krücken zu gehen. Seine nun nutzlosen Beine wurden mühsam an 14 Pfund schweren, von den Knöcheln bis zu den Hüfen modellierten Stahlschienen geschnallt. Er konnte nicht mehr allein das Gleichgewicht halten oder jeweils ein Bein ausstrecken, stattdessen übernahmen nun Krücken die Arbeit seiner Beine. Er stabilisierte sich mithilfe seines Oberkörpers, während er Beine und Hüften vorwärts zog und schwang. In Hyde Park diente ihm ein Treibscheiben-Lastenaufzug als Beförderungsmittel zu den oberen Stockwerken. Pflichtbewusst ließ seine Mutter Rampen einbauen und sämtliche erhöhten Türschwellen entfernen, sodass ein Rollstuhl problemlos passieren konnte. Sara

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Roosevelt hoffte, ihr Sohn würde sich in Hyde Park zur Ruhe setzen, aber sein politischer Berater Louis Howe hatte anderes mit ihm vor. „Ich glaube“, behauptete Howe kühn, „Franklin wird eines Tages Präsident.“46 Der Mann, der zu Boden glitt, als er versuchte, auf Krücken über den rutschigen Marmorboden in seinen Büroräumen an der Wall Street zu laufen, der Mann, der nicht einmal einen Arm heben und winken konnte, aus Angst zu stürzen, der Mann, der einst andere überragt hatte, aber nun beinahe zu jedem emporblicken musste, kehrte 1924 wie durch ein Wunder als Hauptredner auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten für die Präsidentschaftswahl in die Politik zurück. Was Roosevelt mit den Armen nicht mehr vermochte, machte er mit dem Kopf wett. Er warf ihn zurück und straffte die Schultern. Jeden Teil seines Körpers, den er noch bewegen konnte, erfüllte er mit Leben. Und seine Stimme setzte er nun brillant ein. Nicht länger stockend, war sie zu einem volltönenden Tenor gereift und von einer Leidenschaft erfüllt, die ihm zuvor gefehlt hatte. Sie säuselte, sie zitterte, sie sang und ergriff die Zuhörer überall. Im November 1928 erreichte Franklin D. Roosevelt so, was viele früher für unmöglich gehalten hatten. Er wurde zum demokratischen Gouverneur von New York gewählt. Er schaffte es, indem er sich Hintertreppen hinauftragen ließ, um Reden zu halten, und indem er im Fond eines Automobils fuhr, von wo aus er sprechen konnte, ohne aufzustehen. Der einfache Akt des Aufstehens und Hinsetzens kostete ihn fürwahr mehr Anstrengung als die meisten Menschen während eines ganzen Tages aufwenden. Auf der Wahlkampftour verbarg er Tag für Tag seine Behinderung und schien eine neue Gelassenheit erlangt zu haben. Frances Perkins, die während Roosevelts Kandidatur um das Gouverneursamt zu ihm stieß und später seine Arbeitsministerin – und damit erste Ministerin in der Geschichte der Vereinigten Staaten – wurde, erinnerte sich, dass er einmal sagte, wer seine Beine nicht benutzen könne, lerne zu sagen: „Ist schon in Ordnung“, wenn ihm jemand Milch statt Orangensaft bringe, und trinke sie.47 Roosevelt lebte nun wahrhaftig, was sein Cousin Teddy gepredigt hatte: „das tätige Leben“. Und er bewies Tatkraft – nicht wie Letzterer beim spektakulären Angriff auf den San Juan Hill oder bei Großwildjagden in den Prärien des Westens, sondern in jeder wachen Stunde. Er bewies sie von dem Moment an, wo er seine ganze Willenskraft zusammennahm, um seine nutzlosen Beine aus dem Bett und in den von ihm selbst entworfenen Rollstuhl zu hieven; wenn ihm der Schweiß über das Gesicht rann und er sich sagte: „Ich muss diese Zu-

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fahrt hinunterkommen“, „Ich muss es aufs Podium schaffen“ oder „Ich muss es durch den Raum schaffen“. Er bewies Tatkraft Minute für Minute, Tag für Tag, und weigerte sich, aufzugeben. Nie zuvor war er ein Mann von solcher Überzeugung und Entschlossenheit gewesen. Und als das Land wegen der Großen Depression am Boden lag, schien ausgerechnet Gouverneur Roosevelt der beste Mann zu sein, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Nur wenige Tage nachdem er als Gouverneur des Staates New York wiedergewählt worden war, bereiteten Roosevelts politische Helfer ihren Kandidaten bereits auf die Präsidentschaftswahl vor. Am 23. Januar 1932 gab er seine Kandidatur offiziell bekannt und gewann in der folgenden Woche sämtliche Delegierten in den US-Bundesstaaten Alaska und Washington. Aber es gelang ihm nicht, seine innerparteilichen Widersacher auszuschalten. In seiner abschließenden Rede auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten versprach er „kühnes, unaufhörliches Experimentieren“. „Wählen Sie eine Methode“, sagte er mit dröhnender Stimme, „und probieren Sie sie aus. Wenn sie nicht funktioniert, geben Sie es offen zu und probieren Sie eine andere aus. Vor allem aber probieren Sie etwas.“ Als er auf dem Konvent eintraf, verfügte er über einen soliden Vorsprung, aber noch fehlten ihm etwa 100 Stimmen zur Nominierung. Nach einer Nacht und einem Tag heftiger Lobbyarbeit und mehreren Abstimmungen setzte Roosevelt sich schließlich im vierten Wahlgang durch, wo er sich mehr als zwei Drittel der Delegiertenstimmen sicherte, nachdem sich auch Kalifornien und Texas auf seine Seite geschlagen hatten. Anschließend unternahm er jenen dramatischen Flug nach Chicago, um die Nominierung anzunehmen, und seine Worte an die versammelte Menge donnerten über den Rundfunk: „I pledge you, I pledge myself, to a NEW DEAL for the American people.“ Wie auch immer dieser „New Deal für das amerikanische Volk“ aussehen mochte, den Roosevelt seinen Zuhörern und sich selbst versprach, die ver­ zweifelte Situation des Land, war für jedermann offensichtlich. Die Große Depression war entsetzlich:48 Mindestens 25 Prozent der amerikanischen ­Erwerbsbevölkerung waren arbeitslos; in einigen Industriestädten betrug die Arbeitslosigkeit sogar 80 oder 90 Prozent. Der internationale Handel lag darnieder. In weniger als vier Jahren war die amerikanische Wirtschaft um 45 Milliarden Dollar oder etwa 45 Prozent geschrumpft. Noch niederschmetternder als diese Zahlen waren die quälenden Bilder: die Schlangen von Armen und Hungrigen, die sich in jeder Stadt bildeten; obdachlose Familien, arbeitslos,

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mittellos und schmutzig, die von einer Suppenküche zur nächsten schlurften; behelfsmäßige Zelte im tiefsten Winter, die von Regen und Graupel durchhingen; ganz zu schweigen von den schmutzstarrenden Kindern, die an Lagerfeuern entlang der Eisenbahngleise kauerten. Und die verheerenden Stürme in der Dust Bowl, der „Staubschüssel“ im Mittleren Westen, sollten erst noch kommen. Die gewaltige Größe der zu meisternden Aufgabe und die Verzweiflung müssen die Zeitgenossen manchmal überwältigt haben. Aber nicht so Roosevelt. In seinem Rennen gegen Hoover hielt er 27 große Reden, die jeweils einem einzigen Thema gewidmet waren, und führte damit einen Wahlkampf um wesentliche Inhalte und um Organisation.49 Nicht nur er war überzeugt davon, dass er gewinnen würde, sondern früher oder später auch jeder in seinem Umfeld. Der bedrängte amtierende Präsident Herbert Hoover reagierte darauf, indem er den Demokraten vorwarf, eine „Partei des Pöbels“ zu sein. Auch behauptete Hoover beharrlich, dass trotz der Wirtschaftskrise niemand hungere: „Die Wanderarbeiter“, wetterte er, „sind besser genährt, als sie es je waren.“ Doch die Wähler entschieden sich in ihrer überwältigenden Mehrheit gegen ihn und für Roosevelt. Die Wahlergebnisse kamen einem Erdrutsch gleich – der amtierende Präsident verlor alle bis auf sechs nordöstliche Staaten. Roosevelts Demokraten errangen darüber hinaus eine satte Mehrheit von 313 Sitzen im Repräsentantenhaus gegenüber 117 Sitzen für die Republikaner und fünf für die Farmer-Labor-Party sowie die Herrschaft im Senat. In der Wahlnacht schien Washington ihm zu gehören. Und dabei darf man nicht vergessen, dass man sich Präsidenten, Staatsoberhäupter und Regierungschefs gemeinhin als robuste und kraftstrotzende Persönlichkeiten vorstellt, fähig, jeden Teil ihres Landes oder gar den gesamten Erdball zu durchschreiten. Franklin D.  Roosevelt aber vermochte beileibe nicht zu schreiten. Er konnte nicht einmal ohne Stützen oder ohne fremde Hilfe stehen. Niemals davor oder danach hat sich ein behinderter Mensch um die Präsidentschaft der USA beworben oder gar die Wahl gewonnen. Dass Roosevelt trotz seiner Einschränkung in einer Zeit nationalen Aufruhrs kandidierte und gewann, zeugt nicht nur von der außerordentlichen Qualität seines Wahlkampfs, sondern auch von etwas Furchtlosem und Unbeugsamem tief in ihm selbst. „Beinahe wäre er vom Volk gekrönt worden“, schrieb der Journalist William Allen White,50 was natürlich eine pathetische Übertreibung war. Zwar liebten ihn zur Zeit des New Deal tatsächlich Millionen, aber zugleich wurde er von Millionen abgrundtief gehasst. In seinen ersten hundert Tagen im Amt setzte

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er der Abstinenzbewegung ein Ende, indem er die Prohibition aufhob, und brüskierte mit seinen weitreichenden Gesetzesinitiativen und Verordnungen gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer und Veteranen gleichermaßen. Er nahm sich das Bankensystem vor und machte sich an die Erneuerung von Regierung und Wirtschaft. Nichts schien für Roosevelt unmöglich, und während er Stück für Stück das Vertrauen in die Wirtschaft wiederherstellte und die schlimmsten Folgen der Großen Depression in den Griff bekam, grenzte seine Politik für viele geradezu an ein Wunder. Doch die vollmundige Verheißung jener ersten Tage und Monate war nicht ewig aufrechtzuerhalten. Spätestens Mitte der 1930er-Jahre war einiges von Roosevelts präsidialem Zauber verblasst. Der schwungvolle, schlagfertige Präsident, der es sichtlich zu genießen schien, mit seinen Gegnern zu streiten, wirkte jetzt bisweilen ratlos und abgespannt, wenngleich er im Wahljahr 1936 noch einmal mit einer Reihe gesetzgeberischer Leistungen an die ersten hundert Tage seiner Präsidentschaft erinnerte. Doch gegen Ende seiner zweiten Amtszeit, als er sich mit ständig wachsenden Schwierigkeiten im Kongress, mit fortgesetzten Blockaden durch einen argwöhnischen Obersten Gerichtshof, mit einer hartnäckig stagnierenden Wirtschaft und dem unheilvollen Schatten Adolf Hitlers über Europa konfrontiert sah, wirkte er mit einem Mal wie jeder andere Präsident nach einer Weile an der Macht. Sobald er sich aber in das Ringen des Zweiten Weltkriegs stürzte, erwies er sich nicht nur als großer Staatsmann, sondern auch als eine der herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte. Kaltschnäuzig und gewieft wie er war, achtete er darauf, der öffentlichen Meinung nie zu weit voraus zu sein, auch wenn er seine beiden sehr unterschiedlichen Verbündeten in Kriegszeiten, Churchill und Stalin, drängte, antrieb und beeinflusste. Mit seiner gepflegten Erscheinung und seiner Unbekümmertheit war er der Inbegriff unaufdringlicher Oberschicht-Eleganz und schien merkwürdig immun gegen impulsive Regungen – Francis Biddle bemerkte einmal, dass Roosevelt „über mehr Gelassenheit verfügte als irgendein Mann, der [ihm] je begegnet [sei]“.51 Und trotz seiner nutzlosen Beine war er mit seinem kräftigen Oberkörper und seinen breiten Schultern noch immer eine eindrucksvolle Gestalt, deren Charme seinesgleichen suchte. Wenn er, wie man es von ihm kannte, den Kopf zurückwarf oder ein breites Grinsen aufblitzen ließ, sprühten seine Augen Funken. Wenn er vor Freude in sich hineinlachte, mussten alle in seiner Nähe ebenfalls schmunzeln. Sein Lächeln war ansteckend und seine Gesellschaft unwiderstehlich, was Churchill ebenso spürte wie Stalin, General Dwight D. Eisenhower, Roosevelts Chefberater Harry Hopkins und USAußenminister Cordell Hull. Roosevelt war ein Magnet, von dem Tausende

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angezogen wurden. Wie sonst wäre die beinahe sklavische Ergebenheit derjenigen, die seine politischen Bemühungen unterstützten, zu erklären oder die stille Übereinkunft im Pressekorps, niemals über seine Behinderung zu berichten, niemals seinen Rollstuhl oder seine verkümmerten Beine zu fotografieren? Roosevelt blieb trotz seiner Beeinträchtigung ständig in Aktion. Er fuhr für sein Leben gern Auto, liebte seine Briefmarkensammlung und begeisterte sich für das Wechselspiel der Politik. Selbst größtenteils unbeweglich, sorgte er dafür, dass um ihn herum Bewegung herrschte, er perfektionierte seine schräge Kopfhaltung und benutzte seine Zigarettenspitze wie einen Dirigentenstab. Wenn er aufgeregt war, neigte er dazu, mit den Fingern zu trommeln. Er konnte mit der gleichen Begeisterung über abstrakte internationale Probleme diskutieren, etwa über den „Fortbestand der Demokratie“, wie über konkrete Fälle, beispielsweise das Schicksal irgendeines politischen Handlangers in einem Bezirk von Pennsylvania. Und wenn er wütend war, drohte er mit dem Finger oder setzte einen finsteren Blick auf. Wie alle großen Staatsführer war er sich nicht zu schade für schlichte Demagogie oder rücksichtslose Schmähungen, wenn sie seinen Zwecken dienten: Die Isolationisten bezeichnete Roosevelt ungeniert als „willige Idioten“; als er mal einen Republikaner ernannte, scherzte er gegenüber dem Pressekorps, unter den Demokraten habe er keine Männer für einen Dollar im Jahr finden können; und als Botschafter William Bullitt bei ihm in Ungnade fiel, bestärkte Roosevelt ihn darin, Washington zu verlassen und als Bürgermeister von Philadelphia zu kandidieren, nur um die demokratischen Drahtzieher in Pennsylvania anzuweisen, „ihm die Kehle durchzuschneiden“.52 Den Kongress verhöhnte er einmal als „Irrenhaus“, und den Senat prangerte er öffentlich als „einen Haufen inkompetenter Quertreiber“ an.53 Der Oberbefehlshaber glaubte sogar, dass sein eigener Vizepräsident, Henry Wallace, der während seiner gesamten dritten Amtszeit unter ihm diente, ein Spinner sei. Und er machte sich gern über Hull lustig, indem er vergnügt das Lispeln seines Außenministers nachäffte. Aber die Blutrünstigkeit von Adolf Hitler, der ironischerweise wie er 1933 an die Macht gekommen war, verstand Roosevelt intuitiv so gut wie jeder andere, und er wusste, dass „wir […] kämpfen, um eine großartige und wertvolle Regierungsform für uns selbst und für die Welt zu bewahren“.54 Im Jahr 1933, nach seinen ersten hundert Tagen im Amt, war es Roosevelt glänzend gelungen, 15 historische Gesetze durch den Kongress zu bringen. Wenn es erforderlich war, standhaft zu bleiben, dann blieb er es; wenn es erfor-

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derlich war, einen Kompromiss einzugehen, dann tat er das; wenn es erforderlich war, sich zu einigen, dann war er auch dazu bereit. „Es ist mehr als ein New Deal“, tönte sein Innenminister Harold Ickes, „es ist eine neue Welt!“55 Selbst als die trostlose Rezession und die Arbeitslosigkeit sich hinzogen und als er mit seinem Versuch scheiterte, einen widerspenstigen Obersten Gerichtshof mit den eigenen Leuten zu besetzen, büßte er niemals die Bewunderung weiter Teile der Öffentlichkeit oder das Interesse der Presse ein. Doch vor der sich verdüsternden Situation in Europa schreckte Roosevelt zurück. Statt sein übliches Selbstvertrauen an den Tag zu legen, hielt er sich bedeckt. Wie aggressiv Hitlers Politik auch sein mochte, waren die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg doch so frisch wie eh und je – der Anblick und die Geräusche erschöpfter Armeen, die aus ihren Gräben heraus Scheingefechte vollführten; ermüdende Belagerungen, dichte, wabernde Rauchschwaden und das Stakkato der Feuerstöße, das scheinbar niemals verebbte. Während Europa und Russland im Ersten Weltkrieg zehn Millionen Soldaten verloren, hatten die Vereinigten Staaten mehr als 117 000 begraben, und viele Amerikaner hatten nur zwei Jahrzehnte später wenig Lust auf einen neuen Krieg, den sie für eine europäische Angelegenheit hielten. Im Sommer 1939 hätte sich Roosevelt angesichts der Situation in Europa, mit einer Maginot-Linie im Westen und den Folgen des Münchner Abkommens im Osten, beinahe entschieden, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Aber dann kam am 31. August 1939 um 2.50 Uhr morgens ein schlichter Telefonanruf, der ihn darüber informierte, dass zehn deutsche Panzerdivisionen die polnische Grenze überschritten hatten und der Krieg erklärt worden sei. Roosevelt räusperte sich und sagte mit krächzender Stimme zu seinem Botschafter in Paris, William Bullitt, der die Neuigkeit aus Warschau übermittelte: „Na schön, Bill, es ist endlich eingetreten. Gott steh uns allen bei.“56 Daraufhin begann Roosevelt seine Haltung nach und nach grundsätzlich zu überdenken. Am Ende würde er sich entschließen, eine unerhörte dritte Amtszeit anzustreben und so mit einer von George Washington persönlich begründeten Tradition zu brechen. Während der nächsten acht Monate, der Phase des sogenannten „Sitzkrieges“, versprach Roosevelt öffentlich, Amerika aus dem europäischen Konflikt herauszuhalten. „Ich habe es schon früher gesagt, aber ich werde es wieder und wieder sagen: Ihre Jungs werden nicht in einen ausländischen Krieg geschickt werden“, versicherte er der Nation. Jeder, der etwas anderes behaupte, mache sich einer „schamlosen und unredlichen Täuschung“ schuldig, sagte der Präsident und fügte hinzu: „Die schlichte Wahrheit lautet, dass kein Mensch an verantwortlicher Stelle jemals auch nur im Entferntesten

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die Möglichkeit angedeutet hat, die Jungs amerikanischer Mütter auf den Schlachtfeldern Europas kämpfen zu lassen.“57 Dennoch unternahm er alles in seinen Kräften Stehende, um Washington und in der Tat der gesamten Nation die Kämpfe in Europa näherzubringen und sie auf eine immer wahrscheinlichere Beteiligung an dem Konflikt vorzubereiten. Aber während Churchill im britischen Unterhaus den Premier Neville Chamberlain offen für dessen Appeasement-Politik zur Rechenschaft zog – „Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande“, geiferte er. „Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen“58 –, suchte Roosevelt stattdessen nach einem Mittelweg. Er informierte Mitglieder des Senatsausschusses für militärische Angelegenheiten (Senate Military Affairs Committee), dass, sollten England und Frankreich fallen, „all die kleinen Nationen von allein in den Korb fallen würden, weil es töricht ist, wenn sie Widerstand leisten. Ich kann die Ernsthaftigkeit der Situation gar nicht genug betonen. Dies ist kein Hirngespinst.“59 Als Großbritannien Deutschland den Krieg erklärte, fünf Stunden später gefolgt von Frankreich, ging Roosevelt in einem Kamingespräch über den Äther und sagte: „Diese Nation wird eine neutrale Nation bleiben, aber ich kann nicht verlangen, dass jeder Amerikaner auch in Gedanken neutral bleibt. Auch ein Neutraler hat das Recht, Fakten Rechnung zu tragen.“60 Und obwohl er den Kongress in einer persönlichen Ansprache wissen ließ: „Unsere Handlungen müssen von einem einzigen nüchternen Gedanken geleitet werden – Amerika aus dem Krieg herauszuhalten“,61 betonte er die Notwendigkeit, die Neutralitätsgesetze der 1930er-Jahre aufzuheben, damit Amerika die Westalliierten militärisch unterstützen könne. Der Kongress kam dem zwar zunächst nicht nach, reagierte aber mit der Verabschiedung der sogenannten Cash-andcarry-Klausel, die es amerikanischen Herstellern erlaubte, Großbritannien und Frankreich Waffen zu verkaufen, solange jedes Land bar bezahlte und das Kriegsgerät mit eigenen Schiffen abholte. Dennoch hatte die Neutralität einen hohen Preis, und die Kriegsnachrichten verfolgten Roosevelt. Während er über Telegrammen aus dem Ausland brütete oder seine morgendliche New York Times und den Herald Tribune las, murmelte er immer wieder zu sich selbst: „Alles schlimm, alles schlimm.“ Als erster Präsident, der ausgiebig Gebrauch vom Telefon machte – Harry Truman erinnerte sich, wie Roosevelts Stimme so laut dröhnte, dass er den Hörer vom Ohr weg halten musste –, sprach er oft mit seinen Botschaftern in Europa oder mit Beratern im Außenministerium. Das Telefon klingelte tagaus, tagein und versorgte ihn mit den neuesten Nachrichten über Hitlers Schritte und Finten. Darüber hinaus waren seine Tage mit Treffen ausgefüllt: mit der Presse, mit

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dem Außen- und Finanzminister, mit dem Justizminister, mit seinem Privatsekretär zum Nachmittagsdiktat und noch häufiger mit führenden Mitgliedern des Senats. Ausnahmslos dem Kabinett vorbehalten waren die Freitage, an denen der Präsident sich mit den wichtigsten und einflussreichsten Regierungsmitgliedern traf. Wie vorauszusehen, gierte Roosevelt nach Ablenkung und Zerstreuung, wo er sie nur finden konnte – allabendlich bei seinem Masseur George Fox, in seiner Briefmarkensammlung und den in Ehren gehaltenen Marinedrucken, in seinen geliebten Baumpflanzungen, seinen häufigen Nickerchen, in Filmen, nach denen er „süchtig“ war, und vor allem in der Cocktail-Stunde, die jeden Nachmittag im Weißen Haus stattfand. Hier verbat er sich Gespräche über den Krieg und gab sich Mixturen und Shakern hin. Aber nichts von alledem ließ ihn jemals den Krieg ganz vergessen. „Ich laufe fast buchstäblich auf Eiern“, gestand Roosevelt Anfang 1940,62 und diese Anspannung hinterließ ihre Spuren. Der Blutdruck des Präsidenten schnellte empor auf 179/102, dann folgte der Schrecken: Eines Abends im Februar brach Roosevelt während eines vertraulichen Abendessens mit Botschafter Bullitt und der engen Präsidentenberaterin Margaret Alice „Missy“ LeHand am Tisch zusammen – es war ein kleiner Herzinfarkt, den sein langjähriger behandelnder Marinearzt, Admiral Ross McIntire,63 aber schnell abtat und vertuschte. Als das Frühjahr nahte, unternahmen die Vereinigten Staaten einen letzten Versuch, einen globalen Krieg zu verhindern. Im März 1940 reiste Unterstaatssekretär Sumner Welles, ein enger Berater des Präsidenten, nach London, ­Paris, Berlin und Rom, um einen Plan für Frieden und Sicherheit durch Abrüstung vorzuschlagen. Im Nachhinein wirkte dieser Vorschlag, auf den die Deutschen zum damaligen Zeitpunkt voller Verachtung und die Briten entsetzt ­reagierten, recht verzweifelt. Vor den Augen aller Welt schienen die Vereinigten Staaten kaum mehr zu tun als Hitlers nächsten Schritt abzuwarten. Lange allerdings sollte der nicht auf sich warten lassen. Am 10. Mai 1940 startete Hitler seinen mittlerweile berühmt-berüchtigten „Blitzkrieg“ gegen die Niederlande und Belgien, die er zu Lande und aus der Luft verwüstete. Am vierten Tag des deutschen Vormarschs befahl Hitler die Zerstörung der alten holländischen Stadt Rotterdam nicht aus militärischen Gründen, sondern wegen der „Schrecklichkeit“ – der Terror sollte ausdrücklich dazu dienen, den Widerstandswillen eines Volkes zu brechen. Nach eintägigem heftigen Bombardement lagen zwischen 800 und 900 Menschen tot

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­ nter den Trümmern. Nur Stunden später kapitulierten die Holländer bedinu gungslos, und binnen zwei Wochen folgten die Belgier. Nun, da der Weg frei war, wandte sich Hitler mit voller Wucht gegen Frankreich. Unter dem Schutz von Sturzkampfbombern fegten Panzer und motorisierte Infanterie der Wehrmacht, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, durch die Ardennen, und Erwin Rommels berüchtigte Panzerverbände erreichten schnell die Kanalküste. Im Ersten Weltkrieg war die Bewegung der Kampflinien oft in Metern statt in Kilometern angegeben worden, denn Franzosen und Briten war es damals gelungen, die deutschen Vorstöße vier grausige Jahre lang aufzuhalten, trotz des Gemetzels und Millionen von Todesopfern. Diesmal jedoch waren die Franzosen, deren Armee als die beste der Welt galt, wie vor den Kopf gestoßen. Sie wurden überrannt und hatten kaum einen Schuss abgefeuert. Churchill kabelte eindringlich an Roosevelt: „Das Bild hat sich rasch verdüstert. Die kleinen Länder werden einfach zertrümmert, eines nach dem anderen, wie Kleinholz. Wir erwarten, selbst angegriffen zu werden.“ Seinen Beratern vertraute Roosevelt an, dass die Vereinigten Staaten, sollte Großbritannien fallen, „unter vorgehaltener Waffe leben“ würden. Doch die Frage für Roosevelt und für die Welt war die folgende: War er bereit, die Nation aufzurütteln, um der deutschen Raserei zu trotzen? Seine Antwort war Schweigen. Binnen Wochen hatten deutsche Panzerverbände das britische Expeditionskorps und die Erste französische Armee entlang des rauen Ärmelkanals bei der nordfranzösischen Hafenstadt Dünkirchen eingekesselt. Während die deutschen Offiziere auf Hitlers endgültige Befehle zur Vernichtung der Briten warteten, entkamen etwa 338  000 englische und französische Soldaten in einer Armada kleiner Fischkutter und anderer Wasserfahrzeuge und ließen fast 2500 Geschütze und 76 000 Tonnen Munition zurück. Die Hälfte des britischen Geschwaders, darunter auch seine Zerstörer, war versenkt oder beschädigt worden, und nun machte sich England unter schlimmsten Befürchtungen selbst auf einen Angriff gefasst. Weil er davon ausging, dass die Deutschen seinen Soldaten über den Kanal folgen würden, schlug Churchill vor, entlang der südlichen Strände Englands Giftgas einzusetzen, um zu versuchen, den deutschen Einheiten an der Küste einen Strich durch die Rechnung zu machen.64 Am 5. Juni trafen deutsche Truppen dann aber Anstalten, sich nach Süden zu wenden,65 und an der Somme brach die französische Linie unter dem Ansturm deutscher Panzer zusammen. Vier Tage später überquerten die Deutschen die Seine, wo sie nur auf symbolischen Widerstand trafen. Am 14. Juni geschah das Undenkbare: Die Hauptstadt Paris fiel. Jetzt war Frankreich erle-

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digt, und seine angeschlagene Regierung zog sich hastig nach Bordeaux zurück. Am 22. Juni wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet, der einen Großteil Frankreichs den Deutschen überließ. Nur der Süden des Landes blieb in den Händen einer Marionettenregierung mit Sitz in dem Kurort Vichy. Die ländlichen Gebiete waren mit Flüchtlingen überfüllt, Straßen gesäumt von verlassenen Karren, Gepäckstücken und Toten. Außerdem hielten die Deutschen zwei Millionen französische Kriegsgefangene fest. In einem einzigen verwegenen Schlag hatte Hitler Kaiser Wilhelm II. und Napoleon übertroffen: Es war ihm gelungen, das Bündnis seiner Feinde aufzulösen, Großbritannien vom europäischen Kontinent zu vertreiben, die französische Armee beinahe zu vernichten und den Vertrag von Versailles zu revidieren. Deutschland hatte seine Feinde entweder eingeschüchtert oder sie im Blitzkrieg vernichtend geschlagen, und das Zusammenspiel seiner Streitkräfte war nun vom Kaspischen Meer bis zum Ärmelkanal gefürchtet. Großbritannien versuchte vergeblich, die Vereinigten Staaten ins Boot zu holen. Am Morgen des 15. Mai 1940 telefonierte der französische Ministerpräsident Paul Reynaud um 7.30 Uhr mit dem frisch eingesetzten britischen Premier Winston Churchill, um ihm, auf Englisch, eine schlimme Nachricht zu übermitteln: „Wir sind besiegt; wir haben die Schlacht verloren.“ Churchill hatte Roosevelt die ganze Zeit über dringend um Hilfe gebeten. Die unmittelbare Antwort des britischen Premierministers auf Reynaud lautete deshalb: Seien Sie standhaft, und halten Sie durch, bis die Vereinigten Staaten sich in den Konflikt einschalten. Am 18.  Mai telegrafierte Churchill an Roosevelt: „Wenn aber die amerikanische Hilfe eine Rolle spielen soll, muss sie bald greifbar werden.“66 Roosevelt forderte den Kongress unverzüglich auf, einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 1,2 Milliarden Dollar zuzustimmen, um mehr Flugzeuge zu bauen und Produktionsanlagen zu vergrößern. Ein paar Wochen später sollte er um weitere 1,9 Milliarden Dollar bitten, doch das war fürs Erste alles. Es würde keine Truppentransporter mit amerikanischen Soldaten geben, keine Drohgebärden und, am entscheidendsten, keine Kriegserklärung. Obwohl ein hektischer Reynaud und Churchill in den Tagen unmittelbar vor und nach dem Fall von Paris den amerikanischen Präsidenten dringend ersuchten, die USA mögen in letzter Sekunde intervenieren, versprach Roosevelt doch nur unter vier Augen Unterstützung, während die offizielle amerikanische Reaktion weiterhin ein neutrales, eisernes Schweigen blieb. Vorerst handelte jedes Land für sich.

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Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Englands Außenminister Sir Edward Grey geklagt: „In ganz Europa gehen die Lichter aus; wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“ Dies war natürlich vor Amerikas Eintritt in den ersten Großen Krieg. Nun war es, als würde sich die Geschichte auf tragische Weise wiederholen, da eine europäische Nation nach der anderen von einem räuberischen Deutschland erobert wurde und die USA fernblieben. In Wahrheit war Roosevelt militärisch handlungsunfähig:67 Die USA, damals alles andere als eine ernstzunehmende Streitmacht, rangierten weltweit auf Platz 18, und Roosevelt befehligte nicht wie Hitler Millionen kampferprobter Soldaten, sondern gerade einmal mickrige 185 000 Mann, von denen viele an Holzgewehren ausgebildet worden waren. Trotz seiner Pläne für einen gewaltigen Ausbau der amerikanischen Luftmacht waren die US-Luftstreitkräfte veraltet und beinahe nicht existent, und um die Marine stand es kaum besser. Einmal inspizierte Roosevelt einen Trupp Nationalgardisten bei der Ausbildung. Während ihre farbenfrohen Regimentsfahnen im Wind flatterten, exerzierten die Männer mit Besenstielen statt Maschinengewehren, fuhren statt in Panzern auf Lastwagen durch die Gegend und waren so außer Form, dass viele im Laufe des Manövers vor Hitze und Erschöpfung zusammenbrachen. Politisch war die Situation nicht weniger verzweifelt. Unmittelbar im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise hatte Roosevelt die Verteidigungsausgaben möglichst gering gehalten, auch wenn ein aggressives „Drittes Reich“ ein Abkommen nach dem anderen verletzte und sich bis an die Zähne bewaffnete. Zudem stand die amerikanische Nation im Jahr 1940 noch ganz im Zeichen des Isolationismus, und weil es sich um ein Wahljahr handelte, war Roosevelt nicht bereit, seine beträchtlichen Überredungskünste aufzubieten, um einen baldigen amerikanischen Kriegseintritt herbeizuführen. Als der Sommer 1940 nahte, stand Großbritannien also allein da, Roosevelt bewarb sich mit Antikriegsrhetorik um eine unerhörte dritte Amtszeit, und die Nationalsozialisten trafen nirgends auf Widerstand. Der Unterschied zwischen Roosevelt, der mit Zusicherungen, die Nation aus dem Krieg herauszuhalten, das amerikanische Volk um eine dritte Amtszeit ersuchte, und einem triumphierenden Adolf Hitler in Berlin hätte eklatanter nicht sein können. Ebenso wenig hätten die Grundhaltungen der beiden Männer nicht in schrillerem Widerspruch stehen können. Für Hitler, der sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, schien nun alles und jedes möglich zu sein. Bei seiner Rundfahrt durch die verlassenen Straßen des besiegten Paris –

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die Deutschen hatten alle Bewohner über Lautsprecher ermahnt, in ihren Häusern zu bleiben –, war der „Führer“ am meisten von einem Besuch am Grab Napoleons gefesselt. Zuerst schlug er sich wild auf die Schenkel, worauf eine längere Pause und völlige Stille eintraten. Der „Führer“ stand vor den sterblichen Überresten des Kaisers und war fasziniert.68 Bei seiner Rückkehr nach Berlin am 6. Juli wurde der „Führer“ selbst empfangen wie ein siegreicher Kaiser. Als sein Zug um 15 Uhr in den AnhalterBahnhof einfuhr, jubelten ihm entlang der Strecke zur Reichskanzlei Hunderttausende zu, die vielfach „bereits sechs Stunden lang wartend ausgeharrt“ hatten.69 Die Straßen waren von Blumen übersät, und Horden von SA-Männern brüllten „Sieg Heil! Sieg Heil! SIEG HEIL!“ Die Sonne strahlte, und die Menschen, die sich in fiebrigem Kriegswahn heiser jubelten, verlangten immer wieder, dass Hitler auf seinen Balkon heraustrete, was dieser von Zeit zu Zeit tat. Einer seiner Generäle pries Hitler als „den größten Feldherrn aller Zeiten“.70 Kein Wunder, dass Hitler glaubte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis Großbritannien fallen oder um Frieden ersuchen würde. Und auch kein Wunder, dass er kühn über einen finalen Entscheidungskampf mit der Sowjetunion im Herbst nachzusinnen begann, ein gigantisches Ringen, um den Bolschewismus zu zerschlagen. Es wäre, merkte Hitler an, ein „Sandkastenspiel“, ein weiterer „Blitzkrieg“. Und, so die Überlegung des „Führers“, sollte Russland besiegt sein, wäre auch „die Lage Englands hoffnungslos“.71 Bis dahin begnügte sich Hitler vorerst damit, Großbritannien aus der Luft zu zerstören.72 Den ganzen August und September hindurch stiegen unablässig Wellen deutscher Kampfflugzeuge in die Luft, um England durch Bomben zur Kapitulation zu zwingen. Die Luftwaffe versuchte zunächst, die Royal Air Force in der Luft zu vernichten, aber die Briten wehrten sich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln: In einer Serie dramatischer Gefechte über der Kanalküste und den Städten Südenglands kämpften RAF-Piloten Tragfläche an Tragfläche gegen die deutschen Flieger. Da die USA sich heraushielten, war Englands Überleben nun von diesen Luftnahkämpfen abhängig. Als es den Deutschen nicht gelang, die britischen Luftstreitkräfte auszuschalten, starteten sie eine Bomberoffensive mit Terrorangriffen gegen englische Städte. Hatten die Deutschen anfangs Häfen, Radarstationen, Flugplätze und Kommunikationseinrichtungen ins Visier genommen, verlegte sich die Luftwaffe nun auf nächtliche Bombenangriffe, bei denen pro Nacht bis zu 1000 Flugzeuge aufstiegen. In 57 aufeinanderfolgenden Nächten erhellten deutsche Bomben erst das Londoner East End und dann London selbst. Bei einem deutschen Angriff auf die Stadt Coventry wurden neben 70 000 Häusern auch die meisten ihrer alten

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Kirchen in Schutt und Asche gelegt. Die RAF schlug in gleicher Weise zurück und bombardierte am 24. August Berlin. Wütend kündigte Hitler an: „Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte in großem Ausmaß angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren.“ Daraufhin sagte Churchill von Hitler: „Dieser niederträchtige Mensch, dieses monströse Produkt früherer Fehler und Schande, hat nun beschlossen, unsere berühmte Inselrasse durch wahllose Gemetzel zu zermürben.“ Während er seinen Kiefer vorstreckte, versprach der Premierminister kühn: „Wir können es aushalten.“ Und England hielt aus, aber leicht war es nicht. Die Schäden waren beispiellos. Zehntausend Menschen fanden den Tod, mehr als 50 000 wurden verletzt. Beim deutschen Angriff auf die Manufakturstadt Birmingham wurden an einem einzigen Abend mehr als 1300 Menschen getötet. Gebäude wurden in verkohlte Skelette verwandelt; in den Straßen blieben große Krater zurück. Kinder wurden mit Gasmasken ausgestattet. Und Nacht für Nacht, wenn in der Londoner City die Lichter gelöscht wurden, suchten etwa 177 000 Bewohner der britischen Hauptstadt Zuflucht in behelfsmäßigen Luftschutzräumen in den Stationen von Londons berühmter U-Bahn. Kurz darauf bebte die Erde, und der Himmel stand in Flammen, während Feuerwehrleute sich beeilten, die Flammenwände zu löschen. Sobald der Tag anbrach, stolperten erschöpfte Bürger aus ihrer unterirdischen Welt nach oben und blickten auf die erneute Verwüstung. Churchill selbst, unerschütterlich, ungeduldig und gereizt, verließ häufig, wenn er schwere Bombeneinschläge hörte, den höhlenartigen „Yellow Room“, wo er sich mit seinen Beratern traf, und stieg die Treppe empor auf ein Dach. In seinem dicken Luftschutzanzug und mit einem Stahlhelm auf dem Kopf, die Gasmaske griffbereit, kaute er dort oben unruhig auf einer schlaffen Zigarre herum und sah zu, wie sein geliebtes London brannte. Aber beim nächsten Tagesanbruch flatterten noch immer Zehntausende kleiner Union Jacks trotzig aus den Fenstern jener Londoner Häuser, die nicht in Trümmern lagen. „Wie viel sie aushalten können, weiß ich nicht“, berichtete CBS-Reporter Edward R. Murrow mit seiner sonoren Stimme.73 „Die Belastung ist sehr groß.“ Doch die Briten teilten so viel aus, wie sie einsteckten, und es gelang ihnen, ihrerseits der Wehrmacht starke Verluste zuzufügen. Bis zum Spätherbst gelangte deshalb ein in die Klemme geratener Hitler zu der Überzeugung, dass der Schlüssel zum Sieg nicht im Westen, sondern im Osten liege. Er verschob das „Unternehmen Seelöwe“, die geplante Überquerung des Ärmelkanals für einen Angriff vom Meer aus auf Großbritannien, auf unbestimmte Zeit und peilte stattdessen eine Invasion der Sowjetunion an, mit der das „Dritte Reich“ einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte. Die Folgen

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sollten schwerwiegend sein – für den Krieg, für die Bevölkerung der Sowjetunion und Europas und letztendlich für die Vereinigten Staaten. Und auch – obwohl das zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste – für die immer stärker in Bedrängnis geratenden Juden Europas. Während Roosevelt noch nach einer grandiosen Strategie suchte, entschied sich Hitler für die seine. Nachdem er im Westen die beinahe vollständige Vorherrschaft errungen hatte, wollte er nun im Osten angreifen. Als Beginn setzte er den Juni 1941 fest, und er ging davon aus, dass der Kampf spätestens bis zum ersten Frost beendet wäre. Als Churchill die Nachricht vom Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion erhielt, schlug er sich sofort auf Stalins Seite. Und Roosevelt bezog mit eindrucksvollem Weitblick die Sowjetunion in die Lieferung ständig wachsender Mengen amerikanischer Waffen und Versorgungsgüter an die alliierten Mächte im Kampf gegen die Nationalsozialisten ein. Aber fast sechs Monate lang befanden sich weiterhin ausschließlich zwei Staaten im Krieg mit Deutschland. Das sollte sich nach dem 7. Dezember 1941 ändern, als die USA als Reaktion auf den japanischen Angriff auf Pearl Harbor endlich neben Großbritannien und der Sowjetunion in den Krieg eintraten. Als Oberbefehlshaber war Roosevelt sowohl eine außergewöhnliche Persönlichkeit als auch ein großes menschliches Rätsel. Natürlich liebten nicht alle den amerikanischen Präsidenten.74 Den ganzen Krieg über wurde der leutselige Präsident als Tyrann und „besoffener Krüppel“, als Urheber falscher Versprechungen und als nach Weltherrschaft dürstender Diktator, als ein „Don Quichote des gegenwärtigen Jahrhunderts, der in seinen Träumen lebt“, und als schwacher Politiker mit einem „verschrobenen“ Verstand diffamiert. Von den Kriegspräsidenten ist nur Abraham Lincoln in ähnlicher Weise verunglimpft worden. Während Roosevelt noch lange nach den schrecklichsten Tagen der Großen Depression Frieden im Ausland predigte, musste er zugleich seine eigenen wachsenden Probleme im Innern meistern.75 So eskalierte etwa im Sommer 1943 kurzfristig eine einfache Schlägerei in einer entlegenen Ecke eines Detroiter Parks, woraufhin es im ganzen Land zu Ausbrüchen rassistischer Gewalt und zu Rassenunruhen kam. Die nationale Moral war angeschlagen, und die New York Times berichtete düster: „Die ganze Welt sieht bei unseren internen Problemen zu.“

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Derweil duldeten die Angelegenheiten des Krieges keinen Aufschub. Eine nicht endende Flut von Problemen, Appellen, Klagen und Anfragen überschwemmte das Oval Office. Cartoonisten verspotteten die Unentschlossenheit des Präsidenten und machten ihn lächerlich, weil er zulasse, dass die Nation derart gebeutelt werde. Doch bei alledem, bei all diesen quälenden politischen Debatten und militärischen Rückschlägen wahrte Roosevelt stets Anstand und Würde. Wo ein erschöpfter Lincoln verdrießlich über die Flure des Weißen Hauses gewandert war und vor sich hin gemurmelt hatte: „Ich muss Entlastung von dieser Sorge haben, sonst bringt sie mich um“, und ein empörter George Washington sich auf Schmähungen seiner politischen Gegner verlegte, zeigte Roosevelt weiterhin gute Laune und Gelassenheit. Auch einer von Roosevelts politischen Widersachern erkannte dies an: „Wir, die wir deinen pompösen Schneid verabscheuen, grüßen dich.“76 Als Regierungschef blieb Roosevelt Freunden und Feinden gleichermaßen ein Rätsel, was ihm sehr zupass kam. Auch hatte er ein untrügliches Gespür für Symbolik und sprach folglich an der Howard University zu Schwarzen, vor der Freiheitsstatue zu Ausländern, von seinem Kamin aus zur Nation. Oft handelte er nicht, indem er irgendeinem grandiosen Plan folgte, sondern nach schierem Instinkt, wenn er etwa eilig aus dem Stehgreif provisorische Anordnungen traf. Eine seiner größten Leistungen, den Lend-Lease-Plan, um das militärische Überleben Großbritanniens nach 1940 zu sichern, ersann er an Bord einer Jacht während eines Segeltörns in der Karibik. Der Plan war absolut genial, ein Meisterstück. Im unscheinbaren Gewand eines Leih- und Pachtgesetzes schuf Roosevelt einen Mechanismus, um den gesamten Regierungsapparat zu umgehen und das militärische Arsenal der Vereinigten Staaten in Form eines kurzfristigen Darlehens den Verbündeten und internationalen Freunden zur Verfügung zu stellen. Diese Idee machte er dem amerikanischen Volk und dem Kongress schmackhaft, freundlich und liebenswürdig, ohne je auch nur einen Deut nachzugeben. Aber nicht jede seiner Strategien war so meisterhaft. Immer wieder verhielt Roosevelt sich auch zögerlich und war nicht willens, eine Entscheidung zu treffen, bis eine Krise vor der Tür stand. Möglicherweise hätten ihm die ruhigeren alten Zeiten von Präsidenten wie Woodrow Wilson oder Theodore Roosevelt eher gelegen, als das Regieren einfacher und besser mit Ad-hoc-Entscheidungen zu meistern war. Er aber war spätestens Ende 1943 dafür verantwortlich, erstens die Voraussetzungen für einen globalen Krieg zu schaffen, sprich: die großen, heute für die USA typischen Verteidigungs- und Kriegsbehörden, und zweitens den Grundstein für eine moderne Präsidialregierung zu legen.

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Doch selbst dabei blieb er unberechenbar. So richtete er beispielsweise ein National Resources Planning Board ein, kritisierte die Planungsbehörde dann aber dafür, dass sie ihrer Aufgabe nachkam, nämlich umfassende, vor allem volkswirtschaftliche Theorien aufzustellen. Bis zur Mitte des Krieges hatte er ein erstklassiges, ja herausragendes Kabinett zusammengestellt und sich mit Männern wie Hopkins, Hassett, Stimson, Marshall, Forrestal, Bowles, Byrnes, Nimitz, Eisenhower und MacArthur umgeben. Doch diese Männer auch mit Macht auszustatten und sich bei Entscheidungen mit ihnen abzustimmen widerstrebte ihm häufig. Das Ergebnis war eine oftmals zerstrittene Regierung. Stimson, der Kriegsminister, nörgelte einmal, Roosevelt sei „der schlechteste Verwaltungsleiter, unter dem ich je gearbeitet habe“. Und Stimson kam zu dem Schluss: „Er will alles selbst machen.“77 In Wahrheit sah Roosevelt seine Aufgabe als Staatsoberhaupt weniger darin, Dinge zu managen, als das amerikanische Volk zu führen. Folglich verstand er sich als höchste moralische Instanz, wenn er mit seiner großartigen, volltönenden Ostküsten-Stimme Prinzipien artikulierte, gemeinsame Moralvorstellungen beschwor, die Nation aufrüttelte und Loyalität weckte, kurz, eine Nation bewegte. Und dabei blieb er immer das Aushängeschild der Menschlichkeit. Lehrbüchern folgte er nie. Er war prinzipientreu und pragmatisch, ein gewiefter Verhandlungspartner und ein Prediger, der die Weltgemeinschaft aller Menschen beschwor, und verschlagen war er auch. Nichts liebte er so sehr, wie mit schadenfroher Miene seine eigene Regierung zu überrumpeln. Er stiftete bewusst Verwirrung unter seinen eigenen Leuten im Glauben, dies führe zu einer kreativeren Politik: Manchmal versorgte er seine Berater mit Informationen, ein andermal hielt er diese absichtlich zurück und ließ seine Leute im Ungewissen. Er machte reichlich Gebrauch von ausgewähltem Klatsch und Tratsch und all den endlosen Informationen aus Telegrammen, Briefen und Memoranden, die täglich in seinem Büro eintrudelten. Und wie Hitler eines Tages lernen würde, besaß Roosevelt darüber hinaus ein untrügliches Gespür für das richtige Timing: An manchen Tagen wirkte er seltsam träge, verschleppte Entscheidungen und wartete endlos, bevor er handelte. Aber es konnte, vor allem wenn er politisch angreifbar war, genauso gut passieren, dass er blitzschnell reagierte, noch bevor sein Stab und sein Kabinett informiert waren. Angesichts eines solchen Regierungsstils war es kaum überraschend, dass sich die Regierung Roosevelt während des Krieges in ständigem Aufruhr befand. Kein Wunder, dass Walter Lippmann Roosevelts Führung einmal als „zögerlich und wirr“78 bezeichnete, und ein Kongresskritiker im Rundfunkge-

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spräch „Roosevelt versus Roosevelt“ meinte, die Nation brauche „weniger und bessere Roosevelts“. War diese Einschätzung fair? Manchmal wirkte sein präsidialer Zauber, manchmal eben nicht. Durcheinander, Verzögerungen und Konfusion – das waren häufig die Schlagworte zu seinem Regierungsstil, bei dem Probleme vorwiegend mit Improvisation, nicht mit einer langfristigen Strategie gelöst wurden. Doch trotzdem regelte sich alles irgendwie. Beispielsweise konnte Roosevelt ein absoluter Realist sein, wenn er darüber sprach, den Krieg so schnell wie möglich zu gewinnen, aber praktisch im gleichen Atemzug leidenschaftlich über den Frieden reden, wenn doch bloß eine Nachfolgeregelung für den unglückseligen Völkerbund greifen würde. Von daher war es vielleicht passend, dass Roosevelt am 13. April 1943, dem 200. Geburtstag von Thomas Jefferson, dessen Memorial einweihte. Während ein steifer Wind über das Tidal Basin, den Stausee zwischen Potomac River und Washington Channel, peitschte, legte der barhäuptige Präsident sein schwarzes Cape an und erhob sich auf seine geschienten Beine, um zur Menge zu sprechen: „Heute, inmitten eines großen Krieges um die Freiheit“, sagte er, „widmen wir der Freiheit einen Schrein.“ Dann zollte er dem dritten US-Präsidenten und einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten den folgenden schlichten Tribut: „Jefferson war kein Träumer.“ In der Tat hatten diese beiden Präsidenten – der eine ein Sohn Virginias, der andere ein New Yorker – viel gemeinsam. Jefferson war ein Aristokrat, der im Namen des gemeinen Volkes sprach, und das war auch Roosevelt. Jefferson war ein Ränkeschmied und Strippenzieher, und das war auch Roosevelt. Jefferson war ein geschickter Politiker und ein glühender Parteigänger, und auch das war Roosevelt. Beide waren die Schöpfer poetischer und grundlegender Worte, die das amerikanische Volk in ihrer eigenen Zeit und noch Generationen später auf wunderbare Weise inspirierten. Und jeder von ihnen konnte Menschen ebenso leidenschaftlich entzweien, wie er sie zu einen vermochte. Beide waren mehr als nur eine Spur scheinheilig, auch wenn sie überragende Persönlichkeiten waren. Und schließlich waren beide Männer bestrebt, ihren politischen Horizont zu erweitern. Wie bei der Großen Depression verlor Roosevelt auch im Verlauf der nervtötenden Widrigkeiten des Krieges nie seinen Optimismus, ohne dabei wie Hitler verblendet zu sein. „Das Komische am Präsidenten ist, dass er diese Sachverhalte gelassen und ruhig vortragen kann, ob wir den Krieg nun gewinnen oder verlieren, und für mich ist am ermutigendsten, dass er diesen Problemen wirklich ins Auge zu blicken scheint und dass er sich nicht eine Minute etwas vormacht über den Krieg“, bemerkte Finanzminister Morgenthau.79 Der Philosoph und politische Beobachter Isaiah Berlin sagte wiederum über Roo-

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sevelt: „Er war absolut furchtlos. In einer mutlosen Welt, die geteilt zu sein schien zwischen niederträchtigen und tödlich effizienten Fanatikern auf ihrem zerstörerischen Marsch und verwirrten Bevölkerungen auf der Flucht, […] glaubte er an seine eigene Fähigkeit, […] diese schreckliche Flut aufzuhalten.“ Berlin kam zu dem Schluss, dass Roosevelt den Charakter und die Energie eines Hitler und eines Mussolini hatte, aber „auf unserer Seite“ stand.80 Doch sogar Roosevelts Gleichmut hatte Grenzen. An vielen Wochenenden suchte er in Camp David, von ihm „Shangri-La“ genannt, dem präsidialen Rückzugsort in den Catoctin Mountains, knapp 100 Kilometer nördlich von Washington, Erholung vom Krieg, oft in Gesellschaft einer kleinen Gruppe Vertrauter.81 Zwar reiste sein Arbeitspensum jedes Mal mit, doch war er erst einmal dort, konnte er auch in seinen geliebten Detektivromanen schmökern, sich nach Herzenslust an Käse- und Cocktailhäppchen gütlich tun und mit Freunden plaudern, manchmal über Staatsangelegenheiten, häufiger jedoch über Belanglosigkeiten. Im Gegensatz zum Anwesen in Hyde Park war „Shangri-La“ rustikal, beinahe schon baufällig. Roosevelt fand das großartig. Seine Augen erstrahlten in jungenhaftem Entzücken, und er erzählte seinen Gästen gern augenzwinkernd, eine der Badezimmertüren schließe nicht richtig. Doch sowohl Gegner wie Freunde waren gut beraten, sich von seiner Leutseligkeit nicht täuschen zu lassen. Roosevelt war hart wie Stahl oder, ebenso treffend ausgedrückt, störrisch wie Abraham Lincoln. Sein Berater Rex Tugwell verglich Roosevelts Prüfung angesichts der Großen Depression tatsächlich mit Lincolns Kampf gegen die Spaltung der Union im Amerikanischen Bürgerkrieg. Ein guter Kampf belebte ihn, und er strotzte vor Verachtung für seine Widersacher. Als er einmal im Oktober 1936 vor einer jubelnden Menge im Madison Square Garden sprach, sagte er, seine Gegner seien „einmütig in ihrem Hass auf mich!“82 Nach einer dramatischen Pause fügte er hinzu: „Und ich begrüße ihren Hass!“ Ein anderes Mal wurde er an der Wall Street ununterbrochen ausgebuht; so ging es ihm auch in Cambridge, als Harvard-Studenten sich versammelten, um den berühmtesten Ehemaligen der Universität zu sehen, wie er in seiner Wagenkolonne vorbeiglitt. In beiden Fällen ließ Roosevelt sich nichts anmerken, winkte und lächelte freundlich. Es überrascht kaum, dass er im Laufe der Jahre zum Bewunderer von Andrew Jackson wurde, dem siebten Präsidenten der USA und Mitbegründer der Demokratischen Partei. Jackson war ein Populist, dem die Reichen ebenfalls zunehmend hasserfüllt gegenüberstanden. Politisch verortete er sich selbst „ein wenig links von der Mitte“, obwohl daran zu erinnern ist, dass er einen Ordner besaß, der mit „Liberalism Versus Communism and Conservatism“ beschriftet war. Dennoch war er alles andere

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als dogmatisch in seinem Weltbild und bereit, mit zig politischen Strategien zu experimentieren, einen Strauß mit dem Außenminister auszufechten oder sich über Ökonomen lustig zu machen, die „Fachchinesisch, ab-so-lutes Fachchinesisch“ sprachen. Aber in seinem tiefsten Innern war er ein Liberaler: Als seine Kritiker darauf bestanden, die Regierung müsse einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen, dröhnte Roosevelt: „Verdammt, ein ausgeglichener Haushalt bringt die Leute nicht in Lohn und Brot. Ich werde den Haushalt ausgleichen, sobald ich mich um die Arbeitslosen gekümmert habe!“83 Und eine Tatsache blieb unstrittig: Als es in den 1930er-Jahren vorübergehend so ausgesehen hatte, als sei die amerikanische Demokratie in Auflösung begriffen, als sei den beiden politischen Parteien die Kraft ausgegangen, und als alle sich echte Sorgen um den Zusammenbruch der freien Institutionen machten, als Millionen von Menschen den neuen politischen Rattenfängern und Unruhestiftern, Demagogen wie Huey Long und Father Coughlin, zuströmten und Gesellschaft und Menschlichkeit in Gefahr waren, rettete Roosevelt die Demokratie im Innern. Jetzt, wo der Zweite Weltkrieg wütete und der Teheraner Gipfel wirklich begann, wurde die Frage laut: Würde ihm dasselbe auch im Ausland gelingen? Dies war die entscheidende Frage während des Krieges und darüber hinaus. In Teheran würde Roosevelt bald genau erfahren, wie weit sein persönlicher Zauber ihn bringen konnte.84 Um drei Uhr an einem warmen Sonntagnachmittag ging Stalin zu Fuß unter einem wolkenlosen Himmel ohne Begleitung von seinem Gebäude zur Residenz des US-Präsidenten und wurde draußen von einem Offizier der US Army empfangen, der ihn zu Roosevelt führte. Stalin – ein kleiner Mann mit struppigem grauen Haar, vernarbten Wangen, einem wettergegerbten Gesicht und schlechten, durch jahrelanges Rauchen verfärbten Zähnen – trug eine khakifarbene Uniformjacke, deren einziger Schmuck ein Stern des Leninordens auf der Brust war. Roosevelt, der in seinem Rollstuhl saß, trug einen gut geschnittenen blauen Straßenanzug, doch als Stalin ihm die Hand reichte, war der Präsident sprachlos von Stalins eindrucksvoller Erscheinung. „Er war ein sehr kleiner Mann, aber er hatte“, wie ein amerikanischer Beobachter feststellte, „etwas an sich, das ihn furchtbar groß wirken ließ.“ Dass Stalin „neugierig“ auf seine verkümmerten Beine und Knöchel blickte, entging Roosevelt ebenfalls nicht. Während seiner gesamten Karriere hatte Roosevelt an seine Fähigkeit geglaubt, sich gleichermaßen mit politischen Verbündeten wie mit Gegnern zu einigen, und er war entschlossen, eine persönliche Beziehung zum sowjeti-

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schen Diktator aufzubauen. Was blieb ihm auch anderes übrig, schließlich stand viel auf dem Spiel bei dieser Konferenz. Doch Stalin – ungehobelt, gerissen und skrupellos – war weder moralisch noch emotional beeinflussbar: Er war der Architekt des Gulag und der großen Säuberungen; sein Regime hatte kaltblütig Hunderttausende angeblicher „Volksfeinde“ aufgrund dürftigster Beweise exekutieren lassen; und nachdem er den Krieg als Partner Hitlers begonnen hatte, bis die Nationalsozialisten ihn hintergingen und die Sowjetunion überfielen, war er auch ein unberechenbarer Bundesgenosse. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Stalin immer wieder wütend darauf hingewiesen, dass die Sowjets einen unverhältnismäßig hohen Verlust an Menschenleben erlitten, und deshalb fürchteten die Amerikaner selbst jetzt noch, dass die Sowjetunion einen Separatfrieden mit Deutschland schließen könnte. Allein in Stalingrad hatten die Sowjets die unfassbare Menge von einer Million Menschenleben verloren, mehr als die Vereinigten Staaten im gesamten Krieg. Aber Tapferkeit und Opferbereitschaft äußerten sich auch in anderen Formen. Dank Roosevelt steuerten die Vereinigten Staaten wesentliche Versorgungsgüter und Munition zur sowjetischen Kriegsanstrengung bei. Allein in der zweiten Jahreshälfte 1942 hatten die USA Stalin 11 000 Jeeps, 50 000 Tonnen Sprengstoffe, 60 000 Lastwagen, 250 000 Tonnen Flugbenzin und 450 000 Tonnen Stahl geschickt, wozu bald darauf noch 5000 Kampfflugzeuge und zwei Millionen Paar Stiefel für die russischen Soldaten kamen, die in den steinigen, verschneiten Einöden um Stalingrad kämpften und bluteten. Amerikanische Reifen sorgten dafür, dass sowjetische Laster fuhren, und amerikanisches Öl dafür, dass sowjetische Flugzeuge flogen; amerikanische Decken wärmten sowjetische Soldaten, und amerikanische Lebensmittel – Millionen Tonnen, darunter Weizen, Mehl, Fleisch und Milch – ernährten sie. Nichtsdestotrotz war Stalin überzeugt, die Westalliierten hätten eine größere Last der Kämpfte zu übernehmen, weshalb er energisch darauf drängte, dass sie das nationalsozialistisch besetzte Westeuropa so bald wie möglich direkt angriffen. Roosevelt hatte für dieses Ansinnen durchaus Verständnis, stellte es aber notgedrungen zurück, bis die Vereinigten Staaten über genug Schiffsraum – Frachter, Tanker, Zerstörer und Geleitschiffe – für einen Großangriff über den Ärmelkanal verfügten. Und auch Churchill war nur mäßig begeistert von einem Angriff auf das nationalsozialistisch besetzte Westeuropa; er zog stattdessen eine Landung auf Sizilien und eine Konzentration auf den Mittelmeerraum vor. Aber jetzt, wo das Jahr 1943 sich dem Ende zuneigte, machten die Alliierten beträchtliche Fortschritte. Das Ende des Krieges war in Sicht.

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Bald sollte der nächste Sturm über Europa hereinbrechen. Und während seines Treffens mit Stalin dachte Roosevelt unentwegt über die Zukunft nach. Eigentlich hatte Roosevelt Stalin schon treffen wollen, seit die Deutschen die polnische Grenze überschritten hatten. Er sagte oft, dass er bei einer persönlichen Begegnung mehr durch das Studium eines Gesichts erfahre als durch die Äußerungen seines Gegenübers. Jahrelang, sogar noch als Präsident, hatte es ihm missfallen, sich auf ellenlange schriftliche Ausarbeitungen zu verlassen. Und auch seine Privatsekretärin Grace Tully erwähnte, dass Roosevelt, obwohl er das für ihn essenzielle Telefon ständig benutzte, gern Gesichtsausdruck und Mienenspiel beobachtete. Auch Churchill hatte dies schon früh erkannt und ergriff viele Gelegenheiten, sich mit Roosevelt persönlich zusammenzusetzen, um das anglo-amerikanische Verhältnis zu festigen. Aber Josef Stalin hatte bislang nur seinen stets ausweichenden Stellvertreter Wjatscheslaw M. Molotow ins Weiße Haus entsandt, was Roosevelt nicht reichte. Deshalb hatte er für das erste Treffen bei dieser Konferenz auf ein informelles tête-à-tête in seinen Räumlichkeiten gedrängt. Roosevelt begrüßte Stalin und wiederholte dabei seinen seit Langem bekundeten Wunsch, einander persönlich kennenzulernen. Stalin, der überraschend leise, ja bescheiden auftrat, erwiderte die Begrüßung und machte einmal mehr geltend, dass die militärischen Angelegenheiten ihn stark beansprucht und ein persönliches Zusammentreffen bislang verhindert hätten. Dann fingen die beiden Männer zu reden an, und die Themen umspannten den ganzen Erdball. Natürlich wollte Roosevelt über militärische Fragen sprechen, darüber hinaus aber vor allem längerfristige diplomatische Angelegenheiten erörtern. Trotzdem erkundigte sich der Präsident mit Rücksicht auf Stalin zunächst nach der Ostfront, wo die Sowjets die volle Wucht des gnadenlosen deutschen Angriffs zu spüren bekamen – es stehe dort, so Stalins Worte, „nicht allzu gut“. Er fügte hinzu, dass die Deutschen frische Divisionen heranführten und die Rote Armee im Begriff stehe, einen entscheidenden Eisenbahnknotenpunkt zu verlieren. Doch geschickt hakte Roosevelt nach, ob die Initiative nicht trotzdem bei der Roten Armee liege, worauf Stalin zustimmend nickte. Auf Roosevelts Drängen sprachen sie nun über allgemeinere Themen: Frankreich, Indochina, China und Indien. Immer wieder kam der Präsident auf die Diplomatie zurück. Immer wieder wollte er über die Zukunft nach dem Krieg sprechen und vor allem über seine Vorstellung von einer Nachkriegswelt, die von einer internationalen Körperschaft unter Leitung der vier Groß-

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mächte verwaltet würde: der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritanniens und Chinas. Dann war das private Treffen beinahe so schnell beendet, wie es begonnen hatte. Die beiden hatten etwa eine Stunde miteinander verbracht, genug Zeit, um sich gegenseitig auf den Zahn zu fühlen, aber, soweit es Roosevelt betraf, nicht genug, um „irgendeine Art persönlicher Beziehung“ zu Stalin zu festigen.85 Das erste Treffen aller drei Staats- und Regierungschefs war für vier Uhr nachmittags im großen Konferenzsaal der sowjetischen Botschaft angesetzt. Die Chefs und ihre Stäbe86 nahmen an einem eigens beschafften runden Eichentisch Platz. Er war rund, womit die Frage entfiel, wer an welcher Tischseite sitzen solle, was indes das raffinierte Gerangel um globalen Einfluss und Streit zwischen den überaus unterschiedlichen Teilnehmern nicht verhindern konnte. Zudem gab es keine feste Tagesordnung: Die Teilnehmer konnten reden, worüber sie wollten, und Themen meiden, die ihnen nicht behagten. Das Innere des Konferenzsaals hätte ebenso gut zu den frostigen Winden Moskaus gepasst wie zur sonnigen Wärme Teherans. Vorhänge bauschten sich um die Fenster, an den Wänden hingen Teppiche, und die Lehnstühle waren überdimensioniert. Jeder Regierungschef erschien mit seinen Beratern, nur auf George Marshall musste Roosevelt verzichten, der die angegebene Uhrzeit missverstanden hatte und sich auf einer Besichtigungstour befand. Churchill und Stalin hatten sich bereits drauf verständigt, sich Roosevelts Wunsch zu fügen, die Sitzung zu eröffnen. Roosevelt, der 62 Jahre alt war, machte eine witzige Bemerkung darüber, dass er „als der Jüngste!“ Leute begrüßte, die älter waren als er, und stellte dann nachdrücklich fest: „Wir sitzen zum ersten Mal als Familie um diesen runden Tisch zusammen, mit dem einzigen Ziel, den Krieg zu gewinnen.“ Als Nächster sprach der wegen einer Erkältung heisere Churchill, der in beredten Worten betonte, dass die drei hier versammelten Staats- und Regierungschefs „vermutlich die größte Zusammenballung weltlicher Macht, die die Menschheitsgeschichte je gesehen habe“, repräsentierten, und fügte hinzu: „In unseren Händen liegt mit grösster Wahrscheinlichkeit der Sieg, möglicherweise auch die Kraft, eine Abkürzung des Krieges herbeizuführen, und zweifelsohne das Geschick und das Glück der Menschheit.“87 Stalin verlor ein paar oberflächliche Worte über „viel Macht und große Möglichkeiten“ und schloss mit der lauten Aufforderung: „Gehen wir an die Arbeit“88, womit er die amerikanische und britische Invasion Europas meinte, die Eröffnung einer zweiten Front gegen Deutschland.

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Die Amerikaner wiederum wollten, dass Stalin Bereitschaft signalisierte, seine Streitkräfte in der Schlacht im Pazifik einzusetzen. Hier reagierte Stalin schlau, indem er sagte, dass er zu stark in Europa engagiert sei, um in den Krieg gegen Japan einzutreten. Doch „wenn Deutschland zusammenbreche, sei der Moment zum Anschluss an die Freunde auf diesem Kriegsschauplatz gekommen; man werde dann zusammen marschieren“.89 Zufrieden lenkte Roosevelt die Diskussion anschließend wieder auf Europa und die geplante Invasion, wobei er betonte, dass die Alliierten durchaus an der im August 1943 auf dem Quebec-Gipfel getroffenen Entscheidung festhalten sollten, im Mai 1944 zu landen, während er zugleich feststellte, dass die ungünstige Witterung eine zweite Front in Frankreich vor dem Spätfrühjahr verhindern würde. „Der Ärmelkanal ist ein so unangenehmes Gewässer“, sagte Roosevelt und fügte dann, sich der Sorgen Stalins bewusst, hinzu: „Aber wie unangenehm dieses Gewässer auch sein mag, wir wollen trotzdem rüberkommen.“90 Churchill, der sich gut an eine düstere Zeit vor weniger als drei Jahren erinnerte, als Großbritannien die einzige Nation gewesen war, die mit deutschen Bomben angegriffen wurde, warf unwirsch ein, über dieses unangenehme Gewässer seien sie alle einmal sehr froh gewesen. Roosevelt warf sich wieder in die Debatte und redete weiter über die Kanalüberquerung und die Invasion des europäischen Kontinents, die den Codenamen „Overlord“ erhalten sollten. Was könnten Amerika und Großbritannien angesichts des vorgesehenen Zeitplans in der Zwischenzeit tun, um deutsche Ressourcen umzulenken und die Rote Armee zu entlasten? Ein ungerührter Stalin, der pausenlos rauchte, hatte seine eigenen Vorstellungen und betonte, dass einer Invasion aus dem Norden ein Angriff durch den Süden Frankreichs vorausgehen könne. Er erinnerte unverblümt daran, dass der Osten auch künftig die zentrale Front des Krieges bleibe, und erklärte, im Kampf gegen die Deutschen sei ihm klar geworden, dass eine große Offensive aus nur einer Richtung weit weniger Erfolgsaussichten habe als ein Zweifrontenkrieg. Aus zwei Richtungen angegriffen, wären die Deutschen gezwungen, ihre Kräfte zu zersplittern, während die Alliierten die Chance bekämen, sich zusammenzuschließen und ihre Schlagkraft durch Bündelung zu vervielfachen. Diese Taktik könne möglicherweise auch auf die gegenwärtigen Pläne angewendet werden. Während Roosevelt sich auf diese Idee stürzte, sperrte sich Churchill. Er wollte keine momentan in Italien befindlichen Kräfte abziehen. Von daher hatte er bereits vorgeschlagen, alternative Pläne für das östliche Mittelmeer auszuarbeiten, vielleicht sogar die Türkei zu veranlassen, in den Krieg einzutreten.

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Aber Stalin wollte keine östlichen Mittelmeerrouten. Er glaubte, dass Italien nicht mehr sein könne als ein Ablenkungsmanöver. Wegen der nahezu völligen Unpassierbarkeit der Alpen sei es als Ausgangsposition für eine Invasion Deutschlands hingegen gänzlich ungeeignet. Churchill ignorierend, schlug sich Roosevelt auf Stalins Seite. Der britische Premier zog sich anstandslos mit den Worten aus der Affäre, „dass es bei aller Freundschaft, die uns verbinde[t], vergebliche Liebensmühe wäre, uns vorzutäuschen, dass wir die Dinge mit gleichen Augen [sehen]“.91 Roosevelt bat unterdessen die militärischen Stäbe eindringlich, sofort mit den Planungen für einen Angriff auf Südfrankreich zu beginnen, der die Invasion über den Ärmelkanal flankieren sollte. „Overlord“ und die Taktik des Landeunternehmens beherrschten den Rest des Nachmittags, bis die drei Chefs sich zurückzogen, nur um kurz darauf beim Abendessen wieder zusammenzukommen. An diesem ersten Abend war Roosevelt Gastgeber der Delegation. Die philippinischen Köche des Präsidenten hatten in den letzten paar Stunden Kochherde aufgebaut und angefangen, ein uramerikanisches Dinner aus gegrillten Steaks und Ofenkartoffeln vorzubereiten.92 Dass amerikanische Nahrungsmittel in einer amerikanischen Küche zubereitet wurden, beruhigte die Secret-ServiceAgenten sehr. Beim Roosevelt-Churchill-Gipfel in Casablanca waren das gesamte Essen und sämtliche Getränke zuerst von Sanitätsoffizieren probiert und dann zusammengepackt und schwer bewacht worden, um zu verhindern dass jemand die Sachen vergiftete oder sich anderweitig daran zu schaffen machte. Als die drei Staats- und Regierungschefs sich einfanden, mixte der Präsident als erstes die Cocktails für die von ihm liebevoll so genannte „Kinderstunde“.93 Seine Drinks – phantasievolle, immer wieder neue Kombinationen aus Alkohol und verschiedenen Beigaben – waren wirklich etwas für Kenner. An diesem Abend gab Roosevelt eine große Menge Wermut – „sowohl süßen als auch trockenen“ – in einen Krug mit Eis, gab dann eine „kleinere Menge“ Gin dazu und rührte die Mischung „schnell“. Stalin, der sich eher für Wein begeisterte, trank sie brav, sagte aber nichts, bis Roosevelt sich ungeduldig erkundigte, wie er den Cocktail fände. „Schmeckt ganz gut, kommt aber sehr kalt im Magen an“, erwiderte der Marschall.94 Beim Abendessen wurden die Cocktails durch Wein und Bourbon ersetzt, die reichlich flossen, während eine lange Reihe von Trinksprüchen ausgebracht wurde. Aber so fröhlich und gesellig sich die Staatsführer nach außen hin gaben, so hartnäckig hielt sich in ihren Gesprächen ein eisiger Unterton. Im

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Verlauf der Mahlzeit rückte abermals Nachkriegseuropa in den Fokus. Russlands uralte Feinde eiskalt abschreibend, nahm Stalin das Heft in die Hand: Er kam auf ein Thema aus seiner privaten Unterredung mit Roosevelt zurück, und diesmal brandmarkte er die Franzosen öffentlich vor der zu Tisch versammelten Delegation. Er erklärte die gesamte herrschende Klasse Frankreichs für „bis ins Mark verdorben“, und fügte hinzu, dass die ihr Angehörenden „keine Rücksichtnahme vonseiten der Alliierten“ verdienten und sie nicht „im Besitz ihres Imperiums“ bleiben dürften. Churchill, der hingegen fest davon überzeugt war, dass Frankreich als starke Nation wiederaufgebaut werden müsse, ergriff im Namen der Franzosen das Wort. Roosevelt versuchte den Friedensstifter zu spielen, aber vergeblich. Anschließend brachte Stalin das wichtigere Problem Deutschland zur Sprache und plädierte für seine „Zerstückelung und strengstmögliche Behandlung“ als einzige Mittel, um ein eventuelles Wiedererstarken des deutschen Militarismus zu verhindern.95 Um diesen Punkt zu unterstreichen, sprach Stalin, der selbst die skrupellose treibende Kraft hinter unzähligen „Säuberungen“ war,96 über Verhöre deutscher Kriegsgefangener. Als diese Gefangenen gefragt worden seien, warum sie unschuldige Frauen und Kinder abgeschlachtet hätten, habe ihre Antwort gelautet, dass sie nur getan hätten, was ihnen befohlen worden sei. Dann erzählte Stalin, was er selbst einmal in Deutschland erlebt hatte. Im Jahr 1907 sei er in Leipzig gewesen, um an einem Arbeiterkongress teilzunehmen. Aber 200 deutsche Delegierte seien nicht erschienen, weil der Bahnbeamte, der ihre Fahrkarten entwerten musste, nicht zur Arbeit gekommen sei und die deutschen Delegierten nicht ohne ordnungsgemäß entwertete Fahrkarten in den Zug steigen wollten. Zur deutschen Mentalität, erklärte Stalin, gehöre eine übertriebene blinde Obrigkeitshörigkeit. Um das harmonische Miteinander nicht zu gefährden, wagten es weder Roosevelt noch Churchill, auf die Paradoxie einer solchen Behauptung aus dem Munde eines absoluten Despoten hinzuweisen, der seine Macht mit Gewehrläufen ausübte. Offensichtlich fühlte Stalin seinen Verbündeten auf den Zahn, um herauszufinden, inwieweit sie dazu angestachelt werden konnten, ein Nachkriegsdeutschland zu bestrafen und komplett umzugestalten. Er sagte sogar, er stimme nicht mit Roosevelts Ansicht überein, dass der „Führer“ verrückt sei, und nannte Hitler stattdessen einen intelligenten, durch eine primitive Auffassung von Politik behinderten Mann. Diesmal versuchte Roosevelt das Gespräch zurück auf weniger kontroverse Themen zu lenken, etwa die Frage des Zugangs zur Ostsee.97 Aber plötzlich, gegen halb elf Uhr, als er gerade zu sprechen anheben wollte, kamen keine Worte aus seinem Mund. Es entstand eine lange Pause.

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Zum Entsetzen der Anwesenden wurde der Präsident grün im Gesicht, und „große Schweißtropfen“ begannen „ihm übers Gesicht zu laufen“. Dann legte er „eine zitternde Hand auf seine Stirn“.98 Ein fassungsloses Schweigen senkte sich über die Versammlung, während alle den amerikanischen Präsidenten anstarrten, der offenbar in ernsten Schwierigkeiten war. Ohne viele Worte zu verlieren, sprang Harry Hopkins von seinem Platz auf und ließ Roosevelt in sein Zimmer bringen. Roosevelts Arzt, Admiral Ross McIntire, aß gerade draußen zu Abend. Auch er eilte zum Zimmer des Präsidenten. Wie es der Zufall wollte, wusste nur McIntire, dass sich ein ähnlicher Vorfall schon einmal ereignet hatte, an einem Abend im Februar 1940, ebenfalls während des Dinners. War dies eine Wiederholung jenes grässlichen Abendessens – außer dass der Zusammenbruch des Präsidenten diesmal in Gegenwart der mächtigsten Männer der Welt erfolgt war? Einen ernstlich kranken Roosevelt konnte sich die Nation zu diesem wichtigen Zeitpunkt nicht leisten. In Roosevelts Zimmer begann McIntire in aller Eile mit seiner Untersuchung. Roosevelt erklärte, dass er sich nach dem Ende des Essens einer Ohnmacht nahe gefühlt habe. McIntires Diagnose war erstaunlich flüchtig: Magenverstimmung und übermäßige Blähungen. Er verabreichte Roosevelt etwas, um die Symptome zu lindern. Falls hinter den Beschwerden des Präsidenten irgendetwas Ernsteres steckte als eine Magenverstimmung – und das war mit ziemlicher Sicherheit der Fall –, dann ging McIntire dem anscheinend niemals nach. Und schon am nächsten Nachmittag traf Roosevelt erneut mit Stalin zusammen, um seine Vision einer Nachkriegswelt zu skizzieren,99 bevor die beiden anschließend für eine weitere Konferenzrunde zu Churchill stießen. Aber auch wenn die Amerikaner unbeschwert weitermachen konnten, war der Abend für Churchill und Stalin in jedem Fall ein beunruhigendes Vorzeichen und eine ernste Erinnerung daran, dass es mit Roosevelts Gesundheit nicht zum Besten bestellt war. Während Roosevelt von der plötzlichen Magenverstimmung „vollständig genesen“ zu sein schien und den Amerikanern zufolge „so munter wie immer“ war, belastete den Gipfel einmal mehr die zunehmend heikle Frage einer Invasion über den Kanal.100 Weil er fürchtete, ein direkter Angriff könnte „die Zivilisation auslöschen“ und einen verwüsteten Kontinent zurücklassen, zögerte Churchill eine Entscheidung hinaus. Roosevelt seinerseits, noch außerstande,

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starke Kräfte für den geplanten Angriff auf Europa einzusetzen, wollte sich weiterhin auf die Nachkriegswelt und seine Idee einer internationalen Organisation zur Lösung von Streitigkeiten konzentrieren. Doch Stalin kam eingedenk seiner Soldaten, die an der unerbittlichen Ostfront bluteten und starben, immer wieder auf „Overlord“ zu sprechen. Ob er mit einem Rotstift auf einem Notizblock herumkritzelte – er zeichnete gern Wolfsköpfe – oder mit einer Zigarette in der Hand teilnahmslos dasaß, er blieb unerbittlich. Ein finsterer Stalin bestand auf einem konkreten Stichtag im Mai – den Roosevelt versprochen hatte – und auf der Ernennung eines Oberbefehlshabers. Unverblümt fragte er Roosevelt: „Wer wird ‚Overlord‘ kommandieren?“101 Der Präsident räumte ein, er habe noch keine endgültige Entscheidung getroffen, obwohl jeder wusste, dass der führende Kandidat, General George Marshall, an der Konferenz teilnahm. Stalin fühlte sich schlicht hingehalten und schäumte: „Dann wird auch nichts aus diesen Operationen.“102 Nachdem man über die Türkei und Bulgarien gesprochen hatte, wendete sich die Diskussion wieder „Overlord“ zu. Jetzt sagte Stalin anklagend zu Churchill: „Glauben die Briten wirklich an ‚Overlord‘, oder tun sie nur so, um die Russen in Sicherheit zu wiegen?“ Churchill, der auf seiner Zigarre kaute, blickte mürrisch drein und erklärte dann: „Unter der Annahme, dass die bereits erwähnten Voraussetzungen zum gegebenen Zeitpunkt erfüllt sind, ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, unsere Kraft bis zur letzten Unze jenseits des Kanals gegen die Deutschen einzusetzen.“103 Damit beendete wie schon am Vortag Churchill die Sitzung, der die Ereignisse später in vertraulicher Runde mit einem Wort kommentierte: „Scheiße!“ Beim Abendessen war Stalin an der Reihe, den Gastgeber zu spielen.104 Im Verlauf der nicht endenden Trinksprüche an Tischen, die unter einem klassischen russischen Essen ächzten – zunächst kalte Vorspeisen, dann heißer Borschtsch, Fisch, verschiedene Sorten Fleisch, Salate, Kompott und Obst, alles begleitet von Wodka und erlesenen Weinen –, fing der sowjetische Führer an, Churchill zu ärgern. Er „neckte“ und „piesackte“ den britischen Premierminister abwechselnd105 und ging sogar so weit zu behaupten, dass Churchill nach wie vor freundliche Gefühle für Deutschland hege und insgeheim einen „weichen“ Frieden wünsche. Trotz der Tatsache, dass es Churchill gewesen war, der zuvor und überzeugender als alle anderen die Fakten gegen Hitler aufgelistet hatte, fuhr Stalin mit seinen Sticheleien fort, dabei fast immer un-

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Kapitel 1

terstützt und sogar bestärkt von Roosevelt. Die „ätzenden“ Bemerkungen flogen immer hitziger hin und her, bis Stalin scharf einwarf, der deutsche Generalstab müsse „liquidiert“ werden. Die ganze Schlagkraft der Armeen Hitlers, fuhr er fort, hänge „von etwa 50 000 Offizieren und Militärspezialisten“ ab. Wenn sie „am Ende des Krieges gefasst und erschossen“ würden, wäre Deutschlands militärische Stärke dahin. Stalin begleitete seine Bemerkung mit einem „sardonischen Lächeln“ und einer „Handbewegung“. Aber entweder entging Churchills Dolmetscher der augenscheinliche Sarkasmus des Sowjetführers, oder der Premierminister selbst kam zu dem Schluss, dass er die Nase voll hatte. Wütend erwiderte er eisig: „Das britische Parlament und die britische Öffentlichkeit werden Massenexekutionen niemals gutheissen. Selbst wenn sie es unter dem Einfluss der Kriegsleidenschaft zuliessen, dass damit begonnen würde, würden sie sich nach der ersten Schlächterei mit grösster Heftigkeit gegen die dafür Verantwortlichen wenden.“ Churchill fügte hinzu: „Lieber lasse ich mich […] hier an Ort und Stelle in den Garten hinausführen und erschiessen, als meine und meines Volkes Ehre durch eine solche Niedertracht zu beschmutzen.“106 An diesem Punkt suchte Roosevelt zu vermitteln, indem er eine Kostprobe seines eigenen Humors gab. Er schlug einen Kompromiss vor: Bei der Zahl 50  000 könne er Marschall Stalin nicht unterstützen. Stattdessen sollten nur „49 000 erschossen werden“. Keiner Seite schien in diesem Moment die Tatsache bewusst zu sein, dass in diesem entsetzlichen Krieg ein ganzes Volk – unschuldige Zivilisten – in den dunklen Wäldern Polens erbarmungslos abgeschlachtet wurde und das in weit größerer Zahl. Am dritten Tag fanden alle Seiten endlich zusammen. Stalin ließ den alles andere als dezenten Hinweis fallen, das Versäumnis, im Jahr 1944 eine zweite Front in Europa zu eröffnen, sei beinahe eine Garantie dafür, dass eine kriegsmüde Sowjetunion einen Separatfrieden mit Hitler anstreben würde. Und seine Drohung hatte, wie unwahrscheinlich sie in diesem Stadium des Konflikts auch war, den gewünschten Effekt. Diesmal beugte sich Churchill der Realität: Er und Roosevelt gaben grünes Licht für „Overlord“ und zwar „in Verbindung mit einer Unterstützungsaktion in Südfrankreich“.107 Die Sowjets ihrerseits würden eine Offensive organisieren, die im Mai gegen die deutschen Streitkräfte im Osten stattfinden sollte. An diesem Abend, dem 30. November, war Churchill, obwohl immer noch kränkelnd – inzwischen hatte er einen elenden Bronchialhusten und zwischen-

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zeitlich Fieber –, Gastgeber des offiziellen Abendessens. Es war sein 69. Geburtstag, und die Insignien des britischen Empire waren ausgestellt. Kristall und Silber funkelten im Kerzenlicht, Roosevelt und Churchill trugen Abendgarderobe, und die Trinksprüche waren ergreifend. Gewöhnlich umrundete derjenige, der einen Toast ausbrachte, den Tisch, um mit demjenigen anzustoßen, auf den gerade getrunken wurde. Einmal jedoch trank Roosevelt auf die Gesundheit von Churchills Tochter, Sarah, worauf sich Stalin an seiner statt erhob, um den Tisch herumging, sich verbeugte und mit ihr anstieß. Sarah zögerte einen Moment, dann stand sie von ihrem Sitz auf, um zu Roosevelts Platz zu gehen, wo sie mit ihrem Glas seines berührte und er äußerst charmant sagte: „Ich wäre zu Ihnen gekommen, meine Liebe, aber ich kann nicht.“108 Als der Abend fortschritt, erhob sich Stalin zum ersten Mal, um den USA öffentlich für die umfangreichen Lieferungen zu danken, welche die Rote Armee am Leben hielten. Er hob mit den Worten an: „Ich möchte Ihnen erzählen, was der Präsident getan hat, um den Krieg zu gewinnen“, und machte sogar das denkwürdige Eingeständnis, ohne Lend-Lease „würden [sie] diesen Krieg verlieren“. Dann war Churchill an der Reihe. Mit Stalin zu seiner Linken und Roosevelt zu seiner Rechten gedachte er der Leistungen, die hinter ihnen lagen. Im Nachhinein erinnerte er sich: „Zusammen kontrollierten wir die weitaus grössten Seestreitkräfte und drei Viertel aller Fliegerkräfte der Welt; wir dirigierten Armeen von annähernd zwanzig Millionen Mann, die den furchtbarsten Krieg der Menschheitsgeschichte austrugen.“ Und fügte dann hinzu: „Ich konnte es mir nicht versagen, Genugtuung über den weiten Weg zu empfinden, den wir seit dem Sommer 1940 dem Sieg entgegen zurückgelegt hatten. Damals waren wir auf uns allein angewiesen […].“109 Das letzte Wort sollte jedoch an diesem Abend Roosevelt haben. Um zwei Uhr morgens erhob er triumphierend sein Glas und sagte: „Wir haben unterschiedliche Gebräuche, Weltbilder und Lebensweisen. Aber hier in Teheran haben wir bewiesen, dass die abweichenden Ideale unserer Nationen in einem harmonischen Ganzen zusammenkommen und vereint zu unserem gemeinsamen Wohl und dem der Welt wirken können.“ Welche Harmonie auch immer in Teheran erreicht wurde, sie blieb gleichwohl in einem umfassenderen Sinne flüchtig. Denn es sollte noch sehr viel mehr Krieg – und eine viel größere, unfassbare moralische Tragödie – folgen. Als Roosevelt sich an seinem letzten Abend im sowjetischen Botschaftskomplex auf sein Zimmer zurückzog, war er unruhig beim Gedanken daran, dass

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Kapitel 1

er sein Hauptziel noch nicht erreicht hatte: ein dauerhaftes, persönliches Einvernehmen mit Stalin. Obwohl er sich nach besten Kräften bemüht hatte, fand er den sowjetischen Diktator „korrekt“, „steif “, „ernst“, mit „nichts Menschlichem, um an ihn heranzukommen“. Er war entmutigt, doch dann fiel ihm ein, dass er Stalin zwei Abende lang mit offensichtlichem Vergnügen zugesehen hatte, wie er Churchill piesackte und veralberte. Klar, er hatte mitgemacht, aber recht zurückhaltend. Wenn Stalin sich unverblümt geäußert und Churchill lautstark argumentiert hatte, hatte er selbst meist geduldig zugehört und vermittelt, gescherzt und Anstöße gegeben. Weil ihm an einem politischen Ertrag gelegen war, entschied er sich am letzten Tag der Konferenz für die entgegengesetzte Strategie. Er würde sich unverhohlen lustig machen über den Premierminister. 110 An jenem letzten Vormittag holte der Präsident Churchill auf dem Weg zum Konferenzraum ein und sagte: „Winston, ich hoffe, Sie werden über das, was ich tun werde, nicht verärgert sein.“ Der Premierminister stutzte. Erst vor wenigen Tagen hatte er mit Roosevelt in Kairo an Thanksgiving in kleinem Kreis zu Abend gegessen; sie hatten zwei Truthähne tranchiert, Champagner getrunken, während im Hintergrund Feiertagsmusik dudelte, und Kürbispie gegessen. Inmitten der blutigen Gemetzel des Krieges war es ein Abend im Zeichen unvergesslicher Freundschaft gewesen. Deshalb rechnete Churchill, ein Veteran der pragmatischen englischen Politik, nicht mit dem, was nun folgen würde. Wie Roosevelt sich erinnerte, kaute der Premierminister bloß auf seiner Zigarre herum und „grummelte“. Sobald er in den Konferenzsaal kam, fuhr Roosevelt herüber zu Stalin, der von der sowjetischen Delegation umgeben war. Er tat geheimnisvoll, ja vertraulich, aber Stalin zeigte keinerlei Regung. Dann sagte Roosevelt schmunzelnd, wobei er sich eine Hand vor den Mund hielt, als würde er ein Flüstern verbergen: „Winston ist unpässlich heute Morgen. Er ist mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.“ Als der sowjetische Dolmetscher die Worte wiederholte, „huschte ein schwaches Lächeln über Stalins Gesicht“. Sofort folgerte Roosevelt, dass er auf dem richtigen Weg sei. Kaum saß die Gruppe am Tisch, fing er an, Churchill wegen seiner „britischen Wesensart“, mit der Karikatur „John Bull“, wegen „seiner Zigarren, wegen seiner Gewohnheiten“ aufzuziehen. Der Präsident sah, wie Churchill knallrot anlief und finster dreinblickte, und je mehr er sich verfärbte und je mürrischer sein Gesichtsausdruck wurde, desto breiter lächelte Stalin. Schließlich, erinnerte sich Roosevelt, „brach Stalin in ein tiefes, herzliches Gelächter aus, und zum ersten Mal seit drei Tagen sah ich Licht“. Endlich war das Eis gebrochen.

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Teheran

Nach diesem Fortschritt nahm sich ein euphorischer Roosevelt sogar die Freiheit, Stalin offen „Onkel Joe“ zu nennen, und der Sowjetführer war nicht beleidigt. Was Churchill dachte, ist nicht überliefert. Doch es war der amerikanische Botschafter Averell Harriman, ein Bewunderer sowohl Roosevelts als auch der Russen, der die vielleicht aufschlussreichste Bemerkung zu den Vorlieben des Präsidenten beisteuerte: „Er fand immer Vergnügen daran, wenn sich andere Leute unbehaglich fühlten“, schrieb er später.111 Der Gipfel war ein Erfolg. Roosevelt reiste von Teheran aus weiter nach Kairo, Churchill ebenfalls. „Overlord“ war beschlossen; sie hatten die Notwendigkeit einer internationalen Körperschaft zur Friedenssicherung diskutiert; sie hatten das Schicksal der baltischen Staaten und den Status eines Nachkriegsdeutschlands eingehend erörtert; sie hatten über Reparationen von Finnland gesprochen und darüber, die Türken zu überreden, in den Krieg einzutreten; und sie hatten sich über Mitteleuropakarten des US-Außenministeriums gebeugt und hitzig die strittige Angelegenheit der Grenzen Polens und seiner Exilregierung debattiert. Aber es gab noch ein paar unerledigte Dinge, darunter eine von Roosevelts wichtigsten Kriegsentscheidungen, die am 5. Dezember endlich in vollem Umfang die „Operation Overlord“ und die alliierte Landung in der Normandie in die Wege leiten würde: Er bestimmte offiziell den Oberbefehlshaber für die gemeinsame alliierte Invasion. Sein Generalstabschef des Heeres, General George C. Marshall, den der Präsident für die fähigste Figur im Generalstab hielt und der ihn nach Teheran begleitet hatte, wartete nun gespannt. Wie Marshall wusste, deuteten fast alle Anzeichen darauf hin, dass er Oberbefehlshaber würde, und er wollte den Auftrag. Einmal während der Teheraner Konferenz hatte Stalin Marshall sogar persönlich zu seinem bevorstehenden Kommando gratuliert. Doch je mehr Roosevelt darüber nachgedacht hatte, desto mehr hatte es ihn beunruhigt, auf Marshalls diskreten, klugen Rat verzichten zu müssen. Er wollte ihn bei sich in Washington, nicht an der Front, und gelangte zu der Überzeugung, dass es das Risiko nicht wert war. Also rief Roosevelt an einem späten Sonntagvormittag Marshall in sein Zimmer. Nach ein bisschen Smalltalk fragte der Präsident den General schließlich, was er wegen „Overlord“ zu unternehmen gedenke. Der wortkarte Marshall, stets ganz braver Soldat, erwiderte, dass es Sache des Präsidenten sei, eine Entscheidung zu treffen. „Dann wird es Eisenhower sein“, sagte Roosevelt. Um sicherzustellen, dass seine Entscheidung endgültig war, wies der Präsident anschließend Marshall an

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Kapitel 1

mitzuschreiben, während er eine persönliche Nachricht an Stalin diktierte. Der General griff zur Feder und notierte jene Worte, welche die Ernennung eines seiner Untergebenen bekanntgab: „Über die sofortige Ernennung von General Eisenhower zum Oberbefehlshaber von Overlord ist entschieden worden.“ Sobald Marshall den Satz geschrieben hatte, fügte Roosevelt ein Ausrufezeichen hinzu und setzte gelassen seine Unterschrift darunter. Jetzt gäbe es kein Zurück mehr. Marshall schenkte die unterschriebene Originalnotiz später Eisenhower als Andenken, wobei er als Erklärung anfügte: „Sie wurde von mir sehr eilig geschrieben.“112 Dies war der Beginn eines Jahres voll schicksalhafter Entscheidungen. Aber zuerst musste der Präsident, müde, aber zuversichtlich, die Tausende von Kilometern nach Hause zurücklegen. Roosevelt hatte auf der Rückreise einen Zwischenstopp in Neapel einlegen wollen, um die Truppen zu besuchen, aber weil dort noch Kämpfe tobten, brachte man den Präsidenten schließlich von dieser Idee ab, der sich stattdessen für die Inseln Malta und Sizilien entschied. Auf Malta überreichte er den Bewohnern eine Gedenktafel für ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten; auf Sizilien inspizierte er die Truppen, dekorierte Kriegshelden und sprach mit seinem extravaganten, aber in Schwierigkeiten steckenden General George S. Patton, der kürzlich einen Soldaten, der an einer Kriegsneurose litt, geohrfeigt hatte. Anschließend reiste Roosevelt weiter nach Marokko, von wo aus er die Seereise zurück über den Atlantik antrat. Am 17. Dezember kehrte Roosevelt ins Weiße Haus zurück. Er war mehr als einen Monat im Ausland gewesen. An Heiligabend fuhr er in den Norden, wo er sich in Hyde Park in einem Kamingespräch über Teheran an die Nation wenden wollte. Umgeben von Mikrofonen und im gleißenden Licht von ­Jupiterlampen, bemühte sich Roosevelt, das amerikanische Volk auf den abschließenden Vorstoß gegen Deutschland einzustimmen; er sprach von ­einem wahren „Weltkrieg“ und dem „Start eines gewaltigen Angriffs auf Deutschland“. Dann fügte er hinzu: „Wir alle werden uns auf lange Listen von Opfern einstellen müssen – Tote, Verwundete, Vermisste. Genau das bringt Krieg mit sich. Es gibt keinen leichten Weg zum Sieg, und das Ende ist noch nicht in Sicht.“ Den ersten Weihnachtstag verbrachten die Roosevelts damit, Weihnachtssängern zu lauschen und zuzuhören, als der Präsident Charles Dickens’ Klassiker A Christmas Carol vorlas. Zwar hatte sich der Präsident im kalten nörd­

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Teheran

lichen Teil des Bundesstaats New York eine leichte Grippe mit Husten und Gliederschmerzen zugezogen – er bekam schnell hohes Fieber und „wusste nichts mit sich anzufangen“ –, doch nachdem er das erste Mal seit elf Jahren Weihnachten mit seiner Familie in Hyde Park verbrachte, war er entschlossen, jede Minute zu genießen.113 Während also in Hyde Park das Feuer im Kamin prasselte und Eierpunsch, andere Getränke und Törtchen serviert wurden, während die eleganten Hotels und Wohnhäuser des offiziellen Washington mit Kränzen und roten Bändern geschmückt waren, machte ein junger Anwalt im Finanzministerium Überstunden. Er arbeitete an einem Memorandum für seinen Chef, Finanzminister Henry Morgenthau jr., das einen langen und verblüffenden Titel trug: „Report to the Secretary on the Acquiescence of This Government in the Murder of the Jews“ – „Bericht an den Minister über die stillschweigende Einwilligung dieser Regierung in die Ermordung der Juden“. Denn bei all dem Gerede über Schlachtpläne, Imperien und den Nachkriegsfrieden war die systematische Ermordung der Juden ein Thema, über das keiner der „Großen Drei“ in Teheran gesprochen hatte. Der wütende Bericht des jungen Anwalts wurde zu Beginn des neuen Jahres dem Finanzminister übergeben, der ihn am 16. Januar 1944 in abgemilderter Form unter dem Titel „Persönlicher Bericht an den Präsidenten“ Roosevelt überbrachte.114

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Kapitel 2

„Ich möchte immer nur schlafen – zwölf Stunden am Tag“ Schon 1940 hatte ein triumphierender Hitler zu Hermann Göring gesagt: „Der Krieg ist zu Ende.“ Nun, nach dem Teheraner Gipfel und zu Beginn des Jahres 1944, verzeichneten die Nationalsozialisten immer mäßigere Erfolge, und für die Alliierten schien der Weg zum Sieg klar erkennbar zu sein, doch vorüber war der Krieg noch immer keineswegs, und sein Ergebnis war nicht mit Sicherheit abzusehen. Am 3. Januar startete die britische Royal Air Force einen weiteren Großangriff auf Berlin. Diesmal jedoch waren die Schäden in der Stadt minimal, während die RAF 27 Flugzeuge und 168 Besatzungsmitglieder verlor. Die monatliche Verlustrate britischer Flugzeuge lag bei zehn Prozent. Und in Italien, der einzigen aktiven Front im Westen, waren die Alliierten an der scheinbar unüberwindlichen „Gustav“-Linie stecken geblieben. Doch obschon er einräumte: „wir [haben] noch einen sehr langen Weg zurückzulegen“, blickte Franklin D. Roosevelt optimistisch in die Zukunft.1 Getrieben von einer Überzeugung, die zu verstehen der Geschichte selbst heute noch schwerfällt, hatte Roosevelt mitgeholfen, aus der Verzweiflung im Ausland eine Allianz zu schmieden; hatte den Isolationismus im eigenen Land überwunden; in finstersten Tagen einen demokratischen Geist entfacht; und war zum Führer der freien Menschen überall auf der Welt ge­ worden. Hitler mag ihn verhöhnt haben, aber ein empfindsamer Winston Churchill wusste es besser, als er Roosevelt einmal als „den großartigsten Menschen, den [er] je kennengelernt habe“, bezeichnete. Dem pflichtete der legendäre Journalist Edward E. Murrow bei, der berichtete, dass für die Männer, die in diesem Krieg kämpften oder sich für den Kampf rüsteten, „der Name ‚Roosevelt‘ ein Symbol [sei], das Codewort für eine Menge Jungs ­namens ‚Joe‘, die irgendwo da draußen mit Panzertruppen auf dem Weg nach Osten [seien]“.2

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„Ich möchte immer nur schlafen „Ich möchte – zwölf immer Stunden nur schlafen“ am Tag“

Die Landung in Sizilien und Italien Spoleto

I TA L I E N

Winterstellung Nov. 1943 Frontverlauf 8. Okt.

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Winterstellung Jan. 1944

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10. Sept. 12.–14. Sept. 1943

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9. Sept.

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9. Sept. 1943

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11. Juni

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10. Juli 1943

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Adrano Catania 5. Aug. Augusta

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Avola Pachino

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(brit.)

Brit. Flotte aus Malta und 1. Luftlande-Div. von Bizerte

MITTELMEER

8. Brit. Armee

MONTGOMERY 10. Juli 1943

Lampedusa

Alliiertes Hauptquartier von Eisenhower und Alexander

aus Tripolis

IONISCHES MEER

Frontverlauf 2. Aug.

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Pantelleria

aus Nordafrika

Reggio di Calabria Ätna

1. Can.-Korps 51. Div.

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Frontverlauf 9. Sept.

17. Aug.

50. u. 51. Inf.-Div.

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von Egadi Inseln Castellamare Bizerte

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1 Monte Cassino

11.– 18. Mai 1944

US-Streitkräfte Britische Streitkräfte Hauptschlachten

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Kapitel 2

Doch nichts an diesem Krieg sollte leicht sein, nicht am Anfang, nicht in der Mitte und nicht am Ende. In Wirklichkeit waren die englischsprachigen alliierten Verbände, als Murrow diese Worte sprach, noch gar nicht Richtung Osten unterwegs; sie steckten noch mitten in der Invasion Italiens und bahnten sich mühsam einen Weg nach Norden. Der Vormarsch ging brutal langsam vonstatten. Es war die reine Hölle für die Soldaten:3 Dörfer mussten Haus für Haus erobert werden, während die Deutschen sich entlang der Küstenlinie in undurchdringlichen Gebirgsstellungen eingruben und die alliierten Soldaten einen nach dem anderen ins Visier nahmen. Inmitten der wogenden Wolken aus dichtem wabernden Rauch, der Feuerstöße der Mörser und des donnernden Getöses explodierender Granaten witzelte ein Soldat treffend und in Anlehnung an Shakespeares Richard III, dies sei der „Winter des Missvergnügens“. Für die durchnässten und fröstelnden GIs waren der Schlamm, der Dreck, der Schneeregen und die Täler genauso unversöhnliche Feinde wie die Nationalsozialisten. Scheußliche Unwetter verwandelten Straßen aus Lehm in Sturzbäche; und sämtliche Vorstöße der Alliierten blieben stecken, weil sich die Truppen in den deutschen Linien verkeilten. Jeeps kamen in den Sümpfen nicht voran, und Panzer waren praktisch vollkommen nutzlos. Der Nachschub wurde mit Maultieren herangeschafft, die sich manchmal über Leichen hinweg einen Weg suchen mussten, ungefähr so wie im Ersten Weltkrieg an der Westfront. Und wohin die alliierten Soldaten sich auch wandten, stets schlug ihnen beißende Kälte und heulender Wind entgegen. Das Elend der Männer, die ungeschützt auf scharfkantigen Felsvorsprüngen hockten, war in der Tat erbarmungswürdig. Fußbrand war genauso wie Frostbeulen weit verbreitet in den feuchten, kalten Schützenlöchern. Gepeitscht von schweren Unwettern, standen die Soldaten oft bis zu den Oberschenkeln im Regenwasser. Wenn das Schießen für einen Moment nachließ und die Männer die Köpfe heben konnten, sahen sie aasfressende Hunde, die sich an den Gedärmen toter GIs gütlich taten. Nachts hörten sie die Schreie der Verwundeten, die sich wegen des alles niedermähenden Maschinengewehrfeuers nicht rühren konnten und außer Reichweite ihrer Kameraden ihrem Schicksal ausgeliefert waren. Während die Stunden verstrichen, wurden die Schreie schwächer und vereinzelter, aber immer verzweifelter. Die deutschen Verteidigungsstellungen schienen überall und nirgends zu sein, obwohl amerikanische Flugzeuge mit heulenden Motoren pausenlos die deutschen Außenposten und Nachschublinien beharkten. Wie vorauszusehen, sank die Moral, und die alliierten Opferzahlen stiegen. Isoliert in ihren zerklüfteten Schluchten und Hohlwegen, eingeschlossen in

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„Ich möchte immer nur schlafen „Ich möchte – zwölf immer Stunden nur schlafen“ am Tag“ Die Landung in der Normandie am 6. Juni 1944

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G R O S S B R I TA N N I E N

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US-Streitkräfte Britische und kanadische Streitkräfte Befestigter deutscher Stützpunkt

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Barneville Ste-Mère-Eglise 101. US-Luflande-Div. Jersey

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Le Havre Trévières Landekopf am 12. Juni

St-Lô Coutances

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FRANKREICH

Drahtverhauen, umgeben von feindlichen Minen oder gebeutelt vom ständigen Pop! Pop! Pop! des feindlichen Artilleriefeuers, wurden die Männer bis an die Grenzen menschlichen Durchhaltevermögens getrieben. Viele von ihnen brachen unter Kriegsneurosen zusammen, andere vor lauter Erschöpfung, oder sie verloren gänzlich den Verstand. Manche nässten sich spontan ein wegen der unablässigen Anspannung und Belastung. Als die Wochen und Monate sich dahinschleppten, tauften die GIs diesen Teil des Gebiets, das einst die Keimzelle des Römischen Reiches gewesen war, „Purple Heart Valley“, nach der einzigen Verwundetenauszeichnung der amerikanischen Streitkräfte.4 Dennoch wuchs mit dem Herannahen des Frühlings Roosevelts Überzeugung, dass die Alliierten die Pattsituation in Kürze durchbrechen würden. Er hoffte sogar, dass der bevorstehende Fall Roms den Beginn einer sehr viel umfassenderen Operation einläuten würde, der lang erwarteten Invasion über den Kanal, die „Operation Overlord“. Dieser Angriff über den tückischen Ärmelkanal sollte die größte amphibische Invasion in der Geschichte und der entscheidende Schlag des Krieges werden.5 Weitab von der alliierten Gipfelpolitik, waren militärische Planer den größten Teil des Jahres mit den Vorbereitungen auf den D-Day beschäftigt gewesen. Jetzt, wo Dwight D. Eisenhower das Heft in der Hand hielt, würde die Opera-

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Kapitel 2

tion sehr viel konkretere Formen annehmen. Und das war auch dringend notwendig. Die einzige brauchbare westliche Route ins Innere Deutschlands führte durch Frankreich, und das Überraschungsmoment war entscheidend. Hitler wusste, dass die Invasion erfolgen würde, aber er wusste nicht, wo. Noch immer konnten die Deutschen 55 Divisionen ins Feld führen – darunter elf Panzerdivisionen –, während Roosevelt am ersten Tag nur acht eigene Divisionen an Land bringen konnte. Die schiere Größenordnung von „Overlord“ war also erstaunlich und jedes operative Detail entscheidend. Beteiligt sollten anfangs 180 000 GIs sein, die mit mehr als 5000 Schiffen und 1000 Transportflugzeugen befördert wurden, von elf Häfen aufbrechen und an nur fünf Landeköpfen zusammenkommen würden. Alle diese Männer warteten nun atemlos auf das Signal – „Okay, auf geht’s!“ Wesentlich für die Invasion war der Ort, an dem sie stattfand: die Normandie, ein beeindruckender Küstenstrich ohne Häfen, begrenzt von zwei Flüssen und breiten Streifen Ackerland. Mittels Tausender von Aufklärungsflügen über den Küstengewässern hatten die Alliierten sich seit Monaten bemüht, feindliche Bunker und schwere Artillerie auszumachen, während Kleinstunterseeboote vor den französischen Stränden patrouillierten und versuchten, deutsche Verteidigungsstellungen auszukundschaften. Unterdessen hatten Roosevelt und die Alliierten eine raffinierte List ersonnen, um die Deutschen zu verwirren. Sich des Know-hows der amerikanischen Filmindustrie bedienend, kreierte die Spionageabwehr praktisch eine Scheinarmee unter dem Kommando des berühmten Generals George S. Patton. Eine Phantomstreitmacht aus erstaunlich realistischen Attrappen von Panzern, Flugzeugen, Artilleriegeschützen und anderem Kriegsgerät sowie maßstabsgetreu angefertigten Landungsbooten aus Holz und Gummi sollte die Deutschen glauben machen, dass die Alliierten sich zu einem Generalangriff auf die französische Küste im Départment Pas-de-Calais und nicht in der Normandie rüsteten. Sogar ein entsprechender Funkverkehr wurde simuliert, und Meldungen über erfundene sportliche Begegnungen zwischen fiktiven Einheiten wurden abgesetzt, sodass die meisten der Generäle Hitlers tatsächlich von einer bevorstehenden Invasion im Pas-de-Calais überzeugt waren. Währenddessen sammelte sich unbemerkt anderswo im Vereinigten Königreich die echte Invasionsstreitmacht. Es war eine beispiellose militärische Karawane: Zehntausende getarnter Panzer – Schwimmpanzer, Dreschflegelpanzer – sowie Lastwagen, Jeeps, Geschütze, Gleitsegler, Schreibmaschinen, Medikamente, Mustang-Kampflugzeuge und Lokomotiven („Hunderte“) wurden in Erwartung des kommenden

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„Ich möchte immer nur schlafen „Ich möchte – zwölf immer Stunden nur schlafen“ am Tag“

verheerenden Zusammenstoßes still und heimlich über Kilometer in Südengland am Straßenrand aufgestellt. Derweil führten Hundertausende von Männern, aufs Äußerste gespannt und abgeschottet vom Rest der Welt, Giftgasübungen durch, gruben Schützenlöcher, wurden in Demontage und im Durchtrennen von Leitungen ausgebildet und brüteten über detaillierten Karten und Fotografien feindlicher Befestigungsanlagen. Bis Anfang Juni sollte sich ihre Zahl auf fast drei Millionen belaufen. Sie erhielten reichlich vom sogenannten Invasionsgeld, glänzende Drahtscheren und Seitenschneider, Gasmasken, neue Zahnbürsten, frische Zigaretten, Tabletten gegen Seekrankheit, Extrasocken und natürlich Extramunition. Es dürfte niemanden überraschen, dass französische Reiseführer und Kondome besonders begehrt waren. Zur selben Zeit wurden 15 Lazarettschiffe für die Unterbringung von 8000 Ärzten vorbereitet; an Bord genommen wurden 57  000 Liter Blutplasma, 600 000 Dosen Penizillin und 50 000 Kilogramm Sulfonamide. Etwa 124 000 Krankenhausbetten wurden bereitgehalten. In ruhigeren Momenten schlossen die GIs die Augen, bekreuzigten sich und senkten die Köpfe zum Gebet, denn sie wussten, was bevorstand.6 Aber ruhig war es selten. Jede Nacht rumpelten Stunde um Stunde kilometerlange Konvois über die Straßen Südenglands. Und angesichts der endlosen Reihen von Bürogebäuden und Lagerhäusern, der ausgedehnten Unterkünfte und der unzähligen Hafenarbeiter, die Versorgungsgüter und Verpflegung stapelten – 100 000 Päckchen Kaugummi, 12 500 Pfund Kekse, 6200 Pfund Süßigkeiten, Reservereifen ohne Ende, gewaltige Kabeltrommeln und Zehntausende Räder und Holzkisten –, wäre es ein Leichtes gewesen, das militärische Nervenzentrum dieser stetig wachsenden Armada mit einer riesigen Handelsmetropole zu verwechseln. Die Logistik von „Overlord“ war in der Tat atemberaubend. Es war, als planten die Alliierten die gesamte Bevölkerung von Boston, Baltimore und Staten Island – jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, jedes Auto und jeden Lieferwagen – in völliger Dunkelheit über 180 Kilometer bewegte See in lediglich zwölf Stunden überzusetzen. Der Befehlsstand für diesen Großangriff befand sich in einem harmlos aussehenden Wohnwagen unweit der Werft von Portsmouth. In dessen Inneren fielen auf einem schlichten hölzernen Schreibtisch lediglich ein rotes Telefon – dieser Apparat übermittelte verschlüsselte Anrufe an Roosevelt und das Kriegsministerium in Washington – und ein grünes Telefon auf, das eine direkte Verbindung zu Churchill in 10 Downing Street war.7 Im Spätfrühjahr war alles in Bereitschaft. Das Einzige, was jetzt noch ausstand, war der Angriffsbefehl von jenem Mann im Wohnwagen, von General

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Eisenhower. Er, Roosevelt und die Alliierten hatten keinen echten Plan B für den Fall, dass die Invasion scheitern sollte. Wie der General es ausdrückte: „Wir können es uns nicht leisten zu scheitern.“8 „Overlord“ bedeutete daher alles oder nichts. Zur selben Zeit schritt auf der anderen Seite des Ärmelkanals Generalfeldmarschall Erwin Rommel auf und ab, einer von Hitlers gescheitesten und wagemutigsten Generälen, der bereits in Ägypten gegen die Alliierten gekämpft hatte, am Ende aber schlecht weggekommen war. Nun hatte Rommel in Frankreich den uneingeschränkten Oberbefehl inne und war der Ansicht, Deutschlands Chance wäre am größten, wenn es gelänge, die alliierten Streitkräfte an Ort und Stelle zu stoppen – an den Stränden.9 Und genau dazu war er entschlossen. Ein halbes Jahr lang hatten etwa 500 000 Deutsche in Erwartung der Alliierten akribisch massive Bunker und tödliche Hindernisse gebaut. Es war die Elite der Wehrmacht, die fortan jederzeit Rommels Befehle erwartete – es waren jene Männer, die in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, die den Polen dreist einen Schock versetzt hatten, die Norwegen und Belgien überrannt und ein wie vor den Kopf gestoßenes Frankreich ausmanövriert hatten und die, um das Maß voll zu machen, die Jugoslawen und die Griechen überlistet hatten. Welche Zweifel Rommel auch insgeheim hinsichtlich einer alliierten Invasion hegen mochte, er wusste, dass jeder Meter verlustreich vom Feind errungen werden musste. Und er wusste auch – oder hoffte zumindest –, dass selbst seine zweit- und drittklassigen Verbände – ein zusammengewürfelter Haufen, bestehend aus Kindern, alten Männern und „Freiwilligen“ aus Kroatien, Polen, Estland, Lettland, Litauen und von der Krim – mit Fanatismus wettmachen konnten, was ihnen an tatsächlicher Ausbildung fehlte. Außerdem wusste er, dass jede alliierte Verstärkung, jede Granate, jede Dosis Morphium, jeder Druckverband und jede Lebensmittelkonserve erst den Ärmelkanal überqueren musste, um Hitlers „Festung Europa“ zu erreichen. Letztendlich war sich Rommel darüber im Klaren, wie kompliziert amphibische Operationen grundsätzlich waren. Bei solchen Unternehmungen konnte einfach alles schiefgehen. Schon Napoleon war an der Kanalüberquerung kläglich gescheitert, Hitler selbst war es nicht anders ergangen, und als eine große alliierte Kommandostreitmacht im August 1942 entlang der französischen Küste Dieppe angriff, wurde sie von den Deutschen fast vollständig aufgerieben. Seit Wilhelm dem Eroberer im Jahr 1066 war am Ärmelkanal keine militärische Landung mehr erfolgreich gewesen – und im Gegensatz zu den

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Alliierten hatte Wilhelm den umgekehrten Weg genommen. Und Beispiele von anderen Meeren boten dasselbe Bild: Im Ersten Weltkrieg hatten die Briten, behindert durch Wetter und Wasser, bei Gallipoli eine schmähliche Niederlage erlitten, eine Erinnerung, die Churchill noch ein Vierteljahrhundert später verfolgte. Also errichteten Rommels Männer wochenlang in fieberhaftem Tempo ein gewaltiges, durch ein weit verzweigtes Tunnelsystem verbundenes Netz aus Stützpunkten und Verteidigungsanlagen.10 Sie stellten mehr als eine halbe Million Panzersperren in der Brandung auf – „Belgische Tore“ und angespitzte, ineinandergreifende Eisenträger –, welche die Rümpfe der Landungsboote zerfetzen und dadurch die Alliierten zwingen sollten, auf die Ebbe zu warten, wenn das streichende Feuer deutscher Maschinengewehre am mörderischsten und wirkungsvollsten wäre. Sie fluteten raffiniert über Hunderte von Kilometern die Felder der Normandie, um eine natürliche Todeszone zu schaffen, die feindliche Flugzeuge zu Bruchlandungen zwingen würde. Und sie platzierten alle möglichen versteckten Bomben und Sprengfallen, darunter Hundertausende von Landminen, die detonieren sollten, wenn ein Draht aktiviert oder durchtrennt wurde. Dazu kamen Panzerabwehrgräben und unzählige Rollen Stacheldraht, eine endlose Folge schrecklicher Hindernisse, durch das sich die alliierten Truppen zunächst eine Bresche schlagen müssten, bevor sie auch nur in die Nähe der eigentlichen Küstenbefestigungen, Hitlers berühmtem Atlantikwall, kämen. Und natürlich erhob sich überall Beton: vier Meter dicke Stahlbetonmauern; Maschinengewehrnester aus Beton, in denen Männer wachsam Ausschau hielten; und Raketenabschussbasen aus Beton. Unterdessen warteten in der Ferne tödliche deutsche Panzer darauf, ihre Kanonen abzufeuern und die Angreifer ins Meer zurückzuwerfen.11 War dies das nationalsozialistische Gegenstück zur Maginot-Linie? Nur die Zukunft würde es zeigen. Rommel versicherte einem Adjutanten jedenfalls feierlich, dieser Krieg werde an den Stränden gewonnen oder verloren: „Glauben sie mir, Lang, die ersten 24 Stunden der Invasion sind die entscheidenden; von ihnen hängt das Schicksal Deutschlands ab.“ Es werde, prophezeite er mit einem Blick in die Ferne, „für die Alliierten wie für uns […] der längste Tag“.12 Bis dieser längste Tag kam, blieb nichts weiter zu tun als abzuwarten. Also wartete Roosevelt – im Oval Office, im Kartenraum oder wenn er mit dem Auto durch die Straßen der Hauptstadt fuhr. Er wusste, wie eine Nation im Krieg

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aussah, er kannte ihre Geräusche und ihre Wunden. Damit konnte er umgehen. Er wusste, dass es noch „entsetzlich lange“ dauern konnte, bis der Krieg gewonnen war. Auch damit konnte er umgehen. Und er würde mit den Schiffsladungen aus Särgen umgehen können, die, wie er wusste, in Kürze heimkehren würden. Aber während die Alliierten sich anschickten, die wichtigste ­gemeinsame Kriegsanstrengung zu starten, gab es einen Umstand, dem der Präsident ausgeliefert war: Seit seiner Reise nach Teheran lief seine eigene Zeit rapide ab. Während „Overlord“ immer näher rückte, wurde er mehr und mehr zu einem sterbenden Mann.13 Er hätte dies nach außen niemals zugegeben, und genauso unwahrscheinlich war, dass er es jemals sich selbst eingestand. Warum? War es unverantwortliche Gleichgültigkeit, wo Amerika sich gerade auf eine Operation vorbereitete, die das Schicksal Europas entscheiden würde, oder Selbstbetrug? War Roosevelt, der resolute und klarsichtige Führer in Kriegszeiten, einfach nicht bereit, irgendeine persönliche Schwäche oder irgendeine Niederlage zu akzeptieren? Trotz seiner Behinderung war er an der Spitze der alliierten Koalition stets von beeindruckender physischer Präsenz gewesen. Doch plötzlich, in den ersten Monaten des Jahres 1944, als seine Energie und Tatkraft am dringendsten gebraucht wurden, wirkte und verhielt sich der Präsident wie ein ernsthaft kranker Mann. Roosevelt war erst 62, doch er stand bereits drei Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, seit Woodrow Wilson ihn zum Staatssekretär im Marineministerium ernannt hatte. Jetzt, elf Jahre nach Übernahme der Präsidentschaft, bot der Präsident in jeglicher Hinsicht ein Bild der Erschöpfung. Seine Wangen waren eingefallen, und seine Hand zitterte heftig, wenn er nach einer Zigarette griff. Sein Gesicht war kreidebleich, abgesehen von Augenringen, die so dunkel waren, dass sie auf Fotografien wie Hämatome wirkten. In den Morgenstunden war er zu erschöpft, um zu arbeiten, während er sich in den Abendstunden zu krank fühlte, um zu schlafen. Wenn er an seinem wuchtigen Schreibtisch im Oval Office Positionspapiere durchging, hatte er allzu häufig einen leeren Blick, beim Sichten der Post hingen seine Mundwinkel herab, und – kaum zu glauben – beim Diktieren schlief er ein. Als wäre es mit diesem halben Stupor noch nicht genug, wurde er einmal fast ohnmächtig, als er seinen Namen schrieb, und hinterließ auf dem Blatt Papier nichts als verlaufene Tinte und ein zusammenhangloses Gekritzel. Ein andermal stellten seine Secret-Service-Agenten fassungslos fest, dass er aus seinem Rollstuhl gefallen war und hilflos ausge-

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streckt am Boden lag.14 Und immerzu waren da diese Kopfschmerzen und ein chronischer Husten. Einer von Roosevelts politischen Verbündeten gestand nach einem Abendessen im Weißen Haus, er sei bestürzt gewesen, wie „müde und erschöpft“ der Präsident gewirkt habe.15 Robert E. Sherwood, Roosevelts Redenschreiber und seit 1943 Direktor des United States Office of War Information (OWI), des Amtes für Kriegsinformation der US-Regierung, äußerte sich noch unverblümter, indem er die Gesichtszüge des Präsidenten als „fast schon verwüstet“ bezeichnete. „Erschrocken über seine äußere Erscheinung“, machte Sherwood eine Bemerkung darüber, wie viel Gewicht Roosevelt verloren habe und wie „abgemagert“ sein Hals sei. Winston Churchill vertraute seinem eigenen Leibarzt Lord Moran an, dass der Präsident aussehe wie ein „sehr müder Mann“. Erwartungsgemäß gab es Gerüchte. Wie sorgfältig Roosevelt und der Stab des Weißen Hauses auch auf sein Image in der Öffentlichkeit achteten, es wurde doch bekannt, dass er eine Reihe von Verpflichtungen hatte absagen müssen, darunter Pressekonferenzen, was zu Gerede über eine schwere Erkrankung führte. Das Weiße Haus dementierte, Roosevelt habe lediglich „eine Grippe“ – die er seit seiner Reise um die Welt und seinem Gipfeltreffen mit Churchill und Stalin im fernen Teheran auch wirklich hatte –, doch damit war nicht alles gesagt: Dem Präsidenten ging es alles andere als gut. Wie sein Sohn Elliott später schrieb: „Die Grippe wollte einfach nicht loslassen. Er fühlte sich ständig müde.“ Er fügte hinzu: „Ein Ungemach folgte auf das andere – eine chronische Magenverstimmung zwang ihn, darauf zu verzichten, Geschäft und Essen zu verbinden; einmal war er schweißgebadet; ein phlegmatischer Husten quälte seine Lunge.“16 Roosevelt hatte in jenem Winter sehr viel Zeit in Hyde Park verbracht, aber nicht einmal der Aufenthalt dort trug nennenswert zu seiner gesundheitlichen Besserung bei. Schon im Januar wachte der Präsident morgens immer später auf. Am 28. Januar notierte Roosevelts getreuer Berater William Hassett in seinem Tagebuch: „Der Präsident schlief wieder lange“, denn schon am 25. Januar war Roosevelt erst gegen Mittag nach unten gekommen. Bis zur zweiten Märzhälfte, wieder in Hyde Park, baute Roosevelt rasch weiter ab. Jetzt wachte der Präsident schon auf, wenn das erste Grau des Morgenlichts durch die Fenster hereinströmte, aber müde und zittrig. Außerstande zu arbeiten oder sich zu konzentrieren, beschränkte er sich meist auf sein Schlafzimmer und nahm sogar sämtliche Mahlzeiten auf einem Tablett im Bett ein. Am 24. März notierte Hassett: „Der Präsident sah nicht so gut aus

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heute Morgen in seinem Schlafzimmer, auch nicht später, als er eine Presseund Rundfunkkonferenz gab – die Stimme belegt und heiser-krächzend. Diese letzte Erkältung hat ihn ziemlich ausgelaugt.“ Jeden Morgen lauteten Roosevelts ewiggleichen Antworten auf die Frage, wie er sich fühle: „mies“ oder „hundeelend“. Bis zum 26. März war seine Temperatur auf 40 Grad gestiegen. „Chef sieht krank aus, ungesunde Gesichtsfarbe“, notierte Hassett abermals. Als der Präsident lustlos in seinem Essen herumstocherte, ängstigte das seine Tochter Anna schließlich derart, dass sie seinen Arzt, Admiral McIntire, zur Rede stellte, der ihre Besorgnis beiseitewischte und auf die Spätfolgen von Grippe und Bronchitis verwies. Doch Anna wusste es besser und bestand darauf, dass sich ihr Vater im Bethesda Naval Hospital gründlich untersuchen ließ. Widerstrebend regelte McIntire alles Nötige, wobei er die strikte Anweisung gab: nicht ein Wort zum Präsidenten selbst über seinen Zustand. Als Roosevelt am 28. März 1944 für die Fahrt zum Krankenhaus behutsam in seine Limousine gesetzt wurde, murmelte er Hassett einmal mehr zu: „Ich fühle mich hundeelend.“17 Von Motorrädern eskortiert rollte Roosevelts Autokolonne die Wisconsin Avenue hoch zum Bethesda Naval Hospital. Dort hob man den Präsidenten aus seinem Wagen und setzte ihn in einen bereitstehenden Rollstuhl. Augenblicklich trug er eine fröhliche Miene zur Schau, winkte und flachste ausgelassen, als man ihn ins Krankenhaus und den schwach erleuchteten Gang hinunter fuhr, vorbei an einer anschwellenden Menge, die sich eingefunden hatte, um den Anführer der alliierten Armeen zu sehen. Während Roosevelts Leibarzt, ein Hals-, Nasen-, Ohrenspezialist, vor allem ausgesucht worden war, weil Roosevelt an einer chronischen Stirnhöhlenerkrankung litt, über die er bekanntermaßen oft klagte, wurde er hier von Dr. Howard Bruenn empfangen, einem jungen, hoch angesehenen Kardiologen. Bruenn, Korvettenkapitän in der Marinereserve und bekannt für seine strenge, sachliche Art, war beunruhigt über das, was er feststellte. Er vermutete von Anfang an, dass „etwas furchtbar im Argen lag“. Als er das Licht im Behandlungszimmer anknipste, stellte er fest, dass Roosevelts Gesicht „sehr grau“ und „fahl“ war, und er sah, dass seine Lippen und Haut eine „bläuliche Verfärbung“ aufwiesen, was bedeutete, dass der Blutkreislauf seine grundlegendste Funktion nicht erfüllte, nämlich das Gewebe mit Blut zu versorgen. Roosevelt hustete ständig und konnte nicht länger als 35 Sekunden die Luft anhalten.18

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Als Bruenn Herz und Lunge mit einem Stethoskop abhörte, bestätigte das seine Befürchtungen: Während Roosevelt ein- und ausatmete, hörte Bruenn pulmonale Nebengeräusche, ein verdächtiges Rasseln oder Blubbern, was darauf hindeutete, dass sich in der Lunge des Präsidenten Flüssigkeit ansammelte. Was bei Roosevelt eingesetzt hatte, war im wahrsten Sinne des Wortes ein langsamer Prozess des inneren Ertrinkens. Es handelte sich nicht einfach um eine Bronchitis oder die Spätfolgen einer Lungenentzündung, wie McIntire ihm eingeredet hatte. Tatsächlich erkannte Bruenn von Anfang an, wie schwer Roosevelt schon das Atmen fiel; das einfache Umwenden von einer Seite auf die andere löste ein beunruhigendes „Schnaufen“ aus. „Es war schlimmer, als ich befürchtet hatte“, erinnerte sich der Arzt später.19 Die Schwere von Roosevelts Erkrankung trat im Laufe der weiteren Untersuchung noch deutlicher zutage. Eine flüchtige Durchsicht von Roosevelts Krankenunterlagen ergab, dass bei ihm schon im Februar 1941, als er den leichten Herzinfarkt gehabt hatte, ein Blutdruck von 188 zu 105 gemessen worden war. Was danach geschehen war, wusste niemand. Laut Roosevelts Patientenakte hatte McIntire seitdem den Blutdruck des Präsidenten nicht mehr gemessen. In Bruenns Behandlungszimmer betrug er jetzt 186 zu 108. Röntgenuntersuchung und EKG ergaben, dass sein Herz vergrößert und seine Lungengefäße verstopft waren. Und Roosevelts Herzschatten war erheblich vergrößert. Als wäre all dies nicht schon erschreckend genug gewesen, entdeckte Bruenn mit seinem Stethoskop auch ein systolisches Rauschen, ein Hinweis darauf, dass die Mitralklappe des Präsidenten sich nicht richtig schloss. Bruenn stellte rasch seine Diagnose: Franklin Delano Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten, litt an Herzinsuffizienz, Bluthochdruck und einer hypertensiven Herzerkrankung, verschlimmert durch eine akute Bronchitis. Ohne einen erheblichen Eingriff hätte Roosevelt nicht mehr länger als ein Jahr zu leben. Bruenn sollte recht behalten. Getreu McIntires dezidierter Anweisung ließ Bruenn gegenüber dem Patienten nicht ein Wort über seine Befunde verlauten. Roosevelt jedoch legte, todkrank, wie er sich fühlte, ohnehin ein bemerkenswertes Desinteresse an den Tag. Er fügte sich fröhlich in diese Farce und plauderte über Gott und die Welt – seine Standardmethode zur Vermeidung unangenehmer Themen –, erkundigte sich aber niemals nach seiner Gesundheit. Vielmehr bestand er darauf, schon am selben Nachmittag bei einer zuvor bereits angesetzten Pressekonferenz zugegen zu sein, um jegliche öffentliche Besorgnis zu zerstreuen. Er lieferte eine brillante Vorstellung. Sämtliche Befürchtungen wegen einer Lungenentzündung vom Tisch wischend, ließ der Präsident ein Lächeln aufblitzen,

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täuschte einen Pseudohusten vor und klopfte sich auf die Brust, um zu zeigen, dass er gesundheitlich auf der Höhe sei. Während Blitzbirnen platzten, fiel die Presse darauf herein, und sogar die New York Times berichtete: „Teint und Stimme des Präsidenten […] waren besser.“20 Doch das war bloß vorgespielt: Als Eleanor und ihre gemeinsame Tochter Anna ihn später in seinem Arbeitszimmer im Weißen Haus aufsuchten, litt er sichtlich und war selbst zum Sprechen zu müde. Um halb acht Uhr abends lag er bereits im Bett. Unterdessen diktierte Dr. Bruenn, entschlossen, Roosevelt wie jeden anderen Patienten zu behandeln, ein Memorandum, in dem er seine Empfehlungen skizzierte. Ein paar davon waren leicht umzusetzen, etwa eine salzärmere ­Ernährung, ein Programm zur Gewichtsreduzierung, die Einnahme von Digitalis (obwohl die Festsetzung der Dosis etwas kompliziert war, und zu den möglichen Nebenwirkungen Halluzinationen und verschwommene Sicht ­gehörten), die tägliche Einnahme leichter Abführmittel und eine etwas aufgerichtete Schlafposition, um seine nächtliche Atemnot zu lindern. Hatte Roosevelt zuvor bis zu 30 Zigaretten am Tag geraucht, so lautete Bruenns Anweisung nun, diesen Konsum wie auch die Zahl seiner abendlichen Cocktails erheblich zu reduzieren. Doch Bruenns wichtigste Empfehlungen waren heikler, zum einen, weil Roosevelt Präsident der Vereinigten Staaten war, zum anderen, weil es nur noch zwei Monate bis zur alliierten Invasion in Frankreich waren. Er riet Roosevelt dringend zu einer mehrwöchigen strikten Bettruhe bei bester Pflege, wobei jede „Anspannung“ zu vermeiden sei. McIntire, dem unerhörterweise die meisten Erkrankungen des Präsidenten entgangen waren und der sich nach wie vor gegen die Vorstellung wehrte, sein Patient habe irgendein Herzleiden, explodierte beinahe bei dem Vorschlag. „Der Präsident kann sich nicht freinehmen, um sich ins Bett zu legen“, blaffte er. „Wir reden hier vom Präsidenten der Vereinigten Staaten!“21 Also zog er ein Team aus führenden Spezialisten zusammen, um Bruenns Diagnose zu überprüfen. McIntires handverlesene Spezialisten schlugen sich auf seine Seite, aber Bruenn, der überzeugt war, das Leben des Präsidenten sei in Gefahr, weigerte sich, klein beizugeben. Schließlich willigte McIntire ein, Roosevelt durch zwei unabhängige Spezialisten untersuchen zu lassen. Nachdem diese den Präsidenten gesehen hatten, ergriffen sie entschieden Partei für Bruenn. Einer der auf Bruenns Initiative hinzugezogenen Spezialisten, Dr.  Lahey, ließ durchblicken, dass er sich auch um den Magen-Darm-Trakt des Präsidenten sorge. Lahey hinterließ kein konkretes Dokument über den Grund seiner Besorgnis, aber einiges deutet darauf hin, dass er möglicherweise glaubte, ei-

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nen inoperablen und wahrscheinlich bösartigen Tumor in Roosevelts Magen gefunden zu haben. Es handelte sich vielleicht um ein Sekundärkarzinom, das seinen Ursprung in einem bösartigen Muttermal über dem linken Auge des Präsidenten hatte oder in einer Talgzyste am Hinterkopf, die ihm inzwischen entfernt worden war. Aber die unmittelbare Gefahr für Roosevelt ging von seinem Herzen aus. Das Ärzteteam stand mithin vor einer beinahe unüberwindlichen Herausforderung. Der Präsident durfte nicht arbeiten – Arbeit konnte ihn umbringen –, und er konnte unmöglich nicht arbeiten: Das Land brauchte ihn. Was tun? Man einigte sich auf eine abgespeckte Version der Empfehlungen von Dr. ­Bruenn, einschließlich einer maximalen Begrenzung der Anrufe während der Mahlzeiten. Außerdem sollte seine Gesundheit fortan sehr viel häufiger und sorgfältiger überwacht werden. Bruenn erschien nun jeden zweiten Tag vor den Toren des Weißen Hauses, um nach seinem Patienten zu sehen, und nach den ersten zwei Wochen schien die Kur immerhin anzuschlagen. Röntgenbilder zeigten, dass die Lunge frei und die Bronchitis abgeklungen war, wozu wahrscheinlich auch der teilweise Verzicht auf Zigaretten beigetragen hatte. Roosevelt bekam wieder etwas mehr Farbe, und sein Husten hörte auf. Sogar die Größe seines Herzens nahm ab. Der Präsident schlief auch besser und berichtete, dass er sich wohler fühle. Trotzdem war er alles andere als gesund, was McIntire indes nicht davon abhielt, Öffentlichkeit und Presse unverfroren in die Irre zu führen. Am 3. April versicherte er, dem Präsidenten gehe es gut, die Untersuchung habe nichts Gravierendes ergeben und der Präsident brauche jetzt lediglich „etwas Sonnenschein und mehr Bewegung“.22 Doch schon am nächsten Tag stieg Roosevelts Blutdruck auf 226 zu 118, und im Gegensatz zu seinem üblichen Benehmen war der Präsident ungewöhnlich apathisch, ungeduldig und unkonzentriert. Der notorisch optimistische Roosevelt gestand Eleanor sogar, dass auch er beunruhigt sei und vermute, die Ärzte wüssten nicht, wo das Problem liege. Als er unerklärliche Schmerzen im Rektalbereich verspürte, fürchtete er selbst, dass sie von einer bösartigen Krebsgeschwulst herrührten, obwohl die Beschwerden irgendwann wieder abklangen. Aber weiterhin nahm er seine Tabletten, ohne zu fragen, wofür sie waren, und vermied jedes offene Gespräch über seine Erkrankung. Ob er diese Vermeidungsstrategie wählte, weil sie für ihn bei Polio so wunderbar funktioniert hatte, oder ob er sie sich bereits beim Auftreten des letztendlich tödlichen Herzleidens seines Vaters angeeignet hatte, ist unklar. Jedenfalls war sie der Weg, den Roosevelt wählte. Er zog es vor, weiterhin völlig im Dunkeln zu tappen.23

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Allerdings erkannte das Ärzteteam des Präsidenten in diesem Stadium, dass es kaum eine Alternative gab. Krieg hin oder her, Präsident hin oder her, wenn Roosevelt überleben wollte, musste mehr getan werden. Man informierte den Präsidenten, dass er eine beträchtliche Ruhepause brauche, fernab vom Weißen Haus. Für Roosevelt muss es ein qualvoller Augenblick gewesen sein. Eine beträchtliche Ruhepause, fernab vom Weißen Haus? Er hatte entgegen allen Erwartungen Polio überwunden und war zum Präsidenten gewählt worden, hatte der Großen Depression getrotzt, leitete jetzt die bevorstehende D-Day-Invasion und hielt die alliierte Koalition zusammen. Aber plötzlich drohten die verheerenden Auswirkungen seiner schlechten Gesundheit ihn zu erledigen. „Ich sehe keinen Ausweg, und ich bin wütend“, sagte Roosevelt erregt zu Churchill. Würde die gemeinsame alliierte Aktion trotz seines Todes stattfinden? Roosevelt wusste ebenso wie Churchill gut genug, dass Kriege durch unerwartete Ereignisse – den Tod eines kommandierenden Generals im eigenen Feuer, „Strategiefehler“, fehlerhafte Geheimdienstinformationen oder auch durch einen Präsidenten, der plötzlich die Nerven verlor – eine ebenso unerwartete Wende nehmen konnten. Und Roosevelt wusste auch, dass es die Aufgabe großer Befehlshaber war, Wege zu finden, um Hindernisse zu überwinden, nicht, sich von ihnen ausbremsen zu lassen.24 Befehlshaber hatten auch dann noch zu führen, wenn sie beeinträchtigt waren, sie mussten immer weitermachen, und dies galt auch für Roosevelt. Mochten seine Ärzte auch verzweifelt sein, er fühlte sich herausgefordert. Während seiner gesamten Präsidentschaft war schon der bloße Akt des Aufstehens mit fast acht Kilo schweren Metallschienen an den Beinen eine Tortur. Während ihm der Schweiß über das Gesicht lief und er die Zähne zusammenbiss, hatte er oft Mühe zu stehen oder zu gehen, wobei er stockend und krummbeinig seine Hüften vorwärts schwang. Jahrelang versuchte er vergeblich, Treppen allein zu bewältigen, während er vor sich hin murmelte: „Ich muss diese Treppe hinunterkommen, ich muss.“ Aber auch wenn er körperlich geschwächt war, war sein Geist ungebrochen. Als Präsident nötigte er Beobachtern mit seinem Durchhaltevermögen oft Respekt ab. Die Nation, ja die Welt kannte ihn nicht wegen seiner Behinderung, sondern wegen seiner Vitalität: seiner volltönenden Stimme, seines singenden Tonfalls und seiner Sentenzen, seines wallenden Capes und seines berühmten Lächelns. Und vor allem wegen des Umstands, dass er in der Sprache seiner Zeit redete und dachte.

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Dementsprechend nahm er diese Hürde wie jede andere in seinem bisherigen Leben: mit unbändiger Zuversicht. Hatte er der Verzweiflung früher schon energisch die Stirn geboten, so gedachte er es jetzt wieder zu tun. Anfang April bot Winston Churchills guter Freund, der Finanzier und ehemalige Präsidentenberater Bernard Baruch, Präsident Roosevelt sein geräumiges Herrenhaus als abgeschiedenen Rückzugsort an. Es stand auf Hobcaw Barony, einer berühmten Plantage in South Carolina, „zwischen den Wassern“ der Winyah Bay und des Atlantiks. Hier gab es alle möglichen Fischarten und massenhaft wild lebende Tiere, von Wachteln bis zu Füchsen, von Alligatoren bis zu Truthähnen, rauschende Bäche, sich kilometerweit erstreckende herrliche Felder und Salzsümpfe sowie dichte Wälder voller Kiefern und jahrhundertealter, von Louisianamoos bewachsener Eichen. Hier, weit weg von jeder kriegerischen Auseinandersetzung, konnte sich der Präsident erholen. Hobcaw war in der Tat so friedlich, dass Baruch nicht einmal erlaubte, dort Telefonleitungen zu spannen. ­Roosevelts Taschen wurden gepackt und sein langsamer Privatzug bereitgemacht. „Ich möchte immer nur schlafen“, sagte Roosevelt bei seiner Ankunft am Ostersonntag, dem 9. April 1944, „zwölf Stunden am Tag.“ Es sollte ursprünglich eine zweiwöchige Flucht werden. Roosevelt blieb einen ganzen Monat.25 Genau zu der Zeit, als Roosevelt sich auf den Weg nach South Carolina machte und die alliierten Streitkräfte sich für den D-Day rüsteten, arbeitete auch ein besonderer Bereich des NS-Imperiums auf Hochtouren: die Gaskammern von Auschwitz. Diese Gaskammern stellten die letzte schreckliche Bemühung dar, eine noch verbliebene große jüdische Bevölkerungsgruppe in Europa zu vernichten – jedes Kind und jede Mutter, jeden Vater und jeden Großelternteil, jeden, der als untauglich für schwere Arbeit oder für medizinische Experimente oder einfach als „lebensunwert“ erachtet wurde. Diesmal traf es die ungarischen Juden. Ihre Vergasung würde den größten einzelnen Massenmord in der Geschichte der Welt darstellen. Für Hitler bedeutete er die Verwirklichung eines lang gehegten Traums. Auschwitz war seit seinen mittelalterlichen Anfängen eine Grenzstadt gewesen, die Völker und Kulturen, slawische und deutsche, teilte.26 Ihr polnischer Name, Oświęcim, leitet sich ironischerweise aus dem altpolnischen Wort für

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Heiliger ab. Die slawischen Bewohner brachten ihre Kultur und die später folgenden deutschen Siedler ihre Rechtsordnung mit. Am Zusammenfluss von Weichsel und Soła gelegen, entwickelte sich Oświęcim zu einem kleinen Handelszentrum. Im Laufe der Jahrhunderte ging es von polnischen Herrschern über ans Heilige Römische Reich und später dann an die böhmischen Könige von Prag, wodurch Tschechisch zur Amtssprache wurde. Im Jahr 1457 fiel die Stadt an Polen zurück, nachdem sie für 50 000 Silbermark verkauft worden war. Bei der Ersten Polnischen Teilung 1772 wurde Oświęcim von Österreich beansprucht, unter den Habsburgern wurde der Name dann in Auschwitz geändert, und Deutsch wurde zur Amtssprache. Bis zum Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1918 führte der Kaiser von Österreich neben seinen vielen anderen Titeln auch den Titel eines Herzogs von Auschwitz. Obwohl die Einwohner von Oświęcim überwiegend Katholiken waren, gab es dort auch Juden, aber nur ein Häuflein Deutscher. Die Stadtgesetze untersagten es Juden nicht, innerhalb der Mauern zu wohnen und Handel zu treiben, auch wurden sie nicht in Ghettos verbannt, sodass sich nach und nach in der Stadt eine blühende jüdische Gemeinde entwickelte. Juden besaßen Banken und Fabriken, arbeiteten als Ladenbesitzer und Händler, und ihnen gehörte sogar eine beliebte Brennerei. Im Laufe der Zeit wurde Auschwitz ein so wichtiges Zentrum des jüdisch-orthodoxen intellektuellen Lebens und der zionistischen Bewegung, dass manche vom „Oświęcimer Jerusalem“ sprachen. Tatsächlich entsprach der jüdische Bevölkerungsanteil dem katholischen oder übertraf ihn sogar leicht, was sich auch im politischen Leben der Stadt niederschlug: So war der Bürgermeister zwar immer ein Katholik, aber der Posten des stellvertretenden Bürgermeisters ging ausnahmslos an einen Juden. Das erste Lager der Stadt wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert errichtet, doch nur, um die Legionen von Saisonarbeitern unterzubringen. Nach dem Ersten Weltkrieg beherbergte es Flüchtlinge, hauptsächlich Polen, die aus der neu geschaffenen Tschechoslowakei geflohen waren. Die Dinge begannen sich erst zu ändern, als in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg unter den Einwohnern erste Anzeichen von Antisemitismus auftraten. Juden wurde nun verboten, sowohl einen beliebten Badeplatz am Ufer der Soła als auch den Stadtpark zu benutzen. Derweil boykottierten polnische Einwohner stillschweigend jüdische Handwerker, was einige zwang, ihre Werkstätten zu schließen. Aber niemand konnte vorhersagen, was passieren würde, als 1939 Deutschland die polnischen Streitkräfte bezwang, ein großes Gebiet annektierte, darunter auch Auschwitz, und es zu einem Teil des Deutschen Reiches machte.

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Damals, zu Beginn des Jahres 1940, „fiel Himmlers Blick auf Auschwitz“, wie die Historikerin Sybille Steinbacher schreibt.27 Heinrich Himmler, der berüchtigte Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, suchte nach Örtlichkeiten zur Errichtung von Konzentrationslagern für politische Gegner. Das alte Lager der Saisonarbeiter in der Nähe von Auschwitz, das sogenannte „Sachsengängerlager“, kam als einer von drei Orten in die engere Auswahl, obwohl einiges gegen ihn sprach. Die Gebäude und Baracken waren baufällig, das Gelände war sumpfig und malariaverseucht, und die Wasserversorgung war schlecht. Zwei wesentliche Eigenschaften sprachen dennoch für den Standort: Er verfügte bereits über eine gute Verkehrsanbindung, lag er doch an einem Eisenbahnknotenpunkt, und er war leicht vor den neugierigen Blicken der Außenwelt abzuschirmen. So wurde Auschwitz im April 1940 das 70. Konzentrationslager des Reiches, und alles entsprang aus diesem Anfang. Ende 1940 wuchs Auschwitz derart an, dass es sich Dörfer, Wälder, Teiche und landwirtschaftliche Flächen einverleibte, bis sich das offizielle „Interessengebiet des K.L. Auschwitz“ schließlich über ausgedehnte 40 Quadratkilometer erstreckte. Und das war längst nicht genug. Im Herbst 1941 begannen in Birkenau, etwa zwei Kilometer vom „Stammlager“ Auschwitz I entfernt, die Bauarbeiten für ­einen zweiten Lagerbereich. Ursprünglich waren in Auschwitz in erster Linie ­politische Gefangene aus Polen und sowjetische Kriegsgefangene interniert gewesen. Aber im Januar 1942 kündigte Himmler die Ankunft von 150 000 Juden an, ein Drittel von ihnen Frauen. – Sie kamen mit dem Zug, immer. Es spielte sich folgendermaßen ab: Wenn die brechend vollen Züge in Auschwitz einfuhren, herrschte mehrere Augenblicke lang düsteres Schweigen, durchbrochen nur von zartem Geflüster, plötzlichen Schluchzern und traurigen Blicken. Familien drängten sich eng zusammen und begannen leise zu sprechen. Mütter hielten Söhne fest, Töchter klammerten sich an Väter, Kinder ergriffen die Hände beider Eltern, küssten sie immer wieder. Manche Häftlinge waren ungewöhnlich gefasst, lauschten einfach aufmerksam. Andere waren nahe daran durchzudrehen, zählten in panischer Angst und Vorahnung die Sekunden. Wieder andere wähnten sich in einem unheimlichen Traum; und Stille –„jeder menschliche Laut verstummte nun“ – senkte sich über die Viehwaggons voller menschlicher Fracht. Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen, und die Türen flogen auf. Draußen herrschten Chaos, Verwirrung und Entsetzen. Für die Juden war es nach Tagen des Eingesperrtseins in den abgedunkelten Viehwaggons beinahe uner-

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träglich, plötzlich in das grelle Licht der Scheinwerfer längs der Bahngleise zu blinzeln. Ebenso unerträglich war der Gestank, der mit nichts vergleichbar war, was sie jemals gerochen hatten. Zu dem Zeitpunkt konnten sie es noch nicht wissen, aber es war der Geruch von verbranntem Menschenfleisch und brennendem Menschenhaar. Draußen hörten sie alle möglichen Geräusche, laut bellende Hunde und Befehle, die sie nicht verstanden. Sie wurden auf Deutsch herumkommandiert; SS-Männer mit Maschinenpistolen schritten den Bahnsteig auf und ab, und Wachtposten brüllten kurze, abgehackte Befehle: „Macht schnell!“ Wenn die Ungarn, orientierungslos und verängstigt, aus den Viehwaggons stolperten und zaghaft Fragen zu stellen begannen, schrien die Deutschen zurück: „Raus, raus, raus!“ In der Ferne konnten die Häftlinge hohe Schornsteine sehen, die den Horizont beherrschten, und hell-orangefarbene Flammenzungen, die in die Wolken zu schießen schienen. Weil sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, machten sich die Häftlinge an ihrem Gepäck zu schaffen, flüsterten zögernd mit einem Familienmitglied oder riefen einer Freundin oder einem Freund leise etwas zu, als wäre alles normal, doch das war es ganz und gar nicht. Inzwischen gelang es ein paar Lagerhäftlingen mit tief liegenden Augen und ausgemergelten Körpern durch die Reihen der Neuankömmlinge zu schlüpfen, wobei sie alten Männern zuraunten, dass sie sagen müssten, sie seien „jünger“, und kleinen Jungen einschärften zu sagen, sie seien „älter“. Sie baten alle eindringlich abzustreiten, dass sie schwach, krank, ausgehungert oder erschöpft seien. Gleichzeitig stiefelte ein dichter Kordon aus SS-Männern mit eiskalten Blicken unheilverheißend hin und her. Bald fingen sie an, die Juden im Eiltempo zu verhören, in gebrochenem Holländisch, Slowakisch, Tschechisch oder Ungarisch. „Dein Alter?“ – „Gesund?“28 Während die Häftlinge sich schlurfend aufstellten, stieg einer der höheren Offiziere auf den Bahnsteig. Der berüchtigtste von ihnen war Dr.  Josef Mengele. Der Arzt – „ein typischer SS-Offizier, grausame Gesichtszüge, aber nicht ohne Klugheit, Monokel im Auge, einen Taktstock in der Hand“29 – begann in die eine oder andere Richtung zu zeigen: „Links raus!“, „Rechts raus!“, „Links raus!“, „Rechts raus!“. Alle, die gesund oder kräftig waren, mussten sich in einer Reihe aufstellen. Die Übrigen – ausnahmslos die Alten, Mädchen, kleine Kinder und Säuglinge – wurden in einer anderen Reihe aufgestellt. Die eine Reihe bedeutete Arbeitslager. Die andere Reihe bedeutete Gaskammern, wobei die Häftlinge nach Geschlechtern getrennt wurden. Nachdem eine volle Zugladung angekommen war, fragte Mengele einen ­Vater: „Alter, was machst du?“

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„Landarbeit“, erwiderte der Angesprochene zögernd. Er wurde angewiesen, nach rechts zu gehen, bis Mengele ihm hinterherschrie, er solle zurückkommen. „Streck deine Hand aus!“ Mengele schlug ihm heftig mitten ins Gesicht und stieß ihn in die andere Reihe – die Reihe derer, auf welche die Gaskammer wartete. „Schnell!“, rief er. „Schnell!“ Es war das letzte Mal, dass der halbwüchsige Sohn des Mannes seinen Vater sah. Die angeleinten Hunde, Deutsche Schäferhunde und Dobermänner, bellten in einer Tour weiter. Irgendjemand brachte den Mut auf, sich nach seinem Gepäck zu erkundigen. Hier bewies die SS, dass sie ebenso gerissen wie erbarmungslos war. „Gepäck nachher“, kam die barsche Antwort. Mütter wollten stets bei ihren Kindern bleiben. Die SS sagte: „Gut, gut, mit Kind bleiben.“ Ein Ehemann wollte seine Frau begleiten – sie waren in unterschiedlichen Reihen aufgestellt worden –, und die SS bestand ruhig darauf: „Nachher wieder zusammen.“ Nachdem die Selektionen vorgenommen worden waren, wurden diejenigen, die zum Sterben bestimmt waren, unter einem Hagel von Stockschlägen, die unterwegs bei jedem Schritt auf sie niederprasselten, zu einer von fünf Gaskammern geführt.30 Doch sie hatten keine Ahnung, was ihnen bevorstand; die Nationalsozialisten hatten ihre wahren Absichten in jeder Phase sorgfältig kaschiert. Die Häftlinge wurden an einem mit Stacheldraht bespannten Tor vorbeigeführt, zwischen doppelten Reihen von SS-Männern hindurch, die einen gewundenen Pfad säumten, und vorbei an drohenden Wachtürmen, auf denen deutsche Soldaten mit Maschinengewehren postiert waren. Jedes der Krematorien war wie sein eigenes Potemkinsches Dorf, es verfügte über einen separaten Eingang und wurde durch einen hübschen Weidenzaun teilweise verborgen; dazu kamen gepflegte Blumenbeete, die dem ganzen Bau ein beinahe einladendes Aussehen, ja einen Anschein von Ruhe verliehen. Aber die aufwändige Täuschung gelang nie gänzlich. Obwohl ihr Marsch in die Gaskammern von einem Geheimnis umgeben war, lastete zugleich schreckliche Angst auf ihm. Zitternd und verunsichert wurden jeweils 300 bis 400 verängstigte Häftlinge zu einer Treppe getrieben, die hinabführte zur Tür eines Kellers, der als Auskleideraum diente. Die sich schlängelnde Reihe der Häftlinge, die draußen warteten, erstreckte sich über die Länge mehrerer Fußballfelder. Sie wussten, dass etwas nicht in Ordnung war, denn der gesamte Bereich war umringt von bewaffneten SS-Männern und knurrenden Hunden, aber sie blieben aus unterschiedlichen Gründen größtenteils gefasst. Sie waren er-

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schöpft von der langen Reise, eingeschüchtert durch die Umgebung oder einfach starr vor Angst. Vielleicht ließen sie sich auch durch den beruhigenden Anblick eines mit einem roten Kreuz gekennzeichneten Lastwagens täuschen, der in der Nähe parkte. Nur wenige wollten an das Grauen glauben, das sie erwartete. Nur wenige hätten sich vorstellen können, dass von ihnen binnen weniger Stunden nur noch Asche übrig sein würde. In was für einer Welt war ein derart grauenhaftes Schicksal auch möglich? Dennoch kam es vor, dass eine Mutter in Panik geriet und ein Kind hemmungslos zu schreien anfing, woraufhin beide sofort von SS-Wachen hinter das Gebäude geführt wurden. Ein Lagerinsasse, der es schaffte zu überleben, erinnerte sich später, dass er in seiner Baracke lag, die Hände auf die Ohren presste und dennoch hörte, wie draußen Menschen erschossen wurden. Er wusste, dass sich der fallende Schnee bald mit Aschepartikeln aus dem Krematorium vermischen würde. Frauen, Kinder und alte Männer wurden zuerst hineingeschickt, erst danach folgten die gesünderen, kräftigeren Männer. Als sie in den Auskleideraum kamen, sahen sie, dass er das beruhigende Aussehen eines internationalen Informationszentrums hatte. Harmlos wirkende Schilder auf Französisch, Deutsch, Ungarisch und Griechisch wiesen den Neuankömmlingen den Weg zu „Bad“ und „Desinfektionsraum“. Im Auskleideraum selbst gab es sowohl ordentliche Bänke, auf denen Menschen bequem sitzen konnten – in dieser Phase eine willkommene Erholung –, als auch längs der gesamten Wand fein säuberlich nummerierte Kleiderhaken. Um den falschen Schein zu vervollkommnen, wiesen die Nationalsozialisten die Häftlinge an, sich ihre Nummern sorgfältig zu merken, damit sie ihre persönliche Habe nach dem Duschen leichter wiederfänden. Als die Häftlinge sich umschauten, sahen sie außerdem Schilder mit Parolen wie „Durch Reinlichkeit zur Freiheit“, „Eine Laus kann dich töten“ und „Wasch dich“. Um jeden Widerstand zu unterbinden, versprachen die Deutschen den ausgehungerten Häftlingen außerdem eine Mahlzeit unmittelbar nach der „Desinfektion“. Das Täuschungsmanöver dauerte bis zu den allerletzten Momenten. Zu griechischen Juden, die im Vorraum der Gaskammern Anstalten trafen, sich zu entkleiden, sagte SS-Obersturmführer Franz Hößler, wie sich Augenzeugen erinnerten, dies sei kein Erholungsort, sondern ein Arbeitslager, und sie würden hier zum Wohle eines „neuen Europa“ arbeiten, so wie die deutschen Soldaten an der Front ihr Leben für den Sieg des „Dritten Reiches“ riskierten. Man werde sich um ihre Gesundheit kümmern und ihnen gut bezahlte Arbeit bieten. Nach dem Krieg würden sie entsprechend ihrer Verdienste beurteilt und behandelt.

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Sodann forderte Hößler alle in ruhigem Ton auf, sich zu entkleiden, ihre Sachen an die dafür vorgesehenen Haken zu hängen und sich die Nummer zu merken, bevor er seine Ansprache mit den Worten schloss: „Nach dem Baden gibt es für jeden eine Portion Suppe und Kaffee oder Tee. Ja, damit ich es nicht vergesse, halten Sie nach dem Baden alle Lehrbriefe, Diplome, Schulzeugnisse und sonstigen Dokumente bereit, damit wir jeden nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten einsetzen können. Noch etwas: Diabetiker, die keinen Zucker zu sich nehmen dürfen, melden sich nach dem Baden beim diensthabenden Personal.“31 Kinder waren, obwohl die Nationalsozialisten sich nach Kräften bemühten, zwangsläufig verängstigt. Zu bizarr, zu kalt, zu abstoßend war die Szenerie. Viele Mütter, inzwischen beinahe im Hoffnungswahn, beeilten sich, die Ersten in der Reihe zu sein und alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, und sei es nur um ihrer Kinder willen. Dennoch reichte selbst der Anblick vermeintlicher Duschköpfe nicht, um die Zweifel, die sich einschlichen, zu zerstreuen. Ebenso wenig wie der Umstand, dass einige SS-Männer, die tatsächlich weiße Kittel trugen, Seife austeilten und Handtücher ausgaben, bevor sie die schweren Türen zu den Gaskammern zuschlugen. In dieser Phase fingen die Häftlinge normalerweise an, miteinander zu flüstern. Zuletzt wurden die Männer in die Kammern gestoßen. Bis zu 2000 Menschen waren nun dicht an dicht eingezwängt in einem Raum, der eigentlich nur für die Hälfte ausgelegt war. Rund 2000 – etwa so viele Menschen wurden auch bei Picketts Angriff in Gettysburg niedergemetzelt oder fielen in der erbitterten Schlacht von El Alamein in Nordafrika auf alliierter Seite. Und etwas weniger als doppelt so viele starben bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Jetzt hieß es warten, und dieses Warten, das manchmal zwei Stunden dauerte, war die Hölle. Durchbrochen wurde es von kleinen, grausamen Momenten. SS-Männer machten sich oft einen Spaß daraus, die Lampen in der Gaskammer ein- und auszuschalten, eine perverse Form von Folter. Wenn kein Wasser aus den Duschköpfen kam und das Licht ausgeschaltet wurde, fingen die Häftlinge hysterisch zu kreischen an. Jetzt wussten sie, dass sie irgendwie sterben würden. Aber wenn das Licht wieder eingeschaltet wurde, gab es einen Laut, einen gewaltigen kollektiven Seufzer von Menschen, die sich Hoffnungen machten, das Unternehmen sei abgebrochen worden und man gewährte ihnen wie durch ein Wunder eine Gnadenfrist. Doch die gewährte ihnen niemand.

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Die massive luftdichte Tür zur Gaskammer war mit einem eisernen Riegel verschlossen, der sich festschrauben ließ. Mit gnadenloser Effizienz öffneten SSMänner die Dosen mit dem Zyklon B und schütteten die erbsengroßen Kugeln in spezielle Vorrichtungen aus Drahtgittern: „Das Zyklon B drang durch vier besondere Vorrichtungen in den Raum: vermeintlichen Stützpfeilern, die von Metallgittern umschlossen waren und aus dem Dach ragten.“32 Ein SS-Arzt überwachte den gesamten Ablauf; er sah durch ein Guckloch zu, das aus einer Doppelglasscheibe mit einem dicken Metallgitter bestand und stark genug war, um den verzweifelten Schlägen erstickender Häftlinge standzuhalten. Jetzt wurde das Licht zum letzten Mal ausgeschaltet. Niemand konnte etwas sehen. Das Ende nahm mit einer Reihe kleiner Vorgänge seinen Lauf: Nach dem Verriegeln der Tür begann das Gas sich rasch im Raum auszubreiten, nicht von der Decke aus, wie man erwarten würde, sondern vom Boden aufwärts. Kleine Kinder fingen an, ihre Eltern heftig zu umarmen – wenngleich verängstigte Jungen und Mädchen allzu oft von ihren Eltern getrennt worden waren, umherkrochen und verzweifelt nach ihnen riefen. Paare hielten sich mit Herzrasen an den Händen. Dann begann das Schreien. Und ein fürchterliches Ringen. Jene, die dem ausströmenden Gas am nächsten standen, fielen beinahe augenblicklich tot um. Aber viele von den anderen kämpften mit all ihrer Kraft ums Überleben. Sie drängten sich zusammen, sie schrien zusammen, sie schnappten zusammen nach Luft. Und tragischerweise kämpften sie in jenen letzten Minuten oft erbittert gegeneinander. Hunderte von Menschen versuchten sich instinktiv einen Weg zur Tür zu bahnen, da sie wussten, wo sie war. Sie hofften, mit Gewalt nach draußen zu entkommen; dabei wurden jedoch die Schwächeren, die Alten und die Kinder zu Tode getrampelt, und ihre zerquetschten Leiber stapelten sich. Derweil versuchten manche Opfer, höher zu klettern, denn je höher sie kamen, desto mehr Luft gab es. Die Kräftigsten schafften es in jenen letzten grauenvollen Todeskämpfen, „an den vor ihnen Sterbenden hochzukriechen […]“. „Ich beobachtete“, schrieb der Augenzeuge Dr. Miklos Nyiszli später, „daß zuunterst im Leichenberg immer Säuglinge, Kinder und Frauen lagen, ganz oben die kräftigeren Männer.“33 Kinderschädel wurden zerschmettert. Im Dunkeln wild um sich schlagend, wurde Hunderte von Menschen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Es stank nach Erbrochenem und Blut – aus Nasen und Ohren –, und überall waren menschliche Exkremente. Während die Minuten verrannen und die Stahltür sich nicht bewegen wollte, strömte unaufhörlich das Gas. Bald wurde aus den markerschütternden Schreien ein Röcheln und aus dem Todesröcheln ein kaum noch vernehmliches Keu-

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chen. Nach wenigen Minuten waren alle zusammengesunken, und allmählich wich jedes Leben aus den Körpern. Hände bewegten sich nur noch schwach; Füße zuckten kläglich; Blicke brachen. Nach 20 Minuten war alles vorbei. Draußen vor der schweren, verstärkten Tür verfolgten die Aufsicht führenden Ärzte das Töten. Die meisten sahen nicht zu. Hans Münch, einer der Lager­ärzte in Auschwitz und im Krakauer Auschwitzprozess freigesprochen, weil ehemalige Häftlinge zu seinen Gunsten aussagten, erinnerte sich an die Beschaffenheit der Tür: „Doppelwandig. Ich weiß es deswegen, dem, von dem Geräusch, was dann entstand, nicht wahr, wenn die Panik ausbrach, hat man also, wenn man, mußte man also sehr nahe hingehen, um etwas zu hören, das war eben sehr, sehr instruktiv. Das war, war wie ein Summen, ein lautes Summen von einem Bienenkorb ungefähr, so viel hat man nach außen gehört.“34 Wenn alle tot waren, saugte ein Ventilator das Giftgas ab. In den Gaskammern der Krematorien IV und V, wo es keine Entlüftungsanlage gab, wurden einfach die Türen ins Freie geöffnet. Die Leichen lagen auf großen Haufen, bis zu anderthalb Meter hoch oder höher. Nachdem sie fortgeschafft worden waren, wurde der Vorgang innerhalb von Stunden immer wieder aufs Neue wiederholt. Ein kleines Mädchen schrieb auf dem Weg nach Auschwitz: „Wozu ist die Sonne gut in einer Welt ohne Tag? Wozu ist ein Gott gut, wenn es seine einzige Aufgabe ist zu strafen?“ Während dieses Morden im Gange war, blieb jenen Lagerinsassen, die bei der Ankunft an der Rampe nicht sofort ins Gas geschickt worden waren, nichts anderes, als auf ihren eigenen Tod zu warten, der in wenigen Monaten unweigerlich folgen würde. Laute Motoren liefen und Hupen schrillten, um die Schreie und die anderen Laute der Sterbenden zu übertönen, aber die übrigen Häftlinge wussten es besser. Angehörige des sogenannten Sonderkommandos aus überwiegend jüdischen Lagerinsassen wurden dazu gezwungen, die Leichen aus der Gaskammer zu ziehen.35 Ihre Tätigkeit war qualvoll und anstrengend. Meist waren die Körper so „ineinander verkrampft“, dass sie nur schwer zu entwirren waren. Nachdem sie diese auseinandergerissen hatten, mussten die Häftlinge des Sonderkommandos den Toten systematisch die Goldzähne aus dem Zahnfleisch brechen, ihnen Eheringe von den Fingern ziehen und, indem sie über die Leichenberge stiegen,

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jene trennen, die sich im Tod an ihre Liebsten geklammert hatten. Man befahl ihnen sogar, die After und Vaginen der Leichen aufzureißen, um nach verstecktem Schmuck zu suchen. Stumm und mit benommenen Mienen schnitten sie das wallende Haar der toten Frauen ab und sortierten es zunächst zu gewaltigen Haufen, bevor sie es in große Säcke stopften. Schwitzend und betäubt vor Entsetzen schafften die Trupps die Leichen per Lastenaufzug oder auf Loren, bis zu zehn frisch ermordete Menschen auf einmal, in den Verbrennungsraum, wo andere Häftlinge sie auf eiserne Pritschen legten, die mittels Rollwägen vor die Ofenöffnungen geschoben und anschließend mithilfe eines Schiebers in den Ofen befördert wurden.36 Weil die Öfen pausenlos in Betrieb waren, überhitzten sich die Krematorien wiederholt und fielen aus, sodass andauernd Spezialisten aus Berlin geholt wurden, um die Anlagen zu reparieren. Wenn die Krematorien vorübergehend außer Betrieb waren, wurden die Leichen stattdessen in Massengräbern oder Einäscherungsgräben verbrannt. Selbst die Nationalsozialisten empfanden das als ein mühsames, kompliziertes Verfahren. Unter Aufsicht der SS-Wachen mussten die Häftlinge des Sonderkommandos immer wieder große Feuer schüren. Mit schweren Stahlhaken bewegten sie die brennenden Körper. Wenn die Flammen die Leichname erfassten, entstand der süßliche Geruch von brennendem Fleisch – ein Lagerarzt beschrieb ihn einmal euphemistisch als „unangenehmen Rauchgeruch“ –, und der Rauch waberte langsam ins Lager und setzte sich über der Stadt Auschwitz selbst ab. Schauderhafterweise wurden die Toten, wenn sie zu Asche verbrannt waren, niemals begraben, sondern stattdessen weiterverwertet. Die feinen, grauen Überreste wurden nicht nur verwendet, um die Felder der zum Lager gehörenden Gehöfte zu düngen, sondern auch als Füllmaterial für neue Straßen und Gehwege und sogar zur Wärmedämmung der SS-Unterkünfte gegen die eisige polnische Kälte. Alle unverbrannten Knochen, meist die Beckenknochen, wurden zu Pulver zerstampft, während das haufenweise gesammelte Menschenhaar auf den Dächern des Krematoriums getrocknet wurde. Keine Kleinigkeit war dabei zu gering für das Deutsche Reich: In Auschwitz übersahen die Deutschen anscheinend nichts und zogen so ungeheuren Profit aus den Toten. Die Haufen übriggebliebener Brillen – ganz gleich ob die Gläser gesprungen oder unversehrt, ob die Gestelle verbogen oder zerbrochen waren – wurden dem Staat übergeben. Die Haufen Menschenhaar, ob grob oder fein, hell oder dunkel, wurden verwendet, um Matratzen zu stopfen, wurden zu Garn gesponnen oder zu Seilen gedreht. Auch zu Filz für die Kriegsindustrie wurde das Haar verarbeitet. Kunden zahlten hübsche Summen für diese menschlichen Produkte: Die Bremer Woll-Kämmerei bot 50 Pfennig pro Kilo;

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die Filzfabrik Alex Zink in der Nähe von Nürnberg war ein weiterer Abnehmer. Und Düngemittelfirmen bezogen säckeweise Knochenmehl von der SS. Dann war da noch das Gepäck der Toten, das akribisch eingesammelt und sortiert wurde. Auch hier wurde keine Beutequelle übersehen. Da waren Massen an Lebensmitteln und Jacken, Hemden, Socken, Seidenstoffe, Nerze, Mäntel, schwarze Gehröcke, goldbestickte Blusen, alle möglichen Pelze, Gürtel und Unterwäsche; da waren Arzneifläschchen und Hunderttausende Tabletten; und da waren die Karrenladungen Hausrat und kistenweise Stühle, Tische und Teppiche. Dazu kamen Bündel Bargeld in verschiedenen Währungen – Lire, Francs, englische Pfund und Schwarzmarktdollar –, ganz zu schweigen von allerlei Uhren, glitzernden Juwelen und anderem schönen Schmuck bis hin zu Parfümflakons von Chanel, Kölnischwasser und zart duftenden Seifen. Und das war längst nicht alles. Allein die Menge an Schuhen war atemberaubend: Arbeitsschuhe, Straßenschuhe, Soldatenstiefel, alte Schuhe, neue Schuhe, Leder- und Gummistiefel, Gamaschen und Hausschuhe, Schuhe mit durchgelaufenen Sohlen, Schuhe aus glänzendem neuen Leder. Sie waren schwarz und grau und rot, sogar weiß. Da waren Schuhe mit hohen und solche mit flachen Absätzen und Sandaletten. Da waren edle Slipper und holländische Holzpantinen, Pumps, Strandsandalen und hochgeschnürte Damenstiefeletten. Da waren die winzigen Schnallenschuhe so vieler kleiner Kinder, die ihren Müttern entrissen worden waren. Diese persönliche Habe wurde in 30 abgesonderten, von Stacheldraht umgebenen Baracken gehortet. Dieses Magazingelände wurde „Kanada“ genannt, hielten die Lagerinsassen, die sich den Namen ausdachten, Kanada doch für ein sagenhaft reiches Land. Die Habe der Toten wurde Staatseigentum und das deutsche Volk ihr Empfänger. Die Schätze waren gewaltig: Jeden Monat wurden mehr als zehn Tonnen Schmuck, zu Barren eingeschmolzenes Gold und haufenweise Devisen in schwere, verplombte Kisten geladen und nach Berlin versandt. Deutsche Piloten und U-Boot-Besatzungen wurden mit den Armbanduhren der Toten bedacht, desgleichen Berliner, deren Wohnungen und Häuser durch die alliierten Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt worden waren. Volksdeutsche Umsiedler erhielten Unmengen an Hausrat, französischem Parfüm, Toilettenseifen und Textilien; Knirpse in Berlin erhielten das gesammelte Kinderspielzeug. Die berüchtigte Reichsbank bekam kostbare Edelmetalle, die ehrgeizige Reichsjugendführung Geld, der unersättliche deutsche I.G.-Farben-Konzern Gold und Silber. Die Soldaten an der Ostfront erhielten umgearbeitete Pelzmäntel, während Hunderttausende von Herrenhemden und Damenblusen an Städte und Gemeinden innerhalb Deutschlands geschickt wurden. Und was

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passierte mit so seltenen Luxusartikeln wie Diamanten und juwelenbesetzten Armbändern? Die steckte die SS kurzerhand selbst ein. Sogar die Zivilisten der Stadt Auschwitz wollten von den Magazinbeständen profitieren: Sie fragten bei der Lagerverwaltung an, ob die Besitztümer der Toten möglicherweise verbilligt zum Verkauf stünden oder, noch besser, verschenkt würden. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da waren die Deutschen die Zierde eines großen Zeitalters gewesen. Sie hatten in Kunst und Wissenschaft den Ton angegeben und die schöne Literatur geliebt. Sie hatten die schönste Dichtkunst, die großartigste Musik und die beste Philosophie gefördert. Aber nun, während der D-Day näherrückte, waren sie vor allem Spezialisten in einer Disziplin: der Wissenschaft des Mordens.

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Flucht, Teil 1 Der Abstecher nach Hobcaw Barony in South Carolina war beileibe nicht Roosevelts erste Reise in den Süden seit Beginn seiner Amtszeit.1 Während seiner Jahre im Weißen Haus war er regelmäßig nach Warm Springs gefahren, um sich in den Thermalbädern zu kurieren, und nach der Wahl von 1940 hatte Roosevelt zum Vergnügen und zur Entspannung eine zehntägige KaribikKreuzfahrt unternommen. Ursprünglich hatte er auch im Frühjahr 1944 gehofft, wieder in die Karibik aufbrechen zu können, um in Guantánamo Bay auf Kuba zu fischen und sich zu sonnen, doch seine schwache Gesundheit und die Erfordernisse des Krieges machten eine solche Reise unmöglich. Doch Erholung war unerlässlich, und Roosevelt war nicht der Einzige, der ausspannte. Während der Krieg sich weiter hinzog, die Zahl der Toten stieg und die D-DayInvasion bedrohlich näher rückte, suchten auch SS-Offiziere Ruhe und Abgeschiedenheit, um sich zu regenerieren.2 In ihrer Auszeit von der Grausamkeit und dem Morden waren sie begierig nach Vergnügen und Zerstreuung. Und warum hätten sie es auch nicht sein sollen? Endlich erhielten sie eine Erholungspause vom scheußlichen Geschäft des Krieges. Den Halbtoten und Todgeweihten in die angstvoll aufgerissenen Augen zu blicken, ganz gleich wie verhasst ihnen diese Menschen waren, hinterließ auch bei den hartgesottensten Männern Spuren. Und die SS machte das tagtäglich. Auch das schiere Ausmaß ihres Auftrags war belastend, jene entsetzliche Realität, die den Tod so vieler Menschen beinhaltete, Woche für Woche, Tag für Tag, sogar Minute für Minute. Eine Reihe ihrer Kameraden war in diesem Krieg bereits unter dem Druck zusammengebrochen. Doch diese Offiziere waren anders. Versteckt in den dicht bewaldeten Weiten Oberschlesiens, führten sie ihre Operation unter höchster Geheimhaltung durch. Auf den meisten Karten war deren Schauplatz bis vor Kurzem nicht einmal verzeichnet gewesen, und selbst viele ihrer Kameraden wussten nichts von ihrer Arbeit. Die Tage mancher Beteiligter erstreckten sich von vier Uhr morgens bis Mitternacht. Dabei waren sie der fortgesetz-

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ten Gefahr von Luftangriffen in der Nähe, der unerträglichen Kakophonie bellender Hunde und den grellen Scheinwerfern ausgesetzt, mussten ständig mit Aufruhr rechnen und entgingen weder dem grauenhaften Rauch und den grässlichen Gerüchen noch der andauernden Forderung danach, „mehr zu tun“. So sah es aus, das Geschäft ihres ganz speziellen Krieges. Doch allem Anschein nach übernahmen diese Offiziere ihre Aufträge mit einem Eifer, der nur schwer zu begreifen ist. Allem Anschein nach gingen viele von ihnen mit Begeisterung zu Werke, und für nicht wenige war dies der Höhepunkt ihres Lebens, ein intensiver Augenblick, gleichsam gewürzt mit der Erregung großer Ereignisse. Und nun endlich wurden sie für einen Auftrag, den sie gut erledigt hatten, großzügig belohnt. Begleitet wurden sie oft von einer Schar junger, attraktiver Frauen – größtenteils Verwaltungsfachkräfte – und sogar von Babys und Kindern mit fröhlichen Gesichtern. Etwa 30 Kilometer rumpelte ihr Bus vorbei am äußeren Zaun des Lagers, an den bewaldeten Böschungen der Soła, an kleinen Dörfern, deren Katen noch unberührt waren vom Krieg, durch die Berge, bis sie zu einer kleinen hölzernen Brücke kamen. Kurz darauf waren sie an ihrem Ziel angelangt, der „Solahütte“, einem friedlichen Erholungsheim im Alpenstil, das, versteckt in den Bergen, zu einem oberhalb des malerischen Flusses gelegenen Erholungskomplex der SS gehörte. Hier sollten sie einen rund achttägigen Urlaub verbringen, den ein Fotograf in zahlreichen Schnappschüssen für die Nachwelt festhielt.3 Die strahlenden Offiziere und ihr weiblicher Anhang wirken auf diesen Fotos als posierten sie, eingerahmt von Bergen und Tannen, für harmlose Reiseplakate, die eine ganz besondere Sommerfrische illustrieren. Das Einzige, was fehlte, waren Badeanzüge und der Klang von Grammophonmusik. Die Frauen tollten mit makelloser weißer Haut herum, während die Offiziere rauchten und sich unterhielten. Die Atmosphäre war leicht wie auf einem impressionistischen Gemälde von William Glackens, unbeschwert wie Jahrzehnte früher, vor dem Krieg und den Jahren der lähmenden Weltwirtschaftskrise. Gelegentlich, an warmen Nachmittagen, lagen sie träge, mit Decken über den Beinen, in Liegestühlen auf der breiten hölzernen Veranda; ein paar machten ein Nickerchen, einige plauderten, sonnten sich oder nippten an einem Getränk. Andere drückten ihre Kinder an sich oder tobten mit ihren Hunden herum und brachten ihnen bei, „Sitz!“, „Platz!“ und „Steh!“ zu machen. Später zogen die Männer sich zurück, versammelten sich auf zwei langen Bänken um einen Metalltisch,

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wo sie Wein und Bier tranken. Einige krempelten die Ärmel hoch und rauchten. Die einfachen Freuden des Lebens zurückerobernd, machten sie das Beste aus ihrer Zeit hier, genossen die gute Gesellschaft, das gute Essen, die frische Luft und fröhliche Zusammenkünfte. Und der Rest der Welt schien ziemlich weit weg zu sein. Der Krieg? Die drohende Invasion? All das war vergessen. Die Luft war sauber, und wenigstens konnten sie tief durchatmen, gut essen und sich sogar zu Schäferstündchen in pittoresker Umgebung zusammenfinden. Und nicht nur jetzt suchten hier Männer Erholung, sondern das ganze Jahr über. Ab Juni würden weitere Urlauber eintreffen. Dann wäre das Wetter warm, und die Felder wären voller Blumen. Auf den entsprechenden Fotos sieht man junge Frauen in weißen Blusen und adretten schwarzen Röcken, die sich in einer Reihe aufgestellt haben oder auf dem Geländer der Veranda hocken, während ein Begleiter ihnen in kleinen Schalen Blaubeeren serviert und ein anderer sie mit seinem Akkordeon unterhält. Nach dem Verzehr der letzten Beere halten sie ihre Schälchen in gespielter Bestürzung scherzhaft verkehrt herum in die Kamera. Die Männer in ihrer Begleitung waren gutaussehend und gepflegt, und die Frauen machten einen sittsamen und liebreizenden Eindruck. Auffallend ist, dass alle trotz des tobenden Krieges so gefasst, so kultiviert, so gebildet wirken und in allen möglichen Situationen für die Kamera posierten. Sie posierten beim gemeinsamen Singen – Offiziere und junge Frauen, insgesamt etwa hundert, drängen sich auf einem Hügel zusammen, kaum imstande, ihren Leichtsinn zu zügeln. Sie posierten, wenn das Akkordeon erklang und sie zu seinen Melodien tanzten. Sie posierten sommerlich gekleidet in der freien Natur und beim Schießtraining. Sie posierten in ausgelassenen Momenten, etwa wenn ein leichter Regen einsetzte und sie wie irre rannten, um sich irgendwo unterzustellen; oder abends, wenn sich der Tisch, gedeckt mit einem frisch gebügelten Tischtuch, feinem Porzellan und eleganten Weingläsern, unter dem reichlichen Essen bog. Während der Wintersaison posierten sie beim feierlichen Anzünden der Lichter am Weihnachtsbaum. Und später posierten sie sogar bei einer Beerdigung im Schnee, bei der die Särge – auf dem Schlachtfeld allzu oft eine Seltenheit – mit NS-Flaggen drapiert waren.4 Doch es gab eine Zeit, da das Posieren ein Ende hatte, dann nämlich, wenn sie zu ihrer blutigen Arbeit zurückkehrten. Dieses Nebeneinander ist ernüchternd, denn diese scherzenden Urlauber waren allesamt Angehörige der gefürchteten SS. Ihr Arbeitsplatz: Auschwitz. Tatsächlich war sogar ihr Urlaubsort, „Solahütte“, eine Außenstelle des Lagers, erbaut 1942 von einem jüdischen

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Häftlingskommando unter Leitung von Franz Hößler, SS-Obersturmführer und Schutzhaftlagerführer im KZ Auschwitz. Zu den Urlaubern, die es zur Hütte und ihrer Umgebung zog, gehörten auch Josef Mengele, der nichtsahnende Lagerinsassen grässlichen medizinischen Versuchen unterzog, Carl Clauberg, der Sterilisationsexperimente mit Säure durchführte, und Rudolf Höß, Lagerkommandant bis 1943. Die jungen Frauen waren Angehörige des SS-Helferinnenkorps. Letzten Endes bestand auch ihre einzige Funktion in Oświęcim darin, Hitlers „Endlösung“ in die Tat umzusetzen, oder krasser ausgedrückt: Juden zu töten. Der Frühling schien immer spät zu kommen in Auschwitz. Die allgegenwärtige Kälte und die kahle Landschaft waren eine Konstante. Und jene Juden, die noch nicht gestorben waren? Als Zwangsarbeiter war ihr Leben ein unaufhörlicher Schrecken und eine nicht enden wollende seelische Qual. Diejenigen, die von der sofortigen Hinrichtung verschont blieben und stattdessen in den Arbeitslagern landeten, waren oft binnen Wochen erledigt. Danach wurden auch sie in die Gaskammern geschickt. Jene, die blieben, konnten nur hilflos über den Horizont aus Stacheldraht starren. Jeden Morgen wurden sie um vier Uhr in pechschwarzer Dunkelheit geweckt, arbeiteten erschöpfende zwölf Stunden praktisch ohne Pause bei kärglichster Kost und waren dann abends gezwungen, endlose Appelle durchzustehen.5 Wenn endlich die Zeit zum Schlafen kam, manchmal nach Mitternacht, so hatten sie anfangs mit Stroh gefüllte Säcke und später primitive, harte dreistöckige Holzpritschen; gewöhnlich zwängten sich sechs und manchmal sogar acht Häftlinge in einziges Bett, das für drei vorgesehen war. Im Allgemeinen pferchte die SS 700 Häftlinge in Baracken, die für 180 gebaut waren. Es gab keine Heizung, keinen Strom, und als Boden diente nichts als die nackte, sumpfige Erde. Und wenn die Gaskammern die Lagerinsassen nicht schon bald töteten, dann besorgten es Krankheiten: Fleckfieber, Ruhr und Typhus grassierten, aber genauso oft hatte schon eine schlichte Erkältung denselben Effekt. Und die Körper vieler Häftlinge schienen einfach von innen zu verwesen. Offene Wunden nässten an geschwollenen Beinen. Derweil wimmelte es in den Baracken von Ungeziefer, und die ebenso allgegenwärtigen wie mörderischen Läuse waren groß wie Fingernägel und übertrugen Enzephalitis. Der überhand nehmende Unrat und rudimentäre sanitäre Einrichtungen erhöhten gleichfalls die Todesrate.

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Innerhalb des Lagers schien die Welt der Häftlinge in Dunkelheit gehüllt. Während des Winters peitschten Winde und Schnee ihre Baracken, während sie, zwischen Leben und Tod schwebend, fast nackt schliefen, ohne Decken, bei Temperaturen unter null Grad. Ihr einziges Kissen war eine Faust – das heißt, wenn sie überhaupt eine Faust machen konnten. Und Schlaf war schwer zu bekommen – ständig hatten Häftlinge trockene Hustenanfälle, dazu kam das stärkere Gekeuche von den Schwerkranken. Oft wachte ein Häftling auf und stellte fest, dass sein Bettnachbar gestorben war. Zu schwach, um die erschreckend leichten Körper ihrer Gefährten zu bewegen, manchmal sogar zu schwach, um sich selbst zu bewegen, schliefen sie einfach weiter. In der grauenvollen Lebenswelt von Auschwitz konnten die täglichen Gräueltaten der Nationalsozialisten selbst die sanftesten Häftlinge in Monster verwandeln. Ausgemergelte Häftlinge waren bereit, sich bloß wegen einer Brotkruste gegenseitig umzubringen; Söhne wurden gezwungen, ihre Väter für das Krematorium zu selektieren; Mütter wurden gezwungen, ihre Babys zu ersticken. Viele der Häftlinge kamen aus der jüdischen Intelligenz, darunter waren hervorragende Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Buchhalter – angesehene Akademiker aus allen Berufsfeldern. Doch selbst diese ehedem geachteten Persönlichkeiten waren aufgrund ihrer Behandlung durch die Deutschen, der abscheulichen Lebensbedingungen, der willkürlichen Morde und des vorsätzlichen, andauernden Hungerns zu Tieren geworden. Die Nationalsozialisten löschten die Identität jedes Häftlings aus, ein weiteres Mittel, um Juden jegliche noch verbliebene Würde zu rauben. Sobald sie im Lager waren, hatten die Häftlinge keine Namen mehr; stattdessen wurden sie anhand von Nummern identifiziert, die ihnen mit einer Nadel schmerzhaft in den Unterarm tätowiert wurden. Auch die 700 Kinder, die erstaunlicherweise im Lager geboren wurden, erhielten am Gesäß oder am Oberschenkel eine Tätowierung und wurden als „Neuzugänge“ registriert. Zudem mussten die Häftlinge alles an verdreckten Klamotten tragen, was man ihnen gab. Die Sachen mochten viel zu groß oder viel zu klein sein, es spielte keine Rolle. Dasselbe galt für Schuhe. Tatsächlich waren die Kleidungsstücke selbst ein Gesundheitsrisiko; sie wurden nie gewaschen, sondern nur bedampft, und das auch nur alle sechs Wochen, bis sie auseinanderfielen. Die Unterwäsche, wenn die Häftlinge überhaupt welche besaßen, war ekelerregend. Der tägliche Appell war eine Hölle für sich. Für die wenigen Kinder im Lager, die nicht sofort für die Gaskammern selektiert wurden, gab es eine eigene teuflische Variante. Sie wurden gezwungen, stundenlang in Wasser zu stehen, bis ihnen nichts anderes übrigblieb als ihre Blase oder ihren Darm darin zu

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entleeren; anschließend zwang man sie, dieses Wasser zu trinken. Für alle anderen konnte der Appell je nach Laune der SS eine Stunde dauern, drei Stunden, den ganzen Tag oder die ganze Nacht. Während sie warteten, dass ihre Nummer aufgerufen wurde, waren die Häftlinge immer wieder Schikanen, Isolation (in den Stehzellen von Block 11, dem sogenannten Bunker) und mörderischem Drill ausgesetzt. Stundenlang stramm zu stehen ist schon für einen gesunden Menschen schwer genug, für die Schwachen und Gedemütigten war es fast unmöglich. Einigen knickten die Knie ein, andere kippten um, manche konnten einfach nicht gerade stehen. Sie wurden von der SS brutal geschlagen oder, während sie halb nackt dastanden, eimerweise mit eiskaltem Wasser übergossen. Die Grausamkeiten hörten niemals auf. Kein Vergehen war zu banal, um bestraft zu werden. Ein schlampig gesäuberter Essnapf konnte zu Einzelhaft bei nur ein paar Bissen Brot und verschmutztem Wasser führen. Ein fehlender Knopf reichte, um einen Häftling in den winzigen Stehbunker, eine Art Telefonzelle ohne Fenster, zu stecken, wo er gezwungen war, barfuß auf dem kalten Stein zu stehen. Dreckige Fingernägel wurden durch Schläge mit einem Bambusrohr bestraft. Wer die Mütze nicht abnahm, wenn die SS vorbeiging, handelte sich oft 50 Hiebe mit einer Peitsche, der gefürchteten „Katze“, ein.6 Und eine mürrische Miene oder Grimasse genügte, um eine aus dem Mittelalter stammende Folter nach sich zu ziehen: das Pfahlhängen mit auf den Rücken gebundenen, hochgezogenen Armen. Der Tod war oft die Folge. Bei einem einzigen, schier endlosen Appell im Jahr 1940 starben 84 Häftlinge vor Entkräftung und an Prügeln. Häufig ließ die Lagerleitung die Körper toter Häftlinge als Exempel auf dem Appellplatz liegen. Dennoch gab es Häftlinge, welche die ersten paar Wochen im Lager überlebten. Sie klammerten sich oft an die Vorstellung, ihre Lebensbedingungen könnten sich irgendwie verbessern, die Prügel aufhören und ein Mindestmaß an Normalität würde wiederhergestellt. Es sollte nicht sein. Mit grausamer Orwell’scher Logik stellte die SS ein Häftlingsorchester zusammen – ihm gehörten viele der besten Musiker aus den Hauptstädten Europas und sogar der spätere Leiter der Warschauer Philharmonie, der polnische Komponist und Dirigent Adam Kopycinski, an –, das musizierte, während andere Häftlinge sich in der kalten frühmorgendlichen Dunkelheit zu ihren Arbeitskommandos schleppten. Viele waren faktisch nichts anderes als Todeskommandos: Holzhof, Kiesgrube und Bauhof sorgten beinahe täglich für enorme Verluste. Die Unterernährung war entsetzlich. Zum „Frühstück“, wenn man es so nennen konnte, bekamen die Häftlinge ungesüßten Kaffee-Ersatz oder etwas,

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das Kräutertee ähnelte. Zum Mittagessen gab es eine dünne, wässrige Suppe, die winzige Kartoffel- und Steckrübenstücke enthalten konnte, oder Hirsegrütze. Zum Abendbrot wurden ein paar Gramm altes schimmeliges Brot an die Häftlinge ausgegeben, und damit mussten sie bis zum Morgen durchhalten. Alles in allem waren sie gezwungen, von wenigen hundert Kalorien am Tag zu leben. So starben sie schnell, und dennoch stockte die Arbeit nie, weil täglich neue Transporte mit Häftlingen eintrafen, welche die SS ohne Unterlass mit den Worten antrieb: „An die Arbeit, ihr Judenhunde!“ Das Leben im Lager war in jeder Hinsicht brutal und elend. Selbst die Benutzung der Toilette war riskant. Viele Häftlinge konnten sich ungeachtet der Witterung nur in Außenklos erleichtern. Andere mussten sich in später errichteten Baracken eine einzige Latrine mit etwa 30 oder mehr Lagerinsassen teilen. Viele der Häftlinge litten unter Durchfall, sodass sich lange Schlangen bildeten und sie endlos warten mussten, oft stundenlang. Die SS schoss sofort, wenn sie sah, dass sich jemand woanders als auf der Latrine erleichterte. Wer die primitiven Löcher nicht rechtzeitig erreichen konnte, wurde erschossen, und seine Leiche blieb im Kot und Urin liegen. Der Gestank war zum Ersticken. Die widerlichen Körpergerüche, die an den lebenden Gefangenen hafteten, waren es ebenfalls. So schrecklich war die Situation, dass viele Häftlinge versuchten, ihrem Leben ein Ende zu setzen, indem sie sich gegen den elektrischen Stacheldraht des Lagerzauns warfen. Und diejenigen, die durchhielten, selbst jene, die zu den Zähesten und Kräftigsten gehört hatten, magerten rasch zu lebenden Skeletten ab, wahnsinnig vor Hunger und kaum mehr lebensfähig. Ihre Zähne faulten und fielen aus. Ihre Haare und Nägel wollten nicht mehr wachsen. Ihre Augen wurden zu großen, eingesunkenen Höhlen in fleischlosen Gesichtern. Wenn der Tag kam, an dem sie nicht mehr laufen konnten, versuchten sie zu kriechen; wenn sie nicht mehr kriechen konnten, versuchten sie, sich auf ihre Ellenbogen zu stützen; und wenn sie dazu nicht mehr imstande waren, richteten sie sich mit angstvollem Blick auf, stumm und gemieden von den anderen Häftlingen, kauten an weggeworfenen Kartoffelschalen, bis sie einfach immer schwächer wurden. Niemand im Lager bildete sich ein, davonzukommen, es ging allenfalls darum, ein bisschen länger zu leben. „So war die besondere Situation in Auschwitz“, wie einer der Lagerärzte, Hans Münch, es ausdrückte.7

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Auschwitz war tatsächlich anders als andere nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager. Innerhalb eines Gewirrs aus Stacheldrahtzäunen erstreckten sich Hunderte einstöckiger Gebäude, ein Staat im Staate, ein fein abgestimmter Apparat, erschaffen für einen einzigen Mann, Adolf Hitler. Seit den scheinbar harmlosen Anfängen als Arbeitslager im Jahr 1939 war Auschwitz eine Institution mit den „Muskeln“ eines absoluten Despoten und dem „Herzen“ eines Monsters geworden. Eigentlich waren sein Kommandant und die SS gegenüber Berlin rechenschaftspflichtig, aber in Wahrheit wurden sie zu unabhängigen Aufsehern über den Tod. Theoretisch waren ihre nominellen Herren Hitler und sein berüchtigter innerer Kreis – fanatische Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Adolf Eichmann und früher Reinhard Heydrich –, aber in der Praxis legten die Verwalter von Auschwitz größtenteils niemandem Rechenschaft ab. Es wurde zum schlimmsten Tötungszentrum, das die Welt jemals gesehen hatte. Mit unbeirrter Hemmungslosigkeit beschlagnahmten sie dort öffentliches Eigentum. Sie hatten die Kontrolle über ihre eigenen Finanzmittel und konnten praktisch jeden Beamten in ihrem Zuständigkeitsbereich suspendieren. Alles, was auch nur entfernt einem ordentlichen Gerichtsverfahren oder internationalem Recht glich, erachteten sie für ein bloßes Ärgernis und verzichteten großzügig darauf. Und fast völlig im Geheimen agierend, entschieden sie mit einem Fingerschnipsen oder einem Zwinkern über das Schicksal von fast zwei Millionen unschuldigen Menschen. Selbst als das Deutsche Reich 1944 extrem unter Druck geriet, selbst als Hitlers Gesundheit sich verschlechterte und die Intrigen zahlreicher verärgerter Splittergruppen und Fraktionen im NS-Imperium stark zunahmen, geriet Auschwitz niemals ins Wanken. Bis zum Sturz der Nationalsozialisten war es scheinbar allmächtig. Im Jahr 1944 war Auschwitz weit über das einzelne Vernichtungslager, das bis zu diesem Zeitpunkt Auschwitz II oder Birkenau hieß, hinausgewachsen. Es war inzwischen ein ganzes Netzwerk des Todes, des krankhaften Experimentierens und der Sklavenarbeit. So gab es Auschwitz I, das Stammlager, und außerdem die unter dem Namen Auschwitz III zusammengefassten Nebenlager inklusive Monowitz mit dem Buna-Werk zur Produktion von synthetischem Kautschuk. Am Ende entstand ein ehrgeiziger Komplex aus etwa 40 mit Auschwitz verbundenen Neben- und Außenlagern. In diesen Lagern arbeiteten die SS und die deutsche Privatwirtschaft mit eiskalter, skrupelloser Effizienz Hand in Hand. Angelockt von der billigen Zwangsarbeit – bemerkenswerterweise stellte die SS den Privatfirmen jeden Arbeiter in Rechnung, gewährte staatlichen Unternehmen aber Preisnachlässe –, profitierten binnen Kurzem

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eine Reihe von Branchen vom ausgedehnten Auschwitz-System: Da waren Konsumgüterproduzenten, Chemikalienhersteller und Metallerzeuger. Da war die beim Konzentrationslager Auschwitz III betriebene Fabrik der I.G. Farben zur Herstellung von Treibstoff aus Steinkohle und von synthetischem Kautschuk (die I.G. Farben hielt auch das Patent auf das in den Gaskammern verwendete Zyklon B). Und da waren die berühmte Friedrich Krupp AG, die Siemens-Schuckert-Werke, die Schlesischen Schuhwerke, die Schlesische Feinweberei AG, die Erdölraffinerie Trzebinia und die Reichsbahn. Zu ihnen gesellten sich die von der SS betriebenen Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH, die Deutsche Lebensmittel GmbH, die Deutsche Ausrüstungswerke GmbH und die Zementfabrik AG Golleschau sowie verschiedene Kohlegruben. Es gab sogar eine Fisch- und Geflügelzucht (Harmense) und ein landwirtschaftliches Gut der SS. Aber für die Häftlinge waren diese Unternehmen mehr oder weniger austauschbar. Überall erwartete sie derselbe Hunger, dieselbe harte Arbeit und dieselbe rücksichtslose Ausbeutung. Das Leben der gewöhnlichen Deutschen im Lager oder in der nahe gelegenen Stadt blieb von dem Massenmord auf erschreckende Weise weitestgehend unberührt. Mit einem eigentümlichen Pioniergeist, vergleichbar dem der Amerikaner, die im 19. Jahrhundert gen Westen zogen, trafen deutsche Siedler aus allen Teilen des Altreiches in Auschwitz und Umgebung ein: aus Hamburg, Köln, Münster, Magdeburg, München und sogar Wien. Diese reichsdeutschen Neubürger waren von einem lebhaften Glauben an ihre eigene Zukunft und von dem Gefühl erfüllt, es sei ihre Pflicht, dem rückständigen slawischen Osten die aufgeklärte deutsche Kultur zu bringen. Sie kamen mit freudigen Herzen – oder heuchelten es –, um Hitlers koloniale Vision zu verwirklichen und eine neue Gesellschaft aufzubauen, eine, die nicht bloß auf Geld, Status und Namen beruhe, sondern auf Mut und Charakterfestigkeit. Während ausgemergelte, verängstigte Juden in die Gaskammern schlurften oder Insekten aßen, um ihren Hunger zu lindern, oder mitansahen, wie ihre Liebsten sich auf den Wink eines SS-Mannes hin zum Sterben anschickten, versammelten sich Angehörige der Lager-SS abends im „Deutschen Haus“, ­einem turbulenten Lokal direkt gegenüber vom Bahnhof Auschwitz. Auf der einen Straßenseite beaufsichtigten Mengele und sein medizinisches Personal den Selektionsprozess, auf der anderen Seite tranken SS-Männer dunkles Bier, schliefen in einem angrenzenden Hotel mit willigen jungen Frauen und erzählten sich bis Mitternacht Witze. Trunkenheit war an der Tagesordnung. In der Tat scheute die NS-Verwaltung scheinbar keine Kosten, um der „tüchtigen“ SS Ablenkung, Amüsement und Zerstreuung zu bieten. Auch im

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Lager selbst kamen die SS-Männer zum gemeinsamen Singen, zu musikalischen Darbietungen und allen möglichen Belustigungen zusammen (in der Weihnachtszeit wurden Juden in einem Chor gezwungen, „Stille Nacht“ zu singen). Das Lager besaß seinen eigenen Konzertflügel, und Schauspiel-Ensembles aus Deutschland reisten regelmäßig in den Osten, um die SS zu unterhalten. Auschwitz verfügte auch über ein eigenes Theater, das seichte Stücke brachte, etwa sogenannte „Diebeskomödien“ oder frivole Schwänke wie Gestörte Hochzeitsnacht und Heimliche Brautfahrt, aber auch Varieté-Abende, die unter dem Motto „Humorvoller Angriff “ für brüllende Heiterkeit sorgten. Auch die Hochkultur kam nicht zu kurz, wenn etwa das Staatstheater Dresden ein Programm mit dem Titel „Goethe einst und jetzt“ darbot. Und wie um die langen Schatten der Gaskammern zu verbannen, ließen die Nationalsozialisten zur „Verschönerung“ des Lagers Gartengestalter, Landschaftsarchitekten und Botaniker kommen, darunter ein angesehener Professor für Landschafts- und Gartengestaltung von der landwirtschaftlichen Hochschule Berlin. An Silvester 1943, nur wenige Wochen bevor eine Gruppe ungarischer Juden nach Auschwitz deportiert wurde, feierten deutsche Bewohner der Stadt ein rauschendes Fest im Gasthaus „Ratshof “ am Marktplatz.8 Aus Berlin hatte man Tanzkapellen engagiert und aus Österreich einen berühmten Conférencier. Das Festmahl bestand aus einer Abfolge von Delikatessen – Gänseleber und Ochsenschwanzsuppe, Karpfen blau in Aspik, Hasenbraten und Biskuitrolle, Sekt und Pfannkuchen. Die ausgelassene Lustbarkeit zog sich bis tief in die Nacht, woraufhin drei Sorten Dessert, begleitet von Heringssalat und Kaffee, serviert wurden. Und als die Musik aufhörte, unterhielt ein vom Lager gestellter Komiker die Gäste. Gab es in Auschwitz jemals irgendein Gefühl der Scham? Oder Gewissensbisse unter den Nationalsozialisten? Oder einfachen Abscheu? Nein. Und die Nationalsozialisten waren weder glücklose Niemande noch lediglich kleine Rädchen in einer riesigen Bürokratie des Todes. In Auschwitz war der Blutdurst niemals gestillt. Mit eiskalter Entschlossenheit beklagten sich die nationalsozialistischen Mörder sogar über Schlupflöcher, welche die Deportation einiger Juden nach Auschwitz verhinderten. Im Gegensatz dazu erhoben selbst auf dem Höhepunkt der europäischen und amerikanischen Sklaverei einige der wortgewaltigsten zeitgenössischen Denker – wie etwa der junge britische Premierminister William Pitt oder die Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe, deren Buch Onkel Toms Hütte zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs beitrug –

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ihre Stimmen immer lauter und wütender zur Verteidigung der Menschlichkeit. Und neben all jenen, die von Sklavenarbeit profitieren wollten, gab es auch einige, wie den Töpfermeister Josiah Wedgwood, der 1787 ein berühmtes Medaillon schuf, das im Relief einen knienden Schwarzen in Ketten zeigt, der demonstrativ fragt: „Bin ich kein Mensch und Bruder?“9 Fast nichts dergleichen fand in Auschwitz, in der umfassenderen deutschen Verwaltung oder in der deutschen Bevölkerung statt. Stattdessen kehrten die Deutschen das berühmte Märchen von Hans Christian Andersen um – nichts sang hier in den Flammen, sondern alles verstummte für immer, kein Wesen tanzte zur Sonne, und die Kinder hier wussten viel zu viel. In Hitlers manichäischem Weltbild sollte der Konflikt zwischen Gut und Böse im Kampf zwischen der arischen Rasse und den Juden seinen Höhepunkt erreichen.10 Was auch immer auf den Schlachtfeldern geschah, im Kampf um die Ausrottung des europäischen Judentums durfte es ihm zufolge kein Erbarmen geben. „Mitgefühl mit den Juden“, sagte Hitler einmal, sei „ganz und gar nicht am Platze.“11 Derselben Logik folgend würde Adolf Eichmann eines Tages bereuen, dass die Nationalsozialisten „nicht mehr“ getan hatten. Folglich würde Heinrich Himmler damit prahlen, dass die SS beim Massenmord an den Juden „moralisch anständig“ geblieben sei, und beklagen, dass dieses „ruhmreiche Kapitel“ der Vernichtung nie geschrieben würde. Aber während die riesige alliierte Armada sich in Großbritannien für die D-Day-Invasion sammelte und Präsident Roosevelt sich erholte, war ein einzelner Insasse in Auschwitz entschlossen, dafür zu sorgen, dass seine Geschichte aufgeschrieben und von der Welt gelesen würde. Er war entschlossen, Roosevelt warnend auf das drohende Massaker an den ungarischen Juden hinzuweisen und die Kräfte der Rettung und des Aufruhrs zu mobilisieren. Und er war entschlossen, etwas zu tun, was niemand zuvor vollbracht hatte: aus Auschwitz zu fliehen. Auf den ersten Blick schien kein Mann weniger geeignet, die Absichten der Nationalsozialisten zu durchkreuzen oder das Schicksal der verbleibenden Juden Europas auf seine Schultern zu laden, als Rudolf Vrba.12 Mit seinen 19 Jahren eher ein naiver Jüngling als ein Mann, hatte er jedoch sicher mehr Erfahrungen gesammelt als andere bis ins hohe Alter und mehr Leid gesehen, als ein Mensch auf Erden ertragen kann. Er wurde 1924 als Walter Rosenberg in Topolčany in der Slowakei geboren. 1944 änderte er seinen Namen in den eleganteren und weniger semitisch klingenden Rudolf Vrba, und seine Freunde

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nannten ihn fortan liebevoll Rudi. Er kam aus bürgerlichen Verhältnissen: Seinem Vater gehörte ein Sägewerk, seine Mutter war Schneiderin und Hausfrau und ziemlich stolz auf ihre Kochkünste. Sie neckte ihn gern, und er neckte gern zurück. Körperlich war er eindrucksvoll: Auffallend attraktiv, mit einer pechschwarzen Mähne, einem breiten Kreuz und einer schlanken Figur. Buschige Augenbrauen umrahmten seine lebhaften dunklen Augen, und sein Gesicht prägte ein markantes Kinn. Er war zugleich empfindsam und berechnend, eigensinnig und weichherzig und nach Aussagen anderer „ungestüm“ und „impulsiv“. Und seit seinem 17. Lebensjahr befand er sich entweder auf der Flucht oder in einem Vernichtungslager. Seine Schulbildung war überschaubar, nachdem er aufgrund der antijüdischen Gesetze in der Slowakei, die sich an den Nürnberger Gesetzen orientierten, mit 15 Jahren das Gymnasium hatte verlassen müssen. Aber was das Lernen und eigentlich auch alles andere betraf, verlor er nie die Hoffnung. Statt aufzugeben, fand er Arbeit als ungelernter Arbeiter und brachte sich selbst Russisch und Englisch bei. Auch Deutsch sprach er fließend und irgendwann auch Polnisch und Ungarisch. In den schlimmsten Zeiten – und die machten im Grunde seine ganze späte Jugend aus – bewahrte er sich irgendwie stets sein ansteckendes Grinsen und seine einnehmende Art. Beide sollten ihm noch gute Dienste leisten. Nachdem den Juden die Schule versagt worden war, kamen bald weitere schleichende Einschränkungen. Zuerst durften Juden nicht mehr umziehen, nur noch in bestimmten Orten leben und selbst dort nur in bestimmten Vierteln. Dann wurde die Reisefreiheit beschnitten. Ghettos entstanden plötzlich, und Juden mussten einen gelben Davidstern auf ihrer Kleidung tragen.13 Dann kamen die Deportationsgesetze; den Juden in der Slowakei wurde mitgeteilt, dass sie „in eine Art Reservat in Polen umgesiedelt“ würden, „wo man [ihnen] beibringen würde, zu arbeiten und eigene Gemeinschaften aufzubauen“.14 Und als die Nationalsozialisten sein Land noch stärker in die Zange nahmen, war Vrba entschlossen, sich in die Freiheit durchzuschlagen. Im März 1942, während noch Schnee fiel, riss er sich den Davidstern von seiner Kleidung, stopfte sich 200 Kronen in die Tasche, sprang in ein Taxi, das von einem Bekannten seines Vaters gefahren wurde, und machte sich nicht, wie so viele andere, in Richtung Osten auf, sondern wagemutig gen Westen, in Richtung Großbritannien, wo er sich der tschechoslowakischen Exilarmee anschließen wollte. Kurz vor Tagesanbruch überquerte er die Grenze nach Ungarn und begab sich zum Haus eines Schulfreundes. Nach vier Stunden setzt er seine Reise fort: Er hatte versucht, sich einen glaubwürdigen Anschein als Nichtjude zu geben, und trug

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nun einen Straßenanzug sowie unter dem Arm die örtliche Faschistenzeitung. Mit einer Fahrkarte zweiter Klasse war er in einen Schnellzug nach Budapest gestiegen. Doch je näher er der Freiheit kam, in desto größere Gefahr brachte er sich. Nachdem er in Budapest beinahe von einer zionistischen Organisation der Polizei übergeben worden war (ironischerweise erhielt er mehr Hilfe von einem pragmatischen Faschisten, dessen Namen ihm die Familie seines Schulkameraden genannt hatte), versuchte Vrba als Arier in die Slowakei zurückzukehren. Stattdessen wurde er von ungarischen Grenzposten aufgegriffen, als Spion verdächtigt, brutal verhört und zur ungarisch-slowakischen Grenze gebracht, wo slowakische Grenzer ihn fanden, als „jüdische[n] Mistkerl“ verhöhnten und in das Durchgangslager Nováky steckten.15 Dort lernte er schnell den Kodex eines Konzentrationslagers: Bestechung, Gier, Betrug. Irgendwie entkam er nach ein paar Wochen. Er wanderte verzweifelt durch einen dichten Wald und machte sich wieder auf den Weg in seine Geburtsstadt, wo er mehrere Tage blieb, bis er erneut geschnappt wurde. Diesmal wurde er der SS übergeben und in ein gefürchtetes Vernichtungslager geschickt, LublinMajdanek. In Majdanek sah er endlose Reihen hässlicher Baracken, bedrohliche Wachtürme und Starkstrom-Stacheldraht. Und er sah zahllose Menschen aus seiner Heimatstadt: Bibliothekare und Lehrer, Werkstattbetreiber und Ladenbesitzer, alle in zerlumpter gestreifter Häftlingskleidung, alle mit kahlgeschorenen Köpfen, alle zur Ermordung vorgesehen. Dann begann das Schießen. Während aus Lautsprechern Tanzmusik oder Soldatenlieder dudelten, führte die SS Männer und Frauen in getrennten Reihen an die Ränder von Gräben, bevor sie sie mit Maschinengewehren niedermähten. Vrba sah all das entgeistert mit an. Er sah manche, die mit offenen Augen starben, erstarrt in einem Ausdruck unfassbarer Qual. Er sah manche, die wegzukriechen versuchten, nachdem sie nur angeschossen worden waren. Und er sah manche, die sofort zusammensackten und starben, wo sie standen. 17 000 starben an diesem Tag. Unter ihnen war Sam, Vrbas Bruder. Nur zwei Wochen später, am Abend des 30. Juni 1942, wurde Vrba nach Südwesten verlegt, nach Auschwitz. Anfangs dachte er in seiner Naivität, Auschwitz wäre ein weniger gefährlicher Ort als Majdanek. Er wurde rasch eines Besseren belehrt. „Überall sah ich Ordnung, Sauberkeit und Stärke, die eiserne Faust im antiseptischen Gummihandschuh.“16 Ihm wurde der Kopf rasiert und eine Nummer in den Arm tätowiert – Rudolf Vrba war nun Häftling 44070. Welche Hoffnung zu überleben er auch gehegt haben mochte, sie wurde bald zerstört. Auschwitz war, wie ihm klar wurde, ein stinkendes Schlachthaus.

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Aber während manche anderen Häftlinge das äußerste Extrem der Einsamkeit erreichten oder ihre schwindenden Tage in roboterhaftem Stumpfsinn verbrachten, hatte Vrba stets seine fünf Sinne beisammen. Während manche schrien und um ihre Hinrichtung bettelten, hielt Vrba seine Gefühle immer unter Kontrolle. Während andere Überlebende untröstlich waren, nachdem ihre Liebsten, nackt und zitternd, in den Tod geführt worden waren, gelang es ihm irgendwie, im Geiste Erinnerungen an sein früheres Leben heraufzubeschwören. Ehrgeizig, verschlossen und mit einem eisernen Willen entwickelte er von Anfang an eine Überlebensstrategie. Im Bewusstsein, dass Essen Kraft bedeutet – auch wenn der Tee wie Spülwasser schmeckte und das klumpige Brot Sägemehl enthielt –, beschloss er, so gut zu essen wie möglich. Er erfuhr schnell von dem Schwarzmarkt im Lager, der hier und da ein paar Glückliche am Leben erhielt und unzähligen anderen Folter und Tod brachte. Vrba hatte Glück. Zunächst einmal war er kräftig, sodass er ein begehrter Arbeiter war. Dann wurde er im August 1942 dem sogenannten Aufräumungskommando zugeteilt, das sich um die Habe der vergasten Opfer kümmerte. Er arbeitete jetzt auf dem berühmten Magazingelände des Lagers, dem Häftlinge, die sich das reale Kanada als ein beinahe magisches Land voller Reichtümer vorstellten, den Spitznamen „Kanada“ gegeben hatten. Hier sortierte er das Hab und Gut der nach Auschwitz deportierten Juden. Er durchwühlte deren Taschen, nachdem sie aus dem Zug gestiegen waren, und manchmal betrat er die leeren Waggons, um die Körper der Toten wegzuschaffen. Als Arbeiter in „Kanada“ hatte Vrba Zugang zum Lebensmittellager der SS, wo sich die Konserven stapelten – Marmelade, Nüsse, Gemüse, Schinken, Rindfleisch und Obst –, zusammengestellt für den Genuss der SS und fast alles leicht zu stehlen. Er lernte, dass Zitronen äußerst wertvoll waren, weil sie Vitamin C enthielten, und für die Risikofreudigen gab es sogar Steak. Wenn er nicht gerade sein Überleben plante, studierte Vrba sehr genau den Vernichtungsapparat. Während der nächsten elf Monate hatte er einen seltenen Blick auf die Geschehnisse, weil er nicht nur im Lager lebte, sondern auch bei der Ankunft der meisten Transporte anwesend war. Fassungslos sah er, wie wenig die verstörten und orientierungslosen Neuankömmlinge über Auschwitz wussten, wenn sie kraftlos aus den Zügen stiegen. Bei der Durchsicht ihres Gepäcks stellte er fest, dass sie Pullover für den Winter, kurze Hosen für den Sommer, feste Schuhe für den Herbst, Baumwollhemden fürs Frühjahr eigepackt hatten – kurz, Kleidung für ein ganzes Jahr. Sie hatten Gold und Silber und Diamanten mitgebracht, um für Waren zu bezahlen oder Bestechungsgelder anzubieten. Auch die wesentlichen Dinge häuslichen Lebens hatten sie

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­ abei, Gegenstände wie Tassen, Besteck und andere Utensilien, ein offensichtd liches Anzeichen dafür, dass viele tatsächlich glaubten, sie würden lediglich irgendwo in den Osten „umgesiedelt“. Nicht ein Tag verging, an dem Vrba nicht von Flucht träumte. Obwohl es ihm bislang gelungen war zu überleben, war ihm stets bewusst, dass ihn jeder Tag „dem Tod in der einen oder anderen Form näher brachte“. 17 Dennoch verbesserte er im Sommer 1943 seine Stellung in Auschwitz dramatisch, als er zunächst „Hilfsblockschreiber“ und dann „Blockschreiber“ im Quarantänelager von Birkenau wurde, wo er normale Kleidung erhielt. Auch durfte er sich fortan relativ ungehindert im Lager bewegen und hatte Zugang zu besserem Essen. Er knüpfte weitere Kontakte zu einem noch in den Kinderschuhen steckenden Lager-Untergrund – der jedoch nie aus den Kinderschuhen herauskam, weil seine Angehörigen ständig getötet wurden. Und geduldig und fleißig begann er Statistiken über die tagtäglich begangenen Massenmorde zusammenzustellen. Sein Gedächtnis war phänomenal. Er merkte sich jeden Transport, der ankam, und vor allem die Anzahl der Waggon­ insassen. Er lernte die Nummernserien auswendig, die jeder Opfergruppe bei der Ankunft zugewiesen wurden. Und indem er sich mit anderen Blockschreibern austauschte, konnte er die verbrannte Brennstoffmenge und somit die Zahl der eingeäscherten Leichen errechnen. Außerdem befragte er das Sonderkommando, jene Gruppe kräftiger, junger, überwiegend jüdischer Häftlinge, die von den Nationalsozialisten ausgesucht wurden, um die Leichen aus den Gaskammern und Krematorien zu entfernen (wer für das Sonderkommando ausgewählt wurde und sich weigerte, wurde vergast oder erschossen). Auf diese Weise erfuhr er, wie die Gaskammern genau funktionierten. Schließlich wurde er, obwohl noch jung, Kurier für den Widerstand innerhalb des Lagers.18 Wenn Überleben ein Befähigungstest ist, dann war Vrba der Fähigste von allen, wie er sich sicher durch eine Krise nach der anderen manövrierte und dabei dem Tod, Schlägen und der Entdeckung entging. Er schien neun Leben zu haben, und er verschacherte und verkaufte sie alle. Einmal wäre er fast gestorben, aber er schaffte es, so lange immer wieder der „Beförderung für würdig befunden“ zu werden, anders kann man es nicht ausdrücken, bis er schließlich „zumindest halbwegs als zum lebenden Inventar [des Lagers] gehörig betrachtet“19 wurde. Weil er sich das Vertrauen der Deutschen verdiente, soweit das überhaupt möglich war, litt er niemals Hunger; und während andere grausam verhungerten, kam er gelegentlich in den Genuss von Schokolade, Sardinen oder von „reine[m] Zitronensaft mit Wasser und Zucker“.20

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Die Leute fingen sogar an, ihn beim Vornamen zu nennen, was ebenfalls selten vorkam. Wie wurde er mit all dem Leid und Tod um ihn herum fertig? Zu wissen, dass diese Dinge passierten, und sie überstanden zu haben, muss ein unsagbares Grauen gewesen sein. Und jetzt, im Spätsommer 1943, war Vrba über ein Jahr in Auschwitz am Leben geblieben. Er war inzwischen nach eigener Aussage „schon ein wenig taub gegenüber dem Leiden geworden“.21Aber dann verwandelte sich die Welt von Auschwitz. Am 7. September trafen 4000 tschechoslowakische Juden aus dem Ghetto Theresienstadt ein. Sie kamen als Familien, die Männer trugen Gepäck, und die Kinder hielten Puppen und Teddybären umklammert. Die SS-Männer flachsten herum mit diesen Neuzugängen. Sie spielten mit den Kindern. Die Häftlinge wurden weder in die Gaskammern geschickt noch ins Arbeitslager abkommandiert. Die Familien wurden nicht getrennt, und ihre Köpfe wurden nicht rasiert. Sie durften ihre eigene Zivilkleidung behalten und in relativem Komfort in einem angrenzenden Lager wohnen, das eigens für sie errichtet worden war. Weit davon entfernt, verprügelt zu werden, wurden sie regelrecht gehätschelt. Über den Stacheldraht hinweg sahen Vrba und die anderen verhungernden Überlebenden staunend zu. Während jeden Tag Tausende von Lagerinsassen dahinsiechten, mit den Füßen schlurften, wenn das Gehen zu schwierig wurde, und Blut oder schwarzen Speichel spuckten, schienen diese Tschechen ein beinahe idyllisches Leben zu führen. Die Kinder hatten einen Spielplatz, wo die SS Spiele für sie organisierte. In einem hölzernen Schuppen war eine kleine Schule eingerichtet worden, die ein ehemaliger Berliner Sportlehrer leitete. Die ­Familien bekamen Seife, Medikamente und besseres Essen. Und die Wachen brachten Süßigkeiten und Obst für die herumtollenden Kinder, mit denen sie sich liebevoll balgten. Die Frage war natürlich, warum? Je mehr Vrba bohrte, desto mehr erfuhr er. Zunächst erlitt er einen kleinen Schock: Beim Herumschnüffeln im Büro des Lagerschreibers fiel ihm auf, dass die eintätowierten Nummern der tschechischen Häftlinge nicht zu den sonstigen Nummern in Auschwitz passten. Dann folgte ein größerer Schock: Er sah außerdem, dass jeder Häftling mit einer ganz besonderen Karte registriert war, auf der stand: „Sechs Monate Quarantäne mit Sonderbehandlung“.22 „Sonderbehandlung“ war die Chiffre für Vernichtung. Vrba kam bald dahinter: Das Ghetto Theresienstadt und seine Juden waren eine verdrehte Phantasie des „Dritten Reiches“.23 Theresienstadt war einer der Orte, zu denen die Nationalsozialisten Beobachtern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes regelmäßig Zugang gewährten, um die sich immer wei-

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ter verbreitenden Gerüchte über Massenhinrichtungen zu zerstreuen. Ende Februar 1944 zeigte sogar Adolf Eichmann persönlich dem Leiter der Auslandsabteilung des Deutschen Roten Kreuzes, Max Niehaus, das Auschwitzer Familienlager als Beweis dafür, dass Deutschland Juden menschlich behandele. Im nationalsozialistischen Märchen, das vorgab, die Millionen von Juden würden nicht in Todeslagern vernichtet, sondern lediglich in Arbeitslager im Osten umgesiedelt, spielten die Tschechen eine Hauptrolle. Daher wurden diese 4000 abgesondert – abgesondert von den Vergasungen und den systematischen Prügeln, vom Elend und den monströsen Gräueltaten. Sechs Monate lang ging es diesen 4000 gut. Sie schlossen Freundschaften, unterrichteten ihre Kinder, aßen im Kreis der Familie, verliebten sich, führten ihr Leben fast normal fort und träumten von Freiheit. Aber das Ende kam so plötzlich wie der Anfang. Am 5. März wurden die Insassen des Familienlagers angewiesen, Postkarten nach Hause zu schreiben und ausführlich über die Annehmlichkeiten zu berichten, die sie hier genössen. Aber die Nationalsozialisten stempelten diese Karten schlauerweise, um das Geheimnis von Auschwitz zu wahren, mit „Birkenau bei Neuberun, Oberschlesien“24 – Neu-Berun war ein zehn Kilometer nordwestlich des eigentlichen Vernichtungslagers gelegenes Städtchen. Um das Täuschungsmanöver perfekt zu machen, wurden die Insassen aufgefordert, ihre Verwandten um Lebensmittelpakete zu bitten und sämtliche Karten um drei Wochen vorzudatieren. Dann plötzlich, am 7. März, auf den Tag genau sechs Monate nach Ankunft der tschechoslowakischen Juden aus Theresienstadt, waren die Schritte von SSWachen zu hören, die das Sonderlager umstellten. Dem Sonderkommando war bereits befohlen worden, die Feuer der Krematorien zu schüren. Am Nachmittag kamen die Lastwagen. Unempfänglich für die Schreie der Kinder und gnadenlos mit Knüppeln auf die Häftlinge eindreschend, trieb ein kleines Heer von Kapos sie auf die Transporter und fuhr Richtung Gaskammern. Beim Anblick des Auskleideraums wurde ihnen die Ungeheuerlichkeit ihres Schicksals klar. Seit Monaten hatten sie den Geruch aus den Krematorien gerochen. Sie wussten, was sie erwartete. Zu spät gingen sie auf die Wachen los und wehrten sich mit ihren Fäusten. Aber das Ende kam so schnell wie der Anfang. Die SS-Männer waren bereit. Schnell und entschlossen ausschreitend, prügelten sie die aufbegehrenden Opfer mit Gewehrkolben und setzen, wenn das nicht genügte, Flammenwerfer ein. Mit eingeschlagenen Schädeln und stark aus ihren Wunden blutend, wurden die nackten Häftlinge in die Kammer getrieben. Als die Zyklon-B-Kügelchen durch das Dach nach unten fielen,

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stimmten sie zuerst die tschechoslowakische Nationalhymne Kde domow muj, „Wo ist meine Heimat?“, und dann das hebräische Lied haTikwa, „Hoffnung“, an, bis sie sich still in ihre Hinrichtung ergaben.25 Vrba war todunglücklich. Nachdem er vergeblich auf einen Aufstand unter den Häftlingen gehofft hatte, erkannte er nun, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu fliehen und irgendwie die Welt zu warnen. Monatelang hatte Vrba heimlich seine Flucht geplant: Er wusste, dass bislang noch jeder Versuch gescheitert war, doch ihm blieb keine andere Wahl mehr. Anfang 1944 hatten die Nationalsozialisten in Auschwitz mit dem Bau einer zusätzlichen dreispurigen Gleisanlage begonnen, die direkt zu den Gaskammern und Krematorien führte. Künftig wären keine Lastwagen und keine Selektionen mehr nötig; die Waggontüren würden sich einfach öffnen, und Männer, Frauen und Kinder würden unmittelbar in den Tod geschickt. Bestürzt sah Vrba die neuen Gleise von seinem Bürofenster aus, erblickte jeden Morgen, „dass die Schienen ihrem Ziel wieder ein paar Meter nähergekommen waren“.26 Er beobachtete, wie sich die Häftlinge auf ihnen abschufteten, selbst nachts noch im Licht der Bogenlampen, um die Arbeitsstunden zu verlängern. Auch bemerkte er, wie andere Insassen hämmerten und bauten, um das Lager beinahe um das Doppelte zu vergrößern. Diese Erweiterung von Auschwitz konnte nur eines bedeuten: Die Nationalsozialisten bereiteten sich auf die Ankunft einer weiteren großen Gruppe von Juden vor. Das einzige Land, in dem noch eine derart große jüdische Bevölkerungsgruppe übrig war, war Ungarn. Vrbas Vermutungen wurden von der SS bestätigt, die angab, das Lager erwarte neue Transporte, und grausam über „ungarische Salami“ witzelte. Und Vrba wusste, was das bedeutete: Als Juden aus den Niederlanden vergast worden waren, hatte er gehört, wie die SS damit prahlte, sich am Käse aus deren Reiseproviant gütlich getan zu haben. Als französische Juden eintrafen, labte sich die SS an Sardinen, als griechische Juden ins Lager kamen, aß sie Halwa und Oliven aus ihren Bündeln. Vrba und seine Freunde schätzten, dass eine Million Juden in Ungarn in Gefahr waren. Eine solche Anzahl zu transportieren und zu töten wäre ein Rekord, selbst für Auschwitz. Dennoch schien es nicht nur glaubhaft, sondern möglich. Deutsche Zeitungen, die einige der Häftlingsanführer fanden, berichteten, dass die deutsche Wehrmacht in Ungarn einmarschiert sei, um „die Ordnung wiederherzustellen“.27 Ein Kollaborationsregierung unter Döme Sztójay sei eingesetzt worden, und nun liege das Schicksal der Ungarn in den Händen

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der Nationalsozialisten. Langsam verarbeitete Vrba diese wuchtigen Fakten. Er wollte jetzt mehr tun als lediglich die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren. Er hegte die ehrgeizige Hoffnung, Verbrechen zu verhindern und die Ungarn warnen und aufrütteln zu können: „[…] eine Million Menschen musste sich zu einer Armee formieren, die eher kämpfen als sterben würde“.28 Wenn die Ungarn wüssten, was sie erwartete, glaubte Vrba, könnten sie zumindest Gegenwehr leisten, bevor sie die Transporte bestiegen, und vielleicht sogar gerettet werden. Gewissenhaft bildete Vrba sich ein Urteil über jeden früheren gescheiterten Fluchtversuch, analysierte die Fehler und tüftelte aus, wie sie zu vermeiden wären. Er machte sich kaum Illusionen über die Schwierigkeit, die Sicherheitsvorkehrungen von Auschwitz zu knacken. Aber obwohl er akzeptierte, dass alle anderen im Lager starben, war ihm der Glaube an sein eigenes Entkommen zum Prinzip geworden. Er kannte die Strafen für eine gescheiterte Flucht, hatte er sie doch schon in seiner allerersten Woche in Auschwitz mitangesehen. Als er eines Nachmittags mit seinem Arbeitskommando zurück zu seinem Block marschierte, erblickte Vrba zwei mobile Galgen. Unter den wachsamen Augen von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten, waren Tausende von Häftlingen versammelt worden. Dann brüllte ein Oberscharführer mit lauter, tragender Stimme, dass zwei polnische Häftlinge bei einem Fluchtversuch erwischt worden seien: „Das duldet die Lagerleitung nicht.“29 Daraufhin führte eine SS-Kolonne die zwei ausgemergelten, dreckverschmierten, barfüßigen Häftlinge in ihrer Mitte hinaus zu den Galgen. Die Schritte der Häftlinge wurden begleitet von anschwellendem Getöse, das eine Reihe SSMänner mit vor den Bauch geschnallten Trommeln erzeugte, aber die Gefangenen zeigten „keine Anzeichen von Furcht, Traurigkeit oder Panik“. Erst beim Erreichen der hölzernen Stufen stockten sie. Einer von ihnen setzte zu einer Rede an, aber der Lärm der Trommler übertönte seine Worte. Vergeblich redete er weiter, während der Henker ihm und seinem Gefährten die Seile um den Hals legte und dann die Hebel umlegte. Die Falltüren öffneten sich, es tat einen dumpfen Schlag, dann noch einen. Doch zu Vrbas Entsetzen fielen die Häftlinge „kaum fünfzehn Zentimeter tief “. Sie wurden nicht erhängt, sie wurden langsam erwürgt. Die versammelten Männer sahen zu, wie die gescheiterten Flüchtlinge sich panisch wanden und krümmten, erst hektisch, dann langsam, dann gar nicht mehr.

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Die Trommeln verstummten, „und ein Vakuum der Stille entstand“, unterbrochen nur von dem barschen Befehl, der Vrba und die übrigen Häftlinge eine weitere Stunde strammstehen und auf die leblosen Körper starren hieß. Kommandant Höß zog sich zurück, und die SS marschierte „samt Trommeln und Maschinenpistolen in schönster preußischer Marschordnung ab“.30 Unter einer sinkenden Sonne blickte Vrba, jede Kränkung schluckend, auf die baumelnden Häftlinge, während in ihm der Entschluss zum Ausbruch reifte. Die Herausforderung bestand darin, dass das Stammlager Auschwitz, wo sich Vrba befand, unterteilt war in ein äußeres Lager, in welchem die Insassen arbeiteten, und ein inneres Lager, wo sie schliefen. So gesehen musste er nicht einmal entkommen, sondern zweimal. Um das innere Lager von Auschwitz-Birkenau verlief ein Wassergraben, sechs Meter breit und fünf Meter tief, wie bei einer mittelalterlichen Burg. Dieser Graben wiederum war mit gut drei Meter hohem elektrisch geladenen Stacheldraht umzäunt. Und zusätzlich zu diesen materiellen Barrieren gab es menschliche. Tag und Nacht richteten SS-Männer von ihren Wachtürmen aus Maschinengewehre auf die Häftlinge. Sobald die Dämmerung einsetzte, tauchten Lampen die Baracken und die Stacheldrahtzäune des inneren Lagers in gleißendes Licht. Falls es irgendeinem Häftling gelang, diese Hindernisse zu durchbrechen, schrillten Sirenen und Trillerpfeifen, sobald die äußeren Türme Alarm gaben. Binnen Sekunden hetzten 3000 Mann und 200 knurrende Hunde los, um das gesamte Areal abzuriegeln. Und das offene Gelände zwischen dem inneren und dem äußeren Lager, um das sie patrouillierten, war vollkommen kahl und ausdrücklich als Todeszone angelegt. Jeder entflohene Häftling, der diese staubige, leere Fläche überquerte, wäre eine leichte Beute und völlig dem Kreuzfeuer der Wachtürme ausgeliefert, welche die innere und äußere Lagerumzäunung in zwei Reihen säumten. Ein Hoffnungsschimmer für Vrba war, dass bei höchster Alarmstufe die Soldaten und Hunde das Lager nur drei Tage und Nächte durchkämmten. Wenn der Flüchtige bis dahin nicht gefasst war, wurden die Postenketten in der Annahme abgezogen, dass der Häftling es nach draußen geschafft hatte. An diesem Punkt wurde die Suche dem weiten Netz der SS-Behörden außerhalb von Auschwitz übergeben. „Aus alledem schloss ich“, erzählte Vrba später, „dass ein Mann, der sich drei Tage und drei Nächte außerhalb der inneren Absperrung versteckt halten konnte, eine reelle Chance hatte.“31 Eine reelle Chance vielleicht, aber bislang hatte noch niemand einen Weg gefunden, sie zu ergreifen. Und so begann Vrba, während er nachts auf seiner

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harten Holzpritsche lag, vor dem Einschlafen mit dem, was er seine „erste wissenschaftliche Studie“ über die „Methoden der Flucht“ nannte. Bald fand Vrba einen Verbündeten. Ein Lagerinsasse aus Russland, der große, stämmige Dmitri Volkov, nahm Vrba unter seine Fittiche. Vrba hatte ihm oft seine Brot- und Margarinerationen gegeben, und weil Vrba sich selbst ein wenig Russisch beigebracht hatte, tauschten sich die beiden seit Monaten über bedeutende russische Schriftsteller aus. Dann änderte sich eines Tages ihr Gesprächsgegenstand. Volkov, der selbstbewusste, kluge ehemalige Hauptmann der Roten Armee und nunmehrige Kriegsgefangene, gab Vrba einen Intensivkurs in den Grundlagen einer erfolgreichen Flucht. Volkov erklärte, Vrba werde ein Messer brauchen, um sich zu verteidigen, und eine Rasierklinge, um sich selbst die Kehle aufzuschlitzen, falls er gefasst werde. Um sich den Weg zeitlich einzuteilen, werde er eine Uhr benötigen, die ihm auch als Kompass dienen könne. Und er solle nur nachts unterwegs sein, tagsüber solle er schlafen. Außerdem werde er Salz brauchen, denn mit Salz und Kartoffeln könne er sich „monatelang am Leben halten“. Geld hingegen solle er nie bei sich haben, weil er sonst nur in Versuchung käme, Essen zu kaufen. Stattdessen, sagte Volkov, müsse er sich von Menschen fernhalten. Und er schärfte Vrba ein: „Berausch dich nicht an der Freiheit.“ „Vergiss nie“, sagte Volkov, „dass der eigentliche Kampf erst beginnt, wenn du aus dem Lager heraus bist.“32 Sein vielleicht nützlichster und für Vrba später lebensrettender Ratschlag war, in Benzin getränkten und wieder getrockneten russischen Tabak mitzunehmen und ihn auf dem Körper zu verteilen. Der Geruch, versprach Volkov, werde die Spürhunde in die Irre führen. Nachdem Volkov mit seinen Lektionen fertig war, sprachen sich die beiden Männer nie wieder. Warum? Wurde Volkov zu einer Gaskammer abtransportiert? Vrba erfuhr es nie. Im Januar 1944 waren fünf andere Insassen, darunter einer von Vrbas slowakischen Freunden, in die vermeintliche Freiheit gerannt; sie hatte es kaum über Auschwitz hinaus geschafft. Binnen drei Stunden hatte die SS sie brutal ermordet: Sie wurden mit Dumdumgeschossen getötet, die ihr Fleisch in Stücke rissen. Ihre „bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten“ Körper wurden ins Lager geschleift und von der SS auf Stühle gesetzt. Schilder, mit denen man in sadistischer Weise ihre Körper drapierte, verkündeten: „Wir sind wieder da!“33 Alles sah so aus, als wären Vrbas Pläne zum Scheitern verurteilt. Aber dann freundete er sich mit Charles Unglick an, einem ehemaligen Hauptmann in der französischen Armee, der tapfer in Dünkirchen gekämpft hatte. Unglick war einer jener wenigen in Auschwitz, die unverwüstlich zu sein schienen. Kräftig,

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unverfroren, „ein richtiger Schurke“, gelang es ihm, beträchtlichen Einfluss im Lager zu erlangen, indem er die Kapos einschüchterte und die SS bestach. Auch das Sonderkommando drangsalierte er. Unglick fand heraus, dass eine der SS-Wachen eine Waise war und von Jiddisch sprechenden Juden aufgezogen worden war. Binnen Kurzem ersann er einen verwegenen Plan, um diesen Wachtposten mit Gold und Diamanten zu bestechen, die er aus „Kanada“ entwendet und in seiner Baracke unter einem Dielenbrett versteckt hatte.34 Dafür würde der SS-Mann sowohl Unglick als auch Vrba herausschmuggeln, und sie würden sich durch die feindlichen Linien nach Paris durchschlagen. Doch warum sollte der Wachtposten das tun? Vrba war misstrauisch. Unglick behauptete steif und fest, der Mann hege heimliche Sympathie für die Juden. Als Zeitpunkt für ihren Ausbruch setzten sie den 25. Januar 1944, sieben Uhr abends, fest, das war in drei Tagen. Als er an jenem Abend beim Zählappell stand, während der Wind durchs Lager fegte und die Insassen zitterten, konnte Vrba seine Aufregung kaum zügeln. Ungeduldig erwartete er seine Verabredung mit Unglick und dem SS-Posten. Mein letzter Appell, dachte er. Freiheit. Und Hilfe für jene Juden, die sich noch nicht in Auschwitz befanden. Es wurde sieben Uhr und später. Dann war es 7.05 Uhr. Dann 7.10 Uhr. Dann 7.15 Uhr. Vrba hatte die schreckliche Vorahnung, dass alles schiefgegangen war. Wie das Glück es wollte, wurde er, während er unruhig hin und her lief, aufgefordert, einen seiner „Blockältesten“, einen bekannten slowakischen Intellektuellen, aufzusuchen. Vrba war so nervös, dass er kaum zu denken vermochte. Unsicher suchte er den Blockältesten auf und teilte sich mit ihm eine Schüssel Gulaschsuppe. Kaum war Vrba wieder draußen, rannte ein anderer Blockschreiber auf ihn zu und erklärte, Unglick habe überall nach ihm gesucht und wolle ihn dringend sprechen. Vrba hetzte zurück zum Treffpunkt, aber da war kein Unglick, kein Lastwagen, kein SS-Wachtposten. Waren sie entkommen? Schließlich sah er in Unglicks Zimmer unter dem lockeren Dielenbrett nach und stellte fest, dass der Sack mit dem Gold und den Diamanten verschwunden war. Ohne Gewissheit zu haben, war ihm klar, dass seine Gelegenheit verstrichen war. Verstört und enttäuscht kehrte Vrba in seinen Block zurück. Er unterhielt sich fahrig mit anderen Häftlingen, murmelte unverständliches Zeug, bis plötzlich gegen acht Uhr ein gefürchteter Schrei die Nacht durchbrach: „Blockältester 14!“ Teils im Dunkeln, teils im Schein der Lagerlampen stolperte Vrba zum Hof von Block 14. Sein Herz stand still. Dort lag Unglicks Leiche, mit einem Einschussloch in der Brust, und Blut lief ihm über Gesicht und Hals. Vrba war am

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Boden zerstört. In Auschwitz wurden selten dauerhafte Beziehungen geknüpft; nur Wenige lebten lange genug oder hatten Kraft genug, sie zu pflegen. Aber Vrba hatte Unglick seine Freundschaft geschenkt, hatte mit ihm gescherzt und geträumt. Wie sich herausstellte, hatte der SS-Mann Unglick die ganze Zeit hintergangen. Dann hatte er sich das Gold und die Diamanten einfach in die eigene Tasche gesteckt, Unglick eine Kugel ins Herz gejagt und der Lagerleitung gemeldet, er habe einen Fluchtversuch vereitelt. Als Vrba auf Unglicks verdrehten Körper starrte, war er der vollkommenen Verzweiflung nahe. Er hatte das Schicksal überlisten wollen, aber vergeblich. Wie durch ein Wunder hatte er die Selektion überlebt. Wie durch ein Wunder hatte er die Gräuel von Auschwitz überlebt, wo Zigtausende binnen Wochen umkamen. Doch jetzt war ihm seine vermeintlich beste und vielleicht einzige Chance durch die Lappen gegangen. Mit Unglicks Tod starben Vrbas sämtliche Hoffnungen. Überwältigt von Traurigkeit und schwelender Wut suchte Vrba sich zu fangen, anfangs ohne Erfolg. Bis sich in den kommenden Wochen eine andere Gelegenheit ergeben sollte. Zu Vrbas Netzwerk in Auschwitz gehörten noch andere Freunde, vor allem einer: Fred Wetzler, der ebenfalls Blockschreiber war und aus derselben Stadt in der Slowakei stammte wie Vrba. Dieser glaubte, dass er Wetzler „be­ dingungslos“ vertrauen könne. Wie Vrba war auch Wetzler eine Rarität in Auschwitz. Der 25-Jährige war ungeheuer beliebt, selbst bei den Deutschen. Er wusste, wie die Dinge in Auschwitz liefen, und schien sich bestens im Lager auszukennen. Vrba mochte ihn und legte nun sein Leben in Wetzlers Hände. Wetzlers Fluchtplan war anders als alle anderen. Weil die Nationalsozialisten das Lager erweiterten, um die Flut der Ungarn unterbringen zu können, herrschte mehr Durcheinander als gewöhnlich. Von ein paar slowakischen Landsleuten erfuhr Wetzler von einem großen Stoß Bretter, die im Außenlager aufgestapelt worden waren; dieser Holzstoß war faktisch ein speziell präpariertes Versteck inmitten der gewaltigen Masse an Baumaterial. Im Innern des ­Stapels war ein Hohlraum, groß genug, um vier Leute aufzunehmen. Der Holzstoß selbst befand sich jenseits der Wachtürme und Starkstromzäune des inneren Lagers. Wenn man sich also darin drei Tage erfolgreich verbarg, würde der Suchtrupp abgezogen. Danach müsste man sich nur noch schleunigst in ­Sicherheit bringen. Dieser Plan war ebenso wahnsinnig wie genial. Vrba und Wetzler würden sich kühn in Sichtweite des Lagers verstecken.

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Zufällig wollten vier andere Slowaken als Erste gehen. Zu Vrbas Freude hatten sie Erfolg. Die SS startete eine fieberhafte Suche, die von Tag zu Tag hektischer wurde. Doch nach drei Tagen waren die Slowaken immer noch nicht entdeckt worden. Vrba und Wetzler beschlossen, noch zwei Wochen zu warten und dann selbst wegzulaufen. Aber sieben Tage später wurden ihre Hoffnungen zunichte gemacht, als die SS mit den übel zugerichteten Flüchtlingen ­zurückkam. Stumm sah Vrba zu, wie die Männer einer nach dem anderen ­öffentlich brutal mit Lederpeitschen gefoltert wurden, bevor sie zum weiteren Verhör abgeführt wurden. Es wäre, überlegte Vrba, nur eine Frage der Zeit, bis die SS sie kleinkriegen und von dem wertvollen Versteck erfahren würde. Aber Vrba und Wetzler wollten sich trotzdem vergewissern. Vrba gelang es, sich unter einem Vorwand Zutritt zum Strafblock zu verschaffen, wo einer der Häftlinge ihm zuflüsterte, sie hätten die Existenz des Hohlraums nicht verraten. Konnte man ihnen trauen? Spielte die SS ein raffiniertes Spiel, wie sie es schon so viele Male getan hatte? Vrba und Wetzler beschlossen, dass sie es darauf ankommen lassen mussten. Das ganze Unternehmen war voller Tücke, aber die Einzelheiten waren schnell geregelt. Vrba hatte Gelegenheit, kurz eine Karte von Oberschlesien zu studieren, und prägte sich eine ungefähre Route für ihre Flucht ein. Sie würden dem Fluss Soła und dann den Bahngleisen folgen, denselben Gleisen, über die Waggon um Waggon voller Juden rollte. Aus den Lagerbeständen von „Kanada“ hatten die beiden Männer feine holländische Tweed-Sakkos und Mäntel entwendet, außerdem schwere Stiefel und einen weißen Wollpullover. Sie fanden den kostbaren russischen Tabak und tränkten ihn sorgfältig in Benzin, bevor sie ihn trockneten. Vrba war es auch gelungen, ein Messer aufzutreiben, das er wegsteckte. Als Rationen würden sie Brot und Margarine besorgen und als Flüssigkeit ein Fläschchen Wein. Von entscheidender Bedeutung war, dass sie außerdem zwei andere Häftlinge, beide Polen, überreden konnten, die Bretter über ihren Köpfen wieder an Ort und Stelle zu schieben, sobald sie ins Innere des Holzstoßes geschlüpft waren. Sie wussten, dass die logistischen Probleme schwierig waren. Sie wussten auch, dass sie Schläue, Glück, tadelloses Timing und Durchhaltevermögen brauchten: Drei Tage lang würden sie Gefahr laufen, von den Hunden entdeckt zu werden. Als Zeitpunkt setzten sie zunächst den 3. April 1944, zwei Uhr nachmittags, an, aber ihre Absicht wurde durchkreuzt, als in Wetzlers Lager ein misstraui-

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scher SS-Mann vor dem Tor Posten bezog, und Wetzler sich klugerweise weigerte zu gehen. Am nächsten Tag, dem 4. April, schaltete ein südafrikanischer Pilot in einem amerikanischen Aufklärungsflugzeug, das in 8000 Metern Höhe Auschwitz überflog, seine Kamera ein. Er war vom alliierten Militärflughafen Foggia in Süditalien gestartet und genau nach Norden geflogen. Er suchte nach Bombenzielen. Während er sein Flugzeug über diesen Teil Oberschlesiens steuerte, klickte die Kamera und machte 20 Aufnahmen von dem Zwangsarbeiterlager Monowitz, wo sich die Produktionsstätte der I.G. Farben befand. Vier Kilometer westlich von Monowitz lagen die Gaskammern von Auschwitz. An eben diesem Tag traf in Auschwitz ein Judentransport aus der norditalienischen Stadt Triest ein, die noch von den Deutschen kontrolliert wurde. In den Waggons befanden sich 132 Deportierte, von denen 29 „in die Baracken eingewiesen, registriert und mit Nummern versehen“ und 103 sofort ins Gas geschickt wurden.35 Das Fotografieren dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Der unentwickelte Film wurde anschließend an die Auswertungsspezialisten der britischen Royal Air Force in Medmenham an der Themse, westlich von London, geschickt, die ihn entwickelten und die körnigen Bilder studierten. Sie suchten nach spezifischen Industrieanlagen, die bombardiert werden konnten. Aber als sie die Fotografien analysierten, entdeckten sie, dass drei der Bilder nicht die Fabrikzone von Monowitz, sondern Reihen von Baracken zeigten. Dies waren die ersten bekannten Fotografien des Lagers Auschwitz.36 Weitere vier Tage lang probierten es Vrba und Wetzler vergeblich. Jedes Mal wurde ihre Absicht durchkreuzt, weil plötzlich etwas schiefging: Ein Komplize wurde aufgehalten, oder es gab eine Verzögerung. Hatte die SS Verdacht geschöpft? Vrba und Wetzler konnten es nicht wissen. Schließlich beschlossen sie, den Ausbruch am 7. April zu wagen. An diesem Morgen erledigten sie ihre routinemäßigen Arbeiten, als ob alles normal wäre. Aber am frühen Nachmittag machte sich Vrba erneut zu dem Holzstoß auf. Überall wurde gehämmert und gebaut, geschwitzt und geflucht, allerorten herrschte Chaos. Innerlich zitternd vor Angst, fand sich Vrba plötzlich zwischen zwei SS-Männern wieder, die er noch nie gesehen hatte. Sie fingen an, sich über seine Kleidung zu mokieren, nannten ihn eine „Schneiderpuppe“. Als Blockschreiber war Vrba fürwahr eine Ausnahme in Auschwitz, weil er „in

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punkto Garderobe beträchtliche Freiheit besaß“. Trotzdem hatten diese Wachen etwas gegen seinen Mantel und fingen von oben herab an, seine Manteltaschen zu durchstöbern, wobei sie eine Handvoll loser Zigaretten fanden. Vrba erstarrte. War sein Plan vereitelt worden, noch bevor er umgesetzt wurde? Er hatte Mühe, Haltung zu bewahren, und fing heftig zu schwitzen an. Er wusste, wenn sie seinen Mantel öffneten, würden sie den Anzug darunter ­sehen. Eine gründlichere Suche würde die Uhr zutage fördern, die er für die Reise gestohlen hatte; sie befand sich in diesem Moment unter seinem Hemd und drückte gefährlich gegen seine Haut. Allein wenn die Uhr gefunden wurde, würde man ihn mit Sicherheit wegen „Fluchtversuchs“ exekutieren. Doch dann waren da auch noch die Streichhölzer und das Messer, die er versteckt hatte. Ein paar abgerissene Knöpfe, und alles wäre verloren. Aber die Deutschen durchsuchten lediglich seine Taschen und ließen seinen Mantel zugeknöpft. Stattdessen fingen sie an, ihn auszulachen, ihn zu verspotten, und einer schlug ihm mit einem dicken Bambusstock gegen die Schulter. Vrba „wankte ein wenig“, und „in [s]einem Kopf schwirrte alles durcheinander“. Mit einem höhnischen Lächeln traten die Deutschen einen Schritt zurück, um ihn weiter zu überprüfen. Sie sagten Vrba, es sei an der Zeit, dass er das Innere von Block 11 kennenlerne, wohin Häftlinge zur Bestrafung gebracht wurden. Dann schlug einer der SS-Männer ihm unvermittelt voll ins Gesicht und schrie ihn an: „Los, du Schwein, beweg dich! Geh mir aus den Augen!“ Zu perplex, um nachzudenken, und kaum imstande zu sprechen, wartete Vrba, was sie als nächstes tun würden. Dann befanden die beiden SS-Männer genauso schnell, dass sie keine Lust auf den Abstecher zum Block 11 hatten. Stattdessen wollten sie Vrba der Politischen Abteilung melden, die ihn nach dem abendlichen Zählappell abholen sollte. Vrba war jetzt ein gesuchter Mann, dem nur Stunden blieben, bevor man ihn aus dem Verkehr zöge. Er hetzte folgsam zurück zum Tor seines Abschnitts, machte aber, sobald er außer Sichtweite war, abermals kehrt, in Richtung Holzstoß. Während er versuchte, „wie beiläufig“ zu schlendern, sah er sie alle dort warten. Die Polen standen oben und arbeiteten; Wetzler stand unten. Sie sperrten Mund und Nase auf, aber ansonsten herrschte Schweigen; keiner sagte ein Wort oder gab sonst einen Laut von sich. Sie machten nun sehr schnell, da ihnen nur Sekunden blieben, um ihr Täuschungsmanöver zu vollenden. Die Polen schoben die Bretter beiseite „und nickten uns beinahe unmerklich zu“. Vrba und Wetzler zögerten einen Moment, dann kletterten sie schnell auf den Stapel, steckten zunächst die Beine in die Öffnung und ließen sich dann in den Hohlraum hinab. Sie hörten, wie die

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Planken über ihren Köpfen wieder an Ort und Stelle gerückt wurden, und dann das Geräusch von Füßen, als die Polen vom Holzstoß kletterten. Drinnen war es stockfinster. Die Luft war stickig. Die beiden Männer waren gezwungen, dazuhocken wie Vögel, in einer unbequemen, verkrampften Haltung. Etwa eine Viertelstunde lang rührten Vrba und Wetzler keinen Muskel und sprachen kein Wort. Das Einzige, was sie vernahmen, war ihr eigener rasselnder Atem. Eine gute Viertelstunde verging, und noch brach draußen kein Tumult los. Dann machte sich Vrba an die Arbeit. Um die Hunde auszutricksen, füllte er die engen Zwischenräume zwischen den Brettern mit dem pulverigen russischen Tabak-Benzin-Gemisch. Es kostete ihn fast eine Stunde mühseliger Arbeit. Als er fertig war, saßen Vrba und Wetzler allein mit ihren Gedanken da. Es war erst halb vier Uhr nachmittags. Die Stunde der Wahrheit würde um 17.30 Uhr anbrechen, wenn der Abendappell begann und die Häftlinge Aufstellung nahmen. Vrba war zugleich ängstlich und aufgeregt. Nervös fingerte er ständig an seiner Uhr herum, sah, inzwischen an das Dunkel gewöhnt, nach, wie spät es war, und hielt sie sich ans Ohr, um sich zu vergewissern, dass sie nicht stehen geblieben war. Schließlich zwang er sich, die Uhr wegzulegen. Im Holzstoß brauchten weder er noch Wetzler sie. Beide Männer konnten einfach aus den Geräuschen, die von draußen hereindrangen, auf die Uhrzeit schließen. Die Abläufe im Lager waren immer die gleichen. Und tatsächlich hörten sie dann auch, zusammengekrümmt in der Finsternis, die Marschtritte der Stiefel, als die Häftlinge von der Arbeit zurückkehrten und sich zum Appell aufstellten. Um 17.25  Uhr war Vrba überzeugt davon, die SS wüsste bereits, dass sie verschwunden waren, und überlegte, wie sie reagieren sollte. Um 17.30 Uhr bekam er Herzrasen. Aus irgendeinem Grund hatte niemand den Alarm ausgelöst. Um 17.45  Uhr war es immer noch unheimlich ruhig. Vrba rechnete damit, dass sie jeden Moment das Geräusch der zur Seite geschobenen Bretter vernehmen und in die Läufe von Maschinenpistolen blicken würden. Um 18 Uhr war immer noch keine Sirene ertönt. „Sie spielen mit uns“, flüsterte Vrba. „Sie wissen garantiert, wo wir sind.“37 Wetzler hatte zu viel Angst, um auch nur ein Wort zu erwidern, aber er nickte zustimmend. Dann zerriss plötzlich ein schriller Laut die Stille – das Heulen der Sirene.

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Nach wenigen Minuten, während sich das Zwielicht der Abenddämmerung über das Lager senkte, konnten Vrba und Wetzler das Stampfen von SS-Stiefeln hören, derweil ihre Verfolger überall im Lager Position bezogen. Die Zwinger wurden geöffnet, und die 200 speziell abgerichteten Hunde fingen an, unter wildem Gebell das Gelände von Auschwitz-Birkenau zu durchkämmen. Es war eine eindrucksvolle Machtdemonstration vonseiten der Deutschen. Sie krochen in jeden Winkel des Lagers und waren überall zwischen den Hunderten von niedrigen, einstöckigen Baracken. Tausende von Männern schlugen jetzt Türen ein, hoben Dielenbretter hoch und rannten von einem Gebäude zum nächsten. Vrba wusste, was das bedeutete: Alle Baracken würden unverzüglich durchsucht. In jedem Gebäude und in jeder Einrichtung auf dem Lagergelände, von den Latrinen bis zu „Kanada“, würde drei Tage lang das Unterste zuoberst gekehrt. Jeder Häftling würde überprüft, immer wieder, stundenlang, und viele würden brutal gefoltert. Vrba und Wetzler packte abwechselnd freudige Erregung beim Gedanken an einen möglichen Erfolg und panische Angst bei der Aussicht, gefasst zu werden. Letztere sollte sich noch steigern. Anfangs waren die Deutschen noch weit weg – Auschwitz war ein riesiger, ausgedehnter Komplex –, aber sie kamen bald näher. Plötzlich hörten die beiden Männer einen SS-Offizier brüllen: „Hinter den Brettern! Ihr sollt hier gefälligst alles durchsuchen, nicht frische Luft schnappen!“ Vrba und Wetzler erstarrten, als sie hörten, wie die Deutschen auf ihren Holzstoß kletterten. Als grober Sand herabrieselte, hielten die beiden Männer sich die Hände vor die Nasen, aus Angst, niesen zu müssen. Das Fangnetz zog sich zusammen, so wie sie es erwartet hatten. Zusätzlich zum heiseren Keuchen der Wachen konnten sie jetzt das Hecheln und hektische Schnüffeln der Hunde und das Kratzen ihrer Krallen hören, als sie direkt über ihren Köpfen von Brett zu Brett rutschten. Himmler selbst hatte einmal damit geprahlt, dass die Hunde von Auschwitz darauf abgerichtet worden seien, einen Menschen „zu zerreißen“.38 Selbst durch die Dunkelheit konnte Vrba erkennen, „dass auch Fred bereit war, die Zähne zusammengebissen, das Gesicht vor Anspannung zu einem Lächeln verzerrt“.39 Wie es aussah, verließ sie ihr Glück. Vrba packte sein Messer fester. Er hatte geschworen, sich ihnen nicht lebend zu überlassen. Doch die SS-Männer hörten nichts, und die Hunde rochen nichts. Das russische Benzin-Tabak-Gemisch hatte funktioniert, und niemand war auf die Idee gekommen, die Bretter beiseite zu schieben. Die Hunde jagten davon und folg-

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ten den vielen Gerüchen zu einem anderen Abschnitt des Lagers. Ihnen hinterher liefen die Wachen, bis die Suche kaum mehr war als ein fernes Geräusch. Es war ein Triumph für Vrba und Wetzler. Aber sie wussten, dies war nur der Anfang gewesen. Die ganze Nacht setzten Männer und Hunde die Suche fort und strichen dabei immer wieder um den Holzstapel herum. Wie Wetzler sich erinnerte, banden er und Vrba sich, um ihre eigenen Geräusche zu dämpfen, Flanellstreifen um den Mund und zogen sie fest, sobald einer von ihnen ein Kribbeln im Hals verspürte. Und dann hörten sie ein anderes, vertrauteres qualvolles Geräusch: das Dröhnen und Rattern der Lastwagen, die neue Opfer zu den Gaskammern transportierten. Vrba zählte im Geiste mit. Erst waren es zehn, dann zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig. Sogar inmitten dieser intensiven Suche ging das Geschäft des Todes in Auschwitz unvermindert weiter. Vrba und Wetzler „dachten daran, wie die Menschen ruhig und geordnet in die ‚Duschen‘ gingen“; und sie konnten sich die herzzerreißenden Schreie und das Wimmern der Juden vorstellen. Dann hörten sie nichts mehr bis auf das „monotone, unheimliche Geräusch“ der toten Leiber, die einer nach dem anderen in die Öfen geschoben wurden.40 Wie der Zufall es wollte, lag ihr Versteck in unmittelbarer Nähe von Krematorium IV. Stunde um Stunde lauschten sie, wie das Sonderkommando die eisernen Türen des Krematoriums öffnete und die bereits geschrumpften und deformierten Körper in die Flammen schob, wo sie zu Asche zerfielen. Stunde um Stunde rochen sie verbrennendes Fleisch und brennendes Haar. Dies war ein Transport belgischer Juden gewesen; 319 Menschen, darunter 54 Kinder, waren unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast worden. Der zweite Tag war schlimmer. Die Suchtrupps waren verzweifelter, und Vrba und Wetzler hatten noch mehr Angst. Sie hatten seit mehr als 24 Stunden weder gegessen noch getrunken. Sie waren verdreckt, unrasiert und erschöpft. Alle paar Minuten nickten sie kurz ein, nur um von weiteren Jagdgeräuschen abrupt in die Realität zurückgeholt zu werden. Auch vernahmen sie jetzt neue Laute: erregt gerufene Losungsworte; die Schritte der Wachen, die um den äußeren Ring patrouillierten; von Offizieren geblaffte Befehle, hier zu suchen und dort zu suchen. Gegen zwei Uhr am Nachmittag des dritten Tages, den die Männer im Holzstoß verbrachten, ließ die Intensität der Suche endlich nach: Während sie ange-

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strengt lauschten, hörten Vrba und Wetzler, wie draußen zwei Deutsche Gerüchte über den Verbleib der Flüchtlinge austauschten. Diese Männer waren überzeugt davon, dass sie nicht schon Kilometer entfernt, sondern noch im Lager waren und den rechten Augenblick abwarteten. Einer der Männer blickte offensichtlich herüber zum Holzstoß. „Meinst du, sie verstecken sich da irgendwo drin?“, fragte der eine seinen Begleiter. Der andere Mann, der wahrscheinlich den Kopf schüttelte, sagte, die Hunde hätten sie mit Sicherheit gerochen, gab aber zu bedenken: „Es sei denn natürlich, sie haben es irgendwie geschafft, den Geruch zu überdecken.“ „Es ist zwar ziemlich unwahrscheinlich … aber einen Versuch wert“, kam die Antwort des ersten Mannes.41 Die beiden Männer kletterten auf den Stapel und fingen an, die Bretter wegzuziehen. Vrba und Wetzler hatten ein abscheuliches Gefühl des Déjà-vu – das hier war genau wie am ersten Tag. Erneut zückten sie ihre Messer. Vrba hielt den Atem an und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Hohlraums, als könnte er so irgendwie verschwinden. Die Deutschen waren jetzt nur noch Zentimeter davon entfernt, ihre Jagdbeute zu finden. Doch kurz bevor das nächste Brett entfernt werden konnte, kam ein ungeheurer Lärm von der anderen Seite des Lagers. Die Deutschen rannten in Richtung des Tumults davon, wahrscheinlich im Glauben, die Flüchtlinge seien gefasst worden. Doch die hockten nach wie vor sicher in ihrem Holzstoß. Für Vrba und Wetzler, die in ihrem Versteck nur noch wenige Stunden von der möglichen Freiheit trennten, war der 9. April ein Tag der Stille. Aber es war alles andere als ruhig in Auschwitz. Wie an allen anderen Tagen rumpelten auch an diesem wieder die Lastwagen mit den Opfern, die vergast und anschließend verbrannt werden sollten, die Straße hoch. Ausgerechnet heute transportierten sie jene Juden, die im Konzentrationslager Lublin-Majdanek interniert gewesen waren,42 wo Vrba vor seiner Deportation nach Auschwitz zwei Wochen verbracht hatte. Angesichts des Vorstoßes der rachedurstigen Roten Armee nach Westen hatte die SS das Lager überhastet geräumt und schickte sich an, es aufzugeben. In einem letzten Triumph nationalsozialistischer Niedertracht verplombten die Deutschen sogar dann noch beharrlich die hölzernen Viehwaggons voller Evakuierter, als sie schon ihre eigenen Dokumente vernichteten und das Lager auflösten. In einem vergeblichen Versuch, ihre Verbrechen zu verschleiern, exhumierten und verbrannten sie außerdem die Überreste von etwa 18 000 Leichen, die im Wald verscharrt worden waren.43 Die Zehntausende von Schuhen anderer Opfer hatten sie nicht beseiti-

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gen können. Diese Schuhe türmten sich zu Haufen, wie aufgeschüttetes Getreide. Viele Babyschuhe waren darunter, so klein, dass zwei davon problemlos in der Handfläche eines erwachsenen Mannes Platz fanden. Acht Tage lang war der Zug von Majdanek schrill pfeifend über abgefahrene Gleise nach Westen gekrochen. Für die Häftlinge war die Fahrt eine Tortur. Ohne Wasser und medizinische Versorgung machten sich die ausgemergelten und glatzköpfigen Evakuierten, die kaum mehr als Fetzen am Leib trugen, keine Illusionen. Aber diesmal wehrten sich einige. Bei einem Zwischenhalt auf einem Bahnhof entlang der Strecke gelang es 20 von ihnen, durch ein in den Waggonboden geschnittenes Loch ins Freie zu schlüpfen und einen Fluchtversuch zu unternehmen. Die SS erschoss alle 20. Von den übrigen Evakuierten waren 99 bei der Ankunft in Auschwitz tot; inmitten des ekelerregenden Gestanks von Schweiß und Abfall waren sie einfach unterwegs gestorben. Und die Überlebenden? Sie waren schwach, erschöpft, manche beinahe außerstande, sich zu bewegen. Bei der Ankunft erging es ihnen wie allen anderen. Aber es waren nicht bloß diese Geräusche des Todes, welche die Luft erfüllten. Am frühen Abend hörten Vrba und Wetzler ein entferntes Brummen am Himmel. Aus dem Brummen wurde ein Dröhnen, das Geräusch schwerer Flugzeuge, das näher kam. Kurz darauf war eine Serie von Pfeiftönen zu hören. Der Holzstoß erbebte, während das Gelände von Explosionen gesprenkelt wurde. Vrba und Wetzler hielten den Atem an. War das Lager endlich entdeckt worden? Würden die Alliierten endlich die Wachtürme und die Elektrozäune bombardieren? „War das“, fragten sie sich, „das Ende von Auschwitz?“ Für einen flüchtigen Moment hegte Vrba die irrwitzige Vorstellung, dass sie soeben befreit wurden. Die Explosionen wurden mit abgehackten Flakfeuersalven beantwortet; es waren Geschütze aus dem Lager, die wild in den Himmel feuerten. Der Holzstoß zitterte, grober Sand rieselte herab, und strahlende Blitze tauchten die Fluchthöhle in ein hartes, gleißendes Licht. Aber Auschwitz selbst wurde nicht angegriffen; es waren die mehrere Kilometer entfernten industriellen Ziele, die von den alliierten Bomben beharkt wurden. Das Lager blieb unangetastet, und nachdem der Lärm der Flugzeuge verebbt war, hörten Vrba und Wetzler erneut das Klirren der Roste und rochen das brennende Fleisch aus den Krematorien. Den 10.  April verbrachten sie schweigend. Um kurz vor halb sieben Uhr abends, drei Tage nachdem die erste Sirene ertönt war, hörten sie Rufe, die von Wachturm zu Wachturm gebrüllt wurden und sich rings um das Lager fort-

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pflanzten: „Postenkette abziehen!“ Das war der Befehl, mit dem die interne Suche in Auschwitz abgebrochen wurde. Die Wachen würden auf ihre Posten und in ihre Unterkünfte zurückkehren, die Hunde würden wieder in ihre Zwinger gesperrt. Die Suche war vorbei. Jetzt war es an dem Netzwerk der SS außerhalb der Mauern von Auschwitz, die Flüchtlinge zu fangen. Bereits am 9. April hatte SS-Obersturmbannführer Friedrich Hartjenstein ein Telegramm mit der Nachricht vom Ausbruch an das Berliner Büro der Gestapo geschickt.44 Sämtliche Gestapo-Einheiten im Osten, sämtliche Einheiten der Kriminalpolizei und sämtliche Grenzposten sollten nach zwei Juden Ausschau halten. Mit derselben brutalen Effizienz, mit der sie bei der Verwaltung des Lagers zu Werke gingen, kabelten die Nationalsozialisten Berichte und streckten ihre Fühler aus. Im Falle der Gefangennahme sei ein „ausführliche[r] Bericht“45 an Auschwitz zu übermitteln. Im Innern des Holzstapels wagten Vrba und Wetzler nicht, sich zu rühren, aus Angst, das Ende der Suche könnte nur vorgetäuscht sein, um sie aus ihrem Versteck zu locken. Sie zitterten in der kühlen Abendluft – und warteten. Bis neun Uhr hörten die beiden Männer keine ungewöhnlichen Geräusche, nichts, was darauf hindeutete, dass irgendjemand dachte, sie befänden sich noch innerhalb von Auschwitz. Nachdem sie tagelang zusammengekauert in Schmutz und Dunkelheit ausgeharrt hatten, erhoben sie sich nun steif und fingen an, gegen die noch verbliebenen Holzbretter ihres „Dachs“ zu drücken. Sie drückten und pressten, aber die Bretter rührten sich nicht. „Ächzend und schwitzend mobilisierten wir das letzte Quäntchen Kraft, das wir noch hatten“, und allmählich gelang es ihnen, die Bretter ein paar Zentimeter anzuheben und mit den Fingern die rauen Kanten zu packen. Schließlich wuchteten sie das Holz beiseite und sahen „plötzlich am schwarzen mondlosen, noch winterlichen Himmel Sterne“.46 Hätten die beiden Deutschen nicht begonnen, den Holzstoß zu überprüfen, und einige der Bretter bewegt, hätten Vrba und Wetzler jetzt möglicherweise vollends in der Falle gesessen, ohne Chance herauszukommen. Vorsichtig schoben die beiden Männer die Bretter wieder an ihren Platz, hockten sich dann oben auf den Holzstoß „und betrachteten das innere Lager, das wir – dieser Entschluss stand für uns fest – nie wiedersehen würden“.47 Für einen flüchtigen Augenblick sah Vrba Auschwitz noch einmal von außen – so

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wie es Hunderttausende Opfer bei der Ankunft sahen. Als er von dem flachen Land emporblickte, sah er die hellen Lampen, die das Lager umgaben und deren schimmernder Schein die Dunkelheit durchbrach. Er sah die gefürchteten Umrisse der Wachtürme, die drohend in den Himmel ragten. Und er wusste, dass hinter dem Draht und den Mauern, hinter dieser Lichterkette ein Massenmord stattfand, dessen Ausmaß beispiellos in der Geschichte war. Vrba und Wetzler kletterten vom Holzstapel, legten sich flach auf den Bauch und begannen langsam auf einen kleinen Birkenwald zuzukriechen. Sobald sie dort waren, rannten sie in gebückter Haltung los und blickten sich kein einziges Mal um.

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Flucht, Teil 2 Am 24. März gab Franklin D. Roosevelt eine Presseerklärung ab. Wegen der Flüssigkeitsansammlung in seiner Lunge und seiner zunehmenden Herzinsuffizienz war seine Stimme heiser und krächzend. Aber mochte seine Stimme auch schwach sein, seine Worte waren es nicht. Entschlossen äußerte sich Roosevelt zur „summarischen, systematischen Ermordung der Juden Europas“, die er als eines der „schmutzigsten“ Verbrechen der gesamten Geschichte bezeichnete, ein Verbrechen, das „Stunde um Stunde unvermindert“ weitergeht. Er versprach: „Niemand, der bei diesen grausamen und unmenschlichen Taten mitmacht, wird ungestraft davonkommen.“ Und fügte hinzu, wer sich wissentlich an der „Deportation von Juden in ihren Tod in Polen“ beteilige, mache sich „ebenso schuldig wie der Henker“. Auch sprach Roosevelt ausdrücklich über die Juden Ungarns und jene Juden aus anderen Staaten, die innerhalb der ungarischen Grenzen Zuflucht gefunden hatten und nun, „just am Vorabend des Triumphs über jene Barbarei, für die ihre Verfolgung symbolisch“ stehe, „von Vernichtung bedroht“ seien. Am folgenden Tag kamen 599 Juden aus den Niederlanden in Auschwitz an; 239 von ihnen, darunter die Alten und alle Kinder, wurden unmittelbar nach der Ankunft vergast. Zwei Wochen später, während Vrba und Wetzler sich noch in ihrem Holzstoß versteckten, traf Franklin D. Roosevelt in dem verzweifelten Versuch, seine Gesundheit wiederzuerlangen, Anstalten, nach Hobcaw Barony abzureisen, dem abgeschiedenen, 16 000 Morgen großen Anwesen des Wall Street-Finanziers Bernard Baruch.1 Dort, in einem geräumigen Haus mit weißen Säulen, das Mount Vernon, dem Landsitz von George Washington, ähnelte, erwachte er nur wenige Stunden nachdem Vrba und Wetzler aus Auschwitz geflohen waren. Obwohl das Wetter ein wenig kühl war, schien in Hobcaw Barony häufig die Sonne, und zweifellos hatte Roosevelt bereits mit Baruch gescherzt, es sei Zeit, die Fische aufs Ufer zu zu treiben, damit er ihrer mit Angelrute, Haken und Köder habhaft werden könne. Das Landgut war alt und sein Name noch älter: Hobcaw war ein indianisches Wort und bedeutete „zwischen den Wassern“. Die Spanier waren die Ers-

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ten gewesen, die zu Anfang des 16. Jahrhunderts versucht hatten, sich das Gebiet anzueignen, aber nachdem drei Viertel ihrer Kolonisten im ersten Winter gestorben waren, gaben sie das Land auf. Später errichteten die Briten während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein Fort an dieser Stelle, wovon am Waldrand noch britische Grabsteine zeugten. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Hobcaw Teil des berühmten Reisanbaugebiets Carolina Low Country gewesen. Doch jetzt, in den 1940er-Jahren waren die aufgegebenen Reisfelder der Lebensraum von Enten, Truthähnen und hin und wieder sogar eines Adlers, genau so, wie es Baruch gefiel. Er hatte das Land 1905 erworben, um es als winterliches Jagdrevier zu nutzen. Aus South Carolina gebürtig, bewahrte und pflegte Baruch seinen Akzent, obwohl er beim Umzug seiner Familie nach New York erst zehn Jahre alt gewesen war. Von seinen bescheidenen Anfängen als Bürobote stieg er auf zu den Gipfeln der Macht und wurde Finanzberater und Vertrauter von sechs US-Präsidenten. In Washington empfing er oft Spitzenbeamte zum Gespräch – auf einer Bank im Lafayette Park mit Blick auf das Weiße Haus. Und jetzt hatte auch der amtierende Präsident in der Hoffnung, sich gesundheitlich zu erholen, an seine Tür geklopft. Hobcaw Barony war ruhig und weit weg von den neugierigen Blicken Washingtons. Doch das Weiße Haus überließ nur wenig dem Zufall. Angesichts seiner angegriffenen Gesundheit begleiteten die beiden Ärzte Bruenn und McIntire den Präsidenten während seines gesamten Aufenthalts, und im Vorfeld seiner Ankunft herrschte große Betriebsamkeit auf der Plantage, um die erforderlichen Unterbringungsmöglichkeiten herzurichten. Der „Ferdinand Magellan Railcar“, der Salonwagen des Präsidenten, stand seit einem Monat bereit, während Marines unermüdlich die Wälder durchkämmten und die Küstenwache an den nahen Flüssen im Inland patrouillierte. Derweil hämmerte und zimmerte auch ein Einsatzkommando des Geheimdienstes fleißig. Die Agenten bauten hölzerne Rampen, damit sie den Präsidenten in seinem Rollstuhl überall im Haus herumfahren konnten. Am großen Angelsteg errichteten sie einen stattlichen Zaun. Für den Notfall, sprich Feuer, brachten sie sogar eine provisorische Rutsche an, die von Roosevelts Schlafzimmer im ersten Stock nach draußen führte. Tatsächlich befanden sich solche Rutschen regelmäßig im Tross des Präsidenten, und auch im Weißen Haus waren sie stets einsatzbereit, sollten die Treppen jemals Feuer fangen, wovor Roosevelt panische Angst hatte.2 In Hobcaw hielt sich Roosevelt an eine schlichte tägliche Routine, ohne deshalb seine Patriziergewohnheiten aufzugeben.3 Von einem Fenster seines Schlafzimmers aus, das in dezentem Grün gestrichen war, blickte er auf eine

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schattige Rasenfläche, die schräg zur Bucht hin abfiel. Er schlief lange, normalerweise bis halb zehn, manchmal aber auch länger, und ging früh zu Bett, um halb zehn Uhr abends. Jeden Morgen knipste er die Leselampe neben seinem Mahagonibett an und nahm sich Zeit für die Lektüre der Tageszeitungen. Wenn es ihm gesundheitlich gut ging, feilte er an seiner Korrespondenz. Eine Sondermaschine aus Washington brachte täglich Dokumente, die seine präsidentielle Unterschrift erforderten, und Roosevelt gewöhnte sich an, sich abends, wenn es dämmerte, damit zu befassen, vor seinen üblichen ein oder zwei Martinis und dem Dinner um 19 Uhr. Meistens aber ruhte er sich aus. Nach dem Mittagessen machte der Präsident ein Nickerchen und unternahm später am Nachmittag häufig kleine Spritztouren: Er kurvte mit Baruchs Jacht den Waccamaw River hinauf, angelte vom Steg aus oder am Süßwasserteich bei Arcadia. Er machte Ausflüge, um sich die reiche Tierwelt anzusehen, wie Schnepfen, Opossums, Schlangen oder auch Hirsche und wilde Eber. Er reiste herum, besichtigte das bezaubernde Belle Isle Gardens mit seinen herrlichen Bäume und einem alten Fort, und an manchen Tagen fuhr er einfach ziellos durch die Gegend. Er war versessen aufs Autofahren. Einmal, in einem seltenen Moment feierlichen Ernstes, hielt er am äußersten Ende der Plantage an, wo sein Blick auf die verwitterten Gedenktafeln britischer Soldaten fiel, die während des Unabhängigkeitskrieges gefallen waren. Einen weiteren Nachmittag verbrachte er an der Küste, am Strand der benachbarten Vanderbilt-Plantage, wo Roosevelt anderen Männern, die im seichten Wasser standen und ihre Angelschnüre weit hinaus in die Wellen schleuderten, beim Brandungsangeln zusah, während sein kleiner Terrier Fala Löcher im Sand buddelte. Auch Roosevelt verbrachte mehrere Stunden angelnd in der Winyah Bay, auf einem Patrouillenboot der Küstenwache. Und er sonnte sich auf der riesigen, der Bucht zugewandten Terrasse von Baruchs Herrenhaus. Von dort konnte er die moosbedeckten Eichen beobachten, wie sie sich in der Brise wiegten, konnte die blühenden Azaleen bestaunen oder verfolgen, wie Fala über den Rasen sprang und mit einer schwarzen Katze spielte. Roosevelt saß nun immer im Rollstuhl. Seine Beinschienen kamen nur noch bei öffentlichen Auftritten zum Einsatz und waren während dieses Monats, da er öffentlichen Blicken beinahe ganz entzogen war, überflüssig. Wenn er nicht schlief, sich die Gegend ansah oder angelte, blieb jede Menge Zeit für Geselligkeit. Dies waren einige seiner glücklichsten Momente. Die Mittagszeit und die Abendmahlzeiten verbrachte er im Kreise derjenigen, die ihm von ganzem Herzen zugetan waren. Er aß begeistert in dieser kleinen Runde, zu der seine Tochter und sein Cousin gehörten und natürlich seine

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beiden Ärzte sowie diverse Beamte, die aus Washington, D.C., herunterkamen. Auch Eleanor unternahm die Reise, um kurz nach ihm zu sehen, und an einem Nachmittag hatte Roosevelt den australischen Premierminister und dessen Gattin zu Gast. Er fühlte sich jetzt jeden Tag etwas kräftiger und besser und ließ sich immerzu über alle möglichen Themen aus, die ihm in den Sinn kamen, fesselte seine Gäste mit Geschichten über Staatskunst und Politik und die alten Zeiten, vor allem aber über den Fang von Barsch und Brasse. Und mit seinem alten Freund Baruch schwelgte er ausgiebig in Erinnerungen. Dr.  Bruenn nannte Roosevelt einen „meisterhaften Geschichtenerzähler“, der „die Unterhaltung“ beim Mittag- und Abendessen gleichermaßen „belebte“.4 Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit war Roosevelt immer noch eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die alle in ihrem Umfeld überragte. Und er war stets zu Scherzen aufgelegt, foppte die kleine Meute von Reportern, die es sich auf dem Anwesen gut gehen ließen, weil sie angeblich über ihn berichten wollten, und spendierte ihnen einmal sogar eine Runde Bourbon. Doch die Reise hatte ihre Kehrseiten. Einer von Roosevelts erbittertsten Gegnern, William Ball, der Herausgeber des News and Courier, einer Zeitung in Charleston, griff ihn tagtäglich in Artikeln an. Der Präsident tat Balls Kommentare normalerweise mit einem Achselzucken ab, während Baruch mit dem Ehrgefühl eines Südstaatlers hundert Kilometer nach Charleston reiste, um Ball Bescheid zu stoßen und sich die schroffen Leitartikel gegen seinen Gast zu verbitten. Welche Erholung Hobcaw Barony auch bieten mochte, es blieben schwierige Probleme zu lösen. Da waren offene Fragen hinsichtlich des künftigen Friedens und der Nachkriegsordnung; Fragen zur Kapitulation; offene Fragen ­hinsichtlich der bevorstehenden Kämpfe an den Küsten der Normandie, der japanischen Bedrohung innerhalb und außerhalb der Grenzen der USA und Fragen, was die wachsenden Verluste an Soldaten und Zivilisten unter nationalsozialistischer Herrschaft betraf. Konnten die Vereinigten Staaten und die Alliierten eingreifen? Würden sie eingreifen? All dies bedurfte der Führung des US-Präsidenten. Und viele fragten sich, ob ihn Hobcaw Barony gleichermaßen inspirieren würde wie die USS Tuscaloosa Anfang 1941 in der Karibik, wo er seine kühne Lend-Lease-Politik zur Unterstützung der britischen Kriegsanstrengungen entwickelt hatte. Vorerst blieb das abzuwarten.

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In Auschwitz jedoch gab es zwei Männer, die das Abwarten endlich hinter sich hatten, die zwischen hoch aufragenden Birken so schnell rannten, wie sie konnten, bis sie auf offenes Gelände taumelten. Vrba und Wetzler warfen sich ins Gras und krochen weiter vorwärts. Sie wussten, dass sie gegen die Uhr kämpften, dass es darauf ankam, bei Tagesanbruch verschwunden zu sein. Und sie wussten auch, dass Landminen in diesem Gebiet vergraben waren, aber darauf konnten sie keine Rücksicht nehmen. Schließlich erreichten die beiden Männer etwas, das sie zunächst für einen Fluss hielten. In Wirklichkeit war es ein Graben voll mit – womit? Der Asche der Toten? Vorsichtig streckte Vrba eine Hand aus. Er spürte Sand, glatten weißen Sand. Er wusste, dass Sand, jeder Sand, für sie tödlich war. „Das war schlimmer als Wasser“, dachte Vrba, „denn wenn wir darüber gingen, waren unsere Fußspuren wie Pfeile, denen die Patrouillen folgen konnten, sobald es hell war.“ Aber sie hatten keine Wahl, denn der Sand zog sich in beide Richtungen hin, soweit das Auge reichte. Also stürzten Vrba und Wetzler darüber hinweg auf ein Stück Moorland zu, das dicht mit buschigem Farnkraut bewachsen war. In der Dunkelheit machten die Männer die Konturen von Schildern aus, aber keiner von beiden traute sich, ein Streichholz anzuzünden, um zu lesen, was darauf stand. Am östlichen Himmel zeigte sich bereits die erste Morgenröte, und es wurde schnell heller. Sie waren verdreckt, hatten seit drei Tagen kaum geschlafen und waren geschwächt vom Hunger. Aber sie liefen weiter, bei jedem Schritt nach Luft schnappend. In der Ferne erblickten sie die Umrisse eines Waldes. Die dichten Bäume böten Deckung und die Möglichkeit, sich tagsüber zu verstecken. Wenn sie es bis dahin schafften, wären sie den Deutschen vielleicht einen Schritt voraus. Da erblickte Vrba ein weiteres Schild. Befanden sie sich in der Nähe einer Ortschaft? Sorgfältig las er die deutschen Wörter: „Achtung! Konzentrations­ lager Auschwitz. Jeder, der auf diesem Gelände angetroffen wird, wird ohne Warnung erschossen!“5 Irgendwie befanden sie sich immer noch innerhalb der Grenzen des Lagers. Vrba hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie riesig der Auschwitz-Komplex eigentlich war. Inzwischen überzogen helle rosafarbene Streifen den Himmel. Vrba und Wetzler waren vollkommen ungeschützt. Sie mussten diesen Wald erreichen. Dann drangen Stimmen zu ihnen herüber, deutsche Flüche und Schreie. Knapp 500 Meter entfernt sahen sie ein Arbeitskommando aus abgezehrten Frauen entlangschlurfen, bewacht von bewaffneten SS-Männern. Selbst hier haftete Auschwitz der Geruch des Todes an. Mit bangem Herzklopfen warfen sich Wetzler und Vrba zu Boden. Aber die Laute kamen nicht näher, die Häft-

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linge und ihre SS-Bewacher zogen weiter, und die Flüchtigen blieben unbemerkt. Doch sie wussten, dass sie fürs Erste nicht wieder aufstehen durften. Während der nächsten zwei Stunden hielten sie sich flach am Boden, robbten und schlängelten sich durch ein Feld mit jungem Mais, durch Senken, Vertiefungen und Gräben. Mittlerweile war aus der Dunkelheit der erste Schimmer Morgenrot geworden und aus dem Morgenrot der Tag. Als sie endlich den Wald erreichten und zwischen den dicht stehenden Fichten verschwanden, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Wenigstens gaben ihnen die Bäume jetzt Deckung. Sie stürmten so schnell vorwärts, wie sie konnten, bis sie plötzlich unmittelbar vor sich Dutzende von Stimmen hörten. Vrba und Wetzler duckten sich hinter ein paar Büsche, und als sie durch die Zweige lugten, erblickten sie eine große Gruppe der Hitler-Jugend, die mit geschulterten Rucksäcken dahinwanderten. Die jungen Deutschen ließen sich vor dem Versteck der beiden Männer unter den Bäumen nieder und fingen an, Butterbrote zu verzehren. Sie lachten, spielten und erzählten sich Witze, während Vrba und Wetzler langsam tiefer ins Gebüsch krochen, wo sie sich nicht mehr rührten. „Nicht der SS, sondern ihren Sprösslingen waren wir in die Falle gegangen“, erinnerte sich Vrba. Doch dann fing es an zu regnen. Aus dem Regen wurde ein Wolkenbruch, und die Hitler-Jugend schnappte sich ihre Rucksäcke und rannte davon. Der Boden war aufgeweicht, und Vrba und Wetzler waren völlig durchnässt. Unverdrossen marschierten sie mehrere Stunden durch Matsch und Dreck und wichen noch einer zweiten SS-Patrouille mit einer anderen Gruppe weiblicher Häftlinge aus, bis sie schließlich eine mit dichtem Buschwerk bestandene Stelle fanden. Hatte sie bisher eine Mischung aus Adrenalin und Angst aufrecht gehalten, waren sie inzwischen so erschöpft, dass sie kaum mehr zu denken vermochten. Nachdem sie sich tief im Gestrüpp versteckt hatten, schliefen die beiden Männer zum ersten Mal seit vier Tagen ein. Währenddessen durchkämmten Tausende von SS-Männern das Umland oder wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, um genauso nach den zwei entflohenen jüdischen Häftlingen zu suchen, wie sie nach all den anderen Flüchtigen gesucht hatten, die ihnen wieder in die Fänge geraten waren. Keinem Juden war jemals die Flucht aus Auschwitz gelungen. Die Telegrafendrähte der SS glühten, so dringlich wurde die Angelegenheit behandelt. SS-Obersturmbannführer Hartjenstein kabelte Berichte über den

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Ausbruch an das Gestapo-Hauptquartier in Berlin. Kopien des Telegramms kursierten im gesamten NS-Imperium und landeten auf den Schreibtischen der SS-Verwaltungszentrale in Oranienburg, sämtlicher Befehlshaber von Gestapo- und SD-Dienststellen im Osten und sämtlicher kriminalpolizeilicher Einsatzzentralen. Und natürlich gingen auch Kopien an alle Grenzpolizeiposten. Die höheren Befehlsebenen des „Dritten Reiches“ und sogar Himmler persönlich seien über die Flucht in Kenntnis gesetzt worden, hieß es in dem Telegramm weiter. Vrba und Wetzler wurden ausdrücklich namentlich genannt und als Juden identifiziert. Am Schluss hieß es: „Sofortige Suche ergebnislos. Erbitten von Ihnen weitere Suche und im Falle der Gefangennahme ausführlichen Bericht an Konzentrationslager Auschwitz.“6 Vrba und Wetzler hatten keine Ahnung vom vollen Umfang der Suche, aber die früheren Ausbruchsversuche hatten sie gelehrt, dass entflohene Häftlinge immer höchste Priorität hatten. Sie wussten auch, dass Gefangennahme und Folter, gefolgt von der öffentlichen Hinrichtung, nur ein möglicher Ausgang waren. Vrba erinnerte sich, dass der sowjetische Kriegsgefangene, Dmitri Volkov, ihn ermahnt hatte, sich von Menschen fernzuhalten, und das aus gutem Grund: Deutsche Soldaten und Zivilisten hatten gleichermaßen Befehl, „auf ‚unbekannte Vagabunden‘ ohne Anruf zu schießen“.7 Polnischen Bürgern wiederum war mit ihrer eigenen Hinrichtung gedroht worden, wenn sie flüchtigen Häftlingen aus Auschwitz halfen oder Partisanen unterstützten, die gegen die Nationalsozialisten kämpften.8 Vrba schätzte, dass sie etwa 120 Kilometer polnischen Territoriums durchqueren mussten, bevor sie die relative Sicherheit der slowakischen Grenze erreichten. Sie würden so weit wie möglich dem Lauf der Soła folgen, die in fast gerader Linie von Süden nach Norden floss. Aber trotzdem barg von hier an jeder Schritt Schwierigkeiten. Zunächst einmal war klar, dass sie in ihrem Zustand auffielen wie bunte Hunde. Sie waren ungewaschen, stanken und waren extrem blass. Ihre Gesichter waren vom Leid gezeichnet, und trotz ihrer feinen holländischen Mäntel machten sie einen abgerissenen und verwahrlosten Eindruck. Außerdem besaßen sie keine Papiere. Und sie würden weder zu essen noch zu trinken haben, abgesehen von dem, was sie hamstern konnten. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als vorwärts zu stolpern, bis sie in freundlichere Gefilde kamen. Anfangs erblickten sie rundum nichts als tiefschwarze Dunkelheit. Doch als sie ein paar Stunden später aufblickten, sahen sie zu ihrem Entsetzen die dunk-

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len, vertrauten Konturen von Wachtürmen, Hütten und Arbeitsgerät vor sich. Wachtürme? Hütten? Nach zwei Nächten und einem Tag auf der Flucht hatten sie die Grenzen von Auschwitz noch immer nicht hinter sich gelassen. Bislang waren sie lediglich bis zu einem der Außenlager vorgedrungen. Und sie wussten, dass die Türme bei Tagesanbruch besetzt würden und sie im flachen, offenen Gelände davor weithin sichtbar wären. Mit klopfendem Herzen wichen sie vor den Wachtürmen zurück. Endlich, als der nächste Tag schon graute, erspähten Vrba und Wetzler erneut ein Waldstück. Sie schlichen sich hinein und fanden drinnen ein Dickicht mit Büschen. Im Eiltempo fingen sie an, Zweige von Bäumen abzubrechen, um sich zu tarnen. So verborgen rasteten sie erneut im Glauben, einen sicheren Platz gefunden zu haben. Doch weit gefehlt: Als der morgendliche Dunst sich hob und die Sonne am Himmel aufstieg, erwachten die beiden Männer mit einem Schauder. Sie befanden sich nicht in einem Waldstück, sondern in einem Park. Und nicht in irgendeinem Park, sondern einem ganz besonderen, der ausschließlich Angehörigen der SS und ihren Familien vorbehalten war. Auf den Spazierwegen in der Nähe ihrer Büsche herzten SS-Offiziere in feldgrauen Uniformen ihre Freundinnen oder schlenderten neben ihren Ehefrauen einher; SS-Hunde wedelten mit dem Schwanz, tollten über das Gras und kamen angerannt, um die Büsche zu beschnuppern; und SS-Kinder, alle herausgeputzt, die blonden Haare perfekt gescheitelt, tobten herum, kreischten, kicherten und flitzten in alle Richtungen. Reglos im Gebüsch liegend, beobachteten Vrba und Wetzler das Treiben und fragten sich, ob ihre Glückssträhne vorbei und dies ihr Ende sei. Plötzlich rannten zwei Kinder, die in der Nähe gespielt hatten, direkt auf das Gebüsch zu. Unvermittelt starrten Vrba und Wetzler „in zwei Paar runde, weit aufgerissene blaue arische Augen“. „Papa … Papa …“, schrie eines der Kinder, „komm her … in den Büschen sind Männer … komische Männer.“9 Vrba und Wetzler hatten den Vater bereits flüchtig gesehen. Er trug die Uniform eines Oberscharführers, eine Pistole in einem Holster baumelte an seiner Hüfte. Die beiden Männer zückten ihre Messer. Der Vater kam zum Gebüsch gerannt, starrte hinein und musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann drehte er sich um und scheuchte seine Kinder weg. Als Letztes sah Vrba, wie der Oberscharführer in gedämpftem Ton auf seine Frau einredete, die dastand wie vom Donner gerührt. Sie hatten Massel gehabt: Der Deutsche hatte sie für nationalsozialistische Homosexuelle gehalten, die sich ein Stelldichein gaben. Einstweilen war die Suche ins Stocken geraten. Nachdem sie diesen Schrecken überstanden hatten, waren Vrba und Wetzler sich noch bewusster, dass sich das nationalso-

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zialistische Netz immer enger um sie zusammenzog. Bis Einbruch der Dunkelheit rührten sie sich nicht vom Fleck, dann machten sie sich dorthin auf, wo sie die Beskiden vermuteten. Der Gebirgszug der Beskiden – der Ursprung des Namens liegt bis heute im Dunkeln – folgte der slowakischen Grenze nach Osten und der polnischen nach Norden und erstreckte sich von Obermähren in der Tschechoslowakei bis zur Ukraine. An der polnisch-slowakischen Grenze wogten die Hügel bis zu 1700 Meter hoch, von Weideland und Wald überzogen. Riesige Tannen stiegen dort in den Himmel empor, kühle, von Schnee gespeiste Gebirgsbäche durchschnitten die Täler, und die Hänge waren mit kleinen Dörfern übersät. Vrba und Wetzler marschierten den ganzen Tag und bis in den Abend hinein immer weiter, bis sie in der Ferne flackernde Lichter sahen. Sie nahmen an, dass es sich um die Stadt Bielsko-Biała handelte; wenn ja, dann liefen sie in die richtige Richtung. Sie hatten vor, die Stadt und damit ihre Bewohner zu umgehen und weiter nach Süden auf die slowakische Grenze zuzuhalten. Aber als die Lichter der Stadt eines nach dem anderen erloschen, bis es stockfinster war, verloren sie die Orientierung. Eine ihrer größten Ängste war, dass sie irgendwie in die entgegengesetzte Richtung gerieten – und am Ende wieder auf die Deutschen zuliefen. So sehr verliefen sie sich nicht in dieser Nacht, doch statt den Ort zu vermeiden, hielten sie sich zu weit westlich und fanden sich plötzlich auf der Hauptstraße wieder. Da die Sonne bereits langsam wieder aufging, wäre es bloß eine Frage der Zeit, bis sie von einer Patrouille bewaffneter Milizionäre entdeckt würden, und Bielsko-Biała war genau der falsche Ort für sie.10 Nicht nur, dass es in dieser polnischen Stadt längst keine Juden mehr gab, sprachen auch noch 85 Prozent ihrer Einwohner deutsch. Nach Patrouillen Ausschau haltend, schlichen sie sich wieder hinaus, konnten sich aber nicht mehr weit genug bis in die sicheren Felder und Wälder zurückziehen. Sie hatten keine andere Wahl, als auf das kleine benachbarte Dorf Pisarzowice zuzuhalten. Als sie das Dorf erreichten, brach der Tag an. Würden sie entdeckt, käme das einem Todesurteil gleich. Tatsächlich waren die vier Slowaken, die vor ihnen aus Auschwitz ausgebrochen waren, gefasst worden, als sie durch solch ein kleines Dorf marschiert waren. Vrba und Wetzler wussten, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als Hilfe zu suchen, so riskant es auch war. Wenn sie an die Tür eines polnischen Antisemiten klopften, wären sie erledigt. Wenn es das Haus eines Deutschen war, wären

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sie ebenfalls geliefert. Selbst das Haus eines mitfühlenden Polen barg noch ein Risiko. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Als sie ein ordentliches, aber verwittertes Haus erblickten, das versteckt an einer Straße lag, schlichen sie sich auf den Hinterhof, wo Hühner herumwuselten, und klopften, sich an eine unwirkliche Hoffnung klammernd, beklommen an die Tür. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und eine ältere Frau mit einem jungen Mädchen an ihrer Seite rief laut, um zu erfahren, wer da sei. Die Alte, eine stämmige Bäuerin, war eindeutig eine Partisanin. Vrba und Wetzler begrüßten sie in ihrem besten Polnisch mit den traditionellen Worten: „Gelobt sei Jesus Christus.“ „In Ewigkeit Amen“, erwiderte sie und bat sie herein. „Mein Russisch ist leider nicht sehr gut“, sagte sie zögernd, „aber Sie sprechen ja gut Polnisch. Sie haben sicher Hunger.“ Sie lud sie in ihre Küche ein, wo die Flüchtigen ein kleines Mahl aus gekochten Kartoffeln verzehrten, die sie mit Kaffeeersatz hinunterspülten. Die Bäuerin war recht gesprächig und schilderte ihnen ohne viel Umschweife ausführlich die örtlichen Gegebenheiten. Das offene Gelände, erklärte sie, werde ständig von den Deutschen abpatrouilliert, das Reisen bei Tage berge daher unkalkulierbare Risiken. Daher müssten sie, betonte sie, bis zur nächsten Nacht bei ihr bleiben. Die sichere Zuflucht der Berge sei einige Stunden Fußmarsch entfernt. Wie um zu signalisieren, dass Vrba und Wetzler ihr vertrauen könnten, fügte sie hinzu, dass einer ihrer Söhne tot sei und der andere sich in einem Konzentrationslager befinde. Ob es Auschwitz oder ein anderes Lager war, sagte sie nicht. Plötzlich ging die Tür auf: Vrba und Wetzler sprangen auf, bereit zu kämpfen oder wegzurennen. Aber der Besucher war nur ein älterer Mann, „der eine noch ältere Pfeife rauchte“.11 Er sagte guten Morgen und frage die beiden Männer, ob sie ihm helfen könnten, einen Haufen Holz zu hacken. Dankbar, noch am Leben zu sein, machten sie sich freudig an die Arbeit. Es war wie ein Traum. Noch nie waren sie so dankbar für einen Platz zum Arbeiten, einen Platz zum Essen und einen Platz zum Schlafen gewesen. An diesem Abend bot die alte Polin ihnen eine „Mahlzeit aus Kartoffelsuppe und Kartoffeln“, bevor sie die Männer zu einer Scheune führte, wo sie auf einem Heuhaufen selig einschliefen. Um drei Uhr morgens spürte Vrba eine Hand auf seiner Schulter, die ihn rüttelte. Es war die alte Frau. Sie redete schnell und sagte ihnen, dass es Zeit sei zu gehen. Sie gab ihnen Malzkaffee und drückte Vrba vier polnische Mark in die

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Hand. Er sträubte sich, weil er sich an den Rat seines Freundes Volkov erinnerte, kein Geld zu nehmen. Doch sie bestand darauf: „Vielleicht bringt es Ihnen Glück.“ Am achten Tag ihrer Reise marschierten sie nun hinaus in die Dunkelheit auf die schneegesprenkelten Berge zu. Bei Nacht, wenn es kälter war, liefen sie, orientierten sich an den dünnen Streifen Sternenlicht oder dem runden Schein des Mondes und bahnten sich auf natürlichen Pfaden ihren Weg. Tagsüber versteckten sie sich vor wilden Tieren wie vor den Menschen, und versuchten zu schlafen. Erschöpft und stumpfsinnig schleppten sie sich stundenlang dahin, ohne eine Menschenseele zu sehen oder je stehenzubleiben, und fast wie durch ein Wunder hatten sie nach weiteren zwei Tagen die halbe Wegstrecke in Richtung Slowakei geschafft.12 Nach dem Gestank von Auschwitz atmeten sie nun endlich klare und saubere Luft. In der Nähe floss die Soła, und unter sich im Tal sahen sie eine Stadt. Was den Ort betraf, so wussten sie von den gefangen genommenen Slowaken in Auschwitz, dass es dort von gut bewaffneten deutschen Soldaten nur so wimmelte. Da plötzlich ertönte ein scharfes Geräusch, wie von einem jähen Händeklatschen oder einem Feuerwerkskörper. Eine Kugel pfiff direkt über ihre Köpfe hinweg. Am Hang gegenüber sahen sie glitzernde Gewehre. Eine deutsche Patrouille mit bellenden Hunden war ihnen auf der Spur. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, es auf die Hügelkuppe und ins dahinter liegende Tal zu schaffen. Wie vom Donner gerührt verharrten sie für einen Moment, dann rannten sie los, wobei ihre Füße auf den nassen Steinen und dem schweren Frühjahrsschnee wegrutschten. Um sie herum prallten Querschläger von den Felsen ab; die Patrouille setzte ihnen nach und erklomm bereits ihren Hügel. Wetzler fand Schutz hinter einem riesigen Felsblock, aber Vrba stolperte und landete mit dem Gesicht im Schnee. Zu verängstigt, um sich zu bewegen, hörte er einen Schrei: „Wir haben ihn! Feuer einstellen!“, gefolgt von den Geräuschen von Stiefeln und Hunden, die den Hang hinunterkamen. Aber noch hatten sie ihn nicht. Vrba sprang auf, warf seinen schweren, feuchten Mantel ab und hechtete hinter den Felsblock. Von unten fingen die Deutschen wieder zu feuern an, und die Hunde jaulten. Vrba und Wetzler erreichten die Hügelkuppe und stürzten sich jenseits hinab bis in einen rasch fließenden, eisigen Bach im Talgrund. Das eiskalte Wasser nahm ihnen den Atem, und Vrba glitt zweimal aus

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und wurde von der Strömung hinuntergezogen. Doch der Gedanke, dass der Fluss ihren Geruch abwaschen und die Hunde verwirren würde, trieb sie durch das Wasser und zwischen den Felsen hindurch. Durchnässt und angstvoll hievten Vrba und Wetzler sich anschließend am anderen Ufer hoch und kämpften sich vorwärts durch tiefen Schnee, der ihnen manchmal bis zur Taille reichte. Als sie das Bellen der Hunde nicht mehr hören konnten, ließen sie sich im Schutz der Bäume erschöpft in einen Graben fallen und verkrochen sich unter Gestrüpp. Eine gefühlte Ewigkeit lang lauschten und warteten sie mit pochendem Herzen. Bei jedem Zweig, der knackte, jedem Säuseln des Windes, jedem Schneeklumpen, der von einem herabhängenden Ast zu Boden platschte, durchfuhren sie Wellen der Angst. Aber nach einigen Stunden erstarb das Hundegebell, und es waren auch keine Schritte mehr zu hören. Sie hatten den Deutschen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zum ersten Mal konnten Vrba und Wetzler die Freiheit schmecken. Jetzt mussten sie es einfach bis zur Grenze schaffen und irgendwie in die Slowakei entwischen. Die Nächte blieben eisig kalt, und es gab fast nichts Essbares zu ergattern, nichts, um ihre leeren Mägen zu füllen, außer Schnee und Wasser aus eisigen Bächen. Es reichte gerade so zum Überleben. Und sie mussten ständig auf der Hut sein, sich an dunkle, abgelegene Nebenwege und gewundene, kurvenreiche Trampelpfade halten. In diesem Stadium fürchteten sie jeden. Sie konnten sich leicht vorstellen, erschossen oder auf irgendeiner namenlosen Brache mit einer Axt erschlagen zu werden. Alles wurde noch dadurch komplizierter, dass Vrbas Füße furchtbar geschwollen waren, weshalb er die Stiefel nicht mehr ausbekam und ihm das Gehen schwerfiel. All ihre ausgeklügelten Pläne wären bald hinfällig. Und dann, während sie sich über ein Feld schleppten, standen sie plötzlich einer buckligen Polin gegenüber, die ihre Ziegen hütete. Vrba und Wetzler starrten sie schweigend an, und sie starrte zurück. Fieberhaft dachte Vrba nach. Er hatte ein ungutes Gefühl bei dieser Frau, aber ihnen lief die Zeit davon. Er humpelte stark, und sie brauchten dringend etwas zu essen und jemanden, der sie zur Grenze führte. Mit jedem Tag, um den sich ihre Bekanntgabe der Nachrichten über Auschwitz verzögerte, wurden mehr Juden abgeschlachtet. Was sollten sie tun? Wenn die Alte Schwierigkeiten machte, würden sie sie erwürgen oder ihre Messer benutzen. „Wir wollen zur slowakischen Grenze“, sagte Vrba. „Können Sie uns den Weg zeigen? Wir sind aus einem Konzentrationslager ausgebrochen.“ Dann kamen die erschreckenden Worte: „Aus Auschwitz.“

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Zum ersten Mal hatte er es gesagt, hatte mit jemandem außerhalb des Lagers über diesen Ort gesprochen. Während die alte Frau diese beiden dreckigen, nassgeschwitzten Versprengten musterte, zeigte sie weder Furcht noch Überraschung. Unerklärlicherweise schien sie ihnen ebenso sehr zu misstrauen wie sie ihr. Damals wussten sie es nicht, aber Gestapo-Beamte tarnten sich häufig als entflohene Häftlinge oder Juden und suchten auf diese Weise polnische Partisanen oder „Verräter“ aufzuspüren. So nährte der Argwohn den Argwohn, und Furcht nährte Furcht. „Warten Sie hier“, erklärte sie mit ruhiger Stimme. „Heute Abend schicke ich Ihnen einen Mann, der ihnen hilft. Aber zuerst schicke ich ihnen was zu essen.“ Vrba und Wetzler suchten die Umgebung ab und erkannten, dass sie sich auf einem Hügel zwischen einer Brücke und einem dunklen Wald befanden. Sie überlegten kurz: Der Wald war viel näher als die Brücke, und das würde ihnen notfalls genug Zeit verschaffen, beim Anblick einer Patrouille in den Wald zu entkommen, höchstwahrscheinlich bevor die Deutschen sie entdeckten. In der Zwischenzeit würden sie hier warten. Nach zwei Stunden überquerte ein Junge von etwa zwölf Jahren die Brücke und sprang den Hügel hinauf. Er hatte ein Päckchen dabei, das gekochte Kartoffeln und ein bisschen Fleisch enthielt. Die beiden Männer aßen mit den Händen und schlangen alles hinunter. Ein zufriedenes Lächeln überzog das Gesicht des Jungen. „Meine Großmutter“, sagte er ihnen, „kommt zurück, wenn es dunkel ist.“ So schnell wie er gekommen war, verschwand der Junge wieder. Aber Vrba und Wetzler waren immer noch unsicher und fragten sich, ob das nicht alles nur ein raffinierter Trick war. Hitzig diskutierten sie darüber, ob sie weiter warten oder sich aus dem Staub machen sollten. Doch weiterhin überzeugt davon, dass sie nötigenfalls rasch im Wald verschwinden könnten, entschieden sie sich abermals zu warten. Die Sonne versank hinter dem Horizont, und die Nacht brach herein. Die Kälte kehrte zurück. Sie zählten die Stunden, bis endlich die alte Frau mit einem männlichen Begleiter in abgetragener Bauernkleidung zurückkam, der mit einer Pistole herumfuchtelte. Vrbas Nerven waren zum Zerreißen gespannt, seine Füße pochten; er fürchtete nun das Schlimmste. Niemand sprach, bis die Frau ihnen weiteres Essen gab, das sie wieder gierig vertilgten. Sie aßen mit den Fingern und schoben sich große Stücke in den Mund, ohne sich lange mit Kauen aufzuhalten, bevor sie alles hinunterschluckten und den nächsten Brocken verschlangen. Da brach der Pole, der das Schauspiel beobachtete, in lautes Lachen aus. Während er die Waffe beiseite legte, sagte er schmunzelnd, nur jemand, der aus einem Konzentrationslager kom-

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me, schlinge so wie sie. Dann erklärte er ihnen seine eigene Befürchtung, dass Vrba und Wetzler „Gestapospitzel“ hätten sein können, die als „Lockvögel“ dienten. Er lud sie ein, zu ihm nach Hause zu kommen und dort zu bleiben, und versprach dann, sie sicher über die Grenze zu bringen. Sie trotteten den Hügel hinunter ins Tal, vorbei an gepflegten Katen und betraten das Heim des Mannes. Vrba litt inzwischen Qualen wegen seiner Füße. Mit einer Rasierklinge, die er eigentlich dabei hatte, um notfalls Selbstmord zu begehen, schnitt er vorsichtig die Stiefel auf und befreite seine geschwollenen Füße. Der Mann gab ihm Hausschuhe und dann etwas noch Kostbareres: ein richtiges Bett, in dem sie schlafen konnten. Am nächsten Tag waren sie guter Dinge, ruhten sich in seinem Haus aus und warteten. Nach dem Abendessen informierte er sie, das es Zeit sei zu gehen. Sie verließen das Haus, schlossen die Tür und machten sich im Gänsemarsch still und leise zur slowakischen Grenze auf. Während sie marschierten, sprachen sie kein Wort, bis der Mann plötzlich stehen blieb. Er sagte ihnen, dass an dieser Stelle alle zehn Minuten eine deutsche Streife durchkäme. Sie müssten sich im Gebüsch verstecken, bis die nächste vorüber sei, und es dann wagen. Nach wenigen Minuten hörten die drei Männer Stimmen und Marschtritte. Es waren die Deutschen, die so dicht an ihnen vorbeiliefen, dass sie bloß die Hand hätten ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Doch die Streife blickte weder nach links noch nach rechts und verschwand rasch. Nachdem die Männer weitere zwei Tage marschiert waren, kamen sie auf eine ruhige Lichtung. Ihr Führer hielt inne und deutete mit dem Finger in eine Richtung: „Seht ihr den Wald dort drüben? Das ist die Slowakei.“ Der Wald war nur etwa 50 Meter entfernt und lag doch in einer völlig anderen Welt. Ihr Führer informierte sie, dass bald noch eine deutsche Streife auftauchen würde und dass sie sich auf den Weg machen müssten, sobald diese vorüber wäre. „Ich freue mich, dass ich helfen konnte“, fügte er hinzu und sagte dann mit einem Blick auf Vrbas Füße: „Ich hoffe, die Hausschuhe halten.“ Mit diesen Worten drehte ihr Führer sich um und verschwand in der Nacht. Zwei unaussprechliche Jahre lang hatten Vrba und Wetzler sich an ihre Hoffnungen geklammert und sie gehegt. Sie hatten gelernt, mit offenen Augen zu schlafen und mit verschlossenem Herzen von einem Tag zum anderen zu leben. Sie hatten gebangt, ob sie überleben würden oder nicht, und sie hatten sich gefragt, ob ihnen irgendwann jemand „da draußen“ zu Hilfe kommen

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würde. Diese Welt „da draußen“ hatten sie jetzt beinahe erreicht. Nachdem sie beobachtet hatten, wie die Deutschen vorbeimarschierten, stürmten sie so schnell sie konnten los und rannten über die Grenze in die Freiheit. Es war der 21. April 1944. Ihnen blieben drei Wochen, um den Ungarn, Roosevelt und dem Rest der Welt die schreckliche Wahrheit über Auschwitz zu überbringen. Damit begann eine ganze Folge außerordentlicher und zuzeiten niederschmetternder Ereignisse. Vrba und Wetzler wussten, dass sie nun nicht mehr länger in den Wäldern bleiben konnten. Sie mussten die hiesigen „Zionisten kontaktieren, die Judenräte, mit deren Hilfe die Deutschen die Deportationen organisierten“.13 Das bedeutete, sich ohne Papiere in eine Stadt zu wagen und um Hilfe zu bitten. Sie waren Fremde und eindeutig entflohene Häftlinge, und die Slowakei war dem „Dritten Reich“ seit 1939 durch einen aufgezwungenen Schutzvertrag als Satellitenstaat verbunden. Ihre Gelegenheit bot sich binnen Stunden. Als sie zwischen Bäumen hervor auf ein Feld traten, richtet sich vor ihnen ein armer Bauer auf und starrte sie an. Vrba und Wetzler beschlossen, auch ihm zu vertrauen. „Wir brauchen Hilfe“, sagte Vrba. „Wir müssen unbedingt nach Čadca.“ Der Bauer grinste: „Dann kommen Sie besser erst mal mit zu mir nach Hause, denn in den Klamotten kommen Sie nicht weit.“ Er erlaubte ihnen, in seinem Häuschen zu bleiben, gab ihnen ein paar bäuerliche Kleidungsstücke aus seinem spärlichen Fundus und erklärte ihnen, die Stadt sei am besten per Zug erreichbar. Er selbst würde in drei Tagen den Zug nach Čadca nehmen, um auf dem Markt dort ein paar Schweine zu verkaufen. „Wenn Sie mir dabei helfen, wird Ihnen niemand Fragen stellen.“ Also warteten Vrba und Wetzler drei Tage lang, bis die Schweine transportiert und verkauft wurden. Der Bauer hielt Wort. Er brachte sie zur Praxis eines ortsansässigen jüdischen Arztes namens Pollack, angeblich, damit Vrba seine Füße behandeln lassen konnte. Aufgrund des „katastrophalen Ärztemangels“14 in der Slowakei hatten die Nationalsozialisten Pollack nicht nach Auschwitz deportiert, der stattdessen im Hauptquartier der „slowakischen Kollaborationsarmee“ praktizierte. Vrba kannte Dr. Pollack sogar; beide wären 1942 beinahe auf demselben Transport nach Auschwitz gewesen, aber der jüdische Arzt war im letzten Moment von der Deportationsliste gestrichen worden. Nun war Vrba derjenige, der dem Arzt berichtete, dass alle seine „‚umgesiedelten‘

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Verwandten“,15 die mutmaßlich in den Norden oder Osten abgereist waren, in Wirklichkeit nicht mehr lebten. Erschüttert bandagierte Pollack Vrbas Füße. Am nächsten Morgen waren Vrba und Wetzler auf dem Weg nach Žilina, um die Oberhäupter der jüdischen Gemeinde zu treffen. Vrba hatte immer noch keine festen Schuhe und trug die Bandagen. Im Haus des Judenrates in Žilina wurden Vrba und Wetzler in einem luxuriösen und behaglichen Ambiente empfangen, wie sie es noch nie erlebt hatten. Der Rat bestand offensichtlich aus gesetzten, gelehrten und einflussreichen Männern. Bei ihrem Zusammentreffen mit dem Sprecher der slowakischen Juden speisten Vrba und Wetzler in einem intimen Esszimmer, „wo wir uns an einem Tisch mit schimmernd weißem Tischtuch und glänzendem Besteck niederließen [und] uns durch das feinste Mahl unseres gesamten Lebens futterten“. Nach dem Dessert rauchten sie Zigarren, tranken Sherry und redeten leidenschaftlich ohne Unterlass. In fiebriger Erregung erörterten sie jedes noch so schäbige Detail über Auschwitz. Doch irgendwann hielt der überschwängliche Vrba inne, blickte seine Gastgeber an und erkannte plötzlich, dass sie seltsam verdrossen und zurückhaltend wirkten. Sie schienen wahrhaftig nicht ein Wort von dem zu glauben, was er sagte. Ihm wurde klar, dass sie sich der Täuschung hingaben oder sich zumindest an die vergebliche Hoffnung klammerten, dass die Juden der Slowakei – ja, sämtliche Juden Europas – lediglich in Arbeitslagern oder Konzentrationslagern schufteten und nach dem Krieg in ihre Heimatländer zurückkehren könnten. Aber zufällig führte der Judenrat systematisch Buch: Jeder Name jedes Juden, der von den Nationalsozialisten deportiert worden war, war von Hand in dicken Kladden verzeichnet. Die Ratsmitglieder fragten Vrba deshalb als Erstes, an welchem Datum er abgefahren sei. „Am 14. Juni 1942.“ Das Nicken begann. Dann die nächste Frage: „Von wo?“ „Novaky.“ Weitere Seiten in der Kladde wurden umgeblättert. „Können Sie uns ein paar Namen von Leuten nennen, die mit Ihnen auf dem Transport waren?“ Vrba nannte ihnen 30 Namen von Leuten in seinem eigenen Waggon. Jeder einzelne Name war in der Kladde verzeichnet. Stundenlang fühlten die ungläubigen Männer des Judenrates Vrba und Wetzler in getrennten Zimmern auf den Zahn und überprüften ruhig immer und immer wieder jedes Detail. Vrbas Gedächtnis war phänomenal. Das anfängliche Misstrauen, das ihm entgegenschlug, ignorierend, verließ er sich allein auf die Fakten, und bald schon war klar, dass es sich dabei nicht um per-

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verse Produkte seiner Einbildungskraft handelte. Alles, was er sagte, hielt der genauen Überprüfung stand. Während Vrba und Wetzler ihre Gastgeber gewissenhaft durch die Hölle namens Auschwitz führten, begriff der Judenrat endlich, dass eine weitere Krise nahte. Der anfängliche Unglaube der Mitglieder, die inzwischen bleich waren und zitterten, wich jetzt blankem Entsetzen, das Entsetzen wich der Traurigkeit, und an die Stelle der Traurigkeit trat das dringliche Gefühl, rasch handeln zu müssen. Am Ende des Abends belief sich der Bericht von Vrba und Wetzler auf rund 30 eng beschriebene Seiten, einschließlich bemerkenswert detaillierter Organigramme von Auschwitz und Birkenau sowie Zeichnungen, welche die langen Reihen von Baracken und die Standorte der Krematorien zeigten. Der Bericht war fertig und konnte nun weltweit verbreitet werden. Während die Deportationszüge weiter mit monotonem Klacken über die Schienen nach Norden rollten, versprach der Judenrat Vrba und Wetzler, dass die Ungarn den Bericht schon am nächsten Tag in Händen halten würden. Danach, glaubten sie, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der Bericht auch Briten und Amerikanern ausgehändigt würde.16 In jener Nacht schlummerten Vrba und Wetzler bei aller Aufregung selig in weichen Betten, getröstet von dem Gedanken, dass die ungarischen Juden rasch alarmiert würden. Es war der 25. April 1944. Am 28. April übergab Oskar Krasnansky, ein Chemieingenieur und führender slowakischer Zionist in Preßburg (Bratislava),17 der nach Žilina gereist war, um Vrba und Wetzler zu befragen, den Vrba-Wetzler-Bericht an Rudolf Kastner,18 den Leiter des Rettungskomitees der ungarischen Juden. Als Vrba sich nach dem Bericht erkundigte und ob er die Ungarn erreicht habe, beruhigte man ihn: „Ja, er ist in ihren Händen.“ So nahm eines der größten Dramen des Krieges seinen Lauf. Unterdessen wurden aus Roosevelts zwei Wochen auf Hobcaw Barony schnell drei, und während der dritten Woche frönte der Präsident einem heimlichen Vergnügen. Seine alte Liebe, mit der er einst eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte, Lucy Mercer Rutherfurd,19 kam von ihrem Winterwohnsitz in Aiken herübergefahren, wofür ihr Bernard Baruch seine Benzinbezugsscheine überließ. Dieses heimliche und romantische Stelldichein arrangierte Roosevelts Tochter Anna. Ob es platonisch blieb oder nicht, ist historisch nicht verbürgt. An der gegenseitigen Liebe von Roosevelt und Lucy besteht hingegen nicht der geringste Zweifel.

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Lucys Name tauchte nie im Gästebuch von Hobcaw auf, aber es ist gut möglich, dass sie eine ganze Woche blieb. Roosevelts Sohn Elliott schrieb später: „Lucy fuhr von ihrem nahe gelegenen Haus in Aiken herüber, um die Fürsorge und Liebe für diesen einsamen, leidenden, fröhlichen Mann, die sie nicht verloren hatte, fortzusetzen. Ihre Besuche wurden von der Hobcaw-Gemeinschaft für selbstverständlich genommen, aber Mutter erfuhr kein Wort […] ihr getreuer Berater Bernie Baruch war ein Komplize bei der Wahrung des Geheimnisses.“ Doch nicht nur Vergnügliches trug sich auf Hobcaw zu. Am 28. April wurde der Präsident informiert, dass sein guter Freund und Kabinettskollege, Marineminister William Franklin „Frank“ Knox, im Alter von 70 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war. Zweifellos verunsichert durch diese Nachricht, bekam Roosevelt es selbst mit der Angst zu tun.20 Nach dem Mittagessen begann er heftig zu schwitzen. Krämpfe schüttelten ihn am ganzen Körper, er verspürte einen heftigen Schmerz im Unterleib, und ihm war übel. Sein Genick tat schrecklich weh, und sein Blutdruck stieg gefährlich mit 240 zu 130 auf einen neuen Höchststand. Immerhin widerstand Roosevelt mit seinem Kampfgeist jeder Panik und seine Ärzte ebenso. Dr. Bruenn diagnostizierte als Ursache für das Unwohlsein eine weitere Krankheit, Gallensteine, und verordnete dem Präsidenten zwei Tage Bettruhe. Bruenn und McIntire entschieden außerdem, dass Roosevelt nicht zu Knox’ Beerdigung in Washington, D.C., reisen könne, sondern stattdessen eine zusätzliche Woche Genesungszeit brauche. Um die quälenden Schmerzen zu lindern und damit er eine kurze Presseerklärung zu Knox’ Tod geben konnte, bekam Roosevelt später an diesem Tag eine subkutane Kodein-Injektion. Trotz der öffentlichen Verlautbarungen seiner Ärzte war klar, dass Roosevelts Körper allmählich seine Funktionen einstellte. Der Blutdruck des Präsidenten war unverändert hoch, und er nahm täglich Digitalis. Nach wie vor war er kaum imstande zu arbeiten. Am 27. und 28. April, während sich ein leidender Roosevelt in South Carolina vor Schmerzen krümmte, führten alliierte Stoßtruppen auf den Slapton Sands, einem ruhigen Strandabschnitt zwischen den Dörfern Torcross und Slapton an der Südwestküste Englands, ihre wichtigste militärische Übung des gesamten Krieges durch.21 Unter dem Decknamen „Exercise Tiger“ bildete dieses Manöver das Herzstück einer wochenlangen groß angelegten Generalprobe für die „Operation Overlord“. Es sollte unter strengster Geheimhaltung und unter möglichst realistischen Gefechtsbedingungen stattfinden, wofür drastische

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Maßnahmen wie die Ausgabe scharfer Munition an die Soldaten und der Beschuss durch Schiffsartillerie sorgen würden. Selbst die eigens errichteten Schutzwälle waren Beschreibungen des Atlantikwalls in der Normandie nachempfunden. Außerdem wiesen die Küste von Devonshire und die Kreidefelsen im Hintergrund eine auffallende Ähnlichkeit auf mit Utah Beach, wie der Deckname für einen Strandabschnitt in der Normandie lautete. An der gemeinsamen Übung von Briten und Amerikanern in dieser Nacht waren große Verbände beteiligt, alles in allem etwa 30 000 Mann, die als Streitkraft nach Frankreich gehen sollten. Da waren Stoßtruppen O für Omaha, G für Gold, U für Utah, J für Juno und S für Sword. Da waren Infanteriedivisionen, Pionierdivisionen und das 70. US-Panzerbataillon. Getrennt davon operierten Ranger-Bataillone, Marinebataillone, die 82. US-Luftlandedivision und chemische Bataillone, die alles dekontaminieren sollten, was mit Giftgas in Berührung gekommen war. Auch Sanitäter und die sogenannten grave registration crews, die sich um die Toten kümmern sollten, kamen zum Einsatz. Am eigentlichen D-Day würden die Soldaten dann instruiert werden, nicht stehen zu bleiben, um den Verwundeten zu helfen – diese qualvolle Aufgabe sollte den Sanitätern und Totenträgern überlassen bleiben. Bei der Übung wurden die Truppen zunächst auf eigens bereitgestellten Arealen zusammengezogen, über ihren Einsatz instruiert und dann gemeinsam mit Panzern, Munition und anderem Material an Bord der Landungsboote verladen. Eisenhowers Kommandeure scheuten keine Kosten, oder zumindest sah es an diesem Abend so aus. Insgesamt 337 Schiffe waren beteiligt. Sie sollten exakt dieselbe Strecke zurücklegen, und die Fahrt sollte ungefähr so lange dauern wie die Überquerung des Ärmelkanals in Richtung Normandie. Die Männer, von denen viele bereits übermüdet und in Schweiß gebadet waren, machten sich an Bord der Truppentransportschiffe auf die heftige Bombardierung der Küste gefasst, die ihrer Landung vorausgehen sollte. Schon beim früheren Training für den D-Day war stets zunächst scharfer Beschuss über die Strände hinweggefegt, um den Soldaten den Weg zu bereiten, wie es auch für den Angriff auf Rommels Stellungen geplant war. Aber dieses Mal erreichten einige der Landungsboote wegen falscher Kommandos die Küste, schon bevor das Granatfeuer aufgehört hatte, und so stürmten diese Soldaten die Strände, nur um durch eigene Truppen in die Luft gejagt zu werden. Und eine weitere Katastrophe ereignete sich am nächsten Manövertag, um zwei Uhr morgens. Ein heller Mond erleuchtete den Himmel. Die Männer, die ihre Waffen umklammerten oder sich Zigaretten anzündeten, waren beeindruckt, wie ruhig

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das Wasser vor ihnen lag. Die Luft war frisch, die Sicht ordentlich und die Moral unter den Männern hoch. Einige Stunden zuvor, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, waren Stoßtruppen der 4. US-Infanteriedivision erfolgreich ausgeschifft worden und in Slapton Sands an Land gegangen. Mit der Korvette HMS Azalea im Rücken traf der Schiffskonvoi nun Anstalten zum nächtlichen Sturmangriff. Es war ein imposanter Anblick, als acht alliierte Panzerlandungsschiffe sich stetig auf Slapton Sands zu bewegten. An Bord war vieles, was zur Invasion gehörte: Pioniere, Experten für chemische Kampfstoffe, Versorgungstrupps, Schwimmpanzer und Jeeps. Früher an diesem Tag hatte sich Eisenhower persönlich die Vorbereitungen angesehen. Alles schien bereit. Aber weder den Soldaten noch ihren Kommandeuren war hinreichend bewusst, dass auf der anderen Seite eben dieses Gewässers deutsche Horchposten entlang des Atlantikwalls pausenlos den amerikanischen Funkverkehr abhörten und das zunehmende Gerede über den Trainingsangriff aufschnappten. Obwohl es sich nur um eine Übung handelte, war dies einer der schlimmsten Alpträume Eisenhowers: Die Deutschen waren auf die Aktivität der Alliierten aufmerksam geworden. Und plötzlich ging alles schief. Neun mit Torpedos bewaffnete und zur nächtlichen Tarnung schwarz angestrichene deutsche Schnellboote glitten unter Einhaltung der Funkstille wie Gespenster aus der Dunkelheit ungehindert und unbemerkt in die Lyme Bay. Für die Amerikaner bahnte sich eine Katas­trophe an, die durch menschliches Versagen noch verheerender ausfiel. Als kurz nach Mitternacht eines der begleitenden britischen Patrouillenboote die deutschen Schnellboote entdeckte, die inzwischen – eine weitere ungeheuerliche Unachtsamkeit – den westlichen Abwehrring der Alliierten durchbrochen hatten, erreichte die Meldung zwar schnell eine britische Korvette, nicht aber die amerikanischen Schiffe. Wegen eines Tippfehlers in den Befehlen benutzten die US-Schiffe eine andere Funkfrequenz als das britische Marinehauptquartier an der Küste. Diese Versehen sollten sie teuer zu stehen kommen. Binnen einer Stunde herrschte Chaos. Ein paar Augenblicke lang vermuteten einige von den Amerikanern noch, diese 30 Meter langen deutschen Angriffsschiffe könnten Teil der Übung sein. Dabei gab es in ihren Codebüchern sogar ein spezielles Signal, „W boats attacking“, das verwendet werden sollte, wenn sie einen Konvoi deutscher Schiffe entdeckten. Doch nichts Böses ahnend, ergriffen sie keinerlei Verteidigungsmaßnahmen, und die Überraschung war perfekt, als die Schnellboote der

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Deutschen anfingen, Torpedos abzufeuern. Das Nächste, was die Amerikaner spürten, war ein heftiger Stoß, gefolgt von ohrenbetäubendem Lärm. Wasserfontänen schossen in die Luft, als die Torpedos große Löcher in die unvorbereiteten amerikanischen Schiffe rissen. Während die Soldaten entsetzt zusahen, wurde LST 531 getroffen und geriet schnell in Brand. Die Torpedos durchschlugen die Steuerbordseite, explodierten zuerst auf dem Panzerdeck und dann im Maschinenraum, ohne dass die Amerikaner jetzt noch viel hätten tun können. Binnen Sekunden trafen weitere Torpedos. Zunächst schien es, als ließen sich die Brände vielleicht noch eindämmen, aber dann breiteten sie sich in rasender Geschwindigkeit aus. Genährt wurden die Flammen vom Benzin in den an Bord befindlichen Fahrzeugen. Die heftigen Explosionen rissen nicht ab, und Männer rannten, taumelten oder krochen umher. Die Hitze und der Rauch waren so intensiv, dass keuchende Feuerwehrmänner gezwungen waren, ihre Bemühungen einzustellen. Bald vermischte sich das Knistern der Flammen mit den wilden Schreien der Soldaten, die um Hilfe flehend bei lebendigem Leib verbrannten. Die Geräusche und der Anblick waren entsetzlich. Überall verstreut lagen abgetrennte Gliedmaßen und kopflose Körper. Und während der Geruch von verkohltem Fleisch die Luft erfüllte, vermischte sich Blut mit Salzwasser. Hellgelbe und weiße Lichtblitze durchzuckten den Himmel – die Deutschen schossen Magnesium-Leuchtkugeln in die Luft. Die Amerikaner versuchten das Feuer zu erwidern, aber vergeblich. Als das nicht funktionierte, wurde entschieden, der Konvoi sollte sich zerstreuen. Aber auch das funktionierte nicht. Andernorts rissen deutsche Torpedos Löcher in ein zweites Panzerlandungsschiff, LST 289, wobei die Schäden hier zumindest nicht verheerend waren. Zwar war auch LST 289 ein einziges Inferno aus schwarzklaffenden Öffnungen, verbogenem Stahl und brennendem Öl, und das Schiff verlor sein Heck, aber nachdem es zurückgewichen war, hielt es stand und schleppte sich in den Hafen von Dartmouth. Von einem anderen Schiff aus beobachteten amerikanische Soldaten fassungslos, wie ein Überwassertorpedo sich heulend LST 58 näherte und es nur knapp verfehlte. Ein drittes Schiff, das zuvor getroffen worden war, LST 507, hatte nicht so viel Glück. Als die Männer loshasteten, um die Schiffsgeschütze bereit zu machen, gab es zwei donnernde Explosionen, und große Feuersäulen stiegen aus dem Bauch des Schiffes auf. Kurz darauf schoss Wasser durch ein Loch im Schiffsrumpf und über die Bordwände, und der Strom fiel aus. Als der Alarm ertönte, damit die Männer das Schiff verließen, knickte es plötzlich mittschiffs ein und fing zu schlingern an. Männer rannten verzweifelt über die Decks. LST 507 sank in-

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nerhalb von nur sechs Minuten, und im Laufe des Gefechts wurden noch fünf weitere Schiffe beschädigt. Es gibt viele Möglichkeiten, im Krieg sein Leben zu verlieren, und dies hier war eine der entsetzlichsten. Eingeschlossen unter Deck und überflutet von den Wassermassen, gingen Hunderte verzweifelter Soldaten und Seeleute mit ihren Schiffen unter. Andere schienen in dem Chaos zunächst besser wegzukommen, indem sie von Bord sprangen. Aber viele von ihnen ertranken trotzdem kurz darauf, weil man ihnen nicht gezeigt hatte, wie sie ihre Rettungswesten anlegen sollten. Sie hatten sie sich um die Hüfte geschnallt statt unterhalb der Achselhöhlen um die Brust. Viele weitere Männer ertranken, weil ihre Mäntel sich mit Wasser vollsogen. Sie strampelten noch ein wenig, bevor auch sie quälend langsam unter Wasser verschwanden. Wieder andere erlitten einen Schock durch das eiskalte Wasser. Während sie gellend um Hilfe schrien, glitten sie in die See und starben an Unterkühlung. Wieder andere schrien hysterisch – sie konnten nicht schwimmen und hatten panische Angst vor Wasser. Nur wenige von ihnen überlebten den Angriff. Und was jene betraf, die es schafften, sich an Rettungsflöße zu klammern, so zitterten sie und schluchzten still vor sich hin und dankten Gott, dass sie noch am Leben waren. Sie mochten gerade noch davongekommen sein, aber sie standen unter Schock und wussten nicht, ob man sie finden würde. Wenn schon die Übung katastrophal danebenging, so gilt das auch für die Rettungsaktion. Im Laufe der Nacht gaben immer mehr Männer, die sich auf den Flößen die Seele aus dem Leib kotzten, einfach auf, manchmal nur Minuten, bevor die Rettungsschiffe in die Lyme Bay einliefen. Die alliierte Flottille brauchte eine geschlagene Stunde, um nach Westen zu eilen und Slapton Sands zu erreichen. Als diese Seeleute eintrafen, waren sie bestürzt über das Gemetzel, das stattgefunden hatte. Eine unheimliche und hoffnungslose Szenerie tat sich vor ihnen auf. Hunderte aufgedunsener, verbrannter Körper trieben schaukelnd im Wasser. Die meisten waren vollständig bekleidet, mit festgeschnallten Stahlhelmen. Viele hatten derart stark verkohlte Hände und geschwärzte Gesichter, dass die Retter sie aus der Entfernung für „farbige Soldaten“ hielten. Und es gab Hunderte unkenntlicher Fetzen Fleisch, die einfach ins Wasser gespült worden waren. 22 Außerdem war es schrecklich heiß, da die Atmosphäre noch erfüllt war von Feuer und Rauch. Fortwährend explodierte Munition, auf dem Meer schwamm derweil ein Ölteppich, und heftige Brände wüteten weiter, zischend, Funken sprühend und knisternd. Die Leichen, die Trümmer, der verbogene Stahl, Rettungswesten, Waffen, Munition, Patronen, sinkende Panzer, ausgebrannte

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Jeeps und grotesk deformierte Lastwagen – all das wurde von einer infernalischen Glut beleuchtet. Viele der benommenen, erschöpften Überlebenden schluckten ein giftiges Gemisch aus Blut, Treibstoff und Salzwasser. Sich an ihre Rettungsflöße klammernd, kämpften sie gegen den Drang zu schlafen an, trieben stundenlang in dem Dunst und dem „unerträglich kalten“ Wasser und warteten darauf, gerettet zu werden. Manche vergeblich. Die ganze Nacht über und am frühen Morgen bemühten sich Rettungs­ teams – vielfach mit Tränen in den Augen –, so viele der Lebenden zu retten und so viele der Toten zu bergen wie möglich. Ein Marineangehöriger erinnerte sich: „Es war das Traurigste, was ich je gesehen habe“, und ein britischer Retter nannte es einen „grauenvollen Anblick“. Tagelang wurden weitere Leichen an Land gespült. Insgesamt belief sich der Zahl der Toten auf 749 – 551 Soldaten und 198 Seeleute –, und 300 weitere Teilnehmer der Übung wurden verwundet. In diesem kostspieligsten Manöver des gesamten Krieges verloren die Alliierten mehr Männer als bei den echten Kämpfen am Utah Beach. ­Eigentlich starben in Slapton Sands mehr Amerikaner als an allen einzelnen D-Day-Stränden mit Ausnahme von Omaha Beach. Im Beisein seines Marineberaters Harry C.  Butcher wurde ein in seinem Büro auf und ab schreitender, wutentbrannter Eisenhower unverzüglich über diese schrecklichen Verluste informiert. Butcher bemerkte gegenüber Eisenhower, dass er besorgt sei über „die fehlende Zähigkeit und Wachsamkeit“ der jungen amerikanischen Offiziere bei den Übungen.23 Damit stand Butcher nicht allein: Viele Augenzeugen hielten Slapton Sands für ein schlechtes Omen. Eisenhower und das alliierte Oberkommando beschäftigte zudem noch eine andere tiefe Sorge: Zehn Offiziere an Bord der gesunkenen Schiffe gehörten zu den sehr wenigen, die genau wussten, wo die D-Day-Landungen stattfinden würden – und diese zehn galten nun sämtlich als vermisst. Die Sache wurde schnell zu einem Rennen darum, wer die Offiziere zuerst finden würde: Eisenhower oder Rommel. Wenn sie den Deutschen in die Hände fielen, wäre das ein Desaster der schlimmsten Ordnung. „In Panik“ starteten Amerikaner und Briten sofort eine umfassende Suche nach den Männern in der Bucht.24 Eisenhower wusste, dass unter Umständen das Schicksal der Invasion auf dem Spiel stand.

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Flucht, Teil 2

Von alledem wusste der genesende Roosevelt nichts, als er am nächsten Morgen erwachte. Niemand hatte ihn angerufen. Die Wirkung der Kodeinspritze hatte nachgelassen, aber nicht seine Schmerzen. Er fühlte sich nach wie vor höchst unwohl und blieb auf Anweisung der Ärzte im Bett. Ausnahmsweise einmal fügte er sich, weil er sich ein Telegramm in Erinnerung rief, das er Churchill im vergangenen Dezember geschickt hatte, als der Premierminister mit Lungenentzündung darniederlag. „In der Bibel steht, Sie müssen einfach tun, was [Ihr Arzt] anordnet“, hatte der Präsident aus Washington geschrieben, „aber ich kann momentan Vers und Kapitel nicht genau ausmachen.“25 Es war vielleicht bezeichnend, dass über dem Kamin in seinem Zimmer eine Radierung hing, die eine Mannschaft seiner Alma Mater, Harvard, beim Sieg in einem Rennen gegen Oxford im Jahr 1876 zeigte. Natürlich stand Roosevelt jetzt in einem vollkommen anders gearteten Wettkampf: Er musste durchhalten, bis „Overlord“ eine zweite Front eröffnen konnte. Aber während seine Befehlshaber alliierte Armeen und Schiffskonvois bewegten wie Figuren auf einem Schachbrett, vermochte Roosevelt sich inmitten der Behaglichkeit der Baruch-Villa kaum selbst zu bewegen. Nichtsdestotrotz ließ seine Entschlossenheit niemals nach. Und im Laufe seines Aufenthalts auf Hobcaw Barony besserte sich der Gesundheitszustand des Präsidenten. Seine Miene hellte sich merklich auf – ein Reporter beobachtete, dass die „müden Furchen aus seinem Gesicht gestrichen wurden“ –, und seine Laune und Haltung hatten sich ebenfalls beträchtlich verbessert. Er reduzierte sein Trinken auf anderthalb „Cocktails pro Abend“ und sonnte sich, bis er „ganz braun gebrannt“ war. In einem Kommentar der New York Times hieß es: „Wir können alle froh sein, dass er Gelegenheit hatte, einen Monat der Ruhe und Erholung von den schier überwältigenden Bürden zu genießen, die zu tragen sein Amt ihn zwingt. Er hat jede einzelne Stunde verdient.“ William Hassett, Roosevelts Berater, stimmte zu und merkte an, sein Chef sei „strahlend und glücklich“. Aber obwohl Hassett beharrlich behauptete, Roosevelt habe vollkommene Ruhe gehabt, erregte eine Äußerung von ihm Besorgnis: „Er ist dünn, und obwohl er eine gesunde Gesichtsfarbe hat, fürchte ich, dass er die Nachwirkungen der Grippe, auf die eine Bronchitis folgte, nicht ganz abgeschüttelt hat. Sie quälen ihn nun seit vielen Wochen.“ Nachdem Roosevelts Zug am Sonntagvormittag, dem 7. Mai, Washington erreicht hatte, schrieb der Präsident unbeschwert an Harry Hopkins, er habe „zwölf von 24 Stunden geschlafen, in der Sonne gesessen, nie die Geduld verloren und beschlossen, die Welt abzuschreiben“. Scherzhaft fügte er hinzu: „Das Interessante ist, dass die Welt sich nicht abgeschrieben hat. Ich habe einen sagenhaften Stapel in meinem Körbchen, aber das meiste von dem Zeug hat sich von selbst erledigt.“ 161

Kapitel 5

„Dies ist das Jahr 1944“ Das stimmte nicht ganz. Eine absolute Ironie des Krieges war, dass ausgerechnet ein Mann, der nicht gehen konnte und dessen Gesundheit sich verschlechterte, nun symbolisch die freie Welt auf seinen Schultern trug. Im Frühjahr 1944, inmitten der sich für die Juden zuspitzenden Krise und der eskalierenden militärischen Situation vor Ort, war Franklin D. Roosevelt seit beispiellosen elf Jahren Präsident der Vereinigten Staaten – drei Jahre länger als George Washington, sechs Jahre länger als Abraham Lincoln. Für jene, die ihn kannten, wie für jene, die in der Ferne unter der Fuchtel der Nationalsozialisten standen und von ihm wussten, blieb er der vielleicht außergewöhnlichste und rätselhafteste politische Führer auf Erden. Wie sein Partner in Kriegszeiten, Winston Churchill, war er eine übermächtige Persönlichkeit und eine ungemein überzeugende Figur. Mit einer einzigen leisen Andeutung zur rechten Zeit vermochte er tiefe Leidenschaften bis hin zu übergroßer Zuneigung zu wecken. Im Jahr 1940, im Vorfeld seiner dritten Amtszeit, hatte Roosevelt die demokratischen Delegierten in einer Grußbotschaft wissen lassen, dass er zunächst aufgestellt werden müsse, um ihr Kandidat zu sein. Daraufhin hatte ihm der Nominierungsparteitag vielstimmig geantwortet: „Wir wollen Roosevelt … Die Welt will Roosevelt!“ Seine Unterhaltungen waren eine berauschende Mixtur aus robuster Lebensweisheit und wohldosiertem Humor. Seine Gipfeltreffen in Kriegszeiten waren eine subtile Mischung aus Diplomatie und der Gabe des Schauspielers, Menschen in seinen Bann zu ziehen – er wusste stets, wann er einlenken und wann er standhaft bleiben musste. Und seine Kamingespräche, mit denen er eine Nation zu den Waffen rief, waren genauso legendär wie seine Gerissenheit und seine unerschütterliche Verteidigung der Demokratie. Trotz seiner sich verschlechternden Gesundheit waren seine ungeheure Entschlossenheit und seine bemerkenswerte Konzentration darauf, den Krieg zu gewinnen, schier unübertroffen, und vielleicht mussten sie das sein. Allein auf dem westlichen Kriegsschauplatz waren viele Millionen völlig auf seine Führung angewiesen: die Briten, die Freifranzosen, die Belgier, die Holländer, die Dänen und die Norweger; die bedrängten Bevölkerungen Luxemburgs, Polens

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und der Tschechoslowakei; die Griechen und die Türken; und zunehmend auch die Italiener und Ungarn. Dann waren da noch Josef Stalin und die sowjetische Führung, ganz zu schweigen von den Völkern der Sowjetunion; und natürlich die europäischen und sowjetischen Juden, wenn auch in schwindender Zahl. Roosevelt war 62, und die Bürden der Führerschaft lasteten schwerer denn je auf ihm. Der unentwegten Erschöpfung und des Kämpfens überdrüssig, versuchte er jetzt, Gewicht zu verlieren, um seine schmerzende Gallenblase zu entlasten. Sein Gesicht war abgespannt und hager, und sein Hemdkragen schlotterte lose um seinen Hals. Sein Blutdruck stieg weiter, und seine Haut hatte eine gräuliche Färbung angenommen. Angesichts des zum Greifen nahen Sieges kam es nun zu einem Wettlauf zwischen dem inneren Feind – seinem eigenen Körper – und dem äußeren Feind – den Achsenmächten. Doch grübelte er je darüber, dass ihm die Felle davonschwammen? Er sprach nie darüber – nicht mit seinen Beratern, nicht mit seinen Vertrauten, weder vor der Nation noch vor der Welt. Nicht, wenn er Memoranden mit hastigen Vermerken am Rand versah, oder wenn er während seiner geliebten Cocktail-Stunde Drinks mixte. Nicht, wenn er sich seinem Traum von einer friedlichen Nachkriegsordnung hingab. Und wie leidend er auch war, wie schwer es ihm auch fiel, mit all den konkurrierenden Erwartungen an ihn zu jonglieren, wusste Roosevelt doch eines: Berlin, das Zentrum des NS-Imperiums, erzitterte unter der Wucht des alliierten Ansturms, und Hitlers „Drittes Reich“ kam dem Zusammenbruch immer näher.1 Roosevelt spürte, dass er jetzt nicht nachlassen durfte. Auch teilte er die Meinung des US-Kriegsministeriums, das erklärte: „Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass die effektivste Unterstützung, die wir den Opfern feindlicher Verfolgung angedeihen lassen können, darin besteht, für die baldige Niederlage der Achse zu sorgen.“2 Stimmte das? Ironischerweise war diese Verengung des Blicks auf das Geschehen an den Fronten genau das, womit die Nationalsozialisten rechneten, als sie ihre Tötungsmaschinerie in Auschwitz dafür rüsteten, unter höchster Geheimhaltung eine beispiellose Zahl von Opfern abzuschlachten. Jetzt, im Mai 1944, sollte sich eine Krise zuspitzen: zwischen dem Schlachtfeld, wo die „Operation Overlord“ bedrohlich näherrückte, und den Gaskammern in Auschwitz.

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Kapitel 5

In der Slowakei waren maschinengeschriebene Abschriften des Berichts von Vrba und Wetzler erstellt worden. Ein Exemplar wurde einem für Istanbul bestimmten Kurier übergeben. Ein weiteres ging an den slowakischen orthodoxen Rabbiner Chaim Michael Dov Weissmandl, der versprach zu versuchen, den Bericht in die Schweiz zu schmuggeln, damit er von dort aus in den Westen gelange. Ein drittes Exemplar wurde dem Geschäftsträger des Vatikans in Preßburg (Bratislava), Giuseppe Burzio, ausgehändigt. Aber abgesehen von Roosevelt selbst würden die wichtigsten Empfänger wohl die ungarischen Juden sein. Einer der Männer, die Vrba befragt hatten, Oskar Krasnansky, übersetzte den Bericht ins Ungarische und übergab ihn dem Leiter des Rettungskomitees der ungarischen Juden, Rudolf Kastner. Anfang Mai 1944 befand sich der Bericht also beim Leiter des Komitees und seinen Beratern. Aber dort blieb er auch, im Verborgenen. Unerhörterweise unternahmen diese Männer keine Schritte, um ihn in Budapest oder andernorts zu veröffentlichen, ihn weiteren Personen zur Kenntnis zu bringen oder ihn in irgendeiner Weise publik zu machen. Warum nicht? Während Vrba und Wetzler die Freiheit erlangten, ersannen Adolf Eichmann und die Deutschen im Hauptquartier der SS in Budapest eine groß angelegte Täuschungsaktion, um Juden und Alliierte gleichermaßen zu verwirren, während sie die ganze Zeit weiter ihre mörderischen Fäden sponnen. Zunächst verhandelten sie mit den Führern der ungarischen Juden über ein Abkommen, das später unter dem Schlagwort „Waren gegen Blut“ bekannt wurde. Die Deutschen schlugen vor, der jüdischen Bevölkerung Ungarns den Tod zu ersparen, wenn die Nationalsozialisten als Gegenleistung Gebrauchsgüter erhielten, wie etwa 10 000 Lastwagen, vermutlich zum Einsatz an der Ostfront, und „bestimmte Mengen von ‚Kaffee, Tee, Kakao und Seife‘“.3 Weil sie unbedingt irgendeine Fluchtmöglichkeit brauchten, weil sie unbedingt leben wollten, griffen die ungarischen Juden verzweifelt nach diesem Strohhalm der Deutschen. Sie entsandten Joel Brand, ein Mitglied des ungarischen Rettungskomitees, damit er in ihrem Namen verhandelte.4 Am 19. Mai traf Brand an Bord eines kleinen Flugzeugs mit einem niederschmetternden Angebot im Gepäck wieder in Istanbul ein. Als Geste des guten Willens, sagte er, seien die Deutschen bereit, ein paar Tausend Juden freizulassen, sobald die Alliierten dem Plan zustimmten. Aber ohne ein Abkommen würden die Juden getötet. Die Briten, die zutiefst misstrauisch waren, verhafteten Brand und unterzogen ihn in Kairo einem intensiven Verhör.

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Die Sowjets ihrerseits sperrten sich, weil sie glaubten, es handele sich um eine List Deutschlands, um einen Separatfrieden mit den Westalliierten zu erreichen. Und auch Amerikaner und Briten waren äußerst skeptisch, der amerikanische Auslandsnachrichtendienst OSS (Office of Strategic Services) nannte das Angebot ein „unfassbar schmutziges Manöver der Nazis“.5 Dennoch konnte niemand sicher sein, ob die Nationalsozialisten ernsthaft erwogen, irgendwelche ungarischen Juden zu „retten“, oder ob es sich einfach um einen raffinierten Versuch handelte, sowohl die Juden als auch die Alliierten zu entzweien. Doch inzwischen spielte das ohnehin kaum noch eine Rolle. Die ersten Züge aus Budapest waren schon längst in Richtung Auschwitz abgefahren und weitere trafen nun pausenlos dort ein. Ein Massenaufstand, wie ihn sich Vrba und Wetzler für Ungarn erhofft hatten, blieb aus. Im Grunde hatten die slowakischen Juden, indem sie d ­ eren Bericht an die jüdischen Führer in Ungarn schickten, die gerade alles an eine Sonderabmachung mit den Nationalsozialisten setzten, Hitler un­wissentlich in die Hände gespielt. Und so stiegen erneut Hunderttausende von Juden ahnungslos in Eisenbahnwaggons, die langsam in Richtung Tod rollten. Wie Elie Wiesel anmerkt, wusste Roosevelt, obwohl es Monate dauern sollte, bevor der vollständige Vrba-Wetzler-Bericht das Weiße Haus erreichte, ebenso in groben Zügen von dieser drohenden Tragödie wie Churchill. Auch der Vatikan und die Schweiz wussten davon, und selbst die New York Times war im Bilde. Nur die betroffenen Opfer tappten weiter im Dunkeln. „Eine Panik in Ungarn wäre besser gewesen als die Panik, die die Opfer im Angesicht der Krematorien in Birkenau überkam“, schrieb Vrba später. „Eichmann wußte das“, fügte er hinzu, „darum rauchte er mit den Kastners Zigarren, deshalb ‚verhandelte‘ er, deshalb ließ er die ‚wirklich großen Rabbis‘ frei ausgehen; und unterdessen ging er daran, Hunderttausende auf die gewohnte Art ‚umzusiedeln‘, ohne daß die Deportierten von Panik ergriffen wurden …“6 Folglich wurden, selbst als die D-Day-Streitkräfte sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals sammelten, Hitlers Pläne zur Vernichtung jedes ungarischen Juden, dessen er habhaft werden konnte, in die Wege geleitet – obwohl man diese Juden zuvor für unantastbar gehalten hatte. Während der Mai im Westen der Monat des Wartens auf „Overlord“ war, hatte im Osten für das letzte Überbleibsel des europäischen Judentums, die ungarischen Juden, jegliches Warten ein Ende.7

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Seit dem Ausbruch des Krieges hatte die mit Deutschland verbündete ungarische Regierung der großen und noch intakten jüdischen Gemeinschaft – etwa 750 000 Menschen – erlaubt, nahezu unbehelligt weiterzuleben. Für einen wütenden Hitler war dieser Zustand unerträglich, umso mehr, als er fürchtete, dass Ungarn einen Separatfrieden mit den Alliierten aushandeln könnte. Also errichtete Hitler mithilfe von Einschüchterung, Erpressung und Gewalt – er griff sogar zu dem außergewöhnlichen Mittel, die Familie des ungarischen Staatsoberhaupts zu bedrohen – ein Marionettenregime in Ungarn, das bereit war, seinen Anordnungen Folge zu leisten. Nach dieser deutschen Machtübernahme sammelten sich am 19. März 1944 deutsche SA-Männer in den Straßen von Budapest, begleitet von den gefürchteten Drahtziehern des Völkermords, der SS. In jener Nacht hallten ihre Marschtritte im ganzen Lande wider, und damit schien das Schicksal der ungarischen Juden besiegelt. In aller Eile wurde das Land unter einem sorgfältig geplanten Deckmantel aus Täuschung und Irreführung in sechs Flächenzonen sowie die Stadtzone Budapest unterteilt, und bis zum 15. April war Ungarns gesamte jüdische Bevölkerung in Ghettos umgesiedelt worden. In den darauffolgenden Tagen wurden Juden unnachgiebig in improvisierten Lagern interniert8 oder in Viehwaggons gepfercht.9 Was die scheinbar Glücklichen betraf, denen es gelang, ein sicheres Versteck zu finden, wurden viele von ihnen schnell zur Strecke gebracht. 10 Mit atemberaubender Geschwindigkeit ging eine Kultur zugrunde: Sorgenvolle Männer beteten, während verängstigte Mütter hastig Verpflegung für die Reise einpackten und liebevoll ihre Kinder badeten. Für alle Fälle stopften sie Wertsachen in kleine Leinensäckchen oder befestigten sie unter Kleidungsstücken. Da sie kaum eine Ahnung hatten, was sie erwartete, achteten sie beim Packen ihres Gepäcks sorgfältig darauf, die beste Garderobe der Babys mitzunehmen, ebenso wie Windeln, Spielzeug, Teddybären, Decken und all jene Dinge, an die nur Eltern denken. Jetzt kamen die schlaflosen Nächte – und die große Ungewissheit, was sie als Nächstes erwartete. Ein Umsiedlungslager irgendwo in einer fernen Gegend? Die Trennung von ihren Lieben? Dann begann der Terror. In den Provinzen, in Baja, der Karpato-Ukraine oder Kecskemét, herrschten Chaos und Verwirrung. In einer Stadt nach der anderen schwärmten SSTrupps durch die Straßen und begannen die Menschen unter Schlägen zusammenzutreiben: Familien wurden aus ihren Wohnungen gezerrt, zurück blieben halbvolle Schalen mit Suppe, ein Teigklumpen, der darauf wartete, geknetet zu werden, Bücher, Taschen und andere Habseligkeiten, verstreut

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auf den Fluren oder Straßen in Erwartung von Plünderern oder der flinken Finger ungarischer Polizisten. Und vor ihnen – wenngleich nur wenige es sich eingestehen wollten und nur wenige ganz erfassen konnten, was ihnen bevorstand – lag die absolute Endstation, jener Ort, an dem Juden aus ganz Europa für den Massenmord zusammengezogen wurden. Viele trugen ihre feinsten Kleider, als gingen sie ins Theater oder zu einer Hochzeit.11 „Alle Juden raus – raus!“, schrien die SS-Männer. „Haltet Ordnung. Drängelt nicht. Jeder, der sich widersetzt, wird erschossen!“ Bald waren die Bahnhöfe verstopft mit Abertausenden finster dreinblickenden, murmelnden und murrenden Menschen. Die Alten, die Kranken, Frauen mit Säuglingen im Arm, die Reichen und die Mittellosen gleichermaßen – keiner blieb verschont. Obwohl schon Ende April zwei Zugladungen abgegangen waren, begann die erste umfassende Deportation am 14. Mai: ein Zug, vollgestopft mit etwa 4000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in 40 verplombten Güterwaggons – das war, als würde man versuchen, einen Bus voller Menschen in einen begehbaren Kleiderschrank zu stopfen. Ohne Rücksicht auf Alter oder Gebrechen und allemal ohne Mitleid wurden die Menschen in einen Waggon gezwängt, bis weder Licht noch Luft zum Atmen blieben. Dann wurden die Türen zugenagelt. Tag für Tag rollten diese Viehwaggons nach Norden. Solche „Aushebungen“ wurden nicht nur überall in Ungarn wiederholt, sondern auch in Italien, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und in Polen selbst.12 Sobald die Türen der Viehwaggons zugeschlagen waren, brüllten SS-­Männer den Befehl zur Abfahrt. Dann folgte ein schrilles Quietschen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Jene im Innern versuchten, ihrer unkontrollierten ­Gefühle, einer Kombination aus Angst und Verzweiflung, Resignation und Entschlossenheit, kollektiver Panik und individuellem Schmerz, Herr zu ­werden. War dies, fragten sie einander in gedämpftem Ton, eine Fahrt in ein nationalsozialistisches Arbeitslager? Oder würde ihnen am Ende der Reise ein SS-Mann eine Pistole an den Kopf halten? Wenige hatten irgendwelche Antworten, noch weniger hatten den Mut zu spekulieren. Sie wussten nichts von früheren Transporten, wie etwa einem Zug, der mit 6000 Leichen angekommen war, mit merkwürdig aufgerissenen Augen und schlaffen Mündern, als würden sie nach Luft schnappen. All diese Menschen waren erstickt. Und sie wussten nichts von dem Zug, der 4000 verängstigte Kinder unter zwölf Jahren befördert hatte, die grausam von ihren Eltern getrennt worden waren und die sich weniger nach Essen oder Wasser denn verzweifelt nach einer schlichten menschlichen Umarmung sehnten. Auch sie wurden alle ermordet.13 Und sie wussten nicht um die Schreie Tausender an-

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derer, die in eigens konstruierten Eisenbahnwaggons absichtlich und langsam erstickt wurden. Jeder Zug bewegte sich stoßweise, ruckelte zwischen längeren, nervenzermürbenden Zwischenhalten im Schneckentempo vorwärts. Die Menschen waren so dicht zusammengedrängt, dass sie einander schier zerquetschten. Sie waren nicht imstande, sich zu bücken oder überhaupt zu rühren; sie hatten nichts zu essen und praktisch kein Wasser und keine Toiletten. Nach ein paar Tagen verbreitete sich ein erstickender Gestank nach Kot und Urin, und es schien, als wäre überall Schweiß und Unrat. Die Reise dauerte zwei oder drei Tage, manchmal sogar fünf. Nur für die Alten und Kranken war sie oft kürzer: Hunderte starben aufrecht stehend oder von ihren Nachbarn in eine Ecke des Waggons gezwängt.14 Durch die Schlitze konnten diese Deportierten dünne Lichtstrahlen sehen, dann die hohen, verwitterten Felsen der Tatra und dann die Namen der letzten ungarischen Ortschaften, die langsam hinter ihnen verschwanden. Als sie gegen Mittag des zweiten Tages bei Kaschau (Košice) die Grenze passierten, senkte sich Schweigen über die Viehwaggons. Normalerweise sprangen die Deportierten hier auf, erschauderten, klammerten sich aneinander. Nur wenige sagten ein Wort. Sie wussten, dass sie den Punkt passierten, von dem ab es kein Zurück mehr gab.15 Bis an die Grenzen menschlichen Durchhaltevermögens getrieben, bettelten sie bei jedem Aufenthalt hysterisch um Wasser, aber selten wurde welches zur Verfügung gestellt, und jeder, der versuchte, sich dem Zug zu nähern, um zu helfen, wurde von der SS mit Gewalt daran gehindert. Und nicht nur der Durst war unerträglich: Für die Deportierten in ihrem geschwächten Zustand war bei Regen die kalte Luft unerträglich, und an wärmeren Tagen waren die Körperwärme und die abgestandene Luft erdrückend. Die Deportierten schrien nach einer Handvoll Schnee, einem Stück Brot, einem Löffel Suppe, einem Schluck Kaffee – nach allem, um ihren Durst zu stillen oder ihre Bäuche zu füllen. Junge Mütter stöhnten die ganze Nacht, während sie ihre Babys stillten, verlangten nach Essen und Wasser. Und dann war da die Stille, wenn das kraftlose Geschrei eines weiteren Säuglings verstummte. In Žilina säumten Menschen mit Tränen in den Augen die Gleise, während sie die vorbeirollenden Züge beobachteten. Noch Jahrzehnte später konnten sie sich an das Gewirr von Armen erinnern, die sich klagend durch die Waggonstäbe streckten, als der Zug vorbeifuhr. Im Innern der Viehwaggons war Schlaf beinahe unmöglich, trotz Hunger, Durst und Erschöpfung. Als die Sonne versank und die Nacht hereinbrach,

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verwandelten sich zivilisierte Ungarn – Ärzte, Buchhalter, Ladenbesitzer, Hausfrauen, Großeltern – in eine unbändige, unruhige, quer über den modrigen Boden ausgestreckte Masse. Ihnen war elend zumute, sie schämten sich und hatten Angst. Streitigkeiten brachen aus, meist wegen Nichtigkeiten, etwa einer flüchtigen Berührung von jemandem in der Nähe. Im Laufe der Nacht waren allerorten Flüche hörbar. Und Geschrei. Außerstande zu schlafen, versuchte ständig irgendjemand, sich aufzurappeln, nur um vor Erschöpfung umzukippen. Weil ihnen jegliche Nahrung vorenthalten wurde, brachten die Deportierten ihre Gliedmaßen jetzt nur mühsam dazu, selbst einfachen motorischen Befehlen zu gehorchen. Leider wurde nicht nur ihr Urteilsvermögen geschwächt, sondern auch ihr Mitgefühl. Weil man sie wie Tiere behandelte, wurden einige zu Tieren. Kein Wunder: Ihre Sinne waren inzwischen abgestumpft, und ihre hungernden Körper zehrten buchstäblich von sich selbst. Ein Pfiff ertönte, und der Zug rumpelte nun beharrlich über die einspurige Strecke durch die Lublauer Berge, entlang des von Bäumen gesäumten Popgrad. Wer von den Insassen durch die Schlitze der Waggons blickte, sah erst Städte mit slowakischen, später polnischen Namen, und mit jedem Kilometer wurde alles verlassener und fremder. Das Wetter wurde kälter und unerbittlicher. Die ruckelnden Zwischenhalte häuften sich jetzt, bis der Zug nur noch „mit äußerster Langsamkeit“ vorwärtskroch. Und am Abend bremste die Lokomotive plötzlich mit einem Ruck „inmitten einer dunklen und schweigenden Ebene“. Dicht bewaldet, von tiefen Hohlwegen zerfurcht und von Nebel erfüllt, glich der Bestimmungort der Deportierten beinahe einer Szene aus einem Grimm’schen Märchen. Soweit das Auge reichte, fiel ihr Blick auf Birken, große weiße Rauchschwaden und ferne, verschwommene Umrisse. Aber als der Rauch sich langsam lichtete, wurde die Nacht von Reihen roter und weißer Lichter erhellt, welche die Gleise säumten. Mit der Ankunft befiel eine merkwürdige Gleichmut die Passagiere, endlich hätten nun ihre Zweifel ein Ende. Ein kleines Mädchen dachte bei sich: „Nichts kann schlimmer sein als diese Viehwaggons“, während ein anderes seinen Vater fragte: „Wird es dort Spielplätze geben, Papa, wie zu Hause?“16 Aber jegliche Gelassenheit war nur von kurzer Dauer. Die Menschen begannen zu beten, zu weinen oder zu wimmern. Dann vernahmen sie plötzlich ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem Trampeln und schon wurden in einer unbekannten Sprache Befehle gebrüllt. Mit donnerndem Krachen wurden die Türen der Viehwaggons aufgerissen. Draußen über dem Tor zu ihrem Bestimmungsort prangte in großen Eisenbuchstaben ein trügerisches Motto: Arbeit macht frei. In der Ferne schos-

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sen lodernde Flammen zehn Meter hoch in den Himmel, und darüber schwebten gewaltige Rauchwolken.17 Der Gestank war scheußlich. Dies war, wie sie bald erfahren sollten, Auschwitz, und die meisten von ­ihnen hatten nur noch weniger als eine Stunde zu leben. Zumindest einen kleinen Erfolg konnten Vrba und Wetzler verbuchen. Während der dritten Maiwoche, als die Deportationen weitergingen, schrieben die Führer des slowakischen jüdischen Untergrunds einen langen Brief, in dem sie die Außenwelt eindringlich baten, die wichtigsten Deportationsrouten und auch „die Todeshallen in Auschwitz zu bombardieren“. Doch im Westen, auch im Weißen Haus, stießen ihre Bitten auf taube Ohren.18 Für Roosevelt kam immer hübsch eines nach dem anderen. Und ihm ging es zunächst darum, die Deutschen an den Stränden der Normandie zu vernichten. Unterdessen fanden sich – knapp 1500 Kilometer westlich von Auschwitz, in englischen Städtchen namens Falmouth und Dartmouth, Portsmouth und New­haven – die Männer der bisher größten alliierten Invasion in Kompanien zusammen und marschierten los. In Tränen aufgelöste Menschenmengen säumten stundenlang die Straßen, um ihnen nachzusehen. Frauen pfiffen und schrien, winkten mit Taschentüchern, Männer machten das „Victory“-Zeichen für Sieg, während Kinder auf Laternenmasten oder Bäume kletterten und den GIs aus Leibeskräften hinterherschrien. Quartiermeister gaben Zigarettenschachteln aus, wenn die Lautsprecher der Schiffe Männer an Bord beorderten. Da kamen die Panzer und die schweren Artilleriegeschütze und rollten über schmale Landstraßen, über die noch vor wenigen Jahrzehnten kaum mehr als Reiter zu Pferde, Eselskarren und hin und wieder eine Kutsche gereist waren. Da kamen Aberhunderte Jeeps, Lastwagen, Halbkettenfahrzeuge, Fahrräder und sogar Lokomotiven. Die Menschenmengen mögen ausgelassen gewesen sein, die Männer aber waren größtenteils merkwürdig still. Viele von ihnen hatten Angst, viele gingen davon aus zu sterben. Zwei Jahre lang hatten diese Kaugummi kauenden Soldaten zusammen Schützenlöcher gegraben, hatten einander Geschichten über ihre Ehefrauen oder Freundinnen erzählt, hatten zusammen Poker gespielt oder Bier getrunken. Jeder kannte die Vorlieben und Ängste des anderen und wusste, ob irgendjemand nachts schnarchte oder leise über seinen befehlshabenden Offi-

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zier stöhnte. Sie wussten, wer beim Würfelspiel schummelte und wer einen unter den Tisch saufen konnte. Sie wussten, dass sie sich auf ihre Kameraden verlassen konnten, und sie wussten, dass sie in den Gewässern der Normandie ihr Leben füreinander geben würden. Wie ein Offizier spöttisch zum anderen bemerkte: „Wir sehen uns dann in Frankreich.“19 Im Süden musste Rom noch erobert werden, aber die schweren Bomber der Alliierten, die vom kürzlich eingenommenen Luftstützpunkt bei Foggia in Italien starteten, beherrschten inzwischen den Himmel über Mitteleuropa und bombardierten ununterbrochen feindliche Ziele weit jenseits des deutschen Luftraums: in Ungarn, der Slowakei, Rumänien, Südpolen und in Oberschlesien sogar „Fabriken in der Umgebung von Auschwitz“.20 Und von ihren Stützpunkten in Südengland aus ließ eine weitere Flotte aus 6000 Bombern und Kampfflugzeugen, scheinbar genug, um die Sonne zu verdunkeln, die Motoren aufheulen und machte sich bereit, der Invasionsstreitmacht die unerlässliche Luftsicherung zu bieten. Roosevelts Befehlshaber für „Overlord“, General Dwight D.  Eisenhower, hatte den D-Day für den 5. Juni anberaumt – einen Monat später als ursprünglich geplant. In all diesen grässlichen, vom Krieg zerrissenen Jahren war es Roosevelt stets gelungen, eine zuversichtliche Miene zur Schau zu stellen. Das amerikanische Volk, genau genommen sämtliche alliierten Nationen waren an Wochenschauen gewöhnt, die sein herzliches Lachen, sein breites Lächeln und das Funkeln in seinen Augen zeigten. Aber auch wenn er öffentlich stets Selbstbewusstsein und Führungskraft ausstrahlte, zermarterte er sich doch insgeheim den Kopf. Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor hatte ein abgespannter und blasser Roosevelt im Weißen Haus hinter verschlossenen Türen den Kopf in den Händen vergraben und gemurmelt, dass er als „blamierter Präsident“ in die Geschichte eingehen würde.21 Derart niedergeschlagen war er, dass sein Körper sich verkrampfte, und er nur unter größten Mühen das Wort an seine Berater richten konnte. Später, bei der Invasion Italiens, zitterte seine Hand heftig, als er den Telefonhörer abnahm, um zu erfahren, dass die Operation begonnen hatte. Jetzt jedoch, während der abschließenden D-Day-Vorbereitungen, war Roosevelt entschlossen, Haltung zu wahren und das amerikanische Volk über das bevorstehende Gemetzel zu informieren. Eine nervöse Eleanor Roosevelt

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war anscheinend weniger zuversichtlich, wenn sie eindringlich schrieb: „In Kürze steht uns die Invasion bevor. Mir graut vor ihr.“ Doch Roosevelt graute es nicht. Er hatte sogar vorgehabt, zum Start der Invasion nach England zu fliegen, aber seine Gesundheit machte dieses Vorhaben unmöglich – Churchill schrieb ihm deshalb am 4. Juni: „Wie sehr wünschte ich, Sie wären hier.“ Stattdessen begab sich Roosevelt nach Charlottesville, Virginia, wo er eine der wichtigsten Reden seiner Karriere entwerfen würde: seine Worte an die Nation zum Beginn der Invasion. Äußerlich ruhig, wusste Roosevelt sehr wohl, dass selbst die besten Pläne schiefgehen können, und in diesem Fall taten sie es. Auf der anderen Seite des Ozeans zündete sich ein unruhiger Eisenhower noch eine Zigarette an. Beim Treffen mit seinen Meteorologen in Southwick House erfuhr er, dass dieser Tag nicht zu den besten zählte. Eisenhower wirkte bereits erschöpft, und er hatte auch allen Grund dazu. Erst vor wenigen Stunden hatte Associated Press in Kurzmeldungen irrtümlich verkündet: „Eisenhowers Hauptquartier gibt alliierte Landung in Frankreich bekannt.“22 Und jetzt war auch noch der Wetterbericht ungünstig. Im Ärmelkanal herrschte zunehmend stürmische See, und die ersten Wolken hatten sich gebildet. Dazu kam der Wind. Außerdem hatte es angefangen zu nieseln, was sich bald zu einem Platzregen verdichtete. Der Chefmeteorologe informierte Eisenhower, dass der 5.  Juni kaum besser würde. Man erwartete einen schrecklich grauen Tag mit heftigen Windböen der „Stärke 5“ und derart schlechte Sicht, dass die für den Erfolg des Unternehmens entscheidende Luftüberlegenheit der Alliierten massiv gefährdet wäre. Außerdem verschlechterte sich das Wetter so rapide, dass Vorhersagen mehr als 24 Stunden im Voraus unbrauchbar waren. Verschwunden waren jetzt Eisenhowers unerschrockener Blick und sein ansteckendes Grinsen. Stattdessen verkündete ein gereizter Oberbefehlshaber, den Blick zu Boden gerichtet, dass man die Entscheidung später am Sonntagmorgen überdenken werde, in der Hoffnung, dass das Wetter aufklarte. Doch bis zu den frühen Morgenstunden hatte der Sturm sich noch verstärkt: Winde heulten, und ein sintflutartiger Regen prasselte gegen die Rollläden von South­ wick House und rüttelte an Eisenhowers Wohnwagen. Die Invasion wurde um mindestens 24 Stunden verschoben. Das Wetter, das Warten und die tiefe Besorgnis forderten ihren Tribut.23 Und auf der anderen Seite des Atlantiks war es nicht besser. Man ist geneigt, sich Roosevelt vorzustellen, wie er gelassen Zigaretten rauchte und seiner

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­ -Day-Rede den letzten Schliff gab, doch nichts könnte weiter von der WahrD heit entfernt sein. Über das Wochenende hatte Roosevelts Sekretär das Gefühl, dass „jede Regung in seinem Gesicht und jede Bewegung seiner Hände“ die Nervosität des Präsidenten verrieten, wenn er etwa die Seiten seines anglikanischen Gebetbuchs auf der Suche nach einer D-Day-Fürbitte durchblätterte. Als er von der Verzögerung erfuhr, kehrte ein besorgter, aber unbeirrter Roosevelt am Montagmorgen in die Hauptstadt zurück, um dort die neuesten Entwicklungen abzuwarten, von denen er nur in Bruchstücken erfuhr. Während er darüber nachdachte, wie es mit der Invasion weitergehen sollte, liefen immer mehr Schiffe aus ihren Häfen aus, Tausende von Zeitplänen für die Landeoperationen wurden ausgearbeitet, und im Nebel des fernen Ärmelkanals schaukelte bereits eine enorme Flotte von Wasserfahrzeugen in den unruhigen Gewässern. „Bekanntlich bin ich ein Jongleur“, so hatte Roosevelt einmal mit seiner Fähigkeit, mehrere Krisen gleichzeitig zu deichseln, geprahlt. „Ich lasse meine rechte Hand nie wissen, was meine linke tut.“ Aber angesichts der Tatsache, dass der Termin für die D-Day-Invasion immer noch nicht feststand und die Deutschen entlang ihrer gewaltigen Küstenbefestigungen auf der Lauer lagen, fiel ihm das schwerer, als er je geahnt hätte. Am Abend des 4. Juni, einem Sonntag, stahl sich Eisenhower, während Adolf Hitler sich auf dem Obersalzberg in den Bayerischen Alpen eingeigelt hatte, still und heimlich in sein Hauptquartier zu einer kriegsentscheidenden Lagebesprechung. Inzwischen goss es in Strömen, und ein kalter, gehässiger Regen prasselte unvermindert auf die Dächer. Während er mit seinen Beratern in Southwick House konferierte, wurde Eisenhower erneut über die schlechten Wetterprognosen unterrichtet. Inzwischen hatte sich der auffällige Optimismus, der die D-Day-Planungsphase geprägt hatte, längst verflüchtigt. Doch laut seinem Chefmeteorologen würde der Sturm kurz vor dem Morgengrauen des 5. Juni eine Pause einlegen. Die Winde würden abflauen, und für ungefähr 36 Stunden würde mehr oder weniger „klares Wetter“ vorherrschen. Wie klar genau? Das war ungewiss. Und auch die weiteren Aussichten war entmutigend: Bis Mittwoch würden sich abermals Sturmwolken zusammenballen. Erst nach dem 19.  Juni, zwei volle Wochen später, wäre mit deutlich besserem Wetter zu rechnen. Damit blieb nur ein schmales Zeitfenster für die Invasion. Wie lange, fragte sich Eisenhower bedrückt, konnte man dieses Unternehmen in der Schwebe

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lassen? „Was meinen Sie?“, fragte er seinen Stabschef Walter Bedell Smith. „Es ist ein Mordsrisiko“, antwortete Smith, „aber es ist das bestmögliche Risiko.“ Eisenhower fixierte den britischen Oberbefehlshaber, General Bernard Law Montgomery, und fragte: „Sehen Sie irgendeinen Grund, morgen nicht loszulegen?“ Montgomery schleuderte nur ein einziges Wort zurück: „Los!“ Aber es herrschte keine Einmütigkeit. Eisenhowers Stellvertreter, Arthur Tedder, protestierte unter Verzicht auf jegliches Taktgefühl und unter Missachtung der Befehlskette, dass eine Invasion am 6. Juni „riskant“ sei. Er empfahl erneut eine Verschiebung. Eisenhower hörte zu, zog eine Augenbraue hoch und befragte dann jeden Einzelnen im Raum. Die Anwesenden, aufgewühlt und erschöpft durch die Schwere der Entscheidung, vor der sie standen, schieden sich in zwei Lager: Sieben waren dafür, sieben dagegen. Eisenhower winkte wieder ab und ging um den Konferenztisch herum, der von riesigen Karten umgeben war. Es war offensichtlich, dass er mit sich rang. Die Entscheidung lag nun bei ihm allein. „Ich bin ein geborener Optimist, und daran kann ich nichts ändern“, hatte er einmal über sich gesagt. Aber an diesem Tag war Optimismus beinahe unmöglich. Wenn die Wetterberichte irrten, würden seine Truppen von Anfang an ins Meer zurückgeworfen werden. Außerdem würde ein wolkenverhangener Himmel die unbedingt erforderliche Luftsicherung verzögern oder verhindern und die Bombardierung von See aus behindern, die ein gewisses Maß an Schutz böte. Für diejenigen Männer, die es an Land schafften, abgekämpft und auf den Stränden eingeschlossen, würde dies ein Desaster bedeuten, eine Wiederholung des blutigen Kommandounternehmens 1942 bei Dieppe, nur in weit größerem Ausmaß. Aber wenn die Alliierten noch länger warteten, stieg das Risiko, dass die Deutschen das Geheimnis erfuhren, wo „Overlord“ stattfinden würde, und dies wäre ebenfalls verhängnisvoll. Einen Schock hatten die Alliierten bereits erlitten – auf den Slapton Sands. Angesichts der eingegrabenen Deutschen würden bei jedem Szenario Geländegewinne und -verluste an den Stränden der Normandie in Metern gemessen und nicht in Hunderten von Kilometern, wie auf dem Weg nach Berlin. Und wenn die Deutschen am richtigen Ort warteten, hundertprozentig vorbereitet, konnten seine Männer in Stücke gehauen werden. Es wurde, abgesehen vom Geräusch der Schritte Eisenhowers, still im Raum. Um das Landhaus herum toste der heulende Wind, und es goss in Strömen. Welche Kriterien man auch anlegte, es schien fast unvorstellbar, dass die Alliierten bei solchen Bedingungen den Angriff starteten.

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„Es gefällt mir nicht, aber nun gut“, sprach Eisenhower beinahe unhörbar in den Raum hinein. Es war 21.45 Uhr, und er fuhr fort: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Befehl gegeben werden muss.“ Vorerst jedoch entschied Eisenhower lediglich, seine Männer noch einmal zusammenzurufen, gegen vier Uhr morgens. Wieder in seinem Wohnwagen, schlief Eisenhower schlecht. Um 3.30 Uhr stieg er aus dem Bett und rasierte sich eilig, bevor er durch den Dreck und Matsch wieder nach Southwick House fuhr. Inzwischen regnete es überall: Diese Gewitterstürme des Spätfrühjahrs erstreckten sich über ein Gebiet von Hunderten von Kilometern und dehnten sich aus bis zu den Bayerischen Alpen, wo Hitler gerade mal eine halbe Stunde geschlafen hatte. Trotzdem hielt der Meteorologe an seiner Vorhersage fest: Das Wetter würde kurz aufklaren und der Himmel für ein oder zwei Tage klar bleiben. Während er im Speisesaal des Landhauses abermals auf und ab schritt, war Eisenhower klar, dass eine endgültige Entscheidung getroffen werden musste. Er hielt inne, blieb schließlich wie angewurzelt stehen, setzte sich volle fünf Minuten auf ein Sofa und verkündete dann leise: „Okay. Wir legen los.“ Jubelrufe schallten bei diesen vier Worten durch Southwick House, mit denen Eisenhower den eindrucksvollsten amphibischen Angriff in den Annalen des Krieges auslöste. Die Invasion würde im Morgengrauen des 6. Juni beginnen. 24 Während der Vorabend der D-Day-Invasion näher rückte, kehrte ein immer zuversichtlicherer, gar beschwingter Roosevelt aus Charlottesville nach Washington zurück. Wenn der alliierte Oberbefehlshaber Eisenhower auf Reisen war, hatte er in einem Reißverschlussbeutel immer Glücksbringer dabei, zu denen ein Silberdollar, ein Franc und ein englischer Schilling gehörten, die er nervös befingerte. Roosevelt aber brauchte solche Glücksbringer nicht, denn er hatte ja Eisenhower. Welche Zweifel er hinsichtlich seines kommandierenden Generals anfänglich auch gehegt haben mochte,25 mit der Zeit war er ihm ans Herz gewachsen. Der Präsident wusste, dass Eisenhower trotz seines Naturells furchtlos, kämpferisch und selbstlos war. Er wusste, dass Eisenhower, wenn auch optimistisch veranlagt wie er selbst, Realist genug war, ein Meister des „vernünftigen Kompromisses“, in der Lage, jene Launen und Nickligkeiten zu umschiffen, die Generäle, Kommandeure und Verbündete zu entzweien drohen. Und all dies hatte sich ausgezahlt. Die Alliierten hatten sich 1942 in Nordafrika durchgesetzt, hatten sich im Winter 1943 heldenhaft durch Italien geschlagen und hatten in den letzten Stunden vor dem Angriff in der Normandie noch

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Rom eingenommen. Natürlich wusste Roosevelt, dass dieser Sieg seinen Preis gehabt hatte. Vier Monate lang war der Wille aller Beteiligten auf eine harte Probe gestellt worden. Die verzweifelten 14 Divisionen der Wehrmacht gaben einfach nicht nach und nagelten 150 000 alliierte Soldaten bei Anzio unerbittlich fest, bis die Alliierten sie schließlich am 23. Mai besiegten und Rom kampflos besetzten. Einst das antike Symbol westlicher Zivilisation, wurde die italienische Hauptstadt nun zum Symbol der unaufhaltsamen alliierten Vorstöße. Nach Monaten schlafloser Nächte, des Schwebens zwischen Sorge und Hochgefühl, witterte Roosevelt endlich die Gelegenheit. Er war euphorisch. Aus dem sparsam möblierten Diplomatischen Empfangsraum im Weißen Haus wandte sich Roosevelt über den Rundfunk in einem der wichtigsten Kamingespräche seiner Präsidentschaft an die Nation. Diesen Triumph auskostend, feierte er die Einnahme Roms. „Die erste der Achsenhauptstädte ist nun in unserer Hand“, informierte er das amerikanische Volk frohgemut. „Eine ist geschafft, und zwei kommen noch!“ Aber der höchste Preis blieb Berlin. Zur Invasion über den Kanal selbst sagte Roosevelt nichts. Nach seiner Ansprache blieb er lange auf und entspannte sich bei einem Film, bevor er kurz nach 23 Uhr ins Bett gehoben wurde, wohl wissend, was als Nächstes bevorstand. Inzwischen waren bereits die ersten Wellen alliierter Fallschirmjäger aus ihren Transportflugzeugen abgesprungen. Und Zehntausende von Soldaten überquerten unter einem mondhellen Himmel den aufgewühlten Ärmelkanal. Südlich der Isle of Wight hielten Tausende von Kriegsschiffen und Frachtern in unaufhörlichen Strömen auf die französische Küste zu. Es war Eisenhower, der sich einmal notiert hatte: „Wir müssen nach Europa gehen und kämpfen.“ Während Roosevelt in einen unruhigen Schlaf fiel, war es nun endlich soweit. Als Erste machten sich die Flugzeuge auf den Weg. Im Dunkel der Nacht wurden fast 900 dickbauchige Douglas C-47 am Himmel in Aufstellung gebracht, Welle auf Welle in V-Formationen, fast 500 Kilometer lang. Sie überquerten den Ärmelkanal in einer Höhe von 500 Fuß, um dem deutschen Radar zu entgehen. Drinnen schmierten sich die Männer der 101. und 82. US-Luftlandedivision schwarze Streifen in die Gesichter und umklammerten ihre Fallschirme. Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick, wie die Flugzeuge in dichter Formation flogen, immer neun Maschinen nebeneinander, ohne Lichter, ohne Funkaktivität. Für einen kurzen Moment stellte sich fast so etwas wie Ruhe ein, aber das sollte nicht von Dauer sein.

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Kaum tauchten die Flugzeuge an der Küstenlinie aus einer Wolkenbank auf, blitzten Maschinengewehrfeuer und Leuchtspurgeschosse überall um sie herum auf. Dann kamen die Explosionen – tödliche deutsche 88-Millimeter-Granaten –, die den Himmel erhellten. Noch bevor sie Ausweichmanöver fliegen konnten, erbebten die Flugzeuge im feindlichen Feuer, schlingerten und trudelten, stiegen auf und ab. Sie waren gezwungen, rasch die Formation aufzugeben, und in den ersten Augenblicken herrschte völliges Chaos. Entsetzte Männer glitten in ihren Flugzeugen zu Boden. Einige fingen an, sich zu erbrechen, alles schrie. Während Passagiere und Fracht in alle Richtungen purzelten, durchschlugen Kugeln Tragflächen und Rumpf der Maschinen. Oben und unten, rechts und links explodierten Flugzeuge oder wurden in Stücke gerissen. Cockpitfenster barsten, und Piloten wurden von Granatsplittern getötet, woraufhin ihre Flugzeuge in Spiralen hilflos zu Boden trudelten. Praktisch jedes Flugzeug wurde getroffen, aber wie durch ein Wunder flog die Mehrzahl weiter. Als sie sich der Absprungzone näherten, schalteten die Piloten die grünen Lichter ein. Über das Pfeifen des Artilleriefeuers und das Heulen der Flugzeuge hinweg gaben die „jump master“, die Absetzer, einer nach dem anderen ihren Männern das Startzeichen. Nacheinander sprangen die Fallschirmjäger aus den Flugzeugen, zogen ihre Reißleinen und schwebten langsam in die Dunkelheit hinab. Während sie so wie Konfetti vom Himmel regneten, rannten unter ihnen Gestalten in alle Richtungen, brüllten, gestikulierten wild und zielten mit Gewehren nach ihnen. Dies waren die Deutschen. Anderswo erhielten deutsche Flakbatterien sporadische Meldungen über vereinzelte Landungen von Fallschirmjägern, jedoch ohne erkennbares Muster, aus dem Gebiet nordwestlich von Caen bis zur Gegend beiderseits des Flusses Vire, von der Ostküste der Halbinsel Cotentin bis nach Montebourg, bis hinauf ins benachbarte Belgien. War dies die lang erwartete Invasion? Eine Operation der Résistance? Ein Ablenkungsmanöver? Die Deutschen waren ratlos, vor allem als sie feststellten, dass an all diesen Orten lediglich Fallschirmspringer-Attrappen abgesprungen waren, von denen einige bei der Landung anfingen, Aufnahmen von Feuergefechten abzuspielen. Für die Wehrmacht wurden diese Absprünge zu einer äußerst ärgerlichen Übung: Weil die Deutschen am Ende glaubten, dass bis zu 100 000 Fallschirmspringer gelandet sein könnten, verbrachten sie Stunden damit, die Wälder zu

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durchkämmen und Buschwerk zu durchstreifen auf der Suche nach einem Feind, „der gar nicht da war“. Aber in Wirklichkeit waren die Alliierten sehr wohl da. Ab ein Uhr morgens begannen kleine Trupps alliierter Fallschirmjäger unter dem bleichen Mondlicht lautlos durch die Randgebiete von Dörfern oder in dichten Wäldern vorzurücken. Wann immer sie konnten, durchtrennten sie Fernmeldeleitungen, fingen dann im schnellen Vormarsch an, Telefonmasten mit Handgranaten zu beschädigen und unterirdische Fernmeldekabel zu zerschneiden. Stück für Stück störten und verwirrten die Fallschirmjäger die Deutschen und schlossen in zahlreichen nordfranzösischen Städten deutsche Patrouillen ein. Wenn sich ihnen die Gelegenheit bot, besetzten diese Fallschirmjäger Brücken oder machten Felder frei in Erwartung der alliierten Verstärkung, die bald folgen würde. Soweit die deutschen Einheiten in der Nähe erkannten, dass tatsächlich gerade feindliche Fallschirmjäger landeten, glaubten sie, auch hierbei handele es sich bloß um eine List. Irgendwann blickte endlich ein deutscher Gefreiter nach oben und sah, dass der ganze Himmel „voller Flugzeuge“ war. Da erst wurde das ganze Ausmaß der Vorgänge klar. Spätestens um drei Uhr morgens waren die Fallschirmjäger nicht mehr allein. Und nun mussten sich die Deutschen um weit mehr Gedanken machen als um Flugzeuge. Wie große Vögel tauchten geschwärzte Lastensegler zur Verstärkung am Himmel auf, die auf heftigen Seitenwinden flogen. Sie transportierten Bulldozer – die Landepisten anlegen sollten –, Jeeps, Panzerabwehrkanonen, Motorräder, Klappfahrräder, weitere Munition und, genauso wichtig, Soldaten. Dann aber schien im Nu alles schiefzugehen. Der Beschuss der Deutschen am Boden war vernichtend. Aus der Ferne hörten die Fallschirmjäger plötzlich ohrenbetäubende Geräusche: ein gequältes Kratzen, gefolgt von einem betäubenden Krachen und dem Knirschen splitternden Holzes, und dann ertönten die qualvollen Schreie sterbender Männer. Die Lastensegler waren für starke Beanspruchung gebaut, aber nicht für solche, und etliche von ihnen gingen zu Bruch. Nachdem sie gekreist waren, prallten Lastensegler jetzt von Baumwipfeln ab oder blieben darin hängen. Andere stürzten auf Steinmauern oder in Scheunen. Die Trümmer verteilten sich hektarweise auf Feldern und in Hecken. Wieder andere schlitterten auf Straßen oder ineinander. Einige versanken in Sümpfen oder in Gebieten, die Rommel hatte fluten lassen. Die Verluste waren hoch, sowohl bei den Lastenseglern als auch aufseiten der Fallschirmjäger. Einer der herzzerreißendsten Anblicke war jener von Fallschirmjägern, die mit geöffneten Schirmen hilflos in Bäumen hingen und aussahen wie „löchrig geschossene Lumpenpuppen“. Und waren sie einmal am Boden

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angekommen, so standen die Dinge hier kaum besser. Ob sie in Apfelhainen oder unkrautüberwucherten Gärten landeten, stets waren die Männer versprengt und isoliert, gab es doch so gut wie keine Kommunikation zwischen den Einheiten. Durch die Wucht des Aufpralls beschädigte Feldfunkgeräte gaben keinen Ton von sich, und wenn die Männer pfiffen oder Hornsignale gaben, wurden diese vom Stakkato des Flakfeuers übertönt. Auch hatten sie nur wenig Deckung, ihre zusätzliche Munition war nass, ihnen fehlten Panzerfäuste, ihre Maschinengewehre hatten Ladehemmung und ihre Abbruchgerätschaften versagten. Sie verfügten weder über Granatwerfer noch über Minensuchgeräte oder Panzerabwehrgeschütze für eine wirkungsvollere Verteidigung.26 Aber es gab vereinzelte Hoffnungsschimmer. Einmal etwa wurde ein amerikanischer Fallschirmjäger in ein Feuergefecht verwickelt, als es plötzlich zu einer unerklärlichen Kampfpause kam. Das Geräusch des Feindfeuers verebbte, und es folgte ein lauter Knall, der durch die Nacht hallte – ein einzelner Schuss. Dann folgte ein zweiter, dann tauchten schließlich ein Dutzend feindliche Soldaten mit erhobenen Händen auf, grinsend, lachend und einander auf den Rücken klopfend. Es waren Polen, die von den Nationalsozialisten zwangsrekrutiert worden waren. Statt den Kampf gegen die Amerikaner zu eröffnen, hatten sie den deutschen Feldwebel ihrer Einheit exekutiert und sich unverzüglich ergeben. Sie sollten nicht die letzten Kämpfer sein, die so handelten. Inzwischen machten sich, verstreut über die Normandie, etwa 18 000 Fallschirmjäger und Soldaten, die von Lastenseglern abgesetzt worden waren, zum Kampf bereit. Vor Tagesanbruch zerstörten sie rasch Brücken über den Fluss Dives und eroberten nach einem erbitterten Gefecht die deutsche Geschützbatterie bei Merville. In Sainte-Mère-Église kämpfte die 82. US-Luftlandedivision zäh und hielt das Dorf, obwohl sie schwere Verluste erlitt. Angesichts hartnäckigen deutschen Widerstands verkündete ein Soldat kämpferisch in seinem besten Französisch: „Nous restons ici!“ – „Wir bleiben hier!“27 Heldenhafte Siege wurden auch in Chef-du-Pont und an der Pegasusbrücke errungen. Und die Einheiten fingen an, ihre Hauptziele zu sichern: Sie zerstörten deutsche Geschütze im Hinterland und hielten Kreuzungen und Brücken, mit denen sie die entscheidenden Ausfallrouten von den Stränden kontrollierten. Hitler schlief derweil immer noch, und die Wehrmacht war weiterhin nicht im Bilde. In einer vielsagenden Coda kam ein deutscher Offizier zu dem Schluss: „Wir stehen nicht vor einem größeren Kampf.“

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Ein schlimmerer Trugschluss ist kaum vorstellbar. Seit Mitternacht überquerte eine Armada der Alliierten die rauen Gewässer des Ärmelkanals. Zuerst kamen die Landungsboote und Kreuzer, dann die Zerstörer und großen Kolonnen aus Minensuchern, dann die Bombardierungs- und Schlachtschiffe. Dazu kamen Frachter, Rettungsschiffe der Küstenwache, Schnellboote und Blockschiffe, so viele, dass sie eine Art Teppich von der Isle of Wight bis zur Küste der Normandie zu bilden schienen. Auf den Rümpfen vieler Schiffe prunkte in heller Farbe ein großes O für Omaha Beach, auf anderen ein U für Utah Beach. Als sie sich der Küste näherten, ertönte ein Pfeifton, und Offiziere riefen: „An der Ausschiffungszone antreten!“ – woraufhin die Soldaten die nassen Netze hinunterkletterten und sich in ihre Landungsboote drängten, bereit fortzuführen, was ihre Kameraden von den Luftlande-Einheiten begonnen hatten. Es war noch dunkel, und die frühen Morgenstunden blieben kühl. Da die Boote wie verrückt im Wasser schaukelten, fingen die zusammengekauerten Männer zu kotzen an. Die eisige Gischt brannte ihnen in den Augen und durchnässte ihre Waffen, aber das schmälerte ihre Hoffnung nicht: Diese Männer in ihren Booten waren angespannt und bereit loszulegen. Gegen 5.20 Uhr brach langsam der Tag an. Als kurz darauf die Sonne aufging, hörten sie ein Dröhnen, und die ersten Wellen von Bombern flogen über sie hinweg. Die Stunde X war auf 6.30 Uhr angesetzt. Am Atlantikwall hoben die nichtsahnenden deutschen Verteidiger ihre Feldstecher. Plötzlich tauchten aus dem morgendlichen Dunst am Horizont Landungsboote der Alliierten auf, Hunderte von ihnen, die sich im Wasser drängelten. Sie kamen, und sie kamen schnell. Überall entlang der Klippen zielten deutsche Soldaten mit ihren Granatwerfern und eilten an ihre Funkgeräte. „Ziel Dora, alle Geschütze!“, schrien sie. „Ziel Dora, alle Geschütze!“ Ungläubig sahen sie, wie diese Armada beim Näherkommen ins Gigantische anwuchs. „Wir konnten das Meer nicht mehr sehen“, berichtete ein französischer Augenzeuge, „überall nur Schiffe.“28 Tatsächlich warteten draußen im Ärmelkanal Hunderte von Geschützen auf Schlachtschiffen und Zerstörern auf den Feuerbefehl. Das Luftbombardement war als Erstes vorgesehen, und es entfesselte eine Serie von Explosionen, die sich die Küste entlang zu wälzen schienen. Obwohl sie schreckliche Angst hatten, fingen die Männer in den Landungsbooten zu jubeln an. Minuten später hielten sie sich die Ohren zu: Die Linie der Schlachtschiffe hatte das Feuer eröffnet. Die erste Salve allein war eine Serie donnernder Explosionen, als hätten Himmel und See irgendeinen Urzorn entfesselt. „Das

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war das Lauteste, was ich je gehört habe“, schrieb ein Korrespondent staunend. „Die meisten von uns glaubten, dies sei der größte Moment unseres Lebens.“29 Auf die erste Salve folgte ein Chor von Geschützen aus der gesamten alliierten Flotte, der die ganze Küstenlinie in Explosionsblitze und einen dicken Baldachin aus Rauch hüllte. Staub und Trümmer bildeten wogende Wolken. In nahe gelegenen Häusern barsten Fenster, und die überall entlang der Klippen verteilten Deutschen suchten sich in Sicherheit zu bringen. Dann feuerten sie zurück. Um sechs Uhr in der Früh schwammen die ersten Panzer an Land, indem sie die starken Gegenwinde und wirbelnden Gezeitenströme überwanden. Oben pfiffen Raketen, während die schweren Geschütze der Schlachtschiffe weiter Feuer spuckten. Die Granaten der Alliierten lösten in schneller Folge Landminen entlang der Küste aus und entfachten an Stellen, wo trockener Strandhafer wuchs, prasselnde Buschfeuer. Die Hitze und der Lärm waren beispiellos. „Das Donnern“, berichtete ein Soldat, „klang wie das abschließende Crescendo einer großen Sinfonie.“30 Vielen der Männer, die gleich den Landungsbooten entströmen würden, erschien es wahnsinnig, wie ein Vorspiel zum sicheren Tod. Wer würde einen solchen Beschuss überleben? Die Strände vor ihnen erbebten unter der Wucht des Bombardements. Eisenhower pflegte zu sagen, Pläne seien vor der Schlacht unerlässlich und nutzlos, sobald sie begonnen habe. Jetzt hatte die Schlacht begonnen. Die erste Angriffswelle traf die Strände der Normandie um 6.30 Uhr morgens. Die 1., 4. und 29. US-Infanteriedivision arbeiteten sich in Richtung Utah- und Omaha Beach vor, während die britischen und kanadischen Truppen eine Stunde später an Sword-, Juno- und Gold-Beach ausgeschifft wurden. Die gründliche Vorbereitung der alliierten Truppen auf den D-Day war beeindruckend gewesen, doch ebenso beeindruckend war, wie gründlich jetzt vieles danebenging. So hatte niemand vorausgesehen, dass die Soldaten in großer Zahl seekrank würden. Noch bevor der erste Schuss abgefeuert wurde, waren die Männer in der Eröffnungsgruppe erschöpft, verkrampft und orientierungslos von etwa vier Stunden Schaukelei in der bewegten See. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass einige Männer sinnlos sterben würden, als sie überhastet von ihren Landungsbooten sprangen und sich durch Wasser quälten, das ihnen trotz Ebbe bis zur Brust ging, sodass sie von der vollgesogenen Ausrüstung niedergedrückt wurden. Andere stürzten versehentlich in Wasser, das über ihren Köpfen zusammenschlug. Viele wurden in unterseeische Granattrichter gezogen und ertranken ohne jede Chance, noch bevor sie in die Nähe der Küste kamen. Wieder andere waren bei der Landung vor Erschöpfung kaum mehr imstande, sich zu bewegen, weil sie mit

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Helmen das Wasser ausgeschöpft hatten, das unaufhörlich stieg und ihr Landungsboot, in dem die Pumpen ausgefallen waren, zu versenken drohte. Viel zu viele Panzer waren mit Schwimmvorrichtungen versehen, die bei Probefahrten großartig funktioniert hatten, aber in den kräftigen, unbändigen Wellen, die sich an der Küste der Normandie brachen, kläglich versagten. Und am Omaha Beach war der Seebeschuss der Alliierten kurz und häufig falsch platziert; nur selten wurde der Strand mit ausreichendem Deckungsbeschuss belegt.31 Merkwürdigerweise war das Luftbombardement der Alliierten kaum besser: „‚Keine einzige Bombe traf den Strand oder die Steilküste‘ […], getroffen wurden Kuhställe fünf Kilometer im Binnenland.“32 Weil es nicht gelang, die zahlreichen deutschen Artillerie- und MG-Stellungen längs der Klippen auszuschalten, war der unablässige feindliche Beschuss, der die amerikanischen Truppen traf, entsetzlich. Einige Kompanien hatten binnen weniger ­Minuten nach der Landung eine Verlustrate von 90 Prozent.33 Und es war nicht nur der Beschuss an der Strandlinie, der sich als derart tödlich erwies. Das Entsetzen stellte sich erneut ein, als die Männer der 16. USInfanteriedivision die grasbewachsenen Steilhänge von Omaha erreichten. Der Angriff glich eher einer Zeitlupen-Wiederholung von General George Picketts verhängnisvoller Attacke quer durch das Niemandsland bei Gettysburg34 als einer wohlgeordneten Kampfhandlung des Zweiten Weltkriegs. Entlang dieses zehn Kilometer langen Küstenstreifens wurden viele der Offiziere getötet oder verwundet, noch bevor sie einen Fuß auf den Strand setzen konnten. Von dem Moment an, als die Landungsboote ihre Rampen herunterließen, eröffneten die Deutschen gnadenlos das Feuer aus Granatwerfern, Artilleriegeschützen und Maschinengewehren. Außerdem setzten sie Minen mit Fernzündung ein, sodass ein deutscher Soldat, der sicher in einem Bunker hockte, die Mine mit maximaler Wirkung zünden konnte, sobald ein Landungsboot den Strand erreichte. Noch schlimmer war, dass es mit einer Ausnahme jede Einheit an die falsche Stelle verschlug. Die Männer wurden gerüttelt von Winden mit 18 Knoten und von Wellen, die sich bis zu zwei Meter hoch auftürmten. Tatsächlich trugen die Wellen im Nachgang des Sturms noch 20 Kilometer weit draußen Schaumkronen. Unterdessen schaukelten Köpfe und Arme der Toten im Wasser. Es sah aus wie ein Massaker. Auch die Fotoaufklärung hatte eklatant versagt. Die Amerikaner waren praktisch blind, unfähig zu enträtseln, ob der deutsche Beschuss aus den entlang der Küste verstreuten kleinen, verwitterten Hütten kam oder aus dem Labyrinth der in den oberen Rand der Steilküste gegrabenen Betonstellungen.

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Zudem glichen die Stoßtruppen überladenen Packeseln – ein durchschnittlicher Gefreiter schleppte über 50 Kilo Ausrüstung an Land, darunter ein Fass mit Flammenwerfer-Flüssigkeit und eine Stickstoffflasche. Infolgedessen war es für die Männer schier unmöglich, ihre Waffen abzufeuern oder manchmal auch nur aufrecht zu stehen. Sie waren klitschnass, verwirrt und nicht in der Lage, durch den nassen Sand und das Netz verminter Hindernisse vor ihnen zu waten. Unter den Ersten an Land war auch die A-Kompanie des 116. US-Infanterieregiments. Von ihren 200 Männern stammten etwa 60 Prozent – die heute berühmten Bedford Boys – aus derselben Kleinstadt in Virginia. Binnen 15  Minuten wurden sie auf ein paar Dutzend dezimiert. Die anderen lagen überall verstreut in der vom Kampf gezeichneten Landschaft, oder ihre Leichen wurden hilflos auf den Strand gespült.35 Eine andere Kompanie verlor mit beängstigender Geschwindigkeit 96 Prozent ihrer Männer bei dem Versuch, Granaten, Dynamitladungen, Maschinengewehre, Granatwerfer, Mörsergranaten, Flammenwerfer und andere Ausrüstung an Land zu schaffen. Nach wenigen Minuten war der Strand übersät mit brennenden Landungsbooten und verstümmelten Leichen. Nach dem ursprünglichen Plan hätten die Soldaten das Steilufer bis 7.30 Uhr besetzen sollen. Stattdessen lagen überall auf dem Strand Fleischfetzen und Tausende weggeworfener Gasmasken, Granaten, Panzerfäuste, Funkgeräte, Gewehre, Maschinengewehre und Munitionskisten. Auf dem Grund des Ärmelkanals ruhten Hunderte von Panzern, Jeeps und Geschützen auf Selbstfahrlafetten, die einfach gesunken waren. Der Tumult hörte nicht auf. Bald war der Strand verstopft mit Toten und Sterbenden. Auch im Wasser selbst explodierten die alliierten Landungsboote oder gingen in Flammen auf. Tote Männer trieben mit dem Gesicht nach unten im Wasser, während die Lebenden sich mit erhobenen Gesichtern und nach Luft schnappend durch die Brandung schleppten. Einige der Männer im Wasser stellten sich tot, in der Hoffnung, die Deutschen würden aufhören zu feuern und die Gezeiten würden sie einfach an Land spülen. In den Bunkern und Unterständen an Land konzentrierten die Deutschen ihr Feuer auf den Strand, wo die Amerikaner sich hinter jede Deckung kauerten, die sich ihnen bot, oftmals im knöcheltiefen Wasser, oder auf Ellenbogen und Knien ziellos über die schlickigen, blutdurchtränkten Strandabschnitte krochen. Hektisch gruben sie im Sand behelfsmäßige Schützenlöcher oder Gräben, um dort das Ende des Mörserbeschusses abzuwarten. Viele Männer nässten sich ein, andere brachen schluchzend zusammen. Von ihren Nestern an den Steilhängen nahmen deutsche Scharfschützen kaltblütig Amerikaner

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ins Visier, die abwechselnd raus zum Rand des Wassers rannten, wobei sie um Klumpen von Toten herumhüpften, um verwundete Männer aus der Gefahrenzone zu ziehen und in Sicherheit zu bringen. Es war ein erschütternder Anblick. Führerlos und ziellos suchten GIs, dem Maschinengewehrfeuer zu entgehen, nur um sich Mörserbeschuss auszusetzen. Sie suchten, dem Mörserbeschuss zu entgehen, nur um sich leichtem Artilleriebeschuss auszusetzen. „Ich wurde“, erinnerte sich ein Gefreiter, „zu einem Besucher der Hölle.“36 Und auch die Verwundeten erlebten ihre ganz eigene Hölle. Manche waren in die Brust getroffen worden, oder sie bluteten von der Hüfte bis zur Schulter, oder ihr Oberkiefer mochte zerschmettert worden sein, ein Wangenknochen lag bloß, und Blut rann aus der Wunde. In seltenen Fällen gaben ihre Kameraden ihnen Morphiumspritzen und blieben bei ihnen, bis sie ihren letzten Atemzug taten. Manche Männer verbrannten in ihrer Ausrüstung, weil die Treibstofftanks in Brand gesetzt worden waren, und stürzten sich, oft vergeblich, ins Wasser. Allzu häufig starben Männer allein, mit einem letzten gedämpften Gebet oder dem Ruf nach der Mutter auf den Lippen. Um Erste Hilfe von Sanitätern zu bekommen, mussten die Verwundeten nicht nach hinten gebracht werden, wie es seit jeher im Gefecht der Fall gewesen war, sondern nach vorn, in Richtung des feindlichen Feuers, was den Männern psychologisch noch mehr abverlangte. Angesichts des um sie herum ­tobenden Chaos drehten einige durch oder fielen in einen Schockzustand. Der Krach allein war entsetzlich: hinter ihnen das Sperrfeuer von See aus, vor ihnen Artillerie- und Mörserfeuer, über ihnen Flugzeuge und überall um sie herum der Lärm von Motoren, dazu Rufe und die Schreie der Verwundeten. Für einige war das einfach zu viel. General Omar Bradley, der auf der Brücke des Kreuzers USS Augusta stand und seine Männer beobachtete, war überzeugt, Omaha Beach sei eine „unabwendbare Katastrophe“, und betete, dass die Männer einfach durchhielten. Er wusste, dass der Strand bereits zu überfüllt war, dass Hunderte von Landungsbooten ziellos vor der Küste herumkreuzten und dass eintreffende Verstärkung das Problem sogar noch verschlimmern konnte. Doch Rückzug war unmöglich: Zwischen Utah- und Gold-Beach eine Lücke von 60 Kilometern zu lassen hätte die gesamte Invasion gefährdet.37 Bemerkenswerterweise setzten die Alliierten die Landungen trotzdem weiter fort.38 Um 7.30 Uhr watete die Hauptkommandogruppe an Land, nur um beinahe augenblicklich dezimiert zu werden. Feindlichem Feuer ausgesetzt, durch Beschuss festgehalten und weil sie erkannten, dass die früheren ­Angriffspläne wertlos waren, begannen die verbliebenen Kommandeure zu

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improvisieren. Die Männer konnten nicht bleiben, wo sie waren, das war Wahnsinn. Doch sie hatten weder die Möglichkeit, die Deutschen seitlich zu umgehen, noch vorzustoßen, und konnten übrigens auch nicht zurück. Es gab keine erkennbare Route zur Überwindung des stark verminten Marschlandes oder der Klippen, um die Deutschen aus ihren Gräben herauszubekommen. Und vor ihnen befanden sich dicke Rollen Stacheldraht. Allem Anschein würde dies in einer unvorstellbare Katastrophe enden. Aber stoßweise fingen kleine Gruppen an, sich die Steilhänge hinaufzukämpfen, und langsam bildeten sich kleine Befehlsstände, in denen Generäle, Colonels oder auch Lieutenants mit den Händen herumfuchtelten, riefen und schrien, dass ihre Männer nicht stehen bleiben sollten. Ein Colonel tobte: „Wenn wir schon getötet werden, dann im Landesinneren und nicht hier am Strand.“ Gleichzeitig fingen Pioniere an, akribisch zu markieren, wo die Alliierten Minenfelder geräumt hatten, während andere Männer durch mit Wasser gefüllte Panzerabwehrgräben schwammen. Sie rechneten jeden Moment mit einem Gegenangriff der Deutschen, und der hätte sie mit minimalem Aufwand „direkt zurück in den Ärmelkanal getrieben“, wie ein Bataillonskommandeur sagte. Doch ein solcher Gegenangriff blieb aus.39 Stattdessen bot sich bald darauf ein höchst beglückender Anblick: Drei Amerikaner, die hinter dem Fundament dessen, was einmal ein Haus gewesen war, durch Beschuss festgehalten wurden, erblickten über sich etwas, das ihnen wie ein Wunder erschienen sein muss – Amerikaner, die sich verbissen längs des Kamms der von den Deutschen gehaltenen Klippen behaupteten. Sie hatten es auf das strategisch vorteilhafte höher gelegene Gelände geschafft. Die Amerikaner waren unermüdlich. Als die ersten größeren Landungsboote eintrafen, strömten Panzer, Halbkettenfahrzeuge, Jeeps, Lastwagen und Geschütze auf Selbstfahrlafetten an Land. Nicht lange nach der Stunde X kam „Operation Overlord“ voll in Schwung. Die Alliierten nahmen Hitlers Männer immer wieder unter Beschuss und arbeiteten sich trotz hoher Verluste stückchenweise vorwärts. Und anderswo, an Gold-, Juno- und Sword-Beach, rückten die Alliierten nahezu ungehindert vor. Eisenhower selbst war vor sieben Uhr morgens wach und bereits informiert worden, dass offenbar alles „nach Plan“ lief. Ein paar Minuten lag er ruhig in seinem Bett, rauchte eine Zigarette und blätterte mit breitem Grinsen in einem Western-Groschenroman. Danach unterhielt er sich mit seinem en-

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gen Berater Harry C. Butcher. Anschließend begann er wie üblich auf und ab zu gehen. Etwa um diese Zeit nahm General George C. Marshall, der einflussreiche Generalstabschef des Heeres, den Hörer ab, um Präsident Roosevelt zu wecken. Die Telefonistin im Weißen Haus nahm den Anruf als Erste um drei Uhr morgens Washingtoner Zeit an. Nachdem sie General Marshall gebeten hatte, einen Moment dranzubleiben, rief sie unverzüglich Eleanor an und ersuchte die First Lady, den Präsidenten zu wecken. Abgesehen vom leisen Rascheln der Secret-Service-Agenten auf den Fluren und dem unaufhörlichen Tohuwabohu im geheimen Kartenraum, wo zu jeder Stunde streng geheime Depeschen eintrafen, war das Weiße Haus still, eine Stille, die Eleanor nervtötend fand. Sie selbst war zu unruhig gewesen, um zu schlafen. Jetzt öffnete sie behutsam die Tür zum Schlafzimmer des Präsidenten und erklärte, dass Marshall am Telefon und die Invasion im Gange sei. Der Präsident setzte sich sofort im Bett auf, zog einen Pullover über und hielt sich den Hörer ans Ohr. Marshall unterrichtete ihn über den bisherigen Verlauf der Invasion. Zuvor hatte dieser von Eisenhower erfahren, dass in den Augen der Soldaten „das Feuer der Schlacht“ leuchte. Ein Lächeln huschte über Roosevelts Gesicht, und von diesem Moment an begann er ununterbrochen zu telefonieren. Inzwischen verbreitete sich die Nachricht von der Invasion überall in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt.40 Genau genommen meldete zuerst die deutsche Nachrichtenagentur Transocean, ein offizielles Sprachrohr der Nationalsozialisten, dass die Invasion begonnen hatte und britische Fallschirmjäger in dieser Stunde an der französischen Küste landeten. Associated Press zog mithilfe eigener Übersetzer sofort nach und gab die Nachricht telegrafisch durch. Die BBC schloss sich rasch an. Da wollte die New York Times nicht zurückstehen und brachte um 1.30 Uhr morgens eine Spätausgabe heraus. Allerdings enthielt diese keinen echten Artikel, sondern nur eine treffend als Postskriptum bezeichnete Schlagzeile in fetten Großbuchstaben: „Hitlers Seewall ist durchbrochen, Angreifer kämpfen sich ins Landesinnere vor; neue alliierte Landungen erfolgen“. Binnen einer halben Stunde begannen die Leute sich zu rühren, bildeten lange Schlagen an Zeitungsständen oder saßen, einen Kaffee in der Hand, im Schlafanzug neben ihrem Radio, drehten den Ton lauter und warteten nervös

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auf die neuesten Nachrichten von den Kämpfen. Um zwei Uhr morgens Ostküstenzeit kam die Neuigkeit. Die Rundfunksender, ebenso aufgeregt wie die amerikanische Bevölkerung, unterbrachen ihre regulären Programme, um zu verkünden: „Der deutsche Rundfunk behauptet, die Invasion habe begonnen.“ Doch die nachfolgenden Meldungen waren ebenso konfus wie bruchstückhaft, wiesen sogar warnend darauf hin, dass die Verlautbarung der Deutschen ein Trick sein könnte, um die französische Résistance hervorzulocken. Doch dieser Zweifel war binnen Stunden ausgeräumt: Die Amerikaner konnten jener Aufnahme lauschen, mit der Eisenhower den Truppen am Vorabend der Invasion den Befehl zum Angriff erteilt hatte. Sie war zuerst über Lautsprecher auf den Truppentransportern in Südengland verbreitet worden, und jetzt vernahm die amerikanische Bevölkerung dieselben mitreißenden Worte, welche die alliierten Soldaten gehört hatten, bevor ihre Schiffe die englische Küste verließen. Die Botschaft, die sich an die „Soldaten, Seeleute und Flieger der alliierten Expeditionskorps!“ richtete, lautete: Ihr steht kurz davor, Euch auf den Großen Kreuzzug einzuschiffen, auf den wir so viele Monate hingeeifert haben. Die Augen der Welt sind auf Euch gerichtet. […] Ihr werdet die Zerstörung der deutschen Kriegsmaschinerie, die Beseitigung der Nazi-Tyrannei über die unterdrückten Völker Europas und Sicherheit für uns selbst in einer freien Welt erreichen. Eure Aufgabe wird keine leichte sein. Euer Feind ist gut ausgebildet, gut ausgerüstet und kampferprobt. Er wird brutal kämpfen. Aber dies ist das Jahr 1944! Viel ist passiert seit den Nazi-Triumphen von 1940/41. […] Unsere Heimatfronten haben uns zu einer überwältigenden Überlegenheit an Kriegswaffen und -munition verholfen und uns große Reserven an ausgebildeten kämpfenden Männern zur Verfügung gestellt. Das Blatt hat sich gewendet! Ich habe volles Vertrauen in Euren Mut, Euren Pflichteifer und Euer Kampfgeschick. Wir werden nichts akzeptieren außer einen vollständigen Sieg! Viel Glück!41 Die amerikanische Bevölkerung klammerte sich an jedes Wort. An die GIs war der Befehl auch schriftlich ergangen, und viele derjenigen, die überlebten, pinnten ihn sich an die Wand, als sie nach Hause zurückkehrten.

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Der New Yorker erklärte das Ereignis zu einem „gigantischen Moment in der Geschichte“, und das war es auch. Die Spannung und Ungewissheit waren qualvoll für das ganze Land. Fabrikarbeiter rangen hörbar nach Luft, als sie an ihren Arbeitsplätzen über Lautsprecher die Nachrichtensendung hörten. Als die Nacht der Morgendämmerung wich, stieg die Erwartung. Es wurde nicht nur ein Tag des Gebets, sondern auch der stillen Hoffnung und verhaltenen Freude. Möge die Nachricht von der Invasion quer durch die Nation von Ozean zu Ozean eilen, frohlockte das amerikanische Volk. Möge in den Zeitungen verkündet und in Tausenden von Nachrichtensendungen im ganzen Lande besungen werden, dass Roosevelts alliierte Armeen vorrücken und unmittelbar vor einem großen Triumph stehen. Die Nachricht war nicht mehr aufzuhalten, so wenig wie der Taumel. Die Könige von Norwegen und Schweden sprachen zu ihren Völkern. In Belgien und in den Niederlanden taten die jeweiligen Ministerpräsidenten dasselbe. Desgleichen Charles de Gaulle, der zu den Franzosen sprach. Dann, nachdem er eine Stunde lang Anrufe getätigt hatte, nahm Präsident Roosevelt noch einmal den Hörer ab, um der Telefonistin des Weißen Hauses eine schlichte Mitteilung zu machen: Sie solle sofort alle seine Berater wecken, und ihnen sagen, sie würden unverzüglich an ihren Schreibtischen erwartet. Kurz darauf machten sich die alten Hasen des Präsidenten, Männer wie Steve Early und Pa Watson, im Westflügel an die Arbeit, um den Überblick über die unzähligen Schriftstücke und Meldungen zu behalten, die sie auf die Tische bekamen. Im Stimmengewirr des Kartenraums versuchten Offiziere, die ihn rund um die Uhr in drei Schichten besetzten, im schnell wechselnden Kampfgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben. Und überall in den winzigen Büros und Kabuffs des Weißen Hauses mühte sich Roosevelts Stab mit der hereinströmenden Flut von Anliegen ab. In diesen aufwühlenden, emotionsgeladenen Stunden spürte Roosevelt, dass die Alliierten auf dem Weg zu einem großen Triumph waren, auch wenn einige der ersten Berichte alles andere als ermutigend waren. Die Situation erinnerte an einen vergleichbaren Moment im Weißen Haus vor 79 Jahren, Anfang April 1865, als Abraham Lincoln nach dem Sieg von Five Forks mehrere eroberte konföderierte Fahnen überreicht wurden. „Das hier ist etwas Materielles“, hatte er sich gefreut, „etwas, das ich sehen, fühlen und verstehen kann. Dies bedeutet Sieg, dies ist Sieg.“42 Jetzt, als an den Stränden der Nachmittag begann und pausenlos neue Truppenkontingente an Land kamen, glaubte auch Roosevelt mehr denn je daran. Um 9.50 Uhr rollte er sich ins Oval Office und unterrichtete den Sprecher des

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Repräsentantenhauses, den streitsüchtigen, gewieften Sam Rayburn. Um 11.30  Uhr kamen nacheinander seine militärischen Führer – General Marshall, Hap Arnold und Admiral King –, um sich neben seinen wuchtigen Schreibtisch zu stellen und das Gewicht der Geschichte zu spüren. Sie waren weit entfernt vom Kampfgeschehen, und die Details, über die sie verfügten, waren noch spärlich. Am Omaha Beach liefen die Dinge schlecht, wenngleich die Truppen an den anderen Fronten stetig vorstießen. Doch als Roosevelt kurz nach Mittag draußen im kühlenden Schatten seiner Lieblingsmagnolie mit seiner Tochter picknickte, war klar, dass das Blatt sich inzwischen deutlich zugunsten der Alliierten wendete. Später an jenem Nachmittag hielt der Präsident seine reguläre Pressekonferenz für fast 200 Korrespondenten ab, die erwartungsvoll in den Saal eilten. Selbst eingedenk der Tatsache, dass er den Großteil der Nacht auf gewesen war und nur vier Stunden geschlafen hatte, erkannten sie, dass eine tödliche Müdigkeit von ihm Besitz ergriffen hatte. Sein Gesicht war zerfurcht und hager, seine Wangen waren eingefallen. Doch in seinem großen grünen Drehstuhl sitzend, hielt Roosevelt sich wacker, und er hatte sich dem Anlass entsprechend gekleidet: Er trug ein blütenweißes Hemd, dessen linke Manschette mit den Initialen FDR bestickt war, und dazu stolz eine dunkelblau gepunktete Fliege. Und in seinem Mund steckte schief eine bernsteingelbe Zigarettenspitze, für mehr als einen der Journalisten im Raum ein Hinweis darauf, dass er „mit der Welt zufrieden“ war. Notizblocks und Stifte in Händen, schrieben die Reporter jedes Wort von Roosevelt mit, während der Hund des Präsidenten, Fala, ausgelassen auf den Möbeln herumsprang. Roosevelt war bester Laune, grinste breit und machte so lange Witze, bis auch die versammelten Reporter „über das ganze Gesicht strahlten“. Nichtsdestotrotz schlug er einen warnenden Ton an. „Man landet nicht an einem Strand und marschiert einfach so durch […] nach Berlin“, sagte er und fügte hinzu: „Und je schneller dieses Land das begreift, desto besser.“ Er schloss: „Übertriebene Zuversicht ist derzeit nicht geboten.“ Aber seinen Worten lag durchaus Zuversicht zugrunde. Was Einzelheiten betraf, blieb Roosevelt vage, deutete lediglich an, dass die Invasion „nach Zeitplan“ verlaufe. Und wie er selbst sich halte? Roosevelt zögerte, sein Augen funkelten, und er ließ ein weiteres breites Lächeln aufblitzen: „Zugegeben – ich bin ein bisschen übernächtigt.“ Nachdem er sich mit einem seiner Spitzenbeamten aus dem Pentagon, John J. McCloy, getroffen hatte, wurde Roosevelt zu einem Dinner mit Eleanor um 19.30 Uhr gerollt, und später am Abend, kurz vor 22 Uhr, ging der Präsident

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erneut über den Äther, diesmal, um die Nation im Gebet zu führen. Er sprach nur zehn Minuten, aber seine Worte waren gefühlvoll und zählen zu den fesselndsten seiner Präsidentschaft. Wie ein Priester, der über seine Herde wacht – schätzungsweise 100 Millionen Amerikaner hingen an ihren Radios –, betete er feierlich zuerst für „unsere Söhne, den Stolz unserer Nation“. An diesem Tag, betonte er, hätten die Alliierten ein gewaltiges Unterfangen in Angriff genommen, „einen Kampf, um unsere Republik […] unsere Zivilisation zu bewahren und eine leidende Menschheit zu befreien“. Mit einer äußerst wohlklingenden Stimme fuhr er fort: „Führe sie offen und ehrlich; verleihe ihren Waffen Kraft, ihren Herzen Entschlossenheit, gib ihnen Standhaftigkeit in ihrem Glauben. Sie werden Deine Segnungen brauchen. Der Weg wird lang und beschwerlich sein. Denn der Feind ist stark. Vielleicht wirft er unsere Streitkräfte zurück, vielleicht kommt der Erfolg nicht mit rauschender Geschwindigkeit, doch“ – fügte er gebieterisch hinzu – „wir werden immer wieder zurückkommen.“ Was die alliierten Soldaten betraf, ergänzte er eindringlich: „Sie kämpfen nicht aus Eroberungslust. Sie kämpfen, um die Eroberung zu beenden. Sie kämpfen, um zu befreien.“ Und weil er die Stimmung eines noch immer besorgten Landes spürte, sparte er sich seine prägnantesten Worte für zuletzt auf, eine eindringliche Fürbitte für all die Menschen zu Hause, für die Eltern, die sich danach sehnten, dass ihre Söhne unversehrt aus dem Kampf zurückkehrten, für die Ehefrauen, die sich danach sehnten, dass ihre Männer alles heil überstanden, für die Jungen und Mädchen, die darauf warteten, dass ihre Väter zur Eingangstür hereinkamen. Und sie alle begriffen intuitiv, was auf dem Spiel stand. „Einige werden niemals zurückkehren“, intonierte Roosevelt sanft. „Schenke uns Vertrauen in Dich, Vertrauen in unsere Söhne, gegenseitiges Vertrauen, Vertrauen in unseren vereinten Kreuzzug.“ Und die Nation stimmte ein. Seit dem Morgengrauen war diese Nation schon auf den Beinen. In Ortschaften überall im Lande läuteten die Glocken. Zum ersten Mal seit dem Begräbnis des Vorsitzenden Richters am Obersten Gerichtshof der USA, Chief Justice John Marshall, im Jahr 1835 schlug Philadelphias Bürgermeister mit einem hölzernen Klöppel die Freiheitsglocke, und der Klang wurde über Radiowellen von Küste zu Küste übertragen. Unterdessen hieß es am Broadway ausnahmsweise nicht „The Show must go on“ – am D-Day blieben die Theater dunkel, und auch die Baseballspiele fielen aus. Die New Yorker Börse verharrte zwei

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Minuten lang im stillen Gebet, bevor der Handel begann, und Macy’s blieb geschlossen. In einem Anfall von Patriotismus stellte das Kaufhaus aber draußen ein Radio auf, um den ganzen Tag den neuesten Stand bezüglich der Invasion bringen zu können. In Columbus, Ohio, hielten Bürger fünf Minuten inne, um sich dem landesweiten Gebet anzuschließen: Jeder Lastwagen, jeder Bus, jeder Pkw, jeder Arbeiter und jeder Fußgänger erstarrte an Ort und Stelle. Und im ganzen Rest des Landes, in kleinen und großen Städten, heulten die Luftschutzsirenen, tuteten die Fabrikpfeifen, und die Telefonzentralen liefen heiß, so viele Freunde und Familien versuchten einander zu erreichen. Die New York Times schrieb in einem Leitartikel: „Wir haben die Stunde erreicht, für die wir geboren wurden.“ Bürgermeister Fiorello LaGuardia von New York City verkündete: „Dies ist der aufregendste Moment in unserem Leben.“ Im ganzen Land trugen Gläubige ihre Bibeln zur Kirche oder eilten in Synagogen. In Bürogebäuden und an Montagebändern unterbrachen Männer und Frauen spontan die Arbeit, legten eine Hand aufs Herz und beteten. Gleichzeitig strömten Massen von Menschen in die Krankenhäuser, um Blut zu spenden. Weltweit gab es ausgelassene Feiern: In England standen Leute spontan auf und sangen „God Save the King“; in Moskau tanzten die ParteiElite und gewöhnliche Menschen gleichermaßen auf den Straßen; und in Rom schwenkten frisch befreite Italiener amerikanische, französische und britische Fahnen. Schon am 16.  Dezember 1943 hatte die New York Times erklärt, dass Deutschland „schwer leidet“ und dass 1944 durchaus das Jahr sein könnte, in dem es „zusammenbrechen“ würde. Und wenn nun weiterhin alles wie geplant lief, würde der D-Day für Roosevelt der größte Tag seiner Präsidentschaft sein.

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„Wird uns dieses Jahr 1944 den Sieg bringen?“ Roosevelt mag weit entfernt gewesen sein vom Kampfgeschehen, aber vor seinem geistigen Auge konnte er sich das Gemetzel vorstellen, das jetzt an den Stränden der Normandie stattfand. Als ehemaliger Staatssekretär im Marineministerium schaute der Präsident gern regelmäßig auf einen Sprung im Kartenraum des Weißen Hauses bei Admiral Leahy vorbei. Dieser Kellerraum mit der niedrigen Decke war früher eine Garderobe für Frauen und danach ein Billardraum gewesen, mit hölzernen Zählringen, die auf einen provisorischen Draht gezogen waren, und Queues an der Wand. Aber nach Pearl Harbor wurde er umgestaltet. Nun enthielt er detaillierte Karten des atlantischen und pazifischen Kriegsschauplatzes, die zwei- oder dreimal täglich aktualisiert wurden, um die ständig wechselnden Positionen der feindlichen und der alliierten Streitkräfte anzuzeigen. Hier konnte Roosevelt die sich schnell ändernden militärischen Entwicklungen begutachten, die durch mehrfarbige Fähnchen, mit dickem Fettstift gezeichnete geschwungene Pfeile und verschiedenfarbige Stecknadeln markiert waren. Die speziellen Nadeln, welche die Standorte der Großen Drei markierten, gefielen ihm besonders: Churchills Nadel hatte die Form einer Zigarre, die von Stalin war eine Bruyère-Pfeife, und seine eigene war eine Zigarettenspitze. Im Laufe des D-Day beobachtete Roosevelt zufrieden, wie die Fettstift-Markierungen stetig von den Stränden weg in Richtung des französischen Binnenlandes wanderten. In diesem Moment lag alles in den Händen von Dwight D. Eisenhower, auch „Ike“ genannt, und seinen Männern. Sieben Monate zuvor hatte Roosevelt auf dem Weg zu den Gipfeltreffen in Kairo und Teheran einen Umweg gemacht und den Tag mit Eisenhower verbracht. Zusammen hatten sie sich die Ruinen der antiken Stadt Karthago angesehen. Dort hatte er auch einen Blick auf die grässlichen Überreste des blutigen Nordafrikafeldzuges werfen können, den die Alliierten gegen Rommel und Kesselring geführt hatten: ausgebrannte Fahrzeugwracks und Panzer, welche die Ebene übersäten, in die Luft gesprengte Munitionslager, geschwärzte Panzersperren und nicht geräumte Minenfelder, noch übrig von der Schlacht um

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Tunesien. Während er mit Eisenhower auf dem Rücksitz eines staubigen Cadillac saß, erzählte ihm der General während der Fahrt ausführlich sowohl vom offenen, häufig verblüffenden Winterfeldzug, den die Alliierten bei Tebourba, Medjez El-Bab und am Kasserinpass geführt hatten, als auch von den Kämpfen des Frühjahrs, als sie die Achsentruppen schließlich bei Tunis abschnitten.1 Weit in die Geschichte zurückgehend, sann Roosevelt laut darüber nach, ob die amerikanischen und deutschen Panzer möglicherweise auf demselben Boden gekämpft hatten, auf dem auch die legendäre Schlacht von Zama getobt hatte, wo Publius Cornelius Scipio, der große römische Feldherr, Hannibal und die Karthager auf der weiten, offenen Ebene besiegt hatte – ein Sieg, der Scipio den Beinamen „Africanus“ einbrachte. Würden die Alliierten die Deutschen am D-Day besiegen, so wie die älteste Republik der Welt die Karthager geschlagen hatte? Roosevelt hoffte es gewiss. Während er sich ein Sandwich schmecken ließ, witzelte Roosevelt anschließend: „Ike, wenn Ihnen vor einem Jahr eine Wette angeboten worden wäre, dass der Präsident der Vereinigten Staaten an diesem Tag sein Lunch am tunesischen Straßenrand einnehmen würde, welche Gewinnquote hätten Sie verlangt?“ Nun, Roosevelt hätte genauso gut fragen können, wie die Chancen standen, dass ein Präsident, der noch vor drei Monaten den Eindruck gemacht hatte, als würde er sterben, den vernichtenden Schlag gegen Hitlers viel gepriesene Wehrmacht leiten würde. Vernichtend war das angemessene Wort. Das lange Warten, der gewaltige Truppenaufmarsch und die komplizierte Planung durch Roosevelt, Churchill und ihr militärisches Oberkommando – all das machte sich jetzt bezahlt. Entlang vieler Kilometer der Normandie-Küste gingen Dörfer in Rauch und Flammen auf. Die alliierten Armeen waren mit aller Gewalt gegen die deutschen Verteidiger vorgestoßen. Binnen Stunden kreuzten Tausende alliierter Flugzeuge hoch oben am Himmel, während es an den Stränden unten sowohl von Männern, Panzern und amphibischen Versorgungsfahrzeugen als auch von frischem Nachschub wimmelte, der so schnell eintraf, wie es See und Gezeiten zuließen. Am Utah Beach waren die Truppen auf wenig und nur schwachen Widerstand gestoßen: Die Deutschen gaben hier rasch nach. An den britischen und kanadischen Standorten – Sword-, Gold- und Juno-Beach – liefen die Kämpfe ebenfalls besser als erwartet. Selbst am Omaha Beach konnten bis zum Ende des Tages etwa 34 000 amerikanische Soldaten auf französischem Boden Fuß fassen – trotz der längs des Strandes verstreuten Toten und Verwundeten,

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trotz des Durcheinanders von Fahrzeugen und Leichen, trotz des qualvollen stundenlangen Blutvergießens. Die Deutschen wurden nicht nur überwunden, sondern auch überlistet. Bemerkenswerterweise war Rommel nicht einmal an der Front.2 Er hatte es am 5. Juni vorgezogen, einen Ruhetag in seinem Haus bei Ulm einzulegen und mit seiner Frau Lucie spazieren zu gehen. Sie probierte die neuen Sandalen aus, die er ihr zum Geburtstag gekauft hatte. Infolgedessen war der viel gepriesene deutsche Befehlshaber am D-Day in keiner Kommandozentrale zu finden und wurde erst um 10.15  Uhr vormittags auf den Angriff aufmerksam gemacht. Die nächsten Stunden verbrachte er dann damit, wie verrückt mehr als 600 Straßenkilometer zu seinem prunkvollen Befehlsstand in La Roche Guyon zu rasen, wobei er sich selbst verfluchte und seinen Fahrer anschrie: „Tempo! Tempo! Tempo!“3 Unglaublicherweise traf er erst nach 18  Uhr abends in ­seinem Hauptquartier ein. Inzwischen waren die Strände, Steilhänge und Artillerienester beinahe vollständig von den Deutschen geräumt worden. Währenddessen weilte ein bleicher und wahnhafter Hitler weltabgeschieden in Berchtesgaden, wo er in Erinnerungen an alte Zeiten schwelgte und sich den ganzen Abend Wochenschauen ansah. Im Übrigen schlief er, als die Nachricht von der Invasion eintraf, und sein Stab hatte Angst, ihn zu wecken. Als er schließlich um zehn Uhr morgens aus dem Bett aufstand, bildete er sich ein, er könnte die Invasion zurückschlagen, schob aber die Entsendung von zwei Panzerdivisionen, die knapp 200 Kilometer von den Stränden entfernt stationiert waren, auf, bis es zu spät war. „Wir warteten und warteten auf Befehle“, klagte der Kommandeur der 21. Panzerdivision später. „Wir konnten nicht verstehen, warum wir überhaupt keine mehr bekamen.“4 So blieben die Panzer an Ort und Stelle, wo sie den alliierten Bombenangriffen schutzlos ausgesetzt waren. Und als die Befehle dann endlich eintrafen, konnten sie wegen der unerbittlichen Bombardements bis Einbruch der Dunkelheit nur in den Eichenwäldern am Straßenrand dahinkriechen. Und trotzdem wurden einige Panzer in Stücke geschossen. Unterdessen waren die deutschen Streitkräfte überall in der Normandie machtlos gegen die alliierten Luftangriffe, die auf Bahnlinien, Fernstraßen, Rangierbahnhöfe und Brücken einhämmerten und die deutschen Verstärkungen im Binnenland einkesselten. Erstaunlicherweise glaubte ein anderer von Hitlers Spitzenmilitärs, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, den ganzen Vormittag weiterhin, dass die Landungen ein Ablenkungsmanöver seien. Der Gegensatz zwischen den Amerikanern und den Deutschen hätte größer nicht sein können. Mittags beugte sich ein gestärkter Eisenhower in seinem

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Befehlszelt über die Karten. Er machte auf dem Absatz kehrt, war mit wenigen Schritten bei der Tür, stieß sie auf, blickte zum Himmel empor und erklärte vollmundig: „Die Sonne scheint.“5 Alliierte Flugzeuge, die 10 000 Einsätze am D-Day flogen, beherrschten diesen sonnigen Himmel. Was sie sahen, wenn sie wieder abdrehten, sollten sie nie vergessen: Die französische Landschaft war allerorten übersät mit weißen Fallschirmen und Teilen von zerschellten Lastenseglern, während entlang der Küste Hunderte von Landungsbooten Zehntausende von Männern ausschifften. Es sah aus, als seien an der Küste der Normandie kleine Städte errichtet worden. Wie ein GI sagte, war es „die größte Show, die jemals inszeniert wurde“. Bei Anbruch der Nacht stürmten die alliierten Streitkräfte so zahlreich vorwärts, dass sie aus dem Boden zu schießen schienen wie weiland die mythischen Krieger des Königs Aietes, die aus der Erde aufstiegen, nachdem der Argonaute Iason Drachenzähne ausgesät hatte. Als sie Gold Beach eingenommen hatten, waren die Briten ungefähr zehn Kilometer ins Landesinnere vorgestoßen und hatten sich mit den Kanadiern zu ihrer Linken vereinigt. Am Juno Beach spurteten kanadische Panzer sogar 16 Kilometer landeinwärts, und zwar so schnell, dass sie Halt machen und warten mussten, bis die Infanterie nachrückte. Ihre Vorausabteilungen drangen tiefer nach Frankreich ein als jede andere Division und rückten bis auf fünf Kilometer gegen die Außenbezirke der Stadt Caen vor. Am Sword Beach wateten, nachdem sich der ganze Rauch und Dunst verzogen hatten und die Kämpfe abgeflaut waren, 29 000 britische Soldaten an Land, bei lediglich 630 eigenen Opfern. Am Utah Beach kamen 23 000 Mann an Land, bei 210 Gefallenen und Verwundeten. Während der Nacht waren trotz enormer Verluste fast 18  000 Fallschirmjäger gelandet. Als die Sonne schließlich über der Normandie unterging, hatten sich etwa 175 000 Mann – Amerikaner, Briten und Kanadier – auf französischem Boden festgesetzt. Allerdings verfügten sie mancherorts nur über eine schmale Ausgangsbasis, und einige ihrer Stellungen waren isoliert, aber dennoch waren sie über knapp 90  Kilometer präsent. Und hinter ihnen würden binnen weniger kurzer Wochen noch einmal eine Million Mann kommen – genau genommen bis zum 4. Juli. Ein amerikanischer Pilot bemerkte beim Anblick der Strände und der See, über die ein anscheinend endloser Strom amerikanischer Männer und amerikanischen Materials in Frankreich an Land kam: „Hitler muss verrückt gewesen sein, den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären.“6

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Der angeblich unüberwindliche Atlantikwall, ein Produkt der fanatischen Vision Hitlers und Tausender fieberhafter Arbeitsstunden, hatte die Deutschen vier Jahre Bauzeit und Rommel Monate zu seiner Verstärkung gekostet. Mit Ausnahme von Omaha Beach, wo es einen Tag dauerte, durchbrachen die Alliierten ihn in weniger als einer Stunde. Die Alliierten rückten nun systematisch vor. Und den Deutschen blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen, neu zu sammeln und zuzusehen. Während die Alliierten von den Stränden aus landeinwärts vorstießen, trafen am 6. Juni zwei weitere aus Auschwitz entflohene Häftlinge – Czeslaw Mordowicz und Arnost Rosin – an der slowakischen Grenze ein. Beide dachten irrtümlicherweise, der Krieg sei schon vorbei. Wie Vrba und Wetzler wurden auch sie von führenden Repräsentanten der slowakischen Juden empfangen und von Oskar Krasnansky befragt. Sie waren am 27. Mai aus dem Lager geflohen, wo mittlerweile die Ungarn in Massen eintrafen. Die beiden Männer erzählten von einem „Gleisanschluß, der […] in großer Eile fertiggestellt“ würde: „Die Bautrupps arbeiteten Tag und Nacht.“ Dieses neue Bahngleis ermöglichte es, dass Transporte direkt zu den Krematorien fuhren, ohne die Umstände des Selektionsprozesses. Und weil die Krematorien überlastet seien, würden „große Gruben“ ausgehoben, „wo Tag und Nacht Leichen verbrannt wurden“. Wie Rudolf Vrba später dazu anmerkte: „Wetzler und ich erlebten die Vorbereitungen für das Massaker, Mordowicz und Rosin sahen das Massaker selbst.“7 Während die Alliierten die Normandie überrannten, geht aus den Unterlagen der Lagerverwaltung in Auschwitz hervor, dass am 6. Juli 496 Juden ankamen, von denen 297 vergast wurden. Zur selben Zeit hängte in Amsterdam in den Niederlanden ein jüdischer Geschäftsmann, Otto Frank, der sich mit seiner Frau, seinen Töchtern und Freunden im Hinterhaus eines Gebäudes in der Prinsengracht versteckt hielt, eine Karte der Normandie an die Wand. Er verfolgte alle Nachrichten, die er bekommen konnte, und benutzte Stecknadeln mit farbigen Köpfen, um zu markieren, wie weit die Alliierten in Frankreich eingedrungen und auf die Niederlande vorgerückt waren.8 Aber selbst als die deutsche Kriegsmaschinerie sich, knapp 1400 Kilometer weit entfernt, langsam von den Stränden der Normandie zurückzog, rollten die

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Deportationszüge weiter nach Norden und Osten, vorbei an der Pracht, die einst Wien gewesen war, vorbei am uralten Krakau (Kraków), und fuhren in den Bahnhof von Auschwitz ein. Die Behinderten, die Kranken, die Kinder, die Alten – alle wurden mit erstaunlicher Geschwindigkeit vergast – 2000 alle 30 Minuten, was sich in ein paar Stunden auf mehr Menschen summierte, als am ersten Tag des Angriffs in der Normandie umkamen. Bis zum Tag der Invasion hatten allein in den voraufgegangenen zwei Monaten 92 Züge fast 300 000 ungarische Juden in den Tod befördert. Das war, als würde die Hälfte der Einwohner von Boston mit Gewalt in den Metroliner getrieben und nach Washington, D.C., gebracht, um brutal ermordet zu werden, – oder als würde sich das Blutvergießen in der Normandie mehrmals wiederholen. Und in den nasskalten, düsteren, muffigen Zimmern des geheimen „Achterhuis“ in Amsterdam, versteckt hinter einem drehbaren Bücherregal, das eine Tür verbarg, wartete ein zur Unsterblichkeit bestimmtes kleines jüdisches Mädchen, die 14-jährige Anne Frank, mit ihrer Familie und sah dabei oft auf die Karte an der Wand. Mit ihren kastanienbraunen Augen und ihrer unbändigen Neugier war Anne ganz Dreistigkeit und Eloquenz. Trotz der unzähligen Schwierigkeiten eines Lebens im Verborgenen widmete sie sich ihren Studien, las viele Bücher, verliebte sich und erledigte ihre häuslichen Pflichten. Trotz des Wahnsinns, der um sie herum tobte, sann sie über bedeutende philosophische und politische Fragen von Krieg und Frieden nach („Der ganze Erdball rast […], aber noch ist kein Ende abzusehen“9) und grübelte über das Schicksal anderer, „so echte Kinder mit Rotznäschen und einem Dialekt, der kaum zu verstehen ist“.10 Und trotz ihrer eigenen entsetzlichen Angst verlor sie nie ihr Mitgefühl, wenn sie sich etwa wegen der „traurige[n] Augen“11 ihres Vaters sorgte und der armseligen Opfer, die „wie eine Herde krankes und verwahrlostes Vieh […] zur Schlachtbank“12 geführt wurden. Sie und ihre Familie hatten die johlenden Nazi-Horden und die nervenzermürbende Totenstille in den Straßen nach den vielen Aushebungen von Juden überlebt. Sie hatten das endlose Warten überlebt: das angstvolle Warten darauf, dass die gefürchtete SS an die Tür klopfte; das sehnsüchtige Warten auf die Rettung durch die Alliierten. Warten, Warten, immer nur Warten. Anne hatte das Gefühl des Eingesperrtseins überlebt: „Ich irre im Haus herum, von einem Zimmer zum anderen, treppauf, treppab. Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat, und der im Dunkeln gegen die Stangen seines eigenen Käfigs anfliegt“.13 Und alle hatten sie ihre vielen Zankereien überlebt, bei denen es im ganzen Haus „donnernd gekracht“14 hatte.

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Jetzt, nachdem sie sich jahrelang vor dem nationalsozialistischen Terror versteckt hatten, nachdem sie in vier kleinen Zimmern eingesperrt gewesen waren wie Hamster, sich stets ruhig verhalten hatten, wenn die SS vorbeiging, ja sogar Angst gehabt hatten, laut zu husten, wenn sie Grippe hatten, war der DDay der bisher wahnsinnigste Tag in Annes Leben. Um nicht den Verstand zu verlieren, stieg sie oft eine steile Leiter zum Speicher hinauf, setzte sich an die Dachluke und blickte auf ihren geliebten Kastanienbaum oder lauschte den Vögeln, während sie wehmütig über das Leben jener Menschen nachdachte, die frei im Haus gegenüber lebten. Freie Menschen – eine schier unfassbare Vorstellung. Das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das Nichtjuden gehörte, hätte genauso gut einen Ozean entfernt sein können. Aber vielleicht galt das bald schon nicht mehr. Am 6. Juni griff Anne zur Feder und schrieb in ihr Tagebuch: „This is the day. Die Invasion hat begonnen.“ Mit beredten Worten fuhr sie fort: „Soll denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die Befreiung, von der so viel gesprochen wurde, die aber doch zu schön ist, zu märchenhaft, um jemals Wirklichkeit zu werden? Wird uns dieses Jahr 1944 den Sieg bringen? Wir wissen es noch nicht, aber die Hoffnung belebt uns, gibt uns wieder Mut, macht uns wieder stark.“15 „O“, schrieb sie, „das Schönste ist, ich habe das Gefühl, daß da Freunde im Anzug sind. Die schrecklichen Deutschen haben uns so lange unterdrückt und uns das Messer an die Kehle gesetzt, daß der Gedanke an Freunde und Rettung uns das Vertrauen wiedergibt!“16 Aber kamen die Freunde wirklich, um sie zu befreien? Anne Frank wusste nicht – und ebenso wenig die Juden Ungarns und auch nicht Roosevelt oder Churchill –, dass am D-Day sowohl britische als auch amerikanische Nachrichtenoffiziere Fotos der Luftaufklärung studierten, Fotos, die in schaurigen Einzelheiten die Gebäude im Hauptlager von Auschwitz zeigten. Besonders auf drei Fotografien waren die Todeskammern in Birkenau zu erkennen. Gegen Ende Juni waren die Bilder der Aufklärung dann so detailreich, dass die Nachrichtenoffiziere die Rampen und Menschen, die zu den Krematorien gingen, ausmachen konnten. Mit Hilfe einer Lupe waren sogar die eintätowierten Nummern der Häftlinge zu erkennen. Die Untersuchung dieser Luftaufnahmen hätte der entscheidende erste Schritt zur Bombardierung von Auschwitz sein können. Doch die Auswerter gingen über den Vernichtungsapparat einfach hinweg. Wie es der Zufall wollte, hatten ihre Vorgesetzten ihnen keinen

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Grund genannt, um diesen Teil des Lagers genauer in Augenschein zu nehmen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf ihren eigentlichen Auftrag: die nahe gelegenen Fabriken zur Herstellung von synthetischem Kautschuk und synthetischem Treibstoff. Diese Ziele waren entscheidend für den Luftwaffeneinsatz, der Deutschlands Kriegsmaschinerie abwürgen sollte. Und in den dunklen Tiefen eines fernen polnischen Waldes rollten in düsterer Regelmäßigkeit weiter die Deportationszüge nach Auschwitz. Der Krieg war noch lange nicht vorüber, obwohl sich die Anzeichen dafür mehrten, dass das NS-Imperium zerfiel. An der Ostfront hielt Stalin sein Roosevelt in Teheran gegebenes Versprechen: Eine neue sowjetische Sommeroffensive fügte den Deutschen eine Reihe katastrophaler Niederlagen zu. Die Sowjets stießen rasch nach Westen vor, wobei sie die 3. Panzerarmee in Witebsk abschnitten und zwei Tage später die 9. Armee in der Nähe von Bobruisk einkesselten. Derweil gingen die Einsätze der Alliierten in der Luft weiter. Während der ersten vier Monate des Jahres 1944 hatten ihre Flugzeuge 175 000 Tonnen Bomben über Deutschland abgeworfen, während die Allied Mediterranean Air Force allein am 6. Juni mehr als 2300 Einsätze flog. Immer wieder bombardierten die Alliierten Bahnbetriebswerke und Ölraffinerien auf dem Balkan und in Rumänien. Auch im Innern des Reiches nahm das Chaos zu. München, Bremen, Düsseldorf und Duisburg gehörten zu den Städten, die ernsthafte Schäden oder gar Zerstörung erlitten. Deutschlands glitzernde kulturelle Zentren wurden langsam aber sicher in Einöden verwandelt. Und angesichts all dessen war Adolf Hitler selbst nunmehr kränklich und vorzeitig gealtert und weit von einem neuzeitlichen Caesar entfernt. Er ging gebeugt wie ein Greis, sein linker Arm zitterte unkontrolliert, und auch in seinem linken Bein war ein Beben. Seine ehemals durchdringenden Augen waren rot unterlaufen, seine ehemals schwarzen Haare erst grau, dann weiß geworden, und seine Gesichtshaut war erschlafft. Von einem chronischen Reizdarm-Syndrom17 geplagt und unter Schlaflosigkeit leidend, nahm er bis zu 28 verschiedene Tabletten pro Tag. Seinem körperlichen Verfall entsprach sein geistiger: Anfälle, permanente Wutausbrüche, ungehemmte Egomanie und außer Kontrolle geratene Paranoia. Es war eine Tatsache, dass er 1944 nicht ein einziges Mal sein Gesicht zeigte, um eine Rede zu halten – er begriff intuitiv, dass er auf die Gunst der Nation nicht mehr zählen konnte. Und nur zweimal sprach er im Rundfunk zum Land. Nicht jedoch nach dem D-Day.

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Schimpfend und tobend blieb er abgeschieden an seinen Zufluchtsorten mit seinem inneren Kreis von NS-Größen, Fanatikern wie Martin Bormann, Joseph Goebbels, Albert Speer und Hermann Göring. Doch für den gewöhnlichen Deutschen war er fast verschwunden. Einst von Millionen vergöttert, hatte er nach eigener Aussage keine Freunde mit Ausnahme seines Deutschen Schäferhundes, Blondi, und seiner Geliebten, Eva Braun. Tatsache war, dass er allmählich den Bezug zur Realität verlor, entgegen allen Anzeichen auf den Sieg und auf seine neueste „Wunderwaffe“ hoffte – die 13,5 Tonnen schwere V2-Rakete (Typenbezeichnung: Aggregat 4,  A4), die nur 30 Sekunden nach dem Start Schallgeschwindigkeit erreichen konnte und einen Sprengkopf von einer Tonne trug. Die V2-Raketen sollten aus den oberen Schichten der Atmosphäre herabstoßen und Zerstörung auf den Feind niedergehen lassen. Zugleich wurden die Listen mit den Kriegstoten immer länger, was er abtat oder komplett ignorierte. Nur eine Sache, die das NS-Regime von jeher befeuert hatte, hielt auch ihn vor allen anderen in Schwung: sein Hass auf die Juden. Angesichts des in dieser Phase des Krieges zusehends verfallenden NS-Imperiums schien nur eine Sache zu funktionieren – die Maschinerie zur Tötung dieser wehrlosen Menschen. Und diese Maschinerie war nach wie vor ebenso geheimnisumwittert wie der „Führer“ selbst. Trotz all der Raserei Hitlers gegen die Juden, die umso heftiger wurde, je länger sich der Krieg hinzog und je mehr sich das Schlachtenglück der Nationalsozialisten verflüchtigte, achtete der „Führer“ in seinen Äußerungen stets sorgfältig darauf, vage zu formulieren. Allerdings peitschte er, wenn er sich an nach wie vor hingerissen jubelnde Menschenmassen in Berlin wandte oder wenn er in der Wolfsschanze, dem in den ostpreußischen Wäldern versteckten Führerhauptquartier, in den Abendstunden zu Vertrauten sprach, seine Zuhörer stets zu noch extremerer Judenfeindschaft auf. Seine Botschaft war bedrohlich, seine Miene Furcht einflößend. Stück für Stück schuf er persönlich die Basis für den entsetzlichsten industrialisierten Völkermord, den die Welt je erlebt hatte. Daran konnte kein Zweifel bestehen, aber schlauerweise sorgte er dafür, dass sich der Zweifel hartnäckig hielt. Also stellt sich die Frage: Warum machte er sich die Mühe, seine eigene tiefe Verstrickung in den Massenmord an den Juden zu verschleiern? Ebenso sehr getrieben von Intuition wie von Berechnung, wie irre auch immer, spürte Hitler, dass das deutsche Volk nicht bereit war, von derart Bösem inmitten seines höchst zivilisierten Umfelds zu erfahren. Zwar hörten die Deutschen seine Ti-

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raden über den „Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus“, wie Joseph Goebbels am 27. März 1942 in seinem Tagebuch notierte, und seine dunklen Anspielungen auf die „Endlösung“, aber gewöhnlich äußerte er sich indirekt mit vieldeutigen Gemeinplätzen, statt genaue Erklärungen abzugeben. Auf diese Weise, so seine Überlegung, könnten die Nationalsozialisten alle äußeren Merkmale eines Kulturvolkes bewahren einschließlich eines Gewissens. Selbst im Kreise seiner Handlanger bei seinem geschätzten spätabendlichen Tee sprach Hitler nie wirklich über die tatsächliche physische Ausrottung der Juden. Er sprach von den Juden als der „Geißel der Menschheit“, aber niemals über die Todesfabriken im besetzten Polen. Er sagte immer, „wenn es keine Juden mehr in Europa gäbe, würde die Einheit der europäischen Staaten nicht länger gestört“, aber er sprach nie über Auschwitz. Er erklärte, dass die Juden überall seien und dass alle Juden „aus Berlin und Wien verschwinden“ sollten, erwähnte aber nie die Millionen, die tatsächlich ermordet worden waren. Folglich wurde sein schreckliches Geheimnis nach außen hin gewahrt.18 Doch es gab noch einen anderen, ebenfalls teuflischen Grund für seine Verschwiegenheit. Je weniger die grausigen Fakten von Hitlers Vernichtungsprogramm ans Licht kamen, desto weniger wahrscheinlich war, dass die Weltgemeinschaft aufgerüttelt würde. Manche mochten dies behaupten, manche ­jenes, aber für Hitler lief all dies auf leeres Gerede hinaus. Seiner Ansicht nach kamen aus dem Mund von Roosevelt und Churchill nur heuchlerische Sprüche über menschliche Pietät und die schlechte Behandlung der Juden, doch ohne hieb- und stichfeste Details waren diese Verurteilungen zahnlos. Dasselbe galt für die sorgenvollen Bekundungen einer eingeschüchterten katholischen Kirche oder des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Und je weniger die Juden selbst wussten, desto fügsamer und widerstandsloser waren sie, wenn sie in den langsam dahinrollenden Viehwaggons nach Osten gebracht wurden, ihrer baldigen Ermordung entgegen. Aber spätestens im Mai und auf jeden Fall im Juni 1944 konnte den harten Fakten nicht länger ausgewichen werden. Insbesondere nach dem D-Day und unmittelbar vor Bekanntwerden des Vrba-Wetzler-Berichts wurde die „Judenfrage“ für viele ebenso bedrückend wie der Krieg selbst. Doch diese Entwicklung war schon lange absehbar gewesen, nicht zuletzt wegen des langwierigen, komplizierten Prozesses, durch den sich die „Endlösung“ in der nationalsozialistischen Politik herauskristallisierte. Lange abseh-

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bar gewesen auch wegen der allzu oft laschen Reaktion, mit der jeder neue Bericht über nationalsozialistische Gräueltaten und Massaker auf den Marmorfluren in Washington, wo die Entscheidungen fielen, aufgenommen wurde. Wie also sind die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und die Ungeheuerlichkeit der schleppenden Reaktion seitens des Weißen Hauses zu deuten? Und wie sind jene zu verstehen, die bedauerlicherweise oder absichtlich blind waren oder die sich von dem schieren Bösen des Verbrechens einfach abwandten? Voraussetzung ist, dass man die Geschichte des sich ausbreitenden Krieges, die Geschichte der Juden im Vorkriegseuropa und die Geschichte von Roosevelts Präsidentschaft versteht. Und es endet mit dem langen, gewundenen Weg, der sich bis zum Frühjahr 1944 erstreckte.

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Teil Zwei

Der Weg ins Jahr 1944

Hitler im Kartenraum mit seinen Generälen.

Kapitel 7

Die Anfänge Nachfolgenden Generationen ist das wahre Ausmaß der sogenannten „Endlösung“ bekannt. Im anfänglichen Wirbel des Zweiten Weltkriegs jedoch waren die Informationen, die den Alliierten zum Mord an den Juden vorlagen, zusammenhanglos, häufig verwirrend und allzu leicht missverständlich. Im Allgemeinen herrscht heute die Auffassung, die „Endlösung“ habe erst mit den Konzentrationslagern begonnen. Doch das ist nicht korrekt. Die furchtbaren Ursprünge sind sicherlich schon in Hitlers frühen Äußerungen zu finden. Dabei war die „Endlösung“ weniger ein politisches Programm als ein Prozess, der von den wechselnden Erfolgen auf den Schlachtfeldern ebenso abhing wie von den Launen der NS-Gefolgsleute in den neu eroberten Gebieten. Erst später nahm sie den durchgängig industrialisierten Charakter an, von dem wir heute wissen. Und erst gegen Kriegsende, und damit nach Roosevelts Tod, hielten ungerührte Kameralinsen ihre Folgen für die Ewigkeit fest: mit Fotos von Körpern, die einen aufgedunsen, die anderen kaum mehr vorhanden, manche derart abgemagert, dass nur noch weiße, eingefallene Torsos mit hervorspringenden Rippen übrig waren und sich letzte Hautschichten über zerbrechliche Knochen spannten; Bilder von menschlichen Körpern, welche die Entbehrung fast auf ein Nichts reduziert hatte; Bilder von leeren Augen, die vor Grauen wie erstarrt waren und die, wenn schon nicht um Hilfe, dann doch zumindest um Gnade bettelten. Aber als diese Bilder aufgenommen wurden, war es bereits zu spät. Und wieder einmal stand die Frage im Raum: Wie konnte es dazu kommen? Die Samen des Völkermords waren schon einige Zeit zuvor gesät worden. Am 30.  Januar 1939, dem sechsten Jahrestag seines Machtantritts, hielt ein schwitzender und überschäumender Hitler vor dem Reichstag eine seiner bedeutsamsten Reden, eine Rede, auf die er später immer wieder zurückkommen würde. Jeder Stuhl im Saal war besetzt. „Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen“, rühmte er sich, „und wurde meistens ausgelacht.“ Ein Raunen ging durch die Menge. „In der Zeit meines Kampfes um die Macht war es in erster Linie das jüdische Volk, das nur mit Gelächter meine Prophezeiungen hinnahm, ich würde einmal in Deutschland die Führung des Staates und da-

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mit des ganzen Volkes übernehmen und dann unter vielen anderen auch das jüdische Problem zur Lösung bringen.“ Wieder Jubel im Saal. Mit donnernder Stimme und erhobenen Händen erklärte Hitler weiter: „Ich will heute wieder ein Prophet sein.“ Und wie lautete seine furchtbare Prophezeiung? „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“1 Damit war das Wort „Vernichtung“ gefallen, Hitlers Lieblingswort, und er sollte es wieder und wieder in den Mund nehmen. Tatsächlich hatte Hitler schon neun Tage zuvor, bei einem privaten Treffen mit dem tschechoslowakischen Außenminister, dreist darauf bestanden, dass „die Juden hier vernichtet werden.“ Und wer hätte ihm nicht geglaubt, hatte doch die Erfahrung gezeigt, wie ernst es ihm damit war. Schon 1933, im Jahr seiner Ernennung zum Reichskanzler – in dem auch Franklin Roosevelt US-Präsident wurde –, hatte Hitler unverzüglich und systematisch begonnen, die Rechte der deutschen Juden zu beschneiden. Mit den Nürnberger Gesetzen 1935 wurden sie ihnen dann auch formaljuristisch aberkannt, und Juden wurden fortan auf jede nur erdenkliche Art und Weise aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Auf staatlichen Befehl hin wurden jüdische Einzelhandelsunternehmen geschlossen. Juden wurde der Zutritt zu Schulen und zu Konzert- und Theatersälen verwehrt, und man verbot ihnen sogar das Autofahren. Jüdische Anwälte und Ärzte durften nicht mehr praktizieren, jüdische Hausierer wurden geächtet, jüdische Banken geplündert. Der Antisemitismus stank zum Himmel und war ebenso allgegenwärtig wie die Qualen und Nöte der Juden. ­SA-Männer, oder manches Mal auch einfach Schläger in braunen Hemden, verwüsteten jüdische Privatwohnungen und schlugen jüdische Geschäfte kurz und klein. Die große Synagoge in München, ein wunderschönes altes Gebäude, wurde in Brand gesteckt, während Grabschänder jüdische Friedhöfe entweihten. Und das war erst der Anfang. Männliche Juden, deren Vornamen „arisch“ klangen, mussten „Israel“ als weiteren Vornamen führen, bei Frauen wurde „Sara“ hinzugefügt. In jüdische Pässe wurde zwangsweise der Buchstabe „J“ eingestempelt. Weit davon entfernt, solche Maßnahmen zu verurteilen, ließ Hitler im Gegenteil keine Gelegenheit ungenutzt, den Antisemitismus weiter anzuheizen: Juden seien, so wiederholte er, „Läuse“, „Ungeziefer“, „Parasiten“.2 Ein Jude war, in der Wortwahl der Nationalsozialisten, ein „Bazillus“. Juden seien „Vampire“, die alles Edle und Gute korrumpierten und „alle Nationen bis zum Tode“ aussaugten.

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Sollte es noch Zweifel an der wachsenden Brutalität des NS-Regimes gegeben haben, so wurden diese in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der berüchtigten „Reichskristallnacht“, endgültig zerstreut. Dieses Pogrom war ein barbarischer Akt, wie er inzwischen in einem als zivilisiert geltenden Staat für undenkbar gegolten hatte. Doch mit Hitlers Herrschaft glich die Situation in Deutschland zunehmend einem Pulverfass. Der Funke sprang schließlich über, als ein 17-jähriger polnischer Jude, über die Deportation seiner Familie und die gesammelte Ausweisung von 18  000 polnischen Juden aus Deutschland verzweifelt, am 7.  November einen niederrangigen deutschen Diplomaten in Paris erschoss. Am nächsten Morgen peitschte die NS-Presse in Deutschland ihre fanatischen Parteigänger zu gewalttätiger Vergeltung an allen Juden auf. Örtliche Parteiführer folgten diesem Beispiel. Und ebenfalls am 8. November gab Reichsführer SS Heinrich Himmler giftig bekannt: „Wir werden [die Juden] mit noch nie dagewesener Rücksichtslosigkeit mehr und mehr hinausjagen.“ Von da an war kein Halten mehr. Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Wenn man jetzt den Volkszorn einmal loslassen könnte!“3 Als er sich an diesem Abend während eines Empfangs mit Hitler beriet, pflichtete ihm der Führer offensichtlich bei und murmelte vor sich hin, die SA solle „sich austoben“. Nachdem Hitler sich still in seine Münchner Wohnung zurückgezogen hatte, schritt Goebbels, der nun grünes Licht bekommen hatte, zur Tat. Um 22 Uhr hielt er eine Rede, mit der er zum Aufruhr gegen Juden aufrief. Um 1.20 Uhr wies Heydrich per Fernschreiber alle Polizeichefs an, so viele männliche Juden wie möglich zu verhaften und die Zerstörung von Synagogen nicht zu unterbinden. Innerhalb weniger Stunden versammelten sich wütende Demonstranten auf den Straßen, und die Flammen der brennenden Synagogen machten die Nacht zum Tag. In ganz Deutschland randalierten machttrunkene NS-Horden und warfen die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte ein. Parteimitglieder schmierten antisemitische Parolen an die Wände von Geschäften und Wohnhäusern. Einige SS-Männer beteiligten sich in Zivilkleidung an den Unruhen. Zur selben Zeit zogen Sturmtruppen, etwa der gefürchtete „Stoßtrupp Hitler“, durch die Straßen Münchens. Singend und Fäuste schwingend jagten sie Juden durch die Stadt und ermordeten sie. Insgesamt kamen etwa 400 Juden in dieser Nacht ums Leben. Allein in Berlin brannten 15 prächtige Synagogen nieder, und am nächsten Morgen waren in ganz Deutschland Hunderte jüdische Gotteshäuser zerstört. Man wies die Feuerwehren ausdrücklich an, die Brände nicht zu löschen und die Synagogen einstürzen zu lassen.

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Zurück in seinem Hotelzimmer erfreute sich Goebbels an den nächtlichen Geräuschen des knisternden Feuers und von klirrendem Glas. „Bravo“, gratulierte er sich selbst. „Bravo!“4 Mehr als 8000 Geschäfte jüdischer Besitzer wurden geplündert. Niemand weiß, in wie viele Wohnungen die Horden eindrangen, um sie zu verwüsten. Es wurde wie wild geraubt; häufig wurden die Waren aus den Geschäften aber auch nur zum Spaß auf die Straße geworfen. Man demolierte goldgerahmte Spiegel, zerschlitzte Gemälde, zerbrach Erbstücke und Antiquitäten. Kleidungsstücke – Mädchenröcke und Schuluniformen der Jungs – lagen im Straßendreck. Einzelne NS-Anhänger verschwanden mit dem Bargeld und dem Ersparten ihrer Opfer, andere beschlagnahmten Radios, Bücher, Medikamente, Spielzeug und sogar Klaviere – alles, was irgendwie von Wert war, und selbst das reichte ihnen nicht. Verängstigte Frauen wurden bedrängt, geschlagen und belästigt. Auch älteren Juden erging es so. Sogar die vor Angst wimmernden Kinder, die man aus ihren Verstecken in Kellern und auf Dachböden zerrte, blieben nicht verschont. Auch sie wurden misshandelt oder gleich an den Füßen aufgehängt und dann geprügelt, während SS-Schläger klatschend und lachend danebenstanden. Nicht nur in Berlin, in ganz Deutschland begafften Schaulustige die lodernden Feuer. Millionen von Glasscherben lagen überall verteilt und bedeckten Straßen und Bürgersteige. 30 000 Juden wurden willkürlich zusammengetrieben, verhaftet, in Konzentrationslager gesperrt und vom Staat enteignet. Damit war für deutsche Juden eine fürchterliche Zeit angebrochen: Sie lebten fortan in ständiger Angst davor, welches Grauen der kommende Tag für sie bereithielt. „Wie kann etwas derart Barbarisches im 20. Jahrhundert geschehen?“, fragte sich nicht nur eine jüdische Frau,5 sondern auch Präsident Roosevelt in Washington, D.C.: „Ich konnte kaum glauben, dass solche Dinge im 20. Jahrhundert möglich sind.“6 Für die Nationalsozialisten war dies ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Völkermord. Drei Jahre später sollte Hans Frank als Generalgouverneur von Polen ihre Politik böse auf den Punkt bringen: „ Ich werde daher den Juden gegenüber grundsätzlich nur von der Erwartung ausgehen, daß sie verschwinden. Sie müssen weg.“7 Die Rassengesetze der Nationalsozialisten wurden nun weiter verschärft. Bereits 1934 war das Rassenpolitische Amt gegründet worden, das nun zur detaillierten Zählung der jüdischen Bevölkerung beitrug. Und die Erniedrigungen

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im Alltag waren endlos. Juden durften Parks nicht mehr betreten, worüber Schilder mit der Aufschrift „Hunde und Juden verboten“ aufklärten, durften sich nicht mehr auf Bänke setzen, nicht mehr in Restaurants essen oder öffentliche Toiletten benutzen. Jüdische Musiker durften ausschließlich Werke jüdischer Komponisten spielen, ja fortan war es Juden grundsätzlich verboten, frei kreativ und künstlerisch tätig zu sein. Ohne Vorwarnung und ohne Anspruch auf eine Pension wurden jüdische Staatsangestellte entlassen, und dasselbe galt für jüdische Lehrer oder Expedienten. Juden durften fortan keine Arier mehr heiraten, Geschlechtsverkehr mit Ariern haben oder auch nur mit ihnen zusammenarbeiten. Bösartige antisemitische Kinderbücher erschienen, darunter etwa Ernst Hiemers Der Giftpilz, das Juden als abscheuliche, widerliche Betrüger darstellte mit „hinterlistigen“ Augen, „verlausten Bärten“, „schmutzigen Ohren“ und Nasen, die aussähen „wie die Form 6“. Die Botschaft war eindeutig: Juden seien Gift für das deutsche Volk, die Ursache für alles Leid und Elend. Es dürfte nur wenig überraschen, dass sich in dieser Atmosphäre jeden Tag rund 20 Juden selbst das Leben nahmen. Vor der „Endlösung“ entsann Hitler eine wirtschaftliche Variante.8 Einen Tag nach der „Reichskristallnacht“ aß er mit Goebbels in einem beliebten Münchner Restaurant, der Osteria Bavaria, und entwarf ein Programm ökonomischer Zwangsmaßnahmen gegen Juden. Dass sie in den Tagen zuvor terrorisiert und etliche von ihnen getötet worden waren, genügte ihm noch nicht. Nun gab er, ohne eine Miene zu verziehen, bekannt, Juden müssten für die Schäden an ihren Häusern und Geschäften selbst aufkommen, ohne jegliche Hilfe deutscher Versicherungen. Zwar sollten Versicherungsunternehmen Gelder auszahlen, wofür Hitler sorgen wollte, doch diese würden an den deutschen Staat und nicht an die Juden gehen. Diese Entscheidung kam einer ungeheuren Belastung für die Juden gleich, denn die Schäden der „Reichskristallnacht“ wurden auf mehrere Hundert Millionen Reichsmark geschätzt. Darüber hinaus prangte schon bald darauf überall in großen Buchstaben der Hinweis: „Achtung – Kauft Nicht Bei Juden!“ Doch auch mit dem Ausschluss von Juden aus dem Wirtschaftsleben war das Ende noch nicht erreicht. Schon wenig später begannen die Nationalsozialisten darüber nachzudenken, Juden in Ghettos und zum Tragen spezieller Abzeichen zu zwingen. Die deutschen Juden waren nach der „Reichskristallnacht“ verzweifelt. So sehr sie ihr Heimatland auch geliebt hatten, so dringend wollten nun Zehntausende

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ins Ausland fliehen. Ihnen stellte sich allerdings die Frage, wohin sie sich wenden sollten. Schon während der angespannten Tage zwischen dem 6. und dem 14. Juli 1938 – der „Anschluss“ von Österreich war bereits erfolgt – hatte Präsident Roosevelt zur Konferenz von Évian eingeladen. 32 Staaten hatten Vertreter ins französische Évian-les-Bains am Genfersee entsandt. Die Delegationen residierten im Hotel Royal, einem luxuriösen französischen Ressort, und diskutierten die Frage, ob sie die Einwanderungsquoten für Juden erhöhen könnten. Doch trotz aller Berichte über die täglichen Ausschreitungen der Nationalsozialisten gegen Juden, trotz der brutalen Übergriffe von NS-Schlägern auf Unschuldige bewegten sich die teilnehmenden Nationen am Verhandlungstisch kaum. Nur selten verurteilten die Vertreter das deutsche Vorgehen oder stellten sich offen auf die Seite der Verfolgten. Da ganz Europa auf einen Krieg zu taumelte, taten die Delegierten wenig mehr als Mutmaßungen anzustellen. Sie trafen keinerlei weitreichende Entscheidungen, vielmehr wirkte es so, als würden sie ihre Zeit lieber mit dem Glücksspiel im Kasino, bei Massagen, Heilwasserbädern, mit Reiten und mit Golf verbringen. Ihre Gleichgültigkeit war frappierend. Glaubt man seinen Anhängern, so verfolgte Roosevelt durchaus die besten Absichten,9 auch wenn der führende US-Diplomat nicht selbst zugegen war, sondern seinen guten Freund und Vertrauten Myron C. Taylor geschickt hatte. Dennoch war das Ergebnis der Konferenz eine Katastrophe. Anstatt den Juden zu helfen, hatten sich die zivilisierten Nationen vielmehr erneut geweigert, sie mit offenen Armen zu empfangen, und sich stattdessen mit undurchsichtigen Verlautbarungen und vagen Versprechungen begnügt. Obwohl die Vereinigten Staaten durch die isolationistischen Tendenzen im Inland gehindert waren, wollten sie mehr tun. Zumindest schlug Roosevelt vor, dass die Konsulate den Bürokratieaufwand für all jene reduzieren sollten, die mit einem Visum aus Deutschland einreisen wollten. Und tatsächlich erreichte er durch solche Maßnahmen immerhin, dass die Flüchtlingsfrage international als humanitäre Angelegenheit angesehen wurde und dass die Newsweek formulierte, die Roosevelt-Regierung hätte angedeutet, „sich den internationalen Verbrechern aktiv zu widersetzen“. Doch damit endete die Hilfe auch schon. Die US-Quote für deutsche Immigranten blieb unverändert bei unter 25 000 pro Jahr. Trotz ihrer anderslautenden Versprechen erteilte die Roosevelt-Administration im Jahr 1938 sogar 10 000 Einwanderern weniger die Einreiseerlaubnis, als es der gesetzliche Rahmen erlaubt hätte. Für die Juden aber kam eine geschlossene Grenze in vielen Fällen einem Todesurteil gleich, und obwohl die USA eine Nation aus haupt-

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sächlich europäischen Einwanderern waren, schienen sie nur einen geringen Teil der immer verzweifelteren Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Roosevelt selbst antwortete auf die Frage, wohin seiner Meinung nach jüdische Flüchtlinge aus NS-Deutschland gehen sollten und ob er nicht über eine Erleichterung bei den Einreisebestimmungen nachdächte, einfach: „Das erwägen wir derzeit nicht; wir haben ein Quoten-System.“ Eine Teilnehmerin der Konferenz von Évian, die spätere israelische Premierministerin Golda Meir, schrieb, sie verspüre eine Mischung aus „Wut, Frustration und Entsetzen“. Chaim Weizmann seinerseits warnte den Briten Anthony Eden deutlich, „das Feuer der Synagogen [könne] sich von dort leicht auf Westminster Abbey und andere große englische Kathedralen ausbreiten“. Die Nationalsozialisten nicht zu verurteilen, so fuhr er fort, könne „der Anfang der Anarchie sein und die Zerstörung der zivilisatorischen Grundlagen bedeuten“. Damit hatte er natürlich recht. Solche Bitten stießen jedoch auf taube Ohren, worüber die Nationalsozialisten frohlockten. „Niemand möchte sie haben“, prahlte der Völkische Beobachter, und ein triumphaler Hitler freute sich hämisch: „Es ist ein beschämendes Schauspiel, heute zu sehen, wie die ganze Welt der Demokratie vor Mitleid trieft, dem armen gequälten jüdischen Volk gegenüber allein hartherzig verstockt bleibt angesichts der dann doch offenkundigen Pflicht, zu helfen.“10 Unter diesen furchtbaren Umständen gelang 80 000 deutschen Juden, denen die Regierung untersagte, Geld oder andere Besitztümer mitzunehmen, die Flucht. Sie entkamen den Klauen der Nationalsozialisten und bahnten sich ihren Weg zur Grenze. Verarmt und verängstigt kamen sie in England, den Vereinigten Staaten, Lateinamerika und, ungeachtet der zahllosen britischen Widerstände, auch in Palästina an. Einige gelangten gar bis nach Schanghai, das Japan besetzt hielt und wo sie ohne bürokratische Hindernisse aufgenommen wurden. Verglichen mit den Zehntausenden, die deutschlandweit in ausländische Konsulate drängten, um Visa für die Flucht zu beantragen, entkamen jedoch nur wenige in andere Länder und fanden dort Zuflucht. Hinter verschlossenen Türen bemühte sich Roosevelt bis zu einem gewissen Grad und im Rahmen seiner Möglichkeiten darum, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Zwischen 1933 und 1940 erreichten fast 105 000 Verfolgte des NS-Regimes die USA. Kein anderes Land nahm eine so große Anzahl auf, wobei auch das sehr viel kleinere Palästina 55 000 willkommen hieß. Nach den Ereignissen der „Reichskristallnacht“ erlaubte Roosevelt allen deutschen und österreichischen Staatsangehö-

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rigen, die sich in diesem Augenblick mit einem Besucher-Visum in den Vereinigten Staaten aufhielten, auch nach Ablauf dieses Visums im Land zu bleiben. Das war jedoch noch immer deutlich weniger Hilfe, als die USA zu leisten imstande gewesen wäre, zumal auch die niedrigen monatlichen Immigrationsquoten nicht angehoben wurden. Am 13. Mai 1939, sechs Monate nach der „Reichskristallnacht“, spitzte sich die Situation noch deutlich weiter zu. Um 8.13 Uhr legte der Luxusliner St. Louis in Deutschland ab, um unter NS-Flagge und mit einem Hitler-Porträt an prominenter Stelle im Aufenthaltsraum 937 hoffnungsvolle jüdische Flüchtlinge nach Kuba zu bringen – sie gehörten zu den Letzten, die trotz der immer strikteren deutschen Ausreisebestimmungen noch entkommen konnten. Als sie zwei Wochen später Havanna erreichten, wurde jedoch allen Passagieren bis auf 22 mitgeteilt, sie dürften nicht von Bord gehen. In der Zwischenzeit hatte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, von Berlin aus das perfide Gerücht in die Welt gesetzt, diese Juden seien Kriminelle und eine Bedrohung für Kuba, womit er einen Proteststurm gegen die Einwanderer entfachte. Dabei hatten die kubanischen Antisemiten gar kein Aufstacheln mehr nötig: Kurzerhand wurden die Einreise-Papiere der Juden für ungültig erklärt. Sieben Tage lang lag das Schiff unter glühender Sonne im Hafen von Havanna, während Abgesandte der Passagiere verhandelten. Freunde und Verwandte versammelten sich voller Sorge am Strand, nur um die Flüchtlinge dicht gedrängt an der Reling der St. Louis stehen zu sehen. Manche liehen sich Schlauch- oder Motorboote, um zum Schiff hinüberzufahren. Körbe voller Bananen, Bücher und anderer Waren wurden so an Bord geschafft. Aber es blieben vergebliche Gesten, zeigte sich die kubanische Regierung doch unbeeindruckt von den Verhandlungen. Nach einer Woche wurde das Schiff endgültig abgewiesen. Um dagegen zu protestieren schlitzte sich ein Überlebender des KZ Buchenwald die Pulsadern auf und stürzte sich ins Meer. Am 2. Juni steuerte die St. Louis gen Norden, auf die Küste Floridas zu. Zu diesem Zeitpunkt war Kapitän Gustav Schröder – ein nichtjüdischer Idealist – noch voller Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten die Passagiere aufnehmen würden, darunter 400 Frauen und Kinder sowie viele weitere, die unter die Quoten-Regelung für die Einreise in die USA fielen. Wochenlang kreuzte die St. Louis so nah vor der Küste, dass die Passagiere laut der New York Times die „schimmernden Türme“ von Miamis Skyline erkennen konnten, und die Welt sah unbeteiligt zu. Der Himmel war strahlend blau, das azurfarbene Wasser glitzerte, und doch waren dies Tage voller Verwirrung und Bangen. Im Be-

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wusstsein, dass die erzwungene Rückkehr nach Deutschland den sicheren Tod bedeutete, schickten die verängstigten Reisenden ein dringendes Telegramm an Präsident Roosevelt und baten ihn um Hilfe. Doch Roosevelt antwortete nicht, und auch das Weiße Haus kommentierte die Angelegenheit mit keiner Silbe. Die Juden schickten ein weiteres Telegramm an den Präsidenten, der ein paar Tage zuvor in Hyde Park gewesen war. Doch noch immer keine Antwort. Roosevelt verbrachte stattdessen eine Woche voller Besprechungen und anderer Termine. Auf dem Schiff bemühten sich die Passagiere, die Stimmung hoch zu halten, doch sie fühlten sich wie Schiffbrüchige, denen eine große Nation die Rettung verweigert. Je mehr Tage verstrichen, umso schlechter wurden die Nachrichten. Das Außenministerium meldete sich zuerst und stellte klar, man gedenke nicht, sich in kubanische Angelegenheiten einzumischen, und werde daher den Passagieren nicht erlauben, an Land zu gehen. Berichten zufolge soll die Küstenwache dieser Meldung noch mit einem Schuss vor den Bug der St. Louis Nachdruck verliehen haben. Elend und deprimiert blieb Kapitän Schröder nichts anderes übrig, als nach Deutschland zurückzukehren. Während sich das Schiff dem offenen Atlantik zuwandte, sahen Hunderte von völlig verzweifelten Flüchtlingen zu, wie Miami nach und nach in der Ferne verschwand. Berichten von Historikern zufolge soll ein Schiff der Küstenwache die St. Louis noch eine Weile begleitet haben, um zu verhindern, dass Passagiere von Boot springen und an Land schwimmen – oder auf diese Art und Weise Selbstmord begehen.11 Die Angst der flüchtenden Juden auf dem Schiff war mit Händen greifbar. Noch ein weiteres Mal baten sie die Präsidenten der Welt um Asyl. Schließlich waren es nicht die menschenfreundlichen USA, sondern die bedrohten Länder Belgien, Niederlande, Frankreich und England, die sich einverstanden erklärten, jeweils eine begrenzte Zahl an Passagieren aufzunehmen. Die ersten drei dieser Länder wurden jedoch schon in den nächsten zwölf Monaten von der Wehrmacht überrannt. Am Ende fanden mindestens 254, wenn nicht sogar die Mehrzahl der St. Louis-Passagiere, den Tod in Konzentrationslagern. Für die Nationalsozialisten, und natürlich auch für Hitler selbst, war die Irrfahrt der St.  Louis ein großer Propagandaerfolg, denn es zeigte sich wieder einmal, dass die Alliierten von den Juden ebenso wenig wissen wollten wie Deutschland. Für die Vereinigten Staaten und ihren Präsidenten Roosevelt war es hingegen eine beschämende Angelegenheit, zumal die Nationalsozialisten durchaus noch bereit waren, Juden ausreisen zu lassen, solange sich die USA oder andere Staaten zu ihrer Aufnahme bereit zeigten. Auch stand Roosevelt offenbar der Notlage der Juden nicht gleichgültig gegenüber. In seiner eigenen

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Regierung arbeitete eine ganze Reihe Juden in bedeutenden Positionen, was Antisemiten dazu brachte, Roosevelt selbst als Juden zu verhöhnen und statt von seinem „New Deal“ vom „Jew Deal“ zu sprechen. Der tat das scherzend ab: „In dunklen Vorzeiten mögen [meine Vorfahren] Juden oder Katholiken oder Protestanten gewesen sein“, witzelte Roosevelt einmal, „doch mich interessiert nur, ob sie gute Bürger waren und ob sie an Gott glaubten. Ich hoffe, beides.“12 Und dennoch weigerte sich Roosevelt, der xenophoben öffentlichen Meinung, dem latent antisemitischen Außenministerium und einer isolationistischen Grundstimmung im Land entgegenzutreten. Im Gegensatz dazu war die amerikanische Öffentlichkeit mit zunehmender Vorherrschaft Deutschlands in Europa darum besorgt, eine möglichst große Anzahl europäischer, vor allem englischer Kinder zu retten. Genau wie die jüdischen Flüchtlinge unterlagen auch diese Kinder strengen Einwanderungsvorschriften und -quoten, die der Kongress in den 1920er-Jahren erlassen hatte. Im Fall der britischen Kinder jedoch bewies die US-Regierung, angestachelt durch eine breite Öffentlichkeit, großen Einfallsreichtum. Man verfiel auf die Idee, sie nicht als Einwanderer in die Vereinigten Staaten zu holen, sondern ihnen befristete Besucher-Visa auszustellen, für die es keine zahlenmäßige Obergrenze gab. Über die Presse erklärte eine leidenschaftliche Eleanor Roosevelt: „Die Kinder sind keine Einwanderer. Die Eltern dieser Kinder werden sie zurückholen, sobald der Krieg vorüber ist. […] Übertriebene Bürokratie darf nicht dazu führen, dass wir diesen kleinen Kindern den Weg in die Sicherheit verbauen.“13 Allerdings sperrte sich das Außenministerium auch gegen diesen Vorschlag. Noch im Sommer 1940 übten die Anwälte der Flüchtlinge wochenlang Druck aus – ohne nennenswerten Erfolg. Schließlich intervenierte Eleanor direkt beim Präsidenten, der darauf die Angelegenheit persönlich mit Außenminister Cordell Hull besprach. Schon am nächsten Tag wurde mit einem Federstrich ein neuer Beschluss gefasst. Die britischen Flüchtlingskinder würden als Besucher zugelassen, unter der weitgehend rhetorischen Voraussetzung, dass „sie nach Beendigung der Feindseligkeiten nach Hause zurückkehr[t]en“.14 Dabei war noch nicht einmal die Frage geklärt, wie diese britischen Kinder überhaupt in die USA gelangen sollten. Noch befanden sie sich in England, und die britische Regierung sah sich nicht in der Lage, Kriegsschiffe für das sichere Geleit eines unbewaffneten Schiffs voller Kinder zu entbehren. Und die Vereinigten Staaten selbst zögerten, US-Schiffe über den Atlantik zu schicken,

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der von deutschen U-Booten beherrscht wurde. Schließlich brach der Kongress die Pattsituation und die Neutralitätsgesetze, um es US-Schiffen zu erlauben, die britischen Kinder zu evakuieren. Warum britische und keine deutschen jüdischen Kinder? Genau diese Frage stellte der empörte Kongressabgeordnete William Schulte aus Indiana. Von seinem Gewissen getrieben und mit evangelikaler Inbrunst vorgetragen, schlug er ein Gesetz vor, das jedem europäischen Kind unter 16 das Recht auf ein Besucher-Visum zugestanden hätte. Doch die Gegner der Immigration versteiften sich weiter auf ihre Argumente, und Schulte sah sich einer unnachgiebigen Opposition gegenüber, die sein Gesetz in einem Ausschuss blockierte. Es gab verschiedene Gründe für diesen Widerstand. Vor allem unterschied jedoch die öffentliche Meinung stark zwischen den britischen, zumeist christlich getauften Kindern und den überwiegend jüdischen Kindern aus Deutschland. Eine solche Situation bot der Politik natürlich hervorragende Ausflüchte, um untätig zu bleiben. Die traurige Tatsache jedoch ist, dass auch über die Vereinigten Staaten eine antisemitische Brise wehte, und zu diesem Zeitpunkt hätte dies nur eine mutige politische Führung ignorieren können. Eine von der Firma Roper durchgeführte Umfrage brachte zutage, dass das amerikanische Volk zwar misstrauisch auf die Behandlung der deutschen Juden durch das Hitler-Regime schaute, dass aber die Mehrheit der US-Amerikaner einer Unterstützung der Juden oder der Erhöhung ihrer Einwanderungsquoten ebenso skeptisch gegenüberstand.15 Wie die Dinge damals lagen, zeigten auch die nicht seltenen Fälle von Vandalismus an Synagogen in New York City. Sogar nachdem die Wehrmacht im September 1939 die polnischen Grenzen überrannt hatte, hielten die Gegner der Immigration an ihren Grundsätzen fest, weder die Einwanderungsquoten zu erhöhen noch die Einreisebestimmungen zu lockern. Und als die Deutschen im Frühjahr 1940 die Benelux-Staaten einnahmen, beharrten sie auf der weit verbreiteten Ansicht, die Nationalsozialisten hätten den Angriff auf diese Staaten zuvor durch gezielt platzierte Spione vorbereitet. Derartige Gerüchte waren besorgniserregend, und Präsident Roosevelt schenkte ihnen jetzt, da die europäischen Hauptstädte scheinbar von einem Tag auf den anderen erobert und von Stacheldraht umgeben waren und zwei Millionen deutsche Soldaten diese Länder besetzt hielten, durchaus Glauben. Am 16. Mai, einen Tag nach der zuvor undenkbaren Kapitulation der Niederlande, trat Roosevelt vor eine gemeinsame Sitzung des Senats und des Repräsentantenhauses. „Dies sind unheilvolle Tage“, formulierte er. „Wir haben den verräterischen Einsatz der Fünften Kolonne erlebt.“16 Auch er sprach also von scheinbar friedlichen Besuchern, die sich als feindliche Kräfte entpuppt

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hätten. Telegramm nach Telegramm und Geheimdienstbericht nach Geheimdienstbericht schürte zudem seine Sorge über eine Verschwörung. Man berichtete ihm, dass in Norwegen Tausende von NS-Agenten als diplomatische Attachés, Journalisten, Universitätsprofessoren und sogar als Flüchtlinge getarnt worden wären. Man berichtete ihm, dass dort angebliche deutsche Touristen die vorrückenden deutschen Truppen unterstützt hätten. Und von den Niederlanden berichtete man ihm, dass eine unbekannte Anzahl von Agenten das Land infiltriert und damit entscheidend zur erfolgreichen Landung deutscher Fallschirmspringer beigetragen hätte. Dies hatte tiefgreifenden Einfluss auf Roosevelts Einstellung Flüchtlingen gegenüber. In einem Kamingespräch, zehn Tage nach seinem Auftritt vor dem Kongress, hielt Roosevelt eine seiner kraftvollsten Reden, in der er nachdrücklich betonte, die nationale Sicherheit sei nicht nur eine Frage der militärischen Bewaffnung. „Wir haben neue Wege des Angriffs erlebt“, hob er an und hielt dann kurz inne, um dem Folgenden Nachdruck zu verleihen. „– Das Trojanische Pferd, die Fünfte Kolonne, die eine Nation überrascht, die auf diesen Verrat nicht vorbereitet ist.“ Wieder machte er eine Pause. „– Agenten, Saboteure und Verräter sind gemäß dieser neuen Strategie allesamt Schauspieler.“ Noch einmal ein Innehalten, dann fuhr er mit dröhnender Stimme fort: „All dem müssen und werden wir energisch entgegentreten.“ Und so kam es auch. Roosevelt erlaubte den bislang illegalen Einsatz von Abhörmaßnahmen zur Überwachung subversiver Aktivitäten und ermunterte das Außenministerium, Flüchtlinge weiter zu beschränken. Theoretisch sind diese Maßnahmen nachvollziehbar. Kein Präsident kann die Gefahr von feindlichen Agenten inmitten des Staates einfach ignorieren. In der Praxis jedoch sorgte diese Politik eher für Verwirrung. Jede Generation hegt Vorstellungen, die für ihre Nachfahren verblüffend sind. So auch in diesem Fall: Hätten sie die britischen Kinder für Spione gehalten, erschiene das auch nicht absurder als im Falle der größten Opfergruppe der Nationalsozialisten, der eingekesselten Juden, die sich an ihr Leben klammerten. Und tragischerweise wirkte sich die offizielle Anti-Immigrations-Politik der USA immer schärfer und häufiger aus, je mehr sich der Griff der Deutschen in den besetzten Gebieten verstärkte. Dafür war vor allem ein Mann verantwortlich: Samuel Miller Breckinridge Long, Leiter der Visa-Abteilung in Präsident Roosevelts Außenministerium.17

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In einem Regierungsapparat voller großzügiger Persönlichkeiten und Begabungen stellte Breckinridge Long eine Ausnahme dar, trotz seines herrschaftlichen Auftretens. Er fasste sich meist kurz, seine Mundwinkel zeigten stets nach unten, was ihm eine finstere Miene verlieh, und er war argwöhnisch und misstrauisch gegen jeden. Sein Körper war groß und kräftig, seine schmalen Augen blickten unter auffällig weißen Haaren hervor, und sein Ton war beißend. Seine Ahnentafel schien makellos. Ähnlich wie der Präsident, der seine Wurzeln stolz bis auf Teddy Roosevelt und nach Hyde Park zurückführte, umfasste der Stammbaum des selbst aus dem Mittleren Westen stammenden Long zwei alte und renommierte Familien: die Longs aus North Carolina und die Breckinridges aus Kentucky. Zu seinen Verwandten gehörte der bekannte John C. Breckinridge, der zunächst US-Senator, dann der jüngste Vize-Präsident der Vereinigten Staaten und schließlich Kriegsminister der Konföderierten war. Long selbst erblickte 1881 in Saint Louis als Sohn von Margaret Miller Breckinridge und William Strudwick Long das Licht der Welt. Der junge Breckinridge besuchte die besten Schulen, studierte Jura an der Washington University und schloss in Princeton ab. Schon bald danach eröffnete er eine Anwaltskanzlei in Saint Louis, deren gutgehende, internationale Tätigkeiten ihn zu einem recht wohlhabenden Mann machten. Er heiratete in eine gute Familie ein und bekam eine Tochter, frönte den Vorlieben eines Gentleman vom Lande wie der Fuchsjagd und dem Segeln und züchtete nebenbei Pferde. Auch als Sammler machte er sich einen Namen, gehörten ihm doch englische Antiquitäten, Gemälde und Modelle, etwa von kleinen Schiffen. Trat er offiziell auf, achtete er peinlich genau auf seine Aussprache. Da er jedes Wort klar und deutlich prononcierte, spürten Kollegen wie Rivalen auf Anhieb seine Autorität. Als leidenschaftlicher Anhänger der Demokraten engagierte er sich früh in der Politik, unterstützte 1916 Woodrow Wilson und setzte sich eifrig für den Völkerbund ein. Schon zu dieser Zeit klomm er auf der politischen Karriereleiter empor. Im Alter von 36 Jahren wurde er von Wilson belohnt, der ihn 1917 zum Third Assistent Secretary of State im Außenministerium für das Referat Asien machte. Dort freundete er sich mit einem weiteren Politaufsteiger an, dem ­frechen, charismatischen Staatssekretär im Marineministerium Franklin D. Roosevelt, der jedoch wenig später nach New York zurückkehrte, um als Gouverneur zu kandidieren. In den 1920er-Jahren verließ der mürrische, aber ehrgeizige Long das Außenministerium, um sich in Missouri als Senator aufstellen zu lassen. Long kassierte in der Wahl, die zu einem überwältigenden Triumph für die Republikaner werden sollte, eine herbe Niederlage. Unerschrocken bewarb er sich zwei Jahre später erneut, nur um ein weiteres Mal zu verlieren.

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In der Rückschau sieht es so aus, als sei der Politiker Long innerlich nahezu immer angespannt gewesen. Im Umgang mit Menschen konnte er warm und herzlich sein, ja sogar charmant. Freunde nannte ihn gutmütig „Breck“. Wenn es jedoch um Berufliches ging, war er nicht nur unbestechlich, begabt und streng, sondern kompromisslos – eine für jeden Politiker fatale Schwäche. In den folgenden elf Jahren arbeitete er als Anwalt. Doch wie die Katze das Mausen nicht lässt, konnte auch Long nicht widerstehen. 1932 nahm er seine politische Karriere wieder auf, setzte sich mit ganzer Kraft für Roosevelt ein und spendete großzügig für dessen Präsidentschafts-Wahlkampf, was ihm den Titel des Botschafters in Italien einbrachte, eine traumhafte Stelle. Geschickt knüpfte er weiterhin Freundschaften mit den richtigen Leuten und bewies, wie gut er durch die stürmischen 1930er-Jahre zu navigieren verstand. Longs Amtszeit, hier und auch später, war jedoch deutlich von einer Kontroverse geprägt. Als Benito Mussolini 1935 in Äthiopien einmarschierte, empfahl der vom Duce faszinierte Long nachdrücklich, auf Sanktionen wie die Einstellung von Öllieferungen nach Italien zu verzichten. Kritiker bezeichneten ihn hinter vorgehaltener Hand als hemmungslosen Mussolini-Anhänger. Auch wenn diese Vorwürfe übertrieben gewesen sein dürften, so blieb doch etwas von ihnen hängen. Drei Jahre später trat Long von seiner Stelle als Botschafter zurück, blieb aber der Roosevelt-Regierung verbunden. 1938 nahm Long als Vertreter an einer Mission des Außenministeriums nach Brasilien, Argentinien und Uruguay teil. Von nun an nahm sein Aufstieg einen kometenhaften Verlauf. Schon ein Jahr später berief man ihn erneut ins Außenministerium, wo er zu einem der einflussreichsten Ressortleiter wurde und unter anderem für die Organisation der Einwanderung und der entscheidenden Visa-Abteilung verantwortlich war. Unter Longs Einfluss spiegelten weite Bereiche des Außenministerium bald schon nicht nur dessen Stärken, sondern auch dessen Schwächen wider. Long war der festen Ansicht, alle Flüchtlinge seien potentielle Spione und stellten daher eine Bedrohung für die Sicherheit der USA dar. Er zeigte sich überzeugt, die Deutschen hätten eifrig Agenten unter die potentiellen Migranten gemischt, und was dies anging, teilte Roosevelt Longs Befürchtungen. Longs Tagebucheinträge zeichnen jedoch ein anderes, verräterisches Bild, in dem er nicht nur als ein typischer Vertreter des damaligen politischen Establishments, sondern vielmehr als ein glühender Nachfahre der nativistischen Know-Nothing-Party erscheint, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine dezidiert ausländerfeindliche Politik in den USA vertreten hatte. In unzähligen verunglimpfenden Einträgen lässt Long zudem seine Missachtung für jeden erkennen, der seine Überzeugungen nicht teilte oder nicht seiner sozialen

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Schicht entstammte. Er hielt nichts von Liberalen, verabscheute Katholiken, New Yorker und Osteuropäer; vor allem aber verachtete er Juden. Sich seiner Hysterie in Bezug auf die Einwanderung entgegenzustellen, konnte teuer zu stehen kommen, und er interpretierte sogar den Wunsch, britische Flüchtlingskinder in die USA einreisen zu lassen, als eine „riesige Massenpsychose“ des amerikanischen Volkes. Dabei war es in erster Linie Long, der bei all seinen fanatischen und nativistischen Einstellungen beinahe als paranoid gelten konnte, sah er sich doch selbst als Ziel von Angriffen durch „extreme Radikale“, „professionelle jüdische Agitatoren“ und „Flüchtlingsenthusiasten“. Wobei Letzteres durchaus stimmen mochte. Obwohl viele seiner Untergebenen der Not der europäischen Flüchtlinge ebenso gleichgültig gegenüberstanden, glaubte er doch, seine Kollegen planten eine Kampagne gegen ihn. Tief in seinem Innersten war Long unverbesserlich dickköpfig. Dieser Fehler, und es war ein Fehler, ließ ihn, wenn er sich erst einmal von einer Haltung überzeugt und sich auf sie festgelegt hatte, jedes Gegenargument als einen Angriff auf seine Integrität erleben. Noch als sich die Flüchtlingspolitik – und vor allem die Frage, ob Juden immigrieren dürften oder nicht – in Regierungskreisen zu einem kostspieligen Zermürbungskrieg ausgewachsen hatte, zeigte Long sich als bürokratischer Haudegen. So machte er im Sommer 1940 Lockerungen der Einwanderungsbestimmungen wieder rückgängig, die Roosevelt zwei Jahre zuvor, während der schlimmsten Monate der Wirtschaftskrise, durchgesetzt hatte. Und dieser Umschwung war erst der Anfang. Überzeugt davon, Deutschland würde die USA mit Gestapo-Agenten überfluten, schob er der Migration gleich zwei Riegel vor: Die Visa-Kontrollen wurden verschärft und zugleich wurde nur noch die Hälfte der Immigranten zugelassen. „Ich glaube, dass niemand, egal woher er kommt, das Recht hat, in die Vereinigten Staaten einzuwandern“, machte er unmissverständlich deutlich. Im darauffolgenden Jahr wurde die Anzahl der möglichen Immigranten noch weiter gesenkt, auf nunmehr ein Viertel der ursprünglichen Quote. Einfallsreich und hartnäckig wie Long war, entsann sein Ministerium darüber hinaus unverfroren die recht heimtückische „Verwandten-Regel“, die alle antragstellenden Flüchtlinge mit Verwandten in den USA einer noch strengeren Überprüfung durch einen „Interministeriellen Ausschuss“ unterwarf, der nichts anderes war als das Außenministerium selbst. Angeblich dazu eingerichtet, um Entscheidungen zu beschleunigen, arbeitete dieser Ausschuss in völliger Geheimhaltung daran, diese auszubremsen. In den meisten Fällen wurden keine Visa ausgestellt, wobei das Ministerium jedoch nur ganz selten einen Antrag endgültig ablehnte, was lautstarke Protes-

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te hätte hervorrufen können. Stattdessen baute man lieber eine Reihe von Hindernissen auf, die sich von Washington aus über Lissabon bis nach Schanghai erstreckten und nur dazu da waren, die Ausdauer der Flüchtenden aufzubrauchen. In einer empörten US-Publikation war zu lesen: „Aufgrund der Trägheit des Ministeriums und seiner Quertreiberei konnte nur eine Handvoll [Flüchtlinge] gerettet werden. Es häufen sich Berichte über Verzögerungen, irreführende Berichte, Versprechungen, weitere Verzögerungen, Weigerungen der Botschaftsmitarbeiter, sich an vermutlich aus Washington stammende Anweisungen zu halten – all dies ist der bittere Alltag für jene Menschen, die sich bemühen, politische Emigranten zu retten.“ Schon bald wurde aus dem Flüchtlingsstrom ein Rinnsal – und dies zu einem Zeitpunkt, da Juden zunächst zu Hunderten, später zu Tausenden, dann zu Hunderttausenden und schließlich zu Millionen ermordet wurden. Antragsteller aus Deutschland, der Sowjetunion und den italienischen ­Gebieten – also jene, die am dringendsten eine sichere Zufluchtsstätte brauchten – waren mit unglaublich komplexen Voraussetzungen für ein Visum konfrontiert. Die meisten bekamen daher auch nie eines, ganz gleich wie bedürftig oder verzweifelt sie waren. Im Laufe der Zeit wurde Longs Vorgehensweise immer unnachgiebiger – und zudem unaufrichtiger, da er vor dem Repräsentantenhaus behauptete: „Die historische Stellung der Vereinigten Staaten als Zufluchtsort für Unterdrückte hat sich nicht geändert. Das Außenministerium hält die Tür weiter offen.“ Kurz darauf, im Juni 1940, brachte er mit einem geheimen interministeriellen Memorandum,18 dessen erste Adressaten James Dunn und Adolf Berle Jr. waren, seine Strategie auf den Punkt: „Wir können“, ließ Long darin unverfroren wissen, „die Anzahl der in die Vereinigten Staaten einreisenden Immigranten für eine gewisse Zeit verringern und ihr Eintreffen vollständig zum Erliegen bringen. Wir erreichen dies einfach dadurch, dass wir unsere Botschaftsmitarbeiter anweisen, jedes nur denkbare Hindernis zu errichten, noch weitere Nachweise zu verlangen und auf unterschiedliche bürokratische Mittel zurückzugreifen, wodurch das Ausstellen der Visa immer und immer und immer wieder verzögert wird.“ Die Fluchtwilligen verzweifelten, und das aus gutem Grund. Nur zehn Prozent der Quote für Immigranten aus Deutschland und Italien wurde zugelassen, dagegen etwa 200 000 Menschen die Einwanderung verwehrt, weshalb Kritiker argumentierten, Long unterstütze indirekt die Nationalsozialisten. Doch diese Anschuldigungen tat Long mit einem Schulterzucken ab und fuhr mit seiner Arbeit fort. Inwieweit durfte Long für seine Politik in der Regierung auf Unterstützung zählen? Überempfindlich, humorlos und engstirnig wie er war, war ihm

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seine Beliebtheit immer gleichgültig gewesen. Und wie so häufig brachte ihm seine Schärfe sowohl Bewunderer wie auch Gegner ein. So beschrieb ein Mitarbeiter des Finanzministeriums, Randolph Paul, Long und seine Kollegen später als amerikanische „Untergrundbewegung […], die Juden töten ließ“, und Josiah DuBois Jr. schnaubte schon bei der Erwähnung von Longs Namen vor Wut und nannte ihn offen einen Antisemiten. Das Advisory Committee on Political Refugees, der Beraterausschuss des Präsidenten zu politischen Flüchtlingen, zeigte sich derart „aufgebracht“ über Long, dass der Ausschussvorsitzende, James G.  McDonald, darauf drängte, mit Roosevelt persönlich über seine Sorgen zu sprechen. Auch Eleanor Roosevelt wandte sich mit einem Memorandum an den Präsidenten: „Ich muss an diese armen Menschen denken, die jederzeit sterben können und nur darum bitten, mit einem Transit-Visum hierher kommen zu dürfen. Ich hoffe, du kannst dies schnell klären.“ Ein erschütterter Roosevelt sandte daraufhin eine Nachricht an seinen Staatssekretär im Außenministerium, Sumner Welles: „Bitte informieren Sie mich über diesen Vorgang“, forderte er. „Hier scheint es ein Durcheinander zu geben.“19 Ein Durcheinander lag nicht vor, doch das war ohnehin unbedeutend. Denn selbst wenn es wirkte, als ergriffe das Außenministerium eine Welle der Empörung über Longs Verhalten, konnte sich dieser des wichtigsten aller Unterstützer sicher sein: Roosevelts selbst. Um die Kritiker zu besänftigen und Welles’ Empfehlung nachzukommen, traf sich der Präsident am 3. Oktober 1940 zur Mittagszeit mit Long.20 Für Roosevelts Verhältnisse führten sie ein langes Gespräch von immerhin einer halben Stunde. Der sonst nicht sonderlich geduldige Long fürchtete um das Wenige, was er hatte. Zwar zeigte er keine Reue, doch er war klug genug, scheinheilig vorzugeben, keineswegs unempfindlich für die Schreie der europäischen Opfer zu sein. Dabei verschob er vorsichtig den Schwerpunkt der Diskussion und überzeugte den Präsidenten, zahllose Flüchtlinge seien in Wirklichkeit ruchlose deutsche Agenten, die versuchten, die Küsten der Vereinigten Staaten zu überschwemmen. Zudem zeichnete er ein wirklichkeitsfernes Bild von der verständnisvollen, ja sogar umsichtigen Arbeitsweise des Außenministeriums, das effizient daran arbeite, die wirklich Bedürftigen zu retten, während es die Gefährlichen aussondere. So fantasielos Long auch sein mochte, seine Begabung zur Manipulation des politischen Prozesses kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Am Ende seiner Darlegung war er sich der uneingeschränkten Unterstützung des Präsidenten sicher. Womöglich glaubte Roosevelt zu diesem Zeitpunkt noch, die Flüchtlingsfrage sei unter Kontrolle. Doch das war sie genauso wenig, wie Hitler es war. Nachdem nun

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seine Ängste entsprechend geschürt waren, wollte der Präsident nur noch jede Gefährdung der Kriegsvorbereitungen verhindern. An diesem Tag notierte Long stolz in seinem Tagebuch, Roosevelt unterstütze rückhaltlos jene Politik, die zugunsten der Vereinigten Staaten jedem Hadern über Einzelfälle eine Ende mache. Eine Woche später traf sich Roosevelt schließlich mit James G.  McDonald, dem Vorsitzenden des Beraterausschusses zu politischen Flüchtlingen.21 Ebenso wenig wie Long war auch McDonald kein Leichtgewicht. Als Mann hehrer Prinzipien war er in den 1930er-Jahren als Hoher Kommissar für Flüchtlinge des Völkerbunds tätig gewesen. Für doppelzüngige Bürokraten und zeitschindende Staatsoberhäupter brachte er kein Verständnis auf, weshalb er den Völkerbund schon 1935 verlassen hatte, als sich die Organisation widerwillig zeigte, den Juden im „Dritten Reich“ zu helfen. Ähnlich ungeduldig war er auch mit Long, der in seinen Augen ein Antisemit war. Roosevelt hingegen bewunderte er und sah in ihm einen unermüdlichen Anwalt der Flüchtenden. Roosevelt machte sich keine Illusionen darüber, was McDonald sich von einem Treffen versprach. Er wusste, dass sich der Flüchtlings-Ausschuss, auch wenn er keine politische Schlagkraft gegenüber der Regierung besaß, gewissenhaft durch Listen gefährdeter Flüchtlinge gearbeitet hatte und eidesstattliche Erklärungen sowie Referenzschreiben bedrohter Antifaschisten untersucht hatte. Auch hatte der Ausschuss mit der Bitte um weiteres Bemühen ausgewählte Namen an das Außenministerium weitergegeben. Bei diesem Treffen jedoch erreichte McDonald nichts. Vergeblich hatte er auf die ungeteilte Aufmerksamkeit des Präsidenten gehofft, der sich auf die Rolle eines freundlichen Plauderers zurückzog. Er kam bei seinen Geschichten, die nichts mit dem zu tun hatten, was er und McDonald eigentlich besprechen wollten, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Da er selbst kaum zu Wort kam, gab McDonald schließlich das gute Benehmen auf und begann, Long ganz offen zu kritisieren, woraufhin ihn der Präsident kühl anfuhr: Er solle, so Roosevelt zornig, ihm bloß nicht „mit dem rührseligen Zeug“ kommen.22 Wenn man Roosevelt als vorsichtigen Menschenfreund bezeichnen möchte, dann war Long ein vollendeter Realist, kaltherzig dort, wo Roosevelt mitfühlend war, abgebrüht, wo Roosevelt sich temperamentvoll zeigte. Und doch war ihre Beziehung in jeder Hinsicht ebenso folgenschwer wie die zwischen Dwight D. Eisenhower und George Marshall, jene zwischen Sumner Welles und Cordell Hull oder die zwischen Harry Hopkins und Roosevelt. Ermuntert durch

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die Unterstützung des Präsidenten, ging Long guten Mutes in die Auseinandersetzung mit James McDonald, stritt er sich mit Henry Morgenthau, dem Finanzminister, und rang mit Joseph Buttinger, dem Anwalt der Flüchtlinge. Auch schreckte er vor verbalen Gefechten mit Eleanor Roosevelt nicht zurück. Der Streit mit ihr begann an einem warmen Augusttag des Jahres 1940, als ein kleines portugiesisches Linienschiff, die SS Quanza, in den New Yorker Hafen einfuhr.23 Sie hatte 317 Passagiere an Bord, ihre übliche Route nach Südafrika längst aufgegeben und stattdessen 83 Flüchtlinge aus dem besetzten Frankreich evakuiert. Das Drama der St. Louis schien sich in einem etwas kleineren Maßstab zu wiederholen – eine neue Chance für die USA, Leben zu retten. Ganz unterschiedliche Passagiere waren an Bord, darunter schwarze Seeleute, US-amerikanische Krankenwagenfahrer, Mitglieder der berühmten Rothschild-Familie, der Herausgeber der Paris Soir, ein japanischer Journalist, eine 17-jährige tschechische Eiskunstläuferin, ein Pariser Opern-Star, ein französisches FilmIdol und eben Flüchtlinge. Wie vorherzusehen, durfte jeder Reisende mit einem US-amerikanischen Visum das Schiff verlassen. Und die Flüchtlinge? Verängstigt und in einer Gruppe zusammengedrängt, flehten sie darum, einreisen zu dürfen, erhielten von den Behörden aber nur die knappe Antwort: „unmöglich“. Was hätten sie gebraucht? Alle erforderlichen Unterlagen, was angesichts des vom Außenministerium errichteten bürokratischen Labyrinths fast unmöglich war. Da ihm nichts anderes übrig blieb, entschloss sich der Kapitän der Quanza, nach Mexiko zu fahren, anstatt nach Europa zurückzukehren. Denn dieser Kontinent war, in den Worten eines Flüchtlings, „ein einziges deutsches Konzentrationslager“. Doch als das Schiff Veracruz erreicht hatte, waren die mexikanischen Behörden genau wie ihre US-amerikanischen Kollegen nicht bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Inzwischen waren die Passagiere „völlig verzweifelt“. Der Kapitän der Quanza fuhr klugerweise zurück in die USA und legte in Norfolk, Virginia an – vorgeblich, um Kohlen für die Rückreise zu laden. Dies verschaffte den Flüchtlingshilfsorganisationen kostbare Zeit, die nun direkt bei Eleanor Roose­velt vorsprachen. Diese konfrontierte den Präsidenten und forderte ihn auf, etwas zu unternehmen. Aber was genau? Roosevelt schickte schon kurz darauf einen Vermittler, Patrick Malin, der als Vertreter von Roosevelts Advisory Committee on Political Refugees die Situation beurteilen sollte. Er sammelte die Dokumente aller Menschen an Bord ein und bestätigte schlussendlich, dass jeder ohne Papiere ein politischer Flüchtling sei und das Recht habe, in die USA

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einzureisen. Die Passagiere jubilierten. „Mrs. Roosevelt hat mein Leben gerettet“, verkündete ein Flüchtling, und andere nickten zustimmend.24 Dies war einer der seltenen politischen Siege über Breckinridge Long, doch nur ein vorübergehender. „Dies war ein Verstoß gegen das Gesetz“, hielt er in seinem Tagebuch fest. „Ich hätte keine Einwilligung gegeben. […] Ich bin nicht dafür verantwortlich.“ Nach diesem Vorfall verstärkte Long seine Bemühungen noch einmal, stellte eine Hürde nach der anderen auf, um Flüchtlingen ein Visum zu verwehren. Es war, wie Joseph Buttinger es Eleanor Roosevelt gegenüber formulierte, eine „grauenhafte Situation“. Eleanor war ganz seiner Meinung und forderte den Präsidenten in einem neuen Schreiben auf einzugreifen. „FDR“, schrieb sie, „kannst du nicht etwas tun?“ Dieses Mal ignorierte Roosevelt sie, doch als sich die Berichte über Longs Quertreiberei auf Roosevelts Schreibtisch stapelten, als die Schlangen von verzweifelten Juden vor den Botschaften in Westeuropa immer länger wurden und sich die Nachrichten von der nationalsozialistischen Unterdrückung häuften, redete Eleanor nicht länger um den heißen Brei und warf dem Präsidenten vor: „Franklin, du weißt, er ist ein Faschist!“ Die Antwort des Präsidenten fiel denkbar knapp aus: „Ich habe es dir schon erklärt, Eleanor“, unterbrach er sie, „du darfst so etwas nicht sagen.“ „Aber es stimmt doch!“, feuerte sie zurück. Wie ernst war ihr die Angelegenheit? Eleanor erzählte ihrem Sohn später, nichts habe sie in ihrem Leben „so tief bedauert“ wie ihre Unfähigkeit, mehr Flüchtlinge ins Land geholt zu haben.25 Überall im US-Außenministerium waren Mitarbeiter auf entscheidenden Posten entweder uninteressiert, uninformiert oder unbeteiligt. Daher wirkte sich Longs Einstellung auch in Bereichen jenseits der Visa-Politik aus und prägte letztendlich insgesamt die Reaktion der Regierung auf die aus Europa fliehenden Juden. Solange Long mitzureden hatte, solange würden die Vereinigten Staaten ein ängstlicher Zuschauer der Flüchtlingskrise bleiben. Den internationalen Forderungen an Roosevelt, etwas zu unternehmen, den Juden zu helfen und den Einwanderungsprozess zu vereinfachen, standen die innenpolitischen gegenüber: Der Regierungsapparat drängte ihn, die nationale Sicherheit an erste Stelle zu setzen und humanitäre Maßnahmen nachrangig zu behandeln. Verblüffte Beobachter fragten sich, warum Roosevelts Gewissen, sein ureigenes Wesen ihn nicht dazu bewogen, endlich einzugreifen.26 Warum

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zeigte er nicht wenigstens Wut? Wo blieb die Eloquenz eines Churchill, der beispielsweise über die „Schurkerei der nationalsozialistischen Gräueltaten“ schimpfte? Nach außen hin bewahrten die Vertreter der Flüchtlinge Haltung, doch hinter verschlossenen Türen zeigte sich, wie entmutigt sie waren. Und es gab nur wenige, die dieser Politik in aller Öffentlichkeit deutlich widersprachen. In einem Leitartikel von The Nation war zu lesen: „Bei diesem Bericht muss es jedem Menschen, der über ganz gewöhnliche menschliche Instinkte verfügt, übel werden.“ Dann hieß es weiter: „Es ist, als würden wir ausgiebig die Lebensläufe von Schiffbrüchigen studieren, während diese sich an einem Stück Treibholz festklammern, nur um dann abschließend zu beurteilen, dass es der Mehrheit von ihnen, ganz gleich wie rechtschaffen sie auch sein mögen, besser erlaubt werde, zu ertrinken.“27 Doch solche Einwürfe blieben selten. Angesichts all dessen verwundert es nicht, dass es laut einer Umfrage 78 Prozent der Befragten noch im Januar 1943 für eine „schlechte Idee“ hielten, nach dem Krieg noch mehr Immigranten ins Land zu lassen; oder dass 15 Prozent der Befragten im August 1940 in den Juden eine „Bedrohung für die USA“ sahen. Die immer verzweifelteren Juden, die zwischen den Lügen der Nationalsozialisten und der Apathie der US-Regierung zerbrachen, mussten auf anderem Wege Rettung suchen.28 Zur Verzweiflung der Flüchtlinge kam bis Ende 1940 noch eine weitere Notlage hinzu. In England, der einzigen Großmacht, die sich derzeit mit Hitler im Krieg befand, gingen die Munitions- und Materialvorräte zur Neige. Da er keine andere Wahl hatte, bat Churchill Washington um rasche Unterstützung. Doch Roosevelt neigte, wie schon im Fall der Flüchtlinge, eher zur Vorsicht. Im Mai 1940, als Hitlers Truppen durch Westeuropa marschierten, lehnte der US-Präsident daher Churchills dringende Bitte um Zerstörer ab, obwohl die Vereinigten Staaten damit England den größten Dienst erwiesen hätten. Wenn er auch zu diesem Schritt nicht bereit gewesen war, so sorgte Roosevelt aber gegen den Willen seiner eigenen Militärführung dafür, dass die USA England immerhin mit Flugzeugen unterstützten; dazu kamen 22 000 30-Milimeter-Maschinenkanonen; 25  000 Schnellfeuergewehre; 900 75-MilimeterHaubitzen; 58 000 Flugabwehrgeschütze; 500 000 Enfield-Gewehre, die noch aus dem Ersten Weltkrieg übrig waren, sowie 130 Millionen Schuss Munition. Doch zu mehr war Roosevelt zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, sodass, als die Soldaten und Flugzeuge der Wehrmacht Frankreich unterwarfen, die Zweifel

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an seiner Person immer lauter wurden. Warum, so wollten die Interventionisten wissen und stellten damit Roosevelts Antwort auf die Bedrohung durch die Nationalsozialisten zur Disposition, stand dieser eloquente und liberale Feind des Totalitarismus passiv daneben und griff nicht ein? Nicht während des furchtbaren Münchner Abkommens und nun auch nicht während des qualvollen Untergangs Frankreichs? Warum sah der Groton-Absolvent und Sohn Harvards, der doch unablässig für die Verarmten in seinem Land kämpfte, nun ungerührt dem Elend von Hitlers Opfern zu, die sich vor den US-Botschaften drängten? Warum, so fragte man sich in London, verfiel man im Weißen Haus in Untätigkeit, und wo blieben die mutigen Improvisationen, für die Roosevelt so berühmt war? Warum taten die Vereinigten Staaten nichts anderes, als sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern? Und bemerkte denn Roosevelt nicht, dass er sich, indem er sich primär um seine Popularität im Inland scherte und Hitler damit signalisierte, die Vereinigten Staaten würden sich aus der Sache raushalten, eine schwere Bürde auferlegte?29 Tatsächlich spielte Roosevelt ein doppeltes Spiel. Während er sich um Englands Bewaffnung bemühte, wiederholte er in der amerikanischen Öffentlichkeit gebetsmühlenartig, die USA werden nicht mitkämpfen. Doch indem er jenen Amerikanern nach dem Mund redete, die sich dem Krieg fernhalten wollten, würde es ihm nicht gelingen, das Land in Hinblick auf eine Kriegsbeteiligung umzustimmen. Und dabei stand genau das nun an. Paris stand kurz vor dem Fall, die französische Regierung befand sich auf der Flucht, und Mussolinis Italien, das Frankreich den Krieg erklärt hatte, griff die Côte d'Azur an – an diesem Punkt angekommen, stellte der Präsident klar, die USA werde zumindest indirekt in den Krieg eintreten. Bei einer akademischen Abschlussfeier in Charlottesville, Virginia, erklärte er in einer mitreißenden Rede, es sei ein Trugschluss zu glauben, die USA könnten als isolierte Insel in einer von Gewalt dominierten Welt existieren. Er betonte wiederholt die Verantwortung der USA, diejenigen Länder zu bewaffnen und zu unterstützen, die sich Deutschland entschlossen in den Weg stellten, ohne diese konkret beim Namen zu nennen. „Wir werden“, so Roosevelt, „den Gegnern der Gewalt die materiellen Ressourcen dieser Nation zur Verfügung stellen; und zugleich werden wir uns diese Ressourcen selbst verstärkt zunutze machen, um uns für diese Aufgabe zu rüsten und vorzubereiten.“ Nach einer kunstvoll gesetzten Pause schloss er mit der Aufforderung: „Volle Kraft voraus!“30 In Großbritannien kauerte ein entschlossener Churchill vor dem Radio und lauschte jedem Wort des Präsidenten.31 Als er hörte, wie dieser „Volle Kraft voraus!“ rief, hätte er fast zu einem Freudensprung angesetzt. Auch wenn die

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USA nicht in den Kampf einsteigen würden, so würden sie doch zumindest Großbritannien dabei unterstützen. „Wir alle haben Ihnen gestern Abend gelauscht“, schrieb ein dankbarer Churchill am 11. Juni 1940 an Roosevelt, „und fühlten uns durch Ihre grosszügige Erklärung gestärkt. Ihr Versprechen, den Verbündeten in ihrem Kampf die materielle Hilfe der Vereinigten Staaten zukommen zu lassen, ist eine kräftige Ermutigung in einer dunklen, aber nicht hoffnungslosen Stunde.“32 Nun gab es kein Zurück mehr. Die USA bereiteten sich auf den Krieg vor, auch wenn ihr Präsident etwas anderes beteuerte. Die Regierung Roosevelt traf zunächst noch vorsichtige und dann immer entschlossenere Vorkehrungen, indem sie die Militärpflicht bekanntgab, Soldaten einberief, die Schaffung einer Armee mit einer Million Soldaten ankündigte und mithilfe der US-Navy Material nach England lieferte. Selbstverständlich gab es auch Widerspruch. Senator Burton Wheeler, ein Isolationist, wetterte gegen die Teilnahme der USA am „Inferno des europäischen Krieges“, wobei er für „Inferno“ den englischen Begriff holocaust verwendete, was sich im Nachhinein als unglückliche Formulierung erweisen sollte. Auch William Borah, der dienstälteste Senator, hielt eine beißende Rede, in der er Roosevelt angriff und betonte, die USA würden nun „Partei ergreifen“, was „der erste Schritt hin zur aktiven Intervention“ sei. Und der Flugpionier Charles Lindbergh, der populärste Isolationist seines Landes, setzte sich ebenfalls bei seinen Auftritten weiterhin energisch gegen eine Kriegsteilnahme ein. Roosevelt lehnte sich zurück und wartete ab, in der Hoffnung, die sich schnell verändernde internationale Lage würde die Isolationisten schließlich zum Schweigen bringen. Inzwischen waren Österreich, die Tschechoslowakei und Polen als Staaten so gut wie verschwunden. Frankreich war besiegt, die Benelux-Staaten besetzt. In Norwegen, Dänemark und Finnland flatterte die Hakenkreuzfahne. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Griechenland bedroht und der Balkan überrannt werden würde. Überall lauerte Gefahr, so schien es, weshalb die öffentliche Meinung in den USA zwar gespalten blieb, doch der Widerstand gegen den Kriegseintritt schrumpfte. Im Juli 1940 wurde eine Umfrage des Forschungsinstituts Gallup bekannt, nach der 61 Prozent der US-Amerikaner es als wichtigste Aufgabe ansahen, dem Krieg fernzubleiben, aber 73 Prozent die Bemühungen befürworteten, England auf jede erdenkliche Weise in dem Konflikt zu unterstützen.33 Unter welchen Voraussetzungen wäre das Land zum Krieg bereit? Da Roosevelt keine klaren Worte sprach, blieb es gespalten und von kontrover-

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sen Debatten gebeutelt. Da gab es jene, die gar nichts vom Krieg wissen wollten, oder solche, die von Hass getrieben waren – vom Hass auf die Juden, von der Abscheu auf die Briten oder weil sie mit den Faschisten sympathisierten. Es gab linke Isolationisten, die Krieg als das absolut Böse ansahen, und es gab rechte Isolationisten, die ihn als Laune des fast diktatorisch regierenden Roosevelts empfanden. Dann gab es Mütter, die den Gedanken nicht ertrugen, ihre Söhne könnten auf dem Schlachtfeld fallen, und wieder andere, die augenblicklich gegen die Nationalsozialisten ins Feld ziehen wollten. Und noch immer glaubten einige an Roosevelts Losung aus dem Wahlkampf: Großbritannien helfen, Material zur Verfügung stellen, aber nicht selbst in den Krieg eingreifen. Zwar waren die verschiedenen isolationistischen Gruppen am deutlichsten zu vernehmen, vor allem das America First Commitee, mit seinen 60 000 Mitgliedern, doch wuchs nach und nach auch die Empörung über den Eroberungsfeldzug des „Dritten Reiches“, wodurch sie gerade im Kongress Anhänger verloren.34 Und nach dem 5.  November 1940, an dem Franklin D.  Roosevelt erneut zum Präsidenten gewählt wurde, machten die USA einen weiteren Schritt in Richtung Krieg. Wie er es schon 1932 und 1936 getan hatte, saß ein erregter Roosevelt, mit gelockerter Krawatte und ohne Jackett, im Esszimmer seines Elternhauses in Hyde Park und verfolgte die Wahlergebnisse. Im Rest des Hauses taten sich Familienangehörige und Freunde an Häppchen gütlich, während im Raucherzimmer die Fernschreiber ratternd Zahlen ausspuckten. Gegen Mitternacht, die deutsche Luftwaffe griff gerade eine weiteres Mal London an, brandete Jubel in der Menschenmenge auf, die sich vor dem Haus in Hyde Park versammelt hatte, eine Kapelle spielte zum Sieg auf, und überschwängliche Demokraten hielten auf dem Rasen einen Fackelzug ab. Würdevoll zog Roosevelt an ­einer Zigarette, hob die Arme und zeigte ein breites Lächeln. „Wir gehen mit diesem Land schwierigen Zeiten entgegen“, erklärte er seinen Gratulanten. „Aber ich denke, Sie werden in Zukunft in mir den selben Franklin Roosevelt finden, den Sie schon seit geraumer Zeit kennen.“ Die Kombination aus Ehrgeiz und Eitelkeit einerseits und die drängenden Notwendigkeiten des Weltkriegs andererseits ermöglichten Roosevelt eine dritte Amtszeit, was noch kein Präsident zuvor erreicht hatte, auch nicht sein Cousin Theodore. Und die Wahlbeteiligung war größer denn je gewesen – 50 Millionen US-Bürger waren an diesem Tag zu den Urnen geströmt. Somit hatte Roosevelt zwar nur mit dem kleinsten Vorsprung seit Woodrow Wilson 1916 gewonnen, verfügte aber

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dennoch über einen ausreichenden Rückhalt, um dem belagerten Europa zu Hilfe zu eilen, so er das wollte.35 Die Frage aber war: Würde er es auf sich nehmen? Zurück in Washington ließ sich Roosevelt bei der Ankunft seines Zuges für ein paar Momente von seinen Anhängern feiern. Mit seinem üblichen Elan lüftete er jenen Filzhut, den er auch während des Wahlkampfs getragen hatte, und grüßte damit die jubelnde Menge am Bahnhof. Auf dem Weg von der Union Station zum Weißen Haus sah er Kinder, die auf Bäume oder Kisten geklettert waren, um einen Blick auf die Präsidentenlimousine zu erhaschen. Hunderttausende Schaulustige säumten die Pennsylvania Avenue, schwenkten Fähnchen und riefen: „Wir wollen Roosevelt! Wir wollen Roosevelt!“, bis sein Wagen auf dem Grundstück des Präsidentensitzes verschwunden war. Trotz seiner erfolgreichen Wiederwahl schien Roosevelt merkwürdig unaufmerksam, ja sogar reizbar. Die Belastungen seiner dritten Kandidatur forderten Tribut, und die Situation in Europa tat ihr Übriges dazu. „Je mehr ich schlafe“, murmelte der Präsident eines Tages, „desto mehr möchte ich schlafen.“36 Doch dieser Luxus war ihm nicht vergönnt. Während der Luftschlacht um England, bei der die Deutschen rücksichtslos britische Städte bombardierten, verlor Großbritannien auch erschreckend viele Frachtschiffe. In nur zehn Tagen im Juli 1940 versenkten oder beschädigten die Deutschen elf britische Zerstörer, und bis zum 3. November sollte Großbritannien über 400  000 Tonnen Schiffsladung verlieren. Churchill zeigte sich niedergeschlagen. Allein im Juni hatte er die Vereinigten Staaten drei Mal um die benötigten Zerstörer gebeten und die Situation als „Angelegenheit von Leben und Tod“ bezeichnet. König Georg VI. selbst bat nun Roosevelt um Hilfe, „bevor es zu spät [sei]“. Dieser sorgte sich jedoch um mögliche Reaktionen im Kongress. Am 31.  Juli 1940 übersandte Churchill eine erneute, ungeduldige Aufforderung an Roosevelt, „fünfzig oder sechzig Ihrer ältesten Zerstörer unverzüglich“ zu schicken. „Herr Präsident“, schrieb er, „mit allem Respekt muss ich Ihnen sagen, dass dies in der langen Geschichte der Welt etwas ist, was sofort geschehen muss.“37 Und Roosevelt wollte helfen, genau wie einige prominente US-Amerikaner, die sich selbst die Century Group nannten. Sie starteten eine nationale Kampagne, um Roosevelt entsprechenden politischen Handlungsspielraum zu verschaffen. Doch der Kongress hielt an seinem Widerstand fest – Senator Claude Pepper, ein Verbündeter Roosevelts, ließ den Präsidenten mit versteinerter

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Miene wissen, dass ein Gesetzesentwurf, der es erlauben würde, Zerstörer nach Großbritannien zu schicken, keine Chance auf eine Verabschiedung habe. Schließlich entwickelte Justizminister Robert Jackson die Idee, den Kongress einfach zu umgehen. Es stünde in der Macht des Präsidenten, so Jacksons Vorschlag, die Zerstörer – allesamt alt und überholungsbedürftig, weshalb bis Ende 1940 auch nur ein halbes Dutzend zum Einsatz kam – gewissermaßen gegen einen Zugang zu britischen Militärposten in der Karibik für die kommenden 99 Jahre einzutauschen. Roosevelt war einverstanden und informierte Churchill augenblicklich per Telegramm über den Durchbruch, der ebenfalls sofort zustimmte. Erst deutlich später setzte der Präsident den Kongress in Kenntnis: Im Waggon seines Präsidentenzugs, 45 Minuten von einer baufälligen Waffenfabrik in West Virginia entfernt, die er gerade besucht hatte, gab er mit verschmitztem Lächeln und vielsagendem Blick gegenüber einer Handvoll Journalisten diese verblüffende Entscheidung bekannt, die er selbst für die „wichtigste Maßnahme zur Verstärkung unserer nationalen Verteidigung seit dem Louisiana-Kauf “ hielt.38 Ein Aufschrei brach los. Die St.  Louis Post Dispatch nannte Roosevelt „Amerikas ersten Diktator“,39 und der republikanische Präsidentschaftskandidat von 1940, Wendell Willkie, bezeichnete ihn als den „eigenmächtigsten Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten“. Im Repräsentantenhaus fragte sich der Abgeordnete Frances Bolton laut, ob Roosevelt dies ohne Beratung des Kongresses überhaupt dürfe und fügte hinzu: „Gott allein weiß, was er noch tun wird“, wenn die jungen Männer der USA eingezogen würden. Dennoch war die britisch-amerikanische Vereinbarung über die Nutzung der Militärbasen im besten Falle eine Notlösung. Obwohl Hitler seine Pläne zur Invasion Englands – das „Unternehmen Seelöwe“ – aufgeschoben hatte, gingen die Angriffe der Wehrmacht unvermindert weiter. Bis Dezember strömten über spezielle Verschlüsselungsmaschinen viele Nachrichten aus Whitehall ins Weiße Haus mit detaillierten Berichten über das deutsche Vorgehen. Wahrzeichen, Fabriken, Häuser, Eckkneipen und das britische Unterhaus waren beschädigt oder ausradiert worden. Hinzu kam ein weiteres, ähnlich schwerwiegendes Problem: Großbritannien ging das Geld aus, während Deutschland seine Kriegsanstrengungen noch erhöhen konnte, indem es die Industrien in den eroberten Gebieten – in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und der Tschechoslowakei – ausbeutete und Kriegsgefangene aus Polen zur Zwangsarbeit heranzog. Sollte sich der wirtschaftliche Würgegriff, dem Großbritannien ausgesetzt war, fortsetzen, könnte es noch innerhalb dieses Jahres zur Kapitulation gezwungen sein.

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Am 3. Dezember diskutierte Roosevelts Kabinett in einer eilig einberufenen Sitzung die verschiedenen Möglichkeiten, dem belagerten Großbritannien beizustehen.40 Missmutig stellten die versammelten Minister fest, das finanziell angeschlagene England würde binnen 30 Tagen seine Gold- und Dollarreserven ausgegeben haben und dann für den dringend benötigten Nachschub nicht mehr aufkommen können. Hochrangige US-Militärs bestätigten hingegen, dass sich die eigene Produktion in den Rüstungsbetrieben noch steigern ließe, wobei die Frage der Finanzierung noch zu klären wäre, ebenso wie die Frage des Transports der Militärgüter nach Großbritannien. Henry Stimson, US-Kriegsminister, argumentierte, die Zeit des Abwartens sei vorüber, man solle die Angelegenheit dem Kongress vorlegen. Seine Kollegen stimmten ihm zu. Worüber sie nicht einig waren, war die Frage, wie wohl Roosevelt reagieren würde. War er bereit, diesen Vorschlag zum Kapitol zu tragen? Oder lieferte er damit den Isolationisten im Kongress nur neue Munition? In England feilte Churchill über Wochen hinweg an einem weiteren leidenschaftlichen Brief an den Präsidenten, den der Premierminister zu den „wichtigsten“ in seinem Leben zählte.41 Er begann mit einer brillanten Übersicht über die strategische Lage. Auf sich allein gestellt könne Großbritannien, so Churchill, der sich in Europa zusammenballenden deutschen Armee nicht widerstehen. Er glaube dennoch, dass „die Entscheidung für das Jahr 1941 auf den Meeren fallen“ werde. Und er bestätigte, was Roosevelts Kabinett bereits wusste: „Der Augenblick ist nicht mehr fern, da wir nicht länger imstande sein werden, Schiffe und andere Lieferungen bar zu bezahlen.“ Churchill beeilte sich anzumerken, dass England sehr wohl „die Zerstörung [seiner] Wohnstätten und das Hinmorden [seiner] Zivilbevölkerung durch wahllose Luftangriffe überdauern“ könne. Allerdings gebe es „eine langdauernde, Schritt für Schritt wachsende Gefahr, die weniger jäh und weniger aufsehenerregend, aber nicht minder tödlich ist“. Diese Gefahr sei die „ständige und immer schnellere Verringerung des Schiffsraumes“. Denn „wenn es uns nicht gelingt, unsere Insel zu ernähren, das Kriegsmaterial aller Art, dessen wir bedürfen, zu importieren […], dann besteht die Gefahr, dass wir unterwegs zusammenbrechen, bevor die Vereinigten S­ taaten Zeit haben, ihre Abwehrmassnahmen zu vollenden“. Hoffnungsvoll fügte er hinzu: „Sie mögen versichert sein, dass wir uns bereit zeigen werden, der Sache wegen die grössten Leiden und Opfer auf uns zu nehmen.“ Und dann wandte er sich ganz direkt an den Präsidenten: „Wenn Sie, Herr Präsident, wie ich annehme, davon überzeugt sind, dass die Niederlage der nazistischen und faschistischen Tyrannei für das amerikanische Volk und für die westliche Hemisphäre von hoher Bedeutung ist, dann werden Sie dieses

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Schreiben nicht als Hilferuf betrachten, sondern als eine Übersicht dessen, was geschehen muss, damit wir unser gemeinsames Ziel erreichen können.“42 Dieser Brief ging in dem Moment auf den Weg über den Atlantik, als Roosevelt sich auf einer zehntägigen Kreuzfahrt an Bord der USS Tuscaloosa befand. Roosevelt war sich im Klaren darüber, dass es mit ausweichendem Verhalten in der Öffentlichkeit und diskreter Einflussnahme in Hinterzimmern nicht mehr getan war. Zudem wusste er, dass der Feind ihn und seine Vorkehrungen genau beobachtete, und er war sich auch nur all zu sehr bewusst, dass eine folgenschwere Entscheidung gefällt werden musste. Ein für alle Mal galt es, der Welt zu zeigen – den Achsenmächten und Freunden gleichermaßen –, wofür er stand. Churchills Brief sollte ihn in diesen Überzeugungen nur noch bestärken. An Bord der Tuscaloosa arbeitete der Präsident nur ein paar Stunden pro Tag. Ansonsten verbrachte er die Zeit mit Kolonialbeamten, spielte Poker, angelte, lag mit einem Krimi in der Sonne, hielt nach dem Mittagessen ein Schläfchen und entspannte mit Filmen. So sah er sich etwa Betty Grable in Tin Pan Alley und Gary Cooper in Die scharlachroten Reiter an. Natürlich wurden ihm jeden Tag per Wasserflugzeug Hintergrund- und Lageberichte gebracht, doch laut Aussagen seiner Begleiter schien Roosevelt diese Papiere immer nur beiseite zu legen. Es war offensichtlich, dass der abgekämpfte Präsident „wieder auftankte“, wie Harry Hopkins es nannte. Als er jedoch Churchills Brief empfing, bekam er schwere Bedenken. Von einem Augenblick zum nächsten zog er sich zurück: Zwei ganze Tage lang schloss er sich ein und saß einsam in seinem Liegestuhl, grübelte „schweigend“ vor sich hin und las den Brief immer und immer wieder, um herauszufinden, wie die USA Großbritannien helfen könnten. Er könnte Waffen, Flugzeuge und Gewehre als Geschenke nach England liefern lassen, doch das amerikanische Volk würde das nicht akzeptieren. Er könnte Großbritannien Geld leihen, doch auch dies würde nicht gutgeheißen werden. Er könnte darum bitten, Neutralitätsgesetze zu widerrufen, doch das wäre für ihn einer Bankrotterklärung gleichgekommen. Zu keinem Zeitpunkt bat Roosevelt sein Kabinett um Rat. Auch von seinen Mitarbeitern verlangte er keine Unterlagen. Und er griff nicht zum Telefon, um sich mit seinen einflussreichen Fürsprechern im Senat oder mit seinem guten Freund, dem umtriebigen, gerissenen und unverblümten Harry Hopkins abzustimmen. Der einzige Rat, den er auf der Tuscaloosa zu beherzigen schien, stammt von Ernest Hemingway, der ihm per Brief mitteilte, große Fische fange man am besten mit Schweineschwarte. Und nicht einmal dieser Rat verschaffte dem Präsident nennenswerten Erfolg.

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Eines Abends kam Roosevelt der rettende Einfall, wie mit dem britischen Finanzengpass umzugehen sei.43 Eine Weile hatte er in Erwägung gezogen, Frachtschiffe an Großbritannien zu verpachten, um das Gleichgewicht des Krieges wieder herzustellen. Doch wenn die Vereinigten Staaten dies mit Schiffen tun konnten, warum dann nicht auch mit Flugzeugen oder Gewehren oder anderen Waffen? Wenn man Hitler damit wirklich aufhalten konnte, so überlegte Roosevelt, dann sollten die USA einfach alles an Großbritannien verpachten, was es benötigte. Und zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt in der fernen Zukunft, nach Ende des Krieges, könnten die Briten das Geliehene zurückgeben oder zurückzahlen – in Dollar oder auf andere Art und Weise. Erneut inspiriert von der Analogie des „Gartenschlauchs“, die er 1916 zum ersten Mal verwendet hatte, war Roosevelt überzeugt, er habe eine Lösung gefunden – sie ging mit dem berühmten Titel Lend-and-Lease-Act, oder Leih- und Pachtgesetz in die Geschichte ein.44 Zwar war umstritten, ob das Programm legal war, doch wie Hopkins notierte, hatte Roosevelt „ keinen Zweifel daran, dass er einen Weg finden würde, es umzusetzen.“ Es sollte sich als eines der mutigsten Manöver in Roosevelts langer, berühmter Karriere herausstellen, und die folgenden Wochen stellten eine der kritischsten Phasen während seiner Präsidentschaft dar. Henry Morgen­ thau, sein Finanzminister, ging so weit, dies Roosevelts „größte Anstrengung in all seinen Amtsjahren“ zu nennen. Dabei basierte das Gesetz auf einer reinen Fiktion, war es doch unrealistisch anzunehmen, die Briten würden nach dem Krieg eine Flotte verwitterter, rostiger Schiffe oder Zehntausende von ramponierten Panzern und schmutzigen Waffen zurückgeben. In Wirklichkeit ging es bei dem Plan um nichts anderes als um ein Geschenk, politisch wie militärisch war der Lend-and-Lease-Act jedoch schlichtweg brillant und ein typischer „Roosevelt“. Das Gesetz lieferte ein weiteres Beispiel dafür, wie kühn er die gesamte Bürokratie umging und den Kongress außen vor ließ, wenn er sich etwas vorgenommen hatte. Am Tag seiner Rückkehr ins Weiße Haus, dem 16. Dezember, beriet sich der Präsident ausführlich mit seinen ruhelosen Assistenten.45 Hier zeigte sich Roosevelt wieder in Bestform – konzentriert, überlegt, geschickt. Nachdem die Details geklärt waren, lud er für eine Pressekonferenz Journalisten in sein Büro, gab aber vor, keine „besonderen Neuigkeiten“ verkünden zu können. Doch natürlich war genau das Gegenteil der Fall. Er erteilte allen Plänen, Waffen,

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Gewehre und Flugzeuge als Geschenk nach Großbritannien zu schicken, eine Absage. Nein, so betonte er, es gäbe eine bessere Methode. Im eigenen Interesse, erklärte er, sollten die Vereinigten Staaten ihre Produktionskapazitäten erhöhen und erst dann den Briten „die Materialien, mit einer Hypothek belastet, entweder verkaufen oder verpachten“. In einem trügerisch Plauderton fuhr er fort: „Nun, ich suche vor allem das Dollarzeichen auszuschalten. Das ist etwas Brandneues für die Vorstellungswelt von fast jedem hier in diesem Raum – endlich dieses alberne, dumme alte Dollar-Zeichen loszuwerden.“46 Die Journalisten schüttelten die Köpfe. Worauf um Himmelswillen wollte der Präsident hinaus? Roosevelt erklärte es ihnen: „Lassen Sie es mich Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, dass das Haus meines Nachbarn in Brand gerät und ich habe hundert oder hundertfünfzig Meter entfernt einen Gartenschlauch. Wenn er meinen Gartenschlauch nehmen und an seinen Hydranten anschliessen kann, so vermag ich ihm zu helfen, das Feuer zu löschen. Was werde ich da tun? Ich werde nicht vorher zu ihm sagen: ‚Nachbar, mein Gartenschlauch hat mich fünfzehn Dollar gekostet; du musst mir fünfzehn Dollar dafür zahlen.‘ Nein! Worin besteht die Transaktion, die sich da abspielen wird? Ich brauche die fünfzehn Dollar nicht – ich will meinen Gartenschlauch zurück haben, sobald das Feuer gelöscht ist. In gutem Zustand. Wenn der Gartenschlauch nach dem Löschen noch heil ist, intakt und unbeschädigt, dann gibt er ihn mir einfach zurück und bedankt sich in aller Form dafür, dass er ihn nutzen durfte.“ Mit anderen Worten gab Roosevelt zu verstehen, dass das Waffen- und Kriegsarsenal der USA nutzlos sei, solang es in Lagerhallen herumläge, und weitaus besser in der Hand der Briten und auf dem Schlachtfeld aufgehoben wäre. Nach dem Krieg würden die Vereinigten Staaten das Kriegsgerät zurückbekommen, ohne dabei auf das Dollar-Zeichen zu achten. Stattdessen würden sie wie echte Gentlemen auch Naturalien akzeptieren. Der Präsident lächelte. „Ich denke, Sie alle haben mich verstanden.“ Das hatten sie zwar noch nicht so ganz, doch Roosevelt stellte schnell klar, dass die Reporter vielleicht das Orchester waren, er als Dirigent aber den Ton angab. Die Journalisten stürmten mit Fragen auf ihn ein. Hieß das, die USA näherten sich langsam einer Teilnahme am Krieg? Roosevelt schüttelte den Kopf. Nein. Hieß es, wie auch der Kongress später wissen wollte, dass die USMarine dabei helfen sollte, Munition zu liefern? Ein erneutes Nein. Wie stand es mit der Zustimmung im Kongress – würde der Präsident sie einholen? Roosevelt bejahte. Der Präsident zeigte sich so schlagfertig, dass die Medienvertreter vergaßen, ihm die wichtigsten Fragen überhaupt zu stellen: Was meinte er,

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wenn er von „Naturalien“ sprach? Und handelte es sich letztendlich nicht doch um Geschenke? Die Reaktionen im Ausland waren bemerkenswert. Churchill nannte den Lend-and-Lease-Act „die uneigennützigste Tat in der Geschichte aller Nationen“,47 während ein Sprecher des NS-Regimes Roosevelts Politik als „Nadelstich, […] Beleidigung und moralische Aggression“ verunglimpfte. Mit einem seiner wichtigsten Kamingespräche seiner Präsidentschaft machte sich Roosevelt nun an die Aufgabe, die Lend-Lease-Politik dem Volk zu erklären. Am 29. Dezember, einem Sonntag, betrat er um 18.40 Uhr die Arztpraxis im Weißen Haus und ließ sich, wie er es vor vielen seiner wichtigen Ansprachen tat, behandeln: Seine Nasennebenhöhlen wurden gereinigt und seine Stimmbänder befeuchtet. Womöglich bekam er auch Kokain durch die Nase gespült, was damals legal war. Dann schob Arthur Prettyman den Präsidenten in den Diplomaten-Empfangssaal hinüber, wo Techniker gerade damit fertig geworden waren, für Roosevelts Ansprache an die Nation ein Gewirr von Kabeln und Mikrofonen zu verlegen. Man stellte den Rollstuhl hinter einen einfachen Holztisch, auf dem die Mikrofone von NBC, CBS und MBS standen. Ganz in der Nähe wartete eine kleine Gruppe wie erstarrt: seine wichtigsten Kabinettsmitglieder, Außenminister Cordell Hull, Kriegsminister Henry Stimson und Finanzminister Henry Morgenthau; außerdem seine engsten Familienangehörigen, Eleanor Roosevelt und seine Mutter Sara; dazu ein zentraler Verbündeter aus dem Senat, der scharfsinnige, hart verhandelnde Mehrheitsführer Alben Barkley. Die versammelten Zuhörer konnten erkennen, dass Roosevelts UrlaubsTeint bereits wieder verschwunden war und sich stattdessen Ringe unter seinen Augen abzeichneten, doch er wirkte entspannt, und seine Stimme klang robust und volltönend wie eh und je. Um 21 Uhr, als seine Rede begann, strömten überall im Land die Menschen aus den Lokalen und Kinos, um ihn zu hören. Sie versammelten sich um Radios in ihren Wohnzimmern und drehten die Lautstärke auf. Die wenigen, die schon einen Fernseher besaßen, schalteten ihn ein. Während dieser Rede hingen etwa 70 Prozent der US-Amerikaner an Roosevelts Lippen. „Dies ist kein Kamingespräch über den Krieg“, erklärte Roosevelt seinem Volk. Eher „ist es eine Rede über die nationale Sicherheit; denn die Kernaufgabe eines Präsidenten ist es, Ihnen und später Ihren Kindern und noch viel später Ihren Kindeskindern, einen verzweifelten Kampf um die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten zu ersparen.“ Er hielt kurz inne, um seine Sätze wirken zu lassen. „Niemals zuvor seit Jamestown und Plymouth Rock befand sich un-

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sere amerikanische Kultur in einer solchen Gefahr. […] Die NS-Herrscher in Deutschland haben unmissverständlich klar gemacht, dass sie nicht nur vorhaben, alles Leben und Denken in ihrem eigenen Land zu dominieren, sondern dass sie auch den Rest Europas unterwerfen wollen, um schließlich mit den Ressourcen Europas auch den Rest der Welt zu beherrschen.“ Schonungslos rechnete er mit den nationalsozialistischen Angriffen und ihren Befürwortern in den USA und anderswo ab. „Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre haben zweifellos gezeigt, dass keine Nation die Nationalsozialisten beschwichtigen kann. Niemand kann einen Tiger zu einem Kätzchen zähmen, nur indem er ihn streichelt. Mit den Unbarmherzigen ist eine Appeasement-Politik wirkungslos.“ Er stellte jene bloß, die darauf bestanden, die USA müssten ihren Einfluss geltend machen, um mit einer „Gruppe von Banditen“ „einen diktierten Frieden“, „einen Verhandlungsfrieden“ zu erzielen. Dies würde nur, so Roosevelt weiter, „dahin führen, dass die Vereinigten Staaten zu zahlen hätten, um ihre eigene Haut zu retten“. Die USA dürften, so predigte er nun, sich nicht mit der Niederlage Europas „abfinden“, sich „zahm“ einem Sieg der Achsenmächte ergeben oder solange warten, bis sie selbst angegriffen würden. Damit würde man Deutschland und die Achsenmächte nur ermutigen, ihrem unablässigen Drang zur Unterjochung der Welt nachzugeben. Im Ergebnis würde „ganz Amerika […] fortan stets in einen Gewehrlauf starren.“ Er blieb jedoch listig. Wer glaubte, dies wäre nun die Vorbereitung für den direkten Kriegseintritt der USA, dem widersprach Roosevelt deutlich, indem er solche Ideen als „bewusste Unwahrheiten“ bezeichnete. Ja, gab er zu, es entstünde „bei jeder Maßnahme ein Risiko“, doch die Vereinigten Staaten hätten keine andere Wahl, man könne nicht so tun, als laufe „alles wie immer“. Um dieses Argument zu verdeutlichen, fügte er hinzu: „Wir wissen sehr gut, dass wir weder einer Gefahr noch der Angst vor ihr entkommen können, wenn wir uns im Bett verkriechen und uns die Decke über die Ohren ziehen.“ „Unsere nationale Politik zielt nicht auf den Krieg ab“, fuhr er fort. „Ihr einziges Ziel ist es, den Krieg von unserem Land fernzuhalten.“ Und dann folgte einer der prägendsten Sätze seiner Präsidentschaft und darüber hinaus: „Wir müssen das große Arsenal der Demokratie sein! Für uns ist dieser Notfall so ernst wie der Krieg selbst.“48 Mit großem Fingerspitzengefühl – sieben Mal hatte er die Rede überarbeitet – setzte Roosevelt seine Ausführungen fort. Die US-Amerikaner müssten „dieselbe Entschlossenheit, das selbe Gespür für die Dringlichkeit, denselben Patriotismus und dieselbe Opferbereitschaft zeigen“, als befänden sie sich selbst im Krieg. Und denen, die sich dem Leiden Europas gegenüber gleichgültig zeigten, entgegnete er: „Die Geschichte der letzten Jah-

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re hat bewiesen, dass Erschießungen und Ketten und Konzentrationslager nicht einfach vorübergehende Hilfsmittel sind, sondern die wahren Altäre der modernen Diktatur. Sie mögen von einer ‚neuen Ordnung‘ der Welt sprechen, doch was sie wirklich planen, ist die Wiedergeburt der ältesten und schlimmsten Tyrannei.“ Roosevelt schloss seine Rede mit einer weiteren eloquenten Wendung: Er forderte die Vereinigten Staaten zur „größten Produktionsanstrengung“ ihrer Geschichte auf. „Ich rufe dazu im Namen dieser Nation auf, die wir lieben und ehren und der zu dienen unser Privileg und Stolz ist.“49 An diesem Abend bombardierten die Deutschen London mit der größten Raserei seit Ausbruch des Krieges. Das historische Gerichtsgebäude Old Bailey wurde getroffen und fing Feuer, ebenso das Haus des Schriftstellers und Lexikografen Samuel Johnson an der Fleet Street, und ein Großteil der Altstadt lag in Schutt und Asche. Auch das historische Holzdach der alten Guildhall, zwischen Gresham und Basinghall Street gelegen, brannte lichterloh. Das große Feuer von 1666 hatte das über 500 Jahre alte Gebäude überstanden, aber nun war es kaum mehr als ein verkohltes Gerippe. Obwohl es zwei Uhr morgens war und noch immer deutsche Flugzeuge gefährlich über der Stadt kreisten, schalteten die Londoner ihre Radios ein und lauschten Roosevelts Rede. Als er sein Kamingespräch beendet hatte und sich mit ein paar Filmen vor dem Zubettgehen entspannte, wurde das Weiße Haus von Telegrammen überhäuft, wobei auf jede kritische Bemerkung zu seiner Rede hundert Befürwortungen kamen. Diese Rede und ihre politische Ausgestaltung stellten den Höhepunkt von Roosevelts Karriere und seiner Reputation dar. Hatte ihm der Kongress in den Jahren 1939 und 1940 ohnehin alles im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit gewährt, schnellten nun auch seine Umfragewerte empor. Seinen Kritikern in der Demokratischen Partei hatte er einen Strich durch die Rechnung gemacht, seine Gegner bei den Republikanern überlistet. Mutig hatte er sein Kabinett neu besetzt und den Vizepräsidenten ausgetauscht. Er hatte zum dritten Mal die Präsidentschaftswahl gewonnen, hatte seine Beziehung zu Winston Churchill gefestigt, und während er sich nun darum bemühte, den Lend-and-Lease-Act durch den Kongress zu führen, stellte sich heraus, dass seine Machtbasis auf nationaler Ebene mindestens ebenso groß war wie 1933, als ihn eine wahre Welle der Euphorie getragen hatte. Hatte Roosevelt bislang viel dafür getan, landesweit die Tendenz gegen militärisches Eingreifen und fremde Kriege zu legitimieren, strebte er nun, 1941, danach, die Militärbeziehung zwischen seinem Land und Großbritannien enger zu knüpfen und, vor allem, die Isolationisten zu besiegen. Merkwürdigerweise schien jedoch in diesem Moment nicht nur die Nation weiterhin gespal-

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ten, sondern auch Roosevelt blieb ambivalent. Am Silvesterabend 1940 schrieb ihm Churchill deshalb: „Denken Sie daran, Herr Präsident, dass wir nicht wissen, was Sie vorhaben oder was die Vereinigten Staaten genau zu tun gedenken, und dass wir um unser Leben kämpfen.“50 Als er diese Worte las, wusste Roosevelt, dass er Churchill auf die eine oder andere Weise beruhigen musste. Am 19. Januar 1941 übergab er Wendell Willkie, den er bei der Präsidentschaftswahl geschlagen hatte und der ihn nun als Abgesandter in England unterstützte, ein privates Kommuniqué. Diese Nachricht sollte an Churchill persönlich übergeben werden. Auf dem Briefbogen waren einige Verse aus Henry Wadsworth Longfellows „Die Erbauung des Schiffes“ notiert, die Roosevelt auswendig zu Papier gebracht hatte. In England lag noch immer Schnee, als Churchill den Brief empfing und las. Lieber Churchill, Wendell Willkie wird Ihnen dies übergeben. Er bemüht sich hier sehr, die Politik voranzubringen. Ich denke, diese Verse treffen auf Ihr Volk ebenso zu wie auf uns. Auch du, des Staates Schiff! Vorüber an Sandbank und Riff' Steu'r' hin durch der Wellen Schoos – Steu'r' hin, Union du! stark und groß; Die Menschheit mit all ihrem Bangen Und Hoffen sieh' an dir hangen!51 Wie immer der Ihrige Franklin D. Roosevelt Zu Beginn des neuen Jahres musste Roosevelt allerdings noch sicherstellen, dass der Lend-and-Lease-Act, jetzt in Form des Gesetzes HR 1776, den Kongress passierte. Vom britischen Parlament hieß es einmal, es könne alles, außer einen Mann zur Frau machen. Ähnliches wäre über HR 1776 zu sagen, autorisierte das Gesetz den Präsidenten doch, jedes beliebige Gut mit jeder beliebigen Regierung zu tauschen, es zu verpachten oder zu verleihen. Gleichzeitig gab es sich keineswegs als Maßnahme zur Kriegsvorbereitung zu erkennen, sondern schien vielmehr eine Notwendigkeit, um das Land aus dem europäi-

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schen Albtraum herauszuhalten. Doch Roosevelts Kritiker glaubten ihm nicht. „Niemals zuvor haben die Vereinigten Staaten“, so polterte der leidenschaftliche Senator Burton Wheeler im Radio, „einem einzelnen Mann die Macht verliehen, dieser Nation all ihre Verteidigung zu entziehen.“ Und die einflussreiche Chicago Tribune stieß in dasselbe Horn: „Dies ist ein Gesetz zur Zerstörung der Amerikanischen Republik. Es ist ein Freibrief zur unbeschränkten Diktatur mit Verfügungsgewalt über den Besitz und das Leben des amerikanischen Volkes.“ Es war jedoch Charles Lindbergh, der aufseiten der Isolationisten die prominenteste Stellung einnahm. Der gutaussehende, gepflegte, charismatische Held, der mit seinem mutigen Flug über den Atlantik die Weltöffentlichkeit in seinen Bann gezogen hatte, rief die Vereinigten Staaten dazu auf, einen Verhandlungsfrieden anzustreben und keinem Gesetz zuzustimmen, dass das Blutvergießen auf beiden Seiten des Atlantiks nur noch verlängern würde. „Wir sind in dieser Nation und dieser Hemisphäre stark genug, um unseren eigenen Lebensstil fortzuführen, ganz gleich […] was die andere Seite tut.“52 Zu Beginn des Jahres 1941 standen sich nach wie vor die Kampagne „America First“ und das interventionistische „Committee to Defend America“ hartnäckig und unversöhnlich gegenüber. Beide Seiten verteilten leuchtende kleine Buttons, bunte Plakate und natürlich Flugblätter. Beide Seiten marschierten auf Washington und verteilten Broschüren. Beide Seiten demonstrierten vor dem Kongress und waren im Radio zu hören. Schlussendlich waren die Isolationisten jedoch dem Präsidenten nicht gewachsen. Nachdem er all seinen Einfluss geltend gemacht hatte, wurde der Lend-and-Lease-Act in beiden Häusern mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Bereits im März gab die Opposition auf, und die Öffentlichkeit stand hinter dem Präsidenten.53 Als Churchill die Lend-Lease-Politik „Hitlers Todesurteil“ nannte, dürfte dieser allerdings bloß gekichert und seinen nächsten Schritt vorbereitet h ­ aben. Obwohl sie die Luftschlacht über ihrem Land überstanden hatten, fürchteten viele Briten einen verheerenden Angriff der Wehrmacht über den Ärmelkanal. Und auf dem europäischen Festland lebten die Völker des Balkans ebenfalls in Angst und Schrecken vor einem drohenden Schlag der Nationalsozialisten in ihre Richtung. Mit Blick auf die Weltkarte wirkte es zudem so, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Hitler Gibraltar oder das isolierte Malta erobert haben würde, um dann Nordafrika und den Nahen Osten zu überrennen. Spanien geriet zunehmend unter Druck, Griechenland ebenfalls. Die Wehrmacht ver-

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senkte im Atlantik weiterhin britische und amerikanische Schiffe in atemberaubender Geschwindigkeit – die Schiffe gingen drei Mal schneller durch deutsche U-Boote verloren, als US-amerikanische Werften sie ersetzen konnten. Portugal und die Türkei drohten, sich den Achsenmächten anzuschließen. Sogar Vichy-Frankreich wurde immer enger an die NS-Einflusssphäre gebunden. Es war, als würde Hitler fröhlich Türme und Läufer auf einem Schachbrett hin und her schieben, während die Alliierten verzweifelt mit ein paar Bauern spielten. Schritt für Schritt hatte Hitler seine isolierten Gegner überflügelt und ihnen die Luft abgedreht. Schritt für Schritt verbreitete er das Hakenkreuz von einer Nation zur nächsten. Am 6. April 1941 schlug Hitler erneut zu und ordnete einen Blitzangriff auf Jugoslawien und Griechenland an.54 Wenn auch verzweifelt und verwirrt, so waren die beiden Nationen dennoch zum Widerstand entschlossen. Als die Sonne über der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad aufging, befahl Hitler seiner Armee, die „Stunde ist gekommen“, und lange Reihen Panzer und motorisierte Einheiten rollten durch die Straßen. Die Luftwaffe beschoss die wehrlose Hauptstadt von oben, während deutsche Bodentruppen Skopje einnahmen und anschließend ihre Blicke auf die unverteidigte Monastir-Lücke richteten, den Zugang nach Griechenland. Aus seinem Unterstand heraus prahlte ein wagemutiger griechischer General: „Wir halten sie mit unseren Zähnen auf “, doch weder Zähne, noch Gewehre und Mut reichten dafür aus. Vierzehn deutsche Divisionen vereinten sich schnell vor den Verteidigern. Die westliche Welt, darunter auch die Vereinigten Staaten, bewunderte den Mut der Griechen, der an die Heldentaten der antiken griechischen Stadtstaaten erinnerte. Doch die Griechen waren unterlegen und nicht ausreichend bewaffnet, wohingegen immer mehr deutsche Truppen vorrückten. In dieser Bedrängnis floh das griechische Kabinett nach Kairo. Die britischen Armeeeinheiten in Griechenland errichteten noch eine stabile Verteidigung, doch ohne weitreichende Folgen. Bald schon zogen auch sie sich wie die griechischen Soldaten über schmale Bergstraßen, die mit qualmenden Fahrzeugen und Schlamm verstopft waren, in Richtung Süden zurück. Am 17. April 1941 kapitulierte Jugoslawien, und nicht einmal eine Woche später tat Griechenland dasselbe. Der mit Kreide an eine Hauswand geschriebene Satz: „Nach den Thermopylen wurden die 300 getötet“, auf den die Deutschen bei ihrem Vormarsch stießen, verwies nicht nur auf jene Spartaner im Perserkrieg, sondern auch auf das Kommende. Allerdings waren hier die Verluste natürlich deutlich höher: 17  000 Menschen waren gefallen, und die Deutschen nahmen etwa 300 000 jugoslawische und 270 000 griechische Kriegs-

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Kapitel 7

gefangene. Man teilte Jugoslawien, wo Partisanen an Laternenpfosten aufgehängt wurden, in Stücke: Die Verbündeten der Deutschen, also Ungarn, Italien und Bulgarien, erhielten jeweils einen Teil; in Serbien und Kroatien richtete man Vasallenstaaten ein. Hitlers grausamer Appetit schien keine Grenzen zu kennen. Als nächstes folgte der deutsche Blitzkrieg gegen Kreta: 16 000 Fallschirmjäger und getarnte Gebirgsjäger sowie 1200 Flugzeuge stießen auf die fassungslosen Verteidigungskräfte der Insel herab. Dieses Vorgehen war verblüffend, stellte es doch den ersten reinen Luftlandeangriff in der modernen Militärgeschichte dar. Die griechischen Truppen und die mit ihnen verbündeten britischen Soldaten auf der Insel wehrten sich hartnäckig. Sie beschossen die Deutschen mit allem, was ihnen zur Verfügung stand – und töteten dabei Hunderte von ihnen in der Luft und an Land – doch schließlich waren auch sie zahlenmäßig unterlegen und wurden überwältigt. Am Ende des Monats gehörte auch Kreta zu Hitlers Reich. Nun da er den östlichen Mittelmeerraum erobert hatte, rechnete man damit, dass sich Hitler dem ölreichen Nahen Osten zuwandte. Churchill ließ Roosevelt entsprechend wissen, der Verlust von Ägypten und dem Nahen Osten würde unabsehbare Folgen nach sich ziehen. In dieser Situation wirkte Roosevelt den Nationalsozialisten so gut entgegen, wie er konnte, doch noch war das US-Militär schwach, seine Reichweite begrenzt. Am 3. Mai bat Churchill, der von einer Niederlage nach der anderen verärgert war, Roosevelt darum, direkt einzugreifen. Churchill wollte, dass sich die Vereinigten Staaten dem Kampf als Kriegspartei anschlössen. Roosevelt empfahl lediglich, Geduld zu bewahren, schlug die Bitte aus und bemühte sich ein weiteres Mal, den Premierminister davon zu überzeugen, die USA unternehme alles mögliche, um Großbritannien zu helfen. Am 10.  Mai, jenem Abend, an dem der Präsident diese Antwort formulierte, steuerten 500 deutsche Flugzeuge London an und verursachten den bislang größten Schaden: große Wohngebiete in der Hauptstadt, das Symbol der britischen Demokratie, das Unterhaus, und sogar die beliebte Statue von Richard Löwenherz wurden zerstört. Gesenkten Hauptes schritt ein verzweifelter Churchill durch die noch rauchenden Ruinen und weinte.55 Derweil setzte der US-Präsident Himmel und Hölle in Bewegung, doch in Berlin zeigten sich Hitler und das gesamte NS-Regime unbeeindruckt davon. Für den Führer war Roosevelt ein seniler Krüppel, der weder den Mumm hatte, die US-Amerikaner in den Krieg zu führen, noch die Nerven, um massenhafte Verluste hinzunehmen. Was auch immer der Präsident androhte oder verkündete, es klang hohl und unglaubwürdig. Als Roosevelt Ende Mai 1941

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Die Anfänge

den „unbegrenzten nationalen Notstand“ proklamierte, tat Hitler es deshalb als bloßes Getöse ab. Hitler verstand es ebenso gut wie jeder andere, Landkarten zu lesen, und diese zeigten eindeutig, wie gut jene mächtigste Demokratie der Welt, die bloß kleinere Nationen dazu aufrief, sich der starken deutschen Armee und der Eroberung zu widersetzen, vom Puffer des Atlantischen Ozeans geschützt war. Auch hatten Hitler und seine Übersetzer gute Ohren und hatten vom US-amerikanischen Isolationismus zur genüge gehört. Ihnen war durchaus bekannt, dass Präsident Roosevelt weder darum gebeten hatte, die Neutralitätsgesetze aufzuheben, noch erweiterte Kriegsbefugnisse für sich beantragt hatte, und dass er unverdrossen weiter behauptete, der Krieg könne gewonnen werden, „indem die wichtigste Verteidigungsbastion der Demokratie weiter am Leben erhalten bleib[e] – und das [sei] England.“ Und schließlich wusste Hitler auch, dass die USA nur zugesehen hatten, wie die Deutschen in Bulgarien eingedrungen und Jugoslawien und Griechenland zerschlagen hatten. In Wirklichkeit wollte Roosevelt die öffentliche Meinung nach und nach auf mögliche Kampfeinsätze einstellen. Er bereitete ein geheimes Treffen mit Churchill auf zwei Kriegsschiffen vor der Küste von Neufundland vor und hieß gemeinsame Besprechungen von amerikanischen und britischen Militärs hinter verschlossenen Türen gut.56 Doch ohne rigorose Maßnahmen war Hitler weder einzuschüchtern noch zu entmutigen. Auch Mitglieder von Roosevelts Regierung zweifelten am Präsidenten. Dessen Strategie, so empfanden sie es, brachte weder Krieg noch Frieden. Und einige fragten sich, ob Großbritannien dem unaufhörlichen Angriff Deutschlands noch lange würde standhalten können. „Es war, als lebten wir einen Albtraum“, schrieb Roosevelts Berater Averell Harriman an Harry Hopkins, „und das Unheil schwebte unablässig über unseren Köpfen.“ Hinter dem Rücken des Präsidenten schmiedeten einige seiner einflussreichsten Mitarbeiter daher Pläne, wie sie Roosevelt zu mehr bewegen könnten. Henry Stimson, der Kriegsminister, traf sich mit dem Präsidenten und forderte ihn auf, größere moralische Führung zu zeigen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und seinen Worten Taten folgen zu lassen. In Stimsons Augen schien der Präsident ziemlich durcheinander zu sein. Und Henry Morgenthau beobachtete scharf: „Der Präsident ist unwillig, in diesen Krieg zu ziehen. Er folgt lieber der öffentlichen Meinung, als sie zu führen.“ Roosevelt selbst gestand seinem

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Kapitel 7

Kabinett, er sei „nicht bereit, den ersten Schuss abzugeben“. Und, da er i­ mmer wieder beteuert hatte, die USA würden sich nicht an diesem Krieg beteiligen, gab er offen zu: „Ich warte darauf, in die Situation gestoßen zu werden.“57 Doch derzeit ignorierte Hitler den für ihn ausgelegten Köder, und die Schiffe der Wehrmacht verzichteten auf deutlich provozierende Übergriffe gegen US-Amerikaner auf dem Atlantik. Und Roosevelt Unverbindlichkeit betraf jeden – die Engländer wie die ­Staaten im Mittelmeerraum, bald auch die Sowjetunion und, natürlich, die ­bedrängten Juden Europas.

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Die Anfänge

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Kapitel 7

Europa September 1939 bis Juni 1941

Reykjavik

E U R O PÄ I S C H E S NORDMEER

ISLAND

Narvik

(1940 brit. besetzt)

Landung der Alliierten April/Mai 1940

Färöer

Andalsnes

(dän.) (1940 brit. besetzt)

ATL A N TI S C H E R OZEAN

Namsos

Shetland-I. (brit.)

Orkney-I.

SCHWEDEN

NORWEGEN 1940

Bergen

Oslo

Stockholm

Stavanger Glasgow

Nordirland

Belfast

Edinburgh

IRLAND

Birmingham

London

Nantes

GOLF VON B I S C AYA

MAROKKO

244

1940

DEUTSCHES Berlin REICH

Innsbruck

SCHWEIZ Lyon

V I C HY- R E G . 1940 unbesetzt Marseille

Toulon

MITTELMEER franz. Flotte am 3. Juli 1940 gesunken

Oran

Posen

Balearen (span.)

Algier

ALGERIEN 1940

1938

Graz

Triest Mailand Venedig Zadar Split Florenz

Genua

I TA L I E N

Korsika

S PA N I E N

S PA N . MA RO K KO

Lübeck Stettin

Bern

Vichy

Toulouse

Gibraltar (brit.)

OSTSEE

1940 Essen Kassel Brüssel Dresden Dünkirchen Köln land ten B ELG I EN R h e i n Prag de Le Havre 1940 Frankfurt Cˇ S S R land Pilsen 1939 Okt. 1936 . K R E I C H Paris LUX 1938 1940 Wien Stuttgart 1940 Straßburg München Ö STER R EI C H

Madrid

Tanger Rabat

Kiel Hamburg

N I ED ER L A N D E Amsterdam Evakuierung Rotterdam

Bordeaux

PORTUGAL

Kopenhagen

Su

FRAN

NORDSEE 1940

Coventry Bristol

Plymouth

Lissabon

1940

GROSSB R I TA N N I E N

Dublin

Brest

DÄNEMARK

Rom

(franz.)

Sardinien

ADRIA

Neapel

TYRRHENISCHES MEER

Palermo Bizerte Tunis

TUNESIEN 1940

Messina

Sizilien Malta (brit.)

Die Anfänge

Petsamo

Achsenmächte und Eroberungen der Achsenmächte bis 19. August 1939 Eroberungen und Verbündete der Achsenmächte bis 21. Juni 1941 Vichy-Frankreich und von Vichy kontrollierte Staaten Östliches Polen, Estland, Lettland, Litauen von der Sowjetunion annektiert (vor der deutschen Invasion) Alliierte und von den Alliierten kontrollierte Gebiete Neutrale Länder

Murmansk

H.-I. Kola (1940 sowjet.)

WEISSES MEER

Archangelsk

Tornio Oulu

Nurmes

FINNLAND 1941

Vaasa

Onegasee (1940 sowjet.)

Kuibyschew

Ladogasee

Wyborg

Gorki

Leningrad

Turku Helsinki

SOWJETUNION

Nowgorod

Tallinn

Moskau

E STL A N D

Saratow Tula

Riga L ET TL A N D

L ITAU EN Kaunas

1939 Memel

Wilna

Königsberg Danzig

Ostpreußen

Pinsk

UNGARN 1940 Budapest

1940

Tirana

1939

ar

ab

ie

Odessa

n (1940 sowjet.)

Ruse

Schlacht von Kap Matapan 27. März 1941

ER

SYR I EN brit. frei-franz. besetzt 1941

TÜRKEI

Kavalia

Athen

ME

Burgas

Thessaloniki 1941

ES ARZ

I RA N

1941 besetzt

Warna

Plovdiv

Patras

Batum

Krim

Sewastopol Jalta

SCHW

Zypern

GRIECHENLAND

Missolonghi Brit. Luftschlag 11. Nov. 1941

ss

BULGARIEN

Skopje

Dnjepropetrowsk

Ploiesti

1941

Nisch Sofia

ALBANIEN Tarent

Be

Bukarest

J U G O S L AW I E N

Taganrog

Kiew

Ukraine Tarnopol

RUMÄNIEN

Szeged Subotica 1941 Sarajevo

Schitomir

Astrachan

Kursk

Tschernigow

Brest-Litowsk Lodz Warschau Lublin POLEN Lemberg Krakau

Durazzo

Stalingrad

Minsk

Rhodos (ital.)

L I BA NO N

PA L ÄSTI NA TRA NS J O R DA N I EN

SAU DIARABIEN

Kreta

(griech.)

MITTELMEER

I RA K brit. besetzt 1941

ÄGYPTEN 1940

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Kapitel 8

Gottes Mühlen Während Roosevelt im Frühjahr 1941 noch nach einer Strategie suchte, hatte Adolf Hitler seine bereits gefunden. Hitler, dieses Produkt aus kochender Wut, Rücksichtslosigkeit und kruden Vorstellungen, weigerte sich schlichtweg, seinen Armeen Einhalt zu gebieten, bevor der Sieg nicht vollkommen war. Wie er sich über seinen Tisch in der Reichskanzlei beugte, verfügte er über fast absolute Macht. Von frühmorgens bis spät genügte das Heben einer Braue oder ein Wink von seiner Hand, um das Schicksal von Millionen Menschen zu besiegeln, uralte Monarchien abzusetzen oder Staatsoberhäupter zu stürzen, ganze Landstriche zu versengen und Städte niederzubrennen. Je nach Lust und Laune konnte er ein Land am Leben lassen – oder ein ganzes Volk dem Tod übergeben. Er hatte die Instinkte eines Tyrannen, war jedoch überzeugt, dass er, und nur er, zugleich über den Sinn eines Staatsmannes und das taktische Gespür eines unschlagbaren Generals verfügte. Er schüchterte jedermann in seiner Umgebung ein – seine immer kleinere Entourage, seine Schmeichler Göring, Goebbels und Himmler, seinen Verbündeten Mussolini, der unbehelligt, aber so gut wie unbedeutend war, und die Strohmänner in den eroberten Satellitenstaaten, die Hitler wie unartige Kinder behandelte. Seine Generäle, allesamt erfahrene Männer, hätten sich das nicht bieten lassen dürfen. Doch jedes Mal, wenn er seiner obersten Militärführung Predigten über Politik, Geschichte und Strategie hielt, standen sie schweigend daneben, voller Ehrfurcht für den Führer. Hatte Hitler nicht Deutschlands Schicksal gewendet? Hatte er die Nation nicht aus den Tiefen der Verzweiflung geholt und sie auf einen neuen Höhepunkt der Macht geführt? Hatte er nicht gezeigt, wie man Propaganda mit Diplomatie mischte und dann Druck aus der Luft und Stärke am Boden einsetzte? So gesehen überraschte es wenig, dass seine Generäle, als Hitler sie Ende März 1941 zu einer weiteren Tirade geladen hatte, „vor ihm saßen“, wie sich ein Beobachter erinnerte, „in störrischem Schweigen, einem Schweigen, das nur zwei Mal unterbrochen wurde“ – ein erstes Mal, als die Versammelten bei Hitlers Erscheinen durch die Hintertür die Arme zum Gruß hoben, ein zweites Mal, als er sie wieder

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Gottes Mühlen

verließ.1 Die Generäle äußerten nicht nur keinen Widerspruch, sondern sprachen nicht ein einziges Wort. Das war ein Fehler. Denn bis Mai kam Hitler zu einer seiner verblüffendsten Entscheidungen in dieser Auseinandersetzung: Er wollte eine zweite Front eröffnen. Am 22. Juni würde die Wehrmacht einen umfassenden Angriff gegen die Sowjetunion beginnen. Berauscht von den bisherigen Erfolgen war Hitler überzeugt, nichts könne ihn aufhalten. „Wir müssen nur die Tür eintreten“, kreischte er vor seinem versammelten Stab, „und das ganze verkommene Gebäude wird einstürzen.“ Ein faszinierter Goebbels stimmte zu: „Der Bolschewismus wird zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.“2 Schon monatelang war diese Entscheidung diskutiert worden. Bei Lichte besehen, war sie der reinste Irrsinn: Zum einen fiel Hitler damit einem Verbündeten in den Rücken, denn noch am 12. November des letzten Jahres hatte die Fahne der UdSSR – Hammer und Sichel in gelb auf rotem Grund – neben dem Hakenkreuz im Wind geflattert, als man eine sowjetische Delegation in der Reichshauptstadt empfing, um sich über die Aufteilung großer Teile des Globus zu einigen. Zum zweiten hatte Hitler in Mein Kampf selbst darauf hingewiesen, ein Zweifrontenkrieg sei grundsätzlich zu vermeiden. Und seine eigenen Generäle hielten sich aus gutem Grund an eine der wichtigsten Lehren aus der Militärgeschichte: „Niemals in Russland einfallen“, war Russland doch ein Koloss mit Tausenden Kilometern Umfang und einer langen Vergangenheit als Verschlinger von Möchtergern-Eroberern: Das Osmanische Reich hatte gegen Katharina die Große ebenso wenig ausgerichtet wie Napoleon gegen Zar Alexander. Doch mochte Russland sich für andere Invasoren auch als unbarmherziger Friedhof gezeigt haben, Hitler sah für sich dort Möglichkeiten und wollte mit der Eröffnung einer zweiten Front einen Wendepunkt im Krieg herbeiführen. Es sollte der entscheidende Schlag sein, um die verhasste Sowjetunion zu unterwerfen, die Briten zu Friedensverhandlungen zu zwingen und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zuvorzukommen. Und auf dem Papier sah es auch so aus, als könnte dieser Plan aufgehen. Hitlers Armee war die beste in Europa, Stalins hingegen schien, nachdem es mehrfach zu Säuberungen unter seinen Generälen gekommen war, die schlechteste zu sein. Davon, dass die Rote Armee binnen sechs Wochen von Hitler zu besiegen sein könnte, waren deshalb durchaus auch britische und amerikanische Generäle überzeugt. Zudem zielte Hitlers Plan auf die Eroberung der Ölfelder im Kaukasus ab, was Deutschland entscheidende Ressourcen zur Fortführung des Krieges verschaffen würde. Und nicht nur Öl, sondern viele andere Ressourcen hätte eine be-

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Kapitel 8

siegte Sowjetunion zu bieten: Weizen und andere Landwirtschaftsgüter aus der Ukraine, Gas aus Rumänien, Obst und Gemüse von der Krim. Auch Zwangsarbeiter kämen Deutschland zugute, und Hitler würde „Lebensraum“ für das deutsche Volk im Osten gewinnen. Doch war das alles wirklich möglich? Viele hatten bezweifelt, dass Hitler die oppositionellen Parteien in Deutschland würde ausschalten können, aber war ihm das nicht doch gelungen? Nur wenige hatten geglaubt, er könnte Dissidenten und Juden gleichermaßen einpferchen, aber hatte er es nicht dennoch getan? Und wer konnte von sich behaupten, nicht von Hitlers fast vollständiger Kontrolle über Europa, vom Ärmelkanal bis zum Balkan, beeindruckt zu sein? Je länger Hitler darüber nachdachte, umso mehr Gründe fand er, die Sowjetunion genau jetzt zu überfallen. Großbritannien weigerte sich standhaft, sich geschlagen zu geben. Roosevelt schien, trotz all seiner Ängstlichkeit, nun doch den Weg zur militärischen Intervention zu ebnen und würde ab 1942 in der Lage sein einzugreifen.3 Und obwohl die UdSSR Teil des Dreimächtepakts war, verachtete Hitler die Bolschewisten und war überzeugt, die Sowjetunion werde vom „internationalen Judentum“ beherrscht. Er glaubte zudem, die Zeit in der Sowjetunion sei reif, das leidende, abergläubische Volk der Russen sehne sich zurück nach den alten Zarenzeiten und warte nur darauf, den eisernen Griff der Bolschewisten abzuwerfen. Hitler fällte seinen Entschluss demnach nicht über Nacht. Im Dezember 1940 hatte Hitler das Oberkommando der Wehrmacht geheißen, das anzugehen, was er bereits im Sommer angekündigt hatte: die Vorbereitung eines noch nie dagewesenen Landangriffs auf die Sowjetunion. „Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England, Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“, lautete seine Weisung Nr. 21. Der Codename für den geplanten Überfall war Barbarossa,4 zu Ehren des mittelalterlichen Herrschers Friedrich I., dem als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches überwältigende Siege in Europa gelungen waren. In einer Mischung aus moralischer Selbstgewissheit und Überheblichkeit war Hitler vor seine Generäle getreten und hatte sie über den unausweichlichen Todeskampf, den „heiligen Krieg“ zwischen dem Nationalsozialismus und dem gefürchteten Bolschewismus belehrt. Deutschland könne, indem es im Osten zuschlug, den Krieg im Westen gewinnen, so hatte er immer und immer wieder betont. Großbritannien würde Friedensverhandlungen anbieten, und die Vereinigten Staaten würden sich fernhalten. Im Folgenden hatte er eine der waghalsigsten jemals durchgeführten Militäroperationen umrissen, einen Vernichtungskrieg, bei dem sich 3,2 Millionen Männer auf einer Frontlinie von

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Gottes Mühlen

fast 3000 Kilometern nach vorne warfen, begleitet von einer bisher ungezählten Zahl von Flugzeugen, gepanzerten Fahrzeugen und Panzern. Das Schlachtfeld würde sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstrecken und über die vielen weitläufigen, offenen Ebenen dazwischen wogen. Nur wurde die Zeit langsam knapp. Schon zu Beginn des Frühjahrs hatte Staatssekretär Welles erste Berichte an den Kreml weitergeleitet, wonach Hitler plane, die Sowjetunion anzugreifen. Und weiterhin belauschten die alliierten Geheimdienste Gespräche über eilig gen Osten verlegte Divisionen. Doch im Durcheinander des Krieges vermochte niemand daraus Hitlers wirkliche Absichten zu erkennen. Schließlich gab es daneben auch Gerüchte über eine Frühjahrsoffensive gegen Großbritannien, selbst noch nachdem Hitler eine japanische Delegation empfangen und dabei deutliche Hinweise hatte fallen lassen, dass der Konflikt mit der Sowjetunion unausweichlich sei. Daher bereitete sich Stalin nur langsam auf den Ernstfall vor. „Abhängig von der internationalen Lage“, so ließ er Offiziere im Kreml wissen, „wird die Rote Arme entweder auf einen deutschen Angriff warten oder selbst die Initiative ergreifen müssen.“ Doch der Überfall kam wesentlich schneller, als er erwartet hatte. In der dritten Juniwoche 1941 erhielt der deutsche Botschafter in Moskau ein unverblümtes Fernschreiben aus Berlin: Deutsche Geschütze hätte um 3:30 Uhr an allen sowjetischen Grenzen das Feuer eröffnet. Inzwischen, zweieinhalb Stunden nach den ersten Salven und Bombardements, war der Himmel in glühendes Rot getaucht. Der Botschafter bestieg sein Auto und ließ sich zum sowjetischen Außenministerium bringen, wo er einem blassen, zitternden Molotow das Fernschreiben laut vorlas. Zunächst ließ der sowjetische Außenminister keine Regung erkennen, nicht einmal seine erschöpften Augen, die von dunklen Ringen gezeichnet waren, blinzelten. Dann aber fragte er Schulenburg, ob dies eine Kriegserklärung sei. Dieser bestätigte, und Molotow erwiderte: „Das haben wir nicht verdient.“ Stalin verfiel auf die Kriegsnachricht hin in eine Art Schockzustand, während Roosevelt zur selben Zeit im Weißen Haus noch selig schlief. Dies war der entscheidende Moment in Hitlers Leben, und in vielerlei Beziehungen auch der entscheidende Moment des Krieges. Bei der Vorbereitung der Invasion war Hitler zur Ansicht gelangt, Napoleon sei vor allem deshalb geschlagen worden, weil er sich auf Moskau konzentriert habe. Die Generäle der Wehrmacht widersprachen; sie vertraten die Auffassung, ein konzentrierter Angriff und die Einnahme Moskaus könnten den Kopf von der sowjetischen

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Schlange abtrennen und das ganze Land westlich des Urals kampfunfähig machen. Doch wie immer hatte Hitler das letzte Wort. Also fand der deutsche Überfall zugleich im Norden, im Süden und in der Mitte statt,5 und von Anfang an schien es, als wäre Hitler das Schicksal hold. In den ersten Tagen zerstörten deutsche Einheiten ganze Armeen und mehr Flugzeuge als in der gesamten Schlacht um England. Goebbels notierte jubelnd in seinem Tagebuch: „Nun donnern die Geschütze. Gott segne unsere Waffen.“ Hitlers Proklamation wurde über das Radio bekanntgegeben: „Damit […] ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.“6 Auch in den folgenden Tagen schlug die Wehrmacht mit ungekannter Rücksichtslosigkeit und Stärke zu. Winston Churchill sprach in seiner Rundfunkerklärung am Abend des 22. Juni von den „stumpfen, gedrillten, willfährigen und brutalen Massen dieser hunnischen Soldateska“, die „wie ein Heuschreckenschwarm das Land überkriechen“.7 Insgesamt setzten die Deutschen mehr als drei Millionen Soldaten, 3600 Panzer, 600 000 Motorfahrzeuge, 7000 Artilleriegeschütze, 625 000 Pferde und 2500 Flugzeuge ein. Und der Überraschungsangriff war geglückt. 600 Panzer in drei Divisionen walzten – gemeinsam mit Motorradfahrern, gepanzerten Fahrzeugen und Infanterie – im Norden eine hilflose Schützendivision der Sowjets nieder. In der Mitte setzten die Deutschen sogar noch mehr Männer ein, dazu rund 1500 Panzer. Verwirrt und voneinander abgeschnitten, funkten die überrumpelten sowjetischen Truppen vergeblich ins Hauptquartier: „Wir liegen unter Beschuss. Was sollen wir tun?“ Sie bekamen nie eine Antwort. Im Süden das gleiche Bild: Eine weitere deutsche Armee beendete dort den Widerstand der unglückseligen Verteidiger. Lange Reihen von Panzern erstreckten sich kilometerlang über befestigte Straßen, an brennenden russischen Dörfern vorbei, deutsche Kommandeure bellten Befehle, und die Artillerie klang aus der Ferne wie ein Echo dazu. Die Luftwaffe dominierte den Himmel: Nach dem ersten Angriff, der bereits Tausende von sowjetischen Flugzeugen zerstört und in unförmige, qualmende Metallhaufen verwandelt hatte, schossen die Deutschen nun noch 800 weitere Flugzeuge in der Luft ab. Das Ausmaß der russischen Katastrophe war gigantisch. Während russische Dörfer vollständig niedergebrannt wurden, eilten bewaffnete deutsche Einheiten auf parallel verlaufenden Pfaden weiter, marschierten dann querfeldein und schlossen dabei ganze sowjetische Divisionen, manches Mal gar

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ganze Armeen ein. Die Stadt Brest-Litowsk, ein wichtiger Punkt für die sowjetische Front, fiel rasch in deutsche Hände. Und am Ende der Woche hatte die Wehrmacht sowohl Litauen als auch Lettland erobert. Am nördlichen Abschnitt der Front, wo Leningrad das strategische Ziel war, rückten die deutschen Truppen bis nach Ostrow vor. Im mittleren Abschnitt verloren die Sowjets weite Teile Weißrusslands, auch Minsk wurde eingekesselt und innerhalb von fünf Tagen eingenommen. Binnen eines Monats gerieten damit etwa drei Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft, von denen die meisten nie wieder nach Hause zurückkehren sollten. Und Mitte Juli drängten die Deutschen gar bis Smolensk vor, womit sie nur noch rund 300 Kilometer von Moskau entfernt lagen. Mitte Oktober trennten sie nur noch 60 Kilometer von der Hauptstadt. Dies war ein in jeder Hinsicht gigantischer Krieg, und die Wehrmacht schien unaufhaltsam. Sie eilte über das Baltikum hinweg auf Leningrad zu, während General von Rundstedt in die Ukraine einfiel. Nach Riga an der Ostsee, nach Białystok in der Mitte und von Odessa bis Sewastopol am Schwarzen Meer ging der deutsche Vormarsch weiter.8 Der Führer hatte hochtrabend vorhergesagt, dieser Feldzug würde ein zweites Frankreich werden, ein Blitzkrieg, der innerhalb von acht Wochen vorbei sein solle, noch bevor der erste Schnee fiel. Seine Prophezeiungen schienen sich nun zu bewahrheiten. Die deutsche Infanterie bewegte sich derart schnell über sowjetisches Gebiet vorwärts, dass Pioniere und Melder sich beeilen mussten, Telefonkabel an die Frontlinie zu bringen – die Soldaten ließen das primitive sowjetische Kommunikationssystem hinter sich. Hitler stand nun als Herrscher an Europas Spitze wie noch niemand vor ihm. Kein Deutscher, auch nicht Napoleon und nicht einmal Julius Caesar, hatte derart große Landstriche erobert und so viele Völker besiegt. Der Kontinent lag ihm nun zu Füßen. Doch die Nationalsozialisten strebten nach mehr als nur nach Land oder Territorium. Zu diesem Eroberungsfeldzug gehörte auch, dass Hitler Heinrich Himmler autorisiert hatte, Zivilisten zu terrorisieren und alle sowjetischen Politkommissare hinzurichten. Bei der Plünderung ganzer Dörfer verübten die deutschen Soldaten unglaubliche Grausamkeiten. Und das war nur der Anfang. Während der ersten Tage des Einmarschs der deutschen Truppen fällten Hitler und das Reich eine weitere, schicksalhafte Entscheidung: Sie beschlossen die „Endlösung der Judenfrage“. Hitlers Ziel bei der Invasion der Sowjetunion war nicht allein die Eroberung von Gebieten und Reichtümern, sondern auch die Errichtung eines Reichs im

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Osten, wo er laut seiner mörderischen Prophezeiung die „jüdische Frage“ endgültig zu beantworten gedachte. Während also die Wehrmacht in einem 300 Kilometer breiten Streifen vorrückte, lag bereits Völkermord in der Luft. Für die Juden sollte das Sterben bald beginnen. Lange Zeit war eine territoriale „Endlösung“ erwogen worden.9 Ursprünglich hatte Hitler geplant, die europäischen Juden jenseits des Urals in den eiskalten, windgepeitschten Weiten Sibiriens anzusiedeln. Dort sollten sie sich als Sklavenarbeiter zu Tode schuften und als „Untermenschen“ verhungern. Dasselbe sollte auch für die fünf bis sechs Millionen Juden der Sowjetunion gelten. Mit für ihn untypischer Freimütigkeit prahlte Hitler vor Hans Frank, seinem persönlichen Anwalt und Generalgouverneur des besetzten Polen, dass die Juden nun „entfernt“ werden würden, genau wie er es 1939 prophezeit hatte. Dies mochte die Theorie gewesen sein, doch die Praxis sah völlig anders aus.10 In den eroberten Territorien der Sowjetunion wurde Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD – mobilen Tötungskommandos – befohlen, alle „radikalen Elemente“ auszurotten, was vor allem kommunistische Funktionäre wie Volkskommissare meinte, natürlich aber auch „alle Juden in Partei- und Staatsstellung“. Dabei wurde die beabsichtigte Barbarei nicht eindeutig bezeichnet. Was genau meinte „in Partei- und Staatsstellung“? Dieser Interpretationsspielraum wurde unterschiedlich genutzt. Zunächst war die Zahl der Getöteten noch recht klein, doch sie steigerte sich schnell. Die Einsatzgruppen zögerten nicht, sich an die Arbeit zu machen; zwei Tage nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ stellten Männer der Sicherheitspolizei 201 Juden in einem litauischen Dorf auf und erschossen sie. Bereits nach drei Wochen brüsteten sich die Sondereinheiten mit fast 3500 Opfern; bis August wurden mehr als 12 000 männliche Juden ermordet. Joseph Goebbels, der die detaillierten Hinrichtungsberichte studierte, war begeistert: „In den großen Städten“, schrieb er in sein Tagebuch, „wird ein Strafgericht an den Juden vollzogen.“11 Die Gräueltaten der Nationalsozialisten wurden schnell von örtlichen Antisemiten aufgegriffen und nachgeahmt. Einer der ersten Pogrome, die auf dem Gebiet Litauens stattfanden, ereignete sich in der Stadt Kaunas.12 Die örtlichen Antisemiten trieben Juden zusammen und brachten sie ins Stadtzentrum, während eine versammelte Zuschauermenge begeistert zustimmte. Dann begann die Gewalt: Man prügelte, unter Beifall und Gebrüll der umstehenden Litauer, einen Juden nach dem anderen zu Tode, wobei nicht einmal der Anschein eines Gerichtsverfahrens erweckt oder Gründe für die Hinrichtungen genannt wurden außer dem Hinweis, die Opfer seien Juden. Deutsche Offizie-

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re standen grinsend am Rand, machten Witze und hin und wieder sogar Fotos für die Nachwelt – oder um sie nach Hause zu ihren Familien zu schicken. Das brutale Vorgehen war ein öffentliches Spektakel, bei dem Frauen ihre Kinder auf die Schultern nahmen und hochhoben, damit sie die Prügelei besser sehen konnten. Robespierre, dem blutrünstigen Anführer der „Terreur“ während der Französischen Revolution, hätte dies vermutlich gefallen, der SS aber hat es ganz sicher zugesagt. Dieses Abschlachten dauerte 45 Minuten und wurde mit einem unfassbaren Genuss durchgeführt, bis kein Jude mehr am Leben war. Dann sprang einer der Einwohner auf den Hügel aus Toten, fing an zu tanzen und brachte der versammelten Menge ein Ständchen: die litauische Nationalhymne, begleitet auf einem Akkordeon. Am Ende hatten sie ein ganzes Stadtviertel ausgelöscht. Von nun an stolzierten uniformierte NS-Anhänger, eitel, brutal und größenwahnsinnig, im Osten umher und wohnten mit besonderem Vergnügen derartigen Ereignissen bei, zu denen sie die örtliche Bevölkerung anstachelten. Die Nationalsozialisten wiederholten immer und immer wieder, dieser Völkermord sei im Kampf um Leben und Tod gegen die Juden notwendig. Goebbels betonte verächtlich, Juden seien „scheußliche Gestalten“ und „Läuse“ und ihnen sei nur mit Grausamkeit beizukommen. „Wo man sie schont“, argumentierte er, „wird man später ihr Opfer sein.“13 Die Heeresoffiziere, deren Stimmen Gewicht hatten und denen man bessere Urteilskraft zugetraut hätte, pflichteten ihm bei. So ermahnte beispielsweise Generalfeldmarschall von Reichenau, der Befehlshaber der 6. Armee, seine Männer, sie sollten Träger einer „unerbittlichen völkischen Ideologie“ und „Rächer“ an dem jüdischen „Untermenschentum“ sein. In Berlin kommentierte Hitler das Gemetzel abstrakter: „Gäbe es keine Juden mehr in Europa“, sagte er, „würde die Einheit der europäischen Staaten nicht länger gestört.“ So fing es an. Zu Beginn waren die Opfer zumeist Männer, später jedoch verübten die Deutschen auch Massaker an wehrlosen Frauen und unschuldigen Kindern. Die Ermordung lief häufig darauf hinaus, dass man die nackten Juden zwang, sich an den Rand einer Grube zu knien, und sie dann mit Maschinenpistolen erschoss. So befahlen die Deutschen am 29. und 30. September 1941 auch den Juden in Kiew, sich am jüdischen Friedhof zu versammeln und all ihre Besitztümer, Geld, Dokumente, „Wertsachen“ und „warme Kleidung“ mitzubringen. Sie würden von hier aus – so sollten sie es zumindest glauben – in Züge steigen und umgesiedelt werden. Die Organisatoren hatten mit 5000 oder 6000 Menschen gerechnet, tatsächlich kamen aber mehr als 30 000 Juden zum befohle-

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nen Ort. Vor Angst außer sich, mussten sich die Opfer in einer langen, sich windenden Reihe aufstellen und ihr Gepäck abgeben, ihre Mäntel, ihre Schuhe, ihre Wertsachen, einfach alles bis hin zur Unterwäsche. Jedes Stück war akkurat auf den richtigen Haufen zu legen. Schuhe hierher. Mäntel hier. Hosen dort. Hüte hier. Strümpfe dort. Gürtel hier. Wertsachen hier. Und so weiter. Als sie sich ausgezogen hatten, befahl man ihnen, sich an den Rand eines frisch gepflügten Feldes zu stellen, oberhalb einer tiefen, engen Schlucht, deren Name traurige Berühmtheit erlangen sollte: Babi Jar.14 Die Deutschen ließen alte Männer und alte Frauen, auf deren schlaffe Bäuche und Brüste sie mit Gewehrläufen zeigten, Aufstellung nehmen. Sie positionierten Mütter, die kleine Kinder auf dem Arm trugen, und sie stellten Schulkinder auf. Dann ließen sie ihnen gegenüber Maschinengewehre aufbauen. Die Tötungskommandos begannen mit ihrer blutigen Arbeit, und es wurde ein blindwütiges und ausschweifendes Gemetzel. Maschinenpistolensalve folgte auf Maschinenpistolensalve, Stunde um Stunde, zwei Tage lang. Und während dieser zwei Tage stürzten die nackten Leichen der Opfer in eine Grube, nicht weit von einer ganz gewöhnlichen Straße und einer kleinen, harmlosen Stadt. Während sich die Senke mit den Toten füllte, stapelten sich die Körper aufeinander in immer neuen Schichten, und Blut tränkte die Erde. Viele starben sofort durch das Gewehrfeuer, andere hingegen wurden nur verletzt und gerieten wie verwirrte Tiere in ein Labyrinth, v­ ersuchten in die eine oder andere Richtung zu kriechen. Zu den verabscheuungswürdigsten Grausamkeiten von Babi Jar gehört es, dass manche Kinder einfach an den Beinen gepackt und lebendig in die Senke geschleudert wurden. Als an diesem Abend die Sonne unterging, trieben die Deutschen Menschen mit Pflügen und Spaten an, die Leichen gründlich unter dicken „Erdschichten“ zu verscharren. Da aber noch zahlreiche Opfer am Leben waren, war auch danach noch zu sehen, wie sich die Erde bewegte: Die sich windenden und zitternden Verletzten ruderten noch immer verzweifelt mit Armen und Beinen. Und schaurige Geräusche stiegen aus dem Boden herauf. Stöhnen war ebenso zu hören wie gedämpfte Stimmen der Opfer, die schmerzverzerrt nach einander riefen, und das Weinen und Würgen der Verwundeten. Die klagende Stimme eines Mädchens drang nach außen: „Mama, warum schaufeln sie Sand in meine Augen?“ Deutsche Soldaten und Angehörige der SS drehten weiter ihre Runden, arrogant und mutwillig, hielten Fackeln in die Höhe und „feuerten Kugeln“ aus ihren Pistolen auf jeden, der noch am Leben zu sein schien. Andere Deutsche

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marschierten über die Körper hinweg und trampelten auf der Suche nach Wertsachen auf Gliedmaßen und Bäuchen herum. Noch Stunden später waren einzelne Schüsse in der Nacht zu hören, während herumlungernde Soldaten Witze erzählten und scherzten. Insgesamt starben in Babi Jar mehr als 33 000 Juden. Ein junges Mädchen blieb erstaunlicherweise am Leben. Es verhielt sich ganz still und musste das Jammern und Keuchen der letzten Lebenden mit anhören, bis eines nach dem anderen erstarb. Es hörte die SS, die Befehle brüllte, hörte, wie die Deutschen die Toten untersuchten, und spürte ungekannte Schmerzen, als ein SS-Mann mit schweren Stiefeln nach den Brüsten des Mädchens trat und sich auf dessen rechte Hand stellte, bis die Knochen „knackten“. Es lag mit dem Mund nach oben und musste würgen – wegen des Drecks, während man es bei lebendigem Leibe nach und nach begrub. Mit letzten, verzweifelten Anstrengungen gelang es dem Mädchen, keuchend und voller Panik, sich aus der Erde auszugraben, „über die Kante zu klettern“15 und zu entkommen. Viele Jahre später war es die einzige Zeugin, die über die furchtbaren Verbrechen von Babi Jar berichten konnte. In einer grausamen Wendung des Schicksals war das Gemetzel von Babi Jar zum Teil erst möglich geworden durch Hitlers persönliche Entscheidung, seine vielgepriesenen Panzerdivisionen zur Einnahme von Kiew in den Süden zu entsenden, anstatt weiter auf Moskau vorzurücken. Der Kommandeur der Panzereinheiten war nach Berlin geflogen, um Hitler zu bitten, Richtung Norden zu ziehen, doch Hitler wollte Kiew. Seine Truppen hatten bis zum 27. September, zwei Tage vor dem Massaker von Babi Jar, weitere 650 000 sowjetische Kriegsgefangene gemacht, und der sowjetische Zusammenbruch bei Kiew war eine militärische Niederlage von bisher nicht gekanntem Ausmaß. Jede Hinrichtung in einer von Deutschen besetzten Stadt oder Siedlung zog weitere Hinrichtungen nach sich, und die gleichen Verbrechen wiederholten sich immer und immer wieder. Auch in Polen, im von den Nationalsozialisten besetzten Warschau herrschten Tod, Krankheiten und Verzweiflung. Die Menschen fragten sich, wie Hitler hatte so mächtig werden können, wie er Polen und die Tschechoslowakei und Frankreich erobern und die Sowjetunion hatte angreifen können. Sie wollten wissen, was mit den Vereinigten Staaten los war und warum sie nicht in den Krieg eingriffen. Die meisten Menschen erhielten jedoch keine Antwort auf ihre Fragen, sondern spürten vor allem eine tiefe Erschöpfung. Der stetige Hunger bohrte sich in ihre Mägen und machte sie schwindelig, doch den Besatzern genügte es nicht, die Menschen verhungern

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zu sehen. Eines Tages stießen deutsche Polizisten, die ein Zeichen setzen wollten, dreißig zitternde jüdische Kinder in mit Wasser gefüllte Lehmgruben und drückten sie so lange unter Wasser, bis sie ertrunken waren. Zeitgleich berichtete eine Zeitung, die Juden schlichen „wie Geister“16 durch die Ghettos. Überall im Osten suchten Juden Zuflucht in kleinen, engen Schränken, in Zwischendecken, sogar in Abwasserkanälen oder feuchten, verlassenen Gebäuden verbargen sie sich. Doch Horden von Nationalsozialisten und Kollaborateuren durchsuchten ein Haus nach dem anderen, bis das letzte Versteck zerstört war: „Wir fühlen uns wie Tiere, die von Jägern umstellt sind“, klagte ein 15-Jähriger, war doch das ganze Leben zu einem pervertierten Versteckspiel geworden. Und immer unerbittlicher wurden die Verfolger. Wo immer der deutsche Einfluss hinreichte, heuerten sie Mörder an, genehmigten sie Folter und genossen den Anblick von Blut. In der ukrainischen Hafenstadt Odessa wurden im Oktober desselben Jahres 19 000 Juden in ein eigens umzäuntes Stadtviertel gezwängt. Diese Mal gab es keine Erschießungen, doch stattdessen bespritzten die Henker ihre Opfer mit Benzin und verbrannten sie dann bei lebendigem Leibe in einem riesigen Feuer. Die Menschen heulten vor Schmerzen auf und starben einen qualvollen Tod, bis nichts mehr von ihnen übrig war als versengtes Fleisch und Reste von trockenen, weißen Knochen. In nur vier Monaten kam bei diesen Hetzjagden insgesamt eine halbe Million Juden um. Und wer bei Wintereinbruch noch am Leben war, dem erging es kaum besser. In Warschau zitterten 70 Kinder, denen sich die eiskalte Luft in die Lungen bohrte, bis sie schließlich auf den Straßen erfroren. Erfrorene Körper wurden zu einem „häufigen Anblick“ im Straßenbild. Halb irre vor Trauer drückten Mütter ihre toten Kinder an sich im Bemühen, die starren kleinen Körper zu wärmen. Womöglich noch erschütternder war der Anblick eines Kindes, das sich an seine Mutter schmiegte, ihr über das Gesicht strich und an ihren Ärmeln zog, weil es glaubte, sie schlafe bloß, wo sie doch in Wirklichkeit leise verstorben war. Ein feuriger Winston Churchill lieh in England den Juden seine Stimme in aller Öffentlichkeit. „Niemand hat brutaler gelitten als der Jude“, schrieb er in einem berühmt gewordenen Beitrag für den Jewish Chronicle. „Er hat die Bürde getragen und trägt sie noch immer, die kaum auszuhalten scheint. Er hat es nicht zugelassen, dass sein Geist nachgab: Nie hat er den Willen verloren, Widerstand zu leisen. […] Sicher wird das Leiden des Juden und sein Beitrag zum

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Kampf am Tag des Sieges nicht vergessen werden. […] Es wird sich zeigen, dass, auch wenn Gottes Mühlen langsam mahlen, sie doch äußerst fein mahlen.“17 Trotz all dieser Grausamkeiten hatten die Deutschen bis dahin noch nicht die systematische Ermordung aller Juden im Sinn. Vielmehr behielten sie eine Art territorialer Lösung im Auge, bei der sie die Juden irgendwo weit entfernt ansiedeln wollten. „Emigration“ und „Evakuierung“ lauteten die Parolen. „Wohin die Juden gebracht werden“, behauptete Hitler, „ob nach Sibirien oder Madagaskar, ist unerheblich.“18 Doch auch als Hitlers Rhetorik schärfer wurde, schwieg der Großteil der Welt dazu. Man tat seine Worte als Wutgeschrei oder Bluff ab oder fürchtete schlichtweg die Konsequenzen einer wirklichen Konfrontation. Nachbarn wie Gegner unterschätzten Hitler wieder einmal. Nicht nur Hitler, auch seine Führungsriege konzentrierte sich immer mehr auf die sogenannte „Judenfrage“. Über ihre Lippen kamen und aus ihren Füllern flossen immer häufiger mörderische Worte. Jeder Befehl, jede technische Frage im Umgang mit den Juden wurden ausgiebig analysiert. Jedes bürokratische Hindernis, das dem Ziel im Weg stand, Europa „judenfrei“ zu machen, wurde diskutiert. In Polen trugen sich die NS-Autoritäten mit dem Gedanken eines großen Lagers, in das man die Juden treiben könnte, damit sie in Kohleminen Zwangsarbeit verrichteten. Doch jeder Lösungsansatz warf neue Fragen auf: In diesem Fall etwa, was mit den Juden zu tun sei, die nicht arbeiten ­können? – Natürlich gab es noch immer die Option, die Juden ostwärts zu deportieren. Doch in welche Gegend genau sollten die Juden umgesiedelt werden? – Im Spätherbst stellte sich heraus, dass der Blitzkrieg, den Hitler für den Überfall auf die UdSSR vorausgesagt hatte, Illusion bleiben sollte. Und was war mit dem Transport? – Züge waren ohnehin schon Mangelware. Gäbe es nicht auch die Möglichkeit, die Juden durch Verhungern zu eliminieren? – Doch auch dafür wären ein eigens eingerichteter Bereich und ein entsprechender Transport dorthin vonnöten. Dass der Vormarsch auf die Sowjetunion stecken blieb, weil die Wehrmacht beim großangelegten Versuch, Moskau einzunehmen, scheiterte, ließ die Deutschen andere Optionen ins Auge fassen. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt noch keine koordinierte, umfassende Entscheidung über einen Völkermord gab, so begann Adolf Eichmann doch eifrig damit, einen Gesamtplan für die „vollständige Lösung der jüdischen Frage“ zu entwickeln, während sich Hermann Göring wiederholt für eine „Endlösung“ stark machte. Zu dieser Zeit gaben Himmler und Reinhard Heydrich den Startschuss für die Schaffung eines Vernichtungslagers in Riga, Lettland.

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Hier sollte ein Netzwerk aus Gefängnissen und Arbeitslagern entstehen, das bis zu zehn Millionen Juden aufnehmen konnte, doch wegen des dortigen Partisanenwiderstands gaben sie dieses Vorhaben wieder auf, ohne dass der Gedanke von einer angeblichen „Rache“ und „Vergeltung“, die es an Juden zu nehmen gelte, deshalb wieder verschwunden wäre. Im September gab Hitler sein Einverständnis dazu, deutsche, österreichische und tschechische Juden gen Osten zu deportieren. Die Lösung der Judenfrage müsse, so betonte er, „energisch“ angegangen werden, dürfe aber keine „unnötigen Schwierigkeiten“ machen. Etwa zu dieser Zeit drang auch Hans Frank in Krakau auf eine Entscheidung: „Mit den Juden – das will ich Ihnen auch ganz offen sagen – muß so oder so Schluß gemacht werden.“ Und Himmler unterstrich, dass die Juden „bis zum Letzten“ ausgelöscht werden müssten.19 Im Herbst 1941, also etwa zur selben Zeit, fanden die ersten Versuche der Nationalsozialisten mit Giftgas statt. Der bevorstehende industrielle Massenmord begann sich abzuzeichnen. Die Massenerschießungen und anderen Formen des Gemetzels wirkten sich zunehmend auch auf die Mörder selbst aus.20 Nicht einmal die so gepriesene SSDisziplin konnte verhindern, dass die Hinrichtungen Stress auslösten; es kam unter den Tätern immer häufiger zu Trunkenheit und Ausschweifungen. Auch aus der Armee selbst war ein protestierendes Grollen zu vernehmen. Ein NSFunktionär, ein gewisser Dr. Becker, ging sogar so weit, sich über die „immensen psychologischen Verwundungen“ und „Schäden“ an der Gesundheit der Männer zu beschweren. Wilhelm Kube, der Generalkommissar für Weißrussland, stimmte dem vor allem im Hinblick auf jenes Vorgehen zu, Verwundete lebendig zu begraben. Dies nannte er bestialisch. Die deutschen Behörden kamen letztlich zu dem Schluss, es müsse eine sauberere und weniger öffentliche Alternative zu den Massenerschießungen gefunden werden, was bald auch geschah. Schon 1940 hatten die Nationalsozialisten in Ostpreußen Gaswagen für die „Euthanasie“ genutzt, das heißt zur Ermordung von psychisch oder körperlich Beeinträchtigten. Auch in deutschen, österreichischen und polnischen Einrichtungen, in denen Behinderte oder chronisch Kranke lebten, leiteten die Nationalsozialisten Kohlenmonoxid durch Rohre ein oder brachten die Opfer in bereits mit dem Gas angefüllte Räume. In anderen Fällen erstickte man ältere Menschen mit Abgasen, die durch speziell dafür konstruierte Schläuche strömten. Die Deutschen experimentierten allerdings auch mit anderen Methoden, etwa stationären Tötungsaufbauten.

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Ab 1941 standen den Einsatzgruppen in den besetzten Ost-Gebieten dann 15 mobile Gaswagen für den Einsatz gegen Juden zur Verfügung. Den Kons­ trukteuren hatte jedes noch so kleine Detail am Herzen gelegen. So hatten sich die Deutschen Gedanken über die Witterung gemacht und angeordnet, die Lastwagen sollten nur bei „absolut trockenem Wetter“ eingesetzt werden. Sie sorgten sich um Nebenwirkungen bei den Henkern und kümmerten sich um das Aussehen der Lastwagen, die sie mit hübsch aufgemalten Fenster­läden als Wohnwagen tarnten. Manche sorgten sich sogar um die Todesart ihre Opfer: Dr. Becker hielt in einem Memorandum fest, dass bei korrektem Einsatz des Gases „der Tod schneller [eintrete]“ und die Opfer „friedlich“ einschliefen.21 Ein weiterer Versuch mit einer tödlichen Substanz fand im Konzentrationslager Auschwitz statt, wo damals noch vor allem politische Gegner der Nationalsozialisten gefangen gehalten wurden. Am Abend des 2. September 1941 marschierten dort mehrere Hundert sowjetische Kriegsgefangene in den Keller von Block 11. In völliger Dunkelheit drängten sie sich in den Raum und wurden mit Zyklon B vergast. Schnell machte die Neuigkeit die Runde und erreichte auch die Führungsriege des „Dritten Reichs“. Der Versuch galt als voller ­Erfolg. Anfang Januar 1942, nicht einmal einen Monat nach Kriegseintritt der USA, bereiteten die Deutschen eine Konferenz am Rande des wunderschönen Wannsees vor, im Westen Berlins. Das Ziel war ein „gemeinsames Gespräch“ über die im Zusammenhang mit der „Endlösung“ anstehenden Arbeiten. Es würde, in den Worten eines NS-Offiziellen, eine „großartige Diskussion“ werden. Zuvor hatten die Deutschen einen weiteren Vergasungsversuch durchgeführt. In der Abenddämmerung des 7. Dezember 1941 – als gerade japanische Flugzeuge die US-Flotte in Pearl Harbor zerstörten – hatte man Hunderte von Juden in Lastwagen über eine ausgefahrene Straße in der Nähe des polnischen Dorfes Chelmno transportiert. Man hatte ihnen das Übliche erzählt: Sie würden zu einem rund sieben Kilometer entfernten Bahnhof gebracht, von wo aus sie zur Arbeit in der Landwirtschaft oder zu Fabriken im „Osten“ gefahren würden. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hielt man die Verängstigten und Verwirrten in einer kleinen, heruntergekommenen Villa am Rande des Dorfes fest. Am nächsten Morgen drängte man 80 der Gefangenen in einen speziellen geschlossenen Gaswagen, der sich dann zu einer Lichtung in den dichten Wäldern um Chelmno aufmachte.22 Als der Lastwagen mit laufendem Motor hielt,

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war die Luft für die Juden ohnehin bereits knapp, doch nun leitete man das Kohlenmonoxid in den Frachtraum, um den Insassen den Rest zu geben. Als man später die Türen öffnete, drang ein schrecklicher Gestank nach Abgasen und Schweiß nach draußen. Diese mörderische Arbeit hatte vier Tage angedauert und täglich waren 1000 Juden gestorben, 4000 insgesamt. Die Leichen waren in einem Massengrab auf der Lichtung verscharrt worden. Am 7. Dezember, jenem Tag, den Roosevelt aus ganz anderen Gründen zu einem Tag der Schande erklärte, war für die Deutschen, unter größter Geheimhaltung, die Zeit der „Endlösung“ angebrochen.23 Die Opferzahl von Chelmno allein an diesen vier Tagen war beinahe doppelt so hoch wie jene beim japanischen Angriff auf Pearl Harbor. Und von da an arbeiteten die Lastwagen der deutschen Besatzer unermüdlich, ohne Pause, ohne Unterbrechung. Mehr als fünfzig Gemeinden wurden bei Chelmno ausgelöscht, wie ein Dorfbewohner trocken bemerkte: „Ein Tag – ein Tausend“. Hans Frank, kürzlich aus Berlin nach Krakau zurückgekehrt, informierte sein Kabinett voller Begeisterung über die Entscheidungen bezüglich der Juden. „Glauben Sie, man wird sie im Ostland in Siedlungsdörfern unterbringen?“, lautete seine rhetorische Frage. „Man hat uns in Berlin gesagt: weshalb macht man diese Scherereien; wir können im Ostland oder im Reichskommissariat auch nichts mit ihnen anfangen.“ Was also zu tun sei? Berlin habe schlichtweg geantwortet: „Liquidiert sie selber!“24 Von nun an blieb kein Jude mehr verschont. Zuvor waren bei deutschen Juden mit „arischen“ Partnern, bei jüdischen Helden des Ersten Weltkriegs und bei solchen, die nicht als „Voll-Juden“ galten, noch Ausnahmen gemacht worden. Heinrich Himmler selbst soll einmal, als ein Zug mit Tausenden deutscher Juden in Riga eingefahren war, Einhalt geboten haben, um ihre Exekution zu verhindern. Allerdings war sein Befehl zu spät gekommen. Nach der Wannseekonferenz sollte es derlei Zweifels- und Zwischenfälle nicht mehr geben.25 Am 20. Januar 1942 fuhren mehrere Limousinen durch Berlin, Wannsee, vorbei an sauberen, prächtigen Häusern, deren Wege gefegt und aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg, bis in eine Wohnstraße gegenüber des beliebten Strandbads. Sie bogen in die mit Bäumen gesäumte Auffahrt einer großzügigen,

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eleganten Villa ein, die, 1914 erbaut, nun der SS gehörte und als Konferenzzentrum genutzt wurde. Goebbels wohnte ganz in der Nähe. Nach und nach stiegen Repräsentanten aller wichtigen Reichsministerien aus ihren Wagen, um hier die „Endlösung“ zu besprechen. Versammelt waren Vertreter des Innen- und Justizministeriums, der Ostgebiete und des Außenministeriums, des Beauftragten für den Vierjahresplans und des Generalgouvernements, natürlich auch der Gestapo. Zudem waren Vertreter der Reichskanzlei und des Rasse- und Siedlungshauptamtes sowie der Parteikanzlei der NSDAP zugegen. Reinhard Heydrich führte den Vorsitz, sein Referent für „Judenangelegenheiten“, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann das Protokoll. Und nicht nur Eichmann, der mörderische Bürokrat, war zugegen. Auch Dr. Rudolf Lange, SS-Sturmbannführer, war deshalb eingeladen worden, weil er erfolgreich so viele deutsche Juden in Lettland hatte hinrichten lassen. Während sich die Konferenzteilnehmer in Berlin versammelten, war der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, anfangs eine einzige Welle des Erfolgs, kurz vor Moskau verebbt. Die Temperaturen dort waren inzwischen auf minus 20 Grad Celsius gefallen, die Haut der deutschen Soldaten war schwarz vor Erfrierungen, sogar die Kurbelkästen ihrer Fahrzeuge froren fest. Und während die Deutschen gezwungen waren, Schutz vor der Kälte zu suchen, begann die Rote Armee mit ihrem Gegenangriff. Hitler hatte vorhergesagt, die sowjetischen Gebiete westlich des Urals würden zu einem deutschen Garten Eden werden. Nun schien es jedoch fraglich, ob die Sowjetunion jemals vollständig erobert werden würde, und der Krieg zog sich hin. Zudem hatte der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor Hitler dazu gebracht, den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären, womit die Deutschen nun endgültig in einen Zweifrontenkrieg verwickelt waren. Doch nichts davon vermochte die Konferenzteilnehmer von diesem einen Ziel abzubringen: die „Endlösung der Judenfrage“ in Europa. Sogar für Nationalsozialisten war die Vorstellung, alle Juden Europas in die Ostgebiete zu bringen und sie dort zu töten, wahnwitzig. Die Ressourcen der Deutschen an Menschen und Material waren bereits stark beansprucht. ­Außerdem schraken einige deutsche Verantwortliche vor der Idee zurück, kostbare Arbeitskräfte und unersetzliche Facharbeiter, die ihnen bei den Kriegs­ anstrengungen gute Dienste leisten könnten, einfach zu töten. Und die Massendeportation der Juden – also das Versammeln, Registrieren, Dokumentieren und Transportieren von Millionen von Menschen – stellte eine riesige logistische Herausforderung dar. Schon allein die technischen Probleme waren überwältigend – in Chelmno beispielsweise funktionierten immer wieder die ­Versuchs-Gaskammern nicht wie gewünscht: Der Tod sollte innerhalb von

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­ öchstens 15 Minuten nach Einlass des Gases eintreten, doch das dauerte mith unter Stunden. Immer wieder waren Juden sogar dann noch am Leben, wenn die Türen wieder geöffnet wurden. Und dann die Koordination von Eisenbahn, Verwaltung, Gestapo und Armee, die alle an einem Strang ziehen und auf ein einziges, unabsehbares Ziel hinarbeiten müssten. Die Deutschen hatten vor etwas zu errichten, was es bis dahin noch nie gegeben hatte: eine umfassende Industrie der Zerstörung. Todeslager mussten in voneinander entfernten Orten errichtet, aufwendige Zeitpläne erstellt, Verwahrungsmethoden entwickelt werden. Für den endlosen Strom an Deportierten würden Transit-Ghettos nötig sein. Und die Deutschen waren auf die stillschweigende Zustimmung von vielen Tausenden unterschiedlichster Menschen angewiesen – von Verwaltungsangestellten, die keine Fragen stellten, und dienstbeflissenen Sekretärinnen bis hin zu aufmerksamen Bürokraten und SS-Angehörigen –, die alle ihre Aufgaben ohne zu zögern erledigten, in vielen Dörfern und vielen Städten, um die Juden auf ihren Weg zur „Umsiedlung“ zu bringen. Die Bevölkerungen vor Ort mussten entweder gemeinsame Sache mit dem Massenmord machen oder irgendwie zur Zusammenarbeit oder immerhin zur Duldung überredet werden. Doch zunächst war nicht einmal die Mitwirkung aller Deutschen garantiert. Auf dieser Konferenz, umgeben von verzierten Marmorpfeilern, wunderschöner Mahagoni-Vertäfelung, riesigen offenen Kaminen und lichtdurchfluteten Fenstertüren, verdeutlichte Heydrich zunächst allen Anwesenden, dass die „Endlösung“ viel umfassender werden würde als bislang angenommen. Emigration und Evakuierung seien nicht länger ausreichend. Auch die Erschießungen nicht. In aller Ruhe erklärte er, dass die „Endlösung“ nun auf alle elf Millionen in Europa und darüber hinaus verstreuten Juden ausgeweitet würde. Mit ausdruckslosem Gesicht verlas er eine Liste der betroffenen Juden vor,26 darunter auch die 330 000 Juden in Großbritannien; die 4000 Juden in Irland; die Juden in den neutralen Staaten – 55 500 in der Türkei, 18 000 in der Schweiz, 10 000 in Spanien und 8000 in Schweden – aber auch die verbliebenen 34 000 Juden in Litauen, wo bereits 200 000 durch die Einsatzgruppen ermordet worden waren. Keine Zahl war zu groß, keine zu klein, um bedacht zu werden. Das Land mit der größten Zahl an Juden war die Ukraine mit 2 994 684. Danach kam Deutschland mit 2 284 000 Juden. An dritter Stelle stand Deutschlands Verbündeter Ungarn, wo 742 800 Juden lebten. Platz vier nahm das noch unbesetzte Frankreich mit 700 000 Juden ein, jene in den französischen Kolonien Nordafrikas – Marokko, Algerien, Tunesien – inbegriffen. Die kleinste Zahl an

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Juden wurde mit 200 aus dem von Italien besetzten Albanien gemeldet. Sogar für die Juden in den USA gab es eine eigene Aufstellung, und auch Estland führte die Liste auf, allerdings als Land „ohne Juden“. Die Männer, die um den polierten Tisch saßen, hörten Heydrich zu, einem der grausamsten und brutalsten Massenmörder im „Dritten Reich“, wie er von Juden als „Untermenschen“ sprach und wie er den Ablauf der „Endlösung“ skizzierte. Europa werde, so erklärte er, von „West nach Ost durchkämmt“. Evakuierte Juden würden „Stück für Stück“ in sogenannte „Transit-Ghettos“ gebracht, bevor man sie weiter nach Osten schaffte. Die Juden sollten nach Geschlecht, Arbeitsfähigkeit und Herkunft getrennt werden, und Ländern, die bis dahin ihre Juden noch schützten, würde ein „Ratgeber“ für die jüdischen Fragen aufgezwungen.27 Und noch eine weitere Entscheidung trafen die Konferenzteilnehmer: Sie beauftragten Adolf Eichmann, Heydrichs rechte Hand, mit der Koordination aller Aspekte der „Endlösung“. Eichmanns Bevollmächtigte – seine Botschafter des Todes also – sollten in die europäischen Hauptstädte ausschwärmen, während er selbst aus Berlin die Anweisungen gab. Im Gegenzug wäre er über jede geplante und durchgeführte Deportation zu unterrichten. An solchen Details hing von nun an das Schicksal von Millionen Menschen. Fast über Nacht befanden sich Tausende von Eisenbahnstrecken unter seiner Federführung, ebenso wie eine umfassende Bürokratie des Tötens. Man würde ein ausgeklügeltes System der Verschwiegenheit errichten, um die wahre Natur der „Endlösung“ zu verschleiern. Nur Monate später hatte Eichmann seine Männer in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Norwegen, Rumänien, Griechenland, Bulgarien, Ungarn und der Slowakei installiert, und Telegramme wurden hin und her geschickt. Als sich die Konferenz dem Ende zuneigte und helle Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, saßen Eichmann, Heydrich und ein weiterer Kollege in Sesseln vor einem wärmenden Ofen. Heydrich genehmigte sich ausnahmsweise eine Zigarette, alle nippten am Brandy, wie sich Eichmann später erinnerte,28 und saßen wie Kameraden zusammen, die sich nach „langen Stunden der Anstrengung“ nun etwas entspannten. Mit dieser Macht, diesem Stammbaum und bald auch mit dieser Rassenreinheit würde das „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten unbesiegbar sein, davon waren sie überzeugt. Die Vernichtung der Juden werde, so spürten sie, eines Tages Ehrfurcht auslösen, die Größe ihrer Hinterlassenschaft bezeugen und sie selbst mit Ruhm umgeben. Zehn Tage später, genau neun Jahre nach seiner Machtübernahme, sprach Hitler vor einer großen, begeisterten Menge im Sportpalast von Berlin. Seine

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Worte, die über das Radio in ganz Berlin und dem ganzen Reich verbreitet wurden, waren auch in Washington und London zu hören. Seine Botschaft war so eiskalt wie immer: „Und es wird die Stunde kommen, da der böseste Weltfeind aller Zeiten wieder wenigstens vielleicht auf ein Jahrtausend seine Rolle ausgespielt haben wird.“29 Nach Abschluss der Wannseekonferenz und nachdem ein Großteil Osteuropas vom Rest der Welt abgeschottet worden war, begann die SS, abgelegene Dörfer westlich des Flusses Bug, an der ehemaligen Grenze zwischen Deutschland und Polen, zu durchkämmen. An drei der vier ausgewählten Standorte begannen kurz darauf Männer zu hämmern und zu fluchen, zu sägen und zu bauen, um alte Arbeitslager in neue Todeslager umzurüsten.30 Mit diesen Arbeiten, entsprechenden Bauplänen und Machenschaften wurde der formale Beschluss detailgetreue Wirklichkeit. Die Deutschen holten sich Rat bei Architekten und Handwerkern, bei der Gestapo, führenden Industriellen und Experten in Fragen des Seuchenschutzes. Während sie Sherry herbeischaffen ließen und Kaviar genossen, bestaunten sie die Modelle der Architekten. Und während die Zwangsarbeiter in Dreck, Kälte und Dunkelheit die Lager errichteten, stolzierten die SS-Männer wie römische Kaiser umher und zwangen die Gefangenen, härter und schneller zu arbeiten. Auch wenn Arbeiter an Erschöpfung, an ­Typhus oder einer anderen Krankheit starben, ging die Arbeit weiter. Wo einst weitläufige Wälder gestanden oder sich bereits Arbeitslager befunden hatten, war nun eine gigantische Baustelle. Doch hier ging es nicht um ein ehrwürdiges Versailles mit kunstvoll getrimmten Hecken und sprudelnden Brunnen. Auch entstand hier kein kaiserliches Forum wie in Rom, auf dem sich Menschenmengen zu großen Feierlichkeiten drängen würden, und auch kein glanzvoller Tempelkomplex wie im ägyptischen Karnak. Eine Anlage wie diese, die ausschließlich dem Tod und eben nicht dem Leben gewidmet war, gab es nur unter Adolf Hitler im „Dritten Reich“. Jeder der vier ausgewählten Orte lag an einer Eisenbahnstrecke, die ihn mit vielen Städten verband, in denen halb verhungerte Juden zusammengedrängt waren. Der erste Ort, Belzec, war mit Lemberg und Krakau verbunden und erfasste das gesamte polnische Galizien. Hier gab es sechs Gaskammern, die wie ein Badehaus aussahen. Man hatte das Gebäude sogar mit Geranien geschmückt und als „aufmerksame kleine Witzelei“ mit einem auf das Dach gemalten Davidstern versehen. In Belzec konnten bis zu 15 000 Menschen am Tag getötet werden. Per Eisenbahn aus Warschau erreichte man Treblinka, das zweite Ver-

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nichtungslager, wo es nicht weniger als 30 Gaskammern gab, in denen 25 000 Menschen täglich ermordet werden konnten. Das dritte Lager, Sobibór, lag zwar tief in den Wäldern, war aber ebenfalls per Zug über Chełm für den Transport vieler jüdischer Gefangener zu erreichen. Nach dieser Stadt war auch das vierte Lager Chelmno benannt worden, das bereits seit Dezember 1941 existierte. Ein fünftes Lager aber lag nicht versteckt hinter entlegenen Dörfern am östlichen Rand Polens, wo die Häuser sauber und klein waren und in fast jedem Garten Blumen blühten. Vielmehr lag es in der Nähe einer recht großen Stadt, die über einen bedeutenden Eisenbahnkontenpunkt verfügte, der sie mit allen großen Ländern Europas verband – im Westen mit Frankreich ebenso wie mit Belgien, im Süden sowohl mit Jugoslawien als auch mit Italien, dazu mit dem Deutschen Reich selbst und dem angeschlossenen Eisenbahnnetzwerk in Polen. Bis zum Frühjahr 1942 war es ein Arbeitslager gewesen, dann aber begannen die Arbeiten für ein neues Lager in einem nahegelegenen Birkenwald. In AuschwitzBirkenau, wie das Lager deshalb genannt wurde, leisteten die Gefangenen schon bald Zwangsarbeit für die Kriegsbemühungen der Deutschen – in Fabriken zur Herstellung von Treibstoff aus Steinkohle und zur synthetischen Kautschukproduktion, in Militär- und Wirtschaftsunternehmen sowie in Kohleminen. Im Juni 1942 starteten die Deutschen ihr Programm zur Deportation der Juden aus Westeuropa. Im Juli waren die ersten Transporte unterwegs, und Juden aus polnischen und deutschen Ghettos kamen per Eisenbahnladung in den Lagern an. Noch im Sommer 1942 wurden weitere Gaskammern gebaut und das System des industriellen Massenmords in Gang gesetzt. Von nun an wurde das, was bislang vereinzelt und episodenhaft, zufällig und häufig improvisiert stattgefunden hatte, methodisch und permanent durchgeführt. Die „Endlösung“ kam mit verstörender Geschwindigkeit in Gang. Am Jahresende vermeldete die SS erste „Erfolge“: Hatte man bis Ende 1941 rund 500 000 Juden aus den eroberten sowjetischen Gebieten ermordet, waren bis Ende 1942 rund vier Millionen Juden tot. Es war, als hätte ein Erdbeben den Kontinent zersplittert – ein Wendepunkt, nach dem die Geschichte der Menschheit nie mehr dieselbe sein würde. Und doch vollzog sich das Beben weitgehend unbemerkt. In den Vereinigten Staaten galt es, Fabriken zum Laufen zu bringen und Soldaten auszubilden. Und die alliierte Welt konzentrierte sich und ihre Kriegsmaschinerie auf den Pazifik und Nordafrika, wo sich die Briten auf einen Kampf gegen Rommel vorbereiteten und auf die US-Amerikaner hofften.

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Bei Lichte besehen befanden sich die USA auch 1942 schon seit mehreren Monaten im Krieg mit Deutschland, ohne bislang allerdings einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Dies änderte sich nun. Während im Frühjahr britische Einheiten in Nordafrika ihren Kampf mit Rommel austrugen, besprachen sich in Washington und London Regierungsvertreter nächtelang über die Folgen einer zweiten Front gegen Hitler. „Wir müssen nach Europa ziehen und dort kämpfen“, verkündete Dwight D. Eisenhower, „und wir müssen damit aufhören, Ressourcen in der ganzen Welt zu verschwenden.“31 Eisenhower, Kriegsminister Henry Stimson und General George Marshall zeigten sich felsenfest davon überzeugt, nur ein direkter Angriff würde ausreichen, die Truppen der Wehrmacht in Europa aufzuhalten und zu vernichten. Ginge es nach ihnen, sollten die Vereinigten Staaten in den kommenden sechs Monaten in Großbritannien eine Invasionsarmee aufstellen und im Frühling 1943 über den Ärmelkanal hinweg angreifen. Sie dachten ganz geradlinig: Marshall und Eisenhower träumten von einer alles entscheidenden Schlacht, einem Angriff über Land mit der größten Truppenstärke, die „so schnell wie möglich“ aufzustellen wäre, um mit den fähigsten amerikanischen Panzerkommandeuren in einem offenen Kampf auf europäischem Boden die berühmten deutschen Panzer zu besiegen. Churchill war anderer Meinung. Er glaubte nicht, dass die Alliierten bereit seien, die Wehrmacht in Frankreich anzugreifen. Zudem war er noch immer geprägt von der Schlacht an der Somme, einem entsetzlichen Gemetzel während des Ersten Weltkriegs, als aufseiten der Briten an einem einzigen Tag 60 000 ihrer besten jungen Männer fielen. Daher bevorzugte er einen Angriff über die Flanken, womöglich im Mittelmeerraum, in Nordafrika oder im südlichen Italien.32 Damit könne man das Vorgehen testen, und es sei, so formulierte er es selbst, besser, „von hinten zu kommen als durch die Mitte.“ Unbeeindruckt davon fuhren Eisenhower und Marshall fort, ihre Pläne für die Überquerung des Ärmelkanals weiter auszuarbeiten.33 Es gab zu diesem Zeitpunkt zwei Code-Namen: „Operation Bolero“ für das Aufstellen der alliierten Truppen sowie „Operation Roundup“ für den tatsächlichen, für 1943 geplanten Angriff auf das besetzte Frankreich. Mit großem Aufwand präsentierte man das Vorhaben Ende März 1942 dem Präsidenten. Sollten die sowjetische Armee zuvor zusammenbrechen – eine Angst, die besonders Roosevelt plagte –, hatte man für den Fall der Fälle eine begrenzte Notfall-Operation spät im Jahr 1942 geplant, mit der man die deutschen Ressourcen aufspalten wollte. Würde Roosevelt diese Pläne genehmigen? Der skeptische Stimson zweifelte

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daran; er befürchtete, dem Präsidenten fehle es an „der Kaltherzigkeit“, die ein derart großes Unternehmen zu diesem Zeitpunkt verlangte. Roosevelt überraschte sie jedoch, als er den Plänen nicht nur zustimmte, sondern zugleich George Marshall und seinen persönlichen Assistenten Harry Hopkins nach London sandte, um mit Churchill ein solches Vorgehen zu besprechen. Churchill und seine Mitarbeiter zeigten sich bei den Gesprächen mit den US-Amerikanern in 10, Downing Street eher zurückhaltend. Dabei wussten sie durchaus, wie wichtig der ihnen vorgeschlagene Plan für den Präsidenten war, hatte Roosevelt doch sogar dem Premierminister telegrafiert: „Was Harry und George Marshall Ihnen erläutern werden, hat meine vollste Unterstützung und entspricht meinen Vorstellungen.“34 Zur Überraschung von Marshall erwies sich am Ende des Wochenendes Churchill als ungewöhnlich kooperativ. Mit einem Nicken, einem Blinzeln und einem Lächeln unterstrich Churchill, er sei „offen“ für die amerikanischen Alternativen. Er schien sogar der „Operation Bolero“ zuzustimmen. „Alles gut“, telegrafierte Hopkins an Roosevelt. Tatsächlich war dieses Wochenende aber ein meisterliches Beispiel für die Schauspielleistung eines Premierministers, der sein Volk am Rande einer Katastrophe hinter sich versammelt hatte und nun im Beisein der amerikanischen Delegation versuchte, Zeit zu gewinnen. Vor Freude darüber, dass Churchill offenbar seine Meinung geändert hatte, schickte Roosevelt ein Telegramm an Josef Stalin und lud den sowjetischen Außenminister nach Washington ein, um die Pläne für eine zweite Front zu besprechen. Wjatscheslaw Molotow betrat am Nachmittag des 29. Mai, an einem Freitag, das Weiße Haus.35 Mit zwei Übersetzern an seiner Seite ging Roosevelt ihm entgegen, um Molotow die frohe Nachricht zu überbringen. Der Präsident hatte in einem Memorandum an seinen Generalstab erklärt: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist unser wichtigstes Ziel die Unterstützung Russlands. Es muss immer wieder betont werden, dass die russischen Armeen mehr Deutsche töten und mehr Material der Achsenmächte zerstören als die anderen 25 verbündeten Nationen zusammen.“ Roosevelt ließ seinen Charme spielen, und Molotow, der eulenhaft durch seine runden Brillengläser blickte, war hartnäckig und streitbar. Roosevelt wollte Molotow glücklich machen, und Molotow wollte Stalin glücklich machen. Am Ende fügte sich Roosevelt. Ohne darzulegen, wann und wo die zweite Front eröffnet werden würde, erklärte er dem sowjetischen Außenminister, er könne Stalin ausrichten, dass sie die Bildung einer zweiten Front noch dieses Jahr erwarteten. Nun folgte Machenschaft auf Machenschaft.36 Mit wachsendem Interesse – und wachsender Sorge – beobachtete Churchill von London aus, was alles um

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ihn herum geschah. Er hatte bereits geahnt, was kommen würde, und als er vom Ergebnis des Gesprächs zwischen Roosevelt und Molotow erfuhr, war er bestürzt. Churchill reagierte prompt. Bereits am 10. Juni informierte er Molotow, der sich gerade in London aufhielt, darüber, dass er sich einem Angriff über den Ärmelkanal hinweg, der noch 1942 erfolgen sollte, widersetzen würde. Am folgenden Tag votierte auch das britische Kabinett dafür, eine solche Invasion auf 1943 oder später zu verschieben. Und Churchill entschloss sich, augenblicklich nach Washington zu fliegen, um mit dem Präsidenten persönlich die weitere Militärstrategie zu besprechen. Am 18. Juni kam der Premierminister in Washington an und flog am folgenden Morgen weiter nach Hyde Park. Churchill ahnte nicht, dass Roosevelt bereits politischen Gegenwind spürte. Der Präsident war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Plänen Marshalls und Eisenhowers zuzustimmen, und der Hoffnung, seinen engsten Verbündeten, Churchill, irgendwie beruhigen zu können. In einem plötzlichen Wandel fuhr der Präsident Marshall an, es sei nun Zeit, die Fragen nach der Invasion Nordwestafrikas „neu zu stellen“. Als sich Roosevelt und Churchill in Hyde Park zu Gesprächen zusammensetzten, überschüttete der Premierminister seinen Gastgeber mit Detailfragen über die Strategie der vorgeschlagenen Invasion.37 Gab es genug Fahrzeuge, um die Männer zu transportieren? Wo sollten sie landen? Wie viele Soldaten würden benötigt? Wie sah der Plan genau aus? Churchill wedelte vor Roosevelt mit den Fingern in der Luft herum und stellte Frage über Frage, auf die der Präsident längst nicht alle Antworten kannte. Daher wollte Churchill wissen, ob es nicht andere Möglichkeiten gäbe, den Druck auf die Sowjetunion zu verringern. Er dachte laut darüber nach: „Sollten wir nicht innerhalb des grossen Rahmens von ‚Bolero‘ irgendeine andere Operation vorbereiten, die uns vorteilhafte Positionen verschafft und direkt oder indirekt den gegen Russland ausgeübten Druck erleichtert?“38 Damit schlug Churchill genau das vor, worüber Roosevelt bereits nachgedacht hatte: eine Militäroperation in Französisch-Nordwestafrika. Am 20. Juni reisten die beiden Männer per Zug nach Washington und setzten ihre Gespräch am nächsten Morgen im Arbeitszimmer des Präsidenten fort. Inmitten ihrer Beratungen trat leise ein Mitarbeiter in das Zimmer und drückte Roosevelt eine Nachricht in die Hand. Ein erschütterter Präsident las die Notiz und reichte sie schweigend dem Premierminister. Nachdem er sie gelesen hatte, war Churchills Gesicht von Sorgen zerfurcht. Tobruk, die als uneinnehmbar geltende britische Garnison in Libyen, war in die Hände von General Erwin Rommels Afrikakorps gefallen.39 Die Informationen waren nur

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ungenau, und erst in den folgenden 18 Stunden zeigte sich das ganze Ausmaß der Niederlage. Die Briten hatten sich 33 Wochen lang tapfer der deutschen Belagerung widersetzt, doch nun waren 30 000 britische Offiziere und Soldaten zu Kriegsgefangenen geworden, und Rommel stand kurz davor, das strategisch wichtige Ägypten zu erobern. Dank seines Sieges war Rommel zudem an große Munitionsvorräte, Lebensmittel und, am wichtigsten, Benzin gekommen. Mit Hitlers Zustimmung prahlte Rommel, er sei auf dem Weg nach Suez. Churchill war frustriert. „Niederlage ist eines“, schrieb er später dazu, „Schande ein anderes.“ Im Rückblick urteilte er sogar, der Fall von Tobruk sei „einer der schwersten Schläge, die mir aus dem ganzen Kriegsverlauf in Erinnerung geblieben sind“. Der Präsident spürte Churchills Niedergeschlagenheit. Nach einem langen Moment des Schweigens fragte Roosevelt schließlich: „Was können wir tun, um euch zu helfen?“40 Churchill fasste sich wieder und antwortete: „Geben Sie uns so viele ‚Sherman‘-Panzer, als Sie entbehren können, und schicken sie schnellstens nach dem Nahen Osten.“41 Der Präsident stimmte umgehend zu, und schon nach wenigen Tagen verschifften die Vereinigten Staaten 300 Panzer und 100 Selbstfahrerlafetten zur 8. britischen Armee in Alexandria. Die Katastrophe von Tobruk beeindruckte Churchill tief und verstärkte noch seinen Widerstand gegen eine Invasion über den Ärmelkanal. Roosevelt, der sich ebenfalls von den Entwicklungen getroffen zeigte, verstand dies augenblicklich und lenkte das Gespräch auf eine Idee, die er in den Tagen zuvor Marshall gegenüber bereits angedeutet hatte: einen Angriff in kleinem Maßstab in Französisch-Nordafrika. Damit würde man zweierlei erreichen, so argumentierte er: Zum einen würde so den Briten im Nahen Osten der Rücken gestärkt, und zum zweiten würden die Deutschen gezwungen, Truppen von den Ostfront abzuziehen, wo sie den Russen gegenüberstanden. Ein erfreuter Churchill nahm den Vorschlag begeistert auf und rief dem Präsidenten zu: „Hier ist die wahre zweite Front des Jahres 1942! Hier wird der sicherste und fruchtbarste Schlag gezeigt, den wir ausführen können!“42 Somit blieb nur noch, Marshall und Eisenhower zu informieren und die Operation in Gang zu setzen. Sie wurde als „Operation Torch“, zu Deutsch „Fackel“, bekannt.43 Das war ein klassischer Roosevelt gewesen: Seine ad hoc getroffenen Entscheidungen basierten nicht auf detaillierten Analysen, sondern auf reiner Intuition.

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Seine wichtigsten Berater, die den Plan anschließend umsetzen mussten, waren strikt dagegen. Mit einigem Recht wiesen sie darauf hin, dass Roosevelt, als er vor wenigen Monaten eine Liste alternativer Militäroperationen erstellt hatte, diese Möglichkeit überhaupt nicht aufgeführt hatte. Nachdem er von der endgültigen Entscheidung erfahren hatte, notierte Eisenhower in seinem Tagebuch, der 28. Juli, an dem der Befehl unterschrieben worden war, würde als „schwärzester Tag“ in die Geschichte eingehen.44 Auch Kriegsminister Stimson und Marshall waren überzeugt, die „Operation Torch“ werde im Desaster enden, zu einem weiteren verdammten Gallipoli werden. Und sie hatten noch andere Bedenken: Roosevelt hatte Molotow versprochen, dass die zweite Front noch 1942 eröffnet werden würde. Doch die „Fackel“ war keine solche zweite Front. Zudem würden die Invasionstruppen nicht einmal gegen die Deutschen kämpfen. Ihre Feinde würden hauptsächlich Kolonialtruppen sein, die Frankreich in Nordafrika verteidigten – Truppen, von denen man bislang gehofft hatte, sie auf die Seite der Alliierten ziehen zu können. Politisch gesehen stellte die Operation ein Problem dar, verstärkte sie doch Stalins Misstrauen gegenüber seinen kapitalistischen Partnern und sein Gefühl, sie seien unzuverlässig. Und militärisch gesehen war sie aus Sicht von Eisenhower und Marshall mindestens ebenso ärgerlich und riskant. Das Ziel liege am Rand eines Kontinents, auf dem seit Jahrhunderten „keine großen militärischen Operationen“ mehr durchgeführt worden seien. Es ging um einen Tausende Kilometer langen Streifen aus Sand, Felsen und Bergen, der sich von Casablanca am Atlantik bis zur engen Landzunge erstreckte, die über das Mittelmeer in Richtung Sizilien und Süditalien zeigte, und auch die tunesische Küste irgendwo dazwischen umfasste. In Casablanca, Oran, Algier und Tunis herrschte Vichy-Frankreich wie die Sultane, und Rommels Armee führte sich in El Alamein, etwa 250 Kilometer nordwestlich von Kairo, auf wie eine römische Legion in ihrer Provinz. Hinzu kam die Frage der Planung. Anstatt sich systematisch über viele Monate hinweg vorbereiten zu können, „hatten [sie] nur Wochen“, wie sich Eisenhower beschwerte.45 Dies war eine für ihn untypische Übertreibung, aber es blieb wirklich nicht viel Zeit. Schließlich musste noch geklärt werden, wo die Landung erfolgen sollte. Im Gegensatz zu Europa lagen den Amerikanern nur wenig detaillierte bis gar keine Informationen über das Terrain vor. Und keine der ins Auge gefassten Optionen schien vielversprechend: Die Strände von Algerien waren zwar vor Wind und Wetter geschützt, ansonsten aber eher riskant, schließlich war es denkbar, dass die Deutschen durch Spanien vorstoßen würden, um die alliierten Invasoren über das spanische Marokko vom Nach-

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schub abzuschneiden. Und vom Atlantik aus an den westlichen Felsen Afrikas zu landen, war wegen des möglicherweise wilden Wetters gefährlich, schlugen doch bis zu fünfeinhalb Meter hohe, schaumbekränzte Wellen an die Strände von Casablanca. Und wollte man irgendwo aus dem Nordatlantik kommend landen, müssten sich Hunderte von Booten und Tausende von Soldaten ihren Weg durch tiefschwarze Gewässer bahnen, in denen deutsche U-Boote Jagd auf sie machten. Wie entschlossen die USA auch zu einer zweiten Front sein mochten, dies würde die Seemacht der Vereinigten Staaten im Pazifik schwächen. In Eisenhowers Überzeugung würde der Angriff, der sich statt ins Herz der Deutschen auf ihre Flanke richtete, den Krieg nur noch verlängern – ein tödlicher Fehler. Schlussendlich befürchteten die Gegner der „Operation Torch“ erneut, ein verzweifelter Stalin könnte einen Separatfrieden mit Hitler schließen. Und dieses Mal endgültig. Roosevelt nahm all diesen Ärger seiner Generäle in Kauf. Am 6. August fiel die endgültige Endscheidung, mit der auch Eisenhower zum Oberbefehlshaber der alliierten Invasionstruppen ernannt wurde. Roosevelts „geheimes Baby“ – die Worte Henry Stimsons – kam zum Vorschein.46 Ob diese Unternehmung den Krieg nun verlängerte oder nicht – die meisten Historiker tendieren heute zu einem „Nein“ – und ob sie einem großangelegten Angriff über den Ärmelkanal nun vorzuziehen war oder nicht, die „Operation Torch“ hatte doch den unleugbaren Vorteil, dass 1942 endlich US-Bodentruppen in den Kampf gegen die Achsenmächte geworfen wurden. Churchill und Roosevelt waren sich darüber im Klaren, auch wenn Eisenhower und Marshall es zunächst nicht einsahen. Erst später gestand Marshall: „Wir haben übersehen, dass der Führer einer Demokratie das Volk unterhalten muss.“47 Wobei der Begriff „unterhalten“ in diesem Zusammenhang ein eher geschmackloser Euphemismus ist. Angemessener wäre es, davon zu sprechen, dass Roosevelt mit der Unternehmung das amerikanische Volk motivieren wollte. In diesem Sinne schrieb er am 30. August an Churchill: „Ich habe das starke Gefühl, dass die ersten Angriffe ausschließlich von amerikanischen Bodentruppen geführt werden sollten.“48 Diese Angriffe sollten von britischen Luft- und Transporteinheiten unterstützt werden. Unklar war, wie man die amerikanischen von den britischen Soldaten würde unterscheiden können, denn wie Churchill Roosevelt gegenüber spöttisch witzelte: „Nachts sind alle Katzen grau“.49 Der Präsident fand beruhigende Worte. „Wir werden sehr eng beieinander stehen“, ließ er Churchill wissen, und dieser gab zurück, sollte es genehm sein, könnten die britischen Truppen auch amerikanische Uniformen tragen. Sie wären stolz darauf.

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Roosevelt antwortete: „Hurra!“ Am nächsten Tag zeigte sich Churchill einverstanden: „Okay. Volle Kraft voraus.“ Doch wann würde der Angriff erfolgen? Ursprünglich hatte Roosevelt Ende Oktober ins Auge gefasst. Mit wie zum Gebet gefalteten Händen hatte er Marschall angefleht: „Bitte fangen Sie vor dem Wahltag an.“ Doch Eisenhower und seine Kollegen arbeiteten bis ganz zuletzt an den Details – wochenlang stritten Briten und Amerikaner um einzelne Aspekte der Operation – sodass sich der Angriff bis fünf Tage nach der Wahl verschob: bis zum 8. November. Dies sollte Roosevelts erste größere Militäroperation während des Krieges werden – angeordnet gegen den Rat seiner Militärberater. Für den Präsidenten musste sie einfach zu einem Triumph werden.

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Riesige Friedhöfe Er hatte sich vermutlich niemals vorstellen können, dass das Leben irgendeines Menschen von ihm abhängen würde. Er hatte weder außergewöhnliche Ambitionen noch außergewöhnliche Fehler und ist somit durch und durch ein Rätsel. Eduard Schulte, stolz auf seine Herkunft und Deutscher vom Scheitel bis zur Sohle, war akkurat, ehrgeizig und hatte einen eisernen Willen.1 Zugleich war er verschlossen und wagte es nicht, irgendjemandem sein Innerstes zu offenbaren. So wurde er zu einem Industrie-Titan und besaß doch eine verborgene Seite, die seine Kollegen und jene elegante Gesellschaftsschicht, in der er verkehrte – die aus Männern mit weißen Krawatten und den dazugehörigen Frauen in Pelzmänteln bestand –, verblüfft hätte. Zweifellos war er selbst erstaunt, als plötzlich in Zeiten der NS-Barbarei möglicherweise das Schicksal Hunderttausender unschuldiger Juden und die Zukunft der „Endlösung“ in seinen Händen lag. Körperlich war Schulte ein beeindruckender Mann – ein Meter achtzig groß und breitschultrig. Seine Haut war blass, seine Nase ein Zinken. Seine Augen wirkten dunkel, traurig und grüblerisch. Sein Gang zeugte von Selbstsicherheit, auch wenn er deutlich hinkte – ein Andenken an einen Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte: Er war unter einen Eisenbahnwaggon geraten, woraufhin man ihm zunächst den linken Fuß, später das ganze Bein amputieren musste. Wenig in seinem Werdegang ließ erahnen, dass er eines Tages eine zentrale Rolle im Drama um die „Endlösung“ spielen sollte. Die Schultes lebten seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland, seine Großeltern wuchsen zwischen den spitzen Kirchtürmen und üppigen grünen Parks in Westfalen auf. Schultes eigenes Elternhaus in Düsseldorf war luxuriös und entschieden aristokratisch geprägt. Die Familie dinierte in exklusivem Kreis und vergnügte sich an außergewöhnlichen Dingen. Wie andere ihrer Gesellschaftsschicht – unter ihren Freunden befanden sich bedeutende Anwälte, Bankiers, Ärzte und Künstler – profitierten sie von den ersten Auswirkungen des Vorkriegswohlstands. Sie hielten sich stets nur in stilvoller Umgebung auf, und ihre Kinder, darunter auch Eduard, erlernten früh gehobene Umgangsformen. Eduard wählte später die Formulierung

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„Anstand und Würde“ als Lebensmotto. Die Leidenschaft der Familie Schulte galt der Jagd, weshalb sie ein Wochenendhaus außerhalb der Stadt besaß und sich Eduard Schulte später selbst Ländereien kaufen sollte, um darauf ein Jagdhaus zu errichten. Zudem sammelte die Familie goldene Uhren. Eine ganze Reihe von Bediensteten hielt den Haushalt der Schultes im Gang, darunter ein Koch, ein Butler und ein Gärtner, der sich täglich um die ausgedehnten Grünanlagen zu kümmern hatte; dazu kam ein Hauslehrer für die Kinder und ein kräftiges Kindermädchen, das die Kleinen badete und zur Ertüchtigung mit auf Stadtspaziergänge nahm. Zu Weihnachten pflegte die Familie Austern und Champagner zu genießen, dabei ritten die Kinder auf ihren Holz-Schaukelpferden oder spielten voller Begeisterung mit ihrer großen Sammlung von stabilen, grün emaillierten, aufziehbaren Eisenbahnen. Sie genossen das Leben in vollen Zügen, besuchten gern Kaffeehäuser und fuhren häufig in Urlaub, allerdings nur innerhalb Deutschlands – meist in den Schwarzwald. Die Schultes waren Protestanten und politisch konservativ, weshalb Eduards Eltern nach dem Ersten Weltkrieg, ab 1919, für die rechtsgerichtete Deutschnationale Volkspartei stimmten. Jedoch waren die Schultes in religiösen und politischen Angelegenheiten weder doktrinär noch ausgeprägt ideologisch, praktizierten ihre Religion allenfalls zurückhaltend – Eduard Schulte ging, selbst nachdem er Kinder bekommen hatte, nicht zur Kirche – und lasen die Frankfurter Zeitung, eines von Deutschlands bekanntesten liberalen Blättern. Ein sehr guter Freund von Eduard aus Kindertage war Jude, eine Tatsache, die seine Ansichten auch in den kommenden Jahren prägen sollte. Die beiden Kinder schwangen sich aufs Fahrrad, erkundeten Düsseldorf und tauschten sich über ihre Träume und Erlebnisse aus. Schulte war niemals Antisemit. Eduard las Robinson Crusoe, begeisterte sich für James Fenimore Coopers Der Wildtöter und sah sich stundenlang die Hochglanzfotos in Theodore Roosevelts Geschichten über afrikanische Safaris an. Von Anfang an galt Eduard als ein vielversprechendes Kind, was sich immer mehr abzeichnete, je älter er wurde. Im elitären Düsseldorfer städtischen Gymnasium galt er als Vorzeigeschüler, wo er Latein und später Griechisch gut genug lernte, um Homer im Original zu lesen und Passagen aus der Odyssee auswendig vortragen zu können, sein Englisch hingegen war wie damals in Deutschland üblich bestenfalls bruchstückhaft. Schulte hatte eine dominante Persönlichkeit, wobei er nur selten großspurig daherkam, es verstand, sich mit Höhergestellten oder Vorgesetzten gut zu stellen und Untergebene zu inspirieren.

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Als Junge malte er sich häufig aus, was er im Leben erreichen wollte. Dabei stellte er sich vor, wie er sich geschickt aus Schwierigkeiten herausmanövrierte. Und er dachte an Geld: Ehrgeizig und zielstrebig wie er war, wollte er reich werden. Bald schon verstand er sich auf die verstaubten Besonderheiten des deutschen Bankenwesens und bewies ein erstaunliches Talent für den Börsenhandel. Im Frühling 1913, nachdem er einen Abschluss in Rechtswissenschaften gemacht hatte, zog Schulte nach Berlin und wurde junger Angestellter bei der Berliner Handels-Gesellschaft, einer der größten Banken Deutschlands. Drei Jahre später trat er eine Stelle im preußischen Kriegsministerium an, die sich mit dem Nachschub beschäftigte: Obwohl noch recht jung, war er bereits verantwortlich für die Produktion und den Verkauf von Seife in Deutschland, eine profan klingende, aber bedeutende Position. Sein Aufstieg ging rasch weiter. Er heiratete 1917, bekam zwei Söhne, Wolfgang und Ruprecht, und war im Alter von 30 Jahren Geschäftsführer der Sunlicht-Seifenfabrik AG, wo er aufblühte. Mehr denn je zuvor konnte er sich über sein günstiges Schicksal freuen. Doch dann kamen die Rückschläge. Die Wirtschaft strauchelte, die Inflation nahm zu, und Eduard wurde entlassen. Keine anderen Stellenangebote konnten ihn locken. Der öffentliche Dienst in Bayern bot ihm eine Laufbahn an, doch er lehnte ab. Die Bezahlung hätte nur einen Bruchteil seines Gehalts bei Sunlicht betragen, und er verspürte keine Lust, den Rest seines Arbeitslebens damit zu verbringen, sich über Behördenpapiere zu beugen. Eine Weile lang konnte er sich nur für Weniges interessieren, bis er sich auf Empfehlung eines Freundes hin um die Stelle des Geschäftsführers bei einem der ältesten deutschen Unternehmen, dem Industrieriesen Giesche, einem der führenden Produzenten von Nichteisenmetallen, vor allem von Zink, bewarb. Das Unternehmen war alt, konservativ und angesehen – die Firmenchronik füllte drei dicke Bände, und das Unternehmen schien überall Einfluss zu haben. Es produzierte Chemikalien und Farben, verfügte über Binnenschiffe und besaß Basalt-Steinbrüche. Ein wenig übertrieben sprach sogar die New York Times von Giesche als „einem der ältesten industriellen Unternehmen weltweit“ und als einem der „wertvollsten“ in Europa. Schulte bewarb sich auf gut Glück – er war noch nicht mal 35 Jahre alt –, doch er meisterte eine Reihe von Vorstellungsgesprächen und wurde kurz darauf zum Direktor des Unternehmens ernannt. Zu diesem Zeitpunkt, nach dem Ersten Weltkrieg, war Giesche hoch verschuldet und finanziell nicht in der Lage, seine neuen Minen zu modernisieren. Dank seines umsichtigen Managements konnte Schulte die dringend benötigten Kredite an Land ziehen und sich auf geschickte Art und Weise die Partnerschaft mit dem legendären US-amerikanischen Finanzier Averell Har-

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riman und der Harriman's Anaconda Copper Mining Company sichern. Giesches Firmenzentralen lagen in Breslau (Wrocław), wohin Schulte mit seiner Familie zog, und in der polnischen Stadt Kattowitz (Katowice). Breslau war eine quirlige Stadt – die größte und wichtigste im östlichen Deutschland – und Mitte der 1920er-Jahre ein beeindruckendes kulturelles Zentrum. Es gab mehrere Tageszeitungen, eine barocke Altstadt, Freiluftkonzerte im Sommer und Schlittschuhbahnen im Winter, die blühende Universität nicht zu vergessen. Doch trotz all dieser Umstände war Breslau kein zweites München oder Hamburg, es war auch nicht so kosmopolitisch wie Berlin, London oder Paris. Die Luft war dreckig, die Straßen waren eng und riesige Fabriken bliesen dicke, schwarze Rauchwolken in den Himmel über der Stadt. Die Umgebung, einst recht wohlhabend, war nun ärmlich im Vergleich zum Westen Deutschlands. Hinzu kam noch, dass durch die weltweiten Wirtschaftsprobleme ein Großteil der Bevölkerung verunsichert und verängstigt war. Für Eduard hingegen hätte das Leben nicht besser sein können. Seine Familie bezog eine großzügige Zehn-Zimmer-Wohnung, welche die Firma in einem reichen Stadtteil für ihn gekauft hatte und die sich in einem Haus befand, wie es auch in Paris, London oder Berlin hätte stehen können. Auch die Lage passte perfekt: Innerhalb weniger Minuten waren die Schule der Kinder, der Tennisclub der Familie und ein Park zu erreichen, in dem die Schultes gerne spazieren gingen. Im Sommer fuhren sie ins Riesengebirge, und wenn Schulte geschäftlich in Deutschland, London, der Schweiz oder den USA unterwegs war, erwartete ihn stets eine luxuriöse Hotel-Suite – in New York im Waldorf Astoria und in Berlin im exklusiven Coburg. Er verdiente gutes Geld und investierte klug. Während der Weltwirtschaftskrise 1929 verlor er zwar vorübergehend alles, und 1932 ging auch noch der Zink-Markt in die Knie, doch schon 1935, da war Giesche bereits mit der NS-Regierung verflochten, füllte das ­Unternehmen seine Kasse neu, und auch Schulte war erneut vermögend. Mit der weitverbreiteten Ethik germanischer Reinheit kam er gut zurecht, während er sich – selbst stets auf sein Äußeres bedacht – über Fracks und Handküsse, auf welche die Oberschicht damals so viel gab, mokierte. Das zunehmend lichte Haar sorgfältig geschnitten, die leider schiefen Zähne gepflegt, trug er elegante Kleidung und bezog aus London die besten Anzugsstoffe. Seine Amputation kompensierte er durch heimisches Boxtraining, und genoss regelmäßig die Abgeschiedenheit und die Jagd auf seinem Landgut. Die Ehe mit Clara war eine dauerhafte und funktionierende Partnerschaft, obwohl die beiden in vielerlei Hinsicht eher gegensätzlich waren: Er war der praktische Geschäftsmann mit wenig Interesse an der Theorie; sie war eine

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Intellektuelle, die das Geistesleben liebte und an der Sorbonne und in London studiert hatte. Wo er reserviert, distanziert und ein Paradebeispiel für Understatement war, da war sie warm und empfindsam und immer anfällig für Depressionen. Während er das Scheinwerferlicht eher mied, stand sie gern Mittelpunkt – bei Zusammenkünften rund um den Kamin in ihrem Haus war sie die lebhafte Erzählerin. Sie unterhielt daher auch einen Salon in Breslau, der aktuelle Ereignisse diskutierte. Doch zumindest bei einer Sache ähnelten sie sich sehr: Er arbeitete viel und lange, nicht selten 16 Stunden am Tag, und auch sie hatte einen gut gefüllten Kalender und schrieb nebenbei zwei historische R ­ omane. Schulte war deutsch-patriotisch eingestellt, kein großer Anhänger der Demokratie und sah in der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg eine Katastrophe. Ironischerweise hatte er sich skeptisch über den überproportional großen Anteil von Adligen in der Weimarer Regierung gezeigt, doch lakonisch und zurückhaltend wie er war, behielt er alle darüber hinausgehenden politischen Meinungen für sich. Wer aber an der Oberfläche kratzte, fand Hinweise darauf, dass Schulte nach Hitlers Machtantritt 1933 nicht mehr recht zu Deutschland passte. Als sich die wirtschaftliche Situation Deutschlands verschlechterte und die Zahl der Hungernden anstieg – bis zu 15 Millionen Deutsche lebten gleichzeitig von staatlicher Unterstützung, und Berlin wurde zum Schauplatz der weltweit längsten Schlange für Brot, die sich den Kurfürstendamm hinauf zog –, ließ sich für Schulte das Problem nicht länger mit rechts oder links erklären. Der unglaubliche Zuwachs der NSDAP hatte diese Lager­ entscheidung aufgehoben. Schulte erblickte überall Alarmsignale:2 Die Nation schien rissig zu werden, NS-Schläger marschierten durch die Straßen, Hitler schien nach allen Seiten zu taktieren und ging gegen wirkliche wie gegen eingebildete politische Gegner mit brutaler Härte vor. Nicht nur die Juden, so hieß es, sondern auch Betrug, Verrat und ausländische Verschwörungen seien Deutschlands Probleme. Eines Nachmittags wurde vor den Augen von Schultes Familie ein polnischer Arbeiter von SA-Männern zu Tode geprügelt, und dann kam die „Nacht der langen Messer“: Im Juni 1934 verhafteten und ermordeten Hitlers Gefolgsleute angebliche politische Feinde. Mehrere Tage lang räumten die SS und die Gestapo – die berüchtigte Geheimpolizei – so potenzielle Konkurrenten Hitlers aus dem Weg. Unter den Toten, von den heute etwa 90 namentlich bekannt sind, war auch SA-Stabschef Ernst Röhm, dem Putschabsichten unterstellt wurden. Sogar Vizekanzler Franz von Papen wurde unter vorgeschobenen Gründen unter Hausarrest gestellt, und zwei seiner Mitarbeiter wurden erschossen. Der Kör-

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per eines Hitler-Gegners wurde in einem waldigen Gebiet außerhalb Münchens aufgefunden, den Staatsbediensteten hatte man offenbar mit Spitzhacken in Stücke zerfetzt. Und sowohl das Kabinett als auch die Gerichte gaben ihre Zustimmung zu diesen außergesetzlichen Tötungen und warfen damit jahrhundertealtes deutsches Recht über den Haufen. In der Zwischenzeit waren weitere Tausende Menschen nur aus dem Grund verhaftet worden, dass sie andere politische Vorstellungen hatten. Für die meisten Deutschen jedoch schien dies der Beginn einer wundersamen neuen Zeit der Erholung und des Wohlstands zu sein, Deutschlands lang ersehnte Wiederauferstehung und Erhebung. Der himmelschreiende Unterschied zwischen Arm und Reich wurde gemildert und alle Welt erging sich in patriotischer Inbrunst über die Nation. Man mobilisierte kompromisslos alle Ressourcen, und die meisten Deutschen waren begeistert. Sie hielten die neue Regierung für unbelastet von überkommenen Vorstellungen, veralteten Strategien und der Ineffizienz früherer, aristokratischer Regime. Nun breche, so dachte man, eine Ära an, die tausend Jahre dauern sollte. Wo der alte Staat verarmt war und aus den Nähten zu platzen drohte, schmiedeten die Nationalsozialisten die Deutschen nun zusammen. Ausländische Beobachter mochten Hitler verspotten, doch wie kein anderer Politiker wusste er, wie man den unterschwelligen Unmut der Deutschen reizen musste. Und das Volk jubelte. Nicht so Eduard Schulte. Zunehmend erschöpft und entmutigt, reifte in ihm die Überzeugung, die Nationalsozialisten seien wenig mehr als „Banditen“ und Monster, die „Deutschland ruinieren“ würden.3 Doch zu dieser Ablehnung gesellte sich Vorsicht – radikale NS-Sympathisanten gab es überall. Viele seiner Kollegen bei Giesche begrüßten Hitler voller Begeisterung, genauso sein Gärtner und die Putzfrau zu Hause. Er fürchtete, seine Kinder würden es bald unter dem Einfluss der Hitlerjugend ebenso sehen. Ihm war klar, dass die Nationalsozialisten, sollte er nicht vorsichtig seine Meinung für sich behalten, ihn bald unerbittlich ins Visier nehmen würden. So kam es, dass zu dieser Zeit nicht einmal Schultes beste Freunde wussten, welch starken Emotionen unter der kühlen Oberfläche brodelten. Angesichts solcher Zweifel blieben ihm wenig Möglichkeiten. Einige in seiner Umgebung argumentierten, Hitler würde von einer gutartigen Regierung schon vereinnahmt werden und nicht umgekehrt. Andere waren der Ansicht, Hitler sei das deutsche Gegenstück zu Franklin D. Roosevelt, dem Mann, der endlich die Stimmung im Volk erkenne, die Massen inspiriere und ihre Interessen verteidige. Schulte habe ja recht, die Nationalsozialisten predigten gleichermaßen den Tod wie das Leben und förderten einen mittelalterlichen Ter-

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ror ebenso wie den Fortschritt, aber geschah dies alles nicht zum Wohle des Staates? Schulte war anderer Meinung, hielt seine Zunge aber in Zaum. Je mehr Zeit verging, umso stärker wurde der Zugriff der NSDAP, und es gab kein Anzeichen für eine Empörung in Deutschland, die dazu hätte führen können, dass die Partei fortgespült werden würde, keine Gegenbewegung aus der Mitte. Hitler eilte ungehindert voran, schaffte die Arbeitslosigkeit ab, baute Autobahnen, eröffnete die Olympischen Spiele und begann mit der Wiederbewaffnung Deutschlands. Er pflegte sein Image als Friedensstifter und fand in Deutschland für all das ein aufmerksames Publikum. Dabei hielt er dem deutschen Volk eher Predigten als es nach seiner Meinung zu fragen, nicht selten übte er Zwang aus, statt zu überzeugen, erzählte er Märchen und nicht die Wahrheit. Doch das Volk schien verzaubert von seinen Eroberungen, folgte unbekümmert seiner Führung. Für die Nationalsozialisten waren dies gute Tage, eine Zeit voller offenbar hoher Ziele und großer Kreativität. Hitlers Diplomatie vereinte Deutschland neu, und seine Armeen revolutionierten die Kriegsführung, indem sie den berüchtigten Blitzkrieg erfanden und die Nationen Europas unter die Vormachtstellung der Nationalsozialisten brachten. Nach und nach sorgten Hitlers Siege dafür, dass deutsche Stiefel vom Rheinland nach Österreich, von der Tschechoslowakei bis nach Polen, ja sogar bis nach Paris marschierten. Schulte hielt sich mit jeder Form des Widerstands gegen das Regime zurück, war es doch schlichtweg zu gefährlich. Sicherlich gab es Augenblicke, in denen er in Gegenwart seiner Ehefrau Clara über die Nationalsozialisten tobte, doch in der Öffentlichkeit musste er sich anders verhalten. Wie ein Chamäleon passte er sich seiner Umgebungen an, und doch waren dies bittere Jahre für ihn. Schulte hatte Hitler von Anfang an durchschaut. Denn 1933, der Wahlkampf in Deutschland näherte sich gerade seinem Höhepunkt und Hakenkreuzfahnen hingen überall von Telegrafenmasten, hatte er eine Einladung in Hermann Görings Privathaus erhalten, wo ein außergewöhnliches Treffen zwischen Vertretern des künftigen Regimes und Vertretern von Deutschlands Finanzelite und Industrie-Titanen stattfand.4 Die Nationalsozialisten brauchten Geld. Die Krupp AG war vertreten, ebenso der Direktor der Vereinigten Stahlwerke und der Vorstand der IG Farben. Dass Göring zu diesem Termin geladen hatte und in seinem berühmten Präsidentenpalast empfing, sprach bereits für sich. Im Ersten Weltkrieg noch ein Fliegerass, war Göring zur Zeit vor dem Machtantritt Hitlers charismatischer Vertreter im Reichstag. Viele der Eingeladenen, die in sorgsam arrangierten Sesseln Platz genommen hatten, strahlten in Vorfreude auf das, was sie nun gleich hören würden. Der Führer ließ sie 15

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Minuten warten und hatte dann seinen dramatischen Auftritt. Er schüttelte Schultes Hand, und die aller anderen Anwesenden, und hob an zu einer beißenden Hetzrede, warum die Wiederbewaffnung so ungemein wichtig sei, ­ergründete die Gefahren des Liberalismus sowie die Fallgruben des Bolschewismus und der Sozialdemokratie. Er würde, so betonte Hitler, die Wehrmacht wieder zu alter Größe führen. In gereiztem Ton erklärte er, Deutschland ­brauche einen „neuen Geist“ und ein neues „politisches System“, um dann inne­zuhalten und das Gesagte wirken zu lassen. Er griff seine Partner in der Regierungskoalition an – die rechtsgerichtete DNVP –, die in seinen Augen zugunsten der NSDAP abtreten müsse. Dunkel deutete er an, dass eine „bewaffnete Machtübernahme“ der Regierungsgewalt nötig werden könnte. So schnell, wie er den Raum betreten hatte, so schnell verließ er anschließend das Treffen wieder. Im Anschluss eröffnete Göring den vor ihm sitzenden Männern noch eine erstaunliche Neuigkeit: Die nächsten Wahlen im März 1933 könnten die „letzten“ für die kommenden zehn Jahre, ja womöglich gar für das ganze Jahrhundert werden. Der begeisterte Industrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der bereits „das einstimmige Gefühl der Industriellen zur Unterstützung des Reichskanzlers“ ausgedrückt hatte, erhob sich nun und bot der NSDAP eine Million Reichsmark an. Die anderen Herren im Raum kamen zusammen auf weitere zwei Millionen. Und Schulte? Er schwieg die ganze Zeit über und gab sich Mühe, Hitlers Monolog zu verdauen. Als er nach Ende der Veranstaltung in seiner Limousine saß, empfand er Hitler als „schimpfenden Irren“, der Deutschland und die ganze Welt in den Ruin führte. Und als die NSDAP, genau wie von Göring angekündigt, in den kommenden zehn Jahren keine Wahlen mehr durchführen ließ, sah Schulte seine Befürchtungen bestätigt. Mehr denn je entfremdet, entschloss Schulte sich 1938 eine längere Auszeit von Giesche zu nehmen, und ging ins Ausland. An einem warmen Juli-Nachmittag spazierte Schulte durch die Straßen Londons, lief mit Julius Schloß, einem alten Freund und Geschäftspartner, der den ungewöhnlichen Schritt der Emigration nach England gegangen war, durch die Heath Street.5 Die Straßen waren drückend voll, sodass die beiden in einem Pub, dem Jack Straw's Castle, einkehrten. Schloß verspürte keine große Zuneigung zu Hitler, und da entschloss sich Schulte ganz plötzlich, sich ihm anzuvertrauen. Ein Krieg stehe vor der Tür, sagte Schulte, der Anschluss Österreichs sei nur der Anfang gewesen, es werde mit der Tschechoslowakei weitergehen, dann sei Polen und alles darüber hinaus an der Reihe. Schloß war anderer Meinung und entgegnete, die deutschen Generäle und Bankiers würden sicherlich alles in ihrer Macht ste-

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hende tun, um einen Krieg zu vermeiden. Schulte verneinte mit einem Kopfschütteln, Hitler habe die Opposition eingeschüchtert, und das deutsche Volk stelle sich brav hinter ihn. Ob Deutschland sich nicht selbst wieder mäßigen werde, wollte Schloß wissen. Nein, antwortete Schulte. Hitler habe seine letzten Ziele klug verborgen gehalten. Die beiden schwiegen eine Weile, dann fuhr Schulte fort: Wenn er Jude wäre, würde er so schnell wie möglich den nächsten Zug besteigen, der aus Deutschland herausfuhr. Doch, und hier seufzte er, er sei Deutscher. Seine Familie und alles, was er sich aufgebaut habe, befänden sich dort. Und deshalb könne er sich nicht vorstellen, in London, Paris oder New York zu leben. Nach einer weiteren Pause betonte er, er werde in Deutschland bleiben bis zum „bitteren Ende“. Und nach der „Reichskristallnacht“, dem „Anschluss“ Österreichs, der Schändung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen, Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Belgien und Frankreich schien es so, als werde das Ende wirklich bitter. Von Berlin aus verfolgte Schulte diese grausamen, aus seiner Sicht keineswegs ruhmvollen Ereignisse. Im Jahr 1940 blutete Deutschland aus unzähligen Wunden, und das Bild des Kontinents, der von Hitlers Faust zerquetscht wurde, war ein grauenhaftes. Von fanatischen Nationalsozialisten umgeben, kam Schulte sich im Stich gelassen, niedergeschlagen, von seiner eigenen Nation entfremdet vor. Die Braunhemden wurden mit jedem Tag angriffslustiger, und es schien, als würde der geheimnisvolle Nimbus des Führers von Minute zu Minute zuzunehmen. In den letzten Jahren hatte Schulte mit immer größerer Sorge die Wiederbewaffnung durch das NS-Regime, das Abschlachten der Kritiker, die Bücherverbrennungen, die Errichtung von Konzentrationslagern, die Niedertracht der Anhänger Hitlers und natürlich den Krieg beobachtet. Und dann stieg ein schicksalhaftes Fest, bei dem auch Heinrich Himmler anwesend war. Schulte selbst befand sich inmitten der Kriegsanstrengungen. Die Deutschen hatten die polnische Filiale von Giesche in Oberschlesien als „kriegswichtige Militärfabrik“ eingestuft, was Schulte augenblicklich in NS-Kreise beförderte. Hinzu kam, dass Schultes zweiter Mann bei Giesche, Otto Fitzner, ein fanatischer Nationalsozialist war.6 Der gutaussehende, draufgängerische und strebsame Fitzner, ein gelernter Ingenieur, hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und

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stieg in der neuen deutschen Ordnung schnell auf. Dank geschickter Manöver kletterte er rasch die NS-Hierarchieleiter empor: Zunächst auf wichtigem Posten in der SA wechselte er später zur SS, wurde dann auf ein Ehrenamt im Mitarbeiterstab von Heinrich Himmler berufen, um schließlich als Leiter der Wirtschaftsgruppe Nichteisenmetall-Industrie für das Wirtschaftsministerium tätig zu sein. Noch später stieg er in Oberschlesien in leitender Funktion in der Zivilverwaltung auf. Fitzner traf sich sogar einmal mit Adolf Eichmann und war einer der ersten Deutschen, der von der Deportation der Juden erfuhr. Niemand zögerte, ihm einige der sensibelsten Informationen des „Dritten Reiches“ anzuvertrauen. Doch – und dies dürfte den entscheidenden NS-Kommandanten unbekannt gewesen sein – Fitzner hatte zumindest eine Schwäche: Er neigte zur Prahlerei. Zudem vermutete er, Schulte sei ein ebenso glühender Nationalsozialist wie er selbst. Unwissentlich wurde Fitzner somit während des gesamten Krieges zu einer Informationsquelle für Schulte. Dieser hatte allerdings noch weitere Quellen: Der Gauleiter im Gau Niederschlesien, Karl Hanke, der später zum letzten Reichsführer SS aufstieg, war ebenso wie eine bedeutende Führungskraft bei Daimler-Benz ein ehemaliger Freund von ihm. Und über die Giesche-Firmenkontakte lernte er eine ganze Reihe deutscher Generäle kennen. In der Geschäftigkeit der Kriegstage pflegte er in Berlin mehrere hochrangige Bekanntschaften, klopfte er Diplomaten und Generälen auf die Schulter und trank mit ihnen. Trotz der Betonung der NSRegierung, wie wichtig die Geheimhaltung sei, war das Gerücht doch eine wichtige Währung im Kriegstumult.7 Für Schulte bestand die Hauptaufgabe darin, Fakten von Fiktion zu trennen. Seine Entschlossenheit, an Informationen zu gelangen, wurde bald zu einer Obsession, woraus der Wunsch nach Taten erwuchs: Schulte wollte das NSRegime unterwandern. Unter großen Gefahren sorgte er dafür, dass Geheimnisse des „Dritten Reiches“ nach und nach in den Westen gelangten. So übergab er bei einer seiner zahlreichen Geschäftsreisen in die Schweiz seine ­Einschätzungen zur Lage und zu den Plänen Deutschlands, ergänzt durch ein wenig Klatsch und Tratsch, an ein Mitglied des polnischen Geheimdienstes, das wiederum diese Informationen, über geheime Radiosender oder Diplomatenpost, an die Briten weiterreichte. Von hier aus gelangten sie auch an die Amerikaner in Washington. Wie wichtig waren diese Informationen? Schulte war nur einer von Hunderten, wenn nicht sogar von Tausenden von Informanten. Doch wie sehr die USA und die Alliierten gerade auf ihn hätten hören sollen, würde sich bald zeigen.

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Schulte stellte nun zu Hause immer wieder das Radio ein und hörte der knisternden BBC-Übertragung zu, auch wenn dies – sollte ihn die Gestapo dabei erwischen – sein Todesurteil gewesen wäre. Diese Belastung ließ ihn launisch und nervös werden, dabei hielt er jedoch an seiner Entscheidung fest. Er gab in der Schweiz Informationen über das entscheidende Treffen zwischen Hitler, Molotow und Ribbentrop weiter. Er berichtete von den großangelegten Vorbereitungen der Deutschen auf das „Unternehmen Barbarossa“. Er unterrichtete seinen Kontakt über seine Sicht auf die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Rohstoffen und kommentierte spontan Hitlers Verhältnis zu seinen Generälen. Doch die niederschmetterndsten Informationen sollten ihm eher zufällig bei einem Abendessen zugetragen werden, das in einer abgelegenen Region Polens stattfand. Es standen die Leben von Millionen Menschen auf dem Spiel und, da er über dieses Wissen stolperte, auch Schultes eigenes. Am Morgen des 17. Juli 1942 studierte Schulte in seinem Büro die Zeitung und las Berichte über die Bewegungen an den Fronten.8 Rommel hatte bei El Alamein den britischen General Bernard Montgomery besiegt; in der Sowjetunion waren deutsche Vorauskommandos bis zum Fluss Donez vorgedrungen; Franklin D. Roosevelt hatte die Beziehungen zu Deutschlands Verbündetem Finnland beendet. Gerade als Schulte seine Sekretärin rufen lassen wollte, eilte Otto Fitzner in sein Büro und brachte verwirrende Neuigkeiten. Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, der nur Hitler unterstellt war und als meist gefürchteter Mann im „Dritten Reich“ galt, habe „etwas Wichtiges“ in der Gegend zu erledigen. Schulte erstarrte. Himmler war als begabter Organisator bekannt, war er hier, um die Giesche-Werke zu inspizieren? Fitzner versicherte ihm: Nein, Himmler wolle vielmehr „Auschwitz“ besichtigen.9 Schulte war verblüfft: In Auschwitz gab es nichts, was einen solchen Besuch rechtfertigte. Je länger Schulte darüber nachdachte, umso weniger Sinn ergab die Angelegenheit. Zwar blühte das Wirtschaftsleben in Oberschlesien, denn Kohlegruben waren eröffnet worden und Treibstoff- und Kautschuk-Produzenten sowie mehrere Hundert weitere Militär- und Industrieunternehmen von Deutschland aus hierher gezogen, um von der steuerlichen Förderung und den Zwangsarbeitern zu profitieren. Giesche selbst gehörte zu den Profiteuren. Aber Auschwitz? Früher einmal Teil des Heiligen Römischen Reiches, war Auschwitz heute eine unbedeutende Stadt, die eher für soziales Elend, erbärmliche ökonomische Zustände und eine Schnapsbrennerei bekannt war, die seit 1804

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bestand. Es gab dort ein Konzentrationslager, gebaut auf sumpfigem Boden und malariaverseucht, doch soweit Schulte wusste, bestand dieses Lager vor allem aus den Unterkünften einer alten österreichischen Garnison aus dem Ersten Weltkrieg, wo nun sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren. Allerdings war der Eisenbahnknotenpunkt dort durchaus bemerkenswert: Zwischen dem Kohlenrevier um Kattowitz und dem Industriegebiet von Bielsko gelegen, führten die Schienen von Auschwitz direkt bis nach Krakau und Wien. Und die Gegend war vollkommen abgeschieden. Doch entweder wusste Schulte von diesen beiden Vorteilen nichts, oder er zog nicht die richtigen Schlussfolgerungen. Außerdem konnte Schulte noch nicht wissen, dass Himmler, der ehemalige Hühnerzüchter, der zum Gebieter über alle NS-Konzentrationslager werden sollte, einmal für mehr Tote in Europa verantwortlich sein sollte als irgendjemand sonst, von Hitler und Stalin mal abgesehen. Egozentrisch, durchtrieben und provinziell wie er war, entsprach Himmler zudem ganz und gar nicht dem Bild, das Hitler vom idealen Arier entwarf: Er war dicklich und sah kränklich aus, hatte ein Eulengesicht, ein fliehendes Kinn, schlechte Augen und eine schiefe Haltung. Als starker Hypochonder litt er häufig unter Magenkrämpfen und Migräne. Zur Linderung schluckte er ein wildes Durcheinander von alternativen Medikamenten. Er wurde 1900 geboren, und seine ersten Jahre schienen auf einen ganz anderen Lebensweg hinzudeuten. Sein Vater unterrichtete Latein und Griechisch am Wittelsbacher-Gymnasium in München, und Himmler selbst war ein eifriger, hart arbeitender Schüler, auch wenn er sich gelegentlich in sein Zimmer zurückzog, um von ritterlichen Heldentaten und den Kreuzrittern zu träumen. Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Voller Begeisterung trat er noch 1918 in ein bayerisches Regiment ein, um an einem Krieg teilzunehmen, bei dem jeder Hügel, jeder Kamm und jeder Gipfel immer wieder mit Bajonetten erstürmt werden musste und das Schlachtfeld mit deutschem Blut getränkt war. Doch zu seiner tiefen Enttäuschung kam er nie an die Front, wurde seine Division doch zuvor demobilisiert. Genauso enttäuschend für ihn war, dass sich die als schwach und wenig schlagkräftig in Verruf geratene Monarchie langsam aufzulösen begann. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war chaotisch. Während der Inflationszeit und der Phase der großen Arbeitslosigkeit geriet auch Himmlers Vater in finanzielle Schwierigkeiten. Folglich konnte Heinrich nicht an der renommier-

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ten Ludwig-Maximilians-Universität studieren, sondern nahm an der Technischen Hochschule München ein landwirtschaftliches Studium auf, an dessen Ende er vorübergehend einen zweitklassigen Job als Mitarbeiter einer Düngemittelfabrik annahm. Doch dann fand er, genau wie Adolf Hitler, seine Berufung: als hauptamtlicher Nationalsozialist. Zunächst ergriff er die Möglichkeit, wenigstens am Wochenende Uniform zu tragen, und schloss sich den Freikorps an, einer fanatischen paramilitärischen Einheit, die 1923 vergeblich den Hitler-Putsch in München unterstützte. Während des anschließenden Prozesses kam es zum Zerwürfnis mit seinem Vater, für den die Nationalsozialisten nur Unterschichten-Schläger waren. Nichtsdestotrotz entschloss sich Himmler, als die Hitler-Partei ein Jahr später verboten wurde und in den Untergrund ging, ihr als Kurier zu dienen. In dieser Zeit verbrachte er seine freien Stunden damit, aus Halbwissen, das er aus ganz unterschiedlichen, nicht selten verschwörungstheoretischen Quellen bezog, eine Weltsicht zusammenzusetzen. Er durchkämmte auf seiner Suche nach Führung astrologische Schriften, absorbierte eine ganze Reihe antisemitischer Texte und stürzte sich begeistert in eine Untersuchung über Hexenkunst und Hexenprozesse. Und er verliebte sich in eine strahlende, blauäugige, seidig-blonde Krankenschwester namens Margarete Boden, die acht Jahre älter war als er und mit dem Grundsatz durchs Leben ging: „Jud bleibt Jud!“ In jedem anderen europäischen Land wäre er nur zu einem weiteren rassistischen Exzentriker und Thekenphilosophen geworden. 1928 übernahm er in München-Waldtrudering einen kleinen Hühnerhof mit 50 Legehennen. Doch das Projekt scheiterte früh: Die Hühner legten kaum Eier, das Geld wurde knapp, und seine Ehe stand auf der Kippe. Nur mühsam konnte er sich von seinem Parteigehalt von 200 Mark monatlich über Wasser halten. Inzwischen war er Stellvertretender Propagandaleiter der NSDAP, Verächter der Demokratie, ein strammer Antisemit und extremer Nationalist. 1929 ernannte Hitler Himmler dann zum Stellvertretenden Reichsführer SS, dessen Aufgabe es war, die NS-Hierarchie zu beschützen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Hitlers Deutschland überall Verrat. Himmler sollte bekanntlich die Ermordung zweier NS-Vordenker während der sogenannten „Nacht der langen Messer“ planen: Gregor Strasser und Ernst Röhm, dem er früher einmal devot gefolgt war. Himmler erkannte damals seine Chance, die rund 200 000 Mann starke SS zu einer rassisch-reinen Eliteorganisation auszubauen. Geschickt manövrierte Himmler sich an allen Konkurrenten und Machenschaften vorbei weiter nach oben, bis er in Hitlers engsten Kreis vorgedrungen war. Er wurde zum Gesicht des Terrors, des nächtlichen Abholens der

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Opfer und später der Gaskammern. Er prahlte eines Tages damit, dass er, würde Hitler ihn darum bitten, stolz ob des ihm entgegengebrachten Vertrauens sogar seine Mutter erschösse.10 Passenderweise zierten Totenköpfe die Mützen seiner SS-Männer. Himmler war nicht nur anmaßend und herrisch, sondern auch wunderlich. Für den Reichsparteitag 1929 in Nürnberg hielt er beispielsweise die örtlichen SS-Führer dazu an, bloß ausreichend Kleiderbürsten mitzubringen. Auch versuchte er sich in Rassentheorien, sprach von der „Erbgesundheit“ der zukünftigen SS-Frauen11 und soll die Fotos von Bewerbern für die SS persönlich mit der Lupe auf zweifelhafte rassische Merkmale untersucht haben. Sich selbst sah er weder als Monster noch als Dämonen, nicht einmal als einen seelenlosen Technokraten, sondern inszenierte sich als heroischen Patrioten und „anständige“ Person. Er war darüber hinaus ein fanatischer Naturfreund. Und obwohl er seine Frau, seine Tochter und seinen Adoptivsohn vernachlässigte, von den zwei unehelichen Kindern ganz zu schweigen, so stellte er sich doch stets als warmherzigen und liebenden Vater „Heini“ dar. Und er betonte, die Ermordung der Juden sei eine Frage der „völligen Reinigung“ des Vaterlandes und eine Pflicht, der man sich nicht entziehen könne. In Übereinstimmung mit dieser kruden Logik war er überzeugt, die SS morde „anständig“. Trotz seines ideologischen Hasses unterschied er zwischen der seiner Meinung nach zulässigen Ermordung der Juden aus „politischen Motiven“ und dem selbst in seinen Augen illegitimen Totschlag oder Mord aus „egoistischen, sadistischen oder sexuellen“ Motiven. Die Eckpfeiler seines Lebens blieben Durchtriebenheit, Eifer, brennender Ehrgeiz und Tod, ganz gleich ob er nun Untergebene anknurrte oder einen Wutausbruch hatte. Während Schulte also nachdachte, warum bloß Himmler nach Auschwitz fuhr, war dieser damit beschäftigt, die Maschinerie des Völkermords zu organisieren. Für Himmler schien die Arbeit im Juli 1942 kein Ende zu nehmen.12 Da waren von Berlin aus geheime Direktiven über die Umsiedlung an die SS-Führung und an die Polizeiführung zu verschicken. Dann gab es Besprechungen mit dem Leiter der Aufsicht über die Konzentrationslager und mit einem SS-Generalleutnant, dem Direktor einer Klinik, über strenggeheime medizinische Versuche an Juden. Und da waren etliche Termine wie die Ernennung von Rudolf Höß zum Kommandanten von Auschwitz und natürlich der Besuch im Lager selbst.

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Schon einmal war er dort gewesen, am 1. März 1941, nachdem er sich im Jahr zuvor noch nicht zu einem Besuch hatte durchringen können. Damals jedoch hatte er plötzlich befohlen, das erste Lager zu erweitern, sodass 30 000 Gefangene aufgenommen werden könnten, und ein weiteres Lager zu bauen, später unter dem Namen Birkenau bekannt. Jetzt, bei seinem zweiten Besuch, am 17. Juli 1942, einem warmen, sonnigen Tag, fuhr ihn sein Chauffeur in einem offenen, schwarzen Mercedes nach Auschwitz, begleitet von einem ganzen Tross. Als das Lagerorchester bei seiner Ankunft eine berühmte Arie aus der tschechischen Oper Die verkaufte Braut spielte, hielt Himmler einen Moment inne und lächelte überrascht und zufrieden wie der Ehrengast bei einem Staatsempfang. Einer der Häftlinge erinnerte sich daran, entsetzt beobachtet zu haben, wie Himmler mit einer Eleganz und einem Charme auftrat, die einer englischen Gartenparty würdig gewesen wären.13 Mit ungerührtem Gesicht, vielleicht nur mit leicht gelangweilten und etwas amüsierten Zügen, ließ sich Himmler den gesamten Ablauf einer Vergasung vorführen, vom Anfang bis zum Ende.14 Mit dem Stolz eines Baumeisters beim Blick auf seine Arbeit schlenderte er durch die bestehende Gaskammer und über die Baustelle für einen größeren, neueren Komplex von Gaskammern und Krematorien – die eine deutliche „Verbesserung“ zu früher darstellten, als man Leichen noch einfach in riesigen Gräben verscharrt hatte, aus denen sie nach Tauwetter und Regen wie Wiedergänger erneut auftauchten. Himmlers Brillengläser glitzerten im Sonnenlicht, als er zur Bahnrampe von Auschwitz kam. Nach einem hohen Pfiff fuhren zwei Züge mit niederländischen Juden ein. Himmler sah zu, wie die SS-Ärzte über das Schicksal der Juden entschieden: Die kräftigen Frauen und Männer wurden unter Schlägen zu den Baracken getrieben; die Übrigen waren dem Tod geweiht. Er sah zu, wie die Köpfe und Körper nackter Frauen systematisch rasiert wurden und man das abgeschnittene Haar in Säcke stopfte, das später als Füllmaterial für Luxusmatratzen in Deutschland verwendet würden. Himmler sah zu, wie man 449 Menschen in Bunker 2 schob und hinter ihnen die Türen schloss. Durch ein Fenster sah er zu, wie die Gefangenen schrien, kratzten und sich übergaben, ihren Darm und ihre Blase entleerten, bevor sie starben. Ohne ein Wort dazu zu verlieren oder irgendein Zeichen der Reue beobachtete Himmler das Sterben. Nach zwanzig Minuten war alles vorüber. Anschließend fuhr er mit seiner Besichtigungsrunde fort: Er ließ sich die Baustelle eines Damms, die landwirtschaftlichen Labore, die bestellten Äcker, die Kräutergärten und die Versuchsanstalt zeigen. Er informiert sich über die medizinischen Versuche, die er nur wenige Tage zuvor befohlen hatte, darun-

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ter die Kastration von Männern durch Röntgenstrahlen und die Sterilisierung von Frauen durch Injektionen. Mit den Lagerärzten sprach er einige Zeit über die Ausbreitung von Krankheiten unter den Häftlingen, die durch unzureichende Sanitäranlagen, Mangelernährung und unerträgliche Enge noch gefördert wurde. Himmler zeigte weder Interesse noch Sympathie. Er besuchte die Unterkünfte, die Küche und stieg sogar auf einen Wachturm, von dem aus man das Entwässerungssystem überblicken konnte, bevor er die Zweigstelle der IG Farben, die Kautschuk- und Treibstoff-Fabrik Buna, besichtigte. Am Abend freute sich ein zufriedener Himmler auf ein Essen im Lager, wonach er zur Giesche-Villa aufbrechen wollte. Beim Abendessen in der Messe saß Himmler neben Fritz Bracht, dem NSDAPGauleiter in Oberschlesien, und neben der Lagerleitung. Die Tische waren üppig gedeckt, und Himmler, in „funkelnder Laune“, plauderte fröhlich mit den deutschen Offizieren über ihre Laufbahnen und ihre Familien, als kämen sie gerade von einem Sportfest und nicht aus den Gaskammern.15 Als der Nachtisch abgeräumt und die letzten Drinks geleert waren, kletterte die versammelte Gesellschaft in mehrere Mercedes-Benz und verschwand in der Nähe von Kattowitz in einem Wald aus Kiefern und Birken, auf dem Weg zu einer eleganten Villa, in der Bracht wohnte. Das Haus war im Besitz von Schultes Firma, Giesche, und wirkte wie ein kleines Paradies. Es hatte große, sonnenlichtdurchflutete Fenster und einen azurblau schimmernden Pool und sogar einen Golfplatz – alles Annehmlichkeiten wie sie in Kriegszeiten selten waren. Drinnen gab es Empfangszimmer, Salons und Speisesäle, die mit dunklem Mahagoniholz getäfelt und mit glänzenden Parkettböden ausgestattet waren. Die Türen öffneten sich, und die Gäste strömten hinein: Die Männer trugen ihre Uniform, und die wenigen anwesenden Frauen zeigten ihre Juwelen und Haute Couture. Himmler, der nur selten trank, nahm sich ein Glas Rotwein, zündete sich eine Zigarette an und hielt Hof. Nach allem, was man von diesem Fest weiß, gab er sich äußerst charmant und führte ein lebhaftes Gespräch, bei dem man über alles Mögliche plauderte, von der Erziehung der Kinder über neue Baustile bis hin zum Frontverlauf. Hier sprach Himmler auch, womöglich zum ersten Mal und außer Hörweite der Damen, mit den Gästen über seine Pläne zum Ausbau des Lagers Auschwitz. Sie besprachen ebenso offen Hitlers Absicht, systematisch alle Juden Europas und darüber hinaus zu ermorden – bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind.

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1 Ein triumphierender Hitler schreitet 1936 in Berlin seine Ehrengarde ab.

2 „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938, ein abschreckendes erstes ­Anzeichen, dass für das NS-Regime Angriffe auf Juden höchste Priorität haben ­würden. Entsetzte Anwohner beobachten, wie eine Synagoge, eine von vielen, die in Brand gesetzt wurden, in Flammen aufgeht.

3 Mit der Eroberung von Territorium in der Sowjetunion im Jahr 1941 begannen die Massenhinrichtungen von Juden durch die Nationalsozialisten. Angehörige der SS schauen zu, wie ein ukrainischer Jude kaltblütig exekutiert wird.

4 In einer Villa am Berliner Wannsee erörterten die Nationalsozialisten im Januar 1942 unter größter Geheimhaltung eine systematische, industrielle Methode des Massenmordes: die „Endlösung“. Nachdem die Pläne skizziert waren, zogen sich die Konferenzteilnehmer auf ein Glas Sherry in die Bibliothek zurück.

5 Die Eisenbahngleise, die zum Haupttor von Auschwitz führen.

6 Heinrich Himmler (3. v. l.), neben ihm zur Kamera gewandt Rudolf Höß, inspiziert am 17. Juli 1942 den Monowitz-Buna-Komplex bei Auschwitz.

7 Gerhart M. Riegner, der nach einem heimlichen Treffen mit Eduard Schulte, ­einem führenden deutschen Industriellen, im August 1942 ein schicksalhaftes Telegramm schrieb, um Roosevelt und die ­Regierung der Vereinigten Staaten über die drohende Ermordung der europäischen Juden zu informieren.

8 Von Juni 1940 an errichteten Breckinridge Long und das US-Außenministerium ein Hindernis nach dem anderen, um ­Juden daran zu hindern, in die Vereinigten Staaten zu kommen, was auf ein Todes­urteil für sie hinauslief. Einmal stellte ­Finanz­minister Henry Morgenthau Long dramatisch zur Rede, als er ihn fragte: „Mal ehrlich, Breck, man hat den Eindruck, dass Sie ein Antisemit sind.“

9 Rabbi Stephen Wise, ein enger Verbündeter Roosevelts und einer der prominentesten Juden in den USA, war „wahnsinnig vor Trauer“ über das Schicksal des ­Judentums. Er war eine treibende Kraft hinter den Bemühungen, das Weiße Haus zu veranlassen, mehr zu tun. Hier sieht man ihn rechts im Bild auf einer Massenversammlung von 47 000 Menschen, um die Öffentlichkeit für die Verfolgung der europäischen Juden zu sensibilisieren.

10 Jan Karski, ein Mitglied des polnischen Untergrunds, wurde in eines der Vernichtungslager eingeschleust und ­erlebte die von den Nationalsozialisten an Juden verübten Gräueltaten aus ­erster Hand. Im Juli 1943 traf er mit Roosevelt zusammen – ein Treffen, das großen ­Einfluss auf das Denken des Präsidenten hatte. Dennoch legte sich Roosevelt laut Auskunft des polnischen Botschafters nicht auf irgend­welche konkreten Schritte fest.

11 Henry Morgenthau, erst der zweite Jude in der Geschichte, der einen Posten im US-Kabinett bekleidete, sträubte sich jahrelang, jüdische Fragen bei Roosevelt aufzuwerfen. Doch angesichts der alarmierenden Fakten über die „Endlösung“ und der ­Abneigung der US-Regierung, sich zu engagieren, entschied er sich, seine geschätzte Freundschaft mit dem Präsidenten aufs Spiel zu setzen. Im Januar 1944 protestierte er gegenüber Roosevelt heftig gegen die „stillschweigende Duldung der Ermordung der ­Juden“.

12 Das Kriegsflüchtlingskomitee (War Refugee Board) wurde im Januar 1944 ­hastig von Franklin D. Roosevelt ins Leben gerufen. US-Außenminister Cordell Hull, Morgenthau und Kriegsminister Henry Stimson treffen sich hier mit dem Geschäftsführenden Direktor John W. Pehle. Das Komitee sollte in der Folge ­mindestens 200 000 Leben retten, was Morgenthau veranlasste, die „schrecklichen 18 Monate“ Verzögerung vor Einrichtung des Komitees zu bedauern.

13 Die Vergasung der ungarischen Juden im Frühjahr 1944 war die schlimmste einzelne Massentötung im Krieg und wurde in einer beängstigenden Geschwindigkeit ausgeführt. Hier werden die ankommenden Juden an der Rampe in Auschwitz-Birkenau der Selektion unterzogen. Vertreter des Humanitätsgedankens, denen sich das Kriegsflüchtlings­ komitee schließlich anschloss, ersuchten das Weiße Haus verzweifelt, das Vernichtungs­ lager zu bombardieren.

14 Raoul Wallenberg, ein im Juli 1944 vom schwedischen Außenministerium mit Unter­stützung des USKriegsflüchtlingskomitees nach Budapest entsandter Diplomat, setzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein, um die 200 000 noch in der ungarischen Hauptstadt verbliebenen Juden zu retten. Er bot ­sogar e­ inem SS-Offizier die Stirn und drohte, dass dieser „am Galgen b­ aumeln“ würde, sollte er eine Gruppe von Juden hinrichten. Wallenberg war ein Beispiel für einen Menschenfreund, der sich um der europäischen Juden willen kreativer Methoden bediente – k­ reativer Methoden, wie sie die US-amerikanische Politik vermissen ließ.

15 Josef Stalin, Franklin Delano Roosevelt und Winston Churchill (v. l. n. r.) am 29. November 1943 auf der Konferenz von Teheran. Hier, in der iranischen Hauptstadt, einigten sich die „Großen Drei“ auf eine Strategie für das Jahr 1944 – in erster Linie ­darauf, im Frühjahr eine zweite Front in Frankreich zu eröffnen. 16 Franklin D. Roosevelt mit General Dwight D. Eisenhower und General George S. Patton in Sizilien nach der Teheraner Konferenz. In einer der wichtigsten Entscheidungen des Krieges sagte Roosevelt Eisenhower bloß: „Also, Ike, Sie werden Overlord befehligen.“

17 Das alliierte militärische Oberkommando traf sich 1944 in England, um „Operation Overlord“ zu planen. Das Treffen war intensiv und kontrovers. Als das Wetter sich am 4. Juni wild gebärdete, bemerkte einer der anwesenden Generäle: „Es ist ein Mordsrisiko.“ Später gab Eisenhower den Befehl: „Okay. Wir legen los.“

18 Eisenhower rief die Männer zusammen und traf sich am 5. Juni 1944 mit Fallschirmjägern der 101. US-Luftlandedivision. Er kam ohne Umschweife zur Sache. „Los, schnappt sie euch“, brüllte er.

19 Am 6. Juni 1944 um 7.30 Uhr morgens wateten amerikanische Soldaten am Omaha Beach von ihren Landungs­ booten aus durch das Wasser. Die Verluste ­waren entsetzlich, das deutsche Feuer war ­unermüdlich, aber die Männer stießen weiter vor.

20 Lastensegler brachten einen steten Strom an Nachschub zu den alliierten Soldaten am Utah Beach.

21 Alliierte Soldaten rückten am Omaha Beach weiter vor, und binnen einer Woche ­waren mehr als 300 000 Mann Verstärkung in Frankreich eingetroffen. Trotzdem ­schaffte es Deutschland, weitere elf Monate durchzuhalten.

22 Spätestens im Frühjahr 1944 war die alliierte Luftherrschaft beinahe vollständig. Eine Reihe deutscher Städte lag in Trümmern, darunter, hier im Bild, Ludwigshafen. In dieser Phase verstärkte sich die Debatte um die Bombardierung von Auschwitz.

23 Der Unterstaatsekretär im US-Kriegsministerium John Jay McCloy (l.) widersetzte sich allen Aufforderungen, Auschwitz zu bombardieren oder militärisch zur Rettung des gefährdeten Judentums vorzugehen, was Morgenthau veranlasste, ihn als „Unterdrücker der Juden“ anzugreifen.

24/25 Nichts konnte die Amerikaner wirklich auf die grässlichen Szenen ­vorbereiten, die sich ihnen boten, als sie Ohrdruf und andere nationalsozialistische Konzentrationslager befreiten. Am 4. April 1945 sahen sich Dwight D. Eisenhower und seine Generäle in Ohrdruf die verkohlten Leichen von Häftlingen an. General Patton war so ­angewidert, dass er sich übergab. Unten sind Leichen von Häftlingen in Ohrdruf aufgestapelt wie Klafterholz.

26 Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin am 9. Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta im Liwadija-Palast. Hier sollte die Nachkriegsarchitektur der Welt besprochen werden. Roosevelt bekannte, dass seine Empfindungen g­ egenüber den Deutschen „blütrünstiger“ seien denn je, aber sein Hauptaugenmerk lag auf der Errichtung der Vereinten Nationen. Mit seiner Gesundheit ging es sichtlich bergab: Roosevelt hatte nur noch zwei Monate zu leben.

Riesige Friedhöfe

Am nächsten Tag bahnte sich Himmler im Lager seinen Weg durch die Stapel sortierter Besitztümer der inhaftierten Juden. Anschließend sah er in einer Mischung aus Befriedigung und kalter Effizienz zu, wie eine Lager-Prostituierte, die man des Diebstahls bezichtigte, mit Peitschenhieben auf den nackten Rücken bestraft wurde. Hochzufrieden mit allem, was er gesehen hatte, ernannte er Höß zum Obersturmbannführer und ließ ihn wissen, er müsse nun unverzüglich mit dem Bau des erweiterten Krematoriums beginnen, denn in Kürze würden noch mehr Juden ankommen. Tatsächlich riss der Strom nicht ab – Juden aus Frankreich, Skandinavien, Belgien, den Balkanstaaten und schließlich auch Ungarn erreichten Auschwitz. Vor seiner Abfahrt wechselte Himmler noch einige freundliche Worte mit Frau Höß und den Kindern. Am nächsten Tag in Berlin, am 19. Juli, schrieb Himmler eine dringende Nachricht an Friedrich-Wilhelm Krüger in Krakau und verlangte, dass die „Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung“ bis zum 1.  Dezember 1942 abgeschlossen werde.16 Zu diesem Zeitpunkt waren noch immer 400  000 Menschen im Warschauer Ghetto eingepfercht, einem Gelände von etwa drei Quadratkilometern, wo zuvor 160 000 Menschen gelebt hatten. Auf Himmlers Befehl hin wurden jeden Tag 6000 von ihnen zusammengetrieben und in den Osten „deportiert“. Anderthalb Wochen später war Himmlers Ankündigung auf der Party, alle europäischen Juden auszulöschen, bis zu Schulte durchgedrungen. Er war sprachlos. Sie auslöschen? Alle? Die schiere Menge war unvorstellbar. Bis dahin hatte Schulte Hitlers Äußerungen in diesem Zusammenhang lediglich so verstanden, dass die Juden beispielsweise nach Madagaskar umgesiedelt werden sollten. Und Schulte war, anders als der größte Teil der deutschen Nation, nicht gleichgültig für das Leiden von Hitlers Opfern. Nun entschloss er sich, den nächsten Zug nach Zürich zu nehmen und diese Neuigkeiten irgendwie an die Alliierten und damit hoffentlich auch an Franklin D. Roosevelt weiterzugeben – und zwar so schnell wie möglich. Für Schulte begann ein Wettlauf mit der Zeit. Bis dahin war es gewesen, als hätte Schulte bloß in einem Kino gesessen und einen schrecklichen Film angesehen, doch das sollte sich nun ändern. Am 29. Juli 1942 bestieg er unauffällig einen Zug in Breslau und begab sich in ein Abteil der Ersten Klasse, wo er während der gesamten Fahrt gen Süden gedan-

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kenverloren sitzen blieb.17 Hier im Süden war die Landschaft – anders als im vom Krieg betroffenen Teil Deutschlands und in Polen, wo Tausende britische Flugzeuge Köln verwüstet hatten und die erbarmungslosen Luftangriffe der Alliierten auf Danzig verheerend gewesen waren – noch recht unversehrt. Der Zug eilte an pittoresken, weißgetünchten Dörfern vorbei und durch Wälder mit hohen Nadelbäumen. In Böblingen und Herrenberg sah er Haine, Obstplantagen, Schafe und Weideland. In Ehningen standen Kirchen mit elegant geformten Zwiebeltürmen. In Bondorf und Neckarhausen führten die Schienen parallel zu einer fast leeren Autobahn und dann entlang des Neckars. In Singen hielt der Zug, und der Schaffner forderte alle Reisenden auf, ihn zur Grenzkontrolle zu verlassen. Bedeutete dies Ärger? Einer nach dem anderen kletterten die Passagiere aus dem Zug und wurden in einen unscheinbaren Raum im Bahnhof gewunken, wo zwei Polizisten sorgfältig die Pässe betrachteten. Die Überprüfung dauerte etwa 20 Minuten; dann stiegen die Reisenden wieder in den Zug. Der Himmel verdunkelte sich plötzlich und war wolkenverhangen, als Schulte den Rhein und die Schweizer Grenze überquerte. Doch sogar an einem trüben Tag strahlte die Schweiz mit ihrer natürlichen Abgeschiedenheit und der Schönheit ihrer Täler etwas Gesundes und Freies aus, völlig verschieden vom Krieg drumherum. Die rauen Bergspitzen ragten in den Himmel, die Luft selbst war ein Wirbel aus Farben und feinen Gerüchen. Bald darauf erblickte Schulte ein kleines Holzhaus, auf dem die Schweizer Fahne im Wind flatterte. Er war beinahe am Ziel. Schulte konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass die Gestapo ihn für das, was er vorhatte, jagen, entführen und töten würde. Doch als der Zug im Zürcher Hauptbahnhof zum Stehen gekommen war und ihn ein Kofferträger zu seiner Limousine begleitet hatte, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Das Auto fuhr an Zürichs eleganten Geschäften und den Sitzen der größten Banken vorbei. Dann bog es rechts ab und wurde langsamer, sie hatten das Hotel erreicht. Der Direktor empfing ihn herzlich, und Schulte wurde zu seiner üblichen Suite gebracht, von der aus man den glänzenden See wunderbar überblicken konnte. Gobelins schmückten die Wände, und der Empfangsbereich des Hotels war im Tudor-Stil gehalten. Auf seinem Zimmer erwarteten Schulte ein großes Blumenbouquet und eine Flasche Rotwein. Er griff zum Telefon.

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Sogar in der neutralen Schweiz war es offensichtlich, dass sich der Kontinent im Krieg befand. Mitten am Tage und in der Hochsaison lag die Stadt verlassen da – abgesehen von einigen Männern in Uniform, die durch die Straßen patrouillierten. Alles war rationiert. Einige der kleineren Geschäfte hatten gar schließen müssen. Und auch größere kämpften ums Überleben – die Hoteldirektoren beispielsweise mussten damit zurechtkommen, dass nur ein Zehntel ihrer Zimmer belegt war. Benzin war knapp, auch Fleisch gab es nur noch begrenzt. Und natürlich wurde auch hier, wie in anderen Ländern Europas, die Stadt nachts verdunkelt. Doch schien sich noch etwas anderes anzukündigen: Nicht weit von Schultes Hotel wurde eine Filmkomödie mit Mickey Rooney gezeigt, eine untrügliche Spur US-amerikanischer Kultur in der Stadt. Schulte hatte mit sich gerungen, an wen er sein Wissen weitergeben sollte. Es musste jemand Diskretes sein – sonst würde Schulte sein Leben riskieren –, doch zugleich jemand mit den nötigen Beziehungen und wirklichem Einfluss, der Schultes Überzeugung von der Dringlichkeit der Sache verstand und teilte. Er bewegte verschiedene Namen, polnische, schweizerische und US-amerikanische im Herzen. Am Ende kam er zu dem Entschluss, dass es jemand mit engen Beziehungen zu den großen jüdischen Institutionen in den Vereinigten Staaten sein müsste, der die Informationen an das Weiße Haus weiterzuleiten vermochte. Er verabredete sich für den folgenden Tag mit einem einflussreichen jüdischen Verbindungsmann aus der Welt der Hochfinanz. In dieser Nacht traf sich Schulte zunächst zu einem späten Dinner mit einer jüdischen Frau namens Doris, mit der er eine leidenschaftliche Affäre hatte. Während sie speisten, fiel Doris auf, wie sorgenvoll Schulte aussah. Dieser erklärte ihr nur trocken, dass es „Probleme gebe“.18 Am folgenden Morgen traf Schulte seinen Verbindungsmann und schilderte ihm unverzüglich Hitlers Plan zur Auslöschung der Juden Europas, nicht Tausender, nicht Hunderttausender, sondern jedes einzelnen Mannes, jeder Frau und jedes Kindes im Zugriff des „Dritten Reiches“. Er drängte sein Gegenüber mit starken Worten, diese Informationen unmittelbar an die führenden jüdischen Organisationen in den USA und an die US-Regierung selbst weiterzugeben. Er machte unmissverständlich klar, das jüdische Volk werde, wenn man jetzt keine Gegenmaßnahmen ergriff, ausgelöscht. Man baue bereits an einem großen Krematorium, und die Nationalsozialisten planten, drei bis vier Millionen Juden in den Osten zu bringen, wo sie mit Blausäure vergiftet werden sollten. Schulte beschwor, diese Details würden aus vertrauenswürdigen Quellen stammen, die sich in den oberen Riegen des NS-Regimes befänden und die den Plan ansonsten mit größter Geheimhaltung behandelten.

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Schultes Kontaktmann saß wie versteinert da. So unglaublich das Vorhaben klang, so wusste er doch bereits, dass die Juden Osteuropas zusammengetrieben und in Pogromen ermordet wurden. Doch in einem solchen Maßstab war das Töten fast unvorstellbar. Hier ging es nicht um die Russen, die polnische Offiziere liquidierten, um litauische Menschenmengen, die Juden einkesselten und zur Massenerschießung an frisch gegrabene Gruben trieben, oder umherziehende Nazi-Horden, die jeden töteten, der ihnen in die Quere kam. Hier ging es um den Tod in einer bisher nicht gekannten Größenordnung. Hätte irgendein anderer ihm davon erzählt – im Krieg blühten die Gerüchte –, wäre er womöglich skeptisch geblieben. Eduard Schulte jedoch war eine absolut glaubwürdige Quelle. Ein Problem – und ein entscheidendes Problem – war, dass Schultes Verbindungsmann den entsprechenden Diplomaten oder jüdischen Schlüssel­ figuren in der Schweiz nicht nahe genug stand. Er schlug daher vor, einen Kollegen, einen jüdischen Journalisten, der in allen wichtigen Zirkeln in der Schweiz respektiert wurde, einzubinden. Schulte erklärte sich einverstanden. Um keine Zeit zu verlieren, rief der Kontaktmann den Journalisten sofort an. Er erfuhr, dieser sei nicht in der Stadt, hinterließ ihm aber die Nachricht, es gehe um „Leben und Tod“.19 Als er den Journalisten Benjamin („Benno“) Sagalowitz20 endlich erreicht hatte, war dieser bereit, am nächsten Tag nach Zürich zurückzukehren. Doch angesichts der knappen Zeit und der großen Gefahr konnte sich Schulte nicht persönlich mit Sagalowitz treffen. Schulte wurde auf einer wichtigen Konferenz in Berlin erwartet, die er nur schlecht versäumen konnte, wollte er den Schein wahren. Er erlaubte dem Verbindungsmann aber, seinen Namen zu nennen – aber nur Sagalowitz gegenüber. Schulte saß bereits im Zug nach Hause, als sich der Kontaktmann mit Sagalowitz traf. Er erklärte ihm, dass Schulte, ein einflussreicher deutscher Industrieller, eine erschreckende Nachricht zu übermitteln habe. Mit diesen Worten zog er ein zusammengefaltete Stück Papier aus der Tasche und las dessen erschütternden Inhalt vor: „Von absolut glaubwürdiger Seite habe ich die Information erhalten“, hob er mit vor Gefühlen brüchiger Stimme an, „daß im Führerhauptquartier ein Plan erörtert wird, alle noch verbliebenen europäischen Juden zu töten.“21 Nachdem er die ganze traurige Geschichte weitergegeben hatte, betonte er, was schon Schulte so wichtig gewesen war: Nun müsse „gehandelt“ werden. Und mit „handeln“ meinte er weder Diplomatie noch die übliche Protestnote des US-Außenministeriums oder eine Warnung der Alliierten. Es ging ihm um

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ein deutlicheres Zeichen, etwa die Verhaftung aller deutschen Staatsbürger in den Vereinigten Staaten. Benjamin Sagalowitz sagte erst einmal nichts und verdaute, was er soeben gehört hatte. „Darf ich mich auf ihn berufen, wenn ich die Nachricht weiterleite?“, wollte er wissen. Der Kontaktmann schüttelte den Kopf. „Unter keinen Umständen.“22 Für Sagalowitz war noch einiges ungeklärt. Handelte es sich hierbei um Propaganda, so wie bei den apokryphen Geschichten über Grausamkeiten während des Ersten Weltkriegs: Dass die Deutschen Säuglinge auf ihre Bajonette spießten oder lebendig aßen und Nonnen vergewaltigten?23 Sagalowitz erwog, was er bisher erfahren hatte, und glaubte nicht an eine Propagandamasche. Vor gerade einmal einer Woche hatte er einen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung, einer führenden Schweizer Tageszeitung, ausgeschnitten, der über Winston Churchills Auftritt vor amerikanischen Juden im Madison Square Garden berichtete. Churchill hatte eindringlich gewarnt, dass bereits eine Million Juden getötet worden seien und Hitler sich erst zufriedengeben würde, „wenn die Städte Europas“, in denen Juden lebten, in „riesige Friedhöfe“ verwandelt worden seien. Bestätigte Schulte dies nicht geradezu? Hatte man Hitler nicht immer wieder unterschätzt? Außerdem befand sich der Führer gerade im Zenit seiner Macht – einen Großteil West- und Osteuropas hatte er erobert, und seine Truppen schienen in Nordafrika genauso unaufhaltsam zu sein wie im nördlichen Norwegen. In der Sowjetunion hatte die Wehrmacht die Außenbezirke von Moskau erreicht. Der Kontinent stand kurz vor dem Zusammenbruch, und sogar die verbliebenen neutralen Staaten wurden von einer tödlichen Mixtur aus Angst und Gerüchten vergiftet. Sagalowitz glaubte, nur ein Mann könne den Unterschied zwischen Leben und Tod für Millionen von Juden ausmachen. Genau wie Schulte war er der Überzeugung, Präsident Roosevelt sei so schnell wie möglich zu kontaktieren. Doch wie sollte das glücken, wo doch derzeit scheinbar die gesamte freie Welt versuchte, die Aufmerksamkeit des amerikanischen Präsidenten auf sich zu ziehen? Die Verantwortung dafür sollte auf den Schultern eines jungen, eingewanderten Anwalts ruhen, der in einem muffigen Büro im ehemaligen Hotel Bellevue in Genf arbeitete. Sagalowitz’ Kontakt war gerade einmal 30 Jahre alt und hieß Gerhart Riegner. Riegner, klein, dürr, mit einem schiefen Grinsen und zurückgekämmtem Haar, war gebürtiger Berliner, fest in der deutschen Kultur verwurzelt, und

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entstammte einer wohlsituierten jüdisch-bürgerlichen Familie. Nach seinem Studium an der Sorbonne und der Aufnahme in die Pariser Anwaltskammer arbeitete er, wie sein Vater, als Jurist. Dann folgte Rückschlag auf Rückschlag: Hitler übernahm die Macht, und genau wie Deutschland gab auch Frankreich seine Toleranz gegenüber Juden auf. Die französischen Behörden ordneten zudem an, es sei Ausländern fortan verboten, in den ersten zehn Jahren nach der Einbürgerung als Rechtsanwalt tätig zu sein. Am Ende mit seinem Latein, holte sich Riegner, der sogar kurz die Auswanderung nach Palästina erwogen hatte, Rat bei einem hervorragenden Rechtsphilosophen, der ihm vorschlug, nach Genf zu ziehen und sich mit internationalem Recht zu beschäftigen. Riegner folgte diesem Vorschlag und zog in die Schweiz, wo er 1936 tatsächlich in Genf eine Stelle beim Völkerbund fand. Seine großartig klingende Aufgabe bestand darin, die Einhaltung der Minderheitenrechte zu „überwachen“, die in den am Ende des Ersten Weltkriegs ratifizierten Verträgen garantiert worden waren. Doch mit Hitlers Aufstieg ging der Niedergang des Völkerbunds einher, der schon bald ganz dahinschwand. Trotzdem fielen die Anstrengungen des jungen Anwalts Nahum Goldmann auf, dem Gründer des Jüdischen Weltkongresses, der ihn deshalb bat, das Tagesgeschäft dieser Organisation in Genf zu übernehmen. Das war eine gewaltige Aufgabe. Mit einem Mal war Riegner, selbst ein höflicher, gewissenhafter und zurückhaltender Flüchtling, in der Lage, über die zunehmende Verfolgung der Juden zu berichten. Er hatte damit einen der bedeutendsten „Horchposten“ im NS-dominierten Europa inne, zumal ihn nach und nach die ersten Berichte über Massaker an Juden erreichten. Dabei war der Jüdische Weltkongress eher ein Papiertiger denn eine einflussreiche Organisation. 1936 gegründet, um die Rechte der Juden in Europa zu schützen und „die demokratische Welt gegen die Gräueltaten der Nationalsozialisten zu mobilisieren“, hatte er weder finanzielle Mittel noch Autorität oder diplomatischen Einfluss. Er unterhielt ein karges Büro in New York und ein ebenso karges in London, hatte ein paar Abgesandte in anderen Ländern und stand einer gleichgültigen Öffentlichkeit und einer überwältigenden westlichen Allianz gegenüber. Die Protestaufrufe und Forderungen nach Wirtschaftsboykotten gegen das „Dritte Reich“, die der Jüdische Weltkongress herausgab, verhallten ungehört, und das Anprangern des zunehmenden Antisemitismus blieb weitgehend unbeachtet. Einzig von Nahum Goldmann, dem Gründer und Präsidenten, ging eine gewisse Autorität und Überzeugungskraft aus. Ursprünglich hatte der Jüdische Weltkongress sein Hauptquartier in Paris gehabt, doch nachdem Frankreich von der Wehrmacht überrannt worden war,

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hatte er nach Genf ausweichen müssen, wo bereits ein Verbindungsbüro bestanden hatte. Seit 1940 war ein Großteil Europas unter deutscher Besatzung, und sogar in der neutralen Schweiz fühlte Riegner sich nie ganz sicher. Daher trug er stets einen mit existenziellen Dingen gefüllten Rucksack bei sich, um „bereit zu sein, in die Berge zu fliehen“, sollten ihm die Deutschen zu nahe kommen. Ein gefälschter bolivianischer Reisepass inklusive Ausweis sowie ein Not-Visum für die Vereinigten Staaten gehörten zu seinem Notfallpaket. Ihm war sehr wohl bewusst, dass die Schweiz nur widerwillig Flüchtlinge aufnahm und dass, was seine persönliche Sicherheit betraf, die Uhr unablässig tickte. Tatsächlich begann die Schweizer Polizei keine Woche nach Riegners Gespräch mit Sagalowitz damit, jüdische Flüchtlinge, die es über die Grenze geschafft hatten, wieder abzuschieben. Und er nahm auch andere besorgniserregende Anzeichen in seiner Umgebung wahr. Seine erste Begegnung mit dem Antisemitismus hatte er schon im Alter von fünf Jahren gehabt, als ihn ein Mitschüler als „kleinen Drecksjuden“ beschimpfte. Ihm stand noch vor Augen, wie 1933 NS-Schlägertrupps vor seinem Elternhaus in Deutschland gestanden und immer wieder „Juden raus! Juden raus!“ gebrüllt hatten, während er sich erschrocken im Badezimmer versteckte. Er konnte auch die Szenen nicht vergessen, wie Braunhemden die Fensterscheiben jüdischer Wohnungen und Geschäfte einwarfen, Juden auf die Straße trieben, ihnen nachjagten, sie schlugen, quälten und schließlich töteten. Fünf Stunden lang hatten Riegner und Sagalowitz während des Mittagessens über jedes Detail, das sie von Schulte erfahren hatten, gesprochen.24 Riegner wollte sich selbst von Schultes Glaubwürdigkeit überzeugen, doch Sagalowitz besänftigte ihn. Nach dem Essen spazierten sie noch ein Stück an den schönen Stränden des Genfersees entlang und betrachteten die Boote, die ins Wasser gestoßen wurden. Der Himmel war wolkenlos, die Aussicht und die Gerüche bezaubernd. Anfänglich hatte Riegner sich ungläubig gezeigt, als er von Schultes Warnungen gehört hatte. Seine erste Reaktion bestand darin, nach einem Fehler zu suchen, denn das alles ergab keinen Sinn. Natürlich hatte er von den zunächst noch schwammigen Gerüchten über Pogrome, dann von den immer ausführlicheren und genaueren Berichten über die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten gehört. Er wusste, dass es Verhaftungen und Deportationen gab, er wusste von der brutalen Ghettoisierung und den unberechenbaren Inhaftierungen, der Zwangsarbeit und den Massentötungen, und von dem heimtückischen Einsatz mobiler Gaswagen hatte er ebenfalls gehört. Auch dass Hitler in drei großen Reden offen angekündigt hatte, die Juden Europas auslöschen zu wollen, war kein Geheimnis.

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Darüber hinaus erinnerte er sich, wie Anfang 1942 einer seiner Kollegen einen Brief mit der furchtbaren Schlussfolgerung beendet hatte: „Die Zahl unserer Toten nach dem Krieg wird nicht in Tausenden anzugeben sein und nicht in Hunderttausenden, sondern in mehreren Millionen …“ Und im Juni 1942 wurde Riegner selbst deutlich, dass immer mehr Teile Europas von Juden „gesäubert“ wurden: Frankreich, Belgien, Österreich, die Niederlande, Deutschland selbst und nun auch Polen. Wohin diese Juden aber umgesiedelt wurden, schien niemand genau zu wissen. Schultes Bericht war deshalb außergewöhnlich, weil er nicht von jüdischen Opfern oder jüdischen Behörden stammte, sondern von einem deutschen Industriellen, der Zugang zu Hitlers engstem Kreis hatte. Und Gaskammern? Von ihnen hörte Riegner zum ersten Mal, und erstmals gab es auch einen Beweis dafür, dass die Nationalsozialisten einen koordinierten Vernichtungsplan für ganz Europa und darüber hinaus entworfen hatten. Die Straßen waren fast leer. Für Riegner war die Zeit des Zögerns vorbei. Er und Sagalowitz waren ungemein erschüttert. Beiden Männern war klar, dass man sie der schlimmsten Form der Panikmache beschuldigen konnte. Doch wenn diese Informationen der Wahrheit entsprachen, zählte nun jeder Tag, zählte im Grunde jede Stunde. Wie schon Schulte selbst, glaubte auch Riegner, dass diese Informationen Präsident Roosevelt erreichen mussten und zwar schnell. Doch zunächst galt es ein offenes Ohr zu finden. Also entwickelte Riegner einen Plan. Er und Sagalowitz wollten sich am Montag, den 3. August, in Zürich wieder treffen, und damit hatten die Bemühungen um etwas, das in die Geschichte als das „Riegner-Telegramm“ eingehen sollte, begonnen. Selbstredend ahnten weder Riegner noch Schulte, dass Hitlers Plan schon umgesetzt wurde und die geheime Mordmaschine der Nationalsozialisten bereits auf Hochtouren lief. In Treblinka, Sobibór und Belzec starben bereits massenhaft Juden, und das NS-Regime hatte seinen Angriff auf das Warschauer Ghetto begonnen, in dem sich die Juden ebenso heroisch wie vergeblich zur Wehr setzen würden. Bis jetzt waren bereits etwa 1,5 Millionen Juden ermordet worden. Zurück in Breslau führte Eduard Schulte bei aller Aufregung ein tadelloses Doppelleben. Auf der einen Seite setzte er sein selbstbewusstes Auftreten und seinen Arbeitsalltag fort. Er kümmerte sich um die heikle Frage der Zinkliefe-

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rung für die Munitionsproduktion, wie vom Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion nun verlangt, um die von ihm selbst anberaumten Termine und Besprechungen, und stets ging es darum, ausreichend Rohstoffe für die Produktion heranzuschaffen. In seinem zweiten Leben aber arbeitete er so oft wie irgend möglich daran, weitere Details über die Pläne zur Ermordung jedes einzelnen Juden in Europa zu erfahren. Und er hoffte inbrünstig, dass seine Kontakte in der Schweiz seine Hinweise beachteten. Und es gab eine weitere Botschaft, für die er sich Beachtung erhoffte. Aus seiner Verbindung mit dem inneren Zirkel des „Dritten Reiches“ wusste er, dass einfache Erklärungen oder diplomatische Proteste auf Hitler und seine Anhänger wenig Wirkung entfalten würden. Das NS-Regime verachtete Roosevelt und respektierte nur Gewalt. Daher würde nur eine dramatische Maßnahme oder ein krachender Schlag die NS-Führung ins Schwanken bringen, etwa die öffentlichkeitswirksame Verhaftung von Hunderttausenden Deutschen, die in den USA lebten – vergleichbar mit der Inhaftierung von japanischen US-Amerikanern nach Pearl Harbor, die Roosevelt durchgesetzt hatte. Oder ein alliierter Bombenangriff. Seit ihm das Ausmaß seines Risikos wirklich bewusst geworden war, rechnete Schulte täglich damit, dass die SS an seine Tür klopfen und ihn abholen würde. Für Riegner war es eine Zerreißprobe, doch da das europäische Judentum Stück für Stück zerstört wurde, zeigte er sich entschlossen, sich nicht von der schieren Größe seiner Aufgabe entmutigen zu lassen. Nach seiner eigenen Aussage brauchte er zwei Tage, um „der ganzen Sache einen Sinn zu geben“, doch nach reiflicher Überlegung entschloss er sich, sowohl den amerikanischen als auch den britischen Konsul in Genf zu kontaktieren und ihnen die Informationen für ihre jeweiligen Regierungen weiterzugeben.25 Außerdem sollte eine verschlüsselte Nachricht an Stephen Wise gehen, einen der bekanntesten Juden in den Vereinigten Staaten und persönlichen Freund und Berater von Präsident Roosevelt. Am Morgen des 8.  August machte er sich auf den Weg zum britischen Konsulat und gab dort Schultes Informationen weiter. Am 10. August um 16:48 Uhr wurde ein verschlüsseltes Telegramm nach London ins Außenministerium geschickt, das dort am selben Abend um 18:25 Uhr eintraf. Noch am gleichen Tag betrat Riegner auch das amerikanische Konsulat, wo er vom Vize-Konsul Howard Elting Jr. empfangen wurde.26

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Inzwischen war der normalerweise beherrschte Riegner in „großer Unruhe“,27 als er das unglaubliche Vorhaben der deutschen Regierung vortrug: „[I]n Hitlers Hauptquartier [wird] ein Plan erwogen, alle Juden aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten in Europa zunächst im Osten (wahrscheinlich Polen) zu konzentrieren und dann zu vernichten.“ Er fuhr fort: „Die Anzahl der Opfer soll zwischen dreieinhalb und vier Millionen liegen, und das Ziel soll die endgültige Lösung der jüdische Frage in Europa sein.“ Der gepflegte Elting – er hatte schwarzes, wallendes Haar und trug einen Dreiteiler – sagte zunächst kein Wort, erschien ihm der Bericht doch zu „abenteuerlich“. Riegner nickte verständnisvoll: Auch er hatte es zu Beginn so empfunden. Doch er betonte, dass die Angaben mit Berichten über jüngste Massendeportationen sowie mit allem anderen übereinstimmten, was er von ­deutschen Maßnahmen gegen Juden wusste. Damit händigte er Elting eine Zusammenfassung der Nachricht aus und drängte darauf, sie möge so schnell wie irgend möglich nach Washington, an die anderen alliierten Regierungen sowie an Stephen Wise telegrafiert werden. Alle Bedenken, die Elting noch gehabt haben mochte, wurden von Riegners Ernsthaftigkeit zerstreut. Elting verlor keine Zeit und gab Riegners Erklärung an die amerikanische Gesandtschaft in Bern weiter und fügte hinzu, nach seiner „persönlichen Meinung“ sei Riegner ein „seriöser und ausgeglichener Mensch“.28 Außerdem empfahl er, den Bericht an das Außenministerium weiterzugeben. Als er gebeten wurde, einen formellen Bericht für den Außenminister zu erstellen, unterstrich Elting die „äußerste Seriosität“ seines Informanten. Zehn Tage, nachdem Schulte in Zürich angekommen war, musste es allen Beteiligten so erscheinen, als würden schon in kürzester Zeit Roosevelt, Churchill und der Rest der Welt von Hitlers Plänen mit den Juden wissen. Doch da irrten sie sich gewaltig. Wohl zu keinem anderen Aspekt des Krieges dürfte das Weiße Haus derart glaubwürdige Informationen aus dem Herzen des „Dritten Reiches“ erhalten haben. Doch in dem Brief vom 11. August, den der amerikanische Gesandte in der Schweiz, Leland Harrison, dem Riegner-Bericht beilegte, gedachte dieser, einen Strich unter der ganzen Sache zu ziehen, indem er den Bericht abtat als „Kriegsgerüchte, entstanden aus Furcht und aus der nach allgemeiner Ansicht tatsächlich sehr elenden Verfassung dieser Flüchtlinge, die der Dezimierung

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infolge physischer Mißhandlung, Verfolgung und kaum noch erträglicher Entbehrungen, Unterernährung und Krankheiten entgegensehen.“29 Riegners Telegramm landete nicht im Büro des Präsidenten, dem Oval Office, sondern auf dem Schreibtisch eines Mitarbeiters im Außenministerium, der für europäische Angelegenheiten zuständig war.30 Keiner der Verwaltungsmitarbeiter maß dem Schrieb Bedeutung zu. Ein Mitarbeiter, der reizbare Paul Culbertson, war der Meinung, die Schweizer Gesandtschaft sollte „wegen dieser Dinge“ keine Telegramme schicken. Sein Kollege, der langweilige und farblose Elbridge Durbrow, vertrat sogar eine noch härtere Linie und kommentierte, die Mitarbeiter in Bern sollten es ablehnen, solche Nachrichten überhaupt „an Dritte“ weiterzuleiten. Er notierte zudem, mit tragischer Sicherheit, „USamerikanische Interessen“ seien nicht betroffen. Und wie glaubwürdig schien ihnen diese Enthüllung eines deutschen Industriellen? Das Ganze war „unwahrscheinlich“ und nur ein weiteres Kriegsgerücht. War man neugierig, wer dieser deutsche Industrielle war? Erstaunlicherweise nicht. Hatte man Interesse daran, herauszufinden, wie eng er mit Hitlers engstem Kreis in Verbindung stand? Ebenso erstaunlicherweise nicht. Und was war mit dem durchaus bekannten Riegner? Der wurde schlicht als unstet, ungestüm und lästig abgetan. Die Routine im Außenministerium ging völlig unbeeindruckt vom RiegnerBericht weiter. Es war, als hielten sich die Männer in Washington Augen und Ohren zu und warteten einfach darauf, dass sich das ganze Durcheinander von selbst auflöse. Die einzige Entscheidung, die das Außenministerium noch treffen musste, war, ob es den Bericht an Roosevelts Verbündeten, den Rabbi Stephen Wise weiterleiten sollte, so wie Riegner es gefordert hatte. Die Antwort lautete: nein. „Niemals habe ich mich so sehr verlassen, machtlos und einsam gefühlt“, erinnerte sich Riegner später, „wie in dem Moment, in dem ich schockiert der freien Welt die Nachrichten über diese Katastrophe schickte, mir aber niemand glauben wollte.“ Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Schulte ähnlich verzweifelt war.

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Das Riegner-Telegramm In den folgenden Tagen dachte man innerhalb des Außenministeriums erneut über das Riegner-Telegramm nach. Allerdings nicht über dessen Inhalt, sondern nur über das weitere Vorgehen. Einem Ministeriumsmitarbeiter, Paul Culbertson, gefiel nach wie vor die Vorstellung nicht, es an Rabbi Stephen Wise weiterzuleiten, doch er warnte: „Aber wenn der Rabbi erfährt, dass wir den Bericht hatten und ihn nicht informiert haben, könnte er Stunk machen.“1 Sein Lösungsvorschlag war, ihm den Bericht zukommen zu lassen, allerdings mit einer abschwächenden Beurteilung und der Ergänzung, dass der „Botschaft keine Informationen vorliegen, die die Geschichte bestätigen“. Andere im Ministerium, etwa Elbridge Durbrow, waren ganz anderer Meinung. Er schätzte die Beschuldigungen in dem Telegramm noch immer als „phantastisch“ ein. Und selbst wenn die Morde stattfinden sollten, machte er sich Gedanken über die „Unmöglichkeit […], irgendwelche Hilfe zu leisten“. Seine Empfehlung? Den Bericht beerdigen und weitermachen wie zuvor. Und genau das taten sie auch. Außerdem schrieb Durbrow ein Memorandum, in dem er festhielt, die Schweizer Gesandtschaft solle in Zukunft derartige Nachrichten nicht mehr an „Dritte“ weiterleiten, es sei denn, es würden ganz eindeutig „amerikanische Interessen“ berührt.2 Dieses Memorandum war wegweisend: In den folgenden sechs Monaten bemühte sich das Außenministerium deutlich, den weiteren Fluss von Informationen aus der Schweiz über die Massentötungen auszutrocknen. Vier Tage später ließ das Außenministerium Leland Harrison, den US-Gesandten in der Schweiz, wissen, Riegners Nachricht würde wegen ihrer „substanzlosen Art“ nicht an Wise weitergeleitet, und ein Woche später erhielt auch Riegner selbst diese Auskunft. Doch im selben Atemzug erklärte man ihm, dass sein Bericht, sollte Riegner noch „überzeugendere Informationen“ liefern können, näher geprüft würde. Nun lag Riegners letzte und größte Hoffnung, Roosevelt doch noch zu erreichen, auf Stephen Wise, der nichts davon ahnte.

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Wer war dieser Stephen Wise, und warum war er so wichtig? Auf dem Papier und als Person gab es niemanden, der geeigneter war als er, das Riegner-Telegramm zu publizieren, war er doch brillant, eigensinnig, gebieterisch und aufrührerisch. In den 1930er- und 1940er-Jahren war er zudem der bekannteste Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in den USA. Für seine Anhänger war er ein bewährter Diplomat, jemand, der unverbrüchlich die Wahrheit sagte, und ein standhafter Verteidiger der Unterdrückten. Seine Gegner hielten ihn für dogmatisch und warfen ihm vor, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen – oder auch einfach nur ein Ärgernis zu sein. Doch weder Freund noch Feind konnte seine beachtlichen Verbindungen leugnen, geschweige denn seinen unermüdlichen Einsatz. 1874 als Enkel des ungarischen Oberrabbiners in Budapest geboren, verlieh ihm seine Abstammung einen Hauch von Adel. Die Eltern sprachen Deutsch und, als Stephen noch ein Kleinkind war, emigrierten sie nach New York. Hier verband er auf bemerkenswerte Weise zwei unterschiedliche Stränge des Judentums, die sich sonst nur schwer verknüpfen ließen: Er ging in der Neuen Welt auf, machte etwa seinen Abschluss an der Columbia University, erhielt aber auch die Verbindungen zur Alten Welt aufrecht und wurde in Wien zu einem Rabbi des Reformjudentums ordiniert. Er stand zunächst der Synagoge in Portland, Oregon, vor und gründete später die Freie Synagoge von New York, die schnell genauso beliebt wie berühmt war. Hier genoss Wise Kanzelfreiheit und konnte nach eigenem Gutdünken predigen. Zudem waren in der Freien Synagoge alle Abgaben völlig freiwillig. Als glühender politischer Liberaler lag ihm die soziale Gerechtigkeit besonders am Herzen. Er bemühte sich um Gesetze gegen Kinderarbeit, war ein ausgesprochener Verfechter von Arbeiterrechten, verlangte Zuschüsse für streikende Angestellte und warb unablässig für Redefreiheit und Bürgerrechte. Mit reformorientierten christlichen Vertretern bildete er eine feste Allianz und kämpfte für politische Anliegen wie rechtschaffene Stadtregierungen, freie Gewerkschaften und für die Rechte der Schwarzen. Mit jeder Auseinandersetzung wurde er kühner, und so gehörte zu seinen vielen Errungenschaften auch, dass er die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP, eine nationale Organisation zur Förderung farbiger Menschen) mitgründete. Schließlich wachte er eines Morgens auf und stellte wie Lord Byron fest, dass er berühmt geworden war.

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Im Privatleben war Wise humorvoll, seinen Freunden zugewandt und voller Liebe für seine Familie. Trat er in der Öffentlichkeit auf, erschien er charismatisch, voller Energie, aufrichtig und machte als begnadeter Redner nicht nur in der jüdischen Gemeinde auf sich aufmerksam. Ganz gleich, ob er die Juden verteidigte oder für die Armen kämpfte, immer war er eloquent und immer tönte seine Stimme voll. Die leidgeprüften Massen wühlte er mit seiner zentralen Botschaft auf: Fühlt euch nicht länger unterlegen und glaubt euch nicht länger verachtet und allein. Auch sein äußeres Erscheinungsbild passte dazu: Groß und kräftig wie er war, besaß er die Statur eines Stahlarbeiters, die Kraft eines Ringers und die Präsenz eines Staatsmannes. Mit seiner wilden Haarpracht und den weit ausholenden, kräftigen Armen hinterließ er einen bleibenden Eindruck bei seinen Zuhörern. Und da er sich in beiden Sphären, der Religion und der Politik, mühelos bewegte, wuchs seine politische Macht rasant. Als junger Mann auf Dienstreise in Europa, hatte Wise 1898 den weithin bekannten Gründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, kennengelernt und schon bald darauf mit den meisten Reformrabbinern gebrochen, um ein früher Zionist zu werden, der einen eigenen jüdischen Staat anstrebte. Wise wurde zudem Stellvertreter des späteren Richters am Obersten Gerichtshof Louis Brandeis, und die beiden Männer gaben Präsident Woodrow Wilson den Anstoß, die Balfour-Deklaration von 1917 zu unterstützen. In dieser Erklärung sicherte Großbritannien dem jüdischen Volk seine Unterstützung bei der Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina zu. In den folgenden Jahren hinterließ Wise nahezu überall dort seine Spuren in den USA, wo es um jüdisches Leben ging. Er wurde Präsident des Jüdischen Weltkongresses, jener Organisation in der auch Riegner beschäftigt war und die Wise 1920 mit aus der Taufe hob; des American Jewish Congress, des Jewish Institute of Religion, einer bekannten theologischen Hochschule, sowie der Zionist Organization of America. Daneben war er Herausgeber der Zeitschrift Opinion und die treibende Kraft hinter der Zeitung Congress Weekly. Mit Ausbruch der Großen Depression ergriff Wise früh und häufig das Wort für eine Arbeitslosenversicherung und umfangreiche Maßnahmen zur Milderung der wirtschaftlichen Folgen. Zu diesem Zeitpunkt pflegte Wise bereits regelmäßigen Umgang mit dem Demokraten Franklin D.  Roosevelt, den er bemerkenswerterweise schon 1928 beim Wahlkampf um den Posten des Gouverneurs von New York gegen einen jüdischen Kandidaten der Republikaner unterstützt hatte. „Ich habe nie als Jude gewählt“, sollte Wise später in seiner Autobiografie schreiben, „sondern immer nur als Amerikaner.“ Als früher Fürsprecher des New Deal pflegte Wise Kontakte zu solch herausragenden De-

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mokraten wie Roosevelts Berater Henry Morgenthau  Jr., Felix Frankfurter, Frances Perkins und Harold Ickes. Obwohl Wise zu einem gut informierten Mitglied der obersten Führungsriege in der amerikanischen Politik wurde, blieb seine persönliche Beziehung zu Roosevelt komplex und ambivalent. Wo Roosevelt durch und durch pragmatisch war, war Wise radikal; während sich Roosevelt auf Politiker jeglicher Couleur einließ, wenn sie ihm nützten, schied Wise seine Welt klar in solche, die recht hatten, und solche, die irrten. Roosevelt war eine Mischung aus Aufrichtigkeit und Verschleierung, Wise hingegen abgestoßen von jedem, der sich nicht offen und direkt verhielt. Kurz: Roosevelt war ganz Ich, Wise ganz Über-Ich. Als Roosevelt sich während des Präsidentschaftswahlkampfs 1932 nicht eindeutig gegen die politischen Machenschaften der „Tammany Hall“ genannten Seilschaften in New York stellte, entzog ihm ein enttäuschter Wise seine Unterstützung. Ein Jahr später gelang es Roosevelt jedoch, dank seines Charmes und des New Deals, Wise wieder auf seine Seite zu ziehen, woraufhin ihm dieser treu und dauerhaft zur Seite stand. Er nannte Roosevelt fortan den „Boss“ und schwärmte von ihm wie von einem Helden: „Er hat meine uneingeschränkte Unterstützung wiedererlangt, und ich habe, egal wohin ich kam, nur in grenzenloser Begeisterung von ihm gesprochen“.3 So warb Wise auch 1936 aus ganzem Herzen für eine zweite Roosevelt-Amtszeit, blieb 1937 von Roosevelts gescheiterten Bemühungen, den Obersten Gerichtshof zu reformieren, und der zunehmenden Opposition gegen den Präsidenten im Kongress unbeeindruckt, und unterstützte 1940 noch die dritte Präsidentschaftskandidatur Roosevelts. In guten wie in schlechten Tagen war Wises Vertrauen in den Präsidenten grenzenlos. Von Hitlers Machtantritt im Jahr 1933 an wurde der ebenso akribische wie aufbrausende Wise zu einem unerbittlichen Feind des NS-Regimes. Während sich das Magazin Time offenbar von Hitlers Großspurigkeit unterhalten fühlte, ihn mit den Worten „schnurlippig und leicht dickbäuchig“ karikierte, und in ihm bloß eine Witzfigur mit gewissen Ähnlichkeiten zu Charlie Chaplin sah, wusste Wise es besser.4 Von Anfang an erkannte er, welch Unheil angebrochen war. Als die Braunhemden mit ihren Schaftmützen und Hakenkreuzarmbinden anfingen, Juden anzugreifen und niederzuknüppeln, Männer wie Frauen, Alte wie Junge, die sich weigerten, den Arm zum Hitlergruß zu strecken, während NS-Anhänger mit „Deutschland erwache!“ auf den Lippen durch die Straßen marschierten, erkannte Wise schnell, dass es hier nicht um die Ausschweifungen einiger Übereifriger ging, sondern dass er Zeuge eines schrecklichen Kapitels der europäischen Geschichte wurde.

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Unermüdlich warnte Wise vor Hitler und bemühte sich, einen Boykott deutscher Waren durchzusetzen. Ferner drängte er Roosevelt dazu, sich dem NS-Regime entschlossen zu widersetzen, und war die treibende Kraft hinter vielen Demonstrationen gegen die Nationalsozialisten in New York City, von der eine im Madison Square Garden über 50 000 Menschen anzog. Seine Menschenkenntnis war jedoch nicht untrüglich, weshalb er es immer wieder versäumte, Präsident Roosevelt objektiv zu beurteilen oder gar kritisch zu hinterfragen. So war er in den 1930er-Jahren der festen Meinung, Roosevelt engagiere sich ebenso sehr wie er, um den verfolgten Juden zu helfen. Allerdings unternahm Roosevelt auch nichts, um Wise eines Besseren zu belehren, sondern beförderte ihn noch in das Advisory Committee on Political Refugees unter Vorsitz von James G.  McDonald. In den 1940er-Jahren glaubte Wise, Roosevelt werde sich von nichts aufhalten lassen, um Millionen von Opfern auf irgendeinem Wege vor dem Holocaust zu retten. Aus unterschiedlich guten Gründen war Wise zudem überzeugt, in Roosevelt einen eifrigen Unterstützer der zionistischen Bewegung zu haben. War die Roosevelt-Begeisterung von Wise also unbegründet? Ja und nein. Zu Beginn des Krieges hatte der Präsident bei seinen Kamingesprächen die Herzen der Nation bewegt – konnte er dies nun nicht erneut tun, um den Juden zu helfen? Doch beim Einsatz für seine eigene Sache musste Wise Rückschläge hinnehmen. Als er sich vergeblich bemühte, den Widerstand im Kongress gegen das Immigrationsgesetz von 1924 zu brechen, erfuhr er kaum Unterstützung durch Roosevelt. Und sein Bemühen darum, die britische Palästinapolitik zu beeinflussen, war auch deshalb erfolglos, weil ihm erneut die Rückendeckung der US-Regierung fehlte. 1941 und 1942 war Wise dann entsetzt über die fragmentarischen Berichte über die NS-Gräueltaten an den Juden, die aus Europa herüberdrangen. Besonders schmerzhaft war der Mai 1942, als er einem geschmuggelten Bericht die niederschmetternde Zahl von 700 000 ermordeten polnischen Juden entnahm. Wise war niedergeschlagener denn je. Als Mitglied des Beraterstabs des Präsidenten drängte Wise das Außenministerium und forderte es auf, Notfall-Besuchervisa an bedrohte Juden auszugeben. Unerschrocken riskierte er dabei sogar grimmige Auseinandersetzungen mit dem Ministerium und Irritationen in der Regierung. Doch weder die Frustration noch das Alter gingen spurlos an ihm vorüber. Der 68-Jährige war 1942 „alles andere als in guter Verfassung“, wie er einem Kollegen gegenüber zugab. Er litt an einem inoperablen doppelten Leistenbruch, der wiederholt mit Röntgenstrahlen behandelt werden musste, einer

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vergrößerten Milz und einer Knochenmarkskrankheit, die ihn sichtlich schwächte, worauf er keine Rücksicht nahm. Obwohl ihm diese Umstände das Fliegen erschwerten, verlangte sich Wise dennoch unzählige Reisen ab, die er meist per Zug unternahm. Im Verlauf der folgenden Monate gewann etwas anderes an Brisanz: Verschiedene Vorwürfe wurden von einer wachsenden Anzahl von Juden laut. Für die einen war Wise zu wechselhaft, für die Radikalen zu etabliert und für die Etablierten zu radikal. Dazu kam die hartnäckige Ansicht, sein Vertrauen in Roosevelt sei unangebracht, hänge er doch am Gängelband eines Präsidenten, der im Hinblick auf die Juden seinen Worten keine Taten folgen ließ. Und jeder Versuch Wises, die amerikanische jüdische Gemeinschaft zu einen, war ohnehin zum Scheitern verurteilt, lehnten die konservativen Juden doch seinen ausgesprochenen Liberalismus, den New Deal und den Zionismus ab, um nur ein paar Gründe zu nennen. Was auch immer seine Schwächen gewesen sein mochten, seine Sorgen waren ebenso berechtigt wie seine Leidenschaft. Und es bleibt eine Tatsache, dass Wise eine der entscheidenden Figuren in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und damit auch einer der wichtigsten jüdischen Führer in der Welt war. Wenn also irgendjemand auf Erden geeignet war, die Juden zu retten, so schien es Wise zu sein. Wenn überhaupt irgendjemand Roosevelt dazu bringen konnte, Maßnahmen zu ergreifen oder zwischen den sich bekriegenden Fraktionen im Außenministerium zu vermitteln, und wenn irgendjemand einfach so ins Oval Office marschieren und vor Roosevelts Augen mit dem RiegnerTelegramm wedeln konnte, so schien das Wise zu sein. Doch tatsächlich war er im August 1942 als Folge der Entscheidungen im Außenministerium kaum mehr als eine Randfigur. In Washington trafen auch weiterhin grässliche Berichte über Grausamkeiten der Nationalsozialisten ein. Doch die professionellen Diplomaten gingen weiterhin der Arbeit nach, die sie am besten beherrschten: Einwandfrei in gestreiften Hosen und weißen Kragen gekleidet, den Kneifer auf der Nase, stapelten sie Papiere, erstellten Tabellen und trafen sich zu Besprechungen. Und sie nahmen sich Zeit. Während Riegners Nachricht allerdings in Washington abgewiesen worden war, erregte sie in London durchaus Aufmerksamkeit. Zunächst hatte das britische Außenministerium gezögert und eine Woche lang abgewartet. Doch Riegner hatte klugerweise auch darum gebeten, dass sein Report an Samuel

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Sydney Silverman weitergeleitete werden solle, einen hoch angesehenen britischen Anwalt, der Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender der englischen Sektion des Jüdischen Weltkongresses war. Um sich nach allen Seiten abzusichern, hatte Riegner seinem Telegramm nach London eine zusätzliche Zeile eingefügt: „Bitte New York informieren und konsultieren“, womit Wise gemeint war. Am 28. August tat Silverman genau dies: Er telegrafierte Riegners Bericht in die USA und adressierte ihn direkt an Wise. Da es eine Sache war, die Nachricht eines eher unbekannten Schweizer Juden wie Riegner zu blockieren, und etwas ganz anderes, einen Bericht von einem britischen Abgeordneten zu unterschlagen, machte Silvermans Telegramm sowohl im Außen- wie auch im Kriegsministerium die Runde, während sich die Regierungsmitarbeiter von der Arbeit ab- und dem Brandy, Zigaretten und einer gepflegten Unterhaltung zuwandten. Es war Freitagnachmittag, und Wise bereitete sich gerade auf den Sabbat vor, als der Bericht auf seinem Schreibtisch landete. Wise ahnte natürlich weder, dass das Außenministerium das Riegner-Telegramm bereits kannte, noch, dass es entschieden hatte, ihm dessen Inhalte zu verschweigen. Mehrere Tage lang besprach Wise sich eindringlich mit einer Reihe Kollegen, die alle von den drastischen Schilderungen „völlig konsterniert“ waren. Am 2. September traf Wise die Entscheidung, Silvermans Telegramm an Sumner Welles weiterzugeben, den Staatssekretär im Außenministerium. Wise fügte eine persönliche Bemerkung hinzu, in der er Riegner als Gelehrten mit ­„tadelloser Zuverlässigkeit“ charakterisierte, der kein „Alarmist“, sondern vielmehr eine „konservative und ausgeglichene Persönlichkeit“ sei.5 Er bat den Staatssekretär, beim US-Gesandten in der Schweiz anzufragen, ob Riegner weitere bestätigende Informationen habe. Und er schlug endlich vor, das Riegner-Telegramm direkt Präsident Roosevelt vorzulegen. Warum sprach Wise nicht direkt mit dem Außenminister, dessen Frau doch selbst aus einer jüdischen Familie stammte? Wise rechnete damit, dass er von Welles mehr erwarten konnte als von Cordell Hull.6 Die Zusammenstöße und Blockaden zwischen diesen beiden Titanen, zwischen Hull und Welles, hatten jahrelang das Außenministerium geprägt. Und regelmäßig hatte sich herausgestellt, dass Roosevelt eher Welles als dem Außenminister sein Ohr lieh. Dies überraschte wenig, war Welles doch mit seinen fünfzig Jahren ein großgewachsener, würdevoller, blonder Mann mit den richtigen Beziehungen. Er hatte in

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Groton und Harvard studiert, verbrachte den Sommer in Bar Harbor und war mit Senator Charles Sumner aus Massachusetts verwandt, dem großen Kämpfer gegen Sklaverei und unerschütterlichen Anwalt der Freiheit. Doch weitaus wichtiger war, dass Sumner Welles viele Jahre lang ein enger Freund des Präsidenten – die New York Times schrieb, dass dieser Welles „persönlich gern mochte“ – wie auch der First Lady war, die sich mehr als sonst jemand in der Regierung um die Notlage der Juden kümmerte. Von Natur aus humanistisch veranlagt, wurde Sumner Welles zunehmend auch zum Vorkämpfer für die Juden. Doch auch Hulls Renommee war tadellos: Er kam aus einfachsten Verhältnissen und war inzwischen mit seinen 71 Jahren ehemaliger Kongress-Abgeordneter, Senator, Vorsitzender des Democratic National Committee und dienstältester Außenminister der USA. Zudem hatte er an der Entwicklung jener Organisation mitgewirkt, die später die Vereinten Nationen werden sollte, wofür er den Friedensnobelpreis erhielt. Allerdings stand es, ähnlich wie bei Roosevelt, um seine Gesundheit nicht zum Besten. Zu oft schien er erschöpft, neben der Spur und wenig mehr als nur das Aushängeschild des Außenministeriums zu sein. Einmal zwang ihn seine schwache Gesundheit gar, die Leitung des Ministeriums sechs Wochen lang an seine Untergebenen abzutreten. Und die Tatsache, dass seine Frau einer jüdischen Familie entstammte, war ganz und gar nicht hilfreich, sondern im Gegenteil ein Hindernis, denn er meinte stets beweisen zu müssen, dass er sich nicht von persönlichen Interessen leiten ließ. Deshalb war er auch mitverantwortlich dafür, dass die St. Louis im Juni 1939 mit den geflüchteten deutschen Juden an Bord zurückgewiesen wurde. Als sich Wise nun überlegte, wie er am geschicktesten das Dickicht der Regierungsintrigen durchdringen und Roosevelt erreichen konnte, schien Welles deshalb in der Tat eher der richtige Ansprechpartner zu sein. Es gibt Zeiten, in denen ist Eloquenz angebracht, und es gibt solche, da ist sie reine Zeitverschwendung. Die Verantwortlichen im Außenministerium, darunter sowohl Breckinridge Long als auch die Abteilung für europäische Angelegenheiten, waren der Meinung, Wise male die meiste Zeit über den Teufel an die Wand oder widme sich nur lästigen Nebenschauplätzen. Sie waren Meister darin, sich in frommen Plattitüden zu verlieren, ohne je etwas zu unternehmen. Folglich hatte die Abteilung für europäische Angelegenheiten zu diesem Zeitpunkt bereits ein zweites Telegramm für Wise aus London zurückgehalten, in dem er aufgefordert wurde, als Reaktion auf Riegners Bericht dringend die

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notwendigen Schritte zu veranlassen, nahmen die Briten die Bedrohung doch bereits eine ganze Weile durchaus ernst. Schon 1933 hatte der britische Botschafter in Berlin engagiert seine „große Sorge und Befürchtung“ angesichts eines Landes beschrieben, in dem „Fanatiker und Exzentriker die Oberhand“ gewonnen hätten.7 Im selben Jahr hatte zwar auch US-Senator Millard Tydings aus Maryland eine Resolution auf den Weg gebracht, die Roosevelt aufforderte, „eindeutig zu äußern, dass das Volk der Vereinigten Staaten überrascht und voller Schmerzen erfahren musste, welcher Diskriminierung und Unterdrückung die jüdischen Bürger im Dritten Reich ausgesetzt sind.“8 Doch das US-Außenministerium hatte dieses Ansinnen erstickt und aufgebracht behauptet, es bringe den Präsident in eine peinliche Situation. Das Ministerium hatte zudem wissen wollen, wie Roosevelt erklären sollte, dass es auch in den USA (und zwar, wie betont wurde, ausgerechnet in Maryland) zu Lynchmorden an Juden kommen konnte? Außenminister Hull selbst hatte sichergestellt, dass die Resolution im zuständigen Ausschuss unterging. Und auch Roosevelt hatte drei Monate nach Übernahme seiner Amtsgeschäfte zwar zugegeben, dass die Juden in Deutschland „schändlich“ behandelt würden, dann aber hinzugefügt, sie könnten nichts unternehmen, außer jenen zu helfen, die US-Bürger seien. Da er keine umfassendere Antwort wusste, hatte er im Scherz zu James Paul Warburg, Mitglied einer der führenden jüdischen Familien in den Vereinigten Staaten, gesagt: „Wissen Sie, Jimmy, es würde unserem Kumpel Hitler recht geschehen, wenn ich einen Juden als meinen Botschafter nach Berlin schicken würde. Hätten Sie Interesse an dem Job?“ Inzwischen waren diese Themen, die man 1933 diskutiert hatte, verblasst, denn es kamen immer neue Informationen über die Ermordung der Juden ins Land – aus der Schweiz, von der polnischen Exilregierung, aus London, von Quellen im weit entfernten Palästina. Fast jeden Tag vervollständigte sich ein nahezu untrügliches Bild, mochten sich einige Details auch als falsch oder veraltet erweisen. Ray Atherton, der Chef der Abteilung für europäische Angelegenheiten, säte jedoch Zweifel bei Welles, indem er darauf verwies, es gäbe keine verlässlichen Beweise darüber, wie viele Juden „in den Osten deportiert w[ü]rden“. Und was war mit der „Ausrottung“? Auch hier stellte er die Beweise infrage. Die Verantwortlichen im Außenministerium waren in der Tat überzeugt, die Juden würden als Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegführung missbraucht und verhielten sich bloß aus lauter Angst so still. Es ergehe ihnen somit ähnlich wie sowjetischen Kriegsgefangenen und polnischen Häftlingen.

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Da er keine Lust verspürte, gegen diese Wellen anzukämpfen, griff Welles am 3.  September zum Hörer und rief Wise an. Er verlangte, dass Wise das Riegner-Telegramm unter Verschluss hielte, bis es „bestätigt“ sei. Und Wise gab fatalerweise nach,9 nicht ahnend, wie viel Zeit sich die Regierung dafür lassen würde. In der Zwischenzeit fingen die NS-Verbrecher weiter Juden ein, rollten die Viehwaggons weiter gen Osten und wurden jeden Tag Hunderte und dann Tausende von Juden ermordet. Auch wenn er sich an Welles Weisung hielt und Riegners Bericht aus den Nachrichten heraushielt, so ergriff der erboste Wise jedoch hinter den Kulissen weitere Maßnahmen, um den gefährdeten Juden zu helfen. Diese Anstrengungen hinterließen jedoch ihre Spuren. Er gestand einem guten Freund, dem vornehmen Geistlichen Haynes Holmes: „Die Not meiner Leute treibt mich fast in den Wahnsinn.“10 Er war sich nicht sicher, welche Hebel er in Bewegung setzen, mit wem er sprechen oder welche Schritte er einleiten sollte. Eines Tages unterhielt er sich in New York mit einem Kollegen, der ein Telegramm aus der Schweiz empfangen hatte, in dem ihm mitgeteilt wurde, das Warschauer Ghetto sei „evakuiert“ und 100 000 Juden „bestialisch ermordet“ worden. Im Telegramm hieß es weiter, die Leichen der Opfer würden als „Kunstdünger“ missbraucht. Das Sendschreiben endete mit einer dringenden Bitte: „Nur energische Schritte aus Amerika können diese Verfolgungen beenden. Tun Sie, was immer Sie tun können, um eine amerikanische Reaktion zu erzwingen.“11 Die Formulierung „nur energische Schritte aus Amerika“ muss wie eine Sirene in seinen Ohren gedröhnt haben. Wises Kollege gab zu, er sei „durch dieses grauenhafte Telegramm körperlich zu Bruch gegangen“. So ähnlich erging es Wise. Wie von einer apokalyptischen Vorahnung gepackt, verstand er diese Nachricht als Bestätigung für Riegners Bericht. Eine Kopie des Telegramms wurde deshalb direkt an Franklin und an Eleanor Roosevelt weitergeleitet, doch eine Antwort blieb aus. Wise hatte zudem den angesehenen Richter am Obersten Gerichtshof, Felix Frankfurter, gebeten, mit Roosevelt persönlich zu sprechen, aber auch Frankfurter entschied sich dagegen.12 Das Ausmaß der Bedrohung war derart groß, dass Wise als Nächstes ein Komitee einflussreicher jüdischer Persönlichkeiten ins Leben rief, um die Regierung nach Kräften zu Maßnahmen zu drängen.13 Wise ersuchte darüber hinaus Myron C. Taylor, Roosevelts Botschafter beim Vatikan und Vertreter des Präsidenten bei der Konferenz von Évian, an den Papst zu appellieren. Tay-

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lor kam dieser Bitte nach, doch der Vatikan ließ ihn nur höflich wissen, der Papst würde sich nicht „auf Einzelheiten einlassen“. Zudem habe der Heilige Vater bereits gewarnt, „Gott segnet oder verurteilt die Herrschenden“, je nachdem, wie sie die ihnen anvertrauten Menschen behandelten. In New York City kam Wise in der Zwischenzeit mit dem President’s Advisory Committee on Political Refugees zusammen, doch diese Gruppe hatte weder bei ihrer Gründung noch jetzt wirklichen Einfluss. Dennoch gelang es Wise, eine Zusammenkunft seines jüdischen Komitees mit Sumner Welles und anderen Verantwortlichen für den 10. September zu vereinbaren. Mit schwerem Herzen und immer pessimistischer stieg Wise in einen Zug, der ihn nach Washington, D.C., bringen sollte. Der Terminkalender von Wise war prall gefüllt.14 Am 10. September 1942 konferierte er mit Sumner Welles, Vizepräsident Henry Wallace, Dean Acheson (dem späteren legendären Außenminister), dem Stellvertretenden Generalstaatsanwalt Oscar Cox und anderen, denen er die „schrecklichen Telegramme“ vorlegte – darunter das Riegner-Telegramm. Der Vizepräsident, der offenbar die Informationen nicht ganz verarbeitet hatte, erwiderte, er habe gehörte, die Juden würden zur russischen Front gebracht, wo man sie als Arbeitskräfte einsetzte, vor allem um Verteidigungsanlagen zu bauen. Cox hingegen überlegte, ob dies nicht der Tropfen sei, der das Fass zum Überlaufen bringe, und nun langsam der Zeitpunkt gekommen sei, eine Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen bei den Vereinten Nationen einzurichten – eine eher nebensächliche Maßnahme, aber immerhin. Welles sagte zu, weiter nachforschen zu wollen, und auch wenn es noch vier Wochen dauerte, so wies er doch Anfang Oktober den Chef der US-Botschaft in der Schweiz, Leland Harrison, persönlich an, sich mit Riegner zu treffen und der Sache auf den Grund zu gehen. Er leitete zudem frisch eingetroffene und als „Dreifach prioritäre Nachricht“ eingestufte Geheimdienstpapiere weiter, in denen berichtet wurde, Juden aus Warschau seien in speziellen Lagern ermordet worden. Nun kam immerhin Bewegung in die Sache. Harrison reagierte mit einem Bericht an Welles, wonach Juden tatsächlich zusammengetrieben und „einem ungewissen Schicksal entgegen Richtung Osten“ verbracht worden seien, wobei zum ersten Mal das Konzentrationslager Belzec namentlich genannt wurde. In einer jüdischen Zeitung, die Ende September veröffentlicht wurde, stand der Bericht eines Totengräbers zu lesen, der von Vergasungen berichtete, und

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angestoßen von Myron Taylor, gab plötzlich auch der Vatikan zu, er habe unbestätigte Berichte über „schwere Maßnahmen gegen Nicht-Arier“ erhalten – wiewohl er immer noch zögerte, weitere Schritte einzuleiten. Die römisch-katholische Kirche, steif, doktrinär und voller ehrgeiziger Prälaten, zeigte keinen Willen, sich der Gnade von Hitlers Armeen auszuliefern. Zu diesem Zeitpunkt jedoch erreichten immer mehr Informationen das Weiße Haus, und die Regierung konnte einigen der schwierigen Fragen nicht länger aus dem Weg gehen oder sie wegdiskutieren, auch wenn das Gesamtbild der „Endlösung“ noch nicht zu erkennen war. Während ganz Europa von Krieg, Elend, Hunger und Entbehrungen heimgesucht wurde und sich der Kontinent in ein qualmendes Schlachthaus verwandelt hatte, behielten die USA zwar scheinbar nur ihren ausstehenden Nordafrikafeldzug im Sinn, doch die Herrschaft des NS-Terrors über die Juden schien etwas völlig anderes zu sein, etwas gänzlich Neues, etwas, das zum Eingreifen aufforderte. Dieses Eingreifen kam in Form einer Erklärung. Am 7. Oktober 1942 veröffentlichte das Weiße Haus eine Mitteilung, die Roosevelts Warnung vom August aufgriff, dass Kriegsverbrechern „furchtbare Strafen“15 drohten. Es hieß darin weiter, der Präsident wisse von den fortgesetzten Kriegsverbrechen der Deutschen. Während er es – eingedenk des bevorstehenden Nordafrikafeldzugs – tunlichst vermied, konkret zu werden, versprach Präsident Roosevelt, was er gefahrlos konnte, und nur wenig mehr. Er erklärte, Verbrecher würden am Ende des Krieges einer „gerechten und sicheren“ Strafe zugeführt. Die Vereinten Nationen würden eine Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen einberufen. Und schließlich warnte Roosevelt die NS-Führung und ihre Handlanger noch, sie sollten jene zurückhalten, die solche Grausamkeiten begingen, und sich bewusst sein, dass sie von der zivilisierten Welt beobachtet würden. Worum der Präsident nicht bat, war die Errichtung von Tausenden von Zufluchtsstätten in ganz Europa. Auch rief er Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder Vichy-Frankreich nicht dazu auf, die Kollaboration bei den Deportationen zu beenden. Das Töten und das Sterben gingen weiter. Wise und seine Kollegen fanden nur wenig Trost in den Maßnahmen des Weißen Hauses. Abgekämpft und erschöpft von den Anstrengungen, die es brauchte, um die Öffentlichkeit wachzurütteln, machte Wise weiter und sprach bei einer großen Kundgebung von der Niedertracht der Nationalsozialisten. Er nutzte seinen Einfluss auch, um das Innenministerium dazu zu bewegen, die Amerikanischen Jungferninseln

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in der Karibik zum Zufluchtsort für die vor Hitler fliehenden Menschen einzurichten. Obwohl dies nur eine kleine Geste gewesen wäre, hatte Roosevelt Bedenken und lehnte die Anfrage ab. In der Schweiz hatten derweil Riegner und ein Kollege eine rund 30-seitige Dokumentation zusammengestellt, welche die bislang detailliertesten Informationen zur Judenvernichtung enthielt, unter anderem beweiskräftige Dokumente und weitere Angaben von Schulte. Riegner und sein Kollege brachten die Unterlagen persönlich zu Leland Harrison und sahen zu, wie er die erste Seite las. Der Bericht hielt sich keineswegs vornehm zurück: „Diese Politik der totalen Vernichtung“, so hieß es dort, „ist zu wiederholten Malen von Hitler proklamiert worden. Jetzt wird sie ausgeführt.“ Harrison nahm sich mit unbewegtem Gesicht viel Zeit für die Lektüre und kritzelte beim Lesen immer wieder Bemerkungen an den Rand. Als er gelesen hatte, sah er auf und wollte den Namen dieses deutschen Industriellen wissen, der Hitlers engstem Kreis so nahe stand und diese Informationen weitergegeben hatte. Riegner und sein Kollege zögerten, und ihr anfängliches Schweigen verriet ihr Dilemma. Würden sie Schultes Namen preisgeben, setzten sie ihn der Gefahr aus, gefangen genommen und ermordet zu werden. Außerdem würden sie damit das Versprechen verletzen, dass Sagalowitz ihm ursprünglich gegeben hatte. Doch Schultes Namen nicht preiszugeben war möglicherweise noch schlimmer – dies würde den Bericht seiner unzweifelhaften Wahrhaftigkeit berauben. Sie gaben schließlich nach und überreichten Harrison einen versiegelten Umschlag, in dem nur ein einziges Stück Papier mit der Aufschrift enthalten war: „Generaldirektor Dr. Schulte, Montanindustrie. In engem oder engstem Kontakt mit den maßgebenden Wehrwirtschaftskreisen.“16 Sie fügten hinzu, ein hoher Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes, einer von Europas führenden Intellektuellen, habe gänzlich unabhängig von Schulte die Informationen bestätigt. Und auf einmal strömten weitere erhärtende Informationen aus unterschiedlichen Quellen heran. Ein schwedischer Geschäftsmann, der durch Warschau gereist war, hatte erfahren, dass die Hälfte der dortigen Juden getötet worden war. Die kleine Zeitschrift National Jewish Monthly hatte auf eigene Faust recherchiert und verschiedene Puzzleteile über den Völkermord zusammengetragen. Wo waren all die Juden, fragte die Publikation, vor allem wenn sie doch als Arbeiter eingesetzt wurden? In den polnischen Ghettos? – Nein, denn Berichte wiesen darauf hin, dass 300 000 Juden „spurlos“ verschwunden waren. Im von Deutschland besetzten Weißrussland? – Nein, denn sowjetische Partisanen erklärten, dass alle Juden von dort abgeholt worden seien. In Deutschland? – Nein, denn deutsche Nachrich-

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ten prahlten damit, das „Dritte Reich“ sei „judenfrei“. Die National Jewish Monthly schloss daraus: „Es wird befürchtet, dass die Nazis möglicherweise lieber alle Juden abschlachten, als ihre Arbeitskraft zu nutzen.“17 Wenig später stellte eine zweite Publikation, die Jewish Frontier, ebenso nachdrücklich die Frage, ob die Juden wirklich als Arbeiter eingesetzt würden. „Eine Politik wurde in Gang gesetzt, deren erklärtes Ziel es ist, ein ganzes Volk auszulöschen“, betonte die Zeitung. „Es ist eine Politik des systematischen Mordes an unschuldigen Zivilisten, die in ihrer Dimension, in ihrer Bösartigkeit und ihrer Organisation einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist.“ In England stimmte der Erzbischof von Canterbury dieser Analyse zu und gab an, dies sei seiner Meinung nach nicht länger mit Zwangsarbeit zu erklären, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit sei ein Vernichtungsprogramm im Gange. William Temple, der wenig später Nachfolger des Erzbischofs werden sollte, erklärte, es sei schwierig, sich dieser glaubhaften Schlussfolgerung zu widersetzen. Zu dieser Zeit erhielt Paul Squire, der US-amerikanische Konsul in Genf, aus Warschau erschreckende Fotokopien von Briefen auf Deutsch und in Geheimschrift, die den Beweis erbrachten, dass die Deutschen Juden in angsteinjagend großer Anzahl ermordeten. Unverständlicherweise benötigten diese Fotokopien, die in Diplomatenpost per Flugzeug reisten, mehr als drei Wochen, um das Außenministerium zu erreichen, und dann noch einmal fast genauso viel Zeit, um zu Sumner Welles zu gelangen. Es stimmt, die eintreffenden Informationen waren nicht selten widersprüchlich und verwirrend, Auschwitz stellte weiterhin ein gut gehütetes Geheimnis dar, und die anderen Orte des Mordens waren noch gar nicht vollständig bekannt. Doch im November 1942 waren die Grundzüge der „Endlösung“ mit erschreckender Klarheit zu erkennen. Auch in Deutschland wurden sie immer klarer. Trotz seiner Schlaflosigkeit setzte Adolf Hitler sein Alltagsleben unverändert fort. Wenn er sich nicht gerade über Karten mit dem trostlosen Feldzug im Osten beugte oder seine Kommandeure beschimpfte, plauderte er in den frühen Morgenstunden mit seinen Adjutanten und hielt weitschweifige Monologe über den Kriegszustand sowie die „Opfer“ und „Heldentaten“ des deutschen Volkes. Nachmittags trank man Tee und führte weitere Gespräche, am Abend sah er die unvermeidlichen Filme, meist gleich zwei, die Propagandaminister Goebbels zur Verfügung stellte. Wie immer war Hitler launisch, wie immer lebte er puritanisch: Er war Vege-

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tarier, Nichtraucher und verachtete flegelhafte Ausdrücke. „Um Himmels willen!“, war alles, wozu er sich hinreißen ließ. Und wie immer hielt er sich für gebildet: Er hörte sich Schallplatten an, in der Regel Beethovens Sinfonien oder Werke des geliebten Wagners – dazu lehnte er sich wie benommen in einem Sessel zurück und schloss die Augen. In diesen Tagen, da er sich des millionenfachen Mordes schuldig machte, hüllte Hitler sich immer mehr in eine Illusion und lebte isoliert von der deutschen Gesellschaft im Reich und den deutschen Soldaten an der Front. Nur selten trat er in der Öffentlichkeit auf, und doch war den militärischen Tatsachen nicht zu entkommen, so sehr er sich auch bemühte. Seine Kriegsanstrengungen brachen in sich zusammen, und die Auseinandersetzung wendete sich entscheidend zugunsten der Alliierten. Die Briten hatten ihre nächtlichen Bombenangriffe ausgeweitet: München wurde schwer getroffen, ebenso Düsseldorf, Bremen und Duisburg. Waren die Bombardements vorüber, taumelten Menschen wie betäubt, erschrocken und murrend durch die Straßen. Und überall in Deutschland wuchsen die Schlangen von Frauen, die stundenlang frustriert und hungrig auf die täglichen Essensrationen warten mussten. An der Ostfront wurde die entscheidende Schlacht um Russland nun in Stalingrad ausgetragen. Hitler hatte geglaubt, dieser Angriff werde innerhalb von zehn Tagen entschieden sein, und stattdessen wurde die riesige deutsche Armee nun in eine lange, intensive Schlacht in den verschneiten Ebenen am Wolgabogen verstrickt. In der Stadt wurde von Haus zu Haus, von rauchender Ruine zu rauchender Ruine gekämpft, während in Sichtweite der deutschen Stellungen sowjetische Fahnen flatterten. Die Soldaten kämpften in Kellern, im Dreck der Kanalisation, in ausgebombten Fabriken und in noch brennenden Kaufhäusern. Leichengeruch lag über allem. In dieser grausamen Schlacht schossen Deutsche und Russen oft aus kürzester Entfernung aufeinander oder standen sich im Nahkampf gegenüber, bis die eine oder andere Einheit aufgerieben war. Dieser Todestanz dauerte an, während die medizinischen Vorräte zur Neige gingen und die Lebensmittel immer knapper wurden. Bis nach Berlin hinein war dieses Leiden immer deutlicher zu spüren: Die jubelnden Massen schwiegen nun, und die ehemals so überschwänglichen Bürger schlurften zögernd über die Einkaufsstraßen und lasen die Namen der Gefallenen, die an Kiosken und in Schaufenstern ausgehängt waren. Auch der Nordafrika-Feldzug erwies sich für Hitler als wenig erfolgreich. Trotz Rommels euphorischer Berichte fehlte es seinen Männern an Waffen, Ausrüstung und Kriegsglück. Rommel befahl einen großen Rückzug, denn er war, nur drei Tage nach seiner Offensive bei El Alamein in Richtung Suezkanal, bereits gezwungen,

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den Angriff wieder abzubrechen. Das hielt Hitler nicht davon ab, den „Wüstenfuchs“ in einer prahlerischen Geste zum Generalfeldmarschall zu ernennen. Vor diesem Hintergrund präsentierte Hitler sich am 30. September 1942 als zurückkehrender Prophet und hielt im Berliner Sportpalast eine Rede, mit der die nachlassende Moral der Deutschen gestärkt werden sollte. Seine stockende, weitschweifige Rede markierte den Beginn des Kriegswinterhilfswerks. Immer wieder hielt er während seiner Rede inne – dies war sein Markenzeichen –, damit die zahlreichen, dichtgedrängten Menschen „Sieg heil! Sieg heil!“ brüllen konnten. Nachdem er Roosevelt als „den dementen Mann im Weißen Haus“ verspottet hatte, stellte er Folgendes in Aussicht: „Meine Kameraden, Sie können sich nicht vorstellen, was hinter den einfachen Worten in den Berichten des Oberkommandos der Wehrmacht verborgen ist.“ Dann wiederholte er mit rücksichtsloser Offenheit seine frühere Erklärung: „Ich habe am 1. September 1939 im Deutschen Reichstag es schon ausgesprochen – und ich hüte mich vor voreiligen Prophezeiungen –, dass dieser Krieg nicht so ausgehen wird, wie die Juden sich es vorstellen, nämlich dass die europäischen arischen Völker ausgerottet werden, sondern dass das Ergebnis dieses Krieges die Vernichtung des Judentums ist.“ Er pausierte erneut für den Applaus – das Publikum bestand aus von der Gestapo handverlesenen Zuhörern – und fuhr dann mit einer Fanfare fort: „Die Juden haben einst auch in Deutschland über meine Prophezeiungen gelacht. Ich weiß nicht, ob sie auch heute noch lachen, oder ob ihnen nicht das Lachen bereits vergangen ist. Ich kann aber auch jetzt nur versichern: Es wird ihnen das Lachen überall vergehen. Und ich werde auch mit diesen Prophezeiungen recht behalten.“18 Diese hasserfüllte Tirade wurde an Millionen Deutsche übertragen, und auch von der BBC und US-amerikanischen Nachrichtenagenturen aufgezeichnet. Hitler sprach nicht nur zum deutschen Volk, sondern schlussendlich zur ganzen Welt. Weder die Trägheit der Bürokraten noch ihre kaltschnäuzige Gleichgültigkeit konnten zu diesem Zeitpunkt noch das Übermaß an Informationen zum ­Massenmord an den Juden verdecken. Dennoch stellte eine Reihe der entscheidenden Mitarbeiter im uneinigen Außenministerium mit ihrem charakteristischen Skeptizismus die Berichte über die „Endlösung“ weiterhin infrage. Sumner Welles jedoch musste nicht mehr überzeugt werden. Er sah nur noch zwei Möglichkeiten: Das Thema direkt im Weißen Haus ansprechen oder es mit Stephen Wise diskutieren. Er entschied sich für Wise. Am 24. November for-

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derte er Wise per Telegramm auf, dringend ins Außenministerium zu kommen. Dieser saß noch am selben Tag im Büro des Staatssekretärs und empfing von ihm mehrere Berichte und grimmige Schlussfolgerungen. Hier ging es nicht, so machte Welles deutlich, um einen langen, langsamen Zug von Flüchtlingen oder Zwangsarbeitern, die gen Osten stampften. „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Dr. Wise“, erklärte Welles mit emotionsgeladener Stimme, „dass es nicht übertrieben ist. Diese Dokumente bestätigen und rechtfertigen Ihre schlimmsten Befürchtungen.“ Welles bestand darauf, dass nicht er sondern Wise diese Informationen an die Medien weitergeben würde – „aus Gründen, die Sie sicherlich nachvollziehen können“, wie er unterstellte. „Es könnte sogar hilfreich sein, wenn Sie es machen“, fügte Welles hinzu. Wise erklärte sich einverstanden. Da er nun nicht länger an die Geheimhaltung gebunden war, berief er noch für den frühen Abend eine Pressekonferenz ein. Die New York Times war vertreten, auch die Washington Post und 17 weitere Zeitungen. Er setzte den Journalisten die Einzelheiten auseinander: Die Nationalsozialisten transportierten Juden aus allen Städten Europas nach Polen, um sie dort auszulöschen. Von der halben Million Juden in Warschau waren nur mehr 100 000 am Leben. Und der „Vernichtungsfeldzug“ der Nationalsozialisten habe insgesamt bereits zwei Millionen Juden das Leben gekostet. Am Abend fuhr ein niedergeschlagener Wise mit dem Zug zurück nach New York, von wo aus er jedem, der ihm zuhörte, von weiteren Details berichtete. Am Nachmittag des nächsten Tages gab er eine zweite Pressekonferenz, um, wie er es nannte, „die Unterstützung der christlichen Welt zu bekommen, damit deren Führer protestierend eingreifen“ gegen die Behandlung der Juden in Hitlers Europa. Und plötzlich fand er Verbündete an allen Ecken und Enden. Die polnische Exilregierung in London veröffentlichte eine drastische Darstellung, die zeigte, wie Juden in Viehwaggons getrieben und zu „speziellen Lagern“ in Sobibór, Treblinka und Belzec deportiert wurden.19 Unter dem Vorwand einer „Umsiedlung in den Osten“ finde ein Massenmord an Juden statt, hieß es in der Erklärung weiter. Und in der weit entfernten, heiligen Stadt Jerusalem gab die jüdische Presse eigene erschütternde Berichte über Gaskammern in Betonbauten heraus. Hier wurde auch, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, davon berichtet, dass Juden zu großen Krematorien in Oświęcim „bei Krakau“ gebracht würden. Oświęcim ist der polnische Name für Auschwitz.20 Einen Tag später war in 17 Zeitungen von Wises Informationen zu lesen, wenn auch nur bei fünfen auf der Titelseite. Dennoch war die Katastrophe nie

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zuvor an eine so große Öffentlichkeit gelangt. Der Artikel des begabten Korres­ pondenten James McDonald in der New York Times stach besonders hervor. Die Überschrift lautete: „Himmler-Programm tötet polnische Juden – Polnische Offizielle veröffentlichen Zahlen – Dr. Wise vom Außenministerium bestätigt“21. McDonald schrieb, die „rücksichtslosesten Methoden“ würden angewendet, um die Juden gemäß Himmlers Vernichtungsprogramm zu töten. Es würden „alle Personen, Kinder, Kleinkinder und Krüppel unter der jüdischen Bevölkerung Polens erschossen, durch unterschiedliche Methoden ermordet oder gezwungen, unter solchen Umständen zu leben, die ihren Tod unausweichlich herbeiführen.“ McDonald ergänzte seine Ausführungen mit schaurigen Details: In den Güterwaggons stünden die „Menschen derart gedrängt“, dass sie erstickten. Andere verdursteten oder verhungerten. „Wo immer die Züge auch ankommen, die Hälfte der Menschen ist bereits tot.“ Und die Übrigen würden durch den Massenmord in den Lagern umgebracht. „Auch Kinder und Säuglinge werden nicht verschont. Waisenkinder aus Heimen und Kinderkrippen werden ebenfalls evakuiert.“ McDonald ergänzte, die wenigen Überlebenden seien „nur die Jungen und vergleichsweise Starken“, die dann Zwangsarbeit für die Deutschen leisten müssten. Und auch diese hielten nicht lange durch. Die Zeitung veröffentlichte zudem eine Nachricht der Presseagentur United Press International (UPI), nach der Wise vom Außenministerium die Bestätigung für diese Angaben erhalten habe. Und auch wenn es später Menschen gab, die darauf beharrten, nichts wirklich gewusst zu haben, so hat die New York Times doch auch den telegrafierten Bericht aus Palästina zu den Tötungen in Oświęcim abgedruckt. Der 2. Dezember wurde als Tag der Trauer und des Gebets in den USA und 29 anderen Nationen feierlich begangen.22 Es gab Gedenkveranstaltungen und Gottesdienste, Radiosender brachten Beiträge und Zeitungen druckten Beilagen. Man traf sich zu mahnenden Reden, Mittagsgebeten oder spontanen Zusammenkünften. Man sah schweigende Gruppen, die trotz der Kälte Mahnwachen abhielten. In New York City, der Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerungsgruppe in den USA, übernahm Bürgermeister Fiorello LaGuardia die Federführung bei den Veranstaltungen des Tages. Und davon gab es zahlreiche: Viele Geschäfte hatten ihre Schaufenster mit Denkschriften bestückt, und am Morgen hatten 500 000 Fabrikarbeiter und Angestellte im Stehen zwei Schweigeminuten verbracht. Auch die Radiosender unterbrachen ihr Programm für zwei Minuten. Um 12 Uhr wurde ein spezielles einstündiges Radioprogramm ausgestrahlt, dem viele US-Bürger zuhörten. Die NBC strahlte später am Tag in allen Stationen des Landes eine 15-minütige Gedenksendung aus.

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Kapitel 10

Das Weiße Haus und ein irritiertes Außenministerium, das gehofft hatte, die Sache unter den Teppich kehren zu können, wurden schon bald mit Telegrammen und Briefen überflutet, deren Verfasser die Regierung aufforderten, etwas zu unternehmen. Eleanor Roosevelt bemerkte nach der Lektüre eines Zeitungsartikels, sie sei „von Grauen“ erfüllt und könne jetzt erst das gesamte Ausmaß des Blutbads erfassen. Das Kriegskabinett in London zeigte sich immer entschlossener, die Deutschen zu verdammen. Alle diese Aktivitäten konnten auch an der NS-Führung in Deutschland nicht vorbeigehen. „Die Frage der Judenverfolgungen in Europa wird von den Engländern und Amerikaner bevorzugt und in größtem Stil behandelt“, bemerkte Goebbels in seinem Tagebuch. „Im Grund genommen sind, glaube ich, sowohl die Engländer wie die Amerikaner froh darüber, daß wir mit dem Judengesindel aufräumen.“23 Die erhöhte Aufmerksamkeit für den Völkermord ermutigte Wise. Nun fühlte er sich auch in der Lage, einen Brief an Roosevelt selbst zu schreiben, in dem er um einen Termin für sein jüdisches Komitee beim Präsidenten bat. „Lieber Boss“, schrieb er, „ich möchte kein einziges Atom der Last hinzufügen, die du mit Zauberkräften und, wie ich glaube, himmlisch inspirierter Stärke derzeit trägst.“ Doch es sei nun deutlich, dass in Europa derzeit „das überwältigendste Unglück der jüdischen Geschichte“ stattfinde. Und man könnte es „schwerwiegend missverstehen, wenn [er], trotz [s]einer überwältigenden ­Sorge darum, keine Möglichkeit finden könnte […], [die] Delegation zu ­empfangen.“ Wise schloss den Brief in einer Mischung aus Bedauern und Verzweiflung: „Als dein alter Freund bitte ich dich, dies irgendwie möglich zu ­machen.“24 Und Roosevelt machte es möglich. Er traf sich am 8. Dezember mit Wise und vier seiner Kollegen zu einem der sehr wenigen persönlichen Gespräche, die der Präsident mit jüdischen Vertretern über den Holocaust führte. Die Tür zum Oval Office tat sich um die Mittagszeit auf, und Roosevelt empfing Wise und seine Kollegen. Fast scherzend skizzierte der Präsident seine Pläne für ein Nachkriegsdeutschland – er blickte bereits in die Zukunft und war offenbar zuversichtlich, der Sieg der Alliierten stünde bevor. Dann zog Wise einen zweiseitigen Brief aus der Tasche und las ihn voller Ernst vor: „Wenn nicht sofort etwas unternommen wird, sind die Juden in den von Hitler

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beherrschten Gebieten Europas zum Untergang verurteilt.“ Was sollte unternommen werden? In dem Brief wurde Roosevelt gebeten, eine strenge Warnung an die NS-Führung auszusprechen, wonach sie für ihre Verbrechen „zur Rechenschaft“ gezogen würde. Er forderte zudem die Einrichtung einer Kommission, welche die Beweise für die Grausamkeiten der Deutschen untersuchen und „der Welt darüber berichten“ sollte. „Tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende“, las Wise mit melancholisch klingender Stimme vor, „um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit hierauf zu lenken und den Völkermord zu stoppen.“25 Damit übergab er dem Präsidenten ein 20-seitiges Memorandum mit dem Titel „Ausrottungsplan“, das eine furchterregende Zusammenfassung der NS-Aktivitäten beinhaltete, darunter eine von Riegner erstellte Analyse für jedes betroffene Land. Roosevelts Antwort ließ keinen Zweifel, dass er über die „Endlösung“ völlig im Bilde war, oder zumindest so weit wie die übrige US-Regierung und Wise. „Der Regierung der Vereinigten Staaten sind die meisten der Tatsachen, die Sie hier zu unserer Kenntnis bringen, wohlbekannt“, erklärte der Präsident. „Leider sind sie uns aus vielen Quellen bestätigt worden. Vertreter der USRegierung in der Schweiz und in anderen neutralen Ländern haben uns Beweise für die von Ihnen angesprochenen Scheußlichkeiten erbracht.“ Ohne zu zögern und gestützt auf die Erklärung des Weißen Hauses vom Oktober, sagte Roosevelt zu, die Regierung würde tatsächlich eine Warnung zu den Kriegsverbrechen herausgeben. Er wolle jedoch nicht den Eindruck erwecken, die deutsche Nation als ganze sei in die Massentötungen verwickelt. Hitler sei „ein Wahnsinniger“ und sein engster Kreis „ein Beispiel für einen nationalen psychopathischen Fall“, erklärte er weiter.26 Ob sie noch weitere Empfehlungen hätten, wollte Roosevelt dann wissen. Doch Wise und seine Kollegen hatten außer ihrer Bitte um die Warnung an Deutschland und die Einrichtung einer Untersuchungskommission keine konkreten Forderungen. Sie hätten es besser wissen müssen, denn dies war ihre einmalige Gelegenheit gewesen. Der Präsident hatte nicht jeden Tag für sie Zeit, und hob jetzt an, über eine ganze Reihe von Themen zu scherzen, die nichts mit dem Völkermord zu tun hatten. Allen Berichten zufolge bestritt er 80 Prozent der Unterhaltung und füllte die verbleibende Zeit des Treffens, ohne weitere Verpflichtungen einzugehen. Dies war natürlich Teil seiner Magie und seines politischen Genius. Roosevelt schwankt nicht, wie man hätte annehmen können, zwischen Wut und Verzweiflung, sondern war gelassen wie eh und je. Wise und seine Kollegen bemerkten jedenfalls kaum eine Regung. Um 12:30 Uhr huschte ein Mit-

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Kapitel 10

arbeiter in das Oval Office und läutete damit das Ende des Treffens ein. „Meine Herren“, dröhnte Roosevelt schon auf dem Sprung, „Sie können das Kommuniqué ausarbeiten. Ich bin sicher, dass Sie die Worte wählen werden, die zum Ausdruck bringen, was ich denke.“27 Er gab jedem seiner Besucher die Hand und versicherte dann zum Abschied aus vollem Herzen: „Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihrem Volk in diesem tragischen Augenblick beizustehen.“28 Allerdings gab es Dinge, die in seiner Macht gestanden hätten, und die Roosevelt nicht anbot. Nicht bereit sich für einen Moment von den Kriegsanstrengungen abzuwenden oder politisches Kapital zu riskieren, hatte er weder vorgeschlagen, eine Rede zu halten, in der er persönlich die „Endlösung“ verurteilte, noch die Verbrechen zum Gegenstand eines Kamingesprächs zu machen, wie er es mit anderen kriegswichtigen Themen, etwa der Rationierung oder Gummi, getan hatte. Genauso wenig stellte er in Aussicht, der Verschleppungspolitik des Außenministeriums irgendetwas entgegenzusetzen, obwohl er noch kurz zuvor Robert Murphy angewiesen hatte, ihm Berichte aus Afrika über die „Operation Torch“ lieber direkt zukommen zu lassen als über das Außenministerium, weil dort so manches verloren gehe.29 Stattdessen hatte Roosevelt erfolgreich den Ball wieder Wise zugespielt, der nun als eine Art Bevollmächtigter für ihn zur Presse und anschließend mit den Briten sprach. Wieder einmal bestellte Wise eine Pressekonferenz ein und verkündete den mitschreibenden Journalisten, die jüdischen Vertreter hätten sich soeben mit dem Präsidenten getroffen, der „tief erschrocken“ gewesen sei, als er erfuhr, dass zwei Millionen Juden „als Ergebnis der NS-Politik und von Verbrechen“ ermordet worden seien. Außerdem, fuhr Wise fort, würde das amerikanische Volk die Verantwortlichen für diese Verbrechen „am Tag der Abrechnung, der sicher kommen wird, zur Verantwortung ziehen“.30 Endlich schien die Sache doch noch Fahrt aufzunehmen: Wie Roosevelt angekündigt hatte, gaben am 17. Dezember die Vereinten Nationen, die vor allem aus den drei wichtigsten Alliierten – den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion – und den Regierungen von acht besetzten Ländern bestanden, gemeinsam eine drastische Erklärung heraus, in der das Leiden der Juden klar benannt und der Völkermord verurteilt wurde. Indem sie die deutschen Taten als „bestialisch“ bezeichnete, verwendete diese Erklärung die „stärkst möglichen Formulierungen“. Sie wurde in der Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommen und hatte deutliche Auswirkungen.

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In London verlas der kompromisslose britische Außenminister, Anthony Eden, der selbst schon der Verzweiflung nahe war, die Erklärung vor dem Unterhaus, nachdem er zuvor bemerkt hatte, er bedaure „das Haus darüber informieren zu müssen, dass die Regierung seiner Majestät in letzter Zeit verlässliche Berichte über die barbarische und unmenschliche Behandlung“ der Juden erreicht hätten. Satz für Satz trug er ruhig die anschaulichen Worte dieser Erklärung vor: „Von niemanden von denen, die fortgebracht wurden, hat man wieder gehört. Die Gebrechlichen lässt man durch Aussetzen oder Verhungern sterben oder ermordet sie vorsätzlich bei Massenexekutionen.“ Die Abgeordneten des Parlaments waren derart schockiert, dass sie alle aufstanden und mit gesenkten Köpfen einen Moment lang schwiegen. Graf Raczyński, ein Mitglied der polnischen Exilregierung, sagte der BBC, er klage die deutsche Nation dafür an, dass sie „die Zerstörung einer ganzen Rasse akzeptiere“, die doch so viel zum Ruhm der deutschen Zivilisation beigetragen habe. In Washington jedoch gab es, innerhalb wie außerhalb der Regierung, noch immer Zweifler. So war die unmissverständliche Erklärung der Vereinten Nationen weniger aus dem Treffen zwischen Wise und Roosevelt hervorgegangen als aus den Maßnahmen des britischen Kriegskabinetts. Der Vorschlag für den Text, den die Briten an das US-Außenministerium geschickt hatten, war dort von einem Mitarbeiter mit der trockenen Bemerkung kommentiert worden, er habe „ernsthafte Zweifel“ daran, ob es „wünschenswert oder ratsam“ sei, eine solche Erklärung abzugeben. Auf jeden Fall beschrieb er den Bericht, der zu einem großen Teil auf Riegners Telegramm beruhte, als „bis jetzt noch unbestätigt“.31 Auch in der amerikanischen Öffentlichkeit erregten die Grausamkeiten nicht bei jedem gleichermaßen Schrecken. In der Presse meldeten sich weiterhin Skeptiker zu Wort, womöglich auch deshalb, weil der Präsident sich nicht persönlich geäußert hatte. So gab es jene, die sich lautstark der Meinung, den Juden müsse beigestanden werden, widersetzten: Der Herausgeber des recht einflussreichen protestantischen Magazins Christian Century räumte ein, es sei zweifellos eine Tatsache, dass „mit den polnischen Juden schreckliche Dinge geschehen“, doch er hielt es für unsicher, ob „es der Sache dien[e], wenn solche Anklagen […] öffentlich erhoben [würden]“. Als die Vereinten Nationen drei Wochen später die Vernichtung der Juden verurteilte, öffnete das Christian Century immer noch nicht die Augen, vielmehr gestand die Zeitschrift lediglich zu: „Die richtige Antwort auf die Polen-Gräuel besteht darin, mit wenigen klaren Worten zu sagen, dass alles registriert ist […].“ Die Zeitung hielt daran fest, der beste Weg zur Hilfe für die Juden sei es, den „Einsatz“ an der Front sowie in den Fabriken „zu verdoppeln“.32 Newsweek schätzte die Lage anders ein.

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Kapitel 10

Im November hatte Roosevelt sich um neue gesetzliche Möglichkeiten zur Kriegsführung bemüht. Es ging ihm darum, jene Regeln zeitweise aufzuheben, welche die „freie Bewegung von Personen, Eigentum und Informationen in die Vereinigten Staaten und aus ihnen hinaus“ einschränkten. Doch der Kongress hatte sich quergestellt. Präsident Roosevelt und Vizepräsident Henry Wallace hatten sich daraufhin mit Sam Rayburn getroffen, dem einflussreichen Sprecher des Hauses, und Rayburn hatte ihnen dargelegt, dass es die Kriegsgesetze niemals durch den Haushaltsausschuss schaffen würden. Roosevelt ließ das Thema daraufhin still und heimlich fallen. Die Absicht des Gesetzes wäre gewesen, Industrie- und Militärberatern leichter zu erlauben, die USA zu betreten und zu verlassen. Doch es bestand die Befürchtung, dass es, einmal in Kraft getreten, auch den jüdischen Flüchtlingen Tor und Tür geöffnet hätte. „Die hässliche Wahrheit lautet“, schlussfolgerte daher Newsweek, „dass der entscheidende Faktor in der verbitterten Opposition gegen den Vorschlag des Präsidenten der Antisemitismus war.“33 Doch Antisemitismus erklärte nicht alles. So vertrat beispielsweise auch die New York Times in einem Leitartikel die Meinung, dass Roosevelt ­zunehmend die Hände gebunden seien: „Tragisch an der Situation ist die Ohnmacht der Welt, diesem Schrecken Einhalt zu gebieten, solange der Krieg andauert.“ Mit anderen Worten: Bis zum vollständigen Sieg über das „Dritte Reich“ gebe es wenig, was die Alliierten tun könnten, außer die ­Täter zu „brandmarken“ und ihnen „individuelle Bestrafung“ anzukündigen.34 War dies einer jener historischen Momente, da ein Ereignis mit unaufhaltsamen Auswirkungen immer mehr an Fahrt gewinnt? Nein, das war er nicht. Eduard Schulte hatte unter Lebensgefahr eine Botschaft an Roosevelt auf den Weg gebracht und die Alliierten gedrängt, die NS-Todeslager zu verwüsten, und seine Nachricht hatte schließlich sogar ihren Adressaten erreicht. Doch anstatt wirklicher Taten folgte nur eine verspätete Warnung an die Deutschen und erstaunlicherweise nicht einmal eine fundierte Debatte darüber, welche Schritte noch einzuleiten wären. Im Rückblick ist das Ausbleiben von Konsequenzen auf die immer deutlicheren Hinweise zur „Endlösung“ ähnlich verblüffend wie Neville Chamberlains BBC-Stellungnahme kurz vor der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland: „Es ist furchtbar, gespenstisch, unglaublich, dass wir hierzulande wegen eines Streites in einem fernen Land unter Leuten, von denen wir nichts wissen, Schützengräben anlegen und Gasmasken ausprobieren.“35

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Das Riegner-Telegramm

Zweifelsohne sah Roosevelt nicht genau hin, doch ebenso steht fest, dass er im Herbst 1942 mit anderen Dingen alle Hände voll zu tun hatte. Kurz bevor sich der amerikanische Eintritt in den Konflikt zum ersten Mal jährte, war die Öffentlichkeit unzufrieden damit, wie der Präsident zu Hause und an den Fronten den Krieg führte, und er musste sich anstrengen, um die Moral und die Stimmung des Volkes zu heben. An der Heimatfront war die Rationierung zum Alltagsphänomen geworden.36 Zucker gab es nur selten, genau wie Fleisch und Kaffee. Der ButterNachschub war eingeschränkt, auch Zigaretten wurden knapp, Benzin war landesweit auf rund 18 Liter pro Woche rationiert, und der Schwarzmarkt erblühte. Während die Löhne eingefroren wurden, stiegen die Lebensmittelpreise, und die Inflation fraß die Wirtschaft auf. Auch Farmer beklagten sich bitterlich, genau wie die Besitzer kleiner Geschäfte, die unter den komplizierten Vorschriften zu ersticken drohten. Als dann auch die Regale in den Läden leer blieben, schlossen sich die Hausfrauen den Protesten an, denn sie verstanden nicht, warum auch solche Waren wie Konserven, Haarnadeln, Fotokameras oder gar Wecker nicht mehr verkauft werden durften oder rationiert waren. Die Regierung rief die US-Bürger auf, patriotisch zu denken, doch die Stimmung im Volk war dennoch schlecht, wofür Roosevelt bei den anstehenden Kongresswahlen bezahlte: Seine Partei verlor 44 Sitze im Repräsentantenhaus, neun Sitze im Senat sowie mehrere Gouverneure. Mitte September besuchte Roosevelt persönlich mehrere Munitionsfabriken, Marinewerften und Kasernen, um damit die Moral zu heben. Da die Deutschen sich in Stalingrad endgültig festgefahren hatten, war es für Roosevelt deutlich, dass der Krieg einen Wendepunkt erreicht hatte. Mitte Oktober schrieb er König Georg VI. von Großbritannien munter: „Aufs Ganze gesehen, stellt sich die Situation für uns alle im Herbst 1942 besser dar als im letzten Frühjahr […]. Auch wenn wir 1943 unsererseits noch keinen vollständigen Sieg erleben werden, so entwickeln sich die Dinge doch zum Guten, wohingegen die Achsenmächte den Höhepunkt ihrer Wirkungsmacht überschritten haben.“ Doch auf der europäischen Bühne, im Kampf gegen die Wehrmacht, stand der Auftritt der Amerikaner noch aus. Derzeit kämpften sie nur gegen die Japaner im Pazifik und sollten sich in der Auseinandersetzung mit den Achsenmächten erst noch beweisen müssen, was sie in Nordafrika bald taten.

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Kapitel 10 Madrid Lissabon

S PA N I E N

PORTUGAL gem. Kampfverb. West 8. Nov. 1942

Mazagan Safi Agadir

gem. Kampfverb. Mitte 8. Nov. 1942

Gibraltar Tanger

Blida

Ceuta

S PA N . M A R O K K O La Senia

Port-Lyautey Rabat Fez Casablanca

11. Nov.

Marrakesch

MAROKKO

RÍO DE ORO

0

Sardinien

100 200 300 km

gem. Kampfverb. Ost 8. Nov. 1942

Oujda

Oran 10. Nov.

Tafaraoui

12. Nov.

Djidjelli Front 31. März 12. Nov.

Tabarka Bizerte 7. Mai

Algier Bougie Bône 17. Nov. 11. Nov. Souk-el-Arba MaisonThala Blanche Youks-les-Bains

1. Brit. Armee

15. Nov.

1

FREDEN DALL Touggourt (PATTON)

2

TUNESIEN

ALGERIEN

S A H A R A US-Streitkräfte (incl. Franzosen) Britische Streitkräfte Von den Achsenmächten gehaltene Frontlinie

Hauptschlachten

Alliiertes Hauptquartier der Invasionskräfte

Für einen Kampf war dies eine besonders unwirtliche Gegend. Erbarmungslos brannte die Sonne auf das steinige Gelände. Die weiten Hügel glitzerten im hellen Licht, und die Hitze verwirrte den Männern die Sinne. Abseits der Küste gab es nur wenige Straßen, und auf den wenigen engen Passagen waren Minen vergraben. Seit Rommel zum Kommandeur des deutschen Afrikakorps ernannt worden war, gelang ihm jeder Überraschungsangriff auf die Briten. Wie General Nathan Bedford Forrest im Amerikanischen Bürgerkrieg, war auch Rommel ein außergewöhnlicher Stratege, ein Meister des Blitzangriffs und immer in der Lage, auch die kleinste Gelegenheit zu seinem Vorteil zu ergreifen. Er wurde von seinen Männern bewundert – die ihm bis hinab zu den Pforten der Hölle gefolgt wären, hätte er es von ihnen verlangt. Ständig war er unterwegs und immer an erster Front zu finden. Quecksilbrig, schlank, mutig und ritterlich wie er war, konnte er durchaus als Deutschlands fähigster General gelten. Sein Ruhm ging um die Welt, sogar Churchill zollte ihm widerwillig Bewunderung. Trotz seiner Neigung zu lähmenden Kopfschmerzen, seines nervösen Temperaments, seines erhöhten Blutdrucks und rheumatischer Gelenkschmerzen tat er sich unter den wichtigen deutschen Befehlshabern hervor: Als einer der wenigen mutigen Fürsprecher drängte er den „Führer“, wenn auch vergeblich, schon sehr früh dazu, den Krieg zu einem schnellen Ende zu bringen.

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Kap Bon

Sousse

Kasserine Sfax Gafsa El Guettar Gebès El-Hamma Mareth

AN DERSON Djelfa 2. US-Korps

Tunis

Front 22. April

Das Riegner-Telegramm

Der Krieg in Nordafrika (Okt. 1942 bis Mai 1943)

I TA L I E N Sizilien

Athen

Korinth

Syrakus

Kap Matapan

Malta

(brit.)

Rhodos Kreta

MITTELMEER Tripolis

Zypern

Homs Bengasi Tarhuna Buerat el Hsur 20. Nov. Sirte El Agheila Front 26. Dez.–16. Jan. Merduma 16. Dez.

Derna Martuba Tobruk Mekili 13. Nov. El Gazala Msus

Agedabia Cyrenaica

Front 23. Nov.–13. Dez.

Haifa

Mersa Matruh El Alamein Alexandria

Sidi Barrani

Fuka

El Hammam

El Alamein Qattara- 23. Okt.–4. Nov. 1942 Senke

1 Kasserine-Pass (14.–22. Feb. 1943)

Jerusalem Port Said

Suezkanal

Kairo

Amman

TRANSJOR DAN I EN

Akaba

Sinai

8. Brit. Armee

ÄGYPTEN

Damaskus

PAL ÄSTI NA

SAU DIARABIEN

MONTGOMERY

LIBYEN

SYR I EN LI BANON Beirut

Maddalena

23. Jan.

Tr i p o l i t a n i e n

TÜRKEI

GRIECHENLAND

Nil

ROTES MEER

2 Mareth-Front am 20. März

Doch er kämpfte weiter, und er kämpfte hart. Vierzehn Monate lang stürmten er und die Briten über Hunderte von Wüstenkilometern hin und her, noch bevor irgendein US-Soldat auch nur einen Schuss abgegeben hatte. Anfangs hatte er die Briten durch geschicktes Manövrieren listig wie ein Fuchs überwältigt. Bis zurück nach Ägypten hatte er sie getrieben, bis ihnen nur noch eine isolierte Festung im libyschen Hafen Tobruk geblieben war. Im Sommer und Herbst 1941 hatte Churchill alles unternommen, was er konnte, um diese Festung zu verstärken, die verzweifelt und einsam an Rommels Flanke lag und einen Wendepunkt markierte. Unter dem oft hell leuchtenden Mond gab es auch nachts endlose Vorstöße und Rückzüge, doch keiner Seite gelang der entscheidende Schlag. Die alliierten Soldaten kannten keine Pause. Sie mussten herausfinden, wie sie durch Hunderte von Kilometern die verdorrte Wildnis durchqueren konnten, mit nichts als Kompass und Sterne zu ihrer Orientierung, nicht anders als ihre Kameraden zur See. Wie in einem abstrusen Vabanque-Spiel verharrten große Panzerkolonnen des Nachts, weil sie nicht wissen konnten, ob die Gegner 100 Kilometer entfernt oder gleich hinter der nächsten Kurve lauerten. Dazu kam der Staub, der ein unnachgiebiger Feind war: Er lag überall, auf den Schutzbrillen der Männer, in ihren Stiefeln, in ihrer Unterwäsche und verklebte die Haa-

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Kapitel 10

re. Die Männer hielten über kilometerweite Landschaft Ausschau, wo außer den hässlichen Flecken verdorrter Erde, den Spuren der Fahrzeuge und Abfall – zerschossene Panzerbänder und zerplatzte Reifen aus vorhergehenden Auseinandersetzungen – nichts zu sehen war. Bei Tage wie in der Nacht der Witterung ausgesetzt, stanken die schmutzstarrenden Männer erbärmlich. Und dann gab es noch die Insekten, die über den Essensrationen schwirrten und brummten, sobald die Lebensmitteldosen geöffnet wurden. Unter diesen Umständen hatte Rommel schließlich im Juni Tobruk erobert, während Churchill mit Roosevelt konferierte, und war auf Kairo vorgerückt. Es war allein an den Briten, die Deutschen aufzuhalten und sie nach und nach zurückzudrängen, denn auf die Amerikaner warteten sie noch immer. Am 23. Oktober – jenem Tag, an dem die Briten mit der Zweiten Schlacht von El Alamein einen schweren Gegenangriff gegen Rommel starteten und die sowjetische Armee die Wehrmacht in Stalingrad zurückdrängte – stürzten sich die Amerikaner endlich in das Schlachtengetümmel und stachen in Richtung Nordafrika in See. Eine Flotte von 670 Schiffen – Frachtschiffe, Kriegsschiffe und Truppentransporter –, die eine Angriffsmacht von über 100 000 Soldaten an Bord hatte, machte sich auf den Weg über den Atlantik. Mehr als 100 dieser Schiffe starteten von den USA aus. In Washington und London stieg die Spannung, lag doch ein Schlüssel zu ihrem Erfolg in der absoluten Geheimhaltung. Denn kampferprobt waren die US-Truppen noch nicht, sie würden sich erst noch in der Auseinandersetzung mit dem Feind beweisen müssen. Eisenhower selbst war derart angespannt und erschöpft, dass er Schulterkrämpfe vom stundenlangen Lehnen über Landkarten und Berichten bekam. Er hatte Mundgeruch und war zum Kettenraucher geworden, der drei Packungen Zigaretten am Tag rauchte. An manchen Tagen ging er tief gebeugt. Laut Plan sollte die Armee im Schutz der Dunkelheit an Land gehen, und Eisenhower war sich nur allzu bewusst, dass eine Nachtlandung an feindlicher Küste so weit entfernt von der Heimat noch nie unternommen worden war. Am Vorabend des Feldzugs lag er auf einem Feldbett und schrieb in der Kommandostation, die sich in einem Tunnel unter dem Felsen von Gibraltar befand: „Wir stehen […] am Rand des Abgrunds und müssen nun springen.“37 General George Patton hingegen war zuversichtlicher. Er rief seinen Männern zu, dass die Navy sie zwar sicher nicht genau zum Zielpunkt bringen werde, doch was mache das schon: „Bringt uns nach Afrika. Dann laufen wir!“ 4000 Kilometer entfernt davon, in den rauen Catoctin Mountains, versuchte Präsident Roosevelt vergeblich, sich in Shangri-La, das heute unter dem Namen

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Camp David bekannt ist, zu entspannen. Der Präsident saß über seiner Briefmarkensammlung, legte Patiencen, las Unterhaltungsromane und machte es sich auf der abgeschirmten Veranda bequem. Das Witzeln und Scherzen allerdings war ihm ebenso vergangen wie die für ihn so typische Überschwänglichkeit. Hätte er es gekonnt, wäre er vermutlich unruhig auf und ab gelaufen, und auch so vermochte er seine Nervosität wegen der Invasion nicht zu verbergen. Es war Samstagnacht in Shangri-La, über der afrikanischen Küste ging die Sonne auf, als der Angriff begann. Eisenhower wusste, dass im ganzen Jahr nur ein Zeitfenster von weniger als zwei Wochen für eine Landung in Casablanca an der Atlantikküste und im westalgerischen Oran infrage kam. Und dies waren zwei Ansatzpunkte des Angriffs, bei denen 35 000 US-Soldaten und 39 000 Briten eingesetzt werden würden. Der dritte Angriffspunkt, bei der eine Truppe aus 10 000 Amerikanern und 23 000 Briten zum Einsatz kommen sollte, lag in Algier, im mittleren Abschnitt der Mittelmeerküste. Ein bisschen überheblich waren die US-Truppen überzeugt, auf die moderne Schlacht ausgiebig vorbereitet worden zu sein. Doch das waren sie nicht. Auch wenn sie gewieft und mutig waren, so waren sie doch auch noch grün hinter den Ohren. Denn nicht nur ihre Ausbildung war unzureichend gewesen, sondern auch die Koordination der Einheiten stellte sich als mangelhaft heraus.38 Sie hatten keine Ahnung vom Grabenkampf oder von Tarnung. Auch hatten sie, in Eisenhowers Worten, noch nicht gelernt, den Feind zu hassen. Ja, die Armee hatte die beste Ausrüstung besorgt für die jungen GIs.39 Sie besaßen neue Mehrfachgeschütze und Amphibien-Zugmaschinen, verbesserte Sherman-Panzer und die allerbesten Maschinenpistolen. Sie brachten sogar den neusten Raketenwerfer mit: die Bazooka. Und sie waren mit all dem Komfort ausgerüstet, den ein Quartiermeister zu bieten hatte: mit Sonnenbrillen, Trittleitern, Vergrößerungsgläsern, Moskitonetzen, Gummistiefeln, Bettstrümpfen, Fahrrädern, zusätzlichen Wolldecken für die kühlen nordafrikanischen Nächte, Staubbrillen und Staubschutzmasken für die unvermeidlichen Sandstürme, aufblasbare Schlauchboote für zusätzliche Transportkapazitäten, sogar schwarze Turnschuhe und selbstverständlich mit US-Flaggen, die an den Stränden aufzupflanzen waren. Im Vorfeld der Truppenlandung hatten Eisenhowers Stellvertreter Generalmajor Mark W. Clark und Robert Murphy aus dem US-Außenministerium mit den französischen Kolonialmächten gesprochen, um den Widerstand gegen

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Kapitel 10

die Invasion zu minimieren. Ihre Hoffnung bestand darin, dass die Franzosen wenig Lust verspürten, die US-Truppen zu bekämpfen, und sich eher einem Schlag gegen die Nationalsozialisten anschlössen. Für alle Fälle hatte Roosevelt seine Berater angewiesen, die Franzosen zu informieren, man käme nicht als Eroberer, sondern als Befreier.40 Die Situation in Nordafrika, eine instabile Mischung aus Sympathisanten des Vichy-Regimes, Antikolonialisten und freien Franzosen, war jedoch chaotisch und verwirrend. Und Roosevelt wurde die Befürchtung nicht los, durch den Widerstand der Vichy-Franzosen, sei es aus Überzeugung oder Starrköpfigkeit, würde die ganze Mission scheitern und könnten viele Tausend Männer ums Leben kommen. Der Konvoi aus 600 Schiffen näherte sich der Küste, ohne Funkkontakt zu halten. Erst kurz vor der Landung wurde den Mannschaften eine aufmunternde Botschaft Präsident Roosevelts vorgespielt: „Vom Ausgang des Kampfes hängt die Freiheit eurer Leben ab: Die Freiheit des Lebens jener, die ihr liebt.“ Eine ähnliche Botschaft des Präsidenten erging auch an die Franzosen in Nordafrika. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen sich zeigten, hörten sie zu ihrer Überraschung eine von Roosevelt auf Französisch vorgetragene BBC-Nachricht: „Meine Freunde, die ihr Tag und Nacht unter dem erdrückenden Joch der Nationalsozialisten leidet, zu euch spreche ich als einer, der mit eurer Armee und Marine 1918 in Frankreich war. Mein ganzes Leben lang hege ich bereits eine tiefe Freundschaft zum französischen Volk.“ Eloquent fuhr er fort: „Ich kenne eure Bauernhöfe, eure Dörfer und eure Städte. Ich kenne eure Soldaten, Lehrer und Arbeiter. Ich […] wiederhole mein Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ Er schloss seine Ansprache mit dem stürmischen Aufruf an die Franzosen, die Invasion zu unterstützen: „Wir wollen euch nichts Böses tun.“ Und dann: „Vive la France éternelle!“41 Noch vor dem Sonnenaufgang, um drei Uhr in der Frühe, zwischen dem Ruf des Muezzins im südlichen Rabat und jenem im westlichen Algier, versammelte sich eine Flotte mit Hunderten von Kriegsschiffen und Transportern vor der Küste Afrikas. Weder seine Briefmarken noch die Bücher hatten Roosevelt abgelenkt. Auch die Gegenwart von Harry Hopkins und ein paar Freunden half nicht. Den ganzen Tag über und bis in den Abend hinein, war die Anspannung auf seinem Gesicht deutlich zu erkennen. Immer wieder blieben seine Augen am Telefon hängen in Erwartung der Nachricht vom Beginn der Invasion. Kurz vor 21  Uhr am Samstag, dem 7.  November, klingelte das Telefon endlich.

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Roosevelts Sekretärin, Grace Tully, reichte ihm den Hörer. Es war das Kriegsministerium. Roosevelt griff mit zitternder Hand zum Hörer. Er lauschte ein paar Minuten in absolutem Stillschweigen, brummte dann „Gott sei Dank. Gott sei Dank. Das hört sich sehr gut an. Glückwunsch. Die Verluste sind vergleichsweise gering – sehr viel weniger als vorhergesagt.“ Und dann sagte er wieder: „Gott sei Dank.“ Mit einem Grinsen drehte er seinen Stuhl um und sah seine Gäste an. „Wir sind in Nordafrika gelandet“, erklärte er. „Die Verluste liegen unter den Prognosen. Wir schlagen zurück!“ Wie es aussah, lag das Glück aufseiten der Alliierten. Bemerkenswerterweise war der Atlantik ruhig, und es hatte keine Probleme mit deutschen U-Booten gegeben. Einige der Landungsmanöver liefen geradezu wie am Schnürchen, und die Soldaten begegneten auf ihrem Weg ins Landesinnere nur geringem Widerstand. Im Hafen von Casablanca verwüsteten US-Kampfschiffe und Kreuzer die überraschte französische Flottille. Und dennoch kam es auch zu unerwarteten Schwierigkeiten: Niedergedrückt von fast 100 Kilogramm Ausrüstung und Munition, mühten sich die Soldaten durch die Brandung, bis einige von ihnen ihre Armeerucksäcke abwarfen. Mit Wasser vollgesogen lagen diese Taschen zusammen mit anderer Ausrüstung am nächsten Morgen über den Strand verteilt. Dazu kamen noch andere Probleme: Einige Einheiten landeten kilometerweit entfernt von den geplanten Landungsorten, und zum Entsetzen der USTruppen, entschieden sich die Franzosen für die Achsenmächte zu kämpfen. Es kam zu Scharmützeln vor allem in Oran und entlang der Atlantikküste, wo sich die Franzosen zu Gegenangriffen bereit machten. Die USA verloren einige Schiffe, und einige Landungen verzögerten sich oder wurden vereitelt. Und zu Roosevelts Bestürzung brachen die stolzen, wütenden Franzosen die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ab, während ein empörter Hitler die Invasion als Vorwand nahm, die südlichen Teile Frankreichs, die bislang unter der Herrschaft der Vichy-Regierung gestanden hatten, einzunehmen. In der Nacht des 11. November überquerten bewaffnete Einheiten die französische Demarkationslinie. Es gab nur wenige Zusammenstöße und kaum Widerstand. Nun herrschten die Nationalsozialisten über ganz Frankreich. Doch solche Rückschläge waren zu erwarten gewesen, und im Großen und Ganzen hatten die Amerikaner gesiegt, war die Operation ein überwältigender Erfolg. Bis zur Mittagszeit des 8. November war Algier eingekreist

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und eingenommen – Oran ebenfalls. Was den unerfahrenen GIs an Training fehlte, machten sie durch ihre schiere Anzahl wett. Sie überrannten jeden Widerstand, Casablanca fiel bald ebenso in ihre Hände wie der wichtige Hafen von Rabat. Und die Alliierten drängten weiter in die steinigen Hügel Tunesiens vor. Roosevelt hatte von Anfang an recht gehabt: Auf die Moral kam es an. In den USA war die Stimmung bestens, was die Newsweek auf den Punkt brachte: „Das ist es! Diese Worte gingen der ganzen Nation am Samstag, den 7. November um 9 Uhr abends durch den Kopf. […] Von einem Ende des Landes bis zum anderen breitete sich das Gefühl aus, dass es die Vereinigten Staaten der Welt von nun an wieder zeigen werden wie eh und je.“42 Sportveranstaltungen wurden unterbrochen, um den jubelnden Zuschauern die geglückte Landung zu verkünden. Zu Hause holten die Menschen Landkarten hervor und verfolgten den Weg der Küsteninvasion. In Cafés und Jugendclubs tollten Kinder umher, während ihre Eltern sich darüber den Kopf zerbrachen, wie man die Namen all jener exotischen Orte in Nordafrika aussprach, von denen sie nie zuvor gehört hatten. Und jeder, so schien es, lächelte beim Anblick der Schlagzeilen. Nun begann die zweite Phase der Operation. Am 12. November drängte Eisenhower den ehemaligen Premierminister und Oberbefehlshaber von VichyFrankreich, Admiral François Darlan, die Position des „Hochkommissars von Frankreich in Nordafrika“ anzunehmen. Darlan sollte die französischen Soldaten davon überzeugen, das Kämpfen einzustellen und die Waffen niederzulegen. Wenn alles nach Plan verliefe, würden die Franzosen zudem helfen, Tunesien zu befreien. Darlan erklärte sich einverstanden, und die Kämpfe endeten. Für die US-Kommandeure in Nordafrika schien dies ein pragmatisches Arrangement zu sein – ein Weg, unnötiges Blutvergießen zu verhindern. Wie Eisenhower es in einer Mitteilung an Marshall formuliert hatte, grämte ihn „jede Kugel, die [sie] gegen die Franzosen“ anstatt gegen die Deutschen einsetzten.43 Zu ihrer großen Verblüffung hatte diese Übereinkunft jedoch weitreichende Folgen. Roosevelt und die Briten sahen sich nahezu über Nacht einer riesigen Protestwelle gegenüber. Quer durch alle politischen Lager wurde die Frage gestellt, ob Darlan nicht für all das stand, was die Westmächte verachteten. Er war überzeugter Faschist und obendrein ein Kollaborateur, der, als die Deutschen Frankreich überfielen, schnell in ihr Lager gewechselt war. Auch als die Juden in Frankreich zusammengetrieben und verhaftet wurden, war von ihm kein Wort des Protests zu hören gewesen. Und nun gaben Eisenhower und Roosevelt ihr Plazet zum sogenannten „Clark-Darlan-Abkommen“. War der Preis, der hier gezahlt wurde, nicht zu hoch?

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Man hatte die ganze Sache ungeschickt angepackt, weshalb viele den Eindruck bekamen, der Westen wäre nicht nur zu Verabredungen mit Faschisten, sondern auch mit Hitler selbst bereit. Die Tatsache, dass Marschall Henri Philippe Pétain, der Chef der Vichy-Regierung in Frankreich, sich kurz und knapp geweigert hatte, die Landung der Alliierten zu akzeptieren und die Befreiung behindert hatte, tat ihr Übriges. „Wir werden angegriffen“, hatte Pétain gesagt. „Wir werden uns verteidigen; dies ist der Befehl, den ich erteile.“44 Die Kritiker der Einigung hatten das Gefühl, Darlan sei ein Verräter und das Abkommen ein skrupelloses Geschäft, bei dem erst dem französischen Volk Frieden versprochen wurde, nur um dann mit den Kollaborateuren ihrer Unterdrücker zu verhandeln. Und nicht nur liberale Kolumnisten und linke Aktivisten waren empört. Selbst Roosevelts Finanzminister, Henry Morgenthau, beschimpfte Darlan als „einen Mann, der Tausende von Menschen in die Sklaverei verkauft“ habe. Roosevelts ehemaliger Widersacher um das Präsidentenamt, Wendell Willkie, der nun zu seinem Verbündeten in Kriegsfragen geworden war, stimmte dieser Analyse zu: „Sollen wir schweigen und zusehen, wie die langandauernde Beschwichtigungspolitik unserer Regierung Vichy gegenüber ihren logischen Höhepunkt in einer Kollaboration mit Darlan endet, mit Hitlers Werkzeug?“ Charles de Gaulle, der sich als Führer des freien Frankreichs in London aufhielt, meldete sich ebenfalls zu Wort und erklärte mit nur einem einzigen Satz: „Die Vereinigten Staaten können Verräter bezahlen, aber nicht mit der Ehre Frankreichs.“ Zunächst war Roosevelt diese Empörung gleichgültig, dann zeigte er sich irritiert und bald darauf offensichtlich empfänglich für die Kritik. Eisenhower bemühte sich, den entstandenen Schaden zu begrenzen; er sandte dem Präsidenten ein Telegramm mit dem Hinweis, dass die französischen Streitkräfte, sollte man die Vereinbarung aufheben, wohl „passiv“ oder gar „aktiv“ Widerstand leisten würden. Doch damit ließ sich der Tumult nicht besänftigen. Roosevelt war in die Ecke gedrängt worden und drohte sich heillos in die Affäre zu verstricken. Schließlich gab er eine Erklärung heraus: Er akzeptiere Eisen­ howers Vereinbarung nur „vorläufig“ und fügte hinzu, dass keine „dauerhafte Regelung“ mit Darlan getroffen werde. „Wir stellen uns jenen Franzosen entgegen, die Hitler und die Achsenmächte unterstützen“, gab er bekannt und wiederholte aufs Neue, die Vereinbarung sei nur ein „zeitweiliges Hilfsmittel“, das ausschließlich „durch den Druck der Schlacht“ gerechtfertigt sei. Bei einem Treffen mit dem Präsidenten im Weißen Haus klagte Morgen­ thau, die Vereinbarung über Nordafrika belaste ihn sehr. Roosevelt antwortete mit einem bulgarischen Sprichwort: „Meine Kinder, euch sei in Zeiten der gro-

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ßen Gefahr erlaubt, mit dem Teufel zu gehen, bis ihr die Brücke überquert habt.“45 Doch das moralische Dilemma blieb bestehen. Wie lange war es akzeptabel, mit dem Teufel Händchen zu halten? Für einen kurzen Sprint? Für einen Marathon? Und was, wenn der Teufel einen Umweg lief? Solche Fragen sollten sich nicht zum letzten Mal stellen. Nun schien eine Panne auf die nächste zu folgen. Roosevelt war abwechselnd verdrossen, irritiert oder aufgebracht angesichts des Aufschreis gegen ihn. Er sah abgehärmt und erschöpft aus. Auf Menschen in seiner Umgebung wirkte es, als würde die Kritik an seiner Person ihm stark zusetzen. Morgens schlug er die Zeitungen auf und teilte, mit kaum verhohlener Abscheu, gegen feindselige Herausgeber aus und las spöttisch jedes Wort der kritischen Artikel und Kolumnen laut vor. An anderen Tagen tat er so, als gäbe es gar keinen Feldzug in Nordafrika, und weigerte sich, über das Thema zu sprechen. Und an wieder anderen Tagen suchte er Zuflucht bei seinen üblichen Vergnügungen: Er unternahm entspannende Fahrten über Land, schickte spielerische Nachrichten an seine Mitarbeiter und scherzte während der geliebten Cocktail-Stunde. Schließlich nahm er ganz Reißaus vor Washington und bestieg den Zug nach Hyde Park, um sich frische Luft um die Nase wehen zu lassen. Ein junger französischer Royalist aus algerischer Familie sollte Roosevelts Rettung sein, indem er Darlan an Weihnachten mit zwei Schüssen ermordete. Der Präsident schrieb erleichtert an seinen ehemaligen Chef im Marineministerium, Josephus Daniels: „Heute bin ich glücklich darüber, dass es nach drei Monaten, in denen ich wegen der zweiten Front täglich einstecken musste, nun endlich vorüber ist.“46 Roosevelts breites Lachen kehrte zurück, und Ende 1942 schien es, als stünde der Krieg an der entscheidenden Weggabelung – knapp zwei Jahre nach Roosevelts Erfindung des Lend-and-Lease-Act, mit dem er einem verzweifelten Großbritannien zur Hilfe kam, und nur ein Jahr nach dem Albtraum von Pearl Harbor. An der Ostfront in der Sowjetunion kämpften und starben die Deutschen in unvorstellbarer Zahl. In El Alamein hatte die britische 8. Armee die Offensive zurückgewonnen, und Rommel befand sich auf breitem Rückzug. Mit dem Erfolg der Nordafrika-Invasion im Rücken war es nur eine Frage der Zeit, bis die Deutschen südlich des Mittelmeers besiegt und die Länder

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Nordafrikas von Truppen der Achsenmächte befreit sein würden. Trotz einiger Rückschläge – so wurden die US-Soldaten später von Rommels Panzern am Kasserinpass in die Flucht geschlagen – brachte der Feldzug insgesamt doch zahlreiche Vorteile mit sich. Er stärkte das Selbstvertrauen der kriegsmüden Briten. Er half, eine echte militärische Allianz zwischen den Briten und Amerikanern zu schmieden, die unabdingbar war, wollten sie eine europäische Front eröffnen. Und er wirkte sich auf die US-Armee aus: In Nordafrika lernten die Offiziere und Soldaten der US-Truppen, die sich an den Krieg gewöhnen mussten, schnell ihre Lektionen. Zudem war Eisenhower nun in der Lage, inkompetente Kommandeure auszusortieren. Und schließlich ebnete er den Weg für die anstehende Invasion Siziliens und den Italien-Feldzug. Ein euphorischer Roosevelt lehnte sich in seinem Stuhl zurück, zog den Rauch seiner Zigarette tief ein und genoss mit jeder Faser seinen Erfolg. Er lieferte verzückten Journalisten saftige Geschichten über die Vorbereitungen zur „Operation Torch“. Er erklärte knapp, eine solche zweite Front werde nicht über Nacht errichtet und gäbe es auch nirgends pfannenfertig zu kaufen.47 Mehr denn je breitete sich Siegesgewissheit in Washington aus. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Alliierten Frankreich betreten würden, und Roosevelt wurde als Meister des politischen Spiels auf internationalem Parkett angesehen. Und zu Hause verbesserte sich die wirtschaftliche Lage: Dank der Kriegsanstrengungen entkamen Millionen Amerikaner der Armut, und das Problem der Arbeitslosigkeit war gelöst. In Großbritannien läuteten, als das Jahr sich seinem Ende zuneigte, die Kirchenglocken, um den Erfolg in Nordafrika zu feiern. „Das ist nicht das Ende“, wandte sich Churchill an das britische Volk. „Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende vom Anfang.“48 Am 13. Dezember 1942 war der gewaltige Bariton des bekannten Journalisten Edward R. Murrow im Radioprogramm der CBS ertönt. Trotz des Knisterns der atmosphärischen Störungen in der Übertragung, die seine Stimme über den Ozean trug, war den Zuhörern die Ernsthaftigkeit seiner Worte nicht entgangen: „Hier … spricht London.“ Millionen Amerikaner hatten vor den Radiogeräten gehangen, als Murrow fortfuhr: „Was geschieht ist Folgendes: Millionen von Menschen, die meisten von ihnen Juden, werden mit rücksichtsloser Effizienz zusammengetrieben und ermordet. […] Die Formulierung ‚Konzentrationslager‘ ist überholt, ebenso veraltet wie ‚wirtschaftliche Sanktionen‘ oder

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‚Nichtanerkennung‘. Man kann jetzt nur noch von Vernichtungslagern sprechen.“49 Das grausame Geheimnis war für alle jene, die es hören wollten, nun endgültig gelüftet. Am 31. Dezember 1942 herrschte im Weißen Haus, anders als im Jahr zuvor, bei Roosevelts Silvesterparty eine feierliche Stimmung.50 Es gab Cocktails im Kreise von Freunden und Familie. Es gab ein Dinner und die private Vorführung des Films Casablanca mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle. Man war guten Mutes. Kurz bevor die Uhren Mitternacht einläuteten und das Jahr 1943 begann, versammelten sich der Präsident und seine Gäste im Arbeitszimmer im zweiten Stock. Man servierte Champagner. Roosevelt erhob sein Glas und brachte den traditionellen Toast aus: „Auf die Vereinigten Staaten von Amerika!“ Auf Roosevelts Vorschlag hin erhob man wenig später ein zweites Mal die Drinks, und dieses Mal galt der Trinkspruch des Präsidenten der Nachkriegswelt: „Auf die Vereinten Nationen!“

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1943 Zu Beginn des Jahres 1943 war es ruhig in Berlin. Von Afrika bis zur Sowjetunion jedoch lagen deutsche Truppen an mehreren Fronten unter schwerem Feuer. Frühere Geländegewinne wurden ihnen wieder abgenommen, ihre Gefallenenlisten, ohnehin schon lang, wurden noch länger. In der Hauptstadt hingegen kündigten in diesem Augenblick keine Sirenen einen Luftangriff an. Kein Pfeifen von abgeworfenen alliierten Bomben war am Nachthimmel zu hören, und es kam am Boden auch nicht zu donnernden Explosionen. Die Luftabwehrgeschütze schwiegen. Die Flakgeschosse stiegen nicht in den Himmel hinauf und regneten wieder herab. In den Straßen war der Schutt beiseite geräumt worden, und die Bunker standen leer. Es herrschte die Ruhe vor dem Sturm, und das deutsche Oberkommando war sich dessen bewusst. Die Nationalsozialisten würden schon bald Propagandaminister Joseph Goebbels in den Berliner Sportpalast schicken. Als Vertretung für den immer zurückgezogener lebenden Hitler würde Goebbels vor einer sorgfältig überwachten Masse und umgeben von Girlanden und NS-Bannern eine Rede halten. Unterstützt würde er von einem raffinierten Lautsprecher-System, über das man Beifall und Jubelrufe einspielte – ein Vorläufer des Lachens vom Band bei heutigen Comedy-Shows. Hinter dem Podium würde ein Banner hängen mit der Aufschrift „Totaler Krieg – Kürzester Krieg“. Das war es, was Goebbels verkaufen wollte. Unter großen Gesten, bei denen er mal die Fäuste schwang, mal die Hände in die Hüften stützte, griff Goebbels zu jedem rhetorischen Trick. War Lautstärke vonnöten, schwoll seine Stimme an. Spürte er, dass die Aufmerksamkeit eine Spur nachließ, senkte er die Stimme und zwang das Publikum damit, jedem Wort angestrengt zu lauschen. Seine Botschaft war ungewöhnlich offen: Bars und Nachtlokale würden gesperrt, Luxusgeschäfte, Modesalons und Luxusrestaurants geschlossen. „Feinschmecker wollen wir wieder nach dem Kriege werden“, erklärte er. „Sparsamkeit“ und „Anstrengung“ wurden zu Worten der Stunde erhoben. Dann kam der rasende Höhepunkt. Goebbels stellte seinen Zuhörern die rhetorische Frage, ob sie weiterhin an den endgültigen Sieg des deutschen Volkes glaubten: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt

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ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?“ „Ja!“, lautete die Antwort und wilder Applaus brandete auf. „Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen?“ Schließlich erhob sich die Menge und brüllte: „Führer befiehl, wir folgen!“ „Ihr habt mir eure Antwort gegeben“, wiederholte Goebbels. „Ihr habt unseren Feinden das zugerufen, was sie wissen müssen […].“1 Ein totaler Krieg zeichnete sich ebenfalls jenseits des Atlantiks, in Washington, D.C., ab. Vorbei war die Zeit, in der die isolationistischen USA schüchtern daneben saßen und zusahen, wie ihre europäischen Alliierten von der NSKriegsmaschinerie verschluckt wurden. Vorbei war die fast irrwitzige Verteidigungshaltung der frühen 1940er-Jahre, als die USA ihr „Arsenal der Demokratie“ bereit machten. Als die Wehrmacht die Grenze zu Polen überschritt, war Washington, D.C., eine Stadt mit 15 000 Außentoiletten und vielen Kilometern voller Slums mit Teerpappenhütten gewesen. In derselben Stadt hatten auch stattliche Häuser auf den sanften Hügeln von Kalorama gestanden und hatten die verzierten Marmorfassaden der Regierungsgebäude geleuchtet. An schönen Tagen waren Besucher durch die Außenanlagen des Weißen Hauses spaziert. Einen Zaun hatte man erst kurz zuvor aufgebaut, und bis dahin war der Rasen des Weißen Hauses der Lieblingsort vieler Picknick-Freunde gewesen. Erst als die Japaner Pearl Harbor bombardiert hatten, entwarf Finanzminister Henry Morgenthau einen Plan, um das Weiße Haus vom Geheimdienst mit gestapelten Sandsäcken an allen Eingängen und Maschinengewehren an jeder Tür zu schützen. Jedem Mitarbeiter hatte man eine Gasmaske ausgehändigt. Der Präsident hatte die seine pflichtgetreu an seinen Rollstuhl gehängt.2 Im Anschluss an den Angriff der Japaner und nach Konsultationen mit den Briten entschloss sich der für das Weiße Haus zuständige Architekt zur Errichtung eines Bunkers, der über einen Tunnel im Ostflügel und über das Finanzministerium zu erreichen sein sollte. Er sollte einer 250 Kilogramm-Bombe standhalten und besaß Dieselgeneratoren, um Elektrizität zu erzeugen und gefilterte Luft bereitzustellen. Luftabwehr-Geschütze sollten auf den Dächern von Regierungsgebäuden aufgebaut werden, wobei sich ein Problem auftat: Die Armee verfügte gar nicht über so viele Luftabwehr-Geschütze wie die Militärplaner hierfür vorsahen. Also stellte man großteils Attrappen aus bemaltem Holz auf. Und was war mit den wenigen echten Geschützen auf den Dä-

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chern? Erst nach dem Krieg fiel auf, dass die für sie bereitgelegte Munition die falsche war. Anders als Berlin war Washington keine Stadt, die mit einer funktionierenden Flak in den Himmel hätte schießen können oder von einem Bunker unter dem Zoo aus einen Gegenangriff hätte befehligen können. Und für all das gab es auch gar keinen Grund: Einen Ozean von allen Schlachtfeldern entfernt, war Washington schon immer sicher gewesen, und so war es auch jetzt. Dennoch hatte sich die Stadt 1943 verändert, selbst wenn das Leben scheinbar ungebrochen weiterging. Ja, manche Güter wurden zwar knapp, man verteilte Lebensmittelkarten und verschiffte junge Männer in den Krieg. Doch die Schulen waren weiterhin geöffnet, ebenso die meisten Büros. Football- und Rugby-Spiele fanden statt, man traf sich zum Picknick, regelmäßig kamen neue Filme in die Kinos und der einzig sichtbare Schutt stammte von den riesigen Baustellen, welche die Stadt und ihre Umgebung einhüllten. Die größten Veränderungen fanden jenseits des Potomac statt, just neben dem großen Arlington National Cemetery, denn hier wurde das Pentagon gebaut. Der verantwortliche Ingenieur hatte auch schon die Planungen für den später LaGuardia genannten Flughafen in New York City geleitet. Um das fünfeckige Riesengebäude zu errichten, beschäftigte man 13 000 Bauarbeiter rund um die Uhr. Rund 300 Architekten saßen allein in einem großen, leerstehenden Flugzeug-Hangar, um die Zeichnungen dem Bedarf der Bauarbeiten anzupassen. Nicht selten kamen die Handwerker vorbei und zogen ihnen noch unfertige Zeichnungen vom Tisch, um weitermachen zu können. Im Frühjahr 1943 war das Pentagon dann vollendet. Es sollten 40 000 Menschen darin arbeiten können und auch noch Platz sein für Akten, Telefone, Schreibmaschinen – das ganze Instrumentarium der Bürokratie. Doch am ersten Tag bereits war das damals größte Gebäude der Welt zu klein. So musste das Militär auch weiterhin Räumlichkeiten auf der anderen Seite des Flusses, in Washington, nutzen. Auch die Hauptstadt selbst wuchs schnell. Auf den Bürgersteigen drängten sich Matrosen und Soldaten, und die USA gaben jeden Tag 300 000 Dollar für den Krieg aus. An der National Mall entstanden provisorische Bürogebäude, sodass die Straße bald wie eine Wohnwagensiedlung wirkte. Und jedes Jahr strömten weitere 50 000 Menschen auf der Suche nach Arbeit in die immer vollere Stadt. Der Verkehr war katastrophal, die Wohnungssituation nicht minder. Einige Regierungsmitarbeiter schliefen gar schichtweise in Wohnungen, die sie sich mit Kollegen teilten. Andere übernachteten in echten Wohnwagensiedlungen, wie sie etwa am U.S. Highway One entstanden. Die Stadt platzte

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aus allen Nähten und funktionierte nur durch Improvisation. Sie war ungeordnet und chaotisch, und doch entwickelte sie sich zu einer der mächtigsten Hauptstädte der Welt und zu jenem Ort, von dem aus der Krieg gewonnen wurde. Doch so weit war es noch nicht. Sie hatten zwar in Nordafrika die „Schwachstelle“ der Achsenmächte getroffen, doch noch waren die Alliierten nicht in der Lage, einen großen Angriff auf Nordfrankreich zu starten. Zudem konnten sie auch in den kommenden Monaten noch keinen vollständigen Sieg für sich verbuchen. Dass sich jedoch das Kriegsglück der Wehrmacht wandte, wurde immer deutlicher, und hätte es sich erst einmal gedreht, wäre daran auch nichts mehr zu rütteln – dieser Meinung schienen viele zu sein, darunter auch der Präsident. Daher kann es auch kaum überraschen, dass Präsident Roosevelt, als er am 7. Januar 1943 zu seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress erschien, euphorischer wirkte denn je.3 „Letztes Jahr“, erklärte er unter dem Applaus der Abgeordneten, hätten sie die Japaner aufgehalten. „Dieses Jahr wollen wir vorrücken.“ Was die europäische Front anging, war er ähnlich zuversichtlich: „Die Achsenmächte wussten, dass sie den Krieg unbedingt 1942 gewinnen mussten – oder sie würden schließlich alles verlieren. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass unsere Feinde den Krieg im Jahr 1942 nicht gewonnen haben.“ „Ich kann nicht in die Zukunft sehen“, fuhr er fort. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wann oder wo die Vereinten Nationen als Nächstes in Europa zuschlagen werden. Aber wir werden zuschlagen – und zwar fest zuschlagen.“ Der Beifall wurde immer lauter, und Roosevelt setzte seine Rede fort. Dieses Mal war es an ihm, Hitler vorzuführen: „Ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir sie in Norwegen schlagen oder über die Niederlande, in Frankreich oder über Sardinien und Sizilien, ob über den Balkan oder Polen – oder an mehreren Orten gleichzeitig. Aber ich kann Ihnen sagen, […] dass wir und die Briten und die Russen sie mit aller Kraft und ohne Rücksicht aus der Luft treffen werden.“ Dann fuhr er fort: „Ja, die Nationalsozialisten und die Faschisten haben darum gebeten“ – er machte eine Kunstpause – „und“ – eine weitere hypnotisierende präsidentielle Pause – „darum – werden – sie – es – auch – bekommen.“ Da er sich seiner Sache überaus sicher war, brachte Roosevelt dann die Rede auf den Frieden, der dem Kriegen folgen würde: „Mir wurde gesagt, dies sei nicht der richtigen Augenblick, um von einem besseren Amerika nach dem Krieg zu sprechen. Mir wurde gesagt, dies sei ein schwerer Fehler meinerseits. Das denke ich nicht. Lassen Sie uns alle zuversichtlich sein, lassen Sie uns unsere Anstrengungen verdoppeln. Vor uns liegt eine gewaltige, teure und lang andauernde Aufgabe

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für den Frieden wie auch für den Krieg. Doch wenn wir uns dieser Aufgabe weiterhin stellen, werden wir erfahren, dass die Lage der Nation gut ist.“ Eine Woche später hielt sich Roosevelt in der Dar-es-Saada-Villa im befreiten Casablanca auf.4 Den Swimmingpool dort hatte man in aller Eile in einen Bunker verwandelt, die Sicherheitsmaßnahmen waren hoch. Die bodentiefen Fenster des zweistöckigen Wohnzimmers konnten mit verschiebbaren Stahlplatten gegen Kugeln oder Schrapnelle geschützt werden. Eine bewaffnete Division unter dem Kommando von General George Patton bewachte das Grundstück, das mit Stacheldraht umzäunt war. Hinter diesem Stacheldraht­ ring stand eine Reihe von Luftabwehrgeschützen. Elliott Roosevelt, der von seinem Vater vorab informiert worden war, erinnerte sich daran, wie man ihm erklärt hatte, dass Casablanca zwar gerade von den Deutschen erobert worden, aber immer noch von französischen Spionen der Faschisten „durchsetzt“ sei.5 Der Geheimdienst, der auf alles hatte vorbereitet sein wollen, hatte dafür gesorgt, dass im Flugzeug des Präsidenten ein Langstreckenschwimmer mitflog. Wäre das Flugzeug über dem Meer abgeschossen worden, hätte der Agent so lange wie möglich mit dem Präsidenten über Wasser bleiben sollen. Ursprünglich bestand die Hoffnung, sich hier zu einer Dreier-Konferenz zu treffen, doch Josef Stalin hatte Bedenken geäußert, da seine Truppen eine schwere Gegenoffensive in Stalingrad führten, durch welche die deutsche Armee in zwei Hälften geteilt und rund 300 000 Deutsche eingeschlossen worden waren. Folglich waren es wieder nur Roosevelt und Churchill, die sich trafen, und Roosevelt hatte sich einen warmen Konferenzort gewünscht. Das Dekor der Villa war verschwenderisch – die für Roosevelt reservierten Schlafzimmer im Erdgeschoss waren, wie Elliott sich erinnerte, „voller Schnörkel und Schnickschnack, dazu gab es noch eine Badewanne aus schwarzem Marmor.“ Als er das Zimmer betrat und sich umsah, „pfiff “ Roosevelt anerkennend. „Jetzt fehlt nur noch die Dame des Hauses“, scherzte er. Doch Roosevelt musst sich mit der Gesellschaft Churchills begnügen, der in einer benachbarten Villa wohnte, sowie mit dem üblichen Gefolge des Militärstabes, von General Marshall abwärts. Vieles in ihren Gesprächen blieb reine Spekulation,6 waren die Deutschen in Nordafrika doch erst noch vollständig zu besiegen, auch wenn dieser Moment unmittelbar bevorstand, schließlich rückte der britische General Montgomery immer weiter westwärts durch Libyen vor. Dennoch lagen genug Hindernisse im Weg: Nach wie vor patrouillierten deutsche U-Boote im Atlantik, und ein

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Zusammenbruch der Sowjetunion war noch immer möglich, auch wenn ein solcher Kollaps nun weitaus weniger dramatisch gewesen wäre als zu Beginn der deutschen Invasion. Dass das Lend-Lease-Material die Sowjets erreichte, galt nun als oberste Priorität. Angesichts dieser Umstände stellte sich Roosevelts Versprechen an die Sowjetunion, eine zweite Front in Westeuropa zu eröffnen, für 1943 als unhaltbar heraus. Ein solcher Angriff konnte nur im Sommer erfolgen, und im Militärkalender rückten die entscheidenden Termine immer näher. Zum derzeitigen Augenblick verfügte man über keinen Stützpunkt, von dem aus eine Invasion möglich gewesen wäre. Zudem war mit der mitgenommenen deutschen Luftwaffe nach wie vor zu rechnen. Dwight Eisenhower, der gerade die Landung in Nordafrika durchgeführt hatte, unterstrich seine Meinung, eine Truppe hierfür sei nicht vor 1944 aufzustellen, gäbe es doch noch zu viele Unwägbarkeiten beim Transport der Alliierten. Je länger die Militärberatungen andauerten, umso deutlicher wurde, dass eine direkte Invasion Frankreichs ein Langzeitprojekt war, falls nicht sogar ein Wunschtraum. Was konnte man machen? Man besprach andere mögliche Angriffspunkte im Mittelmeerraum. Die Briten drängten dabei auf eine Invasion Siziliens. Ihre Argumente lauteten, dass dies neue Schifffahrtsrouten eröffnen und Italien aus dem Krieg herausstoßen würde. Mit den bereits in Nordafrika stationierten Soldaten könne ein solcher Angriff schnell erfolgen. Marshall, der die Idee einer zweiten Front in Frankreich stark unterstützte, trat weiter für die Aufrüstung zur Invasion über den Ärmelkanal ein. Roosevelt jedoch einigte sich mit Churchill: Das nächste Ziel sollte Sizilien sein und die Invasion noch dieses Jahr starten. Wieder einmal hatten die Briten unter Churchills Führung Roosevelt auf ihre Seite gezogen. Wie Eisenhower sich erinnerte, nutzte der britische Premier­minister „Humor und Pathos gleichermaßen, zog alles von den griechischen Klassikern bis Donald Duck für Zitate heran, setzte Klischees und kräftigen Jargon ein, um seine Position zu stärken.“7 Dennoch war Roosevelt sich wie immer seiner prekären Position zwischen Churchill und Stalin bewusst. Er taktierte in jedem Moment und blieb auf seinen Vorteil bedacht. Als sie sich für Sizilien und gegen eine zweite Front in Westeuropa entschieden, überlegte er: „Wir sind in einen strategischen Kompromiss gezwungen worden, der mit großer Sicherheit die Russen kränken dürfte, also werden wir später in der Lage sein, einen Kompromiss zu erzwingen, der mit großer Sicherheit die Briten kränken dürfte.“ Roosevelt wollte im Anschluss die Truppen besuchen und jene Männer sehen, die für die Demokratie kämpften und starben, doch seine Generäle lehn-

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ten seinen Frontbesuch ab. Stattdessen fuhr er 130 Kilometer mit dem Jeep zu Einheiten in Rabat und notierte nach seiner Rückkehr: „Einmal in einem Jeep gefahren zu sein reicht für eine ganze Weile.“ Der Präsident empfing zudem den 90-jährigen Großwesir von Marokko und den neunjährigen Sultan. Der Großwesir trat ihm mit Geschenken entgegen: einem goldenen Dolch für Roosevelt sowie zwei goldenen Armreifen und einem auffallend großen Diadem für die First Lady. Roosevelt zwinkerte seinem Sohn zu, als er das Diadem erblickte. „Wir konnten sie uns beide lebhaft vorstellen, wie sie mit diesem Ding auf dem Kopf dem Weißen Haus vorsaß“, notierte Elliott trocken. Roosevelt seinerseits schenkte dem Großwesir ein gerahmtes Foto von ihm selbst. Beim Abendessen entwarf Roosevelt seine Idee eines New Deal für Marokko. Er schlug dem Großwesir vor, er solle einen Plan entwickeln, um die Bodenschätze vor Ort – Phosphate, Kobalt, Manganerz und Erdöl – zu nutzen und mit einem Großteil dieser Einnahmen den Lebensstandard im Lande zu heben. Roosevelt schlug zudem vor, Marokkaner sollten an US-Universitäten studieren, und US-Firmen könnten engagiert werden, um Entwicklungsprojekte anzuschieben. Zentral war bei der Konferenz jedoch die schwierige Frage nach der französischen Politik. Bei einem heiklen Fototermin wurden die beiden Rivalen mit Führungsanspruch auf die französische Exil-Regierung abgelichtet: Charles de Gaulle, das Symbol der Résistance, und General Henri Honoré Giraud, der Führer des nordafrikanischen Kompromisses. Doch erst zum Abschluss dieser Tagung flogen wirklich Funken. Roosevelt und Churchill trafen sich in Casa­ blanca mit Journalisten auf dem Rasen. Der US-Präsident nahm Bezug auf den verehrten Bürgerkriegs-General U.S. Grant, dessen Initialen man häufig mit „unconditional surrender“, also bedingungsloser Kapitulation, übersetzte und formulierte eine kontroverse Feststellung: „Die Ausschaltung der deutschen, japanischen und italienischen Kriegsmacht bedeutet die bedingungslose Kapitulation von Deutschland, Italien und Japan.“ Nachdem diese Worte einmal ausgesprochen waren, gab es kein Zurück mehr. Die bedingungslose Kapitulation wurde zum Gebot für den Rest des Krieges. Ob Roosevelt diese Äußerung in der Hitze des Augenblicks spontan machte oder ob sie das Ergebnis von Diskussionen und Überlegungen war, eine sich entfaltende Strategie, mit der im großen Maßstab Stalin beruhigt und die Moral der Alliierten gehoben werden sollte, ist seitdem umstritten. Churchill jedenfalls war bestürzt. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass die Forderung nach einer „bedingungslosen Kapitulation“ den Krieg verlängerte, denn der

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Widerstand der Achsenmächte wurde damit gestärkt, und all jene Kräfte, die für einen schnelleren, flexibleren Verhandlungsfrieden eintraten, waren ausgeschaltet. Im Grunde jedoch waren dies eher theoretische Probleme. Denn für Adolf Hitler in Berlin war „Kapitulation“ ohnehin keine Option. Er glaubte weiterhin an einen bedingungslosen Sieg.8 Auch wenn die deutschen Fronten bröckelten, war Hitlers Siegesgewissheit ungebrochen. Der erzürnte Führer, der sich eher von Illusionen berauschen als von Fakten überzeugen ließ, trieb seine Generalität damit zur Verzweiflung. In Hitlers Vorstellung verlief der Krieg noch immer wie im Oktober 1942, als er auf dem Zenit seiner Herrschaft mehr europäische Gebiete befehligte, als jeder andere Kriegsherr seit Napoleon je befehligt hatte. Im Osten kontrollierten seine altgedienten Soldaten damals weite Teile des sowjetischen Territoriums und waren bis auf rund 60 Kilometer an Moskau herangerückt. Im Westen gehörten ihm die europäischen Kronjuwelen, nämlich Nordfrankreich inklusive Paris. Im Südosten hatte er den höchsten Gipfel des Kaukasus erobert, den Berg Elbrus. Im SüDie Schlacht um Stalingrad (18.–23. Nov. 1942) Russische Offensive Deutscher Rückzug eingeschlossene 6. Armee

5. Panzerarmee

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1. Stoßarmee

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Frontverlauf am 18. Nov. 1942 65. Russ. Armee

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Frontverlauf am 21. Nov. 1942

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62. Russ. Armee

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Frontverlauf am 18. Nov. 1942

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den war das Mittelmeer zum Greifen nahe. Im Norden hatte er Schweden marginalisiert und ächzte Norwegen noch immer unter dem Tritt der Kampfstiefel. Abgesehen von ein paar Horden unbeherrschbarer Partisanen gehörte auch der Balkan zum „Dritten Reich“. Und in Nordafrika wartete Rommel nur auf den Befehl, in Richtung Alexandria und des Suezkanals loszumarschieren. Doch all das gehörte jetzt der Vergangenheit an. Die Wirklichkeit, wie sie sich 1943 darbot, war nüchtern betrachtet eine ganz andere. In der Sowjetunion verschlechterte sich die Lage der Deutschen schnell. Hitler war es nicht gelungen, seine Truppen mit angemessener Winterausrüstung auszustatten, und als der eisige Winter Moskaus einsetzte, froren Waffen wie Männer ein. Schnee und Regen wechselten sich ab, und Eis folgte auf Schlamm. Die erschöpften deutschen Soldaten versanken nach und nach in Verzweiflung. Innerhalb weniger Wochen stieg die Anzahl deutscher Verluste auf über eine Million. All die früheren Erfolge – wie der „Anschluss“ oder der Blitzkrieg gegen Polen und Frankreich – konnten die Tragödie auf den verschneiten Straßen in Russland nicht wettmachen. Ein General gab kleinmütig zu, dass in Moskau „der Mythos der unbesiegbaren deutschen Armee zerstört wurde“. In Stalingrad war die Lage grauenhaft. Der Roten Armee gelang es, die Deutschen 60 Kilometer westlich des Don-Knies zu überlisten. Doch noch als seine Soldaten am Rande des Zusammenbruchs standen, ermahnte Hitler seine Kommandeure, standhaft zu bleiben und auszuharren. Verzweifelt telegrafierte er an Feldmarschall Friedrich Paulus: „Verbiete Kapitulation. Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten Patrone […].“ Früher hätte er vermutlich empört mit den Fäusten auf den Tisch geschlagen und seiner Umgebung zugebrüllt: „Ich gebe die Wolga nicht auf!“ Dennoch blieb Paulus nach wütenden Versuchen, die eingeschlossenen Wehrmachtseinheiten wieder mit Vorräten zu beliefern, am Ende nichts anderes übrig, als zu kapitulieren. 22 deutsche und zwei rumänische Divisionen – die Blüte der deutschen Armee – blieben zitternd und sterbend in den Straßen Stalingrads zurück. Von den 300 000 Mann der 6. Armee konnten sich nur rund 100 000 zerlumpte Soldaten ergeben; und nur etwa 6000 von ihnen kehrten aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurück.9 Für die NS-Führung sah es auch am Mittelmeer düster aus, denn hier fand Rommels Endspiel statt. Hitler verlangte, dass er Nordafrika halte und es keinesfalls aufgebe. Auch dieser Befehl stand unter keinem guten Stern, denn Montgomery griff wutentbrannt an. Nachdem Rommel schwere Verluste hinnehmen musste, ignorierte er Hitlers Botschaft, „jede Waffe und jeden Mann in die Schlacht“ zu werfen – „zum Siege oder zum Tode“ –, und zog sich zu-

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rück. Doch unter den Schlägen von Montgomerys Männern geriet Rommels Rückzug zum Himmelfahrtskommando: Jede Schlucht, jede Hügelkuppe, jede Böschung war mit ausgebrannten Fahrzeugen und explodierten Panzern übersät. Mit fast ungebrochener Tapferkeit sammelte Rommel seine Truppen dennoch, tat sein Möglichstes, schlug das II. US-Korps in einer Reihe brillanter Vorstöße am Kasserinepass – eine ernüchternde Niederlage für die noch unerfahrenen Amerikaner – und warf seine Männer anschließend vier Mal gegen Montgomery. Verstärkt durch 110  000 Soldaten und Hunderte von Tonnen Nachschub stach Rommel zu, erkundete und grub sich ein, wo er nur konnte, aber seine letzten, verzweifelten Versuche waren zum Scheitern verurteilt. Bald konnte nichts mehr den großartigen Vormarsch der Alliierten aufhalten. Sie waren mehr als 3000 Kilometer voneinander gestartet, doch nun bewegten sich US-Soldaten und die britische 8. Armee wie eine große menschliche Sense aufeinander zu, vereinigten sich schließlich und schnitten Rommel damit den Fluchtweg ab. Tunis selbst sollte fallen, und ein erschöpfter, niedergeschlagener und kranker Rommel eilte nach Deutschland zurück, um sich die Qual seiner Niederlage zu ersparen. Er gab die Kontrolle über seine Einheiten auf und kehrte nie wieder in den Sand Nordafrikas zurück, der ihm einst so teuer gewesen war. Die verbliebenen Wehrmachtsteile brachen schnell auseinander, und fast 250 000 Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft, mehr als 100 000 von ihnen waren Deutsche. Sowohl für Roosevelt als auch für Churchill war der Sieg von Tunis ebenso wichtig wie jener in Stalingrad. Auch Stalin schien dieser Meinung zu sein, denn er ließ Roosevelt wissen: „Ich gratulieren Ihnen und den tapferen US- und britischen Truppen zu dem brillanten Sieg, der zur Befreiung [von Tunis] geführt hat.“10 Widerwillig musste selbst Hitler die Bedeutung dieses alliierten Sieges eingestehen. Er erklärte jedoch seinen Offizieren, dass die deutschen Bemühungen in Tunesien die Invasion der Alliierten in Europa um sechs Monate verzögert habe. Einst hatte er erläutert, das Halten von Tunis sei kriegsentscheidend, nun betonte er bloß, ohne die hartnäckige Besetzung Nordafrikas hätten die Alliierten bereits einen Stützpunkt in Italien und würden auf die Gebirgskette der Alpen und den Brenner-Pass zueilen, was, so sagte er, unweigerlich eine rasche Niederlage bedeutet hätte.11 In dieser Phase des Krieges waren Hitlers schlechte Laune und seine Reizbarkeit berüchtigt. In der Wolfsschanze, abgeschirmt vom deutschen Volk und sogar von seinen Generälen, war er hauptsächlich von Ja-Sagern und Lakaien umgeben. Ratschläge nahm er nur von Partei-Schmeichlern, seinem Leibarzt

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und seinem Astrologen an, die sich alle begeistert von ihm zeigten. Trotz seiner Erschöpfung und des schlechten Gesundheitszustands schwankte Hitlers Entschlusskraft nie. Er blieb radikal, auch dann noch, als seine Strategie Punkt für Punkt in sich zusammenbrach. Goebbels bemerkte: „Wir haben nicht nur eine ‚Führungskrise‘, sondern streng genommen eine ‚Führerkrise‘! Wir sitzen hier in Berlin [… und] ich kann ihm nicht einmal die dringendsten Maßnahmen vorstellen.“ Am 20. Februar 1943 zeigte sich einer von Hitlers Mitarbeitern schockiert über die äußerlichen Veränderungen des Führers. „In den letzten vierzehn Monaten“, beobachtete er, „ist er deutlich gealtert.“ Erschrocken bemerkte er, wie wild Hitlers linke Hand zitterte, zudem fiel ihm auf, wie zögerlich sein Sprechen und vorsichtiger sein Verhalten geworden sei. Hitlers Verfall war jedoch weitaus gravierender, als dieser Mitarbeiter bemerkte. Magenschmerzen quälten ihn zunehmend, seine Augen waren trübe, und er bewegte sich wie ein alter Mann. Immer öfter verkrampfte sein linkes Bein, er schleifte die Füße über den Boden und musste beim Laufen immer wieder anhalten. Allem Anschein nach entwickelte sich bei ihm eine Parkinson-Erkrankung, und diese brachte Depressionen und Schlaflosigkeit mit sich. Im verzweifelten Bemühen, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, schluckte er jeden Tag 28 Tabletten. Sie halfen ihm nicht. Hitler tobte dennoch mit gnadenloser Bestimmtheit hin und her, lief thea­­ tralisch auf und ab und schimpfte lautstark über seine feigen Kommandeure – über ihre Dummheit, ihre Inkompetenz und ihren fehlenden Patriotismus. Er zeigte sich verärgert darüber, dass sie ihre Männer nur widerwillig zum Entscheidungskampf antrieben oder über ihre fehlende Fantasie auf dem Schlachtfeld. Wohin sein Blick auch fiel, überall meinte er Verrat, Inkompetenz und vor allem Schwäche zu erkennen. Plump und uneinsichtig beschimpfte er seine Mitarbeiter und Berater. Fanatisch und dickköpfig, wie es seine Art war, erschien ihm keine taktische Angelegenheit zu klein, um von ihm entschieden zu werden, wie töricht seine Einmischung auch sein mochte und welche strategischen Schwierigkeiten sie auch herbeiführte. Tagsüber steigerte sich Hitler förmlich in Raserei, wenn er den düsteren Frontberichten lauschte. Nur die Abende waren ruhiger, obwohl er auch dann mit seiner Brille oder mit roten Stiften herumfuchtelte. Häufig blieb er nachts vor dem Kamin sitzen und hielt seinen müden und oft verblüfften Offizieren Vorträge. Wenn er zu einem weiteren langweiligen und weitschweifigen Monolog anhob, leuchteten seine Augen wild im nach wie vor wettergegerbten Gesicht, und seine Miene war merkwürdig munter. Die Themen variierten

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nicht, sondern stets ging es um die Objekte seines Hasses: Bürokraten, den Adel, Intellektuelle, Industrielle, Börsenhändler, Sankt Petersburg – er weigerte sich, die wunderschöne Stadt Leningrad zu nennen –, das eingeschlossen, bombardiert und ausgehungert werden müsse. Außerdem ging es um Anwälte, die Luftwaffe und seinen Kreis von Vertrauten, der ihn enttäuscht habe, allen voran Göring und Speer, um nur zwei Namen zu nennen. Dann gab es die Objekte seiner großen Zuneigung: Mädchen vom Lande, der gewöhnliche Soldat, die ländlichen Regionen, die deutsche Erde, sein geliebter Volkswagen, der einfache Arbeiter, Kinder mit strahlenden Augen, sein Hund Blondi, Mussolini. Und es ging um seine Rivalen: Roosevelt, jenen „quälenden, kleinkarierten Juden“, Churchill, das „prinzipienlose Schwein“ und die „alte Hure“, sowie Stalin, der „halb Bestie, halb Riese“ sei und den er trotzdem für einen vorbildlichen Führer hielt. Natürlich waren von ihm auch unaufhörlich Pauschalurteile über ganze Völker zu hören: über die Briten, die er heimlich verehrte, war ihm das Empire doch Inspiration für Ausbeutung und Herrschaft; über die Russen, die für ihn keine Menschen waren; über die Amerikaner, die er geringschätzte; und über jene, auf die er immer zu sprechen kam und in denen er die Ursache allen Übels auf Erden sah: die Juden.12 Wie lässt sich die tiefe Verderbtheit von Hitler und seinem Regime erklären? Zeigt sich in ihnen der reinste und exzessivste Größenwahn und eine Unmenschlichkeit, wie sie die Welt nie gesehen hatte? Oder war Hitler kaum mehr als ein rechtsradikaler Volksverhetzer, der es irgendwie vermocht hatte, zur Personifikation einer amoklaufenden Nation zu werden? Sicher ist wohl nur, dass sich alles an ihm einer Analyse zu entziehen scheint. In der langen Reihe der Diktatoren und Despoten der Welt nimmt Hitler eine Sonderstellung ein und lässt Caesar, Dschingis Khan, Idi Amin und Pol Pot zwergenhaft aussehen. Er wurde zum Inbegriff der totalitären Diktatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Dennoch bleiben die quälenden Fragen unbeantwortet: Warum beging Hitler diese unvorstellbaren Verbrechen? Wie konnte er in einem der zivilisiertesten Länder Europas an die Macht kommen und dort bleiben, während er derartige Entscheidungen über Gemetzel und Massenmord traf? Und wie konnte dieser einstmals verwirrte Habenichts die ganze Welt in einen solch verhängnisvollen Krieg stürzen? Fast alles an ihm entzieht sich der einfachen Kategorisierung. Einer seiner Lieblingsfilme war King Kong. Hitler war sein Leben lang ein Einzelgänger, hatte keine Freunde oder Vertrauten – so eng wie Goebbels kam niemand freund-

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schaftlich an ihn heran. Das Verhältnis zu seiner Geliebten, Eva Braun, schien höchstens lauwarm zu sein. Er hielt sie an seiner Seite als Begleitung und heiratete sie nur gegen Ende – kurz bevor er mit ihr Gift nahm und sich dann selbst auch noch erschoss. Offenbar hegte er deutlich mehr Gefühle für seinen Hund Blondi. Unermüdlich arbeitete er krampfhaft daran, sich Manieren anzueignen, die den besseren deutschen Kreisen genügten. Doch ganz egal wie sehr er sich auch anstrengte, er blieb grob und egozentrisch. Hitler lebte keusch und puritanisch, er trank und rauchte nicht. In vielerlei Hinsicht erinnerte er an den Despoten der Französischen Revolution, an Robespierre. Auch als Neurotiker war er bekannt, der von der Angst vor Keimen besessen war. Einmal informierte man ihn, dass ihn eine ehemalige Prostituierte berührt habe. Er erschrak und beeilte sich, ein Bad zu nehmen – vor Geschlechtskrankheiten hatte er große Angst. Das deutsche Volk und ausländische ­Gesandte waren gleichermaßen von seinem eisigen, unergründlichen Blick fasziniert. Nun, kein Wunder, schließlich übte er diesen Gesichtsausdruck stundenlang vor einem großen Spiegel. Dasselbe galt auch für seine elaborierten Gesten. Hitler war ein fesselnder Redner, und seine Ansprachen glichen der Musik des von ihm verehrten Wagners: Er begann tastend, nahm dann nach und nach Fahrt auf und lieferte endlich Kaskaden eindrucksvoller Rhetorik. Die Richtung, die dieses Leben einschlagen sollte, stand früh fest. Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Braunau am Inn, Österreich, geboren, an einem frischen und bedeckten Ostersonntag – als Sohn des respektierten 52-jährigen Alois Hitler, eines österreichischen Zollbeamten, und seiner dritten Frau Klara geborene Pölzl, eines jungen Bauernmädchens. Beide entstammten dem Hinterland Niederösterreichs, und die Familie führte das komfortable Leben der Mittelschicht. Das Kind Adolf war nachtragend und faul, zudem galt er als launisch und neigte zu Wutausbrüchen. Auf Kinderfotos wirkt Hitler etwas verblüfft. Was damals wie später auffiel, waren seine außergewöhnlichen Augen, die auf unheimliche Art und Weise in den Raum starrten. Sein Vater war despotisch und humorlos, zudem trank er regelmäßig, wurde dann übellaunig und schlug den jungen Adolf wiederholt. Der Junge fürchtete und verachtete ihn abwechselnd, seine nachsichtige, hart arbeitende Mutter jedoch liebte er leidenschaftlich. Er sollte sein ganzes Leben lang ein Foto von ihr bei sich tragen, sogar während der letzten Tage im Bunker. Es ist gut möglich, dass sie der einzige Mensch war, den Hitler je geliebt hat. „Ich hatte den Vater verehrt“, schrieb er in Mein Kampf, „die Mutter jedoch geliebt.“13 Mehrfach zog die Familie um, bis sie sich im kleinen provinziellen Linz niederließ, das Hitler Zeit seines Lebens als seine Heimatstadt empfand. Hitlers

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Familie schickte ihn auf eine Realschule, eine weiterführende Schule also, die sich, anders als das humanistische Gymnasium „modernen“ Themen verschrieb. Er zeigte sich allerdings unangepasst, seine Zeugnisse fielen nur ­mittelmäßig aus, er fand keine engen Freunde – oder bemühte sich nicht um sie – und galt in den Augen seiner Mitschüler als selbstherrlich und jähzornig. Nur die mitreißenden Geschichten von großen germanischen Heldentaten vermochten sein Interesse zu wecken, war er doch instinktiv und von Anfang an ein Nationalist. Sein Vater bestand unerbittlich darauf, dass Adolf Staats­ bediensteter werden sollte, wohingegen der rebellische Sohn Künstler werden wollte – sein Vater soll geantwortet haben: „Kunstmaler, nein, solange ich lebe, niemals.“ Dann griff das Schicksal ein. Am 3. Januar 1903 setzte sich sein Vater hin, goss sich ein Glas Wein ein und brach kurz darauf tot zusammen. Als 16-Jähriger verließ Hitler die Schule, um seinen Traum von einer Karriere als Maler in die Tat umzusetzen.14 Seine kraftlose Mutter gab ihre Zustimmung, und Hitler kam bald vom rechten Weg ab. Er vertrödelte seine Tage und nährte Fantasien, wonach er bald ein bedeutender Künstler sein würde. Abends besuchte er das Theater oder die Oper und blieb bis lange nach Mitternacht auf, nur um morgens bis in die Puppen zu schlafen. Seine Zeit verbrachte er mit zeichnen und träumen – wenn er sich nicht gerade an Gedichten versuchte. Zunehmend entwickelte er eine manierierte Art und trug häufig einen dunklen Mantel, einen Filzhut und spazierte mit einem prätentiösen schwarzen Stock umher. Verwandte drängten ihn, er solle sich eine Stelle suchen, doch er spottete bloß über diesen Vorschlag. Stattdessen verstärkten sich seine Fantastereien wie auch seine künstlerischen Ambitionen. Plötzlich träumte er von Wien und der dortigen Akademie der bildenden Künste. Dies waren, so formulierte er es selbst, seine „glücklichsten Tage“, die ihm beinahe wie „ein schöner Traum“ erschienen. Doch der Traum endete jäh, als bei seiner Mutter ein unheilbarer Brustkrebs diagnostiziert wurde.15 Er kümmerte sich um sie, so gut er konnte, bis er im September 1907 seine Sachen packte und nach Wien fuhr, um sich, wie mehr als 100 andere Kandidaten, der Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste zu stellen. Die ersten Hürden überwand er noch, die weiteren Prüfungen bestand er nicht. Als er den Direktor der Akademie fragte, warum er durchgefallen sei, erklärte ihm dieser ruhig, sein Talent liege weniger in der Malerei als in der Architektur. Zu diesem Zeitpunkt war Hitlers Mutter im Alter von nur 47 Jahren verstorben, und Hitler trauerte um sie. Zudem war er nun mittellos: Die Krankheit der Mutter hatte die Familienersparnisse fast völlig aufgezehrt. Die „Welt des

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Elends und der Armut“, wie er es selbst formulierte, stand ihm wieder vor Augen. Er hatte noch genug Geld, um ein weiteres Jahr zu überleben, aber das war auch alles. Wieder nahm er seine Koffer und verließ Linz und die gemütliche Provinz, um sich nun dauerhaft in Wien niederzulassen. Zwischen 1908 und 1913 trieb sich der verwirrt und heruntergekommen wirkende Hitler im antisemitischen, kosmopolitischen Wien herum und führte das profane Leben eines Kleinkünstlers. Nur mühsam erkämpfte er sich Geld für den Lebensunterhalt, den Traum vom großen Maler hatte er längst aufgegeben. Nun nährte er die Hoffnung, irgendwie ein bedeutender Architekt zu werden. Doch Rückschlag folgte auf Rückschlag: Er hatte weder Schulabschluss noch Ausbildung, keine echten Qualifikationen und kaum Hoffnung, welche zu erlangen. Auch echte Freunde besaß er nicht, dafür jede Menge Missachtung für eine Gesellschaft, die ihn als labilen Sonderling abstempelte. Er war nun 25 Jahre alt und tatsächlich nicht viel mehr als ein Vagabund. Irgendwann ging es ihm so schlecht, dass er verlauste Kleider trug und mit Obdachlosen und Betrunkenen in einem schäbigen Schlafsaal hausen musste. Um etwas Geld zu verdienen, schaufelte er Schnee, trug Koffer für Reisende am Bahnhof und übernahm andere, seltsame Arbeiten. So trug er sich gar mit der Idee, mit einem fantastischen „Haarwuchsmittel“ hausieren zu gehen. Wann immer es ihm möglich war, bot er seine Zeichnungen und Gemälde zum Kauf an. Und er nahm jede Gelegenheit war, um Trost zu finden im rassistischen Schund, der an Wiens Kiosken allgegenwärtig war. Er verehrte vor allem den radikalen antisemitischen Nationalismus, wie ihn der alldeutsche Führer Georg von Schönerer vertrat. Später zog Hitler in ein Männerheim, was einen bescheidenen Aufstieg aus dem Schlafsaal bedeutete. Andere Herumtreiber gaben ihm den Spitznamen „Ohm Paul Krüger“,16 nach dem Führer der südafrikanischen Buren, die für ihren Widerstand gegen die Briten bekannt waren. Seine Leidenschaft für Musik blieb bestehen: Beethoven, Bruckner, Mozart und Brahms. In Wien standen einige der besten Opernhäuser Europas, doch wenn Verdi oder Puccini vor ausverkauften Rängen in der Hofoper gespielt wurden, blieb Hitler unbeeindruckt – sie waren Italiener. Bedrängt von grandiosen Visionen und dilettantischen Träumen galt Hitlers Liebe einzig der deutschen Musik, vor allem dem von ihm verehrten Wagner.17 Dessen Werke waren für Hitler fast eine mystische Erfahrung. Bei Wagner, so betonte Hitler immer wieder, könne er „die Rhythmen einer vergangenen Welt“ hören – einer Welt voll großer Schlachten und flammender Erlösung, mit Philosophenkönigen, teutonischen Helden, Rittern und einer heroischen deutschen Vergangenheit. Nach und nach bildete sich so seine eigene Sicht auf die Welt heraus.

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Hitler war zu diesem Zeitpunkt noch kein Vegetarier, aber er wurde zunehmend prüde.18 In Wien pulsierte das Leben rund um Kultur, Handel, Schriftsteller, Denker und Akademiker. Dennoch war das Sexualleben auch hier streng reglementiert, um den vermeintlich reinen Charakter des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten. Aber die Stadt hatte auch ihre rissigeren, eher verbotenen Seiten: Dekadenz, Sünde, Prostitution. In Hitlers Augen hatte Wien seinen sauberen, rechtschaffenen höheren Zweck verloren und war zu einem zweiten Babylon geworden. Hier, inmitten des Rotlichtmilieus, lernte er die offen erotische Kunst eines Gustav Klimt zu hassen wie auch den Anblick von jungen Transvestiten, die „gepudert und geschminkt“ zu schummrigen Etablissements schlenderten. Er hasste die Prostituierten, die in den ungepflegten Mietskasernen der Stadt nach Kunden suchten, und er hasste die Entertainer, die im Scheinwerferlicht mit nackt auf dem Tresen liegenden Männern oder Frauen Sex hatten. Die muskulösen Huren, die Peitschen schwangen, und jene Frauen, die Sex mit „Mutter und Tochter“ anboten, verachtete er ebenfalls. Auch Hitler wich von der Norm ab, allerdings auf andere Art und Weise. Es grauste ihm vor Krankheiten und Schmutz, aber anscheinend fürchtete er sich ganz genauso vor Frauen. Als junger Mann soll er kaum Kontakt zu ihnen gehabt haben, und als sich einmal ein Mädchen in der Oper für ihn interessierte, huschte er bloß davon. Homosexualität ekelte ihn ebenso an wie Masturbation und Prostitution, auch wenn Letztere ihn auf seltsame Art und Weise faszinierte. Mehr als einmal trieb er sich in der Spittelberggasse herum und sah zu, wie man sich dort liebkoste. Hitler schimpfte jedoch weiter über moralische Dekadenz und das Übel von käuflichem Sex. Seine politischen Ansichten nahmen in dieser Zeit deutlichere Konturen an. Als überzeugter deutscher Nationalist hasste er die Sozialdemokraten und ­verabscheute das vielsprachige Wiener Parlament. Er verachtete überhaupt das Habsburger-Reich als einen Vielvölkerstaat und empfand zunehmend Widerwillen gegen die Vermischung mit dem Fremden, das, so bedauerte er, „diesen alten Ort deutscher Kultur“ zersetze. Auch wenn er kaum genug Geld zusammenkratzen konnte, um sich über Wasser zu halten – er behauptete schamlos, erst dann wieder gegen Bezahlung malen zu können, wenn ihn die Muse küsse –, so setzte er sich doch, als Trost für die Frustrationen seines trägen Lebens, in billige Cafés und hielt jedem, der ihm zuhören wollte, eine Predigt über seine großartigen Visionen für ein größeres Deutschland. Während er in diesem Punkt noch recht vage blieb, verführten ihn in zunehmendem Maße die verrückten Rassentheorien von Karl Lueger, dem demagogischen, antisemitischen Bürgermeister Wiens, den er später den „gewaltigsten deutschen

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Bürgermeister aller Zeiten“ nennen sollte. Er glaubte nun, alle Übel der Gesellschaft ließen sich auf „die Roten“ zurückführen, kurzzeitig hackte er auf „den Jesuiten“ herum, um dann schließlich bei „dem Juden“ zu laden. Glaubt man seinen eigenen Worten, dann war dies die „größte Umwälzung“. Sei es das Chaos oder die Korruption im kulturellen Leben oder der Politik, alles war seiner Ansicht nach zurückzuführen auf die „Verführer unseres Volkes“ – die Juden, die systematisch die jahrhundertealte Reinheit einer vollkommenen arischen Rasse untergraben hätten. War nur Hitler allein dieser Ansicht? Nein. Wien war eine der Städte in ­Europa, in der antijüdische Vorurteile am weitesten verbreitet waren. Giftiger Antisemitismus schien allgegenwärtig: Zu Ostern beschuldigte man Juden wiederholt des rituellen Kindesmords, und regelmäßig wurden Juden in der Presse für Prostitution und Perversion verantwortlich gemacht. Eines Tages packte Hitler seinen Koffer, um für einen kurzen Aufenthalt nach München zu reisen, das er als wahre „deutsche Stadt“ bejubelte. Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, zu etwas Bedeutendem zu gehören, für das Engagement sich lohnte.19 Hitler schrieb, er sei „in die Knie gesunken“, und fuhr fort, er danke „dem Himmel aus übervollem Herzen […], daß er [ihm] das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.“ Vier Jahre lang diente er an der Westfront als Meldegänger, dem mehrfach das Eiserne Kreuz verliehen wurde – eines davon der I.  Klasse, mit dem einfache Soldaten nur sehr selten ausgezeichnet wurden. Ironischerweise hatte ihn ein jüdischer Offizier dafür vorgeschlagen. Mit einem Mal hatte Hitler seine Stimme und seine Weltsicht gefunden. Er war zugleich mutig und erbarmungslos. Dort, wo andere vom menschlichen Leid überwältigt waren, sah er eine Möglichkeit, ein verbessertes, rassisch gesäubertes Deutschland aufzubauen. Wenn ihn andere anzüglich mit französischen Mädchen neckten, gab er nur mürrisch zurück: „Habt ihr keinen Sinn für deutschen Anstand?“ Während sich die anderen regelmäßig betranken und Geschichten zum Besten gaben, saß Hitler allein in einem Unterstand. In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 1918 erblindete Hitler vorüber­ gehend nach einem Senfgasangriff. Sein Krieg war damit zu Ende, und bald darauf war er es auch für das militärisch besiegte Deutschland. Von Anfang an zeigte sich Hitler erschüttert über Deutschlands Kapitulation und entwickelte eine Obsession für die vermeintlichen „Verbrecher“, die sich ergeben hatten. Der 8. November 1918 wurde zum prägenden Tag seines Lebens. Noch immer vom Giftgasangriff beeinträchtigt, lag er im Militärkran-

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kenhaus in Pasewalk, als ein protestantischer Geistlicher sich räusperte und den Männern auf der Krankenstation die Nachricht vom Waffenstillstand überbrachte. Hitler war am Boden zerstört und nannte dies ein „ungeheures Ereignis“. Er zeigte sich überzeugt, dass die deutsche Armee einem „Dolchstoß erlag“. In Wahrheit war dieser auch in Mein Kampf erwähnte Dolchstoß nichts weiter als Propaganda – in den letzten vier Monaten vor der Kapitulation war die deutsche Armee aufgerieben worden. In ganz Deutschland kam es nun zu Arbeiterunruhen, aufkeimender Pressezensur und ernsthafter Lebensmittelknappheit. Proteste und Widerstand wuchsen. Nachdem die Kämpfe an der Front eingestellt worden waren, erschöpfte ein chaotischer, marxistisch inspirierter Aufstand Deutschland: Matrosenunruhen brachen in Kiel los, im ganzen Land entbrannten Revolten, und schon einen Tag später war selbst Berlin im Chaos versunken. Ein Bürgerkrieg drohte auszubrechen. Gequält beobachtete Hitler, wie sich auch in München eine provisorische, am Sowjetvorbild orientierte Räteregierung an der Macht zu halten versuchte. Begleitet wurde dies von weit verbreiteten Unruhen und Rebellion. Revolutionsführer wie Rosa Luxemburg, die bekennende Jüdin war, predigten den Umsturz mithilfe einer Roten Armee aus insgesamt 10 000 Mann, vor allem enttäuschten Arbeitern. Zudem wurde der Exekutivrat in München von Eugen Leviné geleitet, einem weiteren Juden, was der paranoiden Ansicht Auftrieb verschaffte, ­Juden hielten eine geheime internationale Organisation am Leben, deren Ziel es sei, die Weltrevolution anzufachen. Auch Hitlers völkermörderischer Antisemitismus und wilder Antibolschewismus standen in voller Blüte. Doch die Revolution wurde innerhalb von wenigen Wochen durch die reguläre Armee und Veteranen, die man wieder zu den Waffen gerufen hatte, erstickt. Die Konterrevolutionäre ermordeten neben zahlreichen anderen auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, und Städte wie München entwickelten sich zu bewaffneten Lagern, in denen kreuz und quer Barrikaden aufgebaut waren und Stacheldraht gespannt wurde. Hitler, der nun seine eigene Form des Antisemitismus entwarf, sprach fortan von den Juden als einer Krankheit der Gesellschaft und verglich sie mit Parasiten. Auch wenn er bereits ein überzeugter Antisemit war, weitete sich Hitlers Juden-Paranoia noch weiter aus. Im Juni besuchte er an der Münchner Universität – auf Empfehlung der Armee – einen „antibolschewistischen Auf­k lärungskurs“. Schon bald eilte ihm der Ruf als Experte voraus, und er unterrichtete selbst Armeeeinheiten, bei denen er mit solchem Furor gegen Bolschewismus und Juden agitierte, dass ihm seine Vorgesetzten empfahlen, sich ein wenig zu mäßigen. Doch er war „über sein größtes Talent gestolpert“, und

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zum ersten Mal sprach er in der Öffentlichkeit über die „jüdische Frage“. Im September 1919 informierte Hitler einen Zuhörer seines Vortrags darüber, dass der Antisemitismus auf „Tatsachen“ basiere und dass die logische Schlussfolgerung daraus sei, die Juden allesamt zu „entfernen“.20 Da er seine Vorgesetzten beeindruckt hatte, wurde Hitler im Sommer 1919 zu sogenannten Erziehungskursen abgeordnet, die in der aufgeladenen Atmosphäre des postrevolutionären München vor allem dazu dienten, politische Parteien, von der extremen Rechten bis zur extremen Linken, auszuspionieren. Eines schicksalhaften Tages sollte Hitler sich über eine kleine Gruppe nationalistischer Idealisten informieren, etwa 500 Mann stark, die sich die Deutsche Arbeiterpartei nannten. Hitler gab bei dieser Versammlung seine Zurückhaltung auf und ergriff selbst das Wort. Der Vorsitzende der Deutschen Arbeiterpartei in München zeigte sich derart von Hitlers Rede beeindruckt, dass er äußerte: „Mensch, der hat a Gosch'n, den kunt ma braucha.“21 Und sie konnten ihn brauchen. Am 26. September 1919 trat Hitler – dieser österreichische Heißsporn, dieser gescheiterte, frustrierte Künstler, dieser ungebildete Volksverhetzer, dieser Hauptgefreite, der bei der Beförderung übergangen worden war – der damals völlig unbedeutenden rassistischen Deutschen Arbeiterpartei bei. Er bekam die Mitgliedsnummer 555, und wenig später änderte die Partei ihren Namen in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Bis zum Sommer 1921, nachdem er gekonnt Ressentiments und Hass gesät hatte, machte er sich selbst zum Vorsitzenden einer Bewegung, die es gerade mal auf 3000 Mitglieder brachte. Bereits nach wenigen Monaten war er dort als „Führer“ bekannt. Zu seinen ersten Maßnahmen gehörte es, in der Partei einen Gruß, den rituellen Ruf „Heil!“ oder „Sieg heil!“, und ein neues Symbol, das Hakenkreuz, einzuführen, das emblematisch für die mythische „Herrenrasse“ der Arier wurde. Das Credo der Gruppe wurde in einem 25-Punkte-Programm festgeschrieben, in dem man abwechselnd gegen den Versailler Vertrag und Juden austeilte. Doch die wirkliche Kraft der NSDAP ging von Hitler selbst aus. Humorlos und theatralisch wusste er, seine Zuhörer mit seiner eloquenten, klar klingenden Stimme und seinem Talent für Selbstinszenierung zu fesseln. Hitler verstärkte seine Macht durch den Einsatz von Schlägertrupps, die Gegner aufmischten und bei den Versammlungen die Ordnung aufrechterhielten, Vorläufer von SA und SS, die schließlich auch vor Mord an politischen Gegnern nicht zurückschreckten, manchmal am helllichten Tag. 1923 strebte Hitler nach noch größerem Ruhm. Da er überzeugt war, dass die Weimarer Republik kurz vor dem Kollaps stand, plante er den Sturz der

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bayerischen Regierung. Er stürmte in ein scheinbar beliebiges Münchner Brauhaus, schwenkte eine Browning-Pistole und gab einen Schuss gen Decke ab, während er rief, dass er einer neuen provisorischen Regierung vorstehe, die nun die „Berliner Judenregierung“ stürzen werde. Hitler und 2000 seiner Anhänger marschierten durch München in der Hoffnung, das Volk würde sie unterstützen. Tatsächlich aber wurden sie von einem Kugelhagel der Polizei empfangen, 14 von Hitlers Männern starben, und der Versuch des „Putsches im Bürgerbräukeller“ stürzte in sich zusammen. Der leicht verwundete Hitler – im Handgemenge hatte er sich irgendwie die Schulter verrenkt – floh und versteckte sich vergeblich vor der Polizei. Als man ihn aufgespürt und verhaftet hatte, verurteilte ihn ein Gericht zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg. Er blieb jedoch aufsässig wie immer. Als wäre er ein übergroßer Danton, der zur Guillotine geführt wurde, rief er seinen Anklägern zu: „Mögen Sie tausend Mal Ihr ‚schuldig‘ sprechen, diese ewige Göttin des ewigen Gerichts wird lächelnd […] zerreißen das Urteil des Gerichts.“ Er sollte recht behalten. Im Gefängnis wurde er mit allem Komfort verhätschelt, den die Wachen besorgen konnten. So war ihm der Aufenthalt in einem großen, luxuriös möblierten Raum vergönnt, aus dem man einen atemberaubenden Blick auf die Landschaft hatte. Ihm stand ein robuster Schreibtisch zur Verfügung sowie Schreibmaterial, das er ausgiebig nutzte. Nachdem er im Juli melodramatisch verkündet hatte, sich aus der Politik zurückzuziehen, nutzte er diese Zeit, um seinem treuen Anhänger Rudolf Heß das Pamphlet Mein Kampf zu diktieren. Mein Kampf, die spätere NS-Bibel, ist eine krude und verrückte Mischung aus Rasse-Mythen, Antisemitismus und halbgarem Sozialdarwinismus. Darin heißt es etwa: „Die Rassenfrage gibt nicht nur den Schlüssel zur Weltgeschichte, sondern auch zur menschlichen Kultur überhaupt.“ Das Buch traf jedoch den Nerv der Zeit und verkaufte sich über zehn Millionen Mal, wurde in 16 Sprachen übersetzt und sogar in Braille-Schrift für Blinde herausgegeben. Es machte den Künstler, der einst Hunger gelitten hatte, außerdem zu einem ­außergewöhnlich reichen Mann.22 Bereits nach knapp neun Monaten wurde Hitler wieder freigelassen. Als er am Tor des Gefängnisses erschien, bejubelten ihn seine Gefolgsleute wie einen triumphalen Helden. Die Gefängnisaufseher kamen zusammen, um ihm gerührt Lebwohl zu sagen, und bevor er fortging, blieb er noch einmal stehen, um sich fotografieren zu lassen. Hitler, dem verboten worden war, in der Öffentlichkeit aufzutreten und dessen Partei aufgelöst worden war, spielte geschickt vor, sich an das Gesetz zu halten, wollte er sich bei seinem Weg an die Macht doch fortan nicht mehr nur auf Muskelkraft verlassen. Er war entschlos-

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sen, die NSDAP wieder aufzubauen, eine populistische Massenbewegung ins Leben zu rufen und dann die parlamentarische Macht mit außerparlamentarischer Einschüchterung und Schreckensherrschaft an sich zu reißen. Damit wurde er zum Vorbild für viele Diktatoren, die nach ihm folgen sollten. Sein Ziel war es, die Weimarer Republik auf legalem Weg und mithilfe der deutschen Verfassung zu unterwandern. Dies geschah schrittweise. 1925 wurde das Verbot der Partei aufgehoben. Schnell überflügelte Hitler den „sozialistischen“ norddeutschen Flügel der Partei unter Gregor Strasser und etablierte sich selbst als Führer der Partei. Sein Anspruch beruhte dabei weniger auf einem klaren nationalsozialistischen Programm, sondern vielmehr auf seiner eigenen charismatischen Persönlichkeit – also dem Führerkult. Ein Jahr später hatte sich seine Wirkung bereits über Bayern hinaus ausgedehnt, und er gewann neue Anhänger aus allen politischen Lagern. In den Wahlen von 1928 jedoch war die NSDAP noch eine exzentrische Minderheit, die zwölf Sitze – oder 2,6 Prozent der Wählerstimmen – gewann. Dann aber kam die Weltwirtschaftskrise, die aus Hitler eine Figur auf nationaler Bühne machte und ihm half, an die Macht zu gelangen. Im Nachhinein lässt sich sagen, dass vor allem der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrise Hitlers Machtergreifung ermöglicht haben. Überzeugender als jeder andere Politiker in Deutschland malte er der besiegten Nation eine verlockende Zukunft aus. Somit wurde eine neue Tür in der Geschichte aufgestoßen. Natürlich wurde Anfang der 1930er-Jahre jede große Hauptstadt von Hunger und blutigen Protesten heimgesucht. Doch für das unruhige Deutschland traf noch etwas Weiteres zu: Von den weltweiten Ereignissen ins Taumeln gebracht, wurde die deutsche Mittelklasse durch die Weltwirtschaftskrise völlig zerstört. Innerhalb von Stunden lösten sich die Ersparnisse ganzer Leben in Deutschland auf; die nationale Währung war ruiniert; die Inflation geriet a­ ußer Kontrolle. Bald darauf versammelten sich Menschen aller Schichten und Klassen hinter der Vision eines „Führers“, der die nationale Befreiung durch Strenge und Einheit proklamierte. Auch der Pressemagnat Alfred Hugenberg ge­ hörte zu Hitlers Unterstützern wie in erstaunlich großer Zahl auch viele aus der jüngeren Generation. Hitler bot sich ihnen als Erlöser Deutschlands an. Sozialer Niedergang, Massenarbeitslosigkeit, Hysterie und brennender Hass wurden nun zu Hitlers besten Freunden. Bei den Wahlen am 14.  September 1930 erhielt die NSDAP verblüffende 18,3 Prozent, also 6,5 Millionen Stimmen, und damit 107 Sitze im Reichstag.23 Damit war sie zur zweitstärksten Partei des Landes geworden. Hitlers Bewegung konnte, anders als andere Parteien, plausibel behaupten, aus allen Berei-

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chen der Gesellschaft Stimmen bekommen zu haben. Dies war umso erstaunlicher, als noch ein paar Monate zuvor die Parteianhänger nur ein Haufen Irrer gewesen waren. Dennoch war der Nationalsozialismus auch weiterhin verrufen. Unter den höhergestellten Deutschen galt die NS-Partei als ordinär und grob: Sie sahen deutlich, dass die Straßenkämpfer der NSDAP ihre Gegner niedergemacht hatten. 1932 allerdings unterzog das deutsche Großbürgertum Hitler einer Neubewertung. Denn in einer vielbeachteten Rede, die Hitler am 26. Januar 1932 vor einer Gruppe einflussreicher Industrieller in einem prominenten Club in Düsseldorf hielt, versicherte er ihnen, sie hätten nichts von den Radikalen in seiner Partei zu fürchten. Daraufhin begannen sie in großer Zahl, für seine Wahlkampagne zu spenden. Hitler erhielt offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft, wurde zum Kandidaten für die Reichspräsidentenwahl und erhielt 13 Millionen Stimmen, vier Mal mehr als der kommunistische Kandidat. Die NSDAP war in der Zwischenzeit mit 230 Sitzen im Reichstag zur größten politischen Partei Deutschlands geworden. Auch wenn der frühere Feldmarschall Paul von Hindenburg Reichspräsident wurde, so war Hitler, der sich selbst als Agent des Wandels inszeniert hatte, eine nicht mehr länger zu ignorierende Kraft geworden. Und doch kam er 1933 nicht nur durch einen „Triumph des Willens“ an die Macht. Natürlich hatte er über 13 Millionen lautstarke Anhänger im Land. Doch ihm half eine große Gruppe williger Verschwörer aus Nationalisten, Militärs und Industriellen, die ihn auf seinem Weg zu großer Bekanntheit vorwärts getrieben hatten. Ebenso überraschend war die Unterstützung, die er von führenden Intellektuellen, Schauspielern, Schriftstellern und Künstlern erfuhr. Es gab etliche, wie den ehemaligen Reichskanzler Franz von Papen, die aufrichtig abgestoßen waren von Hitler, allerdings fälschlicherweise glaubten, die Regierungsverantwortung könnte seine Radikalität zügeln. Sie täuschten sich.24 Auch waren sie der Ansicht, dass dies die „benötigte Ruhe für einen Wirtschaftsaufschwung“ bringen könnte. Weil es ihm nicht gelungen war, Hitler zu einer Koalitionsregierung zu bewegen und nachdem er von Hitler das Versprechen der „Mäßigung“ erhalten hatte, hatte ein verzweifelter von Papen den widerwilligen von Hindenburg darum gebeten, Hitler – den „böhmischen Gefreiten“ – zu seinem Reichskanzler zu ernennen. Am 30. Januar leistete Hitler den Eid. Fast zufällig fing ein Kameramann für die Geschichtsbücher den Moment ein: Hitler strahlte vor Glück. Das Experiment der deutschen Demokratie war damit beendet, und Goebbels schwärmte: „Hitler ist Reichskanzler. Wie im Märchen.“25 In dieser Nacht

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marschierten NS-Horden außer sich vor Freude feierlich durch das Brandenburger Tor. Es gab allerdings auch Stimmen, die warnten, das Unglück warte bereits hinter der nächsten Ecke. Einige von Hitlers Gegnern, die um ihre Sicherheit, wenn nicht gar um ihr Leben fürchteten, planten zügig, das Land zu verlassen. Jedoch waren auch unter seinen strengsten Kritikern nicht wenige, die glaubten, die Herrschaft der Nationalsozialisten werde nicht von langer Dauer sein. Und in den Vereinigten Staaten schienen einige Beobachter, wie der berühmte Kolumnist Walter Lippmann, vom neuen Reichskanzler ganz verzaubert zu sein. Lippmann nannte eine von Hitlers Reden eine „wahrhaft staatsmännische Ansprache“ und fügte hinzu: „Wir haben durch den Nebel und den Lärm wieder einmal die wahre Stimme eines wirklich zivilisierten Volkes vernommen.“26 Gleich nach seinem Machtantritt griff Hitler durch, um seinen Gegnern zuvorzukommen und diese auszumanövrieren.27 Binnen weniger Monate wurde die Demokratie in Deutschland durch Notverordnungen und Verfassungsänderungen abgeschafft. Konservative wurden aus der Regierung gedrängt, die freien Gewerkschaften enteignet oder gleich aufgelöst, Sozialdemokraten vom politischen Leben ausgeschlossen und Juden immer stärker verfolgt. Dazu kam die Taktik des Regimes, alle Widersacher systematisch einzuschüchtern. Indem er von ihnen unbedingte Loyalität forderte, säuberte der Reichskanzler die Reihen der Professoren in Deutschland und entfernte einige der ausgezeichnetsten Köpfe. Hitler schikanierte seine politischen Gegner und brachte sie zum Schweigen. Jene, die sich hartnäckig weigerten, sich ruhig zu verhalten, wurden umgehend verhaftet. Tausende Menschen, darunter auch Abgeordnete des Reichstags, ließ er hinter Schloss und Riegel bringen, und auf die lautstärksten Gegner wartete noch ein anderes Schicksal: Dachau, das erste Konzentrationslager. Am 5. März 1933 sah Europas herrschende Klasse voller Abscheu zu, wie Deutschland seine letzten „freien“ Wahlen abhielt, die vielleicht die brutalsten in der europäischen Geschichte waren. Hakenkreuzfahnen hingen von den Gebäuden, NS-Plakate klebten überall. Unverdrossen dröhnte Marschmusik aus Lautsprecheranlagen, und Lastwagen voller junger Männer in braunen Hemden rasten durch die Straßen. Wenn die SA nicht gerade Türen aufbrach oder ihre Gegner verprügelte, marschierte sie Tag und Nacht mit Fackeln umher. Im Rückblick wird deutlich, dass die Opposition nie eine Chance hatte. Hitler gewann zum ersten Mal eine unanfechtbare Mehrheit mit mehr als 17 Millionen Stimmen, und daraufhin festigte er seine Position als unumstrittener Diktator des „Dritten Reiches“ mit einer Kombination aus Propaganda und Terror. Nachdem er seine Widersacher eingeschüchtert hatte, verführte er nun die füh-

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renden Meinungsmacher der Weimarer Republik. Diplomatisch raffiniert beruhigte er die alte Ordnung, indem er dem Präsidenten von Hindenburg in der Potsdamer Garnisonskirche huldigte. Dort lag auch Friedrich II. von Preußen begraben, der verehrte Alte Fritz. Für jene Deutschen, welche die „Goldenen Jahre“ von Weimar in Ehren hielten, war das ein bedeutsamer Schritt. Zwei Tage später trafen sich die Abgeordneten des Reichstags in der KrollOper in Berlin, hoben bei der Abstimmung ihre Hände und überließen Hitler damit die absolute Autorität, nach der er sich so gesehnt hatte: Das „Ermächtigungsgesetz“, das in der Realität eine weitreichende Verfassungsänderung war, wurde mit der großen Mehrheit von 444 zu 94 Stimmen angenommen. Damit war Deutschland eine Diktatur und Hitler besaß die Macht, nicht nur Gesetze zu erlassen, sondern auch die Finanzen der Nation zu kontrollieren und deren Diplomatie zu bestimmen. Im Frühjahr dann erreichte die fanatische „Führer“-Verehrung ein bis dahin weder in Deutschland noch in der Welt gekanntes Ausmaß. Gedichte wurden zu Hitlers Ehren verfasst und sogenannte „Hitler-Eichen“ gepflanzt. Man benannte Schulen und Plätze nach ihm, und überall im Land wurde sein 44. Geburtstag – er war noch jung, seine Mitarbeiter sogar noch jünger – gefeiert mit Liedern, Tänzen und schrankenloser Beweihräucherung. Am 10. Mai schockierte Deutschland die zivilisierte Welt, als sogar Universitätsfakultäten große Feuer entfachten: Sie verbrannten Bücher – auch aus Psychologie, Philosophie, Geschichte –, die das Regime als inakzeptabel ansah. Von Hindenburg starb im Alter von 86 Jahren im August 1934, und von nun an vereinte Hitler die Positionen des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in sich – entgegen geltender Gesetze. Er hatte nun alle Zügel des Staates in der Hand: Deutsche Offiziere mussten einen Treueeid auf den „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“ schwören, der sie also weder an die Regierung noch an die Nation band, sondern an einen einzelnen schon damals als launisch bekannten Mann. Hitler war der unangefochtene Herrscher über eines von Europas einflussreichsten Ländern, und während dieser Entwicklung erlaubte er seinen wichtigsten Gefolgsmännern, den kalten Schergen Himmler, Göring und Goebbels, sich ihren eigenen Machtbereich auszubauen, über den sie beliebig verfügen konnten. Und noch immer glaubten viele Deutsche, diese Herrschaft würde nicht länger als ein Jahr dauern. Doch drei Jahre, nachdem Hitler an die Macht gekommen war, stand sein Regime gefestigt da. Er hatte die Linke zerstört und die Konservativen vereinnahmt. Durch das Abrücken vom Versailler Friedensvertrag, den Aufbau einer Armee, die fünf Mal größer war, als es die Verträge erlaubten, und den Ab-

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schluss des deutsch-britischen Flottenabkommens gewann er sogar noch weitere Anhänger hinzu. Als er dann noch das Rheinland remilitarisierte, schien es manchen, als sei eine Gottheit auf Erden geboren. Ein greller Erfolg folgte dem nächsten – die Achse Berlin-Rom 1936, der „Anschluss“ Österreichs und das Münchner Abkommen 1938 und die endgültige Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939. Von diesen politischen Siegen und Deutschlands territorialen Zugewinnen beeindruckt, verschloss das deutsche Volk die Augen vor den Konzentrationslagern, den alarmierenden Nürnberger Rassegesetzen und der Verfolgung politischer Dissidenten. Es ignorierte alle Beweise dafür, dass aus Deutschland ein barbarischer Verbrecherstaat geworden war. Den Verfolgungen fielen allerdings auch ehemalige Verbündete zum Opfer: Ernst („Putzi“) Hanfstaengl, der nicht nur großzügig für Hitlers Wahlkämpfe gespendet, sondern ihm auch nach dem gescheiterten Hitlerputsch von 1923 ein Versteck verschafft hatte, musste um sein Leben bangen und das Land verlassen. Und von der Ermordung potenzieller Hitler-Konkurrenten während der sogenannten „Nacht der langen Messer“, darunter seine frühere rechte Hand Ernst Röhm, war bereits die Rede. Inwieweit lässt sich Hitlers Diktatur mit der Herrschaft anderer Despoten vergleichen? In den 1930er-Jahren unterschied sich Hitlers Regime deutlich von dem stalinistischen: Die Sowjetunion war eine bürokratische Diktatur, die von oben nach unten von einer allgegenwärtigen Geheimpolizei und weit verbreitetem Terror in allen Bereichen der Gesellschaft ermöglicht wurde. Im Gegensatz dazu zog Hitlers Nationalsozialismus, auch wenn er ebenfalls eine Geheimpolizei, die SS, einsetzte, seine Stärke aus seiner ungeheuren Popularität, sodass er im Grunde zu einem populistischen Diktator wurde. Während die Demokratien noch mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu kämpfen hatten, florierte die deutsche Wirtschaft, was zu einem guten Teil auch der Wiederbewaffnung des Landes zu verdanken war. Das Tempo war beeindruckend: Deutschlands Einkommen hatte sich verdoppelt, die Produktion war um 102 Prozent gestiegen, und das Volk erfreute sich euphorisch am neuen Wohlstand. Sogar die Geburtenrate stieg wieder an, was die Zuversicht der Deutschen in ihren wachsenden Wohlstand ausdrückte. Neben seinen Erfolgen im In- und Ausland genoss Hitler die Vorteile einer charismatischen Herrschaft, das Objekt eines Verehrungskultes zu sein. Niemals ließ er sein Volk vergessen, dass es 1918 erniedrigt und verspottet worden sei, und spielte so mit Verbitterung, Frustrationen und Hoffnungen. Erstaunlicherweise zählte Hitler zu einer Zeit, in der auf dem internationalen Parkett so herausragende Figuren wie Churchill und Roosevelt, aber auch solche schillernden Persönlichkeiten

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wie Haile Selassie und Benito Mussolini präsent waren, zu den beliebtesten Staatsoberhäuptern weltweit, zumindest bis 1940. Hitler, ganz ähnlich wie Roosevelt und Churchill, war der geborene Schauspieler28 und zudem ein Meister der Doppelzüngigkeit. Auf einen Vorwurf Roosevelts hin antwortete er einmal unverfroren, dass niemand mehr nach Frieden strebe als er und die Nationalsozialisten keine Ambitionen hätten, ­andere Nationen zu „germanisieren“. Er arbeitete fleißig daran, sich mit einer geheimnisvollen und respekteinflößenden Aura zu umgeben: So kam er grundsätzlich zu spät zu den voll besetzten Versammlungen und garnierte seine Reden mit kunstvoll gewählten Sätzen, eingeübten Gesten und wohlgesetzten Pausen, wie bereits beschrieben. Schließlich wirkte auch seine vorgespielte Liebe zum Volk: Hitler, der Frauen die Hand küsst; Hitler, der freundliche Onkel, der Schokolade an Kinder verteilt; Hitler der einfache Mann, der die schwieligen Hände von Bauern und Arbeitern schüttelt. In Hitlers Augen waren die Deutschen ein Volk, mochte es auch aus vielen Orten innerhalb wie außerhalb Deutschlands kommen, mit einem makellosen Stammbaum: dem deutschen „Rassebestand“, und er war der designierte Wächter und Führer. Daher sein Diktum – ein Volk, ein Reich, ein Führer. Hitler fand auf seinem Weg viele Komplizen, die glücklich waren, jeder seiner obskuren und vergänglichen Wahnvorstellungen zu folgen, bis hin zum Völkermord. Sogar die Generäle unterstützten hemmungslos seine taktischen Fehlleistungen, ganz egal wie verzweifelt die Situation war. Die große Mehrheit der Deutschen – und das ist noch eine weitere Geschichte – unterwarf sich ebenfalls blindlings seinem Willen, obwohl von Anfang an die Zeichen zu erkennen waren. Hitler bestimmte den Verlauf des Krieges, von jenen frühen, berauschenden Tagen des Triumphs an, durch die er verleitet wurde, an seinen eigenen Mythos und seine Allmacht zu glauben. Und was bedeutete Allmacht? Dass er letztendlich bereit war, alle zu töten, die ihm im Wege standen: die Briten, die Franzosen, die Polen, die Niederländer, die Ungarn, die Belgier, die Tschechen und Slowaken, die Griechen, die Sowjets, die Reichen und die Armen, die Starken und die Schwachen, Ehemänner wie Ehefrauen, Großeltern und Enkel, seine engsten Vertrauten und am Ende gar sein „feiges“ Volk. Und immer, immer wieder: die Juden. Deutschland, Ende 1943: Der Krieg war so gut wie verloren und die deutsche Armee in Unordnung. Die Moral der Soldaten, ohnehin schon niedrig, sank weiter ab, einige von Hitlers bekanntesten Generälen zögerten, seinen Befehlen

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zu folgen. Die Alliierten erreichten Neapel, und Roosevelt und Churchill bereiteten sich immer weiter auf eine Invasion Frankreichs vor. Deutschland wurde jede Nacht von Bombenangriffen heimgesucht, die Deutschen litten Not und Hitler zog sich in eine unwirkliche Welt in der Wolfsschanze und dann im Führerbunker zurück. Dort kommandierte er Angriffe von nicht mehr existierenden Armeen und versank förmlich in Illusionen, Paranoia und Misanthropie. Ein Ziel jedoch schien ihn über alles andere hinweg zu motivieren: die Gaskammern von Auschwitz. USA, Frühjahr 1943: Nach der Konferenz in Casablanca stieg in Washington, D.C., und London der Druck, den bedrohten Juden Europas beizustehen. Doch Präsident Roosevelt trieben vor allem militärstrategische Fragen um. Der nächste Schritt für die nun in Nordafrika etablierten US-Truppen würde ein harter Vorstoß nach Italien sein, und das Außenministerium zeigte sich widerspenstiger denn je. Am 10. Februar 1943 würde eben dieses Ministerium in einen der schlimmsten Skandale in der Geschichte verwickelt werden. Das furchtbare Telegramm 354, das den Namen des Außenministers trug, ging an die Schweizer US-Gesandtschaft in Bern. Darin wurde die Botschaft angewiesen, in Zukunft keine Berichte von einzelnen Privatpersonen mehr zu über­mitteln, es sei denn, es lägen „außergewöhnliche Umstände“ vor. Das war Diplomaten-Sprache, denn tatsächlich bestand die Absicht darin, den Fluss von Informationen aus Europa über den fortschreitenden Holocaust zu unterbinden. Das US-Außenministerium nutzte also die Regierungsmaschinerie, um die Flucht von Juden eher zu verhindern, anstatt sie zu erleichtern. Bisher hatte der Kongress geschwiegen. Vielleicht hatten die Abgeordneten das Gefühl gehabt, sie könnten Rechtschaffenheit nicht in Gesetze gießen. Außerdem konnten sie keine Armeen befehligen oder Bombenangriffe kommandieren wie die Generäle und Roosevelt es taten. Doch nun bezogen sie Stellung. Ende Februar 1943 schlug Alben W. Barkley, der Mehrheitsführer im Senat, eine Resolution vor.29 Barkley, Anwalt, Methodist und liberaler Demokrat, ­gehörte zu den an meisten respektierten politischen Stimmen des Landes. ­Zudem war er enger Verbündeter von Roosevelt und 1940 Vorsitzender der Versammlung der Demokraten gewesen, die den Präsidenten für eine historische dritte Amtszeit nominiert hatte. Später sollte er Harry Trumans Vizepräsident werden. Er konnte sich in die kleinsten Details eines Gesetzes vertiefen und war aufgrund seines Charakters und seiner Überzeugungen alles andere als ein leichtfertiger Parlamentarier. Doch war er einmal aufgebracht, so war er

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durchaus risikobereit, was aus ihm mit der Zeit einen Zionisten und leidenschaftlichen Verteidiger des jüdischen Volkes machte. Am 9. März stimmte der Senat über seine Resolution ab, welche die Empörung des amerikanischen Volkes über die „Gräueltaten“ und die „massenhafte Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder“ zum Ausdruck brachte und diese „brutalen und durch nichts zu rechtfertigenden Untaten“ verurteilte. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen. Gleichzeitig wurde auch jenseits des Atlantiks mit einem Paukenschlag auf diese Grausamkeit hingewiesen. Der allseits verehrte Erzbischof von Canterbury, William Temple, der selbst nur noch ein Jahr zu leben hatte, wandte sich am 23. März an das House of Lords. Er betrat das Rednerpult und trug mit klarer, getragener Stimme die dringende Bitte vor, dass umgehend Maßnahmen zur Rettung der Juden ergriffen würden. Er beklagte all die Monate, die schon vergangen waren, die endlosen Verzögerungen, die Achtlosigkeit und Intrigen der Diplomaten, die Scheuklappen der Politiker und warnte dann: „Die Juden werden zu Zehntausenden jeden Tag ermordet. […]. Auf uns lastet in diesem Augenblick eine ungeheure Verantwortung. Wir müssen uns dem Urteil der Geschichte, der Menschheit und des Allmächtigen stellen.“30 In einem scharf kritisierenden Artikel stimmte die einflussreiche amerikanische Wochenzeitung Nation zu: „In diesem Land sind Sie und ich, der Präsident, der Kongress und das Außenministerium Mitschuldige an diesen Verbrechen und Komplizen Hitlers.“ Dann hieß es: „Was ist bloß in die Herzen ganz normaler Männer und Frauen gefahren, dass sie nichts dabei finden, wenn dieses Land im Angesicht einer der größten Tragödien der Geschichte nur verlegen dasteht und keinen Finger rührt?“31 Dann, als am 9. März der Abend angebrochen war, versammelte sich eine noch nie da gewesene Menschenmenge von 40 000 Zuschauern im Madison Square Garden Theater, New York, um eine Vorführung von „We Will Never Die“ („Wir werde niemals sterben“) mitzuerleben, einem Theaterstück in Gedenken an die von Deutschen ermordeten Juden.32 Draußen standen Zehntausende weiterer Menschen vor den Türen in der kühlen Abendluft, trippelten auf und ab und hofften auf eine weitere Aufführung. Denn es ging hier nicht um ein gewöhnliches Historienspiel: Edward G.  Robinson war der Erzähler, zu den Schauspielern gehörten Frank Sinatra, Burgess Meredith und Ralph Bellamy, außerdem sprach Paul Muni eine Rolle. Produziert wurde dies vom legendären Billy Rose, der dem Weißen Haus nahe stand. Geschrieben hatte das Stück Ben Hecht, ein später mit einem Oscar ausgezeichneter Drehbuchautor, Dramatiker und Romanautor, und Kurt Weill hatte eigens die Musik dazu komponiert.

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Die Lichter gingen aus, blendende Scheinwerfer erhellten die Bühne und die Aufführung begann. Im Hintergrund waren zwei massive, etwa zehn Meter hohe Tafeln mit den Zehn Geboten zu sehen. Im Vordergrund stand rund ein Dutzend Schauspieler, aufrecht und schweigend. Dann fingen sie an zu sprechen. Sie erzählten vom jüdischen Beitrag zur Menschheitsgeschichte: Mose, Maimonides und Einstein. Sie sprachen davon, wie Juden in den alliierten Streitkräften an der Front ihr Leben aufs Spiel setzten. Dann folgte die Schilderung einer Nachkriegskonferenz – so ähnlich wie sie Roosevelt vor Augen stand – bei der die toten Juden erschienen und ihre Geschichten vom Massenmord in den Fängen der Deutschen erzählten. In einem fast unirdischen Ton erklang die eindringliche Bitte: „Vergesst uns nicht.“ Während aus dem Publikum Schluchzen zu vernehmen war, fuhr die Stimme fort: „Die Leiche eines Volkes liegt auf den Stufen der Zivilisation. Seht sie euch an. Hier ist sie!“ Dann folgte ein Appell an das Gewissen: „Und keine Stimme ist zu hören, die ruft, dass das Gemetzel beendet werden soll, keine Regierung bemüht sich, die Ermordung von Millionen von Menschen zu beenden.“ Diese Aufführung, die auch per Radio übertragen wurde, war ein sensationeller Erfolg. Die Zeitungen und Wochenschauen berichteten ausgiebig, das Stück tourte mit beachtlichem Zuspruch durch das ganze Land, und es gab Aufführungen in Philadelphia, Chicago und Boston, außerdem im legendären Hollywood Bowl in Los Angeles. Als es in Washington, D.C., Station machte, befanden sich Eleanor Roosevelt, sechs Richter des Obersten Gerichtshofes, mehrere Kabinettsmitglieder, mehr als 300 Senatoren und Kongressabgeordnete, Militärs und sogar ausländische Diplomaten unter den Zuschauern. Insgesamt sahen mehr als 100 000 Amerikaner das Stück. Sich das ganze Ausmaß von Hitlers Gemetzel auszumalen, war, zumal für einen US-Bürger, kaum möglich. Eleanor Roosevelt zeigte sich jedoch derart berührt von dem Stück, dass sie eine ihrer „My Day“-Kolumnen der Aufführung widmete: „We Will Never Die“ sei „eine der eindrucksvollsten und be­ wegendsten Vorführungen gewesen, die [sie] je erlebt habe. Wer gehört und gesehen hat, wie jede Gruppe einzeln nach vorn trat und schilderte, was eine gnadenlose deutsche Soldateska ihr angetan hatte, den werden diese unheimlichen Worte noch lange verfolgen: ‚Vergesst uns nicht‘.“33 Das Weiße Haus jedoch schien durchaus vergessen zu wollen. Tatsächlich hatte der Produzent des Stückes, Billy Rose, Präsident Roosevelt um ein kurzes Statement gebeten, das in „We Will Never Die“ hätte eingebaut werden können, um es zu fördern. Doch das Weiße Haus hatte nicht reagierte.

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Andere hingegen machten konkrete Vorschläge. Schon am 13. Februar 1943 veröffentlichte die New York Times einen größeren Bericht über die erste bedeutende Möglichkeit, Juden zu retten. Unter der Überschrift „Rumänien schlägt Ausreise von Juden vor“ war ein Bericht aus London zu lesen, wonach die rumänische Regierung bereit sei, 7000 Juden aus Transnistrien an einen von den Alliierten bestimmten Ort zu bringen, vorzugsweise nach Palästina.34 Die Rumänen selbst würden Schiffe stellen, um die sichere Ausreise der Juden aus diesem rumänisch kontrollierten Teil der Ukraine zu garantieren. Warum tat Rumänien das? Und warum jetzt? Die einfachste Antwort war Geld. Die unter dem Krieg leidenden Rumänen forderten rund 130 Dollar pro Flüchtling, zusätzlich zu Transport- und sonstigen Kosten. Ein weiterer, entscheidender Grund dürfte gewesen sein, dass die Rumänen ebenso gut wie jeder andere das sich wandelnde Kriegsglück zu interpretieren vermochten. Sie rechneten damit, dass sich der Krieg zugunsten der Alliierten entwickeln würde und die Achsenmächte früher oder später nachgeben müssten – ganz im Gegensatz zum deutschen Propagandaminister Joseph Goebbels, der am selben Tag bekannt gab, das deutsche Volk stehe aufrecht „wie im ersten Moment des Krieges“. Rumänien hoffte wohl, sich bei den Alliierten einschmeicheln zu können, indem es Juden freiließ, und somit die zu erwartende Strafe für die Kollaboration mit den Nationalsozialisten zu mildern. Dieses Angebot war ein untrügliches Zeichen, dass sich die Achsenmächte außerhalb Deutschlands zunehmend über den Preis sorgten, den sie für das von ihnen verursachte unermessliche Leid von Unschuldigen, vor allem Juden, würden zahlen müssen. Um zu unterstreichen, dass es der Regierung mit dem Angebot ernst war, so berichtete die Times, würden der Bischof von Bukarest und der päpstliche Nunzio die Ausreise überwachen. Außerdem sollten die Schiffe, um die Fahrt noch sicherer zu gestalten, das Wappen des Vatikans führen. Für Menschenrechtler auf der ganzen Welt schien diese Nachricht fast zu gut, um wahr zu sein. Ein Aktivist außerhalb der Regierung hatte keine Geduld mehr, länger darauf zu warten, dass die Alliierten Maßnahmen ergriffen. Peter H. Bergson, ein in Palästina geborener Jude, wurde von seinen Anhängern ebenso lautstark unterstützt und verehrt wie von seinen Kritikern misstrauisch beäugt, missachtet und sogar gehasst. Bergson – sein ursprünglicher Name lautete Hillel Kook und sein kürzlich verstorbener Onkel war Oberrabbiner in Palästina gewesen – war

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e­ igentlich in die USA gekommen, weil er hoffte, hier für eine jüdische Armee werben zu können. Doch schon bald richtete er sein Bemühen darauf, Juden vor der Vernichtung zu retten. Bergson, welcher der amerikanischen Regierung misstraute, hatte eine ausgeprägte und charmante Persönlichkeit und erwies sich als charismatischer Redner und energischer Führer seiner Bewegung. Meisterlich überwand er alle widrigen Umstände: Anstatt mit dem Außenministerium oder dem Weißen Haus zusammenzuarbeiten, bemühte er sich darum, landesweit Unterstützung für das bedrängte jüdische Volk zu gewinnen, indem er öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wie große Plakatwände, Massenproteste und Demonstrationszüge organisierte. So erschien drei Tage nach dem Artikel über das rumänische Angebot in der New York Times eine fast ganzseitige Anzeige seiner Gruppe in der Zeitung mit der verblüffenden Überschrift: ZU VERKAUFEN an die Menschheit 70 000 Juden Garantiert echte Menschen zu 50 $ das Stück35 Diese Anzeige war ziemlich unverblümt und beschämte die Regierung. Rumänien, so hieß es weiter im Text, habe „keine Lust mehr, Juden umzubringen“, nachdem in den vergangenen zwei Jahren 100 000 von ihnen getötet worden seien, wäre aber nun bereit, „Juden für einen Spottpreis zu verkaufen“. Die Leser wurden aufgerufen, an ihren Abgeordneten im Kongress zu ­schreiben, Freunde zu informieren und Taten zu verlangen, jetzt, solange noch Zeit sei. Versteckt in der Anzeige war eine Hauptforderung an die Vereinten Nationen, „umgehend ein interstaatliches Komitee“ einzuberufen, das Möglichkeiten erörtern sollte, wie die Ermordung der Juden beendet werden könnte. Nur wenige Tage später veröffentlichte Bergsons Gruppe eine weitere Anzeige, dieses Mal in der New York Herald Tribune, die ebenfalls dazu aufrief, eine internationale Rettungskommission einzuberufen. Damit war der Startschuss für eine neue Welle der Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Der nun plötzlich wieder aktive Stephen Wise reagierte darauf und schloss sich mit dem American Jewish Congress zusammen, um eine „Stop Hitler Now“-Demonstration auf die Beine zu stellen. 75 000 Menschen kamen zu dem Protest, verstopften ein weiteres Mal den Madison Square Garden und demonstrierten auch davor mit Plakaten oder einfach, indem sie sich an den Händen hielten. Bürgermeister Fiorello LaGuardia sprach zu den Versammelten, man verlas Botschaften des früheren Präsidentschaftskandidaten Wendell Willkie, des Gouverneurs

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von New York, Thomas Dewey, sowie des Erzbischofs von Canterbury. Dieses Mal legten Wise und seine Gruppe einen detaillierten Elf-Punkte-Plan vor, der an Roosevelt gehen sollte. Anne O’Hare McCormick schrieb daraufhin in ihrer Kolumne für die New York Times, die „Scham der Welt hat am Montagabend den Garden gefüllt“. Indem er einen Fingerzeig von Bergson aufnahm, bemühte sich auch Wise, an das Gewissen der Amerikaner zu appellieren, und schickte augenblicklich Briefe an Roosevelt, Außenminister Cordell Hull, jedes Mitglied des Senats und des Repräsentantenhauses sowie bekannte Zeitungsherausgeber. Jeder dieser Briefe enthielt die elf Lösungsvorschläge. Der Präsident reagierte mit einer faden Standardantwort: „Diese Regierung hat sich bewegt und wird sich weiter bewegen, soweit es die Last des Krieges erlaubt, um den Opfern der NS-Lehre […] der Unterdrückung“ zu helfen. Und was war mit den rumänischen Juden? Finanzminister Henry Morgenthau übergab den New-York-Times-Artikel eilig an das Weiße Haus, damit er dort Roosevelt vorgelegt werden konnte. Doch es folgte dasselbe wie immer: Unkenntnis vortäuschend forderte Roosevelt Morgenthau auf, die Angelegenheit dem Außenministerium vorzulegen. Dort im Ministerium erklärte Staatssekretär Sumner Welles, er wolle die Faktenlage prüfen. Wie abzusehen erfolgte die Recherche allenfalls oberflächlich, und zwei Wochen später ließ das Außenministerium verlauten, der Artikel in der Times habe „keine Grundlage“, da er nicht von der rumänischen Regierung, sondern aus der „deutschen Propagandamaschinerie“ stamme und in der Absicht verfasst worden sei, Verwirrung und Zweifel bei den Alliierten zu säen. Bei den Nürnberger Prozessen nach dem Krieg sollte sich herausstellen, dass dies nicht stimmte. Die US-Regierung stand dennoch zunehmend unter politischem Druck.36 Zwei Tage später ließ das Außenministerium geheime Informationen durchsickern, wonach die USA und Großbritannien Gespräche führten, um eine Diplomatenkonferenz zur „vorbereitenden Erkundung“ des Flüchtlingsproblems einzuberufen, die Ende April auf Bermuda stattfinden sollte. Dann traf aus Genf eine neue Nachricht über Massaker ein: Bulgarische Juden wurden nun massenweise deportiert. Am 27. März 1943 traf sich Präsident Roosevelt in Washington – Berlin erlebte an diesem Tag den bis dato verheerendsten Angriff britischer Bomber – mit seinem Assistenten Harry Hopkins, dem Außenminister Cordell Hull, dem britischen Außenminister Anthony Eden, Lord Halifax, dem britischen Botschafter, und Sumner Welles.37

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Politisches Genie besteht darin, über den Horizont hinausblicken zu können und damit jene Zukunft zu antizipieren, die für andere noch im Dunkel liegt. In diesem Sinne sprach ein angeregter Roosevelt ganz allgemein über den Nachkriegsfrieden, der auf die Niederlage der Achsenmächte folgen werde, sowie über die Vereinten Nationen, die dann formell zu installieren wären – jene Körperschaft, die, in den Worten des Präsidenten, viele Jahre lang helfen werde, „die Welt zu beaufsichtigen“. Politisches Genie besteht allerdings auch da­ rin, mit unangenehmen Wahrheiten umgehen zu können. Hull hakte deshalb an einer Stelle ein und erwähnte die 70 000 bulgarischen Juden, die kurz vor der Ermordung stünden, sollte es den Alliierten nicht irgendwie gelingen, sie herauszuschmuggeln. Nun kam es zu einer Neuauflage der Rumänien-Geschichte. Anthony Eden empfahl Vorsicht beim Angebot, alle Juden aus Bulgarien aufnehmen zu wollen. „Wenn wir das tun“, lautete sein Argument, „erwarten alle Juden der Welt, dass wir das gleiche Angebot an Polen und Deutschland machen.“ Natürlich hätten sie das erwartet, doch wäre dies nicht genau im Sinne der Vereinten Nationen gewesen? Wie sich herausstellte: nein. Eden fügte hinzu: „Hitler könnte sehr wohl auf ein solches Angebot eingehen, und es gibt einfach nicht genug Schiffe und Transportmöglichkeiten auf der Welt, um sie aufzunehmen.“ Über 70 Jahre später klingt solche Hartherzigkeit unglaublich. Hier wurden die Menschenrechte in ihr Gegenteil verkehrt: Man fürchtete sich nicht vor der unmittelbar bevorstehenden Ermordung der Juden, sondern vor ihrer möglichen Flucht in die Länder der Alliierten. Und niemand, auch nicht Roosevelt, widersprach dieser Denkweise. Tatsächlich empfahl der P ­ räsident, die ganze Angelegenheit besser dem Außenministerium zu überlassen. Was stand hinter Roosevelts Schweigen, hinter seiner offensichtlichen Weigerung, die Wahrheit über die Todeslager einzugestehen, sie hören zu wollen oder klar zu verurteilen? Sowohl Edens Logik als auch Roosevelts ­Zurückhaltung deckten sich mit der vorherrschenden Haltung des US-­ Außenministeriums im Frühling 1943. Als seien die Todeslager ein vorübergehendes Phänomen, schrieb R. Borden Reams, Mitarbeiter im Außenministerium, es habe „immer die Gefahr bestanden, dass die deutsche Regierung sich einverstanden erklärte, den Vereinigten Staaten […] eine große Zahl von Juden zum sofortigen Weitertransport […] zu überstellen“, was die ­Kapazitäten der USA überstiegen hätte. Hätten die Vereinigten Staaten den Transport nicht leisten können, so argumentierte er aberwitzig, wäre die „Verantwortung für ihr weiteres Schicksal weitgehend […] den Alliierten

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aufgebürdet gewesen“.38 Dies impliziert, dass die Gaskammern oder Arbeitslager einer möglichen Beanspruchung der Vereinten Nationen offenbar vorgezogen wurden.39 Natürlich hätte es fast unüberwindbare praktische Probleme gegeben, doch diese wären bloß eine Frage von militärischer Leistungsfähigkeit und Einfallsreichtum gewesen. Die Juden aus den Blutorgien der Nationalsozialisten zu retten war natürlich eine riesige Herausforderung: Wozu auch immer die Alliierten sich entschlossen hätten, Hitler hätte sicher keinen einzigen Juden freiwillig ziehen lassen, geschweige denn Zehntausende. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Alliierten also tatsächlich keine Mittel, um jene Juden zu retten, die noch nicht deportiert waren. Wie sich aber herausstellte, versuchten sie es nicht einmal. Wäre allerdings irgendeine Art von Vereinbarung getroffen worden, hätten die Juden über die Berge und durch den Balkan hinweg in die Türkei fliehen können. Zudem kündigten die Briten gerade einmal zehn Tage nach dem Treffen in Washington ihre Absicht an, mehr als 20 000 polnische Flüchtlinge – Nicht-Juden – nach Ostafrika in Sicherheit zu bringen. Und später im Jahr halfen sie bei einer ähnlichen Maßnahme 36 000 nicht-jüdischen Flüchtlingen, aus Jugoslawien zu fliehen. Warum, so fragten wütende jüdische Führer, geschah Vergleichbares nicht auch für Hitlers jüdische Opfer? Erneut kontaktierte Stephen Wise im Frühjahr 1943 das Weiße Haus und bat um einen Termin mit Roosevelt. Verhängnisvollerweise lehnte das Weiße Haus dieses Ansinnen ab. Für den Augenblick lag damit jegliche Hoffnung für die Juden auf der bevorstehenden anglo-amerikanischen Bermuda-Flüchtlingskonferenz. Zur selben Zeit wurden große neue Krematorien in Auschwitz in Betrieb genommen, und das Gemetzel an den Juden ging weiter. Sie verstanden sich darauf, ausländische Angelegenheiten anmutig und subtil zu verhandeln. Insofern waren die Diplomaten, die nach Bermuda reisten, am rechten Ort. Zwölf Tage verbrachten sie in Horizons, einer luxuriösen Kolonie, die 1760 erbaut worden war. Sie befand sich inmitten eines exotischen Gartens, umgeben von wogenden Palmen, großen, gepflegten Rasenflächen und Hibiskus. Der Blick auf das türkis schimmernde Wasser war atemberaubend. Hier, in den lichtdurchfluteten Räumen und prächtigen Suiten, die von Ventilatoren

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gekühlt wurden, sollten die Delegierten ihrer Arbeit nachgehen.40 Bermuda besaß noch weitere Vorteile: Ursprünglich hatte man vorgehabt, die Konferenz entweder in Kanada oder Washington abzuhalten, doch beide Tagungsorte wurden abgelehnt, da sie für das Geschrei und den Druck der Interessengruppen zu anfällig seien. Im Gegensatz dazu unterlag Bermuda gewissen kriegsbedingten Reise-Einschränkungen, was bedeutete, dass die Delegierten weit von den neugierigen Augen der Presse und von – dem US-Außenministerium lästigen – Menschenrechtsorganisationen entfernt waren. Roosevelt hatte gehofft, Richter Owen J. Roberts zum Leiter der US-Delegation ernennen zu können, doch Roberts sagte wegen seines übervollen Terminkalenders ab. Roosevelt antwortete ihm: „Ich kann Sie völlig verstehen, bedauere es aber dennoch, dass Sie nicht nach Bermuda reisen – vor allem, da dort gerade die Osterlilien blühen!“ An Roberts statt benannte er den Präsidenten der Princeton University, Dr. Harold W. Dodds, zum Delegationsleiter. Dodds wurde vom einflussreichen Vorsitzenden des Foreign Affairs Committee und Kongressabgeordneten Sol Bloom unterstützt sowie durch den zukünftigen Mehrheitsführer, Senator Scott Lucas aus Illinois, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Wise und andere jüdische Vertreter hatten gehofft, dass auch jüdische Gruppen an der Konferenz teilnehmen würden. Stattdessen erlaubte die Regierung lediglich George Warren, dem Geschäftsführer des Advisory Committee on Political Refugees, die Teilnahme als Fachberater. Im Nachhinein muss den zeitgenössischen Kritikern recht gegeben werden – die Konferenz war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Auf den ersten Blick wirkte es, als würden London und Washington mit ihren Sorgen um das Wohl der Juden förmlich um öffentliche Anerkennung buhlen, so engagiert begann die Konferenz. Die Teilnehmer einigten sich auf Schritte, mit denen neutrale Staaten in Europa ermutigt werden sollten, Flüchtlinge aufzunehmen. Man sprach über sichere Transportwege für Migranten in Europa und Afrika und verständigte sich darauf, das Intergovernmental Committee on Refugees mit der Umsetzung der Konferenzergebnisse zu beauftragen. Von Anbeginn an war eine besondere Hervorhebung der Juden „streng verboten“, denn man fürchtete, dass die Alliierten eine „deutliche Präferenz“ für eine „besondere Rasse oder einen besonderen Glauben“ ablehnen würden. Zudem hatte man die Delegierten gewarnt, Roosevelts Regierung habe keine Macht, die Einwanderungsgesetze „zu entspannen oder aufzuheben“, wobei die Tatsache unter den Tisch fiel, dass die Regierung ja nicht einmal die gesetzlich erlaubten Quoten ausschöpfte.

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Nachdem die Konferenz begonnen hatte,41 war schnell klar, dass sich die US-Regierung, wie es der Historiker James MacGregor Burns so treffend formulierte, auf „hölzernen Füßen“42 bewegte. Der Kongressabgeordnete Bloom schlug vor, sich an die Deutschen zu wenden und zu klären, ob man nicht „jeden Monat“ eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen frei bekommen könnte. Dieser Vorschlag rief jedoch nur empörte Rufe hervor und führte zu keinem Ende. Als Verfechter des Anstands lehnte das US-Außenministerium jede Verhandlung mit Deutschland ab. Doch was, wenn man Satellitenstaaten der Achse wie etwa Rumänien oder Bulgarien anspräche, die zu Verhandlungen bereit sein könnten? Darüber diskutierte man auf der Konferenz erst gar nicht. Wie wäre es, wenn man die halb verhungerten Opfer der Deutschen mit Lebensmitteln versorgte? Rasch wiesen Delegierte diesen Vorschlag rundheraus ab. Und als zur Sprache kam, dass Deutschland aus eigenem Antrieb eine beträchtliche Anzahl von Flüchtlingen freilassen könnte, versenkten die Konferenzteilnehmer wiederum ihre Hände in den Hosentaschen: Man lehnte diesen Vorschlag aus Angst ab, Hitler könnte „eine große Anzahl ausgewählter Agenten“ auf alliiertes Territorium schicken, oder weil man fürchtete, den Alliierten könnte es an Schiffen fehlen, um den Exodus von Juden in so großer Zahl aufzunehmen.43 Dass hingegen nicht wenige der Schiffe, die militärischen Nachschub und Soldaten ostwärts über den Atlantik brachten, bei ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten leer waren, fand keine besondere Beachtung. Worauf konnten sich denn die Konferenzteilnehmer sonst verständigen? Heute macht es fast bestürzt, diese Empfehlungen der Bermuda-Konferenz zu lesen, derart bemüht lavieren sie um die zahlreichen Hindernisse herum. Zunächst kam man auf Spanien. Die Briten argumentierten bald und ausführlich, dass die 6000 bis 8000 jüdischen Flüchtlinge dort – sie waren den Massenverhaftungen im benachbarten Frankreich im vorigen Sommer glücklich entkommen und über die Pyrenäen geflohen – in Aufnahmelager in Nordafrika gebracht werden sollten. Sie lebten aktuell unter schrecklichen Bedingungen zumeist in Gefängnissen und Lagern. In einem der wenigen klaren Momente während der Konferenz wies man darauf hin, dass sogar etwa 3000 von ihnen gesund genug und in der Lage sein dürften, aufseiten der Alliierten zu kämpfen. Doch die Amerikaner zögerten noch und erklärten, ihre Schiffe seien ohnehin schon überladen. Immer wieder und wieder kam die Konferenz auf den Punkt zu sprechen, die Flüchtlinge könnten Militäroperationen beeinträchtigen. Die Amerikaner behaupteten gar, dass Nordafrika möglicherweise erneut zum Kriegsschauplatz werden könnte. Doch während sie so miteinander sprachen, kam den Briten der Gedanke, dass, sollte die Konferenz nicht

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wenigstens diesen Vorschlag billigen, eine erzürnte Weltöffentlichkeit „zum Schluss kommen könnte, dass die Alliierten keine ernsthaften Anstrengungen [unternahmen], um mit dem Flüchtlingsproblem fertig zu werden“. Damit konfrontiert, verfasste Dodds, der US-Delegationsleiter, eine eilige Nachricht an Breckinridge Long und bat ihn, den Vorschlag ein weiteres Mal zu prüfen.44 Ganz offen fügte er hinzu, dass das Konzept einer „Zuflucht in Afrika“ unter US-Verwaltung „der einzige neue Beitrag zu sein [schien], den [sie] beisteuern [konnten], um die öffentliche Meinung zu beeindrucken.“ Krieg ist nur schlecht mit humanitären Grundsätzen zu vereinbaren und strategische Überlegungen nicht mit dem Wunsch nach öffentlicher Zustimmung. In Hinblick auf den britischen Vorschlag setzten sich jene durch, denen vor allem an öffentlicher Zustimmung gelegen war. Long reichte den Vorschlag tatsächlich weiter ans Kriegsministerium, das ihn zwar aus ängstlicher Sorge um die örtliche jordanische Bevölkerung ablehnte, da jedoch General Eisenhower keine Einwände hatte und dem Plan eifrig zustimmte, folgte die Konferenz seinem Entschluss – „soweit nicht militärische Erwägungen dagegensprechen“45. Als dieser Vorschlag dann endlich auch erneut in Washington vorlag, zeigte Roosevelt sich zögerlich und beschrieb diese Politik als „äußerst unklug“. Nur nach weiteren langwierigen Diskussionen mit den Briten gestattete er das Vorgehen, allerdings erst im Juli. So fanden schließlich nur 630 Juden Zuflucht in Nordafrika. In erster Linie entwarfen und verwarfen diese hochgebildeten und gut vernetzten Konferenzteilnehmer Plan nach Plan. Sie stritten sich über einen nach dem anderen und demontierten ihn oder verschoben ihn auf unbestimmte Zeit, bis man mehr darüber wüsste. Die Konferenzteilnehmer versprachen keine Geldmittel, sagten keine Schiffe für den Transport von Flüchtlingen zu und kündigten auch keine Änderungen von Einwanderungsgesetzen an. Es war ein vollkommenes Versagen der politischen Fantasie. Eine Vertagung der Diskussion zeichnete sich ab, als den Delegierten mit einem Mal sehr deutlich bewusst wurde, dass sie eine Liste von „konkreten Empfehlungen“ liefern mussten. Jene, die sie bereits hatten, war kurz und bescheiden. Der erste Punkt bestand darin, dass sie jede Verhandlung mit Hitler über die mögliche Freilassung potenzieller Flüchtlinge ablehnten. Der zweite Punkt bestand darin, dass die beiden Regierungen ihre Absicht bekundeten, neutrale Schiffe für den „Transport“ der Flüchtlinge sicherzustellen. Drittens wollten die Briten die Möglichkeit abwägen, Flüchtlinge nach Kyrenaika, im Osten Libyens, zu lassen. Der vierte Punkt war der Vorschlag, Juden aus Spanien in Lager in Nordafrika zu bringen. Der fünfte empfahl eine Erklärung der

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Alliierten zum Nachkriegsstatus der Flüchtlinge. Zuletzt gab es den Plan, das ziemlich bedeutungslose Intergovernmental Committee neu zu organisieren. Widerspruch wurde nicht erhoben.46 George Warren, der Fachberater, erklärte später, er sei „schockiert“ gewesen über den „ungewöhnlich großen“ Widerstand gegen Rettungsmaßnahmen.47 Im Rückblick erscheint es, als hätten die Delegierten eher über den gewaltlosen Antisemitismus des Jahres 1933 als über die Todesmühlen des Jahres 1943 gesprochen; über eine Zeit, in der nicht Treblinka und Dachau eine Rolle spielten, sondern in der man es mit Schildern an deutschen Kinos und Restaurants zu tun hatte, die darauf hinwiesen, dass Juden unerwünscht seien; eine Zeit, in der man nicht von Deportationen und dem Warschauer Ghetto sprach, sondern über Zettel, die an Metzgereien hingen und auf denen stand: „Für Juden kein Zutritt“; eine Zeit, die nicht von Auschwitz geprägt war, sondern in der Juden weder Milchladen noch Apotheke betreten durften, um Milch für ihre Säuglinge oder Medikamente zu kaufen. Vermutlich weil die Konferenz ursprünglich einberufen worden war, um die öffentliche Meinung zu besänftigen, einigten sich die Delegierten überraschenderweise darauf, ihre Ergebnisse geheim zu halten. Sie gaben nur eine knappe Erklärung an die Presse heraus, die besagte, dass sie eine ganze Reihe von Möglichkeiten sorgfältig erörtert hätten und ihren Regierungen nun vertrauliche Vorschläge unterbreiten würden. Bevor er seinen Posten in Princeton wieder antrat, gab Dodds, der US-Delegationsleiter, öffentlich bekannt, „den Krieg zu gewinnen“, sei der beste Weg, den Flüchtlingen zu helfen. Vor den Kopf gestoßene Menschenrechtler zeigten sich auf der ganzen Welt betroffen und wütend. Der Jewish Outlook verzweifelte, die Konferenz habe „alle Hoffnungen zunichte gemacht“48. Im Repräsentantenhaus betonte der Abgeordnete Samuel Dickstein wütend: „Nicht einmal Pessimisten unter uns [hatten] solche Ergebnislosigkeit erwartet.“ Und im Senat gab der kritische Republikaner William Langer zu Protokoll, dass „zwei Millionen Juden in Europa bereits getötet [worden seien] und weitere fünf Millionen Juden das gleiche Schicksal erwartet[e], es sei denn, sie [würden] umgehend gerettet“. Der bekannte christliche Theologe Reinhold Niebuhr warnte Präsident Roosevelt vor dem „tiefen Pessimismus“, der auf die Konferenz folgen werde. Und Rabbi Israel Goldstein, der normalerweise als gemäßigt bekannt war, tobte: „Aufgabe der Bermuda-Konferenz war es offenbar nicht, die Opfer des NS-Terrors, sondern vielmehr unser Außenministerium zu retten.“

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Es ist eine Tatsache, dass sich der Präsident seit Hitlers Machtantritt 1933 um das Leid der Juden sorgte. Wenn er bekniet und gedrängt worden war, hatte er die Nationalsozialisten mehrfach wegen ihrer Verbrechen verbal attackiert und gewarnt, die Schuldigen würden schmerzhaft bestraft. Es war jedoch ebenso klar, dass zumindest über diese Entfernung hinweg seine Warnungen wenig abschreckend gewirkt hatten. Und nun war es wiederum die Vorsicht des Präsidenten und nicht etwa aufrechte moralische Empörung, die den Ton der Regierungspolitik für die entscheidenden kommenden Monate prägte. Da überrascht es nicht, dass das ­Außenministerium weiterhin Wochen, ja Monate brauchte, um Themen anzupacken oder auch nur Briefe zu beantworten. Und jeden Monat, jede Woche gingen weitere Zehntausende von unschuldigen Leben in Hitlers Todes­ maschinerie unter. Warum war Roosevelt darüber nicht derart schockiert, dass er sich auf kreative Art und Weise ans Werk machte? Wieso war er unfähig, sich um den Kern des Problems zu kümmern – die Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die vom NS-Regime als Geiseln gehalten wurden und für die Gaskammern vorgesehen waren? Da sie keine Antworten bekamen, war es an den Juden selbst zu handeln. Und sie taten es auf heroische Weise in Warschau. Spätestens im Juli 1942 war die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten auch in der polnischen Stadt Warschau in vollem Gange.49 Bis dahin hatte man die Juden aus der Stadt und den umliegenden Gemeinden bereits in das Warschauer Ghetto getrieben, einen Block von zehn abgesperrten Straßen, der an der einen Seite vom jüdischen Friedhof und an der anderen Seite von der Eisenbahnlinie begrenzt wurde. Bei Kriegsausbruch lebten rund 350 000 Juden in der Stadt, sie machten damit etwa ein Drittel der gesamten Stadtbevölkerung aus. Warschaus jüdische Bevölkerung gehörte zu den größten jüdischen Gemeinden in Polen und ganz Europa. Nach New York City war sie sogar die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft der Welt. Bereits eine Woche nach der Eroberung von Warschau, Ende September 1939, richteten die Deutschen einen „Judenrat“ ein. Zwei Monate später mussten alle Juden eine weiße Armbinde mit blauem Davidstern tragen. Ihre Schulen wurden geschlossen, ihr Eigentum wurde geraubt und jüdische Männer wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Im Oktober 1940 wurde dann das Ghetto eingerichtet. Etwa 400 000 Juden aus der Stadt und den umliegenden Orten hatten einen Monat Zeit, um das Gebiet in der Größe von 3,1 Quadratkilome-

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tern zu beziehen. Gebäude für Gebäude quoll über, ein einziger Raum war nun Schlafplatz für bis zu sieben Menschen, und die Lebensbedingungen waren hart. Das Ghetto war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, die mit Stacheldraht gekrönt war. Es sollte keinen Durchgang zwischen dem Ghetto und dem Rest der Stadt geben, dem „judenfreien“ Warschau. Innerhalb der Mauern gab es nie genug zu essen: Kinder verhungerten, und ihre ausgemergelten Körper lagen gekrümmt in Türöffnungen und Treppenaufgängen. In weniger als zwei Jahren starben 83  000 Juden an Hunger und Krankheiten. Dennoch hielten die Juden an ihrer Ehre fest, beteten und lernten sogar noch heimlich. Am 22. Juli 1942 begann dann die Massendeportation. Zug um Zug fuhr vollbeladen aus dem Bahnhof in Richtung der Tötungsanlagen von Treblinka. Bis September waren 265 000 Juden mit Gewalt aus dem Ghetto gebracht und in dieses Vernichtungslager geschickt worden. Und trotz der Bemühungen der Deutschen, die Juden aus Warschau zu isolieren, wussten die noch im Ghetto Verbliebenen durchaus, wohin sie gebracht werden sollten. Am 11. September erschien eine Untergrundzeitung, in welcher der Bericht eines aus Treblinka Geflohenen abgedruckt war. Der Text schloss mit den Zeilen: „Heute sollte jeder Jude von dem Schicksal wissen, das die Umgesiedelten erwartet. […] Lasst euch nicht einfangen! Versteckt euch, lasst euch nicht wegbringen! […] Wir sind alle Soldaten an einer furchtbaren Front!“ Der Tod wartete auf sie – und die einzige Alternative war der Kampf. Mit dieser grausamen Wahrheit konfrontiert, begannen zwei jüdische Untergrundorganisationen zu handeln. Sie bildeten Widerstandsgruppen, etwa 750 Mann stark. Bewaffnet waren sie mit einfachen Pistolen und Sprengstoff, die Mittelsmänner der Polnischen Heimatarmee hineingeschmuggelt hatten. Doch auch die Deutschen machten schnell weiter. Heinrich Himmler gab schließlich den Befehl, das Ghetto im Herbst 1942 gänzlich zu liquidieren, was jedoch auf 1943 verschoben wurde. Leistungsfähige Einwohner sollten in ein Zwangsarbeitslager bei Lublin umgesiedelt, alle anderen umgebracht werden. Am 18. Januar 1943 wurden die Deportationen wieder aufgenommen, doch dieses Mal waren die Widerständler bereit. Jüdische Kämpfer, mit Pistolen bewaffnet, schlichen sich in eine Transportgruppe. Sie warteten, bis das Signal ertönte, dann eröffneten sie das Feuer auf die deutschen Bewacher. Schnell schossen die Deutschen zurück, doch in dem Durcheinander konnten die ­anderen Juden fliehen. Drei Tage später führten die Deutschen keine Deportationen mehr durch. Nun begannen im Ghetto fieberhaft die weiteren Vorbereitungen. Die Juden gruben unterirdische Bunker und Verstecke, um sich ver-

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bergen und kämpfen zu können, wenn die Deutschen versuchen sollten, ihr Versprechen zu halten und das Ghetto vollständig aufzulösen. Monate verstrichen, dann vereinbarten die Deutschen ein Datum für die Zerstörung: den 19. April, den Pessachabend – ein unmissverständliches Datum. Sie rechneten mit drei Tagen, um ihre finale Operation durchzuführen. Doch als SS- und Polizeieinheiten das Ghetto stürmten, fanden sie die Straßen still und die Gebäude verlassen vor. Fast alle Juden waren noch am Leben und hatten sich in Verstecke oder unterirdische Bunker zurückgezogen. Dann schlugen die jüdischen Kämpfer zu; einer von ihnen fasste es in die Worte: „Wir haben unsere Gefühle unterdrückt und nach den Waffen gegriffen.“ Sie probierten ihre Pistolen und ihre tödlichsten Waffen, eine Sammlung selbstgebastelter Bomben, an den verblüfften und völlig unvorbereiteten Deutschen aus, die sich schnell aus dem Ghetto zurückzogen. Sechs Deutsche und sechs ukrai­nische Hilfssoldaten hatten ihr Leben verloren. Doch als die NS-Truppen das nächste Mal zurückkehrten, war völlige Zerstörung ihr Ziel: Sie wollten jedes Gebäude niederreißen und das Ghetto mithilfe von Flammenwerfern Straßenzug für Straßenzug zerstören. Als die Flammen die Wände erfasst hatten und Rauch aus den Fenstern stieg, waren die dort versteckten Juden gezwungen, in den Tod zu springen. Erblickten die Deutschen sie, so eröffneten sie das Feuer, durchsiebten ihre Opfer mit Kugeln, die auf den Balkonen standen oder hilflos durch die Luft zu Boden fielen. Erreichte einer von ihnen lebend die Straße, erschossen die deutschen Truppen die Juden dort. Trotz dieses entsetzlichen Massakers entkamen kleine jüdische Gruppen den Deutschen und bekämpften sie noch fast einen weiteren Monat lang. In den harten Worten eines ihrer Kämpfer: „Wir haben wie Tiere um das nackte Überleben gekämpft.“50 Doch das reichte nicht aus. Am 16. Mai war das Ghetto liquidiert, und der deutsche Kommandeur befahl, die Große Synagoge an der Tlomacki-Straße zu sprengen. Über 56  000 Juden wurden gefangen genommen, von denen die meisten nach Majdanek geschickt wurden, das Lager außerhalb der Stadt Lublin. Die Deutschen vermerkten, dass 7000 Juden bei den Kämpfen getötet worden seien – darunter auch jener aus Treblinka Geflüchtete, der die Nachrichten vom Vernichtungslager und den Gaskammern verbreitet hatte. Weitere 7000 aus dem Ghetto wurden nach Treblinka deportiert. Fast alle wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast. Wie durch ein Wunder überlebten einige Juden mitten in Warschau.51 Manche hatten sich in den Ruinen des Ghettos versteckt und deutsche Patrouillen angegriffen, wann immer sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Manche konnte

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entkommen und auf die „arische Seite“ des Ghettos gelangen. Es gab auch Juden, die Zyankali schluckten, anstatt sich festnehmen zu lassen. Und selbst nachdem das Ghetto im September 1943 abgerissen worden war, „lebten vereinzelt noch Menschen in Verstecken, völlig abgeschnitten von der Natur, Licht und menschlicher Gesellschaft“. Die Nachricht vom Aufstand sprach sich herum. In den folgenden Monaten erhoben sich die Ghettos in Białystok und Minsk gegen die Nationalsozialisten und auch Häftlinge in den Vernichtungslagern von Treblinka und Sobibór. Die Versuche waren vergeblich und führten häufig zu noch mehr Toten, doch bis zum Herbst 1943 wurden Treblinka und Sobibór aufgelöst. Die vielleicht bewegendste Wendung der Schlacht war jedoch folgende: Zwei Tage nachdem der Aufstand in Warschau begonnen hatte, wurde von einem geheimen polnischen Sender ein Funkspruch abgesetzt. Nur vier Sätze wurden gesendet, bevor das Signal erstarb. Die Nachricht endete mit den Worten: „Rettet uns.“52 Sie wurde in Stockholm empfangen und dann um die ganze Welt geschickt. In London und Washington nahm man jedoch keine Notiz von ihr, und auf Bermuda, wo die Konferenz tagte, war Schweigen die einzige Antwort. Unterdessen machten die alliierten Armeen, nach einem langen Kampf, erstaunliche Fortschritte. Die Konzentration des Präsidenten auf den militärischen Sieg begann sich auszuzahlen. Am 13. Mai fand der Feldzug in Nordafrika mit einem vollständigen Sieg der Alliierten sein Ende. Nachdem fast eine Viertelmillion deutscher und italienischer Soldaten in Gefangenschaft geraten war, blieb die Frage: Was nun? Dies beschäftigte auch Roosevelt und Churchill, als sie sich wieder in Washington trafen, um die nächste Kriegsphase im Detail zu besprechen. Dies war die Trident-Konferenz. Zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1943 spürten die Briten und die Amerikaner, dass das Ende des Krieges sich näherte, und daher trafen sie einander so häufig und an so vielen unterschiedlichen Orten, dass man fast denken mochte, sie seien Mitglieder einer fahrenden Theatertruppe. Im Januar hatte sich Roosevelt mit Churchill, Giraud und de Gaulle in Casablanca getroffen; im März war er mit Eden in Washington zusammengekommen; im Mai traf er Churchill und die beiden Generalstäbe; und Churchill, Marshall und Eisenhower würden in Algier Ende Mai konferieren. Sie ließen auch im Sommer nicht nach: Roosevelt und Churchill und ihre Mitarbeiter würden Ende August noch einmal in Quebec zusammenkommen und dann ein weiteres Mal im September im Weißen

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Haus. Danach sollten diese Treffen globaleres Ausmaß annehmen: Roosevelt und Churchill würden natürlich Mitte November nach Kairo fliegen; und Roosevelt, Churchill und Stalin sollten sich dann zum denkwürdigen Gipfel Ende November in Teheran treffen; und schließlich begegneten sich Roosevelt und Churchill ein weiteres Mal in Kairo, diesmal Anfang Dezember. Ganz egal wie anstrengend diese weiten Reisen waren, Roosevelt spürte innerlich den Triumph und blickte voraus, grübelte über die übergeordneten Fragen der historischen Dokumentation. Er schrieb einem guten Freund, dem Bibliothekar des Kongresses und bekannten Dichter, Archibald MacLeish, jemand möge die Geschichte des weltumspannenden Kampfes aufzeichnen, um „den öffentlichen Puls, wie er jeden Tag schlägt, […] den Prozess der Propaganda – die Rolle, die Zeitungsmogule spielen“, genau wiederzugeben.53 Er fuhr fort: „Hier geht es nicht um trockene Geschichte oder das Katalogisieren von Büchern und Papieren und Berichten. Es geht darum, einen großen Traum einzufangen, bevor er vergeht.“ Als die Trident-Konferenz jedoch am 12. Mai 1943 in Washington begann, trat die Geschichtsschreibung wieder in den Hintergrund und ließ der Militärpolitik und der Invasion Italiens den Vortritt. Zwei Wochen lang stritten Roosevelt und Churchill über die Strategie – vor allem über das Timing der Invasion über den Ärmelkanal.54 Es war wie bei der Konferenz in Casablanca: Die alten Argumente wurden wieder hervorgeholt, alte Vorlieben aufgezählt. Roosevelt und seine Mitarbeiter brannten darauf, eine große Streitmacht in England aufzubauen und dann mit einem Angriff durch Frankreich hindurch Deutschland selbst zu treffen. Churchill und seine Militärberater wollten weiter Druck vom Mittelmeerraum aus aufbauen, Italien aus dem Krieg herausdrängen und sich dann ihren Weg nach Deutschland bahnen durch das, was sie Europas „weichen Unterbauch“ nannten. Die Debatten waren heftig und häufig beißend. Bei einer Gelegenheit rang ein verzweifelter Churchill die Hände und stöhnte, dass Roosevelt sich einer Landung in Italien widersetze, sei „äußerst entmutigend.“ Beide Alternativen hatten ihre Vorzüge, doch für das US-Oberkommando blieb ausschlaggebend, dass Italien ihnen wie ein Weg ins Nirgendwo, ein teurer Nebenschauplatz erschien. In ihren Augen folgte eine Operation in Italien bloß der vagen Hoffnung, Deutschland dadurch zu zermürben. Selbst im besten Falle einer Eroberung Italiens müssten die alliierten Armeen die Alpen überwinden, um nach Deutschland zu gelangen, was, so die Argumente der Amerikaner, Ressourcen vergeude: Mit seiner zerklüfteten Landschaft, dem harschen Klima und den gefährlichen Bergpässen sei Norditalien schlechtes

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Terrain für eine Offensive. Am Ende würde dies den alliierten Truppen mehr zusetzen als Kesselrings deutsche Divisionen. Dabei stand die Invasion Italiens durch die massive Präsenz der Streitkräfte in Nordafrika schon so gut wie fest. Eine Invasion Frankreichs hingegen wäre nicht vor dem Frühling 1944 zu wagen – das war selbst Roosevelt klar –, weshalb es unsinnig schien, die gigantische Kriegsmaschinerie der Alliierten zunächst zurück nach Großbritannien zu verlegen, während Italien wie eine erntereife Frucht in Reichweite lag. Sollten sich die Alliierten nicht in Richtung Sizilien und Italien bewegen, käme es zu einer Situation, wie man sie 1942 bereits erlebt hatte, nur auf einem anderen Kontinent: Sie würden den Rest des Jahres 1943 aussitzen müssen und könnten auch einen Großteil von 1944 nichts anderes tun, als „weiche“ Ziele – die deutschen Städte und Zivilisten – und „harte“ Ziele – etwa Kautschuk- und Ölanlagen – zu bombardieren. Der Angriff hatte noch weitere Vorteile. In Italien könnten Luftwaffenstützpunkte errichtet werden, von denen aus Ziele auf dem Balkan und in Polen zu erreichen waren, darunter etliche für die Deutschen kriegswichtige Fabriken. Und nicht zuletzt ging es um die Kampfmoral, auf die sich Roosevelt besser verstand als jeder andere: Italien war die natürliche Verlängerung von Nordafrika. Ein Italien-Feldzug 1943 würde zeigen, dass die USA und Großbritannien endlich auch auf dem Kontinent angriffen und somit die Befreiung nur noch eine Frage der Zeit wäre. In Anbetracht der festgefahrenen Verhandlungen bemühte sich Roosevelt besonders um Churchill, den er mit zum waldreichen Rückzugsort des Präsidenten in den Catoctin Mountains nahm, nach Shangri-La. Dort verbrachte Roosevelt ein paar Stunden mit seiner Briefmarkensammlung, und früh am nächsten Morgen lud er Churchill zu einem entspannenden Angelausflug in der Nähe ein. Diese Aktivitäten hoben zwar sowohl Roosevelts als auch Churchills Stimmung, doch strategisch kamen sie keinen Schritt weiter. In den folgenden Tagen marschierte Churchill in seinem Zimmer auf und ab, arbeitete nachts und schlief tagsüber und regte sich ununterbrochen auf, bis er kurz davorstand, abzureisen. Doch plötzlich, kurz vor dem Ende der Konferenz, einigten sich Roosevelt und Churchill auf einen Kompromiss. Churchill gestand zähneknirschend zu, dass die Invasion Frankreichs – „Operation Overlord“ – der Schwerpunkt sein würde und nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden konnte. Ein Stichtag, der 1. Mai 1944, wurde festgesetzt. Das bedeutete, dass die militärische Aufrüstung in Großbritannien für den großen Angriff deutlich beschleunigt werden musste. Roosevelt wiederum sagte zu, gegen Italien zu ziehen, unter der Voraussetzung, dass dazu nur die Einheiten eingesetzt

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würden, die sich ohnehin schon im Mittelmeerraum befanden – auf diese Weise würde Italien nicht von den Vorbereitungen der Invasion über den Ärmelkanal ablenken. Sobald Sizilien gefallen war, sollten zudem sieben Divisionen schnell aus dem Mittelmeerraum in Richtung Frankreich verlegt werden. Nachdem Churchill am 27.  Mai 1943 abgereist war, fuhr Roosevelt nach Hyde Park, um sich zu erholen und vor allem endlich auszuschlafen, was dringend nötig war. Mit mindestens zwei ernsthaften Erkrankungen in diesem Jahr sollte er noch zu kämpfen haben. Die erste nannte er „Gambia-Fieber oder irgend so ein ähnliches Problem“,55 von dem er Churchill gegenüber behauptete, er habe es sich in dessen „Höllenloch namens Bathurst“ zugezogen. Die zweite tat er als nichtiges Ärgernis ab und prahlte nach seiner Genesung, er fühle sich wieder angriffslustig wie ein „Kampfhahn“. Doch das war bloßes Wunschdenken. Es kamen noch mehr Krankheiten auf ihn zu. Militärisch kamen die Dinge nun ins Rollen. Endlich begann die Offensive in Italien. Tagelang strömten die alliierten Streitkräfte aus den Häfen von Bengasi, Tripolis, Haifa und Beirut. Dann begannen die Bombardierungen von Sizilien, um die Abwehr des Gegners zu schwächen. Der Wind hingegen nahm bis Sonnenaufgang an Stärke nur noch zu. Dennoch begann die Invasion Siziliens am 10. Juli 1943. Am ersten Tag erreichten 175 000 Soldaten die Strände, nachdem sie mutig einem Wind getrotzt hatten, der mit 75 Stundenkilometern blies. Nach zwei Tagen standen 500 000 Mann – dazu Panzer und Landungsfahrzeuge – auf der Insel, wo sie sich 60 000 überrumpelten Deutschen gegenübersahen. Nach seinen Siegen in Nordafrika war die erfahrene 8. Armee des britischen Generals Bernard Montgomery nun die Speerspitze des Angriffs, die auf die Ostküste der Insel zielte. Dort eroberte sie rasch eine antike Kostbarkeit, das alte Syrakus, und stürzte sich anschließend in die weite und wichtige Ebene von Catania. Die Deutschen wehrten sich unter dem Kommando von Feldmarschall Kesselring verbissen. In der Zwischenzeit war die unermüdliche 7. Armee von General George Patton im Süden gelandet, wo sie Montgomerys linke Flanke schützen sollte. Diesen Befehl ignorierte Patton jedoch eigenwillig wie immer und wandte sich schonungslos gen Nordwesten, auf Palermo zu. Nichts konnte ihn aufhalten, weder Felskämme noch schlammige Täler und schon gar nicht die italienischen Verteidiger, von denen sich die meisten ergaben oder nur

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schwache Gegenwehr leisteten. Tatsächlich drängten sich die Sizilianer auf ihren Balkonen, um die Invasoren begeistert zu begrüßen. Sie hängten weiße Fahnen aus den Fenstern und reichten den Soldaten Körbe mit frischem Obst und Blumen. Mit den deutschen Truppen hingegen, der Elite der Wehrmacht, war nicht gut Kirschen essen. Sie zogen sich nur langsam zurück, zerstörten dabei Brücken, starteten verzweifelte Gegenangriffe und verschanzten sich auf jedem Hügel und jedem Fels. Am östlichsten Punkt der Insel befand sich ein strategisches Ziel: Messina. Während Montgomerys Männer es gegen heftigen Widerstand einnahmen, rückten die US-Truppen weiter vor. Auch die britischen und US-Ingenieure waren unschlagbar: Auf nahezu wundersame Weise gelang es ihnen, schwerste Ausrüstung über enge, primitive Straßen zu transportieren und tiefe Geländeeinschnitte zu überbrücken. Dann, am 17. Juli, begann bereits die psychologische Kriegsführung der Alliierten, indem sie aus Flugzeugen Flugblätter wie Konfetti auf die Straßen Roms und anderer ehemals faschistischer Städte abwarfen. Die Nachricht war von Roosevelt und Churchill unterzeichnet und sollte den Druck auf Italien erhöhen, sich von Hitler loszusagen. Das Flugblatt erklärte: „Mussolini hat euch in diesen Krieg getrieben als Anhängsel eines grausamen Zerstörers von Völkern und Freiheiten. Mussolini stürzte euch in einen Krieg, von dem er dachte, Hitler hätte ihn schon längst gewonnen. Trotz Italiens großer Verwundbarkeit […] schickten die faschistischen Führer eure Söhne […] zu weit entfernten Schlachtfeldern, wo sie Deutschland bei dem Versuch, England, Russland und die ganze Welt zu erobern, helfen sollten. […] Die Zeit ist gekommen, in der ihr entscheiden müsst, ob Italiener für Mussolini und Hitler sterben – oder für Italien und die Zivilisation leben sollen.“ Wie sich herausstellte, waren die Italiener nicht länger gewillt, für Mussolini oder Hitler zu sterben. Unter dem energischen Angriff der Alliierten war der Widerstand vieler Italiener ohnehin bereits gebrochen. In Städten überall im Land wurde zu Streiks und Unruhen aufgerufen, und schnell verlor auch Mussolini an Macht. Nur zwei Tage nach Abwurf der Flugblätter, am 19. Juli, während Montgomery und Patton durch Sizilien stürmten, traf sich der italienische Diktator mit Hitler in einer prächtigen Gutsvilla. Ein entrüsteter Hitler drängte darauf, Sizilien müsse ein „weiteres Stalingrad“ werden, doch der Große Faschistische Rat hatte genug. Noch vor Sonnenaufgang am Sonntag, dem 25. Juli, versammelte er sich für ein eiliges Treffen mit Mussolini, bei dem ihm auf dramatische Weise das Vertrauen entzogen wurde. Nur Stunden später berief Italiens König, Victor Emanuel III., Mussolini zu sich in den Palast und

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fuhr ihn wütend an: „In diesem Moment sind Sie der meist gehasste Mann Italiens. Die Soldaten möchten nicht mehr kämpfen.“ Als er die Audienz verließ, schwankte Mussolini. Prompt wurde er von Carabinieri – Italiens Nationalpolizei – verhaftet, in einen Krankenwagen gesteckt und in ein entlegenes Bergdorf in Mittelitalien gebracht, wo man ihn versteckte. Das schon lange demoralisierte italienische Volk jubelte befreit auf. Und nicht nur Italien jubelte. Als er die Nachricht von Mussolinis Verhaftung im Radio gehört hatte, brachte sich ein gut gelaunter Roosevelt vor einer Reihe von Mikrofonen im Empfangssaal der Diplomaten für sein erstes Kamingespräch seit Februar in Stellung. Um genau 21:25 Uhr begann seine Ansprache. „Der erste Riss in der Achse ist sichtbar geworden“, dröhnte er. „Das verbrecherische, korrupte faschistische Regime in Italien zerbricht. Die Seeräuberphilosophie der Faschisten und Nationalsozialisten hält keiner Gegenwehr stand.“ Mit militärischer Präzision stellte er dann die schier unglaubliche Produktionssteigerung der Demokratien im Vergleich zum Vorjahr heraus: 19 Millionen Tonnen Handelsware sei verschifft worden; Marineschiffe: 75 Prozent mehr; Munitionsproduktion: 83 Prozent höher; Flugzeuge: geschätzte 86 000 einsatzbereit, etwa doppelt so viele wie im Vorjahr. Er konnte nicht anders, als sich mit diesen Zahlen brüsten, doch klugerweise kühlte er seine Worte mit Realismus ab: „Die Pläne, die wir entworfen hatten, um Mussolini und seine Bande auszuschalten, haben zum größten Teil funktioniert. Doch wir müssen Hitler und Tōjō noch auf ihren eigenen Territorien besiegen. Und niemand von uns behauptet, dass dies eine einfache Angelegenheit sein wird.“ Was war mit Italien? „Unsere Bedingungen sind noch immer dieselben“, sagte er. „Wir wollen nichts zu tun haben mit dem Faschismus.“ Dann hob er zu seiner finalen Fanfare an, einer Antwort auf Goebbels ab­ struse Rede in Berlin über die Notwendigkeit eines totalen Krieges: „Wir müssen in diesen Krieg die gesamte Stärke und Intelligenz und Willenskraft der Vereinigten Staaten strömen lassen.“ In den folgenden Tagen beeilte Roosevelt sich, einen Keil zwischen Italien und Deutschland zu treiben. Sein Pragmatismus trat wieder deutlich zutage, als Roosevelt signalisierte, er sei bereit, eine Vereinbarung mit dem launischen neuen Premierminister Italiens, Feldmarschall Pietro Badoglio, zu treffen, einer Figur im Formate Darlans, der bereits Geheimverhandlungen mit den Alliierten in Spanien und Portugal geführt hatte. Indem er frühere Äußerungen über bedingungslose Kapitulationen beiseite ließ, deutete Roosevelt an, man

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könne das italienische Volk bevorzugt behandeln. Am 30. Juli erklärte er der Presse: „Mir ist es gleich, mit wem wir in Italien verhandeln, solange er kein festes Mitglied einer faschistischen Regierung ist, solange wir sie dazu bewegen können, ihre Waffen niederzulegen und solange wir keine Anarchie bekommen.“56 Er unterstrich seinen Wunsch, einen Separatfrieden abzuschließen und die Deutschen bluten zu lassen, und hatte die Gefühle seiner italienischstämmigen Wählerschaft im Hinterkopf, als er hinzufügte: „Es spielt keine Rolle, ob er ein König oder ein amtierender Premierminister ist, er kann auch der Bürgermeister einer Stadt oder eines Dorfes sein.“ Das sollte er bald herausfinden. Noch vor Sonnenaufgang strömten am 3. September 1943 britische Soldaten auf das italienische Festland, und Roosevelts Spiel zahlte sich – für den Moment – aus. In einem Olivenhain bei Syrakus wechselte die neue italienische Regierung das Lager und erklärte NS-Deutschland den Krieg. Dann floh sie voller Panik aus Rom. Das „Dritte Reich“ übte umgehend Rache: Hitler zeigte sich zornig über das italienische Doppelspiel und schickte 16 kampferprobte Divisionen in das Herz Italiens. Bald hatten sie den Brenner-Pass überquert und genauso schnell Rom eingekreist. In einem wagemutigen Überfall auf das Bergdorf in den Abruzzen entführten rund 90 deutsche Fallschirmjäger und Angehörige der Waffen-SS Mussolini und setzten ihn wieder in seine Ämter ein. Rom war nun belagert, und die italienische Armee war desertiert. Währenddessen plünderten die Deutschen die Goldreserven Italiens, und Kesselring gab bekannt, das Land stehe unter deutscher Kontrolle. Im selben Augenblick begann auch dort die systematische Verfolgung der Juden. Sechs Tage später schlugen die Alliierten erneut zu. Am 9. September bot sich auf den schimmernden Stränden Salernos ein erstaunlicher Anblick: Amerikanische und britische Truppen gingen in großen Scharen an Land – eigentlich waren die US-Truppen bereits in der Nacht angekommen – und machten sich auf den Weg nach Neapel. Im Umkreis des Strandkopfs hatten die Deutschen eine starke Verteidigung aufgebaut: Dunkler Rauch lag über allem, und die Amerikaner mussten sich gegen Panzerbeschuss und schwere Artillerie wehren. Großspurig verhöhnten die Wehrmachtssoldaten unterdessen über Lautsprecher die alliierten Truppen auf Englisch. Kesselring bot bei seinem Gegenangriff zähen Widerstand auf – um ein Haar wäre es ihm sogar gelungen, die 5. US-Armee in zwei Hälften zu spalten –, während Rommel entsandt wurde, die Verteidigung in Norditalien zu organisieren. Doch obwohl Radio Berlin prahlerisch von einem neuen Dünkirchen sprach, gelang es den alliierten Truppen am 1.  Oktober, die Kontrolle über

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­ eapel zu gewinnen. Die Deutschen waren gezwungen, sich demütigend N schnell zurückzuziehen. Von hier aus marschierten die Amerikaner und die Briten los, über schmale Straßen, raues Terrain und verwitterte Städtchen hinweg in Richtung Rom und Toskana. Und mit jedem langsamen, blutigen Meter, den sie gen Norden zurücklegten – Italien hatte einen seiner strengsten Winter seit mehr als 20 Jahren hinter sich –, rückten die Alliierten auch näher an die Möglichkeit heran, mit der Invasion in Frankreich eine weitere Front zu eröffnen. Und noch mehr Erfolge waren zu verzeichnen: Die Alliierten eroberten den unschätzbar wertvollen Flughafen von Foggia, was sie nicht nur der Herrschaft in der Luft näher brachte, sondern auch für die Truppen am Boden mehr Deckung bedeutete. Und der Flughafen ermöglichte es ihnen, mit schweren Bombern in den Balkan, nach Österreich, ja sogar bis nach Polen zu kommen. Auschwitz lag jetzt nur noch etwa 1000 Kilometer entfernt.

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„Die Duldung des Judenmordes durch diese Regierung“ Inmitten von Gipfeltreffen und Diskussionen über die Kriegsstrategie, ernüchternden Berichten über die Front, Streitereien der Alliierten sowie andauernden Problemen im Heimatland bewahrte Roosevelt stoische Gelassenheit. Natürlich gab es Momente, in denen der Krieg an seiner legendären Geduld zerrte. „Ich bekomme so viele sich widersprechende Empfehlungen“, gestand er einmal, „dass mein Kopf zerbricht.“1 Es verging weder ein Tag, an dem ihn nicht grauenhafte Berichte über blutige und verlustreiche Schlachten erreichten, noch blieb es ihm auch nur einen Tag erspart, von seinen verletzten, getöteten oder in Gefangenschaft geratenen Männern zu lesen. Im Alter von 62 Jahren, und nach den unaufhörlichen Komplikationen von drei Kriegsjahren, überkam ihn hin und wieder Lethargie, er litt an Kurzatmigkeit, hatte Herzrhythmusstörungen oder fing sich eine Grippe ein, die ihn einschränkte. Für das amerikanische Volk jedoch wirkte er meist unbezwingbar. Seine Energie oder vielmehr seine Entschlusskraft wankte nicht. Er zeigte wie immer ein breites Lächeln und das einnehmende Neigen des Kopfes. Sein herzliches Lachen war zu hören, und er plauderte gern, als sorgte er sich um nichts in der Welt. Und zu seiner rituellen Cocktail-Stunde war er stets guter Laune. Selbstverständlich musste er dennoch auf einige seiner geliebten Zerstreuungen verzichten. Hatte er bisher die letzten Stunden vor dem Schlafengehen mit seiner Briefmarkensammlung verbracht, war er nun von Mitarbeitern und einem Berg von Dokumenten umgeben, der niemals kleiner zu werden schien – Memoranden, Geheimpapiere, Beschwerden der Mannschaften, Briefe aus der Bevölkerung – an manchen Tagen bis zu 4000, und der Nachschub riss nie ab. Auf seine eigene Art war er ein unermüdlicher Arbeiter, doch darüber hinaus war er vor allem ein unheilbarer Charmeur. An manchen Tagen schien er sich einfach selbst im Rampenlicht zu feiern, doch seine politische Führungsstärke war unbestreitbar, und niemand stellte sein Engagement für das amerikanische Volk infrage.

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Wie hielt er durch? Zum einen schlug das Pendel des Kriegsglücks immer deutlicher zu seinen Gunsten aus. Die Nachrichten von den Fronten wurden immer positiver, und heftige Bombardements der Alliierten auf Deutschland hatten mit aller Macht begonnen: Tagsüber griffen die US-Flugzeuge deutsche Städte an, nachts setzten die Briten die Zerstörungen fort. Zum anderen fand Roosevelt immer einen Weg, um sich zu entspannen. So waren während seiner geliebten Cocktail-Stunde die Themen „Politik“ und „Krieg“ strikt verboten. Er sah sich möglichst häufig Filme an, und er liebte Kartenspiele, vor allem wenn er gewann. So oft es ging, ließ er in seinem Terminkalender Lücken für sich selbst. Hatte er das Gefühl, es sei notwendig – und das hatte er häufig –, dann zog er sich für ein Wochenende nach Hyde Park zurück, wo er lange schlief, jede Arbeit bis in den Nachmittag hinauszögerte und Rundfahrten durch die Landschaft unternahm, deren Anblick ihn erhaben stimmte. Doch dann kam es zu einer Massenkundgebung für die europäischen Juden in New York City, einem Treffen mit Stephen Wise sowie am 28. Juli zu einem stundenlangen Gespräch mit dem polnischen Untergrundkämpfer Jan Karski, den er im Oval Office traf. Manchmal erweisen sich Illusionen als äußerst hartnäckig, und so war es auch im Fall der Illusionen, die sich die Welt bezüglich der Juden und ihrer Zwangslage machte. Doch nun wurden ihr diese ein für alle Mal geraubt. Ende Juli waren Anhänger des humanitären Gedankens derart angewidert von der Ergebnislosigkeit der Bermuda-Konferenz, dass sie die Dinge nun selbst in die Hand nehmen wollten. Drei lange Tage hindurch diskutierten 1500 Menschen im Hotel Commodore in Manhattan ein Programm, dessen Maßnahmen den Juden helfen sollten, die im NS-besetzten Europa noch überlebt hatten. Bislang war Stephen Wise die Triebkraft hinter solchen Bemühungen gewesen, nun aber hatte Peter Bergson dieses Treffen arrangiert. Eine lange Reihe beeindruckender Redner, Juden wie Nicht-Juden und aus allen gesellschaftlichen Sphären und politischen Lagern, trat auf die Rednerbühne. Unter ihnen war auch der Bürgermeister der Stadt New York, Fiorello LaGuardia, der leidenschaftlich tobte. Auch anerkannte Publizisten wie Max Lerner und Schriftsteller wie Dorothy Parker hielten eloquente und schneidende Reden. Sogar der ehemalige Präsident Herbert Hoover war per Telefon zugeschaltet. Wie so häufig wartete Präsident Roosevelt die Krise ab, bevor er handelte. Durch die öffentliche Meinung unter Druck gesetzt, schickte er eine Botschaft,

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die am Ende der Konferenz verlesen werden sollte. Doch seine Versprechungen waren, so erinnerte sich Doris Kearns Goodwin, „vage“ und „unverbindlich“.2 Er erinnerte an „wiederholte Anstrengungen“ seiner Regierung, die europäischen Juden zu retten – die Konferenzteilnehmer wussten es besser. Er versprach zudem, die Bemühungen der Regierung würden „nicht nachlassen, bis die Macht der Nationalsozialisten für immer zerstört“ sei. Doch die Delegierten fragten sich, worin diese Bemühungen bestanden und ob überhaupt noch Juden am Leben wären, wenn das NS-Regime endlich besiegt würde. Eleanor Roosevelt, die in der Vergangenheit stets mitfühlend gewesen war, übersandte der Notstandskonferenz ebenfalls eine Nachricht, doch dieses Mal lag sie mit ihrer Botschaft daneben. Sie betonte, wie froh sie sei, „irgendwie“ helfen zu können, sie wüsste nur nicht genau, welche konkreten Maßnahmen durchgeführt werden könnten. Dann bot sie eine Auswahl jener ausgeleierten Phrasen an, die auch das Außenministerium so oft verwendete: Das amerikanische Volk sei, beteuerte sie, „schockiert und erschrocken“ über die Verbrechen der Achsenmächte an den Juden und bereit, alles zu tun, was in seiner Macht stünde, um „das Leiden des jüdischen Volkes in Europa zu lindern und den Juden zu helfen, sich in anderen Teilen der Welt wieder anzusiedeln, sollte es möglich sein, sie zu evakuieren“.3 Aber es gab durchaus konkrete Maßnahmen, die sofort hätten umgesetzt werden können und welche die militärischen Anstrengungen der Alliierten keineswegs behindert hätten. Während der drei langen, heißen Tage präsentierte jeder dieser Anwälte für die Rettung der Juden solche in minutiösen Details. Bürgermeister LaGuardia etwa wies darauf hin, dass es längst an der Zeit sei, dass die USA ihre Tore für eine größere Zahl von Immigranten öffneten. „Unsere eigene Regierung kann doch nicht andere Nationen auffordern, die Initiative zu ergreifen, bevor sie selbst aktiv geworden ist“, sagte er. Ganz grundsätzlich unterstrichen die meisten Redner das Bedürfnis nach einer speziellen Regierungsbehörde, die nur den Auftrag haben sollte, Juden zu retten. Diese Behörde müsste für den Abbau der Bürokratie sorgen, politisch Muskeln spielen lassen und die notwendigen Risiken eingehen. Der ehemalige Präsident Hoover schaltete sich ein und wies darauf hin, dass noch weitere Anstrengungen nötig seien: Fürs Erste müssten die Alliierten jenen Juden, denen es gelungen war, auf neutrales Territorium zu gelangen, Schutz bieten. So müssten weitere Aufnahmelager für Flüchtlinge in neutralen Ländern errichtet werden. Außerdem sollte versucht werden, die Satellitenstaaten der Achsenmächte dazu zu bewegen, keine Juden mehr zu deportieren. Die Konferenzteilnehmer regten weiterhin an, die Politik im Nahen Osten anzugehen und mit Druck auf

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das britisch kontrollierte Palästina zu erreichen, dass dort mehr Juden aufgenommen würden. Zum Schluss organisierte sich die Konferenz selbst um und richtete sich als Emergency Committee (Notstandskomitee) ein. Der Vorsitzende, Peter Bergson, traf sich im August privat mit Eleanor Roosevelt. Sein bewegender Appell für das jüdische Volk hinterließ bei der First Lady einen unauslöschlichen Eindruck. Am nächsten Morgen, dem 8. August 1943 schrieb sie in ihrer Kolumne „My Day“: „Der Anteil der Ermordeten liegt weit höher als die Zahl der Gefallenen aufseiten der Vereinten Nationen. Ich weiß nicht, was wir tun können, um die Juden in Europa zu retten und ihnen eine Heimat zu beschaffen. Aber ich weiß, dass wir Leidtragende sein werden, wenn wir dieses große Übel zulassen, ohne uns selbst dafür einzusetzen, dass es beendet wird.“ Was sie nicht tat, war zu konkreten Maßnahmen aufzurufen, doch immerhin reichte sie an ihren Mann einen Brief von Bergson weiter, der betonte, wie wichtig es sei, eine spezielle Regierungsbehörde für die Rettung der Juden einzurichten. Doch der mit anderen Dinge beschäftigte Roosevelt zeigte sich unbeeindruckt. Er kritzelte eine Nachricht für Eleanor: „Ich glaube nicht, dass dies jetzt einer Antwort bedarf. FDR.“4 Doch für die Juden hieß es jetzt oder nie, was auch an jenem 28. Juli 1943 deutlich wurde, als Präsident Roosevelt sich mit Jan Karski traf, einem 32-jährigen Führer des polnischen Untergrunds, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um über die entsetzlichen Ereignisse berichten zu können, die sich in Polen abspielten. Karski war gepflegt und gutaussehend, kannte keine Angst und verfügte über ein fotografisches Gedächtnis. Als er im Krieg von der Gestapo verhaftet und fast zu Tode gefoltert worden war, hatte er sich selbst die Pulsadern aufgeschlitzt, um keine Geheimnisse zu verraten, war jedoch von einem polnischen Kommando befreit worden. Nun arbeitete Jan Karski, der fließend Deutsch sprach, mit jüdischen Führern zusammen und hatte dabei die gewaltige Aufgabe übernommen, als Augenzeuge von den jüdischen Ghettos und den Vernichtungslagern zu berichten. Zunächst ließ er sich, mit zerlumpten Kleidern und blauem Davidstern auf der Armbinde getarnt, ins Warschauer Ghetto schmuggeln, wo es kaum einen Quadratmeter freien Raum gab, die Menschen sich ihren Weg durch Schlamm und Schotter bahnen mussten und wo die Hitlerjugend zum schieren Vergnügen Juden jagte.5 Später betrat er,

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dieses Mal als estnischer Milizionär verkleidet, ein Lager etwa 150 Kilometer östlich von Warschau, welches er für das Konzentrationslager Belzec hielt, doch vermutlich handelte es sich dabei um ein Übergangslager in Izbica. Er hatte aus früheren Berichten erfahren, dass ausnahmslos jeder Jude, der abtransportiert wurde, dem Tode geweiht war, sich jedoch gefragt, wie das möglich war. Also hatte er sich auf den Weg gemacht, es selbst herauszufinden. Nachdem er nun die Grausamkeiten mit eigenen Augen gesehen hatte, unternahm er eine qualvolle Reise per Zug durch Europa, von Warschau über Berlin nach Vichy, dann nach Paris, nach Spanien und endlich nach London. Mit sich führte er im Schaft eines einfachen Haustürschlüssels auch einen Mikrofilm, der zahlreiche Informationen des polnischen Widerstands enthielt. Seine Beobachtungen waren schockierend. Karski zeigte sich erschüttert, dass man sogar noch mehr als einen Kilometer vom Lager entfernt schreckliche „Rufe“, „Schüsse“ und „Schreie“ hören konnte. Im Lager selbst sah er Chaos, Elend und die „Grässlichkeit des Ganzen“. Er beobachtete ältere Juden, die schlotternd und schweigend, bewegungslos und völlig nackt auf dem Boden saßen. Er beobachtete kleine Kinder, die in ein paar Lumpen gekleidet, niedergekauert und völlig allein mit „großen, angsterfüllten Augen“ aufsahen. Er beobachtete, wie in jeder Nacht 2000 bis 3000 entseelte, ausgemergelte Juden gezwungen wurden, bei kaltem, rauem und nassem Wetter draußen zu schlafen. Er sah zu, wie die Deutschen je 130 wehklagende Juden unter Schlägen und Schüssen in Frachtwaggons zwängten, in denen sonst höchstens 40 Soldaten transportiert wurden – insgesamt 46 Waggons. Er sah zu, wie die Menschen mit Branntkalk erstickt wurden und qualvoll starben, während sich das dicke, weiße Pulver in ihr Fleisch fraß. In gewisser Weise hoffte der Pole Jan Karski, nun das zu beenden, was der Deutsche Eduard Schulte bereits versucht hatte – die USA zum Eingreifen zu bewegen. Karski verstand gut, dass es für viele Amerikaner zunächst kaum verständlich sein würde, welches Ausmaß und welche Grausamkeit Hitlers Bemühungen zur Auslöschung der Juden angenommen hatten. Selbst Felix Frankfurter, Richter am Obersten Gerichtshof und selbst Jude, war davon überwältigt und vermochte kaum zu glauben, was Karski ihm berichtete. Karski notierte später: „Ich weiß, dass mir viele Menschen nicht glauben werden, doch ich habe es gesehen, und es ist nicht übertrieben. Ich habe keine anderen Beweise, keine Fotografien. Alles was ich sagen kann ist, dass ich es gesehen haben und es die Wahrheit ist.“ Deutlich wurde auf jeden Fall, dass es hier nicht nur um sogenannte „Kollateralschäden“ ging, ein bedauerliches Nebenprodukt der Kriegs-

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verwüstungen, wie es das Außenministerium mehrfach angedeutet hatte. Und als Roosevelt wissen wollte, ob die veröffentlichten Berichte über die Anzahl der getöteten Juden der Wahrheit entsprächen, antwortete Karski: „Ich bin überzeugt, dass es keine Übertreibung gibt bei der Darstellung des Leids der Juden. Unsere Untergrundorganisation ist absolut sicher, dass die Deutschen darauf aus sind, die gesamte jüdische Bevölkerung in Europa auszulöschen.“ Er informierte Roosevelt, dass 1,8 Millionen polnische Juden niedergemetzelt worden seien, und dass es in wenigen Monaten keine jüdische Bevölkerung in Polen mehr geben würde, wenn die Alliierten nicht eingriffen. Was getan werden könnte? Karski schlug dieselbe Politik vor, die bereits Schulte angeregt hatte: Vergeltung üben an deutschen Zivilisten, „wo immer man sie finden kann“. Roosevelt wollte Genaueres wissen über die Aktionen polnischer Partisanen und über die Moral der deutschen Soldaten. Karski hakte dann methodisch eine Liste der Konzentrationslager ab, nannte sie alle beim Namen, auch Auschwitz. Nach allem, was überliefert ist, war Roosevelt erschüttert von Karskis Augenzeugenbericht. Die beiden sprachen immerhin eine ganze Stunde miteinander – 30 Minuten länger als geplant. Cordell Hull räumte später ein, dass Roosevelt „vollständig absorbiert“ gewesen sei. Roosevelt bat Karski, dem polnischen Untergrund auszurichten: „Ihr habt einen Freund im Weißen Haus.“ Karski wiederum war von Roosevelts Inbrunst beeindruckt. Doch als Karski das Weiße Haus verließ, erläuterte der polnische Botschafter ihm, der Präsident habe nur die üblichen Plattitüden von sich gegeben.6 Hatten denn alle nur Plattitüden übrig? Zweifelsohne war der Präsident von der Aufgabe, den Krieg zu gewinnen und Hitler zu besiegen, völlig in Beschlag genommen. Nur widerstrebend ließ er zu, dass andere Dinge Zeit, Aufmerksamkeit oder Ressourcen von diesem Ziel abzogen. Doch ebenso zweifelsfrei steht fest, dass die US-Regierung, wenn von anderer Seite an die Mitmenschlichkeit appelliert wurde – etwa von nicht-jüdischen Flüchtlingen in Jugoslawien oder Griechenland – durchaus in der Lage war, Transportmöglichkeiten zu stellen und Lösungen zu finden. Auch ist daran zu erinnern, dass die erfolgreiche Invasion in Italien Roosevelt wie auch den Juden eine Reihe neuer, politisch und militärisch nicht ganz unproblematischer Möglichkeiten eröffnet hatte. Während sich die alliierten Soldaten durch Italien kämpften, war Roosevelt darauf bedacht, den Völkern

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des Mittelmeerraums tatkräftige Hilfe – oder zumindest stillschweigende Unterstützung – zukommen zu lassen. Darin hätte die Chance für eine konzertierte Bemühung der Antifaschisten gelegen, und hier lag auch das Dilemma. Die entsprechenden Nationen waren durchzogen von alten Feindschaften und unüberwindbaren Verdächtigungen – den Großmächten gegenüber, aber auch untereinander. Im Zentrum der Überlegungen stand Palästina, einst ein begehrter Zufluchtsort, zugleich aber auch ein diplomatischer Sumpf. Für die von den Nationalsozialisten bedrohten Juden gingen die Fluchtwege weniger Richtung Großbritannien und USA, sondern eher südostwärts über das Mittelmeer. Daher schien unter all den Möglichkeiten, die Roosevelt die Juden betreffend hatte, Palästina die hoffnungsvollste Zufluchtsstätte zu sein – in den alten Städten von Jerusalem, Haifa und Akkon. Dabei befürchtete er jedoch, dass solche Erwägungen Muslime in noch nicht befriedeten Ländern aufbringen und das Hauptziel eines raschen Sieges gefährden könnten. Im verzweifelten Bemühen, seine politische Unschuld zu wahren, versuchte Roosevelt immer wieder, es beiden Seiten recht zu machen. Seine Position war dadurch unbequem, prekär, schwierig und vermutlich unvermeidbar. Mal gab er Lippenbekenntnisse zum jüdischen Traum von einer Heimat in Palästina ab. Doch ganz ähnlich wie Lincoln, der noch bis 1862 immer wieder darüber nachgedacht hatte, die Schwarzen in den USA nach Haiti oder Afrika umzusiedeln, flirtete auch Roosevelt mit der Idee, die Juden an weiter entfernten Orten wie Kamerun und später auch Paraguay und noch später Angola in portugiesisch Westafrika anzusiedeln. Bei Lincoln, rund ein Jahrhundert früher, war diese Politik ebenso zum Scheitern verurteilt gewesen, wie sie jetzt bei Roosevelt zum Scheitern verurteilt war. Als sich das Jahr 1942 dem Ende zuneigte, dachte Roosevelt noch einmal über Palästina nach. „Was ich, glaube ich, tun würde“, erklärte er Morgenthau, „wäre wohl dies: Zunächst würde ich Palästina zu einem religiösen Staat erklären. Dann würde ich Jerusalem so lassen, wie es ist, es also durch die griechisch-orthodoxe Kirche, die Protestanten und die Juden organisieren lassen – es von einem gemeinsamen Komitee leiten lassen. […] Ich würde tatsächlich einen Stacheldraht um ganz Palästina ziehen.“ Energisch fuhr Roosevelt fort: „Ich würde den Arabern in einem andern Teil des Nahen Ostens Land zur Verfügung stellen. […] Jedes Mal, wenn wir einen Araber hinausbringen würden, könnten wir eine weitere jüdische Familie hineinbringen. […] Aber ich möchte nicht mehr hineinbringen, als sie wirtschaftlich tragen können.“7

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Im Jahr 1943 war dies jedoch nur Gerede. Denn wann immer Roosevelt zionistische Delegationen empfing, wie im Juni 1943 Chaim Weizmann, kam es in Saudi-Arabien, Syrien und Ägypten zu heftigen Reaktionen. Ebenfalls 1943 bemühte Roosevelt sich, jüdische und arabische Führer zu einem gemeinsamen Treffen zu bewegen, doch der saudische König Abd al-Aziz ibn Saud weigerte sich ebenso zu kooperieren, wie sich auch das US-Kriegsministerium zögerlich verhielt. Ende 1943 bastelte Roosevelt an einem neuen Konzept – ­einer Treuhänderschaft für Palästina, die es in ein anerkanntes heiliges Land verwandeln sollte, das von den drei großen Religionsgemeinschaften, Juden, Christen und Muslimen, verwaltet wurde. Doch die Idee erwies sich als undurchführbar. Roosevelt wird mit dem Satz zitiert, er habe niemals das britische Weißbuch für Palästina von 1939 gutgeheißen, das die jüdische Immigration dorthin einschränkte. Doch jedes Mal, wenn er vor die Wahl gestellt wurde zwischen Stabilität im Nahen Osten auf der einen und der Rettung der Juden auf der anderen Seite, entschied er sich für die Stabilität. So sah das furchtbare Kalkül des globalen Kampfes aus, und so blieb man in der erbärmlichen Sackgasse stecken, in einer Situation, die durch andauernde Kleinkriege und endlose Verzögerungen gekennzeichnet war, während die Todesmaschinerie der Nationalsozialisten unbehindert weiterlief. Um die bedrückende Feststellung, welche die Herausgeber der New Republic am 30. August in ihrer Zeitung trafen, kam deshalb niemand mehr herum: „Dass die demokratischen Mächte keinen ernsthaften und entschlossenen Versuch unternehmen, den Massenmord einzudämmen, ist eine der großen Tragödien der menschlichen Zivilisation.“ Sie fuhren fort: „Der Mangel an moralischem Format, der unsere Staatsmänner lähmt, verrät sich nirgendwo deutlicher als in der mittlerweile gängigen Formulierung, nur der militärische Sieg werde die Juden Europas retten.“ Und dann stellten sie unverblümt die Frage: „Wird es dann noch Juden in Europa geben, die diesen Sieg feiern können?“8 Einer zumindest hoffte, dass es so sein würde – der nimmermüde Gerhart Riegner in der Schweiz. Im Frühling hatte er an einer „großen Rettungsaktion“ für Juden aus Rumänien und Frankreich gearbeitet, und nun taten sich mehrere bedeutsame, wenn auch kleine Gelegenheiten auf. In Rumänien bestand die Hoffnung, dass Kinder nach Palästina in Sicherheit gebracht werden konnten, „wenn es die Finanzen erlaubten“. Zudem war es möglich, Juden in Transnistrien Lebensmittel, Medizin und andere Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen,

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eben jenen 70 000 Juden, die Rumänien zuvor für die schlappe Summe von 170 000 Dollar hatte freilassen wollen. Zur selben Zeit ergab sich eine Möglichkeit in Frankreich, von wo unter Hochdruck massenhafte Deportationen durchgeführt wurden und Viehwaggons voller Juden abfuhren. Hier dachte Riegner über eine riskante Rettung von jüdischen Kindern nach, die derzeit in sicheren Häusern und anderen Verstecken untergebracht waren. Es wurden Pläne aufgestellt, sie nach Spanien in Sicherheit zu bringen. In beiden Fällen stellten amerikanische jüdische Organisationen das Geld für die Bemühungen bereit und nicht etwa die Regierung. Und zu keiner Zeit würde das Geld in Gebiete gelangen, die zu den Achsenmächten gehörten. Die US-Regierung müsste nur die Zahlung gewährleisten, indem sie Gelder aus den USA auf Schweizer Bankkonten transferierte, von wo rumänische Offizielle sie nach dem Krieg abholen würden. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten verbrachte Stephen Wise elf Wochen damit, das US-Außenministerium dazu zu bewegen, Riegners Plan zuzustimmen – vergeblich. Zunächst behauptete das Außenministerium, der Plan sei zu vage. Dann sorgte es sich darum, das benötigte Geld könnte zur Bezahlung von Lösegeldern verwendet werden, was die Regierung nicht dulde. Und schließlich gab das Außenministerium zu, dass der wahre Grund für den Widerstand gegen einen großangelegten Rettungsplan nicht Sorge um ein mögliches Scheitern, sondern Sorge um ein mögliches Gelingen war: Gemäß Palästina-Weißbuch dürften nur 30 000 Immigranten einreisen, und das Ministerium gestand, dass es nicht wisse, „ob es andere Gebiete [gebe], in welche die übrigen Juden evakuiert werden könnten.“ Erst im Juni besprach das Außenministerium das Vorhaben endlich mit dem für derartige internationale Transaktionen zuständigen Finanzministerium. Fassungslos vernahmen die Vertreter des Finanzministeriums, welche Bedenken das Außenministerium hegte, aber sie reagierten schnell und g­ aben am 16. Juli zu verstehen, dass sie ihrerseits die Zahlung veranlassen würden. Dennoch blieb die amerikanische Politik aufgrund des widerwilligen Außenministeriums in ihrer erbärmlichen Sackgasse aus bürokratischem Kleinkrieg und diplomatischer Verschleppung stecken. Wise machte sich weiterhin Sorgen, konnte aber ein privates Treffen mit dem Präsidenten im Weißen Haus für den 22. Juli arrangieren. Er erklärte ihm seine Sicht auf den Plan und bemühte sich, die Ängste des Präsidenten, dieses Vorhaben könnte den weiteren Kriegsverlauf beeinflussen, auszuräumen. Wise mach-

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te ihm deutlich, dass die Gelder erst nach dem Krieg angezapft würden. Offenbar tief bewegt von Wises Bitte, genehmigte Roosevelt den Plan augenblicklich und sagte: „Stephen, warum fahren Sie nicht fort und machen es einfach?“ Als Wise sich besorgt zeigte, dass Morgenthau etwas dagegen haben könnte, rief der Präsident seinen Minister umgehend an: „Henry, das ist ein sehr faires Angebot, das Stephen für das Freikaufen der Juden macht“, begeisterte er sich. Morgen­ thau allerdings war zu diesem Zeitpunkt längst überzeugt.9 Drei Wochen später verfasste Roosevelt ein Erinnerungsschreiben, dass der Plan fertig zur Durchführung sei und nur noch wenige Details fehlten, die zwischen dem Außenministerium und der amerikanischen Botschaft in Bern zu klären seien. Doch dann kam es wieder wie so oft: Weitere sechseinhalb Wochen verzögerte das Außenministerium heimlich die Transaktion, sodass am Ende ganze acht Monate seit der ersten Anfrage vergangen waren. In diesem Zeitraum hatte sich Riegners Rettungsplan auf tragische Weise überholt: Adolf Eichmann hatte Rumänien derart unter Druck gesetzt, dass es das Angebot aufkündigte. Zwei Tage nach dem Gespräch zwischen Wise und Roosevelt begannen alliierte Flieger unter dem Namen „Operation Gomorrah“, Hamburg zu bombardieren, das am Ende der Luftangriffe am 3. August kaum mehr als eine brennende und rauchende Ruine war. Zehntausende deutscher Zivilisten starben bei diesen Angriffen auf die Hansestadt. In den Wochen zuvor war es Düsseldorf und Köln kaum besser ergangen, und auch auf das Ruhrgebiet, Berlin und die Ölfelder von Ploiești in Rumänien hatte es Angriffe gegeben, wobei Roosevelt Letztere begeistert als „sagenhaften Sieg“ bezeichnete. In einer Nachricht an den Kongress nutzte Roosevelt die Gelegenheit, sich mit beinahe jungenhafter Freude über Hitler lustig zu machen, so wie dieser sich zuvor über ihn lustig gemacht hatte: „Hitler […] hat zu Beginn geprahlt, er habe Europa in eine uneinnehmbare Festung verwandelt. Doch er vergaß, diese Festung mit einem Dach zu versehen. Die britischen und amerikanischen Luftstreitkräfte bombardieren diese dachlose Festung nun immer effektiver.“ Während die deutschen Verluste an der Heimatfront weiter anstiegen, war Joseph Goebbels gezwungen zuzugeben, dass die Offensive der Alliierten „eine Katastrophe bisher unvorstellbaren Ausmaßes“ war.10 Die Ziele der Alliierten waren vielfältig – und wurden immer zahlreicher: Ölraffinerien, Gummifabriken, Verkehrswege und Fahrzeuge, Kugellagerfabri-

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ken, Werften, Munitionslager, Dämme und Flugzeuge. Natürlich kam es dabei auch zu unbeabsichtigten Verlusten unter der deutschen Zivilbevölkerung. Roosevelt jedoch hegte deshalb keine Skrupel, auch wenn er sich beeilte festzuhalten, dass die USA zivile Ziele keineswegs „aus rein sadistischer Freude am Töten“ angriffen. Der Präsident hoffte durchaus, nicht nur das deutsche Militär zu schwächen, sondern auch die Moral des deutschen Volkes zu zerstören. Bei dem Gedanken jedoch, deutsche Ziele ausdrücklich als Vergeltung für den Mord an den Juden anzugreifen, zögerte er, während die Nationalsozialisten immer wieder betonten, sie liquidierten die Ghettos als Vergeltung für die alliierten Luftangriffe. Am 17.  August 1943 trafen sich Roosevelt und Churchill zum vierten Mal. Zunächst nippten sie in Hyde Park am Scotch und kosteten Hotdogs, dann konferierten sie offiziell in Québec (Stadt). Die Québec-Konferenz drehte sich vor allem um die bevorstehende Invasion in der Normandie. Der Präsident und der Premierminister besprachen die wesentlichen Logistikfragen der Kanalüberquerung. Sie tauschten sich über Landefahrzeuge, Benzin-Pipelines, bewegliche Häfen und die Tonnen von Material aus, die eingesetzt würden. Sie sprachen darüber, wer die „Operation Overlord“ leiten sollte und verständigten sich darauf, dass es ein Amerikaner sein würde. Und dann, da er bereits vorsichtig in die Zukunft schaute, sprach Roosevelt das Thema einer Kapitulation Hitlers an. Er wollte wissen, ob die Militärleitung Pläne vorbereitet habe für den Fall, dass Deutschland unerwartet zusammenbreche. Die Briten versicherten dem Präsidenten, diese Pläne lägen bereit, wenn sie gebraucht würden. Ein anderes Thema stand ebenso prominent auf der Tagesordnung in Québec: die Atombombe. Bereits im August 1939 hatten die berühmten Physiker Léo Szilárd und Albert Einstein in einem dringlichen Brief an Roosevelt von der Pionierarbeit durch Enrico Fermi und Szilárd selbst berichtet, die mit Uran forschten, und auf ein Atomwaffenprogramm gedrängt. Unter anderem betonten sie das außergewöhnliche Zerstörungspotential einer Kernschmelze und einer nuklearen Kettenreaktion und erklärten, es sei „denkbar – wenn auch wenig wahrscheinlich – , dass extrem mächtige Bomben eines neuen Typs gebaut werden“ könnten: Bomben, die so überwältigend wären, dass sie „ganze Häfen“ und deren Umgebung zerstören könnten. Auch dass die Nationalsozialisten womöglich bereits begonnen hätten, selbst an Atomwaffen zu bauen, blieb nicht unerwähnt. Der Brief war von Albert Einstein unterschrieben.

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Eine Atombombe im Waffenarsenal der Nationalsozialisten? Wenige Bemerkungen hätten noch alarmierender sein können. Aufgrund der Befürchtungen, das „Dritte Reich“ könnte als Erstes in den Besitz der Bombe gelangen, wurde der Fortschritt in der Waffentechnik – trotz aller Probleme, die er mit sich brachte – eines der obersten Gebote des Krieges. Roosevelt wurde aktiv und richtete umgehend ein Advisory Committee on Uranium (ein beratendes Komitee zur Uranforschung) ein, um das einst undenkbare Waffenprogramm weiter zu erforschen. Doch während rasch eine neue Generation konventioneller Waffen entwickelt wurde und von den amerikanischen Förderbändern lief – radargesteuerte Raketen, Amphibienpanzer, Bazookas, Granaten mit Abstandszünder, Napalm, das SCR-584 Radar – schienen jene Wissenschaftler, die an der Atombombe arbeiteten, schon früh auf verlorenem Posten: Die theoretischen Probleme waren für sich schon kompliziert genug, jene der praktischen Umsetzung umso mehr. Der anerkannte Wissenschaftler Niels Bohr verglich deshalb die Arbeit des Advisory Committee fast verzweifelt mit jener der „Alchemisten früherer Tage, die im Dunkeln tappten bei ihren vergeblichen Versuchen, Gold zu erschaffen“.11 Er übertrieb nicht. Die Briten hingegen waren recht optimistisch und fest überzeugt, dass eine funktionierende Bombe aus Uran-235 hergestellt werden könnte. Sie investierten große Summen in die Forschung und vermuteten, dass die ersten Waffen Ende 1943 einsatzbereit sein würden. Während Churchill deshalb in Großbritannien grünes Licht gab, zögerte Roosevelt, die Forschung in den USA noch auszuweiten. Doch mit dem Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA sollte sich das schlagartig ändern. Der Präsident kritzelte eine knappe Notiz für einen Berater auf das Briefpapier des Weißen Hauses: „Okay – wiederaufgenommen – Ich glaube, am besten behalten Sie dies in Ihrem eigenen Safe. – FDR.“ Damit bekam auch in den USA die Forschung an der Atombombe neue Dringlichkeit. Bald trafen die Briten in Washington mit einer glänzenden schwarzen Metallbox ein, die eine Menge wissenschaftlicher Geheimnisse enthielt, woraufhin die Amerikaner schnell Ämter und Personal umstrukturierten. Schließlich gründete der Präsident das National Defense Research Committee, dessen Mitglieder geachtete Wissenschaftler waren und nun eine umfassende Forschung zur Atomspaltung begannen. Unter Aufsicht der Armee war damit 1942 das „Manhattan-Projekt“ geboren, dessen Codename auf der Adresse des geheimen Hauptquartiers, einem unscheinbaren Gebäude, 270 Broadway, Manhattan, beruhte. Zeitgleich begann das United States Army Corps of Engineers mit dem Aufbau großer Forschungseinrichtungen, die wie

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aus einem Science Fiction wirkten: Atomstädte, die unter größter Geheimhaltung arbeiteten. Als der Kriegsminister Henry Stimson einmal zum Kapitol fuhr, um dort die Bereitstellung weiterer Mittel zu erbitten, unterbrach ihn Senator Sam Rayburn bloß und erklärte ihm, Stimson könne alles haben, er wolle aber gar nicht genau wissen wofür. Die Finanzierung des Projektes ging bestens im Gesamthaushalt des Kriegsministeriums unter. Unterschiedliche Pilotprogramme arbeiteten an unterschiedlichen Aspekten und Methoden der Kernspaltung – der Diffusion, dem Elektromagnetismus oder Schwerem Wasser. Im Metallurgischen Laboratorium der University of Chicago zermarterte Fermi sein Gehirn, um Plutonium zu gewinnen. Bei der Standard Oil Company arbeiteten gleichermaßen hartnäckige Physiker an der Zentrifugen-Methode. An der Columbia University ging Harold Urey einen anderen Weg und führte Versuche zum Gasdiffusionsverfahren durch. Allen Wissenschaftlern und Offiziellen war dabei permanent der große Zeitdruck bewusst, wollte man doch Hitler nicht den Vortritt lassen. Der Präsident von Harvard, James B.  Conant, kam zu der fürchterlichen Schlussfolgerung: Die Deutschen könnten den Alliierten etwa ein Jahr voraus sein. „Drei Monate Verzögerung“, grübelte er düster, „können tödlich sein.“12 Da Churchill voller Sorgen auf die andauernden Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien blickte, scheute er das Risiko, in seinem Land jene riesigen Anlagen bauen zu lassen, die für die Atomwaffenforschung benötigt wurden. Daher stimmte Roosevelt schließlich einer umfassenden Kooperation in den USA zu und machte mehrere zehn Millionen Dollar für die Forschungen im eigenen Land frei. Von nun an wurde die gesamte Forschung und Entwicklung in den USA durchgeführt, und die amerikanische Regierung gab jährlich fast zwei Milliarden Dollar für das „Manhattan-Projekt“ aus, bei dem rund 120 000 Menschen beschäftigt waren. Tatsächlich machten die Arbeiten an der Atombombe nun Fortschritte, und das Licht in den Laboratorien von Los Alamos, New Mexico, brannte stets bis tief in die Nacht. Deutschland hingegen entschloss sich 1942, sein eigenes Programm zurückzustellen und sich fortan auf seine viel gerühmten V1- und V2-Raketen zu konzentrieren. Albert Speer, der Reichsminister für Bewaffnung und Munition im „Dritten Reich“, hielt die Kosten für die Entwicklung der Atombombe für zu hoch und das Projekt an sich für zu risikoreich. Ohnehin zeigte Hitler, der arrogant wie immer, die Nuklearwissenschaft bereits als „jüdische Physik“ verspottet hatte, wenig Interesse an der Atombombe. Nun, während der Québec-Konferenz im Jahr 1943, erneuerten Churchill und Roosevelt ihren Entschluss, die Ergebnisse des „Manhattan-Projekts“ zu teilen: Sie würden sie beide unter Verschluss halten, und beide Seiten verzich-

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teten auf den Einsatz dieser furchtbaren Waffen, es sei denn, der jeweils andere hätte dem Einsatz zugestimmt. Tausende Wissenschaftler und Techniker arbeiteten zu diesem Zeitpunkt unter der Leitung von Robert Oppenheimer an den unzähligen Aspekten dieses riesigen Projekts weiter. Und am 30.  Dezember 1944 sollte Roosevelt schließlich einen Bericht erhalten, der versprach, die erste Bombe würde „um den 1.  August 1945“ fertig und hätte dann eine Sprengkraft, die jener von 10 000 Tonnen TNT entspräche. Hier, wie in so vielen anderen Aspekten des Krieges, hatten die Alliierten die Achsenmächte überflügelt. Dreieinhalb Monate waren vergangen, seit das Finanzministerium Schritte unternommen hatte, um mit dem Riegner-Plan rumänischen Juden zu helfen. Morgenthau hatte es damals eine „relativ einfache Angelegenheit“ genannt, nämlich über den amerikanischen Botschafter in der Schweiz eine Transaktion zu veranlassen. Erzürnt von etwas, das ihm vorkam wie ein Verrat des Außenministeriums, schrieb Morgenthau direkt an Cordell Hull, und auch John Pehle, der für Morgenthau die ausländischen Finanzgeschäfte verantwortlich kontrollierte, beschwerte sich über das Außenministerium: „Was für eine Art, diese Sache herumzuwirbeln. […] Plötzlich, wie aus dem Nichts, wollen sie es an das Intergovernmental Committee überweisen und dann wird wieder nichts passieren.“ Daraufhin mischte sich auch noch das britische Außenministerium ein und drückte seine Sorge aus, wie die rund „70 000 Flüchtlinge“, von denen Riegner in seinem Plan sprach, „abzufertigen“ seien. Inzwischen also sowohl mit Einwänden des US-Außenministeriums, als auch mit jenen des britischen Außenministeriums konfrontiert, reagierte Morgenthau mit der denkwürdigen Formulierung, hier walte „eine satanische Kombination aus britischer Gelassenheit und diplomatischer Zweideutigkeit, die sich kalt und korrekt zu einem Todesurteil“ summiere. Und zur Haltung des Außenministeriums notierte sich Morgenthaus Mitarbeiter Ansel Luxford: „Man erhält nur vorgefertigte Antworten, wenn man das Problem der Juden anspricht.“ Einerseits würden eine Million Gründe gefunden, warum man sie nicht aus Europa herausholen könne. Und wenn sich doch jemand wirklich in den Kopf gesetzt habe, sie herauszuholen, würde zehn Jahre lang hin und her überlegt, wie mit ihnen umzugehen sei.13 Ein bekümmerter Morgenthau stimmte dieser Einschätzung zu und gestand unverblümt ein: „Wenn man es zu Ende denkt, dann unterscheidet sich diese

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Haltung nicht von der Hitlers.“ Diese Ansicht wurde von Morgenthaus Beratern wiederholt. Randolph Paul etwa sagte: „Ich weiß nicht, wie wir den Deutschen vorwerfen sollen, sie getötet zu haben, während wir dies hier tun. Das Gesetz nennt so etwas in pari delicto oder gleichwertige Mitschuld.“ Und Herbert Gaston fügte hinzu: „Wir erschießen sie nicht. Wir lassen nur zu, dass andere Leute sie erschießen und dass sie verhungern.“14 Eine Weile lang hatte der kompromisslose Oscar Cox aus der Verwaltung des Lend-Lease-Programms – selbst „heimgesucht vom Leid der Flüchtlinge“15 – Morgenthau dazu gedrängt, ein eigenes Amt zu ihrer Rettung zu gründen, wie es die Redner bei der Notstandskonferenz im Madison Square Garden im Frühjahr gefordert hatten.16 Solch ein War Refugee Rescue Committee (Kriegsflüchtlingskomitee) würde, so behauptete Cox, „das ganze Problem neu angehen“. Und Cox war nicht irgendjemand: Er hatte die Gesetzesvorlage zum Lend-and-Lease-Act mit entworfen sowie das Rechtsgutachten zur Internierung japanischstämmiger US-Bürger. Zudem war er an der strafrechtlichen Verfolgung verhafteter deutscher Saboteure beteiligt, die zu Kriegsbeginn in die USA gekommen waren. Morgenthau dachte über eine solche Initiative nach, hoffte aber immer noch vergeblich, das Außenministerium würde selbst Abhilfe schaffen. Schließlich verabredete Morgenthau ein Treffen an einem Montagmorgen, zu dem er den Außenminister und Breckinridge Long einlud. In der Hoffnung, die Sache damit zu bereinigen, erklärte Hull, das alles sei eher eine Folge bürokratischer Trägheit denn gesetzwidrigen Verhaltens. „Das Problem“, führte er aus, „sind die Jungs am unteren Ende.“ Und er fügte hinzu: „Ich kann mich einfach nicht selbst um alles kümmern.“ Nichts, was nicht auch für Morgenthau gegolten hätte, doch das Finanzministerium war in der Lage, innerhalb eines Tages zu handeln, das Außenministerium brauchte hingegen Monate. Hull erging sich daraufhin in einem gewundenen Monolog, mit dem er so ziemlich jedem anderen die Schuld daran gab, die gut gemeinte amerikanische Initiative für die Flüchtlinge zu hintertreiben – die Briten, die Nationalsozialisten, die lateinamerikanischen Länder und natürlich auch die Bürokraten in seinem Ministerium. Nachdem er Hulls Erklärung mit angehört hatte, zog Breckinridge Long Morgenthau beiseite und fragte, ob er ihn unter vier Augen in einem anderen Raum sprechen könne. Dort bemühte er sich eilig, seine eigenen Spuren zu verwischen und distanzierte sich von genau jener Politik, die er jahrelang selbst vorangetrieben hatte. Auch er gab den „Menschen weiter unten im Außenministerium“ die Schuld und ging sogar so weit, einen Mitarbeiter, Bernard Meltzer, namentlich zu nennen. Allerdings wusste Morgenthau mit Sicherheit, dass

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besagter Meltzer einer der wenigen war, die sich im Außenministerium für die Rettung der Juden in Rumänien eingesetzt hatten. Als Morgenthau deutlich wurde, wie dreist Long hier die Wahrheit verdrehte, hielt auch er sich nicht mehr zurück. „Nun Breck“, erwiderte er und blickte seinem Kollegen in die Augen, „wenn Sie schon die Angelegenheit so offen ansprechen, dann können wir ja ganz ehrlich zueinander sein. Überall in Ihrer Umgebung ist der Eindruck entstanden, dass besonders Sie ein Antisemit sind!“ Verblüfft protestierte Long: „Ich weiß, dass dem so ist. Und ich hoffe, dass Sie Ihre guten Dienste nutzen können, um diesen Eindruck zu korrigieren, denn das bin ich nicht.“ „Ich bin sehr, sehr froh, das zu hören“, antwortete Morgenthau und fügte unnachgiebig hinzu, das US-Außenministerium stünde dem britischen, wenn es darum ging, eine Sache im Sande verlaufen zu lassen, in nichts nach. Während Morgenthaus Vorstoß endlich erfolgreich Druck von innen erzeugte – nach monatelanger Verzögerung genehmigte ein verlegener Long nun die Transaktion für das Befreiungs- und Rettungsprogramm –, fingen nun auch von außen mächtige Kräfte zu wirken an.17 Am 9. November 1943 griffen zwölf einflussreiche Senatoren – Guy Gillette aus Iowa war der Initiator und sechs von ihnen waren Mitglieder des einfluss­ reichen Senate Foreign Relations Committee (Senatsausschuss zur Außenpolitik) – die Idee auf, die Peter Bergson entwickelt und die auch Cox bevorzugt hatte. Sie brachten eine Resolution ein, die den Präsidenten dazu aufrief, eine Government Rescue Agency (Rettungsbehörde der Regierung) zu schaffen, um die noch lebenden Juden Europas den Händen der mordenden Nationalsozialisten zu entreißen. Ihr Vorschlag fand auch im Repräsentantenhaus wachsende Unterstützung, wo der gradlinige kalifornische Demokrat Will Rogers  Jr. zum wichtigsten Unterstützer der Idee wurde. Eine Diskussion der Gillette-Rogers-Resolution im Repräsentantenhaus oder im Senat konnte leicht eine peinliche Debatte über das Missmanagement der Regierung angesichts des jüdischen Leids zur Folge haben. Als immer mehr Abgeordnete den Vorstoß unterstützten, warnte Oscar Cox das Außenministerium entsprechend, der Kongress werde die Initiative ergreifen und das tun, was die Regierung „schon längst hätte tun sollen“. Und schon wenig später standen fünf Anhörungstage zu besagter Resolution im Foreign Affairs Committee an. Geleitet wurden die Sitzungen von Sol Bloom – einem engen Vertrauten Roosevelts und ehemaligen Delegierten bei

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der unseligen Bermuda-Konferenz. Auch wenn Bloom bestritt, den Gesetzesvorschlag abzulehnen, so war sein Einsatz von Anfang an dafür bestenfalls halbherzig. Mehrfach wies er auf die Kosten hin, die eine Rettung von bis zu 100 000 Menschen verursachen würde. „Man muss hier mindestens mit 2000 Dollar pro Person rechnen“, erklärte er, also mit 200 Millionen Dollar insgesamt.18 Woraufhin der Abgeordnete Andrew Schiffler nur wütend erwiderte: „Ich glaube nicht, dass Geld hier unsere größte Sorge sein sollte.“ Bloom saß offenbar zwischen den Stühlen: Für die Antragsteller der Resolution schien es zwar klar, dass der Vorsitzende sie zu Fall bringen wollte oder zumindest versuchte, sie abzuwürgen. Doch als Bloom sich dem steigenden Druck der Öffentlichkeit gegenübersah, schickte er ein Telegramm an den Herausgeber der New York Post: „Ich persönlich bin dafür, dass diese Resolution verabschiedet wird.“19 Der hitzigste Moment dieser fünftägigen Beratungen ereignete sich am 26.  November, als Breckinridge Long eine geschlossene Sitzung beantragte. Warum die Öffentlichkeit ausschließen? Long bestand auf der Geheimhaltung, weil angeblich die Nationalsozialisten eine mögliche Rettungsaktion durchkreuzen könnten. Was folgte, war sein Bericht, ein aufreibendes, dreieinhalbstündiges Meisterwerk an Effekthascherei. Indem er wenig bekannte Fakten aus dem undurchschaubaren Visa-System des Außenministeriums anführte, überzeugte er die Ausschussmitglieder, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tue, um den Nationalsozialisten einen Strich durch die Rechnung zu machen und Juden zu retten. Er appellierte an die Vernunft: „Es gibt eine Behörde der US-Regierung, die seit etwas mehr als vier Jahren dieser Angelegenheit tatsächlich Aufmerksamkeit schenkt.“ Er appellierte an das Gefühl: „Ich habe oft an die eindeutige und hier relevante Tatsache gedacht, dass sich in diesem Raum meines Wissens kein Mann und keine Frau befindet, deren Vorfahren nicht auch Flüchtlinge waren. Meine waren es, ausnahmslos alle.“ Und er versuchte die Anwesenden einzuschüchtern: „Ich denke, dieser Ausschuss möchte berücksichtigen, […] ob eine Ihrer Handlungen als Zurückweisung der jüdischen Sache verstanden werden kann.“ Zahlreiche Mitglieder des Gremiums ließen sich von Longs zur Schau gestellter Betroffenheit und seinen schmeichelnden Worten einlullen. Eines nach dem anderen lenkte ein und dankte Long für seinen Einsatz und seine unermüdlichen Bemühungen. Tatsächlich scheiterte der Ausschuss an der politischen Frage, ob die Resolution verlangen sollte, Palästina sofort für die Juden zu öffnen. Der Abgeordnete Karl Mundt ging schließlich sogar so weit,

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diesen Gesetzesvorschlag als „zu heißes Eisen“ zu bezeichnen. Tatsächlich war es Long mit seinem Bericht gelungen, die Resolution im Ausschuss zu ersticken und damit zu verhindern, dass sie weiter im Repräsentantenhaus diskutiert wurde. Da Bloom jedoch fürchtete, die amerikanischen Juden gegen sich aufzubringen, entschied der Ausschussvorsitzende, sich über die ­Sicherheitsbedenken hinwegzusetzen und die gesamte Mitschrift von Longs Ausführungen mit dem Ziel zu veröffentlichen, jüdische Verbände und Einzelpersonen zu beruhigen. Stattdessen brach augenblicklich ein Sturm der Entrüstung los. Mit seinem Bericht hatte Long den Ausschuss schamlos in die Irre geführt. Zum einen hatte er behauptet, es gäbe keine Transportmöglichkeiten für die Flüchtlinge über den Atlantik, wo doch portugiesische und spanische Passagierschiffe zu drei Vierteln leer in den USA ankamen. Des Weiteren hatte er angeführt, die USA hätten seit Hitlers Machtantritt rund 580 000 Flüchtlinge aufgenommen – was die New York Times fälschlicherweise dazu veranlasste, mit der Schlagzeile aufzumachen: „580 000 Flüchtlinge in einem Jahrzehnt in den Vereinigten Staaten aufgenommen“.20 Dabei sah die Wahrheit ganz anders aus: Diese Zahl, wie David S. Wyman festhält, entsprach allenfalls der Summe sämtlicher ausgestellter Visa – an Juden wie Nicht-Juden – und zwar unabhängig davon, ob auf sie auch tatsächlich eine Einreise folgte oder nicht. Die wirkliche Einwanderungszahl war also nicht einmal halb so groß, und viele der dabei gezählten Emigranten waren keine Juden. Gerade einmal 2705 Juden, die vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten geflohen waren, war im Vorjahr die Einreise ins Land gestattet worden. So viele etwa starben stündlich in den Gaskammern von Auschwitz . Entsprechend bezeichnete die New York Post Longs Aussage als „falsch und verzerrend“, und Mitglieder des Kongresses empörten sich über seine Täuschungsmanöver. Ein perplexer und wütender Emanuel Celler konnte seinen Ärger nur mit Mühe im Zaum halten und sprach vielen aus der Seele, als er sagte, Long vergehe zwar vor Mitleid mit den Juden, vergösse jedoch nur falsche Krokodilstränen. Celler forderte ihn zum Rücktritt auf und schlussfolgerte: „Das Außenministerium hat sich vom altehrwürdigen Grundsatz abgewandt, wonach wir ein Zufluchtsort für Flüchtlinge sind.“ Anstatt im Sande zu verlaufen, nahm die Gillette-Rogers-Resolution nun im Dezember 1943 also sogar noch an Fahrt auf. Da es die Geschehnisse genau im Auge behielt, war das Senate Foreign Relations Committee bereit, alle Anhörungen auszusetzen und schon zu handeln, bevor der Senat am 24. Januar 1944 wieder zusammen käme. „Das Problem ist in erster Linie ein humanitäres“,

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erklärte der Ausschuss einstimmig. „Es ist nicht allein ein Problem der Juden. Es ist ein christliches Problem und eines der aufgeklärten Zivilisation.“ Weiter hieß es in dem Bericht: „Wir haben geredet, wir haben mitgefühlt, wir haben unser Erschrecken zum Ausdruck gebracht; es ist schon längst Zeit zu handeln.“ Senator Gillette sagte voller Zuversicht voraus, dass diese Resolution den Senat „ohne eine einzige Gegenstimme“ passieren würde. Regierungsmitarbeiter, vor allem im Finanzministerium, beobachteten ebenfalls sehr genau die Situation. Sorgten sich Morgenthau und andere im Ministerium doch, dass Präsident Roosevelt – FDR, der Menschenfreund, FDR, der Erlöser, FDR, der Kriegsherr – aus einer öffentlichen Anhörung zu diesem Thema nur schwer angeschlagen herauskommen könnte. Womöglich würde man ihm einen neuen Beinamen verpassen: FDR, der Holocaust-Komplize. Morgenthau brachte diese Sorgen auf den Punkt: „Diese Sache droht überzukochen, und er kann nichts dagegen machen. Entweder reagiert man jetzt umgehend, oder der Kongress nimmt einem die Entscheidung ab.“21 Doch nach Weihnachten sah die Sache schon wieder anders aus. Er hatte sich beim Gipfel in Teheran zum ersten Mal mit Stalin getroffen, und nun kehrte der triumphierende, aber abgekämpfte Roosevelt an Bord eines Zuges aus Washington nach Hyde Park zurück, um hier die Feiertage zu verbringen. Oberflächlich betrachtet verlebte er wunderbare Weihnachten. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren verbrachte Roosevelt die Feiertage mit seiner Familie in ihrem geliebten Heim. Die Luft im nördlichen Bundesstaat New York war frisch, aber klar. Das Haus war geschmückt mit roten Schleifen und Kränzen und einem strahlenden Weihnachtsbaum. Die Familie hatte große Freude daran, den Weihnachtssängern der Gegend zu lauschen, und dann unterhielt Roosevelt seine Gäste, in dem er mit dem typischen Upper-Class-Ostküstenakzent die Weihnachtsgeschichte von Dickens vorlas. Allerdings litt er zu diesem Zeitpunkt an einer Grippe – wieder einmal. Erst musste er husten, dann fröstelte es ihn, schließlich kamen die Schmerzen. Als er an diesem Abend ins Bett ging, schlürfte ein Großteil des offiziellen Washingtons an einem Eierpunsch, aß Gans oder schlüpfte in den Pyjama. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Roosevelt ahnte nicht, dass in eben diesem Augenblick ein junger Jurist im Finanzministerium Überstunden machte. Josiah DuBois Jr. saß über einem Memorandum für seinen Minister, Henry Morgenthau. Es sollte eines der bedeutendsten Memoranden in der Geschichte der USA werden.

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Er schrieb: „Eines der großen Verbrechen in der Geschichte, der Mord an den Juden in Europa, dauert unvermindert an.“ Er schrieb von „der tragischen Geschichte, wie diese Regierung die Angelegenheit behandelt“ und führte die Tatsache auf, dass die Mitarbeiter des Außenministeriums „nicht nur beim Einsatz des Regierungsapparates versagt haben, der ihnen zur Verfügung stand, um die Juden vor Hitler zu retten, sondern dass sie sogar so weit gegangen sind, diesen Regierungsapparat zu nutzen, um die Rettung der Juden zu verhindern.“ Zeit sei nun „sehr kostbar“, warnte er, da das Außenministerium „die Dinge seit über einem Jahr nur hin und her gewälzt [habe], ohne zu Ergebnissen zu kommen; stattdessen [habe] es für all die vielen Verzögerungen immer nur neue Entschuldigungen gefunden.“ In schockierender Deutlichkeit führte er Detail für Detail die Gleichgültigkeit, Komplizenschaft, Verschleppungstaktik, wenn nicht den unverhohlenen Antisemitismus der Regierung an, bevor er Riegners Bericht hervorhob, der aus den Bemühungen von Eduard Schulte hervorgegangen war. Er machte Breckinridge Longs „fromme Bemerkungen“ lächerlich und wies darauf hin, wie Long bei zwei Gelegenheiten die Tatsachen verdreht habe. Er erzählte die abscheuliche Geschichte, wie das Außenministerium durch ein Telegramm alle aus der Schweiz stammenden Informationen über den Holocaust unterdrücken wollte. Zudem zitierte er ausführlich Kongressabgeordnete, welche die Regierung für ihr Verhalten kritisiert hatten. Sein Schlussfolgerung lautete: „Wenn Menschen mit der Veranlagung und der Philosophie von Long weiterhin die Einreisebestimmungen kontrollieren dürfen, dann können wir genauso gut die Sockelinschrift an der Freiheitsstatue entfernen und ihr Licht am gold’nen Tore löschen.“22 Nachdem er das 18-seitige Memorandum fertiggestellt hatte, notierte er noch dessen explosiven Titel: „Bericht für den Minister über die Duldung des Judenmordes durch diese Regierung.“23 Nun lag es an Morgenthau. Wie wahrscheinlich war es, dass er die Haltung der Regierung übernahm und ebenfalls einen Mantel des Schweigens über sein Gewissen breitete? Wie sich herausstellte, machten das Schicksal und die Wechselfälle der Geschichte diesen Moment zum Höhepunkt seines berühmten Lebens. Henry Morgenthau Jr. war der Nachkomme einer langen Reihe deutscher Juden, strenggläubiger Juden, von Hebräischlehrern und Geschäftsmännern, von Schächtern und Rabbinern.24 1866 in finanzielle Bedrängnis geraten, hoffte die Familie auf neue Möglichkeiten jenseits des Atlantiks und emigrierte in

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die Nachbürgerkriegs-USA. Einer seiner Großväter, ein erfolgloser Erfinder, der unter anderem eine Etikettiermaschine erfunden hatte, schrammte immer um Haaresbreite am Bankrott vorbei. Im Gegensatz dazu machte Morgenthaus ehrgeiziger, visionärer Vater, Henry Morgenthau Sr., eine glänzende Karriere. Wohlhabend und kompromisslos, eitel und manipulativ, strebte er danach, Finanzminister zu werden, was ihm auch beinahe gelang. Er hatte sich ein Immobilien-Imperium aufgebaut und gehörte zu den ersten Förderern von Woodrow Wilson während dessen erstem Präsidentschaftswahlkampf. Im Ersten Weltkrieg ernannte man ihn prompt zum amerikanischen Botschafter in Konstantinopel, wo er unermüdlich darum kämpfte, die USA zum Einschreiten zu bewegen, als das Osmanische Reich mit dem Völkermord an den Armeniern begann. Seit April 1915 starben dort sehr viele Armenier bei Deportationen, Todesmärschen und Massakern. Er, der sich ganz natürlich in gehobenen Kreisen bewegte, war zudem ein guter Freund von Stephen Wise. Henry Sr. hatte auch für seinen stillen, widerspenstigen Sohn hochfliegende Pläne. Für Henry Jr., im Mai 1891 in ein reiches und privilegiertes Elternhaus hineingeboren, schien ein erfolgreicher Weg vorbestimmt. Doch als Jugendlicher musste er eine Reihe von Rückschlägen einstecken: Die Schule in Exeter bedrückte ihn, und es stellte sich heraus, dass er an einer kognitiven Einschränkung litt – heute würde man sagen, er hatte eine Lernschwäche –, die ihm das Schreiben zur Herausforderung und das Sprechen zu einer lästigen Pflicht machte. Er blieb nur zwei Jahre an dieser Schule, woraufhin ihm sein Vater einen Privatlehrer besorgte, doch auch das half nicht. Sein Studium an der Cornell University begann er in der Absicht, einen Abschluss in Architektur zu machen. Doch wieder war ihm das Glück nicht hold, und er fiel durch. Mit seinen Einfällen am Ende, fand sein Vater eine Baustelle, wo er Henry Jr. als Zeitkontrolleur unterbrachte, in der Hoffnung, dies könnte sein Einstieg in die Immobilienbranche sein. Auch dies funktionierte nicht, da Morgenthau sich mit Typhus infizierte. Eher schüchtern, introvertiert und anfällig für Selbstzweifel, war er auch im sozialen Umgang linkisch. Hin und wieder zog er sich völlig zurück und wurde grüblerisch. Dazu kam, dass auch seine Gesundheit immer wieder zu wünschen übrig ließ. Er litt an lähmender Migräne, Übelkeit und Schlafstörungen. Als bei ihm Typhus diagnostiziert wurde, reagierte sein Vater umgehend und schickte ihn auf eine Ranch in Texas, wo er sich erholen sollte. Und hier, in der Landwirtschaft, die seinen Vater so gar nicht interessierte, fand der junge Morgenthau seine Berufung. Er kehrte an die Cornell University zurück, um Architektur und Landwirtschaft zu studieren, und erhielt dieses

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Mal einen Abschluss. 1913 kaufte er eine verfallene, tausend Morgen große Apfelfarm mit Milchwirtschaft im Dutchess County, New York. Laut eigenen Angaben war dies ein verzweifelter Schritt zur Selbstfindung und Emanzipation von seinem dominanten Vater. Doch er erreichte mehr als das, traf er doch noch eine Reihe von sehr klugen Entscheidungen. 1916 heiratete er Elinor Fatman, die gut etablierte und schlaue Enkelin eines der Gründer von Lehman Brothers. Die ehemalige Schauspielschülerin war klug, hellsichtig und ungemein ehrgeizig. Die Eheleute kauften weitere tausend Morgen Land im Dutchess County und schufen damit die Fishkill Farms. Hier lebte Henry, sehr zum Kummer seines Vaters, als Großbauer. Das Paar zog drei Kinder groß und erzeugte ausreichend Äpfel, Roggen, Mais, Kohl und Rinder. Es dauerte nicht lange, da hatte sich Morgenthau mit seinem bekannten Nachbarn angefreundet, dem liebenswerten Franklin D.  Roosevelt. Dieser hatte inzwischen ein Auge auf Albany, die Hauptstadt des Bundesstaates, geworfen, da er sich mit dem Gedanken trug, Gouverneur von New York zu werden. Nachdem die Morgenthaus einmal zum Nachmittagstee nach Hyde Park eingeladen gewesen waren, notierte sich Roosevelts Mutter Sara in ihr Tagebuch: „Der junge Morgenthau war umgänglich und zugleich doch bescheiden und ernsthaft und intelligent.“ Dann ergänzte sie: „Seine Frau ist sehr jüdisch.“ Die Freundschaft zwischen den Roosevelts und den Morgen­ thaus blühte trotz vieler Gegensätze weiter auf. Wo Franklin D. Roosevelt gerne plauderte, war Henry Morgenthau schmerzlich schweigsam; wo Roosevelt dreist und selbstsicher auftrat, empörte sich Morgenthau schnell über soziale Kränkungen; wo sich Roosevelt gut gelaunt präsentierte, erschien Morgen­ thau bedrückt, ja sogar mürrisch. Im Spaß nannte Roosevelt seinen guten Freund schon einmal „Henry the Morgue“ (Henry, das Leichenschauhaus). Dann schlug er Morgenthau vor, er solle sich doch zum Sheriff von Dutchess County wählen lassen, doch da hatte Morgenthau sich schon an den aufsteigenden Stern Roosevelts gehängt. Und im Laufe der Zeit sollte Roosevelt seinen Freund Morgenthau immer wieder für dessen unerschütterliche Diskretion, seine solide Intelligenz und seine absolute Loyalität loben. 1921 vertiefte und intensivierte sich ihre Freundschaft noch, als Roosevelts politische Karriere wegen seiner Lähmung mit einem Mal zerstört zu sein schien. Im Laufe der Zeit wurde Morgenthau fast zu einem Teil der Roosevelt-Familie und hatte auch eine besonders enge Beziehung zu den Söhnen des Präsidenten. Morgenthau hatte sich darüber hinaus in den Kopf gesetzt, zu Roosevelts Idealbild eines Landwirts zu werden. Aus einer Laune heraus kaufte er deshalb die wenig bekannte Zeitung American Agriculturist und fing an, dort den Er-

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folg der Fishkill Farms zu loben, was völlig unbegründet war, denn die Farm machte Verluste. Roosevelt war das gleichgültig, schätzte er in Morgenthau doch nun nicht mehr nur den Freund, sondern auch dessen Leidenschaft für den Dutchess County. Unermüdlich unterstützte Morgenthau seinen Freund Roosevelt, obwohl man sich kaum zwei unterschiedlichere Genossen denken könnte: Roosevelt, der Invalide, Absolvent von Groton, der niemals wirklich von zu Hause fort war, der Menschen und Ereignisse mit den altehrwürdigen Standards von noblesse oblige und großbürgerlichem Verantwortungsethos maß. Und Morgen­ thau, der unsichere, reiche New Yorker Jude, der versuchte, in das Establishment der sogenannten „WASP“, der weißen protestantischen US-Amerikaner angelsächsischer Herkunft, aufzusteigen. Er, der langsam kahler wurde, kleidete sich stets gut, achtete auf den Schnitt seiner Anzüge und kultivierte ein Patrizierauftreten. Trotz all ihrer edlen Instinkte waren auch Roosevelt und seine Frau nicht gänzlich immun gegen die antisemitischen Vorurteile ihrer Zeit, was jene Episode um eine Einladung im Hause von Bernard Baruch gezeigt hatte. Doch Morgenthau hielt seine jüdische Herkunft ohnehin diskret im Hintergrund, mied die Synagoge und blieb den jüdischen Clubs auf dem Lande des Westchester County fern. Auch mit dem Zionismus konnte er sich nicht recht anfreunden, und da ihm die Vorurteile seiner Mitmenschen nur allzu bewusst waren, bestand Morgenthau immer darauf, dass man an ihn nicht als Juden, sondern als „einhundertprozentigen Amerikaner“ denken sollte. Seinen Mut und seine Ernsthaftigkeit konnte ohnehin niemand infrage stellen. Auch arbeitete er immer hart. Als sich Roosevelt 1928 entschied, als Gouverneur zu kandidieren, packte Morgenthau seine Koffer und wurde de facto Roosevelts Chauffeur und Manager, der den Kandidaten in einem alten, abgefahrenen Buik 12 000 Kilometer durch den Staat fuhr. Akribisch genau plante er Roosevelts Wahlkampfstationen und sorgte bei wichtigen Veranstaltungen sogar für das Unterhaltungsprogramm. Nachdem er gewählt worden war, dankte Roosevelt es ihm, indem er Morgenthau zum Vorsitzenden seines landwirtschaftlichen Beratungskomitees machte, und später dann zum Naturschutz-Beauftragten. Eines von Morgenthaus Lieblingsstücken war eine Schwarz-Weiß-Fotografie der beiden Männer, die lachend und unbeschwert in einem offenen Auto sitzen. Roosevelt hatte darunter geschrieben: „From one of two of a kind.“ („Von einem der beiden, die aus demselben Holz geschnitzt sind.“)25 1932 wurde Roosevelt dann zum US-Präsidenten gewählt, und Morgenthau bemühte sich darum, sein Landwirtschaftsminister zu werden,

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wovon er ein Leben lang geträumt hatte. Doch Parteibosse aus dem Mittleren Westen spotteten bloß über diese Vorstellung, schließlich sei Morgen­ thau nicht nur Jude, sondern obendrein noch aus New York. Die USA ­waren noch nicht bereit dafür, nicht einmal Roosevelt war es. Zum Trost ernannt er Morgenthau zum Direktor der Farm Credit Administration. Ein Jahr später erhielt Morgenthau dann seine Chance auf größeren Ruhm, als William Woodin, Roosevelts erster Finanzminister, so stark erkrankte, dass er nicht im Amt bleiben konnte. Wieder bemühte sich Morgenthau intensiv um den Posten und sprach deshalb sogar beim Präsidenten selbst vor. In seinen eigenen Worten, „setzte [er] alles aufs Spiel“.26 Dieses Mal gab Roosevelt nach, machte Morgenthau zunächst zum stellvertretenden Minister, bis dieser wenig später zum zweiten Juden wurde, der je am Kabinettstisch gesessen hatte. Es gab Zweifler, und Kritiker bezeichneten diese Ernennungen als Ergebnis von Vetternwirtschaft und Despotismus. Fortune verhöhnte den neuen Finanzminister als verwöhntes Söhnchen eines jüdischen Philanthropen und behauptete, er habe bislang wenig erreicht, außer „den Großteil seines Lebens als Bauer zu verbringen“. Gladys Straus, eine prominente Förderin der Republikaner aus New York, stimmte dieser Beschreibung zu und ergänzte, Roosevelt habe es irgendwie geschafft, „den einzigen Juden in der Welt zu finden, der nichts von Geld versteht“. Sogar Morgenthaus Vater meinte: „Er ist nicht bereit dafür.“ Der konservative Haushalts-Chef Lewis Douglas grummelte etwas über Morgenthaus „Dummheit und hebräische Arroganz“.27 Seine Gegner hielten Morgenthau für reizbar, steif und ungeeignet für die Aufgabe, doch Roosevelt war da anderer Ansicht. Zwar mochte er penibel, übellaunig und anstrengend sein, doch wie Louis Howe, der langjährige Berater des Präsidenten, einmal festhielt, war Morgenthau auch äußerst loyal gegenüber Roosevelt und weit weniger von seinen eigenen Interessen geleitet als andere. Und in einer Regierung mit solch schillernden Figuren des Establishments wie Henry Stimson, Cordell Hull, Sumner Welles, Dean Acheson und dessen Rivalen Harry Hopkins und mit Sekretärinnen wie Marguerite „Missy“ LeHand und Grace Tully, war Morgenthau einzigartig. Er war aufmerksam, geradeheraus, prinzipientreu und fast immer verständnisvoll für die wechselnden Stimmungen des Präsidenten. Und selbst wenn er ihn gelegentlich nicht verstand, war Morgenthau doch das einzige Kabinettsmitglied, das eine tiefe Freundschaft mit dem Präsident pflegte und jeden Montag mit ihm zu Mittag aß. Nachdem der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, scherzte Roosevelt mit Morgenthau: „Du und ich, wir werden diesen Krieg zusammen führen“,28 und mehr als ein Mal

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schoben sich die beiden während der Kabinettssitzungen zum Spaß kleine Zettelchen hin und her, bis sich ein eifersüchtiger Cordell Hull beschwerte. Morgenthau jedoch fühlte sich derart sicher, dass er sich auf sarkastische Weise hinter dessen Rücken über Kriegsminister Henry Stimson lustig machte. Wenn es darauf ankam, war Morgenthau unverblümt und machte sich selten die Mühe, etwas diplomatisch zu formulieren. So war auch er es, der Roosevelt, als die Wirtschaft 1938 anfing zu schwächeln, unmissverständlich vor „einer Depression innerhalb einer Depression“29 warnte. Und als Hitler in den 1930er-Jahren eine Zusage nach der anderen brach, war es wiederum Morgenthau, der das Gefühl bekam, die USA hätten keine andere Wahl und müssten in Europa eingreifen: „Wenn wir Hitler jetzt nicht aufhalten, rückt er vor bis ans Schwarze Meer“, insistierte er Roosevelt gegenüber. „Und was dann?“30 Und während Regierungsmitarbeiter wie Hull und John McCloy glaubten, dass es einen deutlichen Unterschied gebe zwischen dem NS-Regime und dem deutschen Volk, sah Morgenthau in den Deutschen eine „kriegsliebende Rasse“31 und hielt die ganze Nation der Kriegsverbrechen für schuldig. So nahe Morgenthau dem Präsidenten auch stehen mochte, blieb er, politisch gesehen, doch isoliert. Sein Wahlkreis bestand im Grunde nur aus einer Person: Roosevelt. Ein Stirnrunzeln des Präsidenten versetzte Morgenthau in Angst und Schrecken; ein Grinsen oder ein präsidentieller Scherz retteten seinen Tag. Und ihm war klar, dass der Präsident, der im Privatleben so anfällig für Ausflüchte und so wechselhaft in seinen Überzeugungen war, auch im Amt seinen Launen folgte und schon mal einen Berater gegen einen anderen ausspielte. So wird es verständlich, dass Morgenthau jeden Tag aufs Neue mit der Sorge erwachte, der Präsident könnte versuchen, ihn „loszuwerden“. Allmorgendlich nagte die Angst an ihm, dass dies sein letzter Tag im Amt sein könnte. Er beschwerte sich eines Tages auch, der Präsident würde ihn „schikanieren“ und „einschüchtern“.32 Und so zögerte er plötzlich, wegen des Leids der jüdischen Flüchtlinge weiter Druck auf den Präsidenten auszuüben, als er von Leo Crowley, dem Vorsitzenden der Foreign Economic Administration hörte, Roosevelt habe gesagt: „Dies ist ein protestantisches Land, und Katholiken und Juden werden hier nur geduldet.“ Geduldet? Diese Äußerung machte Morgenthau noch unsicherer. Und dass er dem Präsidenten später einen langfristigen Plan vorlegte, nach dem Nachkriegsdeutschland durch den Abzug jeder Schwerindustrie geschwächt werden sollte, damit es die Welt nie wieder mit einem Krieg bedrohen könne, machte die Sache auch nicht besser. Stimson notierte in seinem Tagebuch, dass Morgenthau ein „sehr gefährlicher Ratgeber“ und durch „seine semitischen Klagen befangen“ sei.33 Und auch McCloy war der Meinung, Mor-

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genthau sollte aus dem einfachen Grunde, dass er Jude sei, nichts mit der Gestaltung der Nachkriegsordnung zu schaffen haben. Dabei hatte Roosevelt selbst einmal bemerkt, dass die Deutschen, wenn es nach ihm ginge, in Zukunft von Armenspeisungen leben würden. Schon früh im Krieg hatte Morgenthau sich auf diskrete Art und Weise bemüht, jüdischen Flüchtlingen zu helfen. Als dann die Regierung immer mehr über den tödlichen Ablauf des Holocausts erfuhr – von den Viehwaggons, den Leichenbergen, der Ermordung von Kindern und Alten, den in Angst und Elend lebenden Waisen und dem fast unvorstellbaren Ausmaß der „Endlösung“ – hatte Morgenthau eine Art Erweckung. Erzürnt über den Unwillen des Außenministeriums, den Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen, sagte er Hull, dessen Frau jüdische Vorfahren hatte, direkt ins Gesicht: „[Wären Sie] heute ein Mitglied des deutschen Kabinetts, würden Sie, mit großer Wahrscheinlichkeit, in einem Gefangenenlager sitzen, während Ihre Frau Gott weiß wo wäre.“34 Als Morgenthau das Memorandum seines Mitarbeiters Josiah DuBois erhielt, erkannte er dessen schwerwiegende Bedeutung deshalb augenblicklich. Sollte er es Roosevelt vorlegen? Er hatte einem Mitarbeiter einst gesagt, dass er die Freundschaft zum Präsidenten „mehr als alles andere“ schätze. Und zugleich hatte er sich einmal beschwert, Roosevelt sei „nicht der Größte, wenn es um das jüdische Problem geht“. Sein ganzes politisches Leben war er an den Präsidenten gebunden, hatte sich dickköpfig dagegen verwehrt, als der Quotenjude im Kabinett zu gelten, und nun musste er entscheiden, ob er all das riskieren sollte, indem er die Angelegenheit auf direktem Wege zu Roosevelt brachte. Er entschied sich dafür. In Morgenthaus Augen hatte diese Situation Potenzial für einen handfesten politischen Skandal mitten im Wahljahr und konnte das Ansehen des Präsidenten ein für allemal besudeln. Würde es bei der bisherigen Politik bleiben, so glaubte Morgenthau, würde sich Roosevelt mitschuldig an der Auslöschung eines ganzes Volkes machen. Dazu kam noch, dass DuBois angekündigt hatte, er würde, sollte Morgenthau nicht handeln, „kündigen und [das Memorandum in der Presse] veröffentlichen“. Und das wäre angesichts der im Senat bereits entbrannten Diskussion verheerend für den Präsidenten. Der Finanzminister erwog seine nächsten Schritte. Ihm war klar, dass er direkt mit dem Präsidenten würde sprechen müssen. Um sich den Weg dorthin zu ebnen, traf er sich diskret ein zweites Mal mit Cordell Hull, um dessen Meinung auszuloten. Doch erwartungsgemäß war dieses Gespräch alles ande-

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re als ergiebig. Also nahm er Kontakt mit Sam Rosenman auf, Roosevelts ­Redenschreiber und Vertrautem. Es kam zu einem heftigen Streit. Rosenman hatte Zweifel. Er machte sich ebenfalls Sorgen über eine negative Presseberichterstattung, bestand aber darauf, alles nur inoffiziell ablaufen zu lassen. Morgenthau fuhr auf und explodierte: „Jetzt lassen sie doch die Öffentlichkeit mal beiseite! Was wir hier brauchen ist seine Intelligenz und seinen Mut – zuerst seinen Mut und dann seine Intelligenz.“35 Morgenthau arrangierte bei sich zu Hause ein ungewöhnliches Treffen mit den Mitarbeitern des Finanzministeriums, fernab der Presseaufmerksamkeit und der bürokratischen Intrigen. Es galt eine Strategie zu entwickeln, um Roosevelt zur Genehmigung einer eigenständigen Rettungsbehörde der USA zu bewegen. Zu diesem Treffen waren auch Oscar Cox geladen, der schon lange ein energischer Fürsprecher einer solchen Organisation war, Ben Cohen, ein wichtiger Mitarbeiter in Roosevelts Expertengremium, sowie Rosenman. Morgenthaus Assistent, Harry Dexter White, erinnerte daran, dass Roosevelt sich grundsätzlich nur dann eines Problems annahm, wenn er gezwungen war, „eine Entscheidung zu treffen“. Morgenthau jedoch hatte das Gefühl, nur eine geschickte Präsentation könnte den Präsidenten zum richtigen Handeln bewegen.36 Deshalb erlaubte er sich, das Schriftstück zu redigieren und DuBois’ politisch heiklen Titel durch eine neutralere Überschrift zu ersetzen: „Ein persönlicher Bericht für den Präsidenten.“ Im Wesentlichen blieb das Memorandum jedoch unverändert. Er billigte auch Cox’ Vorschlag, der Gesetzgebung auf dem Kapitol zuvorzukommen, indem man das Flüchtlingsgremium durch eine Verfügung des Präsidenten ins Leben rief. Beim folgenden Treffen der Verantwortlichen im Finanzministerium zog White Bilanz zum Stand der Dinge und gab einen Überblick über das politische Labyrinth der Flüchtlingspolitik. Bisher hatten vor allem die Briten eine Reihe von Entscheidungen der Alliierten bezüglich der Juden in Europa dominiert. Wenn man nun also den noch lebenden Juden in Europa helfen wolle, wäre allein Roosevelt in der Lage, so behauptete White, den Widerstand nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien zu überwinden. Und wiederum nur Morgenthau habe das Format, den Präsidenten zu den notwendigen Schritten zur Gründung der angedachten Rettungsbehörde zu bewegen. Da er ohnehin schon für sich die Entscheidung getroffen hatte, erklärte Morgenthau sich einverstanden. Nun ging alles sehr schnell. Immer noch etwas ängstlich – er wurde die Sorge einfach nicht los, sich und den Präsidenten zu entzweien – verabredete Morgenthau eilig ein ungewöhnliches Treffen an einem Sonntag im Weißen Haus.

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Für Roosevelt sollte es ansonsten ein angenehmer Tag werden: Tee mit dem Kronprinzen von Norwegen, ein Besuch beim Arzt, ein Abendessen allein. Am 16.  Januar 1944 wurden Morgenthau, der Leiter seiner Rechtsabteilung Randolph Paul und John Pehle um 12.40 Uhr in das oben gelegene Oval Office im Familienflügel des Weißen Hauses eskortiert, wo Roosevelt sie empfing.37 Sie hatten ein Exemplar des Berichts sowie einen Entwurf der Präsidentenverfügung dabei, mit der Roosevelt die Agentur ins Leben rufen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Rosenman den Präsidenten schon vorab über das Thema dieses Wochenendtermins in Kenntnis gesetzt. Roosevelt selbst, elegant gekleidet, erholte sich gerade von einer Erkältung. Der Präsident bat Morgenthau, ihm den Bericht zusammenzufassen, dann antwortete er. Wie schon zuvor, verteidigte Roosevelt Long und beteuerte, dieser habe sicherlich nicht absichtlich versucht, Hilfsmaßnahmen zu blockieren. Dennoch gab er zu, dass Long „etwas gereizt“ auf Flüchtlinge reagiert habe, die er als Sicherheitsrisiko empfände. Morgenthau wandte schnell ein, dass nach Angaben des Justizministers während des gesamten Krieges bislang nur drei Juden in die Vereinigten Staaten eingereist seien, die in irgendeiner Art und Weise „unerwünscht“ waren. Dann erklärte er dem Präsidenten, was er in den vergangenen Wochen jedem erzählt hatte, der ihm zuhören wollte: Wenn Roosevelt jetzt nicht handelte, würde ihm der Kongress die Sache aus der Hand nehmen. Der Präsident sah sich kurz die Verfügung an und schlug nur eine Änderung vor: Die neue Behörde sollte nach dem Entwurf von Morgenthau, von Außenminister Cordell Hull und Leo Crowley geleitet werden. Da aber nur die Armee in der Lage sei, die Flüchtlinge zu retten und ihnen zu helfen, schlug Roosevelt Kriegsminister Henry Stimson anstelle von Crowley für die Leitung der Agentur vor. Nach Roosevelts Auffassung hätte Stimsons Ernennung noch den Vorteil, dass dieser in dem Kriegsflüchtlingskomitee, das nun War Refugee Board (WRB) heißen sollte, für Besonnenheit einstehen könne. Morgenthau war einverstanden. Damit billigte Roosevelt die neue Agentur rasch. Als eine erste Maßnahme, die sein gesteigertes Interesse beweist, beauftragte der Präsident Sam Rosenman, den ehemaligen Richter und nun Roosevelts Augen und Ohren in wichtigen Angelegenheiten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Dann besprach er mit Morgenthau sogar, ob Juden zu retten wären, indem man sie nach Spanien, in die Schweiz oder die Türkei brachte.

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Es hatte sich als deutlich leichter herausgestellt, Roosevelt zu überreden, als von Morgenthau erwartet. Roosevelt war bei diesem Thema zunehmend isoliert, stand einem wachsenden politischen Skandal gegenüber, wollte sich auf eine vierte Amtszeit vorbereiten und machte sich Sorgen, der Senat könne sich gegen ihn entscheiden: Da verstand er sehr gut, dass er der Gründung des War Refugee Boards nicht länger aus dem Weg gehen konnte. Zudem erkannte Roosevelt, dass der derzeitige Verlauf des Krieges ihm tatsächlich die Möglichkeit bot, Juden zu retten. Damit ist dennoch nicht erklärt, warum die Diskussionen über die schockierenden Tatsachen der widerlichen NS-Vernichtungspolitik, die bereits bei dem Treffen zwischen Stephen Wise und Roosevelt zur Sprache gekommen waren, etliche Monate andauerten. Morgenthau selbst nannte diese Periode die „furchtbaren 18 Monate“38 und tobte später vor seinen Mitarbeitern: „Das Tragische ist doch – verdammt noch mal! – dass wir dies schon im letzten Februar hätten tun sollen.“ Warum wurde nur so wenig Einfallsreichtum und Mühe darauf verwandt, die Juden zu retten, dafür aber so viel Geschick, um ihr furchtbares Schicksal zu verschleiern? Warum wurde dieser Präsident, der doch so meisterhaft die Hoffnungen der US-Amerikaner beleben konnte und dem es bei der großen Wirtschaftsflaute und beim Eintritt der USA in einen neuen Krieg gelungen war, das Volk energisch zu mobilisieren, bei diesem Thema erst so spät aktiv? Warum tat eben dieser Präsident nicht viel früher viel mehr, wo er doch wusste, dass in seinen Ministerien der Finanzen, des Äußeren und des Krieges ein undurchdringlicher Filz das Alltagsgeschäft bestimmte? Er, der einmal höhnisch darüber gelacht hatte, als die Sprache auf die Unnachgiebigkeit des Pentagons gekommen war: „Ach, machen Sie sich mal keine Gedanken über diese Leute dort.“ Er, der doch so gut wusste, wie mit Wille und Timing die Mühlen der Bürokratie und widerspenstige Mitarbeiter zu umgehen waren? Warum, fragten die Kritiker, warum, warum? Doch jetzt handelte der Präsident: Am 22. Januar – zwei Tage bevor der Senat laut Kalender die Gillette-Rogers-Resolution debattieren sollte – veröffentlichte Roosevelt die Präsidentenverfügung 9417, mit der das WRB offiziell eingerichtet wurde. In der Verfügung hieß es: „Es ist die Politik dieser Regierung, alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zur Rettung derjenigen Opfer zu ergreifen, die in unmittelbarer Lebensgefahr schweben“ und ihnen „im Übrigen alle denkbare Hilfe und Unterstützung zu gewähren, soweit es sich mit der erfolgreichen Weiterführung des Krieges vereinbaren lässt.“

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Teil Drei

Eine schicksalhafte Entscheidung

Foto der US-Luftaufklärung von Auschwitz im November 1944.

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Gefangen zwischen Wissen und Nichtwissen Im Februar 1944 war das europäische Judentum fast vollständig vernichtet. Wie ist die ganze Tragweite dessen zu begreifen? Ohne den Zufall der Geburt oder die Gnade eines Ausweises wären unzählige weitere Menschen ums Leben gekommen. Auf den Listen der Vernichtungslager hätten leicht auch die folgenden Personen stehen können:1 Edward G. Robinson; Billy Wilder – einer der besten Regisseure aus Hollywoods Goldenem Zeitalter, der bei der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland floh; Mae West; Ingrid Bergman; Gertrude Stein; die Maler Mark Rothko und Marc Chagall; Leonard Bernstein; der großartige Komponist Irving Berlin; Stanley Marcus – Gründungsgeschäftsführer von „Neiman Marcus“; Lessing Rosenwald – Vorstandsvorsitzender von Sears; Jack Benny; Arthur Miller; Martin Buber; Jonas Salk; Hank Greenberg von den Detroit Tigers; Sid Luckman von den Chicago Bears und die Tennisspielerin Helen Jacobs. Auch einige der größten Genies, die je gelebt haben, hätten auf diesen Listen stehen können, Albert Einstein, J. Robert Oppenheimer und Edward Teller, die Väter der Atom- und Wasserstoffbombe; Milton Friedman – ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften; Eugen Meyer – E ­ igentümer der Washington Post und seine Enkelin Katharine Graham, die Herausgeberin der Zeitung; die Familie Sulzberger-Ochs, Eigentümer der New York Times und der Verleger Alfred Knopf. Diese Liste, eine Auswahl großartiger Menschen, könnte noch weitergeführt werden: Ayn Rand, die Schriftstellerin; Hannah Arendt, die Philosophin; J. D. Salinger, der Romancier; Louis B. Mayer und Samuel Goldwyn, die Filmmogule; Henry Morgen­ thau Jr.; Felix Frankfurter, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten; und General Maurice Rose. Einige Menschen hätten vielleicht nie das Licht der Welt erblickt: Bob Dylan, Nora Ephron, Barbra Streisand, Michael Douglas und Michael Bloomberg – eine bunte Vielfalt von Personen aus dem Bereich der Naturwissenschaften, Kunst, Sport, Geisteswissenschaften und Politik, einflussreiche Menschen der zweiten Hälfte des 20. und des

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21.  Jahrhunderts. Und wie viele solcher Größen ums Leben kamen, wird man niemals wissen. Fünf Millionen Juden waren bisher gestorben, zwei Millionen von ihnen in Chełmno, Belzec, Treblinka und Sobibór. Und Auschwitz machte Überstunden. Zu Beginn des Jahres 1944 schien es, als seien die Alliierten nicht mehr aufzuhalten. Die Rote Armee hatte Ende Januar nach einer Belagerung von 900 Tagen die Blockade um Leningrad durchbrochen. Im Februar schloss sie in einem Kessel in der Nähe von Tscherkassy zehn deutsche Divisionen ein, um sie zu vernichten, eroberte Estland und erreichte einen Monat später in Polen die Flüsse Bug und Dnister. Innerhalb weniger Wochen sollte sie Sewastopol einnehmen und kurz darauf erst Odessa und dann die Krim zurückerobern. In Italien landeten die Alliierten in Anzio und attackierten Monte Cassino. Mittlerweile flogen die Amerikaner und Briten ununterbrochen Bombenangriffe auf Frankreich und die Niederlande, ganz zu schweigen von jenen auf Hamburg, Nürnberg und direkt auf Berlin – dem ersten großen Luftangriff bei Tage direkt auf die deutsche Hauptstadt. Allein Ende Februar beschädigte oder zerstörte die 8. US-Luftflotte während eines siebentägigen, „Big Week“ genannten Bombenangriffs 70 Prozent aller deutschen Anlagen zur Flugzeugproduktion sowie 290 deutsche Kampfflugzeuge und dabei auch das industrielle Rückgrat Deutschlands. Mit Beginn des Frühjahrs im April flogen die alliierten Luftstreitkräfte 21 000 Einsätze gegen Brücken, Eisenbahnen und andere deutsche Nachschubwege. Sir Arthur Harris, Oberbefehlshaber des britischen Bomberkommandos erklärte: „Die Nationalsozialisten sind mit der irrwitzigen Vorstellung in diesen Krieg eingetreten, sie würden jeden bombardieren und niemand würde zurückbomben … Sie haben den Wind gesät und jetzt werden sie den Sturm ernten!“2 Und all das eröffnete auch dem War Refugee Board neue Möglichkeiten. Weitgehend durch private Spenden finanziert, war das War Refugee Board (WRB) erschreckend spät – für Millionen zu spät – gegründet worden. Nach der Ernennung von John Pehles, Morgenthaus pragmatischem Berater, zum neuen Interimsdirektor, machte sich das WRB allerdings sofort an die Arbeit. Es war sowohl mit offiziellen Mitteln in Höhe von 250 000 Dollar als auch mit einer erheblichen moralischen Autorität ausgestattet. Nominell waren der

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­ inanz-, der Außen- und der Kriegsminister daran beteiligt, aus praktischen F Gründen wurde es jedoch von Morgenthaus Abteilung geführt, und es ging nun endlich mit jener Geisteshaltung an die Arbeit, die so lange schmerzlich gefehlt hatte. Schnell entwickelte das WRB verschiedene Pläne, um Hitlers Opfer zu retten und ihnen beizustehen, wo immer sie sich aufhielten. „Geschwindigkeit“ lautete die eine Losung, „Handeln“ eine weitere. Morgenthau selbst bemerkte, die Organisation bestehe aus wahren „Kreuzfahrernaturen“. Dabei hatte das WRB zwar nach wie vor einflussreiche Gegner – so kommentierte etwa ein Mitarbeiter des Außenministeriums abfällig: „Dieser Jude Morgenthau und seine jüdischen Berater wie DuBois versuchen das hier zu übernehmen“3 –, doch erfuhr es jetzt sogar von völlig unerwarteten Seiten breite Unterstützung. Schon am 11. Februar 1944 versammelten sich Stabsoffiziere im Konferenzraum des Kriegsministers an einem großen Eichentisch, um über das neugegründete WRB zu sprechen und zu überlegen, wie dessen Anliegen den ­Befehlshabern an der Front zu übermitteln wären. „Wir sind dort drüben“, protestierte einer der Offiziere, „um den Krieg zu gewinnen und nicht um uns um Flüchtlinge zu kümmern.“4 Colonel Harrison Gerhardt, John McCloys Assistent, blaffte zurück, das sehe der Präsident aber ganz anders, für den diese Rettungsmaßnahmen zum siegreichen Feldzug gehörten. Und nach Gelegenheiten für solche Maßnahmen in Europa hielt das WRB unverwandt Ausschau.5 Im Frühjahr schlug Pehle vor, die spanische Regierung solle ihre Grenzen für einzelne Gruppen von Juden öffnen, die aus dem besetzten Frankreich flohen, und wurde darin vom Kriegsministerium unterstützt. In der Zwischenzeit finanzierte das WRB eine Reihe verdeckter Operationen, um Tausende jüdischer Kinder zu schützen, die sich noch in Frankreich befanden. Agenten beschafften gefälschte Geburtsurkunden, Arbeitserlaubnisse und Taufscheine – einfach alles was nötig war, um zu helfen. Bald darauf wurde eine Fluchtroute etabliert, die von Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien führte. Für Flüchtlinge nach Palästina übten die Beauftragten des WRB Druck auf türkische Beamte aus, damit diese alle zehn Tage 200 Juden erlaubten, Istanbul als Durchgangsstation zu nutzen. Insgesamt wurden so ungefähr 7000 Menschenleben gerettet. Auf massiven Druck des WRB und Pehles hin, wurde auf dem Balkan ein Fluchtweg über Land für bulgarische Juden sowie eine Seeroute für jene in Rumänien eingerichtet. Die rumänische Regierung, die dringend ein Ende des Krieges herbeiführen wollte, wurde schließlich dazu bewegt, 48 000 Juden (von ursprünglich 70 000) aus Transnistrien ins Innere Rumäniens überzusiedeln. Weil sie dort nicht den deutschen Truppen in die Quere

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kamen, die sich verzweifelt von der Front zurückzogen, konnten sie gerettet werden. In der Schweiz bestach das WRB Grenzposten, damit sie Flüchtlinge ins Land ließen, was insgesamt 27 000 Juden gelang. Als kleiner aber symbolischer Schritt ließ sich die irische Regierung immerhin dazu bewegen, 500 jüdische Flüchtlingskinder aufzunehmen, und auch Portugal und Schweden wurden zur Aufnahme von Flüchtlingen aufgefordert. Doch nicht jeder Kampf endete erfolgreich. Etwas später unterbreitete Pehle dem Präsidenten einen weitreichenden Vorschlag, wonach dieser erklären sollte, die Vereinigten Staaten würden vorrübergehend „alle unterdrückten Menschen, die vor Hitler flüchteten“, aufnehmen.6 Pehle schrieb in diesem Memorandum an Roosevelt, seiner Meinung nach könne kein Rettungsprogramm erfolgreich sein, wenn die Flüchtlinge nicht Aussicht auf einen sicheren Zufluchtsort hätten. Selbst dann noch, versicherte er dem Präsidenten, würden wahrscheinlich nur sehr wenige Flüchtlinge die Vereinigten Staaten erreichen. Er warb bei Roosevelt um Verständnis dafür, dass Washington mit gutem Beispiel vorangehen müsse, um andere Länder dazu zu bewegen, den Juden Tür und Tor zu öffnen. Als Lösung empfahl Pehle dem Präsidenten, eigenständig zu entscheiden und wie so oft zuvor einen unwilligen Kongress einfach zu umgehen. In diesem Fall solle Roosevelt den Flüchtlingen per Dekret befristet Zutritt ins Land verschaffen. Auch Morgenthau unterstützte diesen Vorschlag nachdrücklich. Doch Henry Stimson, der Kriegsminister, widersprach vehement, und Roosevelt stimmte ihm zu. „Ich fürchte, der Kongress wird dies als Auftakt zu weiteren Verstößen gegen unsere Einwanderungsgesetze verstehen“, sagte Stimson. Der Präsident legte entsprechend sein Veto gegen Pehles Entwurf ein und billigte nur einen weit bescheideneren Kompromiss: Zwei Tage nach den Ereignissen in der Normandie bot er 982 Flüchtlingen vorübergehend Zuflucht. Dabei handelte es sich vorwiegend um Juden aus Süditalien, von denen einige den Horror von Dachau und Buchenwald überlebt hatten. Im August 1944 wurden sie in einer schäbigen Unterkunft in Oswego, New York, untergebracht, wo sie den schrecklich kalten Winter über im Fort Ontario wie Gefängnisinsassen hinter einem Stacheldrahtzaun ausharrten, bewacht von der Armee. Ironischerweise war Roosevelt stolz auf diese Maßnahme und sagte zu Morgenthau: „Ich kenne das Fort sehr gut. Es … ist ein ausgezeichneter Ort.“ Doch tatsächlich war Oswego bestenfalls ein Notbehelf und für die meisten Beobachter, einschließlich der Flüchtlinge selbst, ein grässlicher Misserfolg. Doch mit Rücksicht auf die anhaltende nativistische Stimmung in der Öffentlichkeit und auf seine eigenen Wahlkampfambitionen war der Präsident nicht zu mehr bereit.

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Im März allerdings sah sich das WRB, wenn nicht gar Roosevelt selbst, einer noch größeren Herausforderung gegenüber: Ungarn.7 Als Hitler Anfang März Joseph Goebbels zu sich auf den Berghof kommen ließ, war er erkältet, sein linkes Bein zitterte, und auf dem rechten Auge sah er verschwommen. Obwohl er nun offensichtlich den Krieg verlor, beharrte Hitler felsenfest darauf, er wolle dem ständigen „Verrat“ in Ungarn ein Ende bereiten. Seit geraumer Zeit hatten die Ungarn, die beobachteten, wie sich das Kriegsglück von den Deutschen abwandte, ihre Fühler sowohl zu den westlichen Alliierten als auch zu den Russen ausgestreckt. Außerdem hatte Admiral Miklós Horthy, das 75-jährige ungarische Staatsoberhaupt, fast einer Million ungarischer Juden bisher erlaubt, weitgehend unbehelligt zu leben, und Tausende von Juden aus Polen, der Slowakei und Rumänien hatten deshalb in Ungarn Zuflucht gesucht. Zwei Wochen nach dem Treffen mit Goebbels setzte Hitler Miklós Horthy weiter unter Druck, und die deutschen Armeen machten sich für ihre letzte Invasion in diesem Krieg bereit: Am 19. März 1944 rückten zahlreiche deutsche Truppen in Budapest ein, begleitet von Adolf Eichmanns Männern. Ungarn war jetzt ein standhafter Satellitenstaat der Nationalsozialisten. Mit der vollständigen Machtübernahme waren die Weichen gestellt für den größten einzelnen Massenmord in der Geschichte der Menschheit – der Vernichtung der 750 000 Juden des Landes. Die Nationalsozialisten verloren keine Zeit: Innerhalb weniger Tage wurden 2000 Juden ergriffen. Innerhalb eines Monats fuhren die ersten Deportationszüge los, in denen Tausende Juden, unter fürchterlichen Umständen in Viehwaggons zusammengedrängt, transportiert wurden. Ihr Ziel war Auschwitz, das Zentrum der sogenannten „Endlösung“. Eine ungeheure Zahl von Menschenleben war in Gefahr. Morgenthau und das WRB forderten den Präsidenten auf, eine scharfe Erklärung zu Ungarn zu verfassen und setzten einen entsprechenden Entwurf auf. Doch würde der Präsident überhaupt in der Lage sein, diese Erklärung abzugeben? Roosevelt war inzwischen schwer erkrankt, seine Lungen waren mit Flüssigkeit gefüllt und sein Herz geschwächt, doch Morgenthaus Bericht über die Duldung des Schicksals der europäischen Juden schmerzte ihn noch immer. Daher unternahm der Präsident am 24.  März, nur wenige Tage vor seinem

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schicksalshaften Besuch bei Dr. Bruenn im Bethesda Naval Medical Center, die große Anstrengung, das Regierungsziel bekannt zu geben. Unterstützt werden sollten nicht nur die Juden, die in Europa der Brutalität der Nationalsozialisten ausgeliefert waren, sondern das Ziel war „erweitert worden, um einen Appell im Namen aller, die unter der Folter der Nazis und Japsen“ litten – , wie es William Hassett, Roosevelts Berater, ausdrückte.8 Roosevelt sprach mit heiserer Stimme, und doch war dies bislang seine überzeugendste Stellungnahme. „In einem der schlimmsten Verbrechen der Geschichte“, sagte der Präsident, wobei seine üblicherweise sonore Stimme schwankte, „dauert die pauschale und systematische Ermordung der Juden Europas zu jeder Stunde unvermindert an.“ Er fuhr fort: „Aufgrund der Ereignisse der letzten Tage sind Hundertausende Juden, die, auch wenn sie verfolgt wurden, in Ungarn und auf dem Balkan zumindest eine Zuflucht vor dem Tod gefunden hatten, jetzt, da Hitlers Streitkräfte immer stärker über diese Länder herfallen, von der Vernichtung bedroht.“ Da er wusste, dass die D-Day-Invasion bald bevorstand, fügte er hinzu: „Es wäre eine große Tragödie, wenn diese unschuldigen Menschen, die Hitlers Raserei bereits zehn Jahre überlebt haben, genau am Vorabend des Triumphs über die Barbarei, als die ihre Verfolgung anzusehen ist, sterben sollten.“9 Nach dem Krieg, versprach Roosevelt, würden die Nationalsozialisten schnell zur Rechenschafft gezogen werden. Daher sei es angebracht, erneut entschlossen zu erklären, dass niemand, der an diesen Akten der Brutalität beteiligt sei, ohne Strafe davonkommen werde. Und er warnte nicht nur die Nationalsozialisten, er warnte auch die Satellitenstaaten. „Alle, die wissentlich an den Deportationen der Juden zu ihrem Tod in Polen beteiligt sind … sind ebenso schuldig wie der Henker selbst. Alle, die diese Schuld teilen, werden die Strafe teilen.“ Er wandte sich an das deutsche Volk, es solle sich von Hitlers „wahnsinnigen kriminellen Absichten“ lossagen. Er ermahnte die Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft, Hitlers Opfer zu verstecken und „Beweise aufzuzeichnen, um die Schuldigen zu überführen.“ Und er bekräftigte, dass die Vereinten Nationen „Zufluchtsorte für sie finden würde“, bis der Tyrann Hitler „aus ihren Heimatländern“ vertrieben worden sei. Diese Erklärung brachte Bewegung ins Spiel, und plötzlich wurde der „Endlösung“ die ihr angemessene Aufmerksamkeit zuteil. Auf der Titelseite der New York Times war die Schlagzeile zu lesen: „Roosevelt warnt die Deutschen wegen der Juden, sagt, alle Schuldigen müssten für Gräueltaten zahlen, und fordert die Menschen auf, den Flüchtlingen beizustehen.“10 In den darauffolgenden Tagen wurde Roosevelts Erklärung in zahlreiche Sprachen

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übersetzt und über den gesamten europäischen Kontinent verbreitet. Sie wurde viele Male, nicht nur von der BBC, sondern auch von zahlreichen Untergrundsendern übertragen. Neutrale Radiostationen folgten rasch ihrem Beispiel. Die Erklärung erreichte viele hinter den feindlichen Linien und wurde sogar von vielen Presseorganen in den nationalsozialistischen Satellitenstaaten abgedruckt. Doch am wichtigsten war vielleicht, dass Budapest, dank der Bemühungen des WRB, mit ihr übersät wurde: Tausende von Handzetteln wurden aus der Luft über Ungarn abgeworfen. Das Komitee sorgte auch dafür, dass Warnungen vor der Verfolgung von Kriegsverbrechen verbreitet wurden. Gleichzeitig verpflichtete das WRB den hoch angesehenen Erzbischof Francis Joseph Spellman, einen Vertrauten Roosevelts und gleichzeitig dessen Verbindung zu Papst Pius XII, eine Radiosendung aufzunehmen, in der er ungarische Katholiken unmissverständlich darüber informierte, dass die Verfolgung der Juden gegen die Kirchenlehre verstoße. Um Ungarn zum Nachdenken zu bewegen, warnte Roosevelt drei Tage später erneut, dem Land werde es nicht wie anderen, zivilisierten Nationen ergehen, wenn die Deportationen nicht beendet würden. Um Roosevelts Worten Nachdruck zu verleihen, drängte das WRB General Eisenhower, ebenfalls eine Erklärung abzugeben, die im Juni, nach der Invasion in der Normandie, verbreitet werden sollte. Roosevelt willigte in diese Warnung des WRB an die Nationalsozialisten, unschuldigen Juden wie Nichtjuden kein Leid anzutun, rasch ein, doch auch Eisenhower verwässerte die WRB-Erklärung leicht. Dennoch war seine Aufforderung genauso konkret wie jene des Präsidenten: „Deutsche! In eurer Mitte befinden sich sehr viele Menschen in Konzentrationslagern und Bataillonen von Zwangsarbeitern. Deutsche! Gehorcht nicht einfach Befehlen, gleich von wem sie stammen, die euch dazu anhalten, sie zu belästigen, zu verletzen oder zu verfolgen, gleich welcher Religion oder Nationalität sie angehören. Die Alliierten, deren Armeen in Deutschland schon fest Fuß gefasst haben, erwarten, bei ihrem Vorrücken, diese Menschen lebend und unverletzt aufzufinden. Schwere Strafen erwarten diejenigen, die … für Misshandlungen dieser Menschen verantwortlich sind. Möge dies denjenigen als Warnung dienen, die gegenwärtig die Macht besitzen, Befehle zu erteilen.“11 In der Zwischenzeit warteten die Juden in Ungarn voller Schrecken und schlimmer Vorahnungen. Sie warteten und lauschten den schrillen Pfiffen,

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während die Viehwaggons anrollten, warteten auf die Rettung durch die Alliierten. Sie hörten Gerüchte über weit entfernte Befreiungen, während sie auf ihre eigene durch die Sowjets warteten. Hätten sie von ihnen gewusst, dann hätten sie auch auf jene gewartet, die versuchten, die Welt zum Handeln zu bewegen: den deutschen Industriellen Eduard Schulte, den Schweizer Humanisten Gerhard Rieger, den Aktivisten Rabbi Stephen Wise, den palästinensischen Agitator Peter Bergson, den polnischen Agenten Jan Karski, die aus Auschwitz geflohenen Vrba und Wetzler, den Minister Henry Morgenthau und seinen Assistenten John Pehle, das WRB, den Erzbischof von Canterbury und den polnischen Widerstand. Sie warteten auf Bomber am Himmel und GIs am Boden, auf brodelnden Unmut in den Satellitenstaaten der Achsenmächte und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes. Sie warteten darauf, dass die Lager bombardiert würden, bis sie kapitulierten. Und am dringlichsten warteten sie darauf, dass Franklin Delano Roosevelt, der bemerkenswerte Präsident der Vereinigten Staaten, ihnen zu Hilfe kommen würde. Im späten Frühjahr 1944 hofften Hunderttausende von Juden, die letzten Überreste eines Grundpfeilers der europäischen Zivilisation, all das Warten möge bald ein Ende haben. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Das war der Auftakt zu einer der folgenschwersten Entscheidungen während Roosevelts Präsidentschaft und des gesamten Krieges. Während amerikanische, britische und kanadische GIs die Strände der Normandie stürmten und die deutschen Verteidigungslinien durchbrachen, stellte sich die schicksalhafte Frage: Sollten die Alliierten die Eisenbahnstrecke nach Auschwitz oder sogar Auschwitz selbst bombardieren? Am 10. Mai 1944, mehrere Wochen nachdem United Press berichtet hatte, dass 300  000 ungarische Juden gezwungen worden waren, sich in Sammellagern einzufinden, publizierte die New York Times eine ihrer eindrucksvollsten Reportagen, ein Telegramm aus Istanbul mit dem Titel „Juden in Ungarn befürchten ihre Vernichtung.“12 Joseph Levy schrieb darin: „Obwohl es unvorstellbar klingen mag, ist es eine Tatsache, dass sich Ungarn, wo jüdische Bürger bis zum 19. März vergleichsweise gut behandelt wurden, jetzt auf die Vernichtung der ungarischen Juden mit den teuflischsten Methoden vorbereitet. Während sie über Präsident Roosevelts Warnungen lacht, vollendet die Marionet-

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tenregierung von Ministerpräsident Döme Sztójay ihre Pläne und steht kurz davor, mit der Vernichtung von etwa einer Million Menschen zu beginnen, die im Vertrauen auf die ungarische Anständigkeit glaubten, sie seien sicher.“ Der Artikel zitierte des Weiteren einen neutralen Diplomaten, der „die abscheulichsten Verbrechen“ beklagte. Trotz seiner Sympathie für Ungarn, forderte er praktisch zu einem „Bombardement Budapests durch die Alliierten“ auf, um der Barbarei ein Ende zu setzen. Einige Tage später veröffentlichte die Times einen weiteren Bericht, dieses Mal darüber, dass eine erste Gruppe von Juden aus ländlichen Gebieten Ungarns in „Mordlager in Polen“ weggeschafft worden sei. Roosevelts Reaktion? Obwohl der Präsident gerade von einer einmonatigen Erholungspause in South Carolina zurückgekehrt war, war er immer noch erschöpft und angegriffen. Seine Stimme hatte ihr Feuer so weit verloren, dass seine Berater ihn manchmal kaum mehr verstanden. Am folgenden Morgen berichtete die New York Times, Ross McIntire, der Arzt des Präsidenten, glaube, Roosevelt müsse es weiterhin „ein wenig ruhiger angehen lassen als sonst.“ Fürs Erste bedeutete dies, dass sich andere Regierungsmitglieder mit der Auschwitz-Frage befassen mussten. Am 2.  Juni 1944, vier Tage vor dem D-Day, wandte sich Harold Ickes, der ­Innenminister, mit einer anderen Frage, die er als „dringende Angelegenheit“ erachtete, schriftlich an Franklin D. Roosevelt. Es ging um etwa 120 000 Amerikaner japanischer Herkunft, die fast zweieinhalb Jahre zuvor gezwungen worden waren, von der Westküste in zehn „Internierungslager“ umzuziehen – ­Roosevelt selbst nannte diese Einrichtungen übrigens „Konzentrationslager“. Sie befanden sich an entlegenen Orten und waren bestenfalls primitiv: Es gab meist nur Plumpsklos und bis zu 25 Personen lebten in einem Raum, der für vier vorgesehen war. In den Wüstenlagern stiegen die Temperaturen im Sommer auf über 46 Grad Celsius, und im Winter fielen sie auf minus 37. Jedes Lager war von mehreren Reihen Stacheldraht umgeben und von Bewaffneten bewacht. Nun legte Ickes dar, es gebe keine Rechtfertigung für die weitere Internierung. Die Verbannung von Amerikanern japanischer Herkunft von der Westküste verstoße ganz klar gegen die Verfassung, was der Oberste Gerichtshof später im Jahr sicher bestätigen werde. Zudem behindere die Internierung Verhandlungen mit den Japanern über einen besseren Umgang mit amerikanischen Kriegsgefangenen, und darüber hinaus könnten die Insassen psychische

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Schäden davontragen. Ickes schrieb sogar: „Die weitere Internierung dieser unschuldigen Menschen in Lagern wäre ein Makel in der Geschichte dieses Landes.“ Und nicht nur Ickes war alarmiert. Eleanor Roosevelt hatte ihren Mann schon lange gedrängt, die Lager zu schließen und stattdessen ein Programm ins Leben zu rufen, um Amerikaner über die Grundlagen der Demokratie aufzuklären. Jetzt tat sie sich mit Ickes zusammen und forderte Roosevelt dazu auf, die im Februar 1942 unterzeichnete Verordnung 9066 aufzuheben, auf deren Grundlage die Lager und das Internierungssystem eingerichtet worden waren. Der Präsident ließ sich mit seiner Antwort Zeit, fällte aber am 12. Juni eine Entscheidung: Die Lager blieben fürs Erste bestehen, und „das ganze Problem sollte der inneren Ruhe halber erst nach und nach abgewickelt werden.“ Mit anderen Worten, die Verordnung blieb bis auf Weiteres in Kraft. Niemand war darüber so erleichtert wie John McCloy, der Staatssekretär des Kriegsministers, bekannt als „Weichensteller der Abteilung für innere Sicherheit.“ Nach einem Besuch im Weißen Haus am 12. Juni, um den Vorschlag zur Rückkehr „einer großen Zahl“ von Amerikanern japanischer Herkunft nach Kalifornien zu besprechen, schickte er einen Bericht an den Militärkommandanten der Westküste: „Vor Kurzem war ich beim Präsidenten. Er hat diesen Plan abgelehnt. Er war in dem Augenblick von seinen politischen Beratern umgeben, die heftig darauf herumritten, er könne die Jungs in Kalifornien in Aufregung versetzen, und Kalifornien ist offenbar ein wichtiger Staat.“ 1944 war ein Wahljahr, und wie schon das Thema jüdischer Flüchtlinge hätte sich auch jenes der Internierungen zu einem peinlichen Problem auswachsen können.13 Die Ursachen für die Internierung von Amerikanern japanischer Herkunft durch die Vereinigten Staaten reichen weit vor den Anschlag auf Pearl Harbor zurück und stehen genau mit dem Mann in Zusammenhang, den Roosevelt mit dieser Aufgabe betraute: John Jay McCloy.14 In gewisser Weise war McCloys Leben zu Beginn ähnlich wie das von Roosevelt verlaufen. Beide hatten den Vater in jungen Jahren aufgrund einer Herzkrankheit verloren, beide hatten willensstarke Mütter. Doch während Roosevelt es vermied, als Jurist zu arbeiten, stürzte McCloy sich ins Fach und machte in New Yorks Spitzenkanzleien rasch Karriere. Und daneben gab es weitere wesentliche Unterschiede. Als Roosevelts Vater aufgrund seiner Herzerkrankung weitgehend arbeitsunfähig wurde, litt der junge Franklin nicht unter materiellen Problemen oder Entbehrungen, war doch für sein finanzielles Wohlergehen gesorgt. Im Gegensatz dazu blieben

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die McCloys, als John Senior seine tödliche Herzattacke erlitt, ohne Einkommen zurück. Nicht einmal auf eine Lebensversicherung konnten sie zurückgreifen, da John McCloy Senior, der selbst für die PennMutual Versicherung Policen für den Todesfall bearbeitete, keine solche abgeschlossen hatte. Als der Junge zwölf Jahre alt war, schickte seine Mutter ihn aufs Internat Peddie in Hightstown, New Jersey, wo die Söhne von Männern „mittleren Standes“ in Industrie und Wirtschaft ausgebildet wurden.15 In Peddie entdeckte McCloy sein Faible für Tennis, bekam gute Noten und erhielt die Zulassung für das Amherst College in Massachusetts, in den westlichen Berkshire Mountains gelegen. Danach bewarb er sich in Harvard und wurde im Herbst 1916 angenommen. Während des Ersten Weltkriegs war McCloy Mitglied des ReserveoffizierAusbildungskorps (ROTC) und wurde nach Plattsburgh geschickt. Er spezialisierte sich auf die Feldartillerie und wurde zunächst im Fort Ethan Allen in Vermont eingesetzt, wo Brigadegeneral Guy Preston auf ihn aufmerksam wurde. Doch trotz dessen Drängen schlug McCloy eine militärische Karriere aus und kehrte an die Harvard Law School zurück. Nachdem es ihm nicht gelang, in einer Kanzlei in Philadelphia eine gehobene Position zu erreichen, ging er an die Wall Street und trat schließlich in die Kanzlei Cravath, Henderson und de Gersdorff ein. Dort arbeitete er in den Bereichen Unternehmenssanierung und Wertpapieremission und reiste zu diesem Zweck durch ganz Europa. In den folgenden Jahren heiratete er die Schwägerin eines einflussreichen New Yorker Kongressabgeordneten. Cravath schickte McCloy auch zur Eröffnung eines Büros nach Paris, wo er ein Mandat für einen Fall am Haager Schiedsgericht erhielt. Die Klägerin, Bethlehem Steel, eine Mandantin von Cravath, behauptete, eine Explosion im New Yorker Hafen, die 1916 ein Munitionsdepot von Bethlehem im Wert von mehreren Millionen Dollar zerstört hatte, sei das Werk deutscher Geheimagenten gewesen.16 Fasziniert fand sich McCloy bald in einem Agententhriller wieder. Während der 1930er Jahre verbrachte er die meiste Zeit damit, in ganz Europa die mutmaßlichen deutschen Saboteure zu verfolgen, die er manchmal sogar zusammen mit seiner Frau beschattete. Der Fall wurde zwar schließlich 1941 vom Supreme Court zugunsten von McCloys Mandantin abgeschlossen, doch prägte ihn die Affäre nachhaltig. Auch später noch achtete McCloy ständig auf mögliche subversive Aktivitäten, und war ähnlich wir Breckinridge Long sehr empfänglich für Theorien über eine „Fünfte Kolonne“, heimliche

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Umstürzler im eigenen Land. Nach seinem Eintritt ins Kriegsministerium wurde er rasch zum Unterstaatssekretär befördert. Als deutsche Truppen dann durch Europa marschierten, war McCloy, in den Worten seines Biografen Kai Bird, förmlich „besessen“ vom Gedanken an Sabotage: „Anfang 1941 verbreitete er ständig Gerüchte des militärischen Geheimdienstes über mehrere mutmaßliche Saboteure und ihre mögliche Verbindung zu einer Reihe von Anschlägen gegen amerikanische Verteidigungsbetriebe.“17 Als er im November 1941 Armeeberichte las, in denen behauptet wurde, die Japaner hätten „ein gut entwickeltes Spionagenetzwerk entlang der Pazifikküste“, hegte McCloy daher keinerlei Zweifel. Der hinterhältige Angriff auf Pearl Harbor schürte McCloys tiefste Befürchtungen noch. Am Tag nach dem Bombardement rief er Stimson zu Hause an, um ihm zu berichten, dass „sich eine feindliche Flotte San Francisco näherte“,18 was sich schnell als falscher Alarm herausstellte. Doch machte sich der Glaube breit, japanische Spione hätten Hawaii und die Westküste infiltriert. Fast 1400 japanische Staatsbürger wurden in den ersten fünf Tagen nach dem Angriff interniert, und Zeitungen wie die Los Angeles Times berichteten atemlos über die Wahrscheinlichkeit japanischer Angriffe entlang der Westküste. Im Januar verlangte ein Kongressabgeordneter aus Los Angeles, alle Japaner sollten im Binnenland interniert werden. Verglichen mit den Amerikanern deutscher und italienischer Abstammung waren die japanischstämmigen eine kleine Minderheit von 120 000 Menschen. Zwei Drittel von ihnen waren zudem in den Vereinigten Staaten geboren. Doch gerade wegen ihrer geringen Zahl und weil sie vor allem an der Westküste lebten, waren sie leicht ins Visier zu nehmen. Nach der Veröffentlichung eines Berichts der Roberts Kommission am 24. Januar 1942 erreichte die Besorgnis hysterische Ausmaße. Diese mit der Untersuchung des Angriffs auf Pearl Harbor beauftragte Kommission war zu dem Schluss gekommen, die japanische Kampftruppe sei von Spionen auf Hawaii unterstützt worden. Die Kommission konnte keine Nachweise dafür vorbringen, doch die bloße Anschuldigung reichte völlig aus: Der für diese Region zuständige General, John DeWitt, fing an, die Japaner als „feindliche Rasse“ zu bezeichnen. Einige einflussreiche Personen waren allerdings anderer Meinung, und in Washington legte kein Geringerer als J. Edgar Hoover vom FBI scharfen Widerspruch ein. Seiner Ansicht nach zeigten die Behauptungen des militärischen Nachrichtendienstes Anzeichen von „Hysterie und mangelndem Urteilsvermögen.“19

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Am 1. Februar 1942 trafen sich Befürworter und Gegner der Deportation von japanischstämmigen Amerikanern in Washington,  D.C. Der Generalstaatsanwalt und Hoover plädierten energisch gegen die Internierung, das Militär argumentierte dafür, während John J. McCloy dem Ganzen zunächst nur als ziviler Vertreter des Kriegsministeriums still beisaß. Schließlich jedoch, als sich das Für und Wider hinzog, unterbrach McCloy den Generalstaatsanwalt mit den Worten, „[w]enn es eine Entscheidung zwischen der Sicherheit des Landes [und] der Verfassung der Vereinigten Staaten ist, nun, dann ist die Verfassung für mich nur ein Blatt Papier.“20 Während der nächsten Tage machte General DeWitt immer wieder Druck, indem er zu glauben behauptete, japanische Spione auf dem Festland stünden in regelmäßigem Austausch mit japanischen U-Booten vor der Küste, was Wasser auf McCloys Mühlen war. Dieser begann jetzt nach einem Weg zu suchen, um japanische Bürger in Massenevakuierungen aus ihren Wohnungen und Gemeinden entlang der Westküste zu entfernen. Am 11.  Februar nahm Kriegsminister Stimson, auf McCloys Drängen hin, mit Roosevelt wegen des Evakuierungsplans Kontakt auf. Stimson brachte seine Argumente vor, und Roosevelt stimmte bereitwillig zu. ­McCloy formulierte es so: 21 „Soweit es den Präsidenten betrifft, haben wir Carte Blanche …“22 Doch nach wie vor herrschte keineswegs Einmütigkeit, und nicht jeder ­Militäroffizier war mit den Evakuierungsbemühungen einverstanden. So widersprach ausnahmsweise der stellvertretende Stabschef der Armee, Mark Clark, heftig, und auch der Korvettenkapitän Kenneth D. Ringle, ein führender ­Japanspezialist im Marine-Nachrichtendienst schätzte, dass weniger als drei Prozent, also nur etwa 3500 Personen, tatsächlich eine Bedrohung darstellten – und davon befanden sich die meisten schon in Gewahrsam. Auch wurde ­hinterfragt, ob Roosevelt wirklich aus eigenem Antrieb dem Evakuierungsplan zugestimmt oder lediglich Stimson die Entscheidung überlassen hatte. Zweifelsfrei steht jedoch fest, dass der Präsident, als Oberbefehlshaber, letztendlich bloß dem Ermessen des Kriegsministeriums folgte und dass dort Militärs wie zivile Vorgesetzte für die Internierung plädierten. Roosevelt unterzeichnete die Verordnung 9066 am 19. Februar ohne Skrupel. „Ich denke nicht, dass er wegen der Schwere oder der Implikationen dieser Maßnahme große Bedenken hatte“, schrieb Generalstaatsanwalt Francis Biddle. Die Verordnung 9066 autorisierte den Kriegsminister, „militärische Gebiete festzulegen, aus denen sämtliche Personen ausgeschlossen werden konnten“, und übertrug dem Kriegsministerium in diesen Gebieten die Vollmacht, „für

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jede Person das Recht“ festzulegen, „diese zu betreten, dort zu bleiben oder sie zu verlassen“. Der nächste Schritt war, Amerikaner japanischer Herkunft zusammenzutreiben. Gezwungen, ihre Häuser zu verlassen sowie Güter und Land zu verkaufen, verloren sie mehr als 400 Millionen US-Dollar – nach heutigem Wert weit über 5 Milliarden. Ausschlaggebend für die Evakuierungen waren Wohnort und Abstammung. Die hierzu geführten Debatten erinnern in gewissem Sinne an jene, die zu Beginn des „Dritten Reiches“ über Juden geführt wurden. So waren anfänglich selbst Amerikaner mit nur einem sechzehntel japanischer Abstammung den Evakuierungsbefehlen unterworfen, später dann nur noch solche mit mindestens einem japanischen Elternteil. Aus derlei Gründen wurden jetzt zunächst Zehntausende Amerikaner japanischer Herkunft in Sammelzentren festgehalten. Auf dem Santa Anita Rennplatz waren sie in Pferdeställen untergebracht, umgeben von Wachtürmen und Suchscheinwerfern. Ende 1942 waren im Westen der USA mehr als 100 000 japanischstämmige Amerikaner offiziell in mit Teerpappe gedeckten Baracken interniert, in ­Lagern mit Schulen, Gemeinschaftsküchen, Kirchen und Freizeitbereichen. Der Mann, der ursprünglich für das Projekt verantwortlich war, Milton Eisen­ hower, General Dwight D. Eisenhowers jüngerer Bruder, warf nach drei Monaten das Handtuch. Er sagte seinem Nachfolger, er könne den Job haben, wenn er ihm gewachsen sei und trotzdem nachts noch ruhig schlafen könne. Ihm selbst gelinge das nicht. Doch John McCloy beharrte darauf, die amerikanischen Westküstenbewohner japanischer Herkunft hinter Stacheldraht festzuhalten. In gewissem Sinne war er für sie, was Long für die europäischen Juden gewesen war. Und zunächst hatte so gut wie niemand in Washington etwas dagegen einzuwenden. Für die japanstämmigen Amerikaner in den Lagern waren die Zustände oft brutal.23 In Tule Lake, Kalifornien, patrouillierten ein halbes Dutzend Panzer um die Eingrenzung, ein Stacheldrahtzaun zog sich um das Lager, und die mit Maschinengewehren bewaffneten Wachen hatten volle Bataillonsstärke. „Kein Bundesgefängnis behandelt seine erwachsenen Gefangenen auf diese Weise“, schrieb William Denman, der vorsitzende Richter des 9. Bundesgerichtskreises später entrüstet. „Und hier lebten auch Kinder und Babys.“24 Ende 1943, als die Sorge um die europäischen Juden zunahm, kamen im offiziellen Washington erneute Bedenken bezüglich der fortdauernden Internierungen auf, und Einwände gegen deren Verfassungsmäßigkeit erreichten allmählich das Oberste Gericht.25 Die Debatte wurde heftiger. Nach Prüfung des gesamten Sachverhalts bestand Generalstaatsanwalt Biddle gegenüber

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Roosevelt darauf, dass die „Konzentrationslager“ gegen jedes Prinzip einer demokratischen Regierung verstößen. Auch Henry Stimson äußerte im Mai 1944 gegenüber Roosevelt, dass es keinen militärischen Grund dafür gebe, treue Amerikaner japanischer Herkunft gefangen zu halten. Und schließlich forderten auch Harold Ickes und Eleanor Roosevelt Anfang Juni deren Freilassung. Doch Roosevelt, der zwischen einer vernünftigen und einer politischen Entscheidung zu wählen hatte, gab der Politik den Vorzug: Die Präsidentschaftswahl 1944 stach alle anderen Anliegen aus, und im zynischen Kalkül der Regierung, hätte eine Freilassung der japanstämmigen Amerikaner wichtige Stimmen in Kalifornien kosten können.26 McCloy seinerseits befürchtete, Stalin könnte einen Separatfrieden mit den Deutschen aushandeln, wenn Roosevelt nicht erneut gewählt würde. Daher machte er es sich zur Aufgabe, das Thema der Internierung bis in den Spätherbst unter den Teppich zu kehren. Der endgültige Befehl, die Internierten freizulassen, erging von der Armee erst am 17.  Dezember 1944, einen Tag vor der Ankündigung des Supreme Court, dass die War Relocation Authority, eine für kriegsbedingte Umsiedlungen zuständige Behörde, nicht berechtigt sei, Bürger zu internieren, die „zugestandenermaßen loyal“ seien – ein Urteil, das die Freilassung all jener Internierten nach sich gezogen hätte, denen keine Illoyalität nachgewiesen werden konnte. Doch noch im Juni 1944 und darüber hinaus hatte die Einstellung der Regierung „abzuwarten und aufzuschieben“ nicht nur für die japanstämmigen Amerikaner und ihre Kinder, sondern auch für Hunderttausende anderer Menschen schwerwiegende und tödliche Konsequenzen. Der Grund dafür war vor allem, dass ausgerechnet John J. McCloy, der die Internierung der Japaner in die Wege geleitet hatte, nun im Kriegsministerium auch die Weichen stellen sollte, um alles Menschenmögliche zur Rettung der europäischen Juden zu unternehmen, die im Vernichtungslager Auschwitz gefangen oder auf dem Weg dorthin waren. Ende Mai veröffentlichte die New York Times einen weiteren Bericht, dieses Mal mit der Mitteilung, dass die erste Gruppe von Juden aus ländlichen Gebieten Ungarns in „Mordlager“ in Polen gebracht worden sei. Und Mitte Juni lancierten Aktivisten eine konzertierte Aktion, um die amerikanische Regierung dazu anzuspornen, den Juden in Ungarn zu helfen. Jacob Rosenheim von der Agudath Israel Weltorganisation schrieb eine Reihe von Klagen an hochrangige Regierungsmitarbeiter und bat sie, nicht nur starke Worte zu

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äußern, sondern zu konkreten Taten zu schreiten. In der Vergangenheit hatten Aktivisten wie Stephen Wise und Gerhart Riegner immer wieder der Regierung gegenüber eingelenkt, doch dieses Mal unterbreitete Rosenheim konkrete strategische Vorschläge: Er forderte, die Alliierten sollten die Eisenbahnknotenpunkte Prešov und Košice entlang der Hauptbahnstrecke nach Auschwitz bombardieren. Eine solche Maßnahme, so argumentierte er, würde die Vernichtungsversuche der Nationalsozialisten „lahmlegen“. Unmissverständlich wies er auch darauf hin, wie sehr die Zeit drängte: „Die Bombenangriffe müssen sofort durchgeführt werden“, schrieb er, „denn jeder Tag Aufschub bedeutet eine sehr schwere Verantwortung für die Menschenleben, die in Gefahr sind.“27 Rosenheims Informationen beruhten nicht auf Spekulationen. Er hatte Zugriff auf den Vrba-Wetzler-Bericht, der das Vernichtungslager zum ersten Mal genau mit Auschwitz benannte und der auf seinen 30 Seiten die Funktionsweise des Vernichtungslagers inklusive der Gaskammern bis ins kleinste und entsetzlichste Detail darlegte. Nachdem dieser Bericht Budapest und die Führung der ungarischen Juden Anfang Mai erreicht hatte, war er bis Mitte Juni Allen Dulles28 in der Schweiz übermittelt und dann an Roswell McClelland, den Vertreter des WRB in Genf, weitergeschickt worden. McClelland fasste schnell ­einen Entschluss: Weil Vrba und Wetzlers Aussagen so grauenvoll und so überzeugend waren, wollte er später ein längeres Telegramm verfassen, um die ­Implikationen zu erläutern. Doch da nun Eile geboten war, brachte er am 24. Juni bereits eine Zusammenfassung auf den Weg – ein Telegramm von drei Seiten, an Pehle beim WRB in der Hauptstadt. Schweren Herzens fasste er zusammen: „Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass viele dieser ungarischen Juden in die Vernichtungslager in Auschwitz […] und Birkenau […] im Westen Oberschlesiens geschickt werden, wo, den neuesten Berichten nach, seit Beginn des Sommer 1942 mindestens 1 500 000 Juden umgebracht worden sind.“29 Er fügte hinzu, dass ein detaillierterer Bericht bald per Telegramm durchgegeben würde. Auch beschrieb er ausführlich die Umstände der Deportationen aus Ungarn: die grauenvolle, tagelange Reise nach Polen, auf der Hunderte wegen mangelnden Essens und zu wenig Luft starben. Und er gab die Bitte der Gewährsleute aus der Slowakei und Polen weiter, dass die Eisenbahnlinien, „insbesondere Brücken“, bombardiert werden sollten, als einziges Mittel, zukünftige Deportationen zu verzögern oder zu stoppen. McClelland wusste, dass das WRB nicht autorisiert war, Militärmaßnahmen zu bewilligen. Deshalb fügte er seiner Mitteilung zwar an, es stünde ihm nicht zu, den Nutzen der

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vorgeschlagenen Bombardierung zu beurteilen, doch allein dadurch, dass er den Vorschlag beifügte, signalisiert er schon deutlich seine Befürwortung direkter Aktionen gegen die Transportrouten nach Auschwitz. Noch am selben Tag traf sich ein besorgter Pehle mit McCloy in dessen geräumigem Büro im Kriegsministerium und besprach mit ihm Rosenheims Vorschläge. Pehle bewegte sich hier auf unsicherem Terrain, und er war sich dessen bewusst. Das ursprüngliche Mandat des WRB war es zwar, Juden zu retten, die sich in direkter Todesgefahr befanden, „soweit es sich mit der erfolgreichen Weiterführung des Krieges vereinbaren“ ließ. Doch konnte das WRB auch Maßnahmen zur Rettung der Juden vorschlagen, die militärisches Eingreifen zur Folge hätten? Ja und nein, kam es doch darauf an, was das Weiße Haus darüber dachte. Und welche Absichten Roosevelt auch haben mochte, er wusste genau, dass der Krieg seine eigenen Notwendigkeiten mit sich brachte und Grundsätze oft Veränderung, Improvisation oder Ambivalenzen weichen mussten. Und doch hatte Pehle, wie er zu verstehen gab, „einige Zweifel in der Sache.“30 Er zögerte, militärische Unterstützung zu erbitten, und fragte sich laut, ob die Eisenbahngleise lange genug beschädigt sein würden, um das Funktionieren der Vernichtungslager nachweislich zu beeinträchtigen. Zu diesem Zeitpunkt tastete sich Pehle noch langsam vor. Nach der Unterredung schrieb er eine Mitteilung, in der er gegenüber McCloy klarstellte, dass er das Kriegsministerium in Hinblick auf die vorgeschlagenen Bombardements lediglich um eine angemessene Prüfung bitte. Doch fügte er eine wichtige Klausel hinzu: „zu diesem Zeitpunkt, zumindest“. Mit anderen Worten, er ging auf Nummer sicher, ließ sich aber die Möglichkeit offen, später konkretere Forderungen zu stellen. McCloy, ein Meister darin, alle Möglichkeiten des Systems auszunutzen, versicherte Pehle, er werde sich „die Sache näher ansehen“ und nehme sie durchaus ernst. Pehle versuchte seinerseits, den Druck auf McCloy zu verstärken. Noch in derselben Woche schickte er McCloy eine Kopie von McClellands Telegramm, wobei er die Aufforderung, „wichtige Abschnitte“ der Eisenbahngleise zu bombardieren, unterstrich. In der Zwischenzeit setzte sich die Maschinerie des Kriegsministeriums in Bewegung, um eine Stellungnahme zu Rosenheims ursprünglicher Forderung zu entwerfen. Ohne weiteren Druck von oben verzichtete man darauf, die militärische Machbarkeit eines solchen Bombardements der Eisenbahngleise oder irgendeiner vergleichbaren Maßnahme gegen die Deportationen zu untersuchen. Stattdessen griff General John E. Hull, dem die lästige Aufgabe zukam, auf das Telegramm zu antworten, einfach auf Roosevelts öffentliche Äußerungen sowie interne Memoranden des Kriegsministeriums

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vom Februar 1944 zurück: „Die effektivste Hilfe für die Opfer feindlicher Verfolgung ist es, für einen schnellen Sieg über die Achse zu sorgen.“ Als McCloy diese Standardantwort vorgelegt wurde, zeichnete er sie schleunigst ab und wies seinen persönlichen Berater Gerhardt an, die Sache „abzuwürgen“. Am 3. Juli 1944 schrieb dieser jedoch an McCloy. „Ich weiß, Sie sagten mir, ich solle dies ‚abwürgen‘, aber seit dieser Anweisung haben wir den beigefügten Brief von Pehle erhalten. Ich schlage vor, die beigefügte Antwort zu schicken.“ Als habe sich mit Pehles zweitem Schreiben überhaupt nichts verändert, lautete Gerhardts Entwurf zu einem Antwortschreiben: „Das Kriegsministerium ist der Meinung, dass die vorgeschlagene Luftoperation nicht durchführbar ist.“ Sie könne nur durch die Umleitung der beträchtlichen Luftunterstützung durchgeführt werden, die ausschlaggebend sei für den Erfolg jener Streitkräfte, die jetzt in entscheidende Operationen involviert seien. Außerdem sei ein solches Bombardement in jedem Fall von zweifelhafter Wirksamkeit und erscheine daher nicht praktikabel. Ohne lange zu überlegen, unterzeichnete McCloy den Entwurf. Diese Antwort bestand nur aus Phrasen, und Gerhardt musste das gewusst haben. Einer der Mitarbeiter des WRB, Benjamin Akzin, erboste sich darüber,31 wusste er doch genau, dass für das Bombardement der Eisenbahngleise keine umfangreiche Luftunterstützung von Kriegsschauplätzen abgezogen werden musste. Seit dem Frühjahr, als die Alliierten die Luftwaffenbasis in Foggia, Ita­ lien, erobert hatten, waren ständig amerikanische Langstreckenbomber über den Lagerkomplex hinweg oder in dessen Nähe geflogen, außerdem hatten die Alliierten Hitlers Luftwaffe zur Bedeutungslosigkeit reduziert. Und schon am 4. April waren Luftaufklärungsaufnahmen des Lagers Auschwitz – Vrba selbst erinnerte sich später lebhaft an das Röhren der Flugzeuge am Himmel – sowie von der petrochemischen Anlage der IG Farben in der Nachbarschaft gemacht worden, und am 26. Juni 1944, nur wenige Tage bevor McCloy Pehle über die Unmöglichkeit des Bombenangriffs informierte, entstanden weitere. Tatsächlich sollten die Vereinigten Staaten in den kommenden Wochen einen intensiven Luftkrieg gegen Deutschlands Hydrierwerke zur Herstellung synthetischen Treibstoffs in eben dieser Region durchführen, und häufig fanden diese Angriffe in unmittelbarer Nähe der Vernichtungslager statt. Sie waren so erfolgreich, dass die deutsche Produktion von synthetischem Treibstoff von einem Maximum von 1043 Tonnen pro Tag am 1. Juli auf 417 Tonnen am 25. Juli fiel.32 Allen Berichten zufolge wurden die Militäroperationen des „Dritten Reiches“ durch diesen Benzinverlust derart ausgebremst, dass ein demora-

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lisierter Rüstungsminister in Deutschland im verzweifelten Bemühen, Treibstoff zu sparen, von Hitler verlangte, er möge den gesamten Kurierluftverkehr einstellen. Von solchen zuvor unvorstellbaren Maßnahmen waren auch deutsche Passagierflüge, keineswegs aber die Alliierten betroffen. Am 7. August nahm eine Flotte von 76 Bombern und 64 Jagdflugzeugen der US-Luftstreitkräfte ihre Ziele ins Visier und traf die Raffinerien in Trzebinia, nur 20 Kilometer nordöstlich von Auschwitz gelegen. Dann, am 20. August um 22.32 Uhr, bombardierte das 15. Geschwader der US-Luftstreitkräfte das nur fünf Kilometer östlich von Auschwitz-Birkenau gelegene Lager ­Monowitz, wo synthetischer Treibstoff und Gummi produziert wurde, und verursachte „beträchtliche Schäden“. 28 ohrenbetäubende Minuten lang warfen 127 B-17 Bomber, eskortiert von 100 Mustang-Jagdflugzeugen, insgesamt 1336 Sprengbomben von 226 Kilogramm aus einer Höhe von etwa 8000 Metern ab. Die erschöpften deutschen Verteidiger konnten nur ein Flugzeug abschießen, während es am Boden zu Verlusten kam. Mehr als 300 Arbeits­ sklaven wurden verletzt, und obwohl die SS-Wachen „davonliefen“ und in die Bunker rannten, wurden doch auch mehrere von ihnen verwundet. Und die Offensive ging weiter: Am 27. August erhoben sich 350 schwere Bomber in den Himmel und flogen einen Angriff auf Blechhammer, und zwei Tage später griffen 218 Bomber Bohumín an, wieder in Reichweite von Auschwitz.33 Darüber hinaus machten Flugzeuge der Vereinigten Staaten, die Aufklärungsflüge über Auschwitz unternahmen, nicht nur am 4. April und 26. Juni, sondern bei zahlreichen anderen Gelegenheiten Luftaufnahmen von den Lagern einschließlich des 9., 12. und 25. Augusts.34 Eine sorgfältige Untersuchung dieser Bilder hätte eine genaue Lokalisierung der Gaskammern, der Krematorien, des Gleisanschlusses, der Züge und der Rampen, der Baracken im Frauenlager und sogar des eigens angelegten Gartens, der die Gaskammern verbarg, leicht ermöglicht. Eine solche Untersuchung blieb jedoch aus. Die im gleißenden Sonnenlicht gemachten Fotografien vom 25.  August fallen besonders auf – Hunderte von Bombenkrater sind darauf deutlich zu erkennen, ebenso wie 151 weitere Gebäude, einschließlich der Lagerunterkünfte für etwa 30 000 Juden, die von Birkenau nach Auschwitz III verlegt worden waren. Und noch etwas ist erschreckend genau zu erkennen: eine Reihe von Juden, die sich hintereinander her auf dem Weg von einem Viehwaggon zu einer Gaskammer schleppen.

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Was die Ungarn betraf, die zu Hunderttausenden in Auschwitz ankamen, so hofften die meisten von ihnen zweifelsohne sehnlichst auf die Bomber der Alliierten, auch wenn sie damit selbst den Angriffen zum Opfer fallen würden. Alliierte Flugzeuge in großer Höhe auf ihrem Weg zu weiter entfernten Zielen und „das gewaltige Rattern“ der Bomber zu beobachten, bewegte die Insassen von Auschwitz stark. „Wir sahen viele Male die silbernen Kondensstreifen am Himmel“, erinnerte sich der Gefangene Erich Kulka später. „Alle SS-Männer pflegten in die Bunker zu laufen, aber wir kamen aus unseren Baracken und beteten darum, dass eine Bombe fallen oder Soldaten und Waffen an Fallschirmen herabschweben sollten, aber vergeblich.“ Hugo Gryn, ein 15-jähriger ungarischer Junge, schrieb später: „Einer der schmerzlichsten Gesichtspunkte des Lebens im Lager war das Gefühl, total vergessen zu sein.“35 Elie Wiesel, Träger des Friedensnobelpreises und Auschwitzüberlebender erklärte: „Wir fürchteten jedoch den Tod nicht mehr, jedenfalls nicht diesen Tod“, und Primo Levi, der in Auschwitz internierte italienische Partisan und später renommierte Romancier, schrieb: „Wir selbst aber sind schon zu zerstört, um wirklich Furcht zu haben. Die wenigen, die noch richtig urteilen und empfinden können, schöpfen aus den Luftangriffen Kraft und neue Hoffnung.“36 Doch in Washington zweifelte selbst Pehle am Nutzen eines Bombardements und steuerte vorsichtig durch das Labyrinth bürokratischer Vorschriften. Seine eigenen Mitarbeiter handelten jedoch ohne zu zögern. Benjamin Akzin, einer seiner Berater, war über die drastischen Schilderungen aus dem Vrba-Wetzler-Bericht im Telegramm von Roswell McClelland vom 24. Juni so entsetzt, dass er sofort ein Memorandum verfasste, in dem er entschlossen für die direkte Bombardierung der Gaskammern plädierte.37 Dieses Memorandum, obwohl in Eile geschrieben, ist ein ethisches und strategisches Meisterwerk. Akzin wies darauf hin, dass ein Bombardement der Gaskammern die „Deutschen mit ihrem methodischen Denken“38 dazu veranlassen würde, beträchtliche Zeit und Ressourcen für deren Wiederaufbau aufzuwenden, oder sie dazu zwingen würde, vergleichbar effiziente Verfahren für den Massenmord „zu entwickeln“. Auf jeden Fall, stellte er zutreffend fest, würden die deutschen ­Arbeitskraft- und Materialressourcen „stark dezimiert“ und die deutschen ­Behörden vermutlich nicht mehr in der Lage sein, sich mit der Aufgabe zu befassen, „neue Massenvernichtungszentren“ einzurichten. Dies würde „die Rettung einer erheblichen Anzahl von Menschenleben“ zur Folge haben, „zumindest vorübergehend“. Akzin beharrte auch gegenüber Pehle, dies sei ein moralischer Imperativ oder, wie er es nannte, eine „Grundsatzfrage“. Das Lager

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zur Zerstörung freizugeben, führte er aus, würde das fühlbarste „Zeichen für die Entrüstung darstellen, die die Existenz dieser Schädelstätten ausgelöst hat“.39 Darüber hinaus würden die Bombardements, so behauptete Akzin, auch einer militärischen Logik folgen, würden sie doch viele Todesopfer unter „den unmenschlichsten und niedrigsten aller Nazis“ verursachen. Er wies darauf hin, dass Auschwitz darüber hinaus auch ein entscheidendes militärisches Angriffsziel sei, weil sich dort unter anderem „Bergbau- und Industriereviere“ befänden, die eine wichtige Rolle innerhalb der deutschen Rüstungsindustrie spielten. Und er rang offen mit der Frage, ob sich die Alliierten durch die Tatsache abschrecken lassen sollten, dass eine große Zahl von Juden durch eine derartige militärische Operation getötet werden würde. Seine Antwort war ein überwältigendes Nein. Mit dem Hinweis darauf, dass diese Juden „sowieso zum Tod verurteilt“ seien, schrieb er, dass „ein Verzicht auf eine Bombardierung der Vernichtungslager einer deplazierten Sentimentalität gleichkäme, die weit grausamer wäre, als der Entschluß, diese Zentren zu zerstören.“40 In dem Durcheinander, das durch die Bombardierung hervorgerufen würde, könnte es sogar einigen Insassen gelingen, sich zu verstecken und zu entkommen. Damit lag endlich ein starkes und überzeugendes Argument für das Bombardement von Auschwitz vor. Wie einem immer größeren Teil der Welt, war es Akzin jetzt klar, dass alle 24 Stunden etwa 15 000 ungarische Juden nach Auschwitz befördert wurden. Und mit jedem Tag mehrten sich die Beweise dafür, dass etwa 12 000 Juden pro Tag in den Lagern vergast wurden – im August sollten es sogar 24 000 täglich sein, was sogar für die Nationalsozialisten einen Rekord darstellte. Und doch war sich Pehle während der nächsten Wochen unsicher, wie er weiter vorgehen sollte. Bei zahlreichen Fragen, mit denen sich das WRB konfrontiert sah, war er entscheidungsfreudig, doch was die Bombardierung von Auschwitz betraf, wusste er nicht weiter. Sollte er ein weiteres Mal beim Kriegsministerium vorsprechen? Morgenthau um Hilfe bitten? Sich an das Weiße Haus wenden? Stattdessen wartete er in seinem Büro im Finanzministerium und las die Telegramm-Flut, die über seinen Schreibtisch ging und die Todesmaschinerie in Auschwitz in erschütternden Einzelheiten schilderte. Am 1.  Juli schickte ihm Iver Olsen, sein Vertreter in Schweden, eine längere Beschreibung von Auschwitz, die kaum Zweifel an den dort stattfindenden Gräueltaten und somit auch an den Folgen weiterer Untätigkeit ließ. Er las langsam und sollte später bemerken, die Nachrichten seien unglaublich schrecklich gewesen und ihre Beschreibungen in Worten kaum zu fassen.41 Schon allein die Zahlen, um

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die es ging, waren unfassbar: etwa 600 000 ungarische Juden waren jetzt schon tot oder deportiert worden. Olsens Bericht ging noch weiter: „Hinweisen nach, werden diese Menschen jetzt an einen Ort in Polen, jenseits der ungarischen Grenze, gebracht, wo sich eine Einrichtung befindet, in der Gas benutzt wird, um Menschen umzubringen … Diese Menschen jeden Alters, Kinder, Frauen und Männer werden in Güterwaggons, in die man sie wie Ölsardinen hineinpackt, zu diesem abgelegenen Ort transportiert, und bei der Ankunft sind schon viele tot. Diejenigen, die die Fahrt überlebt haben, müssen sich nackt ausziehen und bekommen einen kleinen viereckigen Gegenstand, der einem Stück Seife ähnelt; man erklärt ihnen, sie kämen jetzt ins Badehaus und müssten ein Bad nehmen. Das ‚Badehaus‘ sieht tatsächlich wie eine große Badeanstalt aus … Die Opfer werden in einen großen Raum mit einem Fassungsvermögen von 2000 Personen geschoben, wo sie dicht gedrängt stehen. Auf Geschlecht und Alter wird keine Rücksicht genommen, und alle sind vollständig nackt. Wenn die Luft in diesem Raum durch die Körperwärme dieser Menschenmenge aufgeheizt ist, wird durch das Öffnen einer Vorrichtung an der Decke ein feines Pulver freigesetzt, das überall im Raum herabrieselt. Wenn dieses Pulver in Kontakt mit der erwärmten Luft kommt, entwickelt sich ein giftiges Gas, das alle im Raum befindlichen Personen tötet. Die Leichen werden dann weggekarrt und verbrannt.“42 Dieses Telegramm wurde später auch an Winston Churchill weitergereicht, interessanterweise jedoch nicht von Franklin D.  Roosevelt oder dem WRB, sondern von Churchills Sohn Randolph. Am 8. Juli erhielt Pehle von seinem Stellvertreter in der Schweiz ein weiteres Telegramm, eine längere, achtseitige Zusammenfassung des Vrba-Wetzler-­ Berichts. Es sollte immer noch mehrere Monate dauern, bevor er den vollständigen 30-seitigen Text erhalten würde, doch schon angesichts der ihm nun vorliegenden Informationen war er erschüttert genug, um erneut eine Militäraktion zur Sprache zu bringen. Dieses Mal schrieb er einen langen Bericht an die anderen Mitglieder des WRB und schickte Kopien an den Kriegsminister Henry Stimson sowie an dessen Staatssekretär McCloy. Pehle schlug eine Reihe gewagter Militäraktionen vor, darunter auch jene, die Lager zu bombardieren, Waffen aus der Luft für die Gefangenen in Auschwitz abzuwerfen oder Truppen mit dem Fallschirm abspringen zu lassen, um „diesen unglücklichen Menschen zur Flucht zu verhelfen.“ Doch McCloy unternahm erneut gar nichts. Glaubte er überhaupt, dass eine Massenvernichtung in so erschreckend industriellem Ausmaß durchgeführt wurde? Wahrscheinlich. Konnte er es nachvollziehen? Das ist unklar. Klar hin-

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gegen ist, dass weder Roosevelt noch das Weiße Haus diese Sache weiterverfolgten, um McCloy zum Handeln zu zwingen oder das WRB zu stärken. Daher begnügte sich McCloy damit, wie schon bei der Internierung japanischstämmiger Amerikaner, die Sache einfach auszusitzen. Doch am 4.  Juli, als Washington von Informationen überschwemmt wurde, traf auch im Londoner Außenministerium eine Zusammenfassung des Vrba-Wetzler-Berichts ein. Im Gegensatz zu den Amerikanern handelten die Briten schnell und öffentlich. Bereits am nächsten Tag informierte Anthony Eden das Unterhaus, dass die „barbarischen Deportationen“ bereits begonnen hatten und „viele Personen getötet worden“ seien. Und er fügte die düstere Bemerkung hinzu, es gebe „unglücklicherweise“ keine Anzeichen dafür, dass die wiederholten Erklärungen der Alliierten auf irgendeine Weise „die Verfolgungswut“ der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie gezügelt hätten.43 Das war natürlich eine Provokation. Am nächsten Tag traf sich Eden mit Churchill und besprach eine mögliche Bombardierung der Vernichtungslager. Mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn hörte Churchill aufmerksam zu. Eden erklärte, dieser Plan sei schon früher in Betracht gezogen worden, jetzt aber sei er voll und ganz dafür, und es zeigte sich, dass auch der Premierminister dieser Meinung war. Im klaren Gegensatz zu McCloy, zum Kriegsministerium, zum Außenministerium und zu anderen in Washington erfasste Churchill sofort die Bedeutung der Berichte über Auschwitz. Unverzüglich erteilte er seine Erlaubnis für Militäraktionen gegen die Lager. Am 7. Juli informierte Churchill Eden: „Wir beide sind vollkommen einer Meinung. Holen sie aus der Air Force heraus, was Sie können, und schalten Sie mich, wenn nötig, ein.“44 Eloquent wie sonst auch Roosevelt, der sich zu diesem Thema allerdings ausschwieg, erklärte Churchill seinem Außenminister mehrere Tage später: „Es besteht kein Zweifel daran, dass dies wahrscheinlich das größte und schrecklichste Verbrechen ist, das je in der gesamten Weltgeschichte begangen wurde, und es wurde mit einer systematischen Maschinerie von sogenannten zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines der führenden Völker Europas begangen.“ Jeder der damit in Verbindung stand, fügte er hinzu, „sollte gejagt und hingerichtet werden.“ Plötzlich erhielt die Idee eines Bombardements Auftrieb, zumindest in Großbritannien. Auf Churchills Ankündigung hin verlor Eden keine Zeit mehr. Umgehend benachrichtigte er den britischen Außenminister über die „entsetzliche Verfolgung“ der ungarischen Juden und erbat die Meinung des Luftfahrtministeriums, ob ein direktes Bombardement von Auschwitz realisierbar sei. „Ich hoffe doch sehr, dass es möglich sein wird, etwas zu unterneh-

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men“, sagte er dem Minister. „Ich bin befugt, ihnen die Zustimmung des Premierministers zuzusichern!“ Als am 4. Juli die Sonne in Budapest unterging, informierte Admiral Horthy den nationalsozialistischen Botschafter, er werde schon den ganzen Tag mit wütenden Anrufen „überflutet“, die sich über die Deportationen beschwerten, und mit Telegrammen, die ihn aufforderten, die Tötungen zu beenden. Hinzu kämen Botschaften vom bisher schweigsamen Vatikan und dem zuvor zögerlichen Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes. Außerdem erreichte ihn obendrein, wegen des WRB, harsche Kritik der Regierungen aus Schweden, der Türkei, der Schweiz und aus Spanien, die sich nun sämtlich in der Auseinandersetzung zu Wort meldeten.45 Auch wenn Ungarn sich deshalb isoliert gefühlt haben mag, war dieses Regime so kaum zum Nachdenken zu bringen, waren doch unter seiner Zuständigkeit bereits im Handumdrehen rund eine halbe Million Juden gestorben. Was Horthy hingegen zum Einlenken veranlasste, war ein Telegramm, das die Ungarn vom amerikanischen Botschafter in Bern abgefangen hatten. Das Telegramm forderte die Alliierten zu einem Luftangriff auf Budapest auf und enthielt „genaue und zutreffende Angaben über die Adresse und Lage“ ungarischer und deutscher Behörden, die an den Deportationen beteiligt waren, außerdem wurden die Namen von 70 Personen, die in die Deportationen involviert waren, explizit genannt. Auch wenn Horthy sich von Hitler unter Druck setzen ließ, so hatte er doch einen starken Selbsterhaltungstrieb. Und vor der Vergeltung der Alliierten hatte er wesentlich mehr Angst als vor einer deutschen Rache. Budapest hatte schon am 2.  Juli einen ungewöhnlich heftigen amerikanischen Bomberangriff auf seine Rangierbahnhöfe und sogar auf seine Regierungsgebäude sowie Privathäuser erlitten – so viel zur Skepsis bezüglich der Wirksamkeit von Bombardements –, und deshalb verlangte Horthy persönlich, die Deportationen am 7. Juli einzustellen. Doch auch wenn die Deportationen in Ungarn aufhörten, rollten die Todeszüge immer noch ohne Unterlass aus anderen Ländern herbei.46 Und während die Debatte darüber andauerte, ob Auschwitz bombardiert werden sollte, hing das Leben all dieser annähernd 300 000 Menschen immer noch in der Schwebe. In der Zwischenzeit hatte das WRB Raoul Wallenberg, einen 31-jährigen schwedischen Gesandten, der mit Iver Olsen zusammenarbeitete, eilig unter diplomatischen Schutz gestellt und nach Budapest geschickt.47

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Hoffnungsvoll kam Wallenberg am 9. Juli an – mit zwei Rucksäcken, einem Revolver, um sich Mut zu machen, einer Windjacke und einem Schlafsack. Zu diesem Zeitpunkt waren die Deportationen aus Ungarn gestoppt worden, doch niemand vermochte zu sagen für wie lange, und das ländliche Gebiet war bereits gänzlich geräumt. Etwa 600 000 Juden waren auf gespenstische Weise verschwunden, buchstäblich innerhalb von Wochen. Wallenberg wusste auch, dass mehr als 300 000 Juden noch in Gefahr schwebten. Halb Diplomat, halb Spion versuchte er deshalb, Menschenleben mit Heldentaten zu retten, die in diesem Krieg ihresgleichen suchten. Als Linguist, Weltreisender und Architekt war er sowohl erfindungsreich als auch unerbittlich. Seine höfliche Art trügte: Wenn nötig, täuschte er die Deutschen, wenn das nicht funktionierte, stieß er Drohungen aus, und wo es nach anderen Taktiken verlangte, bestach er die Deutschen mit Geldern, die über das WRB flossen. Er tat schlicht alles, was ihm möglich war, um Leben zu retten. Er war sowohl sanftmütig als auch zäh, starrköpfig und empfindsam, charmant und gefühlvoll. Dabei blieb er immer völlig ruhig, pragmatisch und fest entschlossen. Wallenberg mietete 30 Gebäude als sichere Zufluchtsorte für jüdische Flüchtlinge an, und die spanischen und Schweizer Gesandtschaften folgten seinem Beispiel. Er entwickelte einen ausgetüftelten Plan, um Zehntausende Juden mit gefälschten Pässen oder – besonders wichtig für Kinder unter zehn Jahren, die Visa benötigten – mit „Schutzpässen“ zu versorgen. Diese List erwies sich als erfolgreich. Er errichtete Suppenküchen und schmuggelte Essen für Juden in die ungarischen Ghettos. Und als bewaffnete Patrouillen anfingen, Juden zu ergreifen und abzuschlachten, stellte er sich ihnen persönlich in den Weg. Als die Pfeilkreuzler, Ungarns verhasste und gefürchtete pro-nationalsozialistische Partei, damit drohte, die Einwohner des Ghettos zu exekutieren, schrie Wallenberg den SS-Kommandeur an und versicherte ihm, er und seine Helfer würden an Laternenpfählen aufgehängt, sollte es zu Massenexekutionen kommen. Sie machten einen Rückzieher. Dabei ging Wallenberg ein beträchtliches Risiko ein. Jane Haining – eine schottische Missionarin, Nichtjüdin und Vorsteherin des von der Church of Scotland geführten Mädchenheims in Budapest – war schon nach Auschwitz deportiert worden und dort gestorben. Was war ihr Verbrechen? Ihr wurde vorgeworfen, beim Anblick ihrer jüdischen Mädchen, die morgens mit dem gelben Stern an der Kleidung vom Heim aus zur Schule aufbrachen, geweint zu haben.48 Doch Wallenberg schreckte vor nichts zurück. Wie viele Menschenleben rettete er? Zehntausende sicher, vielleicht sogar 75 000. Doch ganz gleich wie viele es waren, er zeigte der Welt – und der Ge-

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schichte – auf sagenhafte Weise, wie Leben zu retten waren. Er verlieh dem Begriff der Humanität neue Bedeutung und bewies, dass es sich dabei nicht nur um eine angeschlagene und verblassende Tugend handelte, die vom Nebel des Krieges in den Hintergrund gedrängt wurde. Er und das WRB dienen den Amerikanern letztendlich bis heute als Beispiel dafür, dass Rettung durchaus möglich war. Daher stellt sich die Frage: Was hätte alles erreicht werden können, wenn Roosevelt das WRB viel früher gegründet hätte? Wallenberg verschwand später auf geheimnisvolle Weise. Man nimmt an, er wurde von den Sowjets ermordet. Die Debatte über ein Bombardement von Auschwitz hielt an, denn trotz Churchills rückhaltloser Unterstützung, stand die britische Bürokratie im Weg. Der Außenminister teilte Anthony Eden mit, es liege nicht in ihrer Kraft, die Nebenstrecke zu den Vernichtungslagern zu unterbrechen.49 Und was die Bombardierung der Lager selbst anging, erklärte er, die Entfernung von den britischen Stützpunkten mache etwas derartiges völlig unmöglich. Doch schlug er vor, die Amerikaner könnten solche Angriffe tagsüber durchführen, obwohl auch diese „kostenintensiv und riskant“ sein würden. Dann fügte er mit einer gewissen Orwell’schen Logik hinzu: „Selbst wenn die Anlage zerstört würde, bin ich mir nicht sicher, dass dies den Opfern wirklich helfen würde.“ Auch das Kriegsministerium in Washington beharrte auf dieser zögerlichen Haltung, doch drängten hier Aktivisten immer noch auf eine militärische Option. Anfang August übermittelte Leon Kubowitzki, Vorsitzender des Rettungsdienstes des Jüdischen Weltkongresses, McCloy den leidenschaftlichen Appell eines Mitglieds der tschechischen Exilregierung, die Lager und Eisenbahnen zu bombardieren.50 Und Kubowitzkis Bitten hatten besonderes Gewicht: Wegen der unerträglichen Tatsache, dass „die ersten Opfer Juden sein würden“, hatte er wie andere Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft zu Beginn des Sommers erhebliche Vorbehalte gegen die Bombardierung der Lager gehabt. Stattdessen hatte er damals vorgeschlagen, die Sowjets sollten Fallschirmjäger schicken, um die Insassen zu befreien – eine Idee, die nicht weiter verfolgt wurde. Doch jetzt, da die Lage sich verändert hatte – die Alliierten hatten ihre spektakuläre Landung in der Normandie vollbracht und der Schock über die Massendeportationen aus Ungarn wirkte nach –, stimmte er in die Forderungen nach Bombardierungen ein, blieb doch nur noch „so wenig Zeit“. Wieder einmal lehnte McCloy ein Ersuchen ab. Wieder machte er sich nicht einmal die Mühe, sich mit Kommandanten der Luftstreitkräfte auf dem europäischen

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Kriegsschauplatz in Verbindung zu setzen. Wieder einmal versäumte er es, die militärischen Optionen sorgfältig zu prüfen, und wieder einmal befand er es nicht für nötig, mit dem WRB zu sprechen. Wie bereits in der Vergangenheit erwiderte McCloy, solche Bombardierungen verlangten einen „Abzug beträchtlicher Luftunterstützung …, die anderenorts in entscheidenden Operationen involviert“ sei. Doch dieses Mal fügte er der Antwort der Regierung eine neue Wendung hinzu: Zwar würdigte McCloy die humanitären Motive hinter der Forderung, bekundete aber die verblüffende Ansicht, dass „ein solcher Einsatz, selbst wenn er durchführbar wäre, sogar noch stärkere Racheaktionen der Deutschen provozieren könnte“. Die Befürworter der Bombardements rauften sich vor Verzweiflung die Haare und fragten sich, wie eine „noch stärkere Racheaktion“ überhaupt möglich sein sollte, und tatsächlich hatten McCloys Befürchtungen mit der Realität in Auschwitz rein gar nichts zu tun. Ein junger Mann, Shalom Lindenbaum, erinnerte sich lebhaft daran, wie er hochblickte, als die alliierten Bomber auftauchten und dann wieder am Himmel verschwanden. „Es fällt mir schwer, unsere Freude zu beschreiben“, erinnerte er sich. „Wir beteten und hofften, daß sie uns bombardieren würden und daß uns so der hilflose Tod in den Gaskammern erspart bliebe. Bombardiert zu werden, bedeutete, daß die Chance bestand, daß auch die Deutschen getötet werden würden. Wir waren daher tief enttäuscht und traurig, als sie, ohne eine Bombe abzuwerfen, über uns hinwegflogen.“51 Und wieder einmal schwieg das Weiße Haus zu diesem Thema. In Wirklichkeit waren gezielte Bombenabwürfe durchaus nicht unmöglich. Am 29. Oktober 1944 veröffentlichte die New York Times einen Bericht über die „Operation Jericho“, einen beeindruckenden Angriff der Royal Air Force, bei dem 100 Mitglieder der Französischen Résistance befreit wurden, die im Gefängnis von Amiens, im von Deutschland besetzten Frankreich, auf ihre Hinrichtung warteten. Diese gewagte Operation war von beispielloser Furchtlosigkeit und Präzi­ sion – und zwar von einer höheren Präzision, als für einen Angriff auf Auschwitz nötig gewesen wäre. Die Flugzeugführer bereiteten sich sorgfältig darauf vor, indem sie ein Modell des Gefängnisses studierten. Das kreuzförmige Gebäude und der Gefängnishof waren umgeben von einer beeindruckenden, sechs Meter hohen und ein Meter dicken Mauer. Für die Royal Air Force war das eine Herkulesaufgabe: Die Mauern mussten mit einer möglichst geringen

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Menge an Sprengstoff durchbrochen und die deutschen Quartiere zerstört werden, um nach Möglichkeit Verluste in den angrenzenden Gefängnisgebäuden zu vermeiden. Eine dicke Schneeschicht bedeckte das Flugfeld am 18. Februar 1944, und das Wetter war trostlos, als drei Staffeln von Moskito-Bombern, eskortiert von Spitfires, abhoben, um das Gefängnis in drei aufeinanderfolgenden Wellen anzugreifen. Sie trugen Bomben mit elf Sekunden Zeitverzögerung, und zuvor hatte Hauptmann Percy Pickard seinen Männern noch zugebrüllt: „Jungs, das ist ein Job auf Tod und Ruhm.“ Unterweges verloren vier Moskitos wegen des schlechten Wetters den Kontakt mit der Formation und mussten zum Stützpunkt zurückkehren. Die anderen aber flogen weiter. Die Flugzeuge der neuseeländischen Staffel kamen als Erste von Nordosten und Nordwesten heran. Sie erreichten ihr Ziel eine Minute nach zwölf Uhr mittags, warfen ihre Bomben ab und durchbrachen die Mauer. Nur Minuten später traf die zweite Welle der Bomber ein, diesmal die Australier, die in einer Höhe von 15 Metern flogen. Mit ohrenbetäubendem Krach trafen Bomben ihre Ziele und machten die Quartiere der Wachen an jedem Ende des Gebäudes dem Erdboden gleich. Das Gefängnis wurde „zerteilt und aufgeschlitzt“, und ein direkter Treffer des Wachgebäudes tötete eine Reihe Deutscher oder setzte sie außer Gefecht. Rauch stieg in den Himmel auf, und Feuer brachen aus. Damit war die Sache eigentlich schon erledigt, doch um nichts dem Zufall zu überlassen, erfolgte ein Ablenkungsangriff auf den örtlichen Bahnhof. Ein Flugzeug hatte eine Kamera montiert und überflog das Gefängnis drei Mal. Es brachte außergewöhnliche Aufnahmen zurück, auf denen Deutsche zu erkennen sind, die tot am Boden liegen, während ihr Blut in den Schnee sickert. Auch den beglückenden Anblick der Gefangenen fing die Kamera ein, die durch schwelende Löcher in den Gefängnismauern sprangen, um draußen über ein Schneefeld zu verschwinden. Mehrere Franzosen wurden vom Maschinengewehrfeuer der Deutschen niedergemäht, und viele wurden letztendlich wieder eingefangen. Doch eine erhebliche Anzahl schaffte es in die Freiheit und schloss sich Mitgliedern der Résistance an, die in einem nahe gelegenen Waldgebiet auf sie gewartet hatten. Tragischerweise kam Hauptmann Pickard ums Leben, als das Heck seines Flugzeugs von der deutschen Flak durchtrennt wurde. Und dennoch waren die Besatzungsmitglieder aus dem Häuschen. Ein australischer Pilot sagte: „Die Männer in unserer Staffel … fühlten, dies war ein Job, bei dem es nichts ausmachte, wenn wir alle dabei draufgingen.“ Er fügte hinzu: „Es war die Art von

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Operation, die einem das Gefühl gab, sie würde auch dann noch zählen, wenn man im Krieg sonst nichts erreichte.“52 Was auch immer mit den Alliierten los gewesen sein mochte, nach und nach gab es andere ergreifende Geschichten von solchen, die sich gegen die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten erhoben und den Juden zu Hilfe kamen. Im winzigen Albanien, wo die Deutschen im September 1943 eingefallen waren, gab die dem Anschein nach faschistische Regierung vor, mit den Deutschen zu kollaborieren, was häufig nicht der Fall war.53 In kleinen Küstenorten und größeren Städten, in Bergdörfern und sogar in der Hauptstadt, verbargen einfache Bürger Juden in ihren Kellern, Schuppen und Verschlägen und halfen ihnen, einer Festnahme zu entgehen. Häufig forderten hochrangige Nationalsozialisten Aufstellungen aller Juden, doch die albanische Regierung bestand darauf, es gäbe keine in Albanien. Eine Reihe von Rettungsaktionen fand im deutsch besetzten Kosovo statt, wo ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung albanischer Herkunft war. Hier wurden Juden falsche Ausweispapiere mit muslimischen Namen ausgestellt, was es ihnen ermöglichte, in Albanien eine sichere Zuflucht zu finden. In einem Fall brachte der Gemüsehändler Arslan Rezniqi in Albanien persönlich 400 Juden aus Mazedonien in Sicherheit, er versteckte sie unter Obst und Gemüse im Laderaum seines Lastwagens. Insgesamt wurden in Albanien so gut wie alle 200 einheimischen Juden gerettet, dazu 400 jüdische Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland und außerdem wurden Hunderte weiterer Menschen durch die von Nationalsozialisten besetzten Gebiete auf dem Balkan gelotst. Überraschenderweise lebten in Albanien am Ende des Krieges mehr Juden als zu Beginn. Was war der Grund dafür? Ihre Kultur verpflichtete die Albaner dazu, Schutzsuchenden sicheres Geleit zu gewähren – selbst bei Gefahr für das eigene Leben. Das US-Kriegsministerium war gegen einen konzertierten Bombenangriff auf Auschwitz, das Militär war ebenfalls dagegen und das Weiße Haus, das sich in Schweigen hüllte, offensichtlich auch. Erstaunlicherweise kam es dennoch dazu. Am 13. September führte die amerikanische Luftwaffe im Rahmen des ununterbrochenen „Ölkriegs“ der Alliierten einen weiteren Angriff auf das nur acht Kilometer von Auschwitz entfernte Treibstoffwerk in Monowitz durch.

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Doch dieses Mal verfehlte eine Reihe der Bomben leicht ihr Ziel und fiel versehentlich auf das Stammlager Auschwitz I. Alarmsirenen heulten auf, und einige der SS-Baracken wurden zerstört. Plattgedrückt wie Papiertüten lagen sie da oder gingen in Rauch und Flammen auf. 15 SS-Männer wurden entweder völlig überrascht oder beim Versuch, in die Bunker zu stürmen, getötet. 28 weitere wurden schwer verletzt und krümmten sich stöhnend am Boden. Durch Zufall wurde auch die Schneiderei getroffen. 23 Juden kamen ums Leben und 65 weitere Gefangene blieben blutend und schwer verletzt zurück. Beim selben fehlgeleiteten Angriff fielen zum ersten Mal amerikanische Bomben direkt auf das entsetzliche Auschwitz-Birkenau – jenes Auschwitz II, wo die Gaskammern standen. 30 zivile Arbeitskräfte starben, als eine Bombe die Anschlussgleise des Krematoriums traf. Eine zweite Bombe stürzte auf den Bahndamm hinab, der zum Lager führte. Noch eine weitere Bombe schlug in den SS-Luftschutzbunker. Plötzlich brach Chaos aus: Hunde bellten wie wild, die Deutschen hetzten zu ihren Bunkern, und Sirenen heulten auf. Die Juden aber standen nur da und sahen zu. Einen flüchtigen Moment lang ließen ihre Qualen nach. Kaum noch fähig zu denken, kaum mehr fähig zu stehen, waren sie überglücklich. Nie zuvor hatten sie die Nationalsozialisten so verletzlich und hilflos gesehen. Nie zuvor hatten sie erlebt, dass sie nicht alles unter Kontrolle hatten. „Wie schön es war, zu sehen, wie eine Staffel nach der anderen vom Himmel herabgestürzt kam und ihre Bomben fallen ließ, die die Gebäude zerstörten und noch auch Angehörige des Herrenvolks töteten“, waren die Gedanken eines der Gefangenen. „Diese Bomben hoben unsere Moral, und paradoxerweise weckten sie … Hoffnungen wir könnten überleben, könnten dieser Hölle entrinnen.“ 54 Auf dem Schlachtfeld weitete sich die Hölle immer weiter aus. Es stellte sich dar, wie es einst der große preußische Stratege Carl von Clausewitz mit seiner Formulierung von der Friktion des Krieges beschrieb: Wenig läuft wie geplant und Taktiken ändern sich ständig. Während die Deutschen aus Frankreich und Griechenland getrieben und riesige Gebiete in Osteuropa von der Roten Armee überrannt wurden, revoltierte plötzlich Warschau und zwang das Kriegsministerium und Roosevelt dazu, ihre Bombardierungsstrategie teilweise neu zu bewerten. Am 1. August begann die Polnische Heimatarmee mit einem massiven Angriff gegen die Nationalsozialisten in Warschau. Die Revolte begann, als sowje-

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tische Truppen bis 20 Kilometer an die Stadt herangerückt waren, dort aber anhielten. Der Aufstand der Polnischen Heimatarmee sollte laut Plan die Deutschen ablenken und so den sowjetischen Kräften erlauben, nach Warschau einzumarschieren. Doch diese rückten nicht weiter vor. 55 Stattdessen bekämpften 63 Tage lang 37 000 polnische Widerstandskämpfer die Deutschen allein. Sie durchquerten die Stadt unterirdisch, indem sie die Kanalisation nutzten. Sie hatten nur rund 2000 Waffen, fast ausschließlich Handfeuerwaffen und selbst gebaute Benzinbomben. Bei den anfänglichen Kämpfen eroberten die Polen eine Reihe von Gebäuden, darunter einige Regierungsgebäude, und hissten trotzig die polnische Flagge. Als Reaktion gab Himmler den Befehl an die deutschen Kräfte, die Bewohner der Stadt nicht etwa gefangen zu nehmen, sondern gleich zu töten und Warschau dem Erdboden gleich zu machen, um ein Exempel zu statuieren. Deutsche Panzer und Luftunterstützung sowie 21 000 deutsche Soldaten wurden in die Stadt beordert. In der Zwischenzeit wurde Gas in die Kanalisation geleitet, und die Luftwaffe setzte Stukas über der Stadt ein. Jenseits der Weichsel aber saßen sowjetische Truppen tatenlos herum. Ihre Flugabwehrgeschütze gaben keinen Schuss ab, und ihre Flugzeuge blieben am Boden. In London bat ein verzweifelter Winston Churchill um Hilfe für die polnischen Rebellen, bis mit der Zeit die Überzeugung wuchs, dass die Sowjets auf Befehl Stalins hin ihre Offensive angehalten hatten, damit die polnischen Rebellen von den Deutschen aufgerieben würden – oder zumindest beinahe – und somit leichter eine moskautreue polnische Nachkriegsregierung zu etablieren wäre. Die polnischen Rebellen hatten die sowjetischen Gewehrfeuer ­gehört und Radio Moskau hatte verkündet: „Die Stunde des Kampfes hat ­geschlagen“. Doch es kam anders. Bis zum 7.  August hatten die deutschen Truppen innerhalb der Stadtmauern mehr als 65 000 Zivilisten hingerichtet. Aus einem Haus nach dem anderen wurden die Einwohner zusammengetrieben und erschossen. Aber der Widerstand kämpfte weiter. Vor den Augen der Welt setzten sich die Qualen der Polen fort. In London betrieben polnische Vertreter eine intensive Kampagne, um die britische Regierung zum Eingreifen zu bewegen. Sie flehten um Versorgungsflüge, benötigten ihre Widerstandskämpfer doch Gewehre, Essen und medizinische Versorgung. Aber John Slessor, der RAF Kommandant in ­Italien, zögerte. Er warnte, Versorgungsflüge von Italien nach Warschau seien nebensächlich und würden den Verlauf des Krieges in keiner Weise nach-

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haltig beeinflussen, während sie andernorts auf einen „unerschwinglichen“ Verlust von Luftmacht hinauslaufen würden. Vielleicht war dies sogar der Fall, doch Churchill wollte, wie schon mit der Zusage, Auschwitz zu bombardieren, einer am Boden zerstörten Bevölkerung die Treue halten. Und dieses Mal befahl er den Einsatz: Im August und September wurden von Italien aus 22 Nachteinsätze durchgeführt, dabei kamen insgesamt 181 Bomber zum Einsatz. Nach Slessors Ansicht bewirkte die Aktion jedoch „praktisch nichts“, was Churchill, der nie vor einem Kampf, geschweige denn vor einem Problem davonlief, anders sah. Der Premierminister hatte in der Zwischenzeit Roosevelt gedrängt, sich der Aktion anzuschließen. Und tatsächlich war der Präsident leicht zu überzeugen und schickte umgehend amerikanische Bomber los. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zwar, doch seine Gedanken drehten sich mindestens so stark um den Präsidentschaftswahlkampf wie um den Krieg, und er konnte die Wahlbezirksleiter in Chicago nicht länger ignorieren, die ihn daran erinnerten, wie nötig er die Stimmen polnischstämmiger Amerikaner hatte. Dem Polnisch-Amerikanischen Kongress hatte er schon in der Hauptstadt und auf seiner Wahlkampftour, vor allem in Chicago, die „Unversehrtheit“ Polens garantiert. Zusätzlich zur Entsendung der Bomber schloss er sich daher – wenn auch ohne Erfolg – Churchills Appell an Stalin an, den „patriotischen Polen in Warschau“ zu helfen. Roosevelt wusste, dass die Situation ernst und die Möglichkeiten beschränkt waren. Eine viertel Million der polnischen Einwohner Warschaus war bereits gestorben, ein Großteil der Stadt lag in Trümmern und war selbst für die Einwohner nicht mehr zu erkennen. Und auch die US Strategic Air Forces kamen zu dem Schluss, dass „der Partisanenkampf verloren war.“ Trotzdem schrieb Roosevelt, sei es ihre Pflicht, das Äußerste zu unternehmen, um so viele der „Patrioten vor Ort wie möglich“ zu retten. Bald waren die amerikanischen Bomber an der Reihe. Vier Tagen lang wurden 107 Bomber des Typs Boeing B-17 mit Versorgungsgütern beladen und standen in Erwartung des richtigen Wetters auf Landebahnen in England bereit – wo sie warteten und warteten. Endlich, am 18. September, erhielten sie das Startsignal. 1284 Behälter mit Waffen und Versorgungsgütern warfen sie über Warschau ab, bevor sie sich auf den Weg zu Flugplätzen in der Sowjetunion machten. Für die polnischen Partisanen erschien es wie ein kleines Wunder, als sie die Kisten vom Himmel schweben sahen. Doch der Einsatz blieb weitgehend erfolglos, und Roosevelt wusste das. Nur 288 Behälter gelangten in die Hände der Polnischen Heimatarmee, die anderen wurden von den Deutschen

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aufgegriffen. Bald schon sollten die Partisanen abgeschlachtet und Polen selbst von der Sowjetunion besetzt werden. Als der frühere Gesandte Arthur Bliss Lane den Präsidenten bat, mehr für die polnische Unabhängigkeit zu unternehmen, erwiderte Roosevelt scharf: „Wollen Sie, dass ich einen Krieg mit Russland anfange?“56 Doch ein Präzedenzfall war damit geschaffen. Der Präsident, oft der Heuchelei beschuldigt, blieb trotz allem ein pragmatischer Mann, der mutig voranschreiten konnte, und ein Romantiker, der symbolische Zeichen zu setzen verstand. Als er zu dem Ergebnis kam, dass der Einsatz „vollauf gerechtfertigt“ sei, wie der Direktor des Geheimdienstes für die US Strategic Air Forces zusammenfassend beurteilt hatte, war er dazu bereit, beträchtliche Kapazitäten der Luftstreitkräfte umzuleiten – auch wenn starke Zweifel am Erfolg des Einsatzes bestanden.57 Der Direktor des Geheimdienstes kam weiter zu dem Schluss: „Obwohl die meßbaren Kosten den meßbaren Nutzen bei weitem überwogen … Eines ist deutlich geworden: Vom Präsidenten bis hinunter zu den Besatzungen, die die Flugzeuge flogen, hat Amerika gezeigt, dass es helfen wollte, zu helfen versuchte und im Rahmen seiner Mittel und Möglichkeiten auch tatsächlich geholfen hat“.58 Dies brachten auch Roosevelt und Churchill in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zum Ausdruck, in der sie sich Gedanken darüber machten, wie die Weltöffentlichkeit reagieren würde, sollten die Antifaschisten in Polen tatsächlich ihrem Schicksal überlassen bleiben. Es bestand kein Zweifel daran, dass Roosevelt, wie kein anderer auf der politischen Bühne, die Alliierten bis hierhin meisterlich geführt hatte. Er wusste, dass Hitlers Städte in Trümmern lagen. Allein im Sommer 1944 hatte Deutschland über eine Million Tote, Verwundete und Vermisste hinnehmen müssen, und schon zuvor waren drei Millionen Verluste zu beklagen gewesen. Hitler mochte mit dem Vorstoß der Deutschen in den Ardennen sein letztes verzweifeltes Spiel im Westen getrieben haben, doch Roosevelt, der den Krieg im Kartenraum verfolgte, vermochte einen Blick in die Zukunft zu werfen. Es stand außer Frage: Der Krieg würde bald gewonnen werden, wenn nicht 1944 dann 1945,59 und verständlicherweise war er deshalb gelegentlich nicht nur siegesgewiss, sondern auch mit sich selbst zufrieden. Ende 1944 jedoch sollte seine Regierung noch eine weitere Gelegenheit dazu erhalten, den unaussprechlichen Grausamkeiten, die sich in den dichten Birkenwäldern Polens abspielten, ein Ende zu bereiten oder zumindest ein weit-

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hin sichtbares Zeichen dagegen zu setzen. Ein letztes Mal bekam seine Regierung die Gelegenheit zu entscheiden, ob das Geschehen die Strategie oder die Strategie das Geschehen bestimmen sollte. Beim WRB erhielt Pehle Anfang November endlich den gesamten 30-seitigen Text des Vrba-Wetzler-Berichts, mehr als sechs Monate nachdem die beiden Flüchtlinge ihn verfasst hatten. Gleichzeitig erreichten ihn zwei weitere übereinstimmende Berichte, und den normalerweise nüchternen Pehle ergriffen beim Lesen Wut und Empörung. Angewidert erkannte er sofort, dass die Zeit für bürokratische Ausflüchte schon lange vorbei war. Am 8. November kontaktierte er wieder einmal McCloy.60 Seinem Anschreiben lag der Bericht der Auschwitzflüchtlinge in Kopie bei. „Kein Bericht der Nazi-Gräueltaten, den dieses Komitee bisher erhielt, hat die grausame Brutalität von dem, was in diesen Lagern stattfindet, so eingefangen, wie diese nüchternen, faktischen Berichte über die Zustände in Auschwitz und Birkenau“, schrieb er. „Ich hoffe ernstlich, dass Sie diese Berichte lesen werden.“ In seiner eigenen Zusammenfassung hielt er fest, dass die Vernichtung so vieler Opfer „kein einfacher Prozess“ sei. Um solche „Morde in Massenproduktion“ durchzuführen, mussten die Nationalsozialisten „beträchtlichen technischen Erfindungsgeist und verwaltungstechnisches Wissen“ aufgebracht haben. Dann wies er in einem der prägnantesten Entscheidungsmomente des Kriegs darauf hin, dass er, trotz des Drucks von vielen Seiten, zuvor gezögert habe, auf die Vernichtung der Lager durch direkte militärische Aktionen zu drängen. Nun aber zögere er nicht mehr. „Ich bin überzeugt, dass jetzt der Punkt erreicht ist, wo eine solche Aktion gerechtfertigt ist, sollte sie von der zuständigen Militärbehörde als durchführbar angesehen werden.“ Den Abschnitt über die Militärbehörden hatte er ­lediglich pro forma angefügt, konnte es doch kaum Zweifel darüber geben, was er für notwendig hielt. Um jedem Zögern der Militärs zuvorzukommen, lieferte er außerdem strategische Gründe dafür, die Vernichtungslager systematisch zu bombardieren. Die Fabriken von Krupp, Siemens und Buna – „alle innerhalb von Auschwitz“–, die unter anderem Gehäuse für Handgranaten herstellten, würden während des Einsatzes zerstört werden, dazu noch deutsche Baracken und Wachhäuser und sogar Häuser des Führungspersonals. Er wiederholte, was Benjamin Akzin ihm gegenüber betont hatte, dass die Moral des polnischen Untergrunds, eines wichtigen Verbündeten der

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Vereinigten Staaten, dadurch „beträchtlich gestärkt“ würde. Zugleich würde ein Angriff eine beträchtliche Zahl von SS-Wachen vernichten, die Schlimmsten der Schlimmen also. Als letzten Punkt führte er an, dass viele der Gefangenen im Chaos der Schlacht würden fliehen können, wofür es sowohl einen Beweis als auch einen Präzedenzfall gab. Er legte den neuesten New York Times Artikel bei über die britische Bombardierung des Gefängnisses in Amiens, bei der Kämpfer der Résistance in die Wälder hatten fliehen oder über die Straßen hatten entkommen können. Während Pehle sein Memorandum schrieb, näherten sich die Massentötungen in Auschwitz langsam ihrem Ende. Doch auf jeden Fall lehnte McCloy ­wieder einmal Pehles Forderung ab. McCloys Argumente waren weitgehend nichtig und erbrachten lediglich erneut den Beweis dafür, dass sich stets Gründe dagegen fanden, wenn das Militär oder das Weiße Haus etwas nicht wollten. Dennoch sind die Details einer genaueren Überprüfung wert. Am 18. November schrieb McCloy, Auschwitz könne nur von schweren amerikanischen Bombern getroffen werden, die in England stationiert seien, und dies würde „einen gefährlichen, nicht eskortierten Rundflug von mehr als 3000 Kilometern über feindlichem Gebiet erforderlich machen“. Auf jeden Fall, fügte er hinzu, liege das Ziel „außerhalb der maximalen Reichweite“ der alliierten Bomberflugzeuge, und der Einsatz würde „nicht akzeptable … Verluste“ verursachen. Natürlich verschwieg er den Luftwaffenstützpunkt in Foggia, Italien, der die Distanz um mehr als 1000 Kilometer verringerte. Auch überging er die Tatsache, dass eben dieser Rundflug schon viele Male routinemäßig von amerikanischen Flugzeugen durchgeführt worden war, die industrielle Ziele in der ganzen Region um Auschwitz herum bombardierten, und dass für jeden Angriff ein Begleitjagdflugzeug zur Verfügung stand, was sich als effektiv erwiesen hatte. Natürlich unterließ er es auch, darauf hinzuweisen, dass P-38 Kampfflugzeuge im vergangenen Juni einen noch längeren Flug von ihren Stützpunkten in Italien aus unternommen hatten, um die Ölraffinerien in Ploieşti zu zerstören. Natürlich sparte er die Tatsache aus, dass die Alliierten einen Weg gefunden hatten, die Partisanen in Warschau mit Nachschub zu versorgen, und natürlich wies er nicht darauf hin, dass Auschwitz-Birkenau bereits bombardiert worden war, wenn auch aus Versehen. Der Entschluss des Kriegsministeriums, versicherte er Pehle, sei „begründet“.

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Seiner Antwort an Pehle fügte McCloy die Kopie des Vrba-Wetzler-Berichts bei, ohne zu erwähnen, ob er ihn auch nur gelesen hatte. Wie sein Biograf Kai Bird feststellt, hatte McCloy beim Umgang mit anderen kontroversen Fragen großen Mut und Entschlusskraft gezeigt, wie z.B. bei der Rassendiskriminierung in der Armee oder bei der militärischen Würdigung von Veteranen der Lincoln Brigade, die im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten – doch dieser Mut fehlte ihm, als er sich mit möglichen Militärschlägen gegen die Vernichtungslager befasste. Man kann sich kaum eine folgenschwerere Entscheidung vorstellen: Hätte McCloy Mitte August die Anweisung zur Bombardierung auf den Weg gebracht, hätten mit größter Sicherheit etwa 100 000 ungarische Juden einen Aufschub von den Gaskammern erhalten.61 Wäre die Entscheidung noch früher gefallen – in der Zeit um den 7. Juli – wären 50 000 weitere Menschen verschont geblieben. Tatsächlich aber entsprach die Zahl der ermordeten ungarischen Juden in etwa der Anzahl alliierter Soldaten, die während der ersten beiden Wochen der „Operation Overlord“ an den Stränden der Normandie landeten. Und wo blieb bei alledem der Präsident? Anfang September hatte Benjamin Akzin zu Pehle gesagt: „Ich bin mir sicher, dass der Präsident, einmal mit den Fakten vertraut, erkennen würde, was auf dem Spiel steht, die auf Faulheit beruhenden Einsprüche des Kriegsministeriums mit einem Schlag beenden und die sofortige Bombardierung der vorgeschlagenen Ziele anordnen würde.“62 Was waren nun die Ansichten dieser epochalen Aushängefigur einer humanitären Gesinnung angesichts der größten moralischen Krise der Menschheit? Hier verzeichnet die Geschichte ein Fragezeichen.63 Es stimmt, dass Roosevelt seine geheimsten Gedanken selten zu Papier brachte und seinen Beratern selten persönliche Gefühle anvertraute. Und doch stellt sich die Frage, ob es in dieser Zeit je einen Augenblick gab, in dem er spontan und voller Gewissensbisse sein Gesicht in den Händen vergrub, wie er dies nach dem Bombardement von Pearl Harbor tat? Oder gab es, während die schrecklichen Informa­ tionen über das kontinuierliche Abschlachten zu ihm vordrangen, je einen Zeitpunkt, an dem er vor Ekel und Empörung fluchte? Hielt er je inne, um die moralischen Implikationen für alle Zeiten abzuwägen? Viele Jahre später sagte McCloy einem Journalisten, dass Harry Hopkins, Roosevelts enger Berater und guter Freund, behauptet habe, „der Boss [sei] nicht geneigt“, die Bombardierung des Vernichtungslagers zu befehlen. Und doch hatte Hopkins selbst

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McCloy eindringlich ermahnt, das Kriegsministerium um Rat zu bitten. Aber McCloy zog sich darauf zurück, die Luftstreitkräfte seien dagegen gewesen, die Lager zu bombardieren, er habe nie mit dem Präsidenten persönlich darüber gesprochen und behauptete rundheraus, damit sei das Thema vom Tisch. Doch mehrere Jahre später gab ein inzwischen in die Jahre gekommener und offensichtlich von seinem Gewissen geplagter McCloy eine andere Version des Geschehens zum Besten. In einem Interview mit Morgenthaus Sohn deutete er an, er und Roosevelt hätten durchaus darüber gesprochen, ob Auschwitz bombardiert werden sollte. In diesem Interview sagte McCloy, der Präsident habe geglaubt, die Bombardierung würde wenig erreichen, dafür aber den Eindruck erwecken, als wären die Vereinigten Staaten in die „Endlösung“ ver­ wickelt, eine Ansicht, die auch einige Juden teilten. Roosevelt habe dann offenbar zu McCloy gesagt, den Vereinigten Staaten würde vorgeworfen werden, „diese unschuldigen Menschen zu bombardieren“ und „bei diesem schrecklichen Geschäft mitzumachen“. Folglich sei es der Präsident selbst gewesen, der die Forderung abgelehnt habe, ohne irgendwelche anderen einfallsreichen ­Alternativen vorzuschlagen. Entspricht eine der beiden Darstellungen der Wahrheit? Beide klingen plausibel, doch es gibt keinen eindeutigen Beweis für die eine oder die andere. Was eindeutig bleibt, ist die Tatsache, dass kein koordinierter Bombenangriff stattfand. Nicht im Juni. Nicht im Juli. Nicht im August, Nicht im September. Nicht im Oktober. Nicht im November. Auch nicht, nachdem der Nachschub für die Polnische Heimatarmee Warschau erreichte. Nicht nachdem die Nachricht über das waghalsige Bombardement des Gefängnisses in Amiens im besetzten Frankreich und die Rettung der Gefangenen durchsickerte. Nicht nach dem versehentlichen Bombardement von Birkenau selbst. Nicht, um der schrecklichsten Todesmaschinerie Einhalt zu gebieten, über die im Lauf der Geschichte jemals berichtet wurde, auch nicht nachdem der Präsident in allen Einzelheiten darüber informiert war. Nicht zu Beginn des Sommers 1944, als ein Angriff zwar schwerer gewesen wäre, aber die größte Wirkung gehabt hätte. Nicht in der Mitte des Sommers, als die Alliierten einen ständigen Brückenkopf in Frankreich gesichert hatten, Paris befreit war und Rumänien gemeinsame Sache mit den Vereinigten Staaten machte. Nicht nachdem am 24. Juni 1944 Johan J. Smertenko dem Präsidenten schrieb, einen Monat nachdem die Sowjets die Deutschen auf einer Front von rund 1200 Kilometern Länge in Weißrussland geschlagen hatten. Nicht im Herbst, als die Bombenangriffe nach dem D-Day bedeutend unkomplizierter gewesen wären, auch wenn der Betrieb der Gaskammern bereits reduziert wurde. Nicht, um die Todesmaschi-

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Gefangen zwischen Wissen und Nichtwissen

nerie zu verlangsamen, was absolut machbar gewesen wäre. Nicht als Symbol für die Welt, dass gegen solch abscheuliche Verbrechen entschieden anzugehen sei. Auch nicht, während ein Opfer nach dem anderen die Kleider ablegte, auf das Geräusch des sich aktivierenden Zyklon B lauschte und das Schreien und Wimmern der anderen hörte. Nicht, während die jetzt leblosen Körper in den Krematorien oder in riesigen Feuergruben verbrannt wurden. Es bestehen kaum Zweifel daran, dass die Weigerung, Auschwitz sofort zu bombardieren, eine Entscheidung des Präsidenten war oder zumindest seinen Wünschen entsprach. Er hatte Zugriff auf ebenso viele Informationen wie jeder andere in Washington, doch entschied er sich tragischerweise, dem Thema keine weitere Beachtung zu schenken und es nicht zu seiner persönlichen Angelegenheit zu machen. Viele Jahre später beklagte der Kongressabgeordnete Emanuel Celler, der Präsident habe auch nicht einen „Funken beherzter Führung“ gezeigt, sondern sei „schweigsam“ und „gleichgültig“ geblieben. 64 Dennoch ist es nicht zu leugnen, dass Roosevelt davon in Anspruch genommen war, eine globale Auseinandersetzung zu führen, wobei zahllose Fragen durch seinen Kopf gingen und zweifelsohne sein Herz rührten. In Anspruch genommen von der enormen Herausforderung, einen Krieg zu beenden und Grundlagen für den Frieden zu schaffen, schien er 1944 in einem Dämmerzustand „zwischen Wissen und Nichtwissen“ gefangen zu sein. Noch stärker jedoch wurde er von etwas anderem beansprucht: einerseits von seiner rapide schwindenden Gesundheit und andererseits von seinem letzten großen Rennen – dem Wahlkampf für eine vierte Amtszeit.

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Der Wind und die Stille In Deutschland hatten die letzten Wahlen 1938 stattgefunden, und schon damals war es ein Ein-Parteien-System gewesen. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei kontrollierte bereits den gesamten Regierungsapparat und versuchte auf diese Weise auch die Kontrolle über jeden Einzelnen zu erlangen. Folglich gingen bei der Reichstagswahl 99 Prozent der Stimmen an die NSDAP. Jegliche Opposition, sofern sie sich danach noch regte, wurde schnell und brutal beseitigt. So wurden auch 1943 sechs führende Mitglieder der gewaltfreien Widerstandsgruppe Weiße Rose, die Flugblätter gegen die Nationalsozialisten verbreiteten und Parolen an Wände schrieben, von der Gestapo verhaftet und nur wenige Tage später hingerichtet. Darunter befanden sich auch Sophie und Hans Scholl. Selbst in Großbritannien wurden aufgrund der kritischen Lage die Parlamentswahlen während des Krieges ausgesetzt. In den Vereinigten Staaten jedoch war 1944 ein reguläres Wahljahr. Seit die Vereinigten Staaten in den Krieg eingetreten waren, hatten schon drei Kongresswahlen und Hunderte von Wahlen in den Bundesstaaten stattgefunden. Eine amerikanische Präsidentschaftswahl zu Kriegszeiten hatte allerdings überhaupt erst einmal zuvor stattgefunden – im Jahr 1864 während einiger der blutigsten Auseinandersetzungen des Bürgerkriegs, darunter die schreckliche Schlacht in der Wilderness. Doch die Verfassung sah kein Aussetzen bundesweiter Wahlen vor. Mit beispiellosem Vertrauen in sich selbst machte sich Franklin D.  Roosevelt deshalb jetzt daran, als amerikanischer Oberbefehlshaber im Krieg für eine vierte Amtszeit zu kandidieren. Allerdings kündigte Roosevelt seine Kandidatur nicht etwa lautstark an, und sein Wahlkampf insgesamt verlief zunächst unmerklich. In der Öffentlichkeit sagte oder unternahm er nichts, und er schien kaum zur Kenntnis zu nehmen, dass dies ein Wahljahr war. Jede Frage danach tat er mit Sprüchen ab, wie: „Heute gibt es dazu nichts Neues“, oder „ich werde jetzt genauso wenig darüber sprechen wie zuvor“1. Ansonsten war er völlig verschwiegen, wurde aber einvernehmlich und größtenteils euphorisch nominiert. Die erste Hürde hatte er im Januar bei der jährlichen Southern Governors’ Conference in Washington genommen, einer stürmischen politischen Veranstaltung, deren Mitglieder

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zwar Demokraten waren, aber fast alle weit rechts von Roosevelt standen. Zum Abschluss trat der Gouverneur von North Carolina vor und bemerkte ganz offen: „Während der Sitzungen fluchen wir über ihn, doch wir kommen für 1944 einfach zu keinem anderen Ergebnis als zu Roosevelt.“ Weit entschiedener für Roosevelt als die Gouverneure der Südstaaten war das Nationalkomitee der Demokratischen Partei. Im Januar 1944 forderten dessen Mitglieder den Präsidenten einstimmig dazu auf, als „großer Weltpolitiker“ eine weitere Amtszeit zu übernehmen. Der Nominierungsparteitag sollte allerdings erst im Juli stattfinden, sodass noch Monate zur Verfügung standen, um zu taktieren. Tatsächlich fand jedoch das größte Geschacher nicht aufseiten der Demokraten statt, wo Roosevelt völlig unangefochten war, sondern bei den Republikanern. Diese Partei hatte fast zwölf Jahre lang keinen Präsidenten gestellt, und ihre Anspannung war spürbar. Ein Kandidat nach dem anderen wurde erwogen, unter anderem Wendell Willkie, der jedoch schon früh beim Kampf um Delegierte unterlag. Danach erhob sich eine Welle der Begeisterung für den charismatischen Oberbefehlshaber im Pazifik, General Douglas MacArthur. Dessen Kandidatur sollte bis zum Nominierungsparteitag geheim bleiben, doch dieser Plan ging schief, als ein Kongressabgeordneter aus Nebraska einen Briefverkehr publizierte, in dem er den New Deal heftig angriff. MacArthur hatte zustimmend geantwortet und sich dabei auf „unser gegenwärtiges Chaos und Durcheinander“ bezogen.2 Kurz danach erklärte MacArthur, sein Desinteresse an einer Nominierung und bemerkte, sein Platz als hochrangiger Offizier sei nicht in der Politik, sondern auf dem Schlachtfeld. Den Republikanern blieb somit nur Thomas E. Dewey, damals Gouverneur von New York wie Roosevelt im Jahr 1932. Dewey war jung, erst 42, erfolgreich und ein fesselnder Redner. Er hatte zuvor eine Karriere als Sänger in Betracht gezogen und setzte seine Stimme jetzt wirkungsvoll bei Vorträgen ein, bei denen jedes Wort nur so von seiner Zunge zu perlen schien. Doch hatte er auch „den Ruf, steif, humorlos und anmaßend“3 zu sein, wie James MacGregor Burns dies nannte, und Alice Roosevelt Longworth verglich sein Aussehen mit jenem „des Männchens auf der Hochzeitstorte“. Doch Dewey verfolgte eine Strategie: In seiner Rede auf dem Parteitag warf er den Demokraten vor, sie seien „im Amt alt, müde, starrköpfig und streitsüchtig“ geworden. Und natürlich meinte er damit in erster Linie den führenden Demokraten, das Gesicht der Partei, Präsident Franklin D. Roosevelt. Es besteht kein Zweifel daran, dass Roosevelt sehr gerne Präsident war. Er genoss die Menschenmengen und die Popularität. Auch die Aufmerksamkeit der Pressevertreter, die oft atemlos jedem seiner Worte lauschten, ließ ihn auf-

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leben. Präsident zu sein bedeutete darüber hinaus, dass die Welt bei ihm zu Gast war, geistreiche Unterhaltungen beim Abendessen, immer eine Warteschlange von Besuchern vor den Türen des Oval Office und ein stets ergebenes, aufopferungsvolles Personal zu Diensten, um seine Wünsche zu erfüllen. Doch vor allem ging es Roosevelt darum, bis zum Ende dieses Krieges durchzuhalten, den er von Beginn an als Präsident geführt hatte. Er träumte davon, gerade dort erfolgreich zu sein, wo Woodrow Wilson so gewaltig gescheitert war: Sein Vermächtnis sollte eine internationale Organisation sein, welche die Geißel des Krieges ausrotten und eine neue internationale Ordnung auf den Fundamenten dauerhaften Friedens errichten würde. Für ihn sollte der Krieg nicht damit enden, dass die Isolationisten einfach wieder vortraten und forderten, Amerika solle wieder von der Weltbühne abtreten. Er wollte diesen Krieg zu Ende bringen, doch vor allem wollte er zum Architekten eines Friedens werden. Das war seine Mission seit seinen frühesten Treffen mit Churchill und seit seiner ersten Begegnung mit Stalin. Jetzt, im Sommer 1944, nach dem D-Day und während amerikanische Streitkräfte unaufhaltsam durch Frankreich vorrückten, schien Roosevelts Ziel endlich in Reichweite. Er erklärte sich so spät wie irgend möglich für die Wahl bereit, haushaltete klug mit seinen schwindenden Kräften und reduzierte auf diese Weise geschickt die Zeit, in der er den Republikanern als Zielscheibe dienen konnte. Denn solange er seine Kandidatur noch nicht bestätigt hatte, drehten sich alle politischen Gerüchte darum, ob er sich zur Wahl stellen werde oder nicht. Bissige Bemerkungen über ihn fielen schlimmstenfalls auf einem Nebenschauplatz. Am 11. Juli, gegen Ende einer Pressekonferenz, entschied er sich jedoch, immerhin einen Hinweis zu geben: „Da wäre noch etwas“,4 hob der Präsident an und begann aus einem Brief vom Vorstand des Demokratischen Nationalkomitees vorzulesen, der ihn höflich darum bat, seine Absichten mitzuteilen. Mittendrin bat er um eine Zigarette, die ihm sein Pressesprecher, Steve Early, beflissen ansteckte. Der Brief zitterte in den Händen des Präsidenten, und Zigarettenasche fiel auf den Schreibtisch. Dann fing er wieder zu sprechen an: „Wenn der Parteitag mich nominieren sollte, dann werde ich annehmen. Wenn das Volk mich wählt, dann werde ich mich zur Verfügung stellen.“ Dann erklärte er verschmitzt: „Wenn es nach mir ginge, würde ich nicht kandidieren[, aber] als guter Soldat wiederhole ich, dass ich dieses Amt annehmen und ausüben werde.“ Doch die wichtigste Entscheidung der Wahl fällte weder Roosevelt noch Dewey, sondern eine kleine Gruppe von Parteiführern der Demokraten, die im zweiten Stock des Weißen Hauses in einem Arbeitszimmer zusammensaßen.

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Diese Männer hatten einen neuen Kandidaten für die Position des Vizepräsidenten zu ernennen, einen Ersatz für Henry Wallace, den derzeitigen Amtsinhaber, der von seinen Kritikern als zu intellektuell, zu liberal und zu praxisfern eingeschätzt wurde und den Roosevelt ohnehin nicht besonders mochte. Die Parteiführer waren sich nicht sicher, was für einen Mann sie suchten, doch angesichts von Roosevelts nachlassender Gesundheit wussten sie, dass ein Vizepräsident sehr wahrscheinlich irgendwann innerhalb der nächsten vier Jahre zum Staatsoberhaupt avancieren würde und zwar eher früher als später. Dafür kam Wallace ihrer Meinung nach definitiv nicht infrage.5 Roosevelt hatte ursprünglich für Willkie plädiert, seinen früheren Gegner und jetzigen Verbündeten, der ihm helfen sollte, eine neue politische Partei zu gründen. Diese Idee zerschlug sich jedoch recht schnell. Sein nächster Vorschlag war Richter William O. Douglas, was ebenfalls scheiterte. Schließlich verständigte man sich auf Harry Truman, einen Senator aus Missouri. Roosevelt hegte Truman gegenüber gemischte Gefühle – er fand ihn zu alt –, gab aber stillschweigend seine Zustimmung. Wie zu erwarten, informierte er Wallace, den amtierenden Vizepräsidenten, jedoch keineswegs sofort, sondern unterstützte augenscheinlich Bill Douglas, einen weiteren potenziellen Stellvertreter, und verhielt sich also wieder einmal wie bei Eisenhower und Marshall. Es blieb daher dem Leiter des Nationalkomitees der Demokraten überlassen, die Angelegenheiten in Chicago zu regeln. Er eilte im Präsidentenzug umher und brachte Roosevelt schließlich immerhin dazu, Truman in einem Schreiben an die Delegierten vor Douglas zu nennen. Ohne diese veränderte Reihenfolge wäre der Mann aus Missouri wohl nie auf die Wahlliste gelangt. Auch Truman selbst zögerte anfänglich,6 doch verpflichtete er sich schließlich nach heftiger Überredung und nachdem er ein Telefongespräch zwischen Roosevelt und dem Leiter des Nationalkomitees mit angehört hatte, bei dem Roosevelt gesagt hatte, Truman hätte es zu verantworten, sollte die Demokratische Partei mitten im Krieg auseinanderbrechen. Als Truman nach weiteren Telefongesprächen am späten Abend zustimmte, war der Parteitag umgehend bereit, ihn als Vizepräsident zu nominieren. Sorgenvoll verließ er nach einer schlaflosen Nacht mit seiner Frau Bess am Arm den Raum, umringt von einer Schar von Fremden, Sicherheitsleuten und Gaffern, und auch seine Frau fragte entsetzt: „Müssen wir das jetzt für den Rest unseres Lebens durchstehen?“ Roosevelt selbst war auf dem Parteitag gar nicht anwesend. Er saß im Zug auf dem Weg nach San Diego und sollte seine Antrittsrede nicht persönlich, sondern über das Radio aus dem Panoramawagen seines gepan-

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zerten Zuges halten. Der Präsident musste sich um die Teilnehmer des Parteitags nicht sorgen, sie würden ihn voll unterstützen. Vielmehr galt es jetzt, seine Vitalität, seine Tatkraft und seine Führungsqualitäten zu beweisen, alle Gerüchte um seinen schlechten Gesundheitszustand zu zerstreuen und die amerikanische Öffentlichkeit daran zu erinnern, wofür sie Franklin Delano Roosevelt geliebt hatte und warum sie ihn immer noch liebte. Mit seiner Nominierungsrede bewies er wieder einmal, wie sehr er die politische Bühne beherrschte. Mit dieser Rede wollte er sein größtes Manko, seine gesundheitliche Verfassung, in einen Trumpf verwandeln und so seinen Gegner klar in die Defensive drängen. „Ich werde nicht im üblichen Sinne Wahlkampf betreiben“,7 klang Roosevelts Stimme aus den Lautsprechern. „In diesen Tagen voll tragischer Sorgen finde ich das nicht angebracht. Und außerdem werde ich in diesen Tagen, wo weltweit Krieg herrscht, keine Zeit dafür haben.“ „Welche Aufgabe liegt 1944 vor uns?“, fuhr er fort. „Zunächst müssen wir den Krieg gewinnen – den Krieg schnell gewinnen, ihn überwältigend gewinnen. Zweitens müssen wir weltumspannende internationale Organisationen gründen, und wir müssen die bewaffneten Streitkräfte der unabhängigen Nationen der Welt dazu heranziehen, einen weiteren Krieg in absehbarer Zukunft unmöglich zu machen. Und drittens müssen wir unsere Wirtschaft aufbauen, um für die zurückkehrenden Veteranen und für alle Amerikaner Arbeitsplätze zu schaffen und ihnen einen anständigen Lebensstandard zu ermöglichen.“ Roosevelt endete mit einem Zitat aus Abraham Lincolns eloquenter zweiter Antrittsrede, sprach davon, die Wunden der Nation zu versorgen und „alles zu tun“, um „einen gerechten und dauerhaften Frieden herbeizuführen und zu bewahren“ – in Amerika und in der Welt.8 Und um ein Haar hätte Roosevelt diese Rede gar nicht halten können. Er hatte sich auf den Weg nach Kalifornien gemacht, auf eine, wie sich herausstellen sollte, wochenlange Reise, die in San Diego beginnen und bis nach Hawaii führen sollte, wo ein Treffen mit General Douglas MacArthur geplant war, um mit ihm die Strategie im Pazifik zu besprechen. Der Zug fuhr nur langsam, wie immer wenn Roosevelt auf Reisen war. Es gab ausgedehnte Mahlzeiten, man spielte Gin Rommé, nutzte die Zeit zum Lesen und auch um einiges an Arbeit zu erledigen. Roosevelt genoss seine Entourage und die Zerstreuung in vollen Zügen. Am 20.  Juli 1944 fuhr der Zug in San Diego ein. Eleanor bereitete ihre Weiterreise vor, während Roosevelt einem Landungsmanöver in Oceanside beiwohnen wollte. Jimmy, ein Sohn Roosevelts, würde ihn bei der Parade

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begleiten, und noch in dieser Nacht sollte er zum vierten Mal die Nominierung der Demokratischen Partei zum Präsidentschaftskandidaten annehmen. Jimmy war schon im Zug, und der Oberbefehlshaber machte sich für den Truppenbesuch bereit, als Roosevelt plötzlich ganz weiß im Gesicht ­wurde, ähnlich wie damals in Teheran. „Sein Gesichtsausdruck war gequält“, erinnerte sich Jimmy.9 „Jimmy, ich weiß nicht, ob ich’s schaffe“, keuchte der Präsident. „Ich habe schreckliche Schmerzen.“ Jimmy wollte sofort den Arzt kommen lassen, doch Roosevelt hielt ihn ab. Stattdessen bestand er darauf, es seien nur Bauchschmerzen, und wies seinen Sohn an, ihm zu helfen, vom Bett hochzukommen und sich flach auf den Boden zu legen. Ungefähr zehn Minuten lang lag der Präsident der Vereinigten Staaten so auf dem Boden eines Eisenbahnabteils. Er hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war „verhärmt“. In regelmäßigen Abständen „zuckte“ sein Körper „während die Schmerzwellen ihn schüttelten“. Jimmy blieb nichts anderes übrig als zuzusehen, allein, in qualvoller Stille. Nach einigen Minuten wich die Blässe aus Roosevelts Gesicht und sein Körper kam zur Ruhe. „Hilf mir jetzt auf, Jimmy“, flüsterte er. „Ich fühle mich besser.“ Und als sei nichts geschehen, ließ Roosevelt sich zu einem offenen Auto bringen, das zur Steilküste hinauffuhr, von wo aus er 5000 Marines und 3000 Männern der Navy zusah, wie sie an einem kalifornischen Strand eine Invasion übten. Wenige Stunden später hielt Roosevelt seine Rede vor ihm getreuen Demokraten, und die Menge jubelte. Doch, wie sich zeigen sollte, boten die Folgen dieser Anstrengung keinen Anlass zum Jubel. Nachdem Roosevelt gesprochen hatte, wurden alle Fotografen hereingeführt, um vom Präsidenten Bilder zu machen, auf denen er so tat, als trage er seine Rede vor. Die Fotografen schossen Nahaufnahmen von ihm mit geschlossenem und mit geöffnetem Mund, dann wurde der Film eilig nach Los Angeles gebracht, wo Associated Press ihn entwickeln und an alle wichtigen Stellen weiterleiten konnte. Das Foto, das der AP-Redakteur auswählte, zeigte Roosevelt mit offenem Mund beim Sprechen.10 Doch einmal abgezogen offenbarte diese Aufnahme noch viel mehr. Die Augen des Präsidenten blickten glasig, sein Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen, sein Kiefer schlaff, und er sah unglaublich verbraucht aus. Wie zu erwarten, verwendeten ­Roosevelt-kritische Zeitungen das Bild, während Roosevelts Pressesprecher, Steve Early, explodierte und den verantwortlichen Fotografen vom Rest der Wahlkampfreise ausschloss. Doch konnte man das Bild nicht in die Dunkelkammer zurückschicken. Thomas Dewey und seine Anhänger würden genügend Munition haben, um Roosevelts Gesundheit zum Thema, womöglich

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zum wichtigsten Thema des Wahlkampfs zu machen. Und sie sollten damit Recht behalten. Während das Bild eines ausgemergelten Roosevelt überall in den Vereinigten Staaten zu sehen war, fand in Deutschland eine wahnsinnige Menschenjagd statt. Am 20. Juli war eine Bombe in der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier, explodiert, wo dieser an einer Besprechung mit seinen höchsten Militärs teilnahm. Die gewaltige Explosion hatte Türen und Fenster in Stücke gerissen. Glas zerschnitt die Luft, Holzblöcke zersplitterten, während Papierfetzen und andere Überbleibsel auf dicken Rauchschwaden davon wehten. Flammen schlugen die Wände empor. Hitler jedoch blieb verschont und erlitt nur geringfügige Verletzungen, obwohl seine Hosen kurz Feuer fingen und er am Hinterkopf versengt wurde. Nur er und eine weitere Person im Raum kamen ohne Gehirnerschütterung davon. Das war nicht der erste Anschlag auf Hitlers Leben, doch jedes Mal war er unversehrt geblieben. Der erste, wenig überzeugende Versuch wurde schon 1939 unternommen. Darauf folgten bedeutend aufwendigere Verschwörungen. Einmal wurde eine Bombe in zwei Flaschen Cognac versteckt und an Bord von Hitlers Flugzeug platziert, doch unerklärlicherweise kam es nicht zur Detonation. Mindestens einer der zuvor unternommenen, jedoch fehlgeschlagenen Versuche hatte in der Wolfschanze selbst stattgefunden. Doch der 20. Juli sollte die letzte und ausschlaggebende Verschwörung sein, durchgeführt vom aristokratischen Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Zwar war von Stauffenberg früher ein Unterstützer des Nationalsozialismus gewesen, aber seit 1938 hatte er sich vom Regime wegen dessen Kriegstreiberei abgewandt. Die wachsende Barbarei der Nationalsozialisten und insbesondere die Berichte über das massenhafte Abschlachten ukrainischer Juden durch die SS bestärkten ihn in seiner Opposition. Stauffenberg war ein Veteran des Afrikafeldzugs – dort hatte er sein rechtes Auge und seine rechte Hand verloren – und schloss sich den Verschwörern des 20. Juli zunächst als Unterstützer an. Als eine Beförderung ihm aber direkten Zugang zu Hitler ermöglichte, wurde er zum Attentäter bestimmt. Sein Ziel war es, Deutschland aus den Klauen der Nationalsozialisten zu befreien. Über seine eigene Rolle sagte er: „Derjenige, allerdings, der etwas zu tun wagt, muß sich bewußt sein, daß er wohl als Verräter in die deutschen Geschichte eingehen wird. Unterläßt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor dem eigenen Gewissen.“11

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Er hatte recht. Doch nicht Hitlers Leiche wurde aus den Trümmern gezogen, sondern die führenden Verschwörer wurden aufgespürt, zusammengetrieben, im Licht von Autoschweinwerfern von einem Erschießungskommando hingerichtet oder an riesengroßen Fleischerhaken erhängt. Die Leichen wurden dann weggeschafft und sofort begraben. Am nächsten Morgen allerdings erteilte Himmler den Befehl, die toten Männer zu exhumieren und zu verbrennen. Der letzte Versuch, Hitler zu stürzen, hatte sich buchstäblich in einer Aschewolke aufgelöst. Auch einem von Deutschlands größten Generälen, dem berühmten Wüstenfuchs Erwin Rommel, wurde nachgesagt, in die Verschwörung verwickelt zu sein. Er wurde von der SS dazu gezwungen, Gift zu nehmen. Jetzt konnte Hitler endgültig nur noch durch die Ankunft alliierter Panzer in Berlin gestürzt werden. In San Diego wartete Roosevelt gespannt auf Einzelheiten zum versuchten Attentat, brach aber dennoch am 21. Juli um Mitternacht zu seiner Reise nach Pearl Harbor auf, zum Treffen mit General Douglas MacArthur. Im Schutz der Dunkelheit und nicht ohne Ablenkungsmanöver verließ die Baltimore, ein Kreuzer der Marine, den Hafen in Richtung des offenen Pazifik. Roosevelt, im Grunde immer ein Seemann, war froh, auf dem Wasser zu sein und ein neues Ziel anzusteuern. Bei der Ankunft in Pearl Harbor war der Pier überfüllt. Die Hawaiianer waren massenhaft erschienen, und Matrosen in Habachtstellung säumten die Schiffsrelings. Jubelrufe erklangen, als sie den hohen Besuch erblickten. Admiral Nimitz kam in Begleitung die Gangway herauf, um den Oberbefehlshaber auf dem Achterdeck zu begrüßen. Nur ein Militär fehlte – Douglas MacArthur, der den Kriegsschauplatz im Pazifik unter sich hatte. Herrisch und anmaßend, insgesamt ein rätselhafter Mann, hatte er seinen eigenen Auftritt wohl inszeniert. Unter dem Klang von Polizeisirenen traf MacArthur in einem großen schwarzen Auto mit offenem Verdeck ein. Ein Soldat saß am Steuer und MacArthur im Fond, bekleidet mit einer Lederjacke, seinem Markenzeichen. Zum zweiten Mal erklang gewaltiger Beifall. Doch der Präsident war nicht in der Stimmung, sich beeindrucken zu lassen. „Hallo Doug“, sagte Roosevelt. „Wieso hast Du denn diese Lederjacke an? Es ist ein verdammt heißer Tag.“12 MacArthur blieb nichts anderes übrig, als sich zu brüsten: „Na ja, ich komme gerade aus Australien. Dort ist es ziemlich kalt.“

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Da der Krieg in Europa dem Ende zuging, sprach Roosevelt jetzt mit seinen Kommandanten über die Strategie im Pazifik. Sollte die Insel Formosa und die chinesische Küste angegriffen werden, oder sollte man Formosa umgehen und sich auf die Befreiung der Philippinen konzentrieren, was MacArthur vorzog? Er nahm sich auch die Zeit, die militärischen Einrichtungen auf der Insel zu besuchen, darunter ein Militärhospital mit einer Station für Amputierte.13 Sam Rosenman beobachtete, wie Roosevelt im Gebäude einen Geheimdienstmitarbeiter bat, ihn vorsichtig an den Betten der jungen Männer vorbeizuschieben, die eines oder beide Beine verloren hatten. Der Präsident lächelte sie aufmunternd an und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Zwar äußerte er sich nicht über seine eigenen verkümmerten und nutzlosen Beine, doch waren sie deutlich zu sehen. Die Botschaft war unmissverständlich: Dieser Präsident hatte sich einst trotz seiner Behinderung von seinem Bett erhoben und war zu einem neuen Leben aufgebrochen. Und das würde auch ihnen möglich sein. „Ich sah Roosevelt nie mit Tränen in den Augen“, erinnerte sich Rosenman. „Als er an diesem Tag aus dem Hospital geschoben wurde, war er nahe dran.“ Die militärischen Fragen waren schnell geklärt. Ein Teilnehmer fand, Roosevelt sei „in Bestform“ gewesen. Doch insgeheim kam MacArthur zu einem anderen, beunruhigenden Schluss. Der General sagte zu seiner Frau: „Er ist nur noch ein Schatten des Mannes, den ich kannte. In sechs Monaten wird er im Grab liegen.“14 Während der Reise nach Hawaii kursierten zwangsläufig Gerüchte über die Gesundheit des Präsidenten. Schon in Washington hatte es Gerede gegeben: Roosevelt sei während seines Aufenthalts in Hobcaw heimlich an Krebs operiert worden, hieß es. Andere deuteten geheimnisvoll an, dass er einen Schlaganfall oder einen schweren Herzinfarkt erlitten habe. Es wurde so viel spekuliert, dass der Geheimdienstagent Mike Reilly es einmal sogar Reportern in South Carolina erlaubte, Roosevelt aus der Entfernung zu beobachten, nur um Behauptungen entgegenzutreten, der Präsident läge in einem Krankenhaus in Boston oder New York. Selbst jetzt, während Roosevelt noch auf Hawaii war, schickte Harry Hopkins dem Präsidenten ein Telegramm mit der Nachricht, dass ein auf der Insel stationierter FBI Agent, J. Edgar Hoover mitgeteilt habe, die Pazifikreise sei abgeblasen worden, da es Roosevelt nicht gut gehe. Der nächste Halt des Präsidenten war die Insel Adak, ein amerikanischer Militärstützpunkt vor der Westküste Alaskas. Dann ging es zurück aufs Festland und mit dem Zug in den Staat Washington, zu einem letzten Halt vor der Fahrt nach Hause.

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Ob aufgrund der kursierenden Gerüchte über seine Gesundheit, weil er sich selbst etwas beweisen wollte oder wegen seiner Beifall heischenden Persönlichkeit, jedenfalls wollte der Präsident seine Zugreise zurück nach Washington nicht antreten, ohne zuvor eine große Ansprache in der Öffentlichkeit gehalten zu haben. Ursprünglich sollte dies in einem Baseballstadion stattfinden, doch der Geheimdienst schreckte davor zurück. Harry Hopkins schickte ein Telegramm mit dem Vorschlag, die Rede an Deck des Zerstörers zu halten, der ihn über den Ozean getragen hatte, mit den großen Geschützen im Hintergrund. Roosevelt stimmte begeistert zu. Vor Ort würden 10 000 Arbeiter der Bremerton Schiffswerft anwesend sein, und hinzu kamen all die Menschen, die im ganzen Land am Radio zuhörten. Roosevelt war entschlossen, seine Rede im Stehen zu halten, doch waren mehrere Monate vergangen, seit er das letzte Mal auf eigenen Beinen gestanden hatte, und in der Zwischenzeit waren diese noch kraftloser geworden. Die Muskeln hatten sich zurückgebildet, sodass seine Beinschienen nicht mehr passten. Er vermochte kaum, das Gleichgewicht zu halten. Ein starker Wind wehte, und das Deck schwankte, weshalb sich der Präsident am Rednerpult festhalten musste und kaum fähig war, die Seiten seiner Ansprache umzublättern. Seine sonst klangvolle Stimme war, mit den Worten seines Biografen, James MacGregor Burns, „schwach und stockend“ und die Rede selbst „weitschweifig“.15 Noch beunruhigender war, was während der Rede mit Roosevelts Körper geschah. Während der ersten Viertelstunde presste ihm ein Schmerz den Brustkorb wie ein Schraubstock zusammen und breitete sich in beide Schultern aus. Der Präsident schwitzte stark, doch nach etlichen langen Minuten schwanden diese Symptome allmählich. Er hatte einen Anfall von Angina – zwar den einzigen, den er je haben sollte, doch war sein Gesundheitszustand bedrohlicher denn je. Als er von Deck ging, kehrte er in den Kapitänsraum zurück und fiel auf einem Stuhl fast reglos in sich zusammen. Dr. Bruenn nahm eine Blutprobe und machte ein EKG. Er fand nichts, was auf einen dauer­haften Schaden schließen ließ, verschrieb aber dennoch Ruhe für die gesamte Heimreise, und Roosevelt stimmte zu.16 Nach der Rede stimmte die Washington Post eine Art politischen Abgesang auf Roosevelt an, indem sie schrieb: „Es sieht aus, als habe der alte Meister sein Fingerspitzengefühl verloren“, und fügte hinzu, „seine Wahlkampftage sind wohl vorüber.“17 Fünf Tage nach seiner Rückkehr nach Washington, hielt sich Roosevelt in Hyde Park auf. Doch fand er auch hier schwerlich die ersehnte Ruhe. Das Haus war voller Gäste. „Der Präsident ist immer noch etwas angespannt und ner-

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vös“, beobachtete Hassett, „hat sich noch nicht ganz von seiner fünfwöchigen Reise an die Pazifikküste über Land und See erholt. Zu viele Besucher bei den Mahlzeiten – Besucher jeden Alters, Geschlechts und jedweder Verpflichtung – sind für einen erschöpften Mann kaum erholsam.“18 Selbst Eleanor wurde darauf aufmerksam und hielt fest, „Pa klagt darüber, dass er müde sei, und ich finde er sieht älter aus. Ich kann nicht umhin, mir Sorgen um sein Herz zu machen.“ Doch im selben Maße wie sich die Gerüchte über seine Gesundheit verbreiteten, stieg Roosevelts Gereiztheit. Er war aufgebracht und erregt. Er würde sich nicht abschreiben lassen. Der Journalist David Brinkley sollte später bemerken: „Über Monate erschien er verschlossen und deprimiert, interessierte sich für nichts mehr richtig, war beim Wahlkampf kaum zu mehr bereit, als ab und zu eine schriftliche Erklärung abzugeben. Doch im Herbst 1944 erlangte er für einen Augenblick wieder seine Kraft, angetrieben von seinem Hass auf Thomas E. Dewey.“19 Der Rest der Welt nahm weder auf Franklin D. Roosevelt noch auf die Wahlen im November 1944 Rücksicht. Obwohl sich die deutsche Kriegsmaschinerie langsam und unaufhaltsam aus dem Norden Frankreichs zurückzog, waren seit Anfang Juni weiterhin Züge durch ganz Europa nach Norden und Osten gerollt, vorbei am einst glanzvollen Wien, vorbei an Krakau, und in den Bahnhof von Auschwitz eingefahren. Das Drehbuch war immer dasselbe. Die Behinderten und die Kranken, Schwangere, Kinder und alte Leute wurden immer noch sofort vergast, mit der unfassbaren Geschwindigkeit von 2000 Menschen alle dreißig Minuten, sodass innerhalb von Stunden mehr Menschen ums Leben kamen, als am ersten Tag des Angriffs in der Normandie. Nach einem kurzen Rückgang im Juli arbeiteten die Gaskammern jetzt wieder auf Hochtouren. Am 1. August erhoben sich die besiegten Polen in Warschau zum Aufstand gegen die Deutschen. Kurze Zeit später marschierten Gestapobeamte durch die Straßen Amsterdams und polterten mit ihren Stiefeln die Stufen zu einem geheimen Anbau hinauf, wo Familie Frank sich versteckt hatte und Anne sie erwartete. Sie und ihre Familie sollten den letzten Deportationszug von den Niederlanden nach Auschwitz besteigen.

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Am 23. August, als die Deutschen unter anderem schwere Mörser und Brandbomben nach Warschau brachten, um erneut zu versuchen, den Aufstand niederzuschlagen, und als Paris, die Stadt des Lichts, von den Alliierten befreit wurde, traf Roosevelt zu einem kurzen Aufenthalt in Washington ein. Da Eleanor noch in Hyde Park war, verbrachte Roosevelt am Nachmittag eine Stunde mit Lucy Mercer Rutherfurd, deren Tochter und Stiefsohn sowie mit seiner Tochter Anna. Sie trafen sich am South Portico, dem Säulengang an der Südseite des Weißen Hauses, und ihnen wurden Tee und Gebäck kredenzt. Als er eine Woche später nach Hyde Park zurückkehrte, ließ Roosevelt seinen Zug eine andere Strecke fahren und bei Lucys Anwesen im Norden New Jerseys halten. 20 Er sprach sogar in ihrer Anwesenheit mit Churchill am Telefon. Die zwei Staatsoberhäupter würden sich am folgenden Tag zu ihrem siebten Gipfel treffen, dieses Mal in Quebec, und ihre Ehefrauen würden zugegen sein. Danach fragte der Präsident beim Geheimdienst an, ob diese Strecke durch New Jersey nicht ab und zu benutzt werden könnte, um nach Hyde Park zu kommen, worein die Agenten einwilligten. Mit dem Gipfel in Quebec21 im September 1944 begann eine anstrengende Herbstsaison. Zu diesem Zeitpunkt erwarteten sämtliche Militärführer, dass Deutschland innerhalb der nächsten zwölf Wochen, bis Weihnachten, kapitulieren würde. Roosevelt war anscheinend skeptischer, aber immer noch fest entschlossen, Besatzungszonen einzurichten, und er stimmte zu, dass die Amerikaner die Aufgabe übernehmen würden, Frankreich zu sichern. Was man mit Deutschland nach dem Krieg anfangen sollte, war verzwickter. Wie, fragte er sich, wären Reparationen zu erhalten, und wie wäre jegliche zukünftige Bedrohung durch Deutschland zu verhindern, ohne die Grundlage für einen nächsten Weltkrieg zu schaffen, wie dies nach dem Ersten geschehen war. Henry Morgenthau, der Finanzminister, unterbreitete erneut seine Vorstellungen: Er wollte Deutschland in Kleinstaaten aufgeteilt und dann in eine auf Land- und Viehwirtschaft reduzierte Nation verwandelt sehen, ohne Schwerindustrie, die Kohlenbergwerke geschlossen und die Fabriken demontiert, denn so wäre Deutschland fortan nicht mehr in der Lage, Kriege zu führen. Anfangs war Churchill dagegen, doch am zweiten Tag stimmte er genauso wie der begeisterte Roosevelt zu. Hitzig erklärte der Präsident: „Dem ganzen deutschen Volk muss klargemacht werden, dass die ganze Nation in eine gesetzlose Kampagne gegen den Anstand der modernen Zivilisation verwickelt war.“22 Und doch brach in Washington, als der Plan nach und nach über die Presse durchgesickert war, ein Sturm der Empörung los. Stimson im Kriegsministerium und Hull im Außenministerium waren fassungslos. Das war, sagte Stim-

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son, „wild gewordener Philosemitismus“, und Hull fand, dies werde garantiert für den Widerstand der Ewiggestrigen sorgen, jener Deutschen, die bis zum Letzten zu kämpfen bereit waren. Die Republikaner sprangen sofort auf den Plan an, als einen möglichen Angriffspunkt bei der Wahlkampagne, und Roosevelt gab ihn unverzüglich auf. Nur zwei Wochen später behauptete er, „keine Ahnung“ zu haben, wie ein solcher Plan ins Leben gerufen werden konnte. War da noch Roosevelts meisterhaftes politisches Geschick am Werk? Verwischte er seine Spuren? Oder war dies ein weiterer Hinweis auf seine schwindende Gesundheit? Churchill, selbst gerade von einer Lungenentzündung genesen, war während des Gipfels so besorgt um ihn, dass er Dr. McIntire aufsuchte, um diesen über den Präsidenten zu befragen. McIntire beharrte darauf, Roosevelt gehe es gut. Doch einer von Churchills Beratern, sein Arzt Lord Moran, bemerkte: „Man hätte ihm die Faust zwischen Hals und Kragen stecken können. Ich sagte mir, Männer seines Alters magern nicht ohne Grund plötzlich so derart ab.“ Während die beiden Führer Quebec verließen, gab es neue Berichte über wachsenden deutschen Widerstand. Die Prognose, das Kriegsende sei nur noch zwölf Wochen entfernt, erwies sich jetzt als Illusion. Nach dem Gipfel in Quebec kamen die Churchills noch auf einen kurzen Besuch nach Hyde Park, und weil der Premierminister ein Nachtmensch war, blieben beide Staatsführer bis ein Uhr morgens auf. Doch kaum waren sie abgereist, ging Roosevelt schon um 19 Uhr mit der strikten Anweisung zu Bett, man möge ihn bis zum Morgen nicht aufwecken. In der Zwischenzeit ritt Thomas Dewey im Wahlkampf auf der Behauptung herum, die amerikanische Regierung werde von „müden alten Männern“ geführt, und diesem Urteil nicht zuzustimmen, fiel zunehmend schwer.23 Roosevelt wusste, dass er Tonart und Richtung seines Wahlkampfs verändern musste. Und dazu blieben ihm weniger als acht Wochen. Das neue Statler Hotel war während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs ein beliebtes Ausflugsziel in Washington.24 Es war der Ort für Versammlungen, feierliche Abendessen und Ansprachen, der Ort, an dem „Auszeichnungen vergeben, auf Rücken geschlagen und Hände geschüttelt wurden“. In der 16. Straße, Nummer 1001 gelegen, war es nur wenige Straßenzüge vom Wei-

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ßen Haus entfernt und bestens für dessen derzeitigen Bewohner eingerichtet. Von der Straße aus war ein geräumiger und geschützter Aufzug leicht zu erreichen, der den Besucher ins Hochparterre und in den Präsidentensaal brachte. Tatsächlich konnte die Limousine des Präsidenten direkt in diesen Aufzug hineinfahren und innerhalb des Hotels „hochgehoben“ werden. Dann konnte der Präsident völlig ungestört aus seinem Auto geholt, in den Rollstuhl befördert und zum Kopfende eines Tischs gebracht werden, verborgen vor den neugierigen Blicken der Presse oder anderer Anwesender. Es war daher nicht überraschend, dass Organisationen, die ein Abendesser planten und den Präsidenten der Vereinigten Staaten erwarteten, alles unternahmen, um den Präsidentensaal im Statler zu bekommen. Aus demselben Grund veranstaltete die International Brotherhood of Teamsters, die Gewerkschaft der Transportarbeiter, hier am 23. September 1944 ihr Bankett, bei dem Franklin D. Roosevelt eine Rede halten sollte. Nach dem fast verhängnisvollen Ausflug nach Bremerton stand bei dieser Rede sehr viel auf dem Spiel. In der Nacht zuvor übte der Präsident beharrlich, seine Schienen zu benutzen. Sam Rosenman erinnerte sich eindringlich daran: „Er versuchte buchstäblich, wieder laufen zu lernen.“25 Roosevelt stützte sich auf Dr. McIntire, doch seine verkümmerten Glieder vermochten kaum, ihn zu tragen, und bald war klar, dass er seine Rede nur im Rollstuhl würde halten können. Der Saal war überfüllt und die Menge bereit.26 Als Roosevelt angekündigt wurde, fragte Anna, seine Tochter, Rosenman im Flüsterton: „Denken Sie, Pa wird das schaffen?“ In der ganzen Halle rückten Hunderte kräftiger Gewerkschafter und Washingtoner Bürokraten und Aktivisten ihre Sitze „von der Festtafel ab“ und warteten. Roosevelt begann, zunächst noch etwas holperig, doch mit jedem Wort der Rede fand er mehr zu seinem Ton. „Sie wissen“, witzelte er und dehnte die Silben, um sie zu betonen, „ich bin jetzt vier Jahre älter, und diese Tatsache scheint einige Leute zu verärgern.“ Er fuhr fort: „Tatsächlich gibt es aber, rein mathematisch gesehen, Millionen von Amerikanern, die“ – ein weitere starke Betonung – „mehr als elf Jahre älter sind als damals, als wir anfingen, das Durcheinander aufzuräumen, das uns 1933 vor die Füße geworfen wurde.“ Der Raum explodierte, und Roosevelt lehnte sich zurück, wie ein Komödiant nach einer gelungenen Pointe. Es war eine Ansprache an die Getreuen, voll Spott für die Republikaner, die die Arbeiterschaft dreieinhalb Jahr lang angegriffen und dann in den wenigen Monaten vor der Wahl umgarnt hatten. Er nannte seinen Gegner „ei-

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nen Schwindler“ und fügte hinzu: „Wir haben viele wunderbare Tricks im Zirkus gesehen, aber kein Elefant könnte bei seinem Auftritt einen Überschlag machen, ohne auf den Rücken zu fallen.“ Und er bemerkte: „Wenn ich ein Führer der Republikaner wäre und zu einem gemischten Publikum sprechen würde, wäre das letzte Wort im ganzen Wörterbuch, das ich je in den Mund nehmen würde, das Wort ‚Wirtschaftskrise‘.“ Roosevelt lief zu Höchstform auf, und die Menge war in Bann geschlagen. Man hörte zustimmende Rufe, es gab Gelächter, und ein aufgeregter Gewerkschafter begann, mit einer Suppenkelle auf ein Silbertablett zu schlagen. „Der alte Meister hat es immer noch drauf “, schrieb ein Reporter vom Time Magazin. „Er war wie ein alter Virtuose, der ein Stück aufführt, das er lange Jahre geliebt hat … Der Präsident führte auf, was er liebte – die Politik.“ Und die letzte Spitze sollte erst noch kommen, als Roosevelt sich donnernd dem Höhepunkt näherte: „Die Führer der Republikaner haben sich nicht mit Angriffen auf mich, meine Frau, oder meine Söhne zufriedengegeben. Nein, nicht genug damit, greifen sie jetzt auch meinen kleinen Hund Fala an. Ich persönlich habe nichts gegen Angriffe, ebenso wenig meine Familie, aber“ – eine kurze Pause – „Fala hat etwas dagegen.“ Roosevelt fügte hinzu, „ich denke, ich habe das Recht, mich gegen verleumderische Behauptungen über meinen Hund zu verwahren“.27 Dieser eine Abend wirkte wie Zauberei. Er tilgte Monate der Spekulation und brachte den alten Roosevelt zurück ins Scheinwerferlicht. Doch auch Dewey stand weiterhin für seine Sache ein, und Roosevelt wusste, dass er einen zusätzlichen Schlag führen musste, um den Kampf wirklich für sich zu entscheiden. Dieser Schlag sollte auf einer Reise nach New York erfolgen am Samstag, dem 21. Oktober. Inzwischen hatte am 2. Oktober die polnische Untergrundarmee in Warschau kapituliert. 28 Etwa 200 000 Polen waren bei dem Aufstand ums Leben gekommen, einige verwundete Rebellen waren durch die vorrückenden Deutschen in Feldlazaretten lebendig verbrannt worden. Etwa 55 000 Polen wurden in Konzentrationslager geschickt, und weitere 150 000 wurden nach Deutschland in Arbeitslager deportiert. Die Deutschen vermeldeten 26 000 Verluste: Tote, Verwundete oder Vermisste. In den folgenden Wochen begannen ausgedehnte Plünderungen. Wie in der Sowjetunion übten die Deutschen Vergeltung. Alle Rohstoffe, gute Kleidung und sogar Esstische, die in der umkämpften Stadt verblieben waren, wurden abtransportiert. Was sonst noch übrig war, wurde ent-

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weder durch Feuer oder eigens platzierte Bomben dem Erdboden gleich gemacht. Der Sonderzug des Präsidenten aus Washington fuhr um sieben Uhr morgens in New York ein.29 Roosevelt sollte durch vier Bezirke fahren – Brooklyn, Queens, die Bronx und natürlich Manhattan – in einem offenen Wagen, ohne Verdeck. New York wurde jedoch von einem abklingenden Hurrikan mit Regenschauern überschüttet. Die Straßen waren überflutet, Bürgersteige und Gebäude trieften, und es wehte ein starker kalter Wind. Trotzdem war Roosevelt fest entschlossen, an seinen Plänen festzuhalten. Er begann in Brooklyn mit einem Halt bei Ebbets Field, dem Baseballstadion, wo er sich in seinen Beinschienen mühsam auf den Weg zu einem Rednerpult hinter der Second Base machte, seine Treue gegenüber den Dodgers bekräftigte und Senator Bob Wagner lobte. Während Roosevelt dort stand, goss es weiter in Strömen. Seine Beine steckten in den Schienen fest, die Brille war beschlagen und die Haare klebten ihm nass am Kopf. Im Anschluss erhielt der durchweichte und zitternde Präsident eine improvisierte Massage und warme Kleidung von einer Fahrbereitschaft der Küstenwache. Die Fahrt mit offenem Verdeck wurde, trotz Dr. McIntires wiederholter Einwände, dennoch fortgesetzt. Mehr als jeder andere wusste Roosevelt, was die Öffentlichkeit brauchte. Sie wollte einen Blick auf einen dynamischen Präsidenten werfen, der selbst dann noch lächelte, wenn ihm das Hemd im herabtrommelnden Regen am winkenden Arm klebte. Wasser tropfte von seinem Filzhut und lief in Bächen sein Gesicht hinab. Sein Anzug war durchweicht. Doch der Präsident, mit Adrenalin in den Adern, lächelte weiterhin freundlich und winkte, und die Menschen, die unter ihren Schirmen her­ vorsahen, quittierten das mit Jubel. Am Nachmittag war die Fahrt dann v­ orüber. Ein erschöpfter, aber begeisterter Roosevelt machte sich auf den Weg zu Eleanors Wohnung am Washington Square, wo Dr.  McIntire einen Schuss Bourbon empfahl, um den zitternden Präsidenten aufzuwärmen. Roosevelt genehmigte sich drei. Es war sein erster Besuch in der Wohnung seiner Frau in New York City. Sie führte ihn kurz herum, zeigte ihm, dass es keinerlei Stufen gab und dass zwei durch ein Bad verbundene Räume vom Rest der übrigen Wohnung abgeschlossen werden konnten, sollte er je bleiben wollen.30 Am Nachmittag legte sich Roosevelt kurz hin, bevor er vorsichtig in ein heißes Bad sank. Am selben Abend noch hielt er im Waldorf Astoria eine

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Rede vor 2000 Mitgliedern der Foreign Policy Association, einer Gesellschaft für Auswärtige Politik. Roosevelt nutzte die Rede, um erneut für einen Rat der Vereinten Nationen zu werben und diesen als eine Organisation zu schildern, die zentral für seine Vision einer Nachkriegswelt war. Nachdem er frei darüber gesprochen hatte, wie weit die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vorangeschritten seien, stellte er ausdrücklich fest, dass Friedenssicherung ein Grundanliegen von Politik sein sollte. „Der Friede kann, genau wie der Krieg, nur dann zum Erfolg führen, wenn auch der Wille und die Machtmittel vorhanden sind, um ihn zu erzwingen“, insistierte er.31 Der Rat müsse deshalb „die Macht haben, schnell und entschlossen zu handeln, um Frieden, wenn nötig mit Gewalt, zu bewahren.“ Roosevelt nutzte dann eines seiner liebsten rhetorischen Mittel, die schlichte Analogie: „Ein Polizist wäre kein sehr guter Polizist, wenn er, beim Anblick eines Verbrechers, der in ein Haus einbricht, erst zum Rathaus laufen müsste, um eine Stadtversammlung einzuberufen, die einen Haftbefehl ausstellt, bevor er den Verbrecher verhaften kann. Daher scheint es für meinen einfachen Verstand klar, dass, sollte diese Weltorganisation je Wirklichkeit werden, unsere amerikanischen Vertreter im Voraus vom Volk selbst – auf dem Wege des Rechtsstaats und über ihre Repräsentanten im Kongress – mit einer entsprechenden Handlungsvollmacht ausgestattet werden müssen.“ Roosevelt erhielt stehende Ovationen und überwältigende Beifallsrufe, und unten wartete auf einem speziellen Gleis schon sein Zug, um ihn nach Hyde Park zu bringen. Roosevelts Berater Hassett stellte am Tag nach diesem Bad in der bewundernden Menge fest: „Der Präsident ist heute Morgen gesund und munter. Keine Spur einer Erkältung, nicht mal ein Schniefen“,32 während Bürgermeister Fiorello LaGuardia das Bett hütete und auch viele der Geheimdienst­ agenten krank waren. „Nicht so der Boss. Er ist fuchsteufelswild, er ist mehr als wütend, und jetzt kann ihn nichts mehr aufhalten.“ Hassett fügte hinzu: „All meine eigenen Befürchtungen und Bedenken über die Gesundheit des Präsidenten … schwanden wie Tautropfen am Morgen.“ Roosevelt legte drei weitere längere Aufenthalte ein: noch eine Fahrt in einem offenen Wagen durch Philadelphia, eine Ansprache im Soldier Field Stadion in Chicago – bei der 100 000 Menschen drinnen und weitere 100 000 draußen zuhörten und dabei gegen einen kalten, vom See her wehenden Wind ankämpften – und eine im Fenway Park Stadion in Boston. Die Ansprache in Fenway Park sollte seine letzte große Rede werden, der entscheidende Abschluss seiner politischen Karriere. Vier Jahre zuvor hatte er den

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Müttern Amerikas versprochen, dass er ihre Söhne aus „ausländischen Kriegen“ heraushalten würde. Jetzt sprach er darüber, wie Amerikaner aller Volksgruppen und Religionen „in der ganzen Welt“ zusammen kämpften. Und er hob hervor, dass sich „jeder echte Vollblut-Amerikaner“ zu kämpfen entschieden hätte, „wenn [der eigene] Boden Ziel eines hinterhältigen Angriffs geworden wäre“. Die Menge applaudierte, und Roosevelt sonnte sich ein letztes Mal im Rampenlicht des Wahlkampfs. Am nächsten Tag würde er in Hyde Park seine Runden drehen und eine letzte Wahlkampfrede übers Radio an die Nation halten. Dann war nichts weiter zu tun, als dem üblichen Ritual zu folgen: am Esstisch zu sitzen und die Wahlergebnisse zu ordnen. Strichlisten wurden auf Tischen bereitgelegt und Cider und Doughnuts serviert. Abgehackt kamen die Berichte über das große Radio und die Nachrichtenticker. Nachbarn kamen um 23 Uhr vorbei, um den Präsidenten zu bejubeln, und Roosevelt, der in der Vorhalle saß, begrüßte sie, während Fotografen den Moment für die Nachwelt einfingen. Das voluminöse Cape des Präsidenten war über die Seite seines Stuhls drapiert, um die Räder zu bedecken. Seine Hosen hingen in tiefen Falten von seinen übereinander­ geschlagenen Beinen und ein Knöchel war deutlich zu sehen – unübersehbar geschwollen war dieser Knöchel, der aus dem Schuh hervorquoll, ein Zeichen für Blutstau und Herzschwäche. Unter dem Filzhut lagen seine Augen in dunklen Höhlen, die Haut darunter war bläulich, und auch sein erschöpftes Gesicht wirkte verhärmt und eingefallen. Doch die jubelnde Menge sah nicht dasselbe wie die Kamera. Und Roosevelt würde nicht zusammenbrechen, nicht in dieser Nacht. Er blieb bis in die frühen Morgenstunden wach, bis klar war, dass die Nation ihm auf seinem Weg folgte. Er würde Präsident der Vereinigten Staaten sein, für eine noch nie dagewesene vierte Amtszeit. Dewey gestand in einer Rede um 3.16 Uhr seine Niederlage ein, und Roosevelt machte sich gegen 4 Uhr bereit, ins Bett zu gehen. Hassett trat zu seinem Boss, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, und der Präsident gab seine letzte Erklärung für diesen Abend ab: „Ich denke immer noch, er ist ein Dreckskerl.“33 Als Hitler sein Hauptquartier in der Wolfsschanze zum letzten Mal verließ und einen Zug nach Berlin bestieg, warteten in Washington 30 000 Menschen während eines sintflutartigen Regengusses vor der Union Station, dem Hauptbahnhof, auf Roosevelts siegreiche Rückkehr aus Hyde Park. Genau wie beim entscheidenden Wahlkampftag in New York beharrte der Präsident darauf,

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mit offenem Verdeck zu fahren. Der aus dem Amt scheidende Henry Wallace und der neue Vizepräsident Harry Truman zwängten sich neben ihn in das Auto. Roosevelts junger Enkelsohn, Johnnie Boettiger fuhr vorn mit. Eine Musikkappelle spielte auf, Polizeimotorräder führten die Eskorte an. Auf dem Weg zum Weißen Haus wuchs die Menge auf 300 000 an, darunter Bundesangestellte und Schulkinder, die den Tag freibekommen hatten, um den Präsidenten bei seiner Rückkehr zu begrüßen. Die Stimmen der Wahlmänner waren entscheidend gewesen: 432 zu 99 für Roosevelt – obwohl der Unterschied in dieser knappsten Wiederwahl seit der von Woodrow Wilson 1916 im landesweiten Ergebnis nur 3,6 von 48 Millionen betrug. Und doch hatte der Präsident eine Fülle von neuen Verbündeten im Kongress, wo führende Konservative und Isolationisten aus dem Amt gewählt worden waren. Für den Präsidenten war es nicht nur ein Referendum für seine umfassende Vision einer von den Vereinten Nationen regierten Welt nach dem Krieg, sondern auch ein persönlicher Sieg. Doch so beschwingt die Stimmung an diesem Tag auch war, mochte Roosevelt auch noch so freimütig mit einem Journalisten lachen, der ihn fragte, ob er 1948 wieder zu kandidieren gedenke – ein unterschwelliges Unbehagen war nicht zu zerstreuen. Obwohl der Blutdruck des Präsidenten während seiner Wahlkampftour tatsächlich gesunken war und er von der Verehrung der Menge zehrte; obwohl bei einer Untersuchung zwei Wochen nach der Wahl freie Lungen, gute Herzgeräusche und ein damals als normal geltender Blutdruck festgestellt wurden,34 war Roosevelt müde. Sein Appetit ließ nach, und seine Haut war bleicher und viel grauer. Dabei waren weder der Krieg noch der Frieden gänzlich gewonnen. Die alliierten Armeen, die Frankreich und die Niederlande durchquerten, erlebten kein Äquivalent zum Blitzkrieg im Kampf gegen die Wehrmacht. Nachdem die deutsche 7. Armee in der Normandie zerstört worden war, nahm eine SS-Panzerdivision im Süden Rache, indem sie sämtliche Einwohner der Stadt Oradour-sur-Glâne massakrierte. Obwohl die Alliierten 37 Divisionen, mehr als 7500 Panzer, 6000 Bomber, 5000 Jagdflugzeuge und 2000 Transportflugzeuge hatten, fehlte ihnen bisher ein großer Hafen. Fast jedes bisschen an Munition, jeder Tropfen Treibstoff, jedes Ersatzteil und jede Dose mit Essen mussten in der Normandie abgeladen werden. Diese schwierige Nachschublinie und die ständigen Angriffswellen des deutschen Widerstands gegen die zur Grenze vorrückenden alliierten Kräfte machten die Hoffnung auf ein unmittelbar be-

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Die Befreiung von Frankreich und Belgien (Juni bis Sept. 1944) NIEDERLANDE

London

2

Arnheim 17.–25. Sept.

D E UTS C H E S

ein

Rh

4. Sept. R E IC H Ostende Antwerpen Dünkirchen 1. Brit. LuftlandeG R O S S B R I TA N N I E N 3. Sept. Div. Calais Köln Brüssel 9. US-Armee Boulogne Aachen Lüttich 1. Kanad. Armee B E L G I E N Malmédy Plymouth Ä R M E L K A N A L Abbeville Dieppe 1. US-Armee Amiens Cherbourg 12. Sept. 27. Juli Trier Luxemburg Le Havre 2. Brit. Armee Barneville Saarbrücken Rouen Liseux Landekopf am 12. Juni 1944 Caen Verdun Metz St-Lô 2 Paris Evreux Granville 25. Aug. Falaise Argentan Saint-Malo Avranches Strassburg Troyes 17. Aug. 30. Juli Chartres 1 Brest 18. Aug. Fougères Alençon 18. Sept. 3. US-Armee Epinal Colmar Rennes Auxerre Orléans Laval Le Mans Lorient 16. Aug. Angers Belfort Basel Sombernon Saint-Nazaire Besançon Nantes Bourges Bern Poligny Poitiers SCHWEIZ

Loire

La Rochelle

FRANKREICH Vichy

Limoges

GOLF VON B I S CAYA

Lyon

7. US-Armee

Turin Grenoble

Valence

Bordeaux

1. Franz. Armee

Gar onn

e

Toulouse San Sebastian

Genf

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Nîmes

I TA L I E N

Sisteron 2 Avignon Nizza

Montpellier Marseille Carcassonne

Cannes Toulon Saint-Tropez

Perpignan

Saragossa

S PA N I E N Madrid 1 2

Frontverlauf 15. August 1944 Frontverlauf 15. Dezember 1944

Barcelona

Operationen »Anvil« und »Dragoon« 15. August 1944

MITTELMEER US-Streitkräfte Britische, kanadische und französische Streitkräfte

vorstehendes Kriegsende zunichte. So brachten Befragungen junger deutscher Offiziere in Gefangenschaft hervor, dass diese immer noch wirklichkeitsfremd an einen möglichen Sieg der Deutschen glaubten. Doch tatsächlich behaupte-

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ten diese sich sogar in Italien noch immer und hielten dort zwei alliierte Armeen in Schach. Und der Führer hatte, wenn er nicht gerade fiktive Streitkräfte dirigierte, für diejenigen, die existierten, einen Plan:35 Warten bis schlechtes Wetter aufzog, den vorrückenden feindlichen Armeen eine Falle stellen und zusehen, wie die Allianz zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion zerbrach. Es blieben hilflose Gesten: Die verzweifelten deutschen Befehlshaber, deren Truppen sich jetzt auch aus dem sogenannten „Volkssturm“ zusammensetzten, aus mitleiderregenden Jungen der Hitlerjugend und alten Männern, verstärkten rasend schnell Städte, Brücken und Häfen und kreuzten mit Abwehrlinien den Weg der Alliierten, doch die Führung Deutschlands brach an der Spitze zusammen. Anfang September hatte Hitler mehrfach über Beschwerden in seinem rechten Auge gesprochen, ein Vermächtnis von Stauffenbergs Attentat in der Wolfsschanze. Während der folgenden Wochen hatte er einen schwankenden Blutdruck, Zittern in Händen und Beinen, geschwollene Knöchel, Schwindel und dann heftige Magenkrämpfe, die ihn ans Bett fesselten. Er entwickelte Gelbsucht, und Mitte Oktober wurde er von seiner Umwelt als leblos beschrieben, außerdem hatte er acht Kilo abgenommen. Sein Herz war geschwächt, und sein Zittern wies beinahe sicher auf Parkinson hin. Sogar seine Stimmbänder waren beeinträchtigt, und seine Stimmungsschwankungen, Phobien und hysterischen Reaktionen nahmen zu. Doch wie der Historiker Ian Kershaw feststellt, war Hitler „ganz gewiß nicht im klinischen Sinne geisteskrank.“36 Gab es etwas Krankhaftes? Das gab es – und nicht nur bei Hitler, es zeigte sich bei der gesamten Führungsriege des Landes, die sich vorgenommen hatte, ganz Europa zu erobern und zu säubern und dabei „von einer leichtgläubigen Bevölkerung unterstützt“ wurde. Doch jetzt rückten die alliierten Armeen unaufhaltsam auf die deutschen Grenzen zu. Und jenseits des vom Krieg heimgesuchten Deutschen Kernreichs stand ein Angriff auf Hitlers anderes, hochgeschätztes Reich endlich bevor, auf sein Reich des Todes, auf das gewaltige Netzwerk von Arbeits- und Vernichtungslagern. Auschwitz hatte sein volles Potenzial bis 1943 noch nicht entfaltet, als das Lager Belzec nahe der Stadt Lwiw (Lemberg) aufgelöst wurde und Aufstände in Sobibór und Treblinka das Morden durcheinanderbrachten. Danach war Majdanek geschlossen worden. Damit war Auschwitz-Birkenau das Zentrum der Vernichtung in der östlichen Region. Es gab vier neue Krematorien, durchnummeriert von II, III, IV und V. Die Nummern IV und V lagen hinter den hohen Bäumen

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des Lagers versteckt und wurden „Waldkrematorien“ genannt. Die Erbauer der Gaskammern und Krematorien suchten ständig nach Modifikationen, um diese noch effizienter zu machen, zum Beispiel indem sie Heizsysteme vorschlugen, die das Zyklon B anwärmen und so die Geschwindigkeit des Tötungsprozesses erhöhen würden. Auf Hochtouren konnten die Krematorien bis zu 4756 Leichen pro Tag beseitigen. Die Krematorien Nummer II und III waren die größten, jedes in der Lage 1440 Leichen auf einmal zu einer grauen Mischung aus Knochen und Asche zu reduzieren. Doch selbst diese Kapazität konnte mit dem Töten nicht Schritt halten. Wo die Planer mit zwei Leichen gerechnet hatten, sollten fünf auftauchen, angehoben mit Winden oder in Wannen herbeigetragen, wobei Arme und Beine in seltsamen Winkeln herausragten, mit geschorenen Haaren, die Zähne um der Goldfüllungen willen herausgerissen, die Finger abgeschnitten, um die Ringe zu entfernen. Bis die Leichen die Verbrennungsöfen erreichten, waren sie kaum noch als menschliche Überreste zu erkennen. Während sie dann in die Öfen geschoben wurden, versagten die Schornsteine aufgrund der starken Überhitzung wiederholt, sodass die Sonderkommandos gezwungen waren, die Überreste in großen offenen Gruben zu verbrennen. Dort dauerte es Stunden, bevor die Flammen sich ihren Weg durch die Leichen gebahnt hatten.37 Die Lebenserwartung in den Sonderkommandos war kurz, meistens nur etwa acht Monate. Einige der Mitglieder lebten kaum länger als einige Wochen. Wenn ihre Arbeitskraft verbraucht war, wurden sie erschossen oder vergast, und viele brachten sich vorher selbst um. Die SS verlangte robuste Männer für die Sonderkommandos, und etliche der rekrutierten Mitglieder waren zuvor bei der Französischen Résistance oder dem polnischen kommunistischen Untergrund gewesen. Schon im Sommer 1943 begannen die Mitglieder der Sonderkommandos, geheime Einheiten zu bilden. Fast ein Jahr später hatten sie einen Plan entwickelt, der gewagt, verwegen, aber sicherlich mutig war: Sie wollten Waffen erobern, die Krematorien zerstören und einen Ausbruch organisieren. Ihre Strategie notierten sie in einem kleinen Notizbuch und vergruben dieses in einem Krug in der Erde. Sie bereiteten sich vor – drei junge Frauen schmuggelten Sprengstoff in einem Essenstablett mit einem doppelten Boden nach Birkenau ein –, doch es war die SS, die schließlich den Augenblick der Konfrontation bestimmte. Als sie 200 Menschen des Sonderkommandos nach einem versuchten Ausbruch entdeckten, ermordete die SS sie mit Zyanid in einem Vorratsraum. Dann erhielten anderen im Sonderkommando den Befehl, 300 weitere ihrer Männer persönlich zur „Evakuierung“ auszuwählen. Der 7. Oktober 1944 wurde für

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diesen Transport in ein anderes Lager angekündigt, angeblich, um dort zu arbeiten. Doch jene Männer, die die Öfen befüllten, wussten es besser. Sie wussten, dies würde ein Tag des Todes werden. Und sie wussten, dass sie schnell handeln mussten. Nun hieß es: sie oder die SS. Am Nachmittag um 13.30 Uhr, während eine Gruppe von SS-Männern zum Krematorium IV marschierte, stürzte sich das Sonderkommando „Hurrah!“ schreiend mit Steinen, Äxten und Eisenstangen auf sie und warf einen SSMann in die Flammen. Während die anderen SS-Männer hinter einem Stacheldrahtzaun Schutz suchten, setzten die Aufständischen Hunderte von Strohmatratzen in der Nähe des Krematoriums  IV in Brand, die sofort in Flammen standen. Dann sprengten sie das Gebäude und die Öfen mit eingeschmuggelten Handgranaten. Verstärkung der Nationalsozialisten traf schnell auf Motorrädern ein, und die SS stellte Maschinengewehre auf, feuerte in die Menge und trieb die fliehenden Gefangenen ins Krematorium IV. In der Nähe des Krematoriums II zerschnitten etwa 600 Personen des Sonderkommandos den Stacheldraht und flohen in den Wald, durch die Fischzuchtbecken und die Bauernhöfe am Fluss Soła. Der Alarm schrillte, und die SS umringte das Gebiet. Trotzdem schafften es einige der Ausbrecher. Doch als die SS eine Gruppe versteckt in einem Schuppen fand, verriegelte sie diesen, legte Feuer, verbrannte jeden, der drinnen war, bei lebendigem Leib und erschoss jeden, der es irgendwie hinaus schaffte. Die jüdischen Frauen, die unter ihren Kleidern Sprengstoff aus dem Arbeitslager herausgeschmuggelt und dem Sonderkommando gebracht hatten, wurden gefoltert – doch sie verrieten niemanden – und schließlich gehängt. Bei ihrer Hinrichtung zeigten sie keine Furcht. Mindestens 425 Menschen des Sonderkommandos starben bei der Revolte. Doch die Aufständischen ließen ebenfalls Blut fließen, töteten drei SS-Männer und verletzten zwölf weitere. Und das Krematorium IV war jetzt verschwunden. Es war bemerkenswert, dass die Insassen selbst erreichten, was den Alliierten unmöglich schien – zumindest teilweise. Die drei verbliebenen Krematorien arbeiteten jedoch weiter und schickten Asche und Rauch in den Himmel. Zwei Tage nach dem Aufstand wurden 4000 jüdische Frauen vergast und verbrannt, 2000 aus einem ankommenden Transport zusammen mit weiteren 2000, die „speziell“ aus jenen selektiert wurden, die schon in Birkenau eingesperrt waren. Bis Monatsende, in nur 31 Tagen, waren mehr als 33 000 Juden vergast worden, eine Geschwindigkeit, die seit den ungarischen Transporten nicht mehr erreicht worden war.

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Es spielte keine Rolle, dass Hitler häufig bettlägerig war; es spielte keine Rolle, dass die 12.  US-Heeresgruppe durch die Wälder der Ardennen marschierte und auf den Rhein vorrückte, es spielte keine Rolle, dass die sowjetischen Truppen vor Warschau lagen, es spielte keine Rolle, dass Franklin D. Roosevelt im strömenden Regen in einem offenen Wagen durch die Straßen New Yorks fuhr. Aufgrund fehlender Aktionen der Alliierten blieb in Auschwitz alles unverändert, außer dass das Morden an Geschwindigkeit verlor. Und in Ungarn waren höchstens noch 200 000 Juden am Leben. Als würde man die Teile eines Puzzles verbinden, wurden im Herbst 1944 der Aufbau und die Funktionsweise von Auschwitz sichtbar wie nie zuvor – nicht nur für Washington, London, den Vatikan und New York, sondern für die ganze Welt. Schon im Juli 1942 hatte es die Berichte von Eduard Schulte und der polnischen Exilregierung gegeben, dann das Riegner-Telegramm, dann die BBC-Berichte im Herbst 1943, dann Jan Karskis Treffen mit Roosevelt, dann den Vrba-Wetzler-Bericht Ende Frühling und Anfang Sommer 1944, der von zwei späteren Flüchtlingen, Czeslaw Mordowicz und Arnost Rosin, bestätigt wurde, dann die Artikel, die Radioberichte und die Luftaufnahmen von Aufklärungsflügen der Alliierten. Jene Fotografien, die Ende Juni aufgenommen wurden, während McCloy sich weigerte, Auschwitz zu bombardieren, waren so detailliert, dass darauf die dichtgedrängten Menschen auf der Rampe und auf ihrem Weg in die Gaskammern und Krematorien zu erkennen waren. Ende Juli war die Beweislage sogar noch erdrückender: Bis dahin hatte die Rote Armee Majdanek in der Nähe von Lublin in Polen befreit, den Ausgangsort vieler Transporte nach Auschwitz. Dort fanden die Soldaten der Roten Armee Gaskammern, die trügerisch mit den harmlosen Schildern „Bad“ und „Desinfektion“ gekennzeichnet waren. Sie fanden die Krematorien und die hastig bedeckten Massengräber. Sie fanden Leichen entlang der Straße, die zum Lager hin und von dort wegführte. „Das waren nicht Leichen von Soldaten, die in der Hitze der Schlacht gefallen waren“, erinnerte sich ein polnischer Jude, der in der Sowjetarmee gekämpft hatte. „Das waren die Leichen von Gefangenen, von Juden in gestreifter Kleidung, niedergeschossen, als sie aus dem Lager in den letzten Stunden, bevor es fiel, geflohen waren. Sie waren dünn und haarlos, und ihre Kleidung nicht viel mehr als Lumpen. Einige waren mit weit offenen Augen gestorben. Andere waren noch weiter gekrochen, nachdem auf sie geschossen worden war.“

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Innerhalb des Lagers, im Inneren der niedrigen einstöckigen Gebäude auf der anderen Seite der elektrischen Stacheldrahtzäune, fand die Rote Armee Stapel von Schuhen, mehr als man zählen konnte, „Schuhe aufgestapelt wie Kohle“ oder „hoch aufgehäuft, wie Getreide“. Einige Schuhe hatten abgetragene Sohlen und keine Schnürsenkel, andere waren von dem hohen Stapel heruntergerollt und wieder auf dem Boden gelandet. In einem Raum waren nur kleine Schuhe, klein genug, um leicht in die Hand eines Menschen zu passen. Das waren Schuhe von Babys und Kleinkindern, viele davon offensichtlich die ersten Schuhe eines Kindes. Daneben gab es Berge von menschlichen Zähnen, Berge von Haaren und Berge von Brillen mit zerbrochenen Gläsern und verbogenen oder zerbrochenen Gestellen. Überall türmten sich Gegenstände. Der jüdische Soldat erinnerte sich: „Wenn ich die Augen schloss, sah ich diese Berge von kleinen Schuhen“. Und er fügte hinzu: „Sie nahmen den Müttern die Kinder weg und töteten sie. Und behielten die Schuhe. Selbst wenn ich schlief, sah ich die Schuhe. Es war unerbittlich.“38 Die Geheimnisse von Majdanek kamen nun nach und nach ans Licht: Am 3. November 1943 hatten die Deutschen dort etwas abgehalten, was sie euphemistisch ein „Erntedankfest“ nannten: An einem einzigen Tag waren in den Wäldern 18  000 Menschen mit Maschinenpistolen niedergemetzelt worden, wobei laute Musik erklang, um das Morden zu übertönen. Vrba war damals dabei gewesen. Doch trotz allen Horrors war Majdanek nicht Auschwitz.39 Unter den Lagern war Auschwitz, wo die Toten dem Wind und der Stille überlassen blieben, einzigartig. Bis September war es Mitgliedern des Sonderkommandos dort gelungen, Fotos zu machen: Aus Türöffnungen heraus hatten sie Mitgefangene des Sonderkommandos aufgenommen, die im Freien neben brennenden Leichen stehen. Ein anderes Foto zeigt Frauen, die sich im Freien ausziehen mussten, bevor sie in die Gaskammern getrieben wurden. Und diese Aufnahmen wurden zur polnischen Widerstandsbewegung in Krakau geschmuggelt. Beweise gab es also überall. Doch Beweise allein machen noch keine Politik. Und in politischer Hinsicht war noch alles offen. Am 10. Oktober hatten die Vereinigten Staaten und Großbritannien über Radio eine gemeinsame Warnung an die Deutschen ausgestrahlt: Falls Massenhinrichtungen in den Konzentrationslagern von Oświęcim und Brzezinka (Auschwitz und Birkenau) durchgeführt würden, würden alle daran Beteiligten, „von den Höchsten bis zu den Niedrigsten“, zur Verantwortung gezogen und keine

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Mühe würde gescheut werden, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Der deutsche Telegrafendienst dementierte sofort, diese Berichte seien von „Anfang bis Ende falsch“. Die Briten hielten das für „eine zufriedenstellende Reaktion“ und glaubten, ihre Erklärung habe etwas bewirkt. Doch tatsächlich hatte sie wenig dazu beigetragen, dem Abschlachten Einhalt zu gebieten. Erst mit dem Vorrücken der Sowjetarmee nach Westen erloschen die Feuer in Auschwitz. Seit dem Sommer 1944 hatten Züge und Lastwagen Gefangene, Berge von persönlichen Gegenständen, Baumaterial und Geräten von Polen nach Deutschland und Österreich gebracht. Doch selbst als die Deutschen verzweifelt versuchten, ihre Verbrechen zu vertuschen, nahm das Morden kein Ende, sondern wurde lediglich, wenn auch in kleinerem Maßstab, in der Heimat fortgesetzt, in Buchenwald, Flossenburg, Ravensbrück, Dachau, Mauthausen, Groß-Rosen, Bergen-Belsen, Natzweiler, Sachsenhausen und Neuengamme. Am 26. November befahl ein in Panik geratener Himmler, der vom raschen Vorrücken der alliierten Armeen wusste, die Krematorien in Auschwitz zu zerstören. Unterdessen sollte ein Motor des Krematoriums II in einer Kiste verpackt nach Mauthausen transportiert werden, ebenso die Lüftungsanlage. Die Gasinfrastruktur war für Groß-Rosen vorgesehen. Bis zum 29. November zeigen Luftaufklärungsfotos – von amerikanischen Flugzeugen aus großer Höhe aufgenommen – wie Krematorium II auseinandergebaut wurde, und sie zeigen auch, dass die Bahngleise nach Birkenau leer blieben. Kein Zug wartete hier mehr darauf, seine menschliche Fracht zu entladen. Dann begann die systematische Beseitigung der Beweismittel. Während die Gefangenen weiter ihre Zwangsarbeit verrichteten, wurden die Gruben, in denen Leichen verbrannt worden waren, aufgefüllt und eingeebnet. Am 5. Dezember wurden bei Schneefall 50 gefangene Jüdinnen selektiert. Ihr Auftrag lautete, alle Leichen aus den Massengräbern wieder auszugraben, die im Umfeld des Krematoriums IV lagen, das während der Revolte des Sonderkommandos zerstört worden war. Sobald die Leichen exhumiert waren, wurden sie in offenen Gruben verbrannt, trotz der eisigen Temperaturen und der alles verhüllenden Schnee­ decke. Als Nächstes mussten die Mulden und die Hohlräume in der Erde, in ­denen sich menschliche Überreste und zerbrochene Knochen befanden, ausgehoben, dann wieder bedeckt und mit Neuanpflanzungen getarnt werden. Krematorium I wurde, nachdem die Öfen auseinandergebaut worden waren, in einen Luftschutzbunker umgewandelt. Der Kamin und die Öffnungen in der Decke, durch die das Gas eingelassen worden war, verschwanden einfach. Der Gang zwischen den Gaskammern und den Öfen wurde versiegelt und verschlossen. Wie es Benjamin Akzin vorausgesehen hatte, ging die De-

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Kapitel 14

montage weiter, bis am 21. Dezember viele der Wachtürme und elektrischen Zäune um Birkenau herum abgebaut worden waren, ebenso die Zäune um die Krematorien. Sogar das Dach eines Entkleidungsraumes war entfernt worden. Doch durch eine grausame Laune des Schicksals übernahmen nun die kalten und erbärmlichen Bedingungen, was die Gaskammern nicht mehr erledigten: Mehr als 2000 Frauen starben während des Dezembers 1944 in Auschwitz. Diese systematische Demontage wurde genau zu der Zeit in Gang gesetzt, als die Kriegsmaschinerie der Deutschen mit der Ardennenoffensive einen gewagten Angriff auf die alliierten Streitkräfte im Westen unternahm.40 Wieder zeigte sich ein Puzzle, bei dem die einzelnen Teile nur darauf warteten, miteinander in Verbindung gebracht zu werden. Als Flüchtlinge den alliierten Streitkräften berichteten, dass die Deutschen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zusammenzogen, ging offensichtlich niemand diesen Berichten nach. Auch als im Atlantik und in der Ostsee stationierte deutsche U-Boote eine große Menge von Wetterberichten schickten, wurden diese abgehörten Meldungen ignoriert, genauso wie Funkmeldungen der Deutschen, die Luftaufnahmen der Maas-Region anforderten. Die vorherrschende Meinung im Hauptquartier der Alliierten war, dass die Deutschen die Ardennen als Rückzugsort nutzten, dass sie sich in Richtung Ostfront zurückzögen und dass sie nicht über genug Treibstoff verfügten, um eine Offensive in die Wege zu leiten, geschweige denn einen Angriff im Winter zu wagen. Großbritanniens General Montgomery plante über Weihnachten einen Besuch in England und hatte auf eine nächtliche Lagebesprechungen verzichtet, bis der Krieg wieder spannender würde.41 Der Angriff an der Westfront war Hitlers letzter verzweifelter Versuch. Er begann um 6 Uhr morgens am 16. Dezember mit einem stundenlangen Artilleriefeuer auf den am wenigsten verteidigten Abschnitt der alliierten Linien, der von einer der unerfahrensten Truppen des Kriegs gehalten wurde. Als die Waffen-SS und die Elite-Panzerarmee aus dem eisigen Nebel auftauchten, war „das Ergebnis“, laut einem Militärhistoriker, „völlige … Panik und Schock“. Die Deutschen hatten den dichten Wald und den undurchdringlichen Nebel als Deckung genutzt, und der Angriff erfolgte völlig überraschend. Innerhalb von Tagen war die wichtige Kreuzung in der Stadt Bastogne gefährdet. Als schriebe man das Jahr 1939, verlangten die Deutschen die Kapitulation der 101. USLuftlandedivision.

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Der Wind und die Stille

Die Schlacht in den Ardennen (16. Dez. 1944 bis 16. Jan. 1945) Tongern

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Frontverlauf 16. Januar

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FRANKREICH US-Streitkräfte Britische Streitkräfte Deutsche Streitkräfte

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General Anthony McAuliffe antwortete kurz und bündig: „Verrückt!“ Nichts dergleichen werde er tun. Inzwischen reagierte Eisenhower: Schnell teilte er seine Kräfte auf und übergab das Kommando über die Divisionen nördlich des deutschen Durchbruchs General Montgomery. Alle im Süden davon sollten unter dem Kommando eines Amerikaners stehen, General Omar Bradley.

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Kapitel 14

Beide Seiten hatten mit dem Wetter zu kämpfen, besonders jedoch die Amerikaner in ihrer ungeeigneten Winterausrüstung. Straßen verwandelten sich in Schlamm, und der Schnee fiel so dicht, dass die Panzerfahrer ihren Weg in den frostig weißen Wolken fast völlig blind fortsetzten. Doch die Stadt Bastogne, die per Luft Nachschub erhielt, fiel nicht an die Deutschen. Eisenhower begann einen Gegenangriff aus dem Süden, setzte zu einem Zangenangriff gegen die deutschen Streitkräfte an, und am Weihnachtsabend bot sich den Alliierten ein herrlicher Anblick: Die Wolkendecke brach auf, und 10 000 Flugzeuge ließen die Hölle auf die Deutschen herabregnen. Das war die größte Schlacht, in der die amerikanische Armee je gekämpft hatte, und bis zum 3. Januar waren die Deutschen zurückgeschlagen. Hitlers Schachzug war gescheitert: Die Deutschen konnten sich zurückziehen, doch mehr als 30 000 Mann waren tot, weitere 40 000 verwundet und mehr als 600 ihrer gepanzerten Fahrzeuge waren zerstört oder wegen Treibstoffmangels zurückgeblieben. Auf Churchills Ersuchen hin verstärkte Stalin den Angriff seiner eigenen Truppen entlang der Weichsel. Noch hatten die Alliierten im Westen den Rhein nicht überquert oder waren vom Osten her nach Deutschland eingedrungen, doch das stand unweigerlich bevor. Und mit jedem Kilometer, den die Rote Armee eroberte, kam sie näher an Auschwitz heran. Mitte Januar, als das Echo des sowjetischen Artilleriefeuers schon aus der Ferne zu hören war, blieb nichts weiter übrig, als die Vernichtungslager zu evakuieren. Nur jene, die zu schwach oder krank waren, um sich zu bewegen, und die zum Arbeiten zu erschöpft waren, wurden zurückgelassen: etwa 2000 in Auschwitz und mehr als 6000 in Birkenau. Der Rest – etwa 58 000 Männer, Frauen und Kinder – machte sich zu Fuß in riesigen Kolonnen auf den Weg, mit nicht weniger als 2500 Gefangenen in einer Gruppe. Die Häftlingskolonnen waren so lang, dass die kriegsmüde SS den Überblick verlor. Jeder, der zusammenbrach, auf den Boden fiel und nicht sofort wieder auf die Füße kam, wurde einfach erschossen. Diese Gefangenen marschierten tagelang, nicht nur die aus den Hauptlagern, sondern auch jene aus den kleineren Arbeitslagern in diesem Teil Polens. Als die Kolonnen in die größeren Städte strömten, wurden sie auf Züge oder offene Lastwagen gebracht und in den Verbund der verbliebenen deutschen Lager geschickt. Elie Wiesel war einer der Marschierenden, und er hatte Glück: Er sollte einen Zug besteigen, wo zumindest ein Dach die Kälte abhalten würde, wie er

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glaubte. Wiesel erinnerte sich daran, wie die Gefangenen auf dem Bahnsteig versuchten, ihren Durst zu stillen, indem sie Schnee vom Rücken „ihrer Nachbarn“ aßen.42 Sie standen stundenlang in der Kälte, starrten auf die Gleise und warteten darauf, dass der Zug auftauchte: „[E]in endlos langer Zug offener Viehwagen. Die SS schob uns hinein, 100 pro Waggon: wir waren so dünn!“ Als der Morgen dämmerte, waren die Körper darin „zusammengekauert, einer über dem anderen, wie ein Friedhof mit Schnee bedeckt.“ Mittlerweile gab es „kaum einen Unterschied“ zwischen den Lebenden und den Toten. Etwa 15 000 starben unterwegs. Leichen, die aus den Wagen geworfen worden waren, säumten die Eisenbahngleise. In einem Wagen sah Wiesel, wie ein Sohn vor Hunger und Erschöpfung den Verstand verlor, auf seinen Vater einschlug und ihm sein Stück Brot entriss. Als er sich dann das Brot in den Mund steckte, wurde er selbst angefallen und umgebracht. Zwei tote Körper, Seite an Seite. In den neuen Lagern traf der Tod noch weitere Tausende. Allein im März 1945 starben 18 000 Menschen an Hunger, Krankheit und unaussprechlichem Schmutz. Und in Auschwitz ging die SS selbst bei den Schwächsten, die zurückgelassen worden waren, kein Risiko ein. Zwischen dem 20. und 23. Januar erschossen SS-Männer Hunderte in den Krankenstationen. Sie setzten das Effektenlager „Kanada“ in Brand, und das Feuer schwelte sechs Tage lang. Nur sechs der 30 Lagerbarracken blieben stehen. Dann führten sie den Auftrag aus, die Krematorien und die Gaskammern in die Luft zu jagen, und legten so ihre gepriesenen Tötungsmaschinen in Trümmer. Krematorium V ließen sie lange genug stehen, um die letzten Leichen, Gefangene mit Genickschuss, zu verbrennen, und dann sprengten sie auch dieses. In der Zwischenzeit rückte die Rote Armee mit rasender Geschwindigkeit nach Westen vor. Eineinhalb Tage später, genau um 15 Uhr an einem bewölkten 27. Januar entdeckten die Sowjettruppen Auschwitz. Die Welt hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Nur 7000 Menschen hatten überlebt, und die anderen Zahlen sprachen Bände: 370  000 Herrenanzüge, 837 000 Damenmäntel und Kleider, 44 000 Paar Schuhe, 14 000 Teppiche und sieben Tonnen Menschenhaar in ordentlich verschnürten Säcken und Bündeln, verpackt und bereit für den Transport. Und zahllose Koffer, welche die Zerstörung von „Kanada“ überdauert hatten, türmten sich – die Koffer all jener Menschen, die in einem Transport nach dem anderen angekommen waren. In

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Kapitel 14

zweieinhalb Jahren hatte das System Auschwitz mindestens eine Million Juden getötet, aus fast jedem Land Europas, das von den Deutschen besetzt oder mit Deutschland verbündet war. Zusätzlich waren etwa 200 000 sowjetische Kriegsgefangene, polnische politische Gefangene, Roma und Sinti und andere Nichtjuden aus ganz Europa nach Auschwitz deportiert worden, von denen etwa 125 000 ebenfalls in den Gaskammern und im Lager starben. Doch während die sowjetischen Soldaten Majdanek zur Kontrolle und Überprüfung geöffnet hatten, blieb Auschwitz größtenteils verschlossen. Es gab Berichte von Medien wie der BBC, und Gerüchte kursierten, doch sie blieben meistens bruchstückhaft. Die sowjetische Presse selbst berichtete wenig. Erst am 27. April reagierte die Sowjetunion auf Drängen der Briten mit einem knappen Telegramm: „Untersuchungen aus der Oświęcim-Gruppe der Konzentrationslager haben ergeben, dass mehr als 4 000 000 Bürger aus verschiedenen europäischen Ländern von den Deutschen vernichtet wurden“. Weiter hieß es: „Unter den Überlebenden wurden keine Briten vorgefunden“. Die Briten fanden das Telegramm „seltsam“ und kamen zu dem Ergebnis, die Zahl sei sehr wahrscheinlich maßlos übertrieben. Letzten Endes lag sie wirklich zu hoch: Rudolf Höß selbst nannte später die Zahl drei Millionen, doch die tatsächlichen Zahlen waren schlimm genug: 1,3 Millionen waren deportiert und 1,1 Millionen waren ermordet worden, wobei ein Großteil im Jahr 1944 starb – in jenem Jahr also, in dem die Alliierten bereits ohne jeden Zweifel wussten, dass sie den Krieg gewinnen würden. Am Samstag, dem 20. Januar 1945, eine Woche bevor die Rote Armee Auschwitz erreichte, wurde Franklin D. Roosevelt erneut als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Doch nun würde sich erst herausstellen, was schneller voranschritt: sein körperlicher Niedergang oder die alliierten Streitkräfte auf ihrem Weg gen Osten.

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Teil Vier

1945

Insassen schwenken bei der Befreiung des Konzentrationslagers Allach durch die 7. US-Armee eine selbst gemachte Fahne.

Kapitel 15

Abrechnung „Dieses neue Jahr, das Jahr 1945, kann das Jahr der größten Erfolge in der Geschichte der Menschheit werden“, verkündete Franklin D. Roosevelt im Januar dem amerikanischen Volk bei einem seiner Kamingespräche. Er stellte den bevorstehenden Zusammenbruch des nationalsozialistischen „Terrorregimes“ und das Ende der „heimtückischen Macht“ des japanischen Kaiserreichs in Aussicht. Doch sein sehnlichster Wunsch für das Jahr 1945 war, „einen entscheidenden Auftakt der Organisationen für den Weltfrieden“ zu erleben. Dieses Ziel verlor Roosevelt nie aus den Augen. Davon träumte er seit Beginn des Krieges, ja seit seinem ersten Einsatz für die Regierung in den Tagen von Woodrow Wilson, und jetzt schien ein solcher Rat der Vereinten Nationen endlich zum Greifen nah. Ihm aber fiel das Zugreifen immer schwerer. Am Tag vor seiner Amtseinführung versammelte Roosevelt sein Kabinett. Arbeitsminister Frances Perkins, der mit Roosevelt seit Beginn seiner Regierungszeit zusammengearbeitet hatte, äußerte sich später schockiert – nicht über das Gespräch, aber über den Anblick des Präsidenten. Zwar brachte Roosevelt immer noch überschwängliche Begeisterung auf, doch seine Haut war unsagbar grau geworden, seine einst lebhaften Augen waren trüb, und seine Kleidung hing lose an ihm herab. Am Ende des Treffens stützte er seinen Kopf in die Hand, als sei das Gewicht für Hals und Rückgrat zu schwer geworden. Seine Lippen waren blau angelaufen, und seine Hände zitterten. Um seine Kräfte zu schonen, verzichtete er bei der Amtseinführung sogar auf den zeremoniellen Abstecher zum Kapitol. Als das für die Amtseinführung zuständige Inaugural Committee ein Budget von 25 000 Dollar für die Feier bewilligte, entgegnete Roosevelt, er mache es für weniger als 2000, ohne Parade und lediglich mit einer einfachen Zeremonie im Freien, auf dem South Portico des Weißen Hauses. In eisiger Kälte kamen daher weniger als 5000 Personen von den 8000 geladenen, um auf dem schneeverkrusteten Südrasen der Amtseinführung beizuwohnen und einer Kapelle der Marine zu lauschen, die in strahlendroten Uniformen aufspielte. Sein Sohn James und ein Geheimdienstmitarbeiter boten Roosevelt einen Um-

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hang an, den der barhäuptige Präsident ablehnte, und halfen ihm dann von seinem Sitz auf, damit er das Rednerpult erreichen konnte. Völlig durchgefroren und obwohl an diesem Morgen „ein stechender Schmerz“ durch seinen Oberkörper gefahren war, legte er dort den Amtseid ab und hielt seine Rede. Man dürfe die großartige Tatsache nicht aus den Augen verlieren, sagte er, dass sich die Zivilisation immer vorwärts bewege. – Und noch während Roosevelt so sprach, wurden überall im Westen der USA Amerikaner japanischer Herkunft aus den Internierungslagern entlassen. Viele von ihnen standen vor dem Nichts, viele kamen nach Hause, nur um festzustellen, dass Fremde in ihre Häuser gezogen oder mit ihrem Besitz verschwunden waren.1 Roosevelt hielt auf seinen Beinschienen das Gleichgewicht, blickte vom South Portico hinaus und fügte mit ruhiger Stimme hinzu: „Wir haben gelernt, dass wir nicht allein in Frieden leben können; dass unser Wohlergehen abhängt vom Wohlergehen anderer, weit entfernter Nationen.“ – Und während Roosevelt so sprach, bereiteten sich die Nationalsozialisten auf die endgültige Evakuierung von Auschwitz vor, ließen Gefangene nach Westen marschieren, zu einer Reise in unbeheizten Zügen und auf offenen Lastwagen, ohne Decken, mit nichts, um sich zu wärmen, als der kläglichen Ansammlung ausgemergelter Körper neben sich. Die letzten SS-Männer waren just dabei, jene am schlimmsten erkrankten Gefangenen, die im Lager zurückgeblieben waren, zu erschießen. Roosevelt fuhr fort: „Wir haben gelernt, dass wir wie Menschen leben müssen und nicht wie Strauße oder wie Hunde am Futtertrog.“ – Unterdessen hatten die alliierten Weststreitkräfte mit einer Zangenbewegung in den Wäldern der Ardennen angriffen und sich vier Tage zuvor wieder zusammengeschlossen. Doch sie stießen immer noch auf Gruppen widerständiger Deutscher, und so ging – während Roosevelt sprach – das Schießen und Sterben in der Eiseskälte weiter, obwohl Hitler seinen Panzern hektisch den Rückzug befahl. In der Zwischenzeit arbeiteten in Los Alamos, New Mexico, Wissenschaftler fieberhaft daran, bis zum 1. August eine Atombombe mit der Sprengkraft von 10 000 Tonnen TNT fertigzustellen, die, wie ein Wissenschaftler es ausdrückte, „heller als tausend Sonnen“ strahlen würde – eine von Roosevelts folgenreichsten Entscheidungen. Und über Tokio leuchtete der Himmel Nacht für Nacht von den Flammen amerikanischer Brandbomben. „Wir haben es gelernt“, sprach der Präsident zur Menge, „Bürger der Welt zu sein, Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft.  Wir haben die einfache Wahrheit begriffen, wie Emerson es ausdrückte …“ – jetzt sprach Roosevelt langsamer, um seiner Paraphrase von Lincolns Ansprache zur zweiten Amts-

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einführung Nachdruck zu verleihen – „… ‚Der einzige Weg einen Freund zu haben, ist, einer zu sein‘“. Zwei Wochen später sollte Roosevelt die Grenzen seiner eigenen Freundschaften in Kriegszeiten auf die Probe stellen, beim Treffen mit Churchill und Stalin in Jalta – ihr letztes Treffen, wie sich zeigen sollte. Winston Churchill war sich sicher: Hätten die Alliierten noch zehn Jahre lang gesucht, sie hätten für dieses Treffen keinen übleren Ort als das vom Krieg gezeichnete Jalta gefunden.2 Zwischen zerklüfteten Bergen und dem Schwarzen Meer gelegen, war es dort meist wärmer als in der übrigen Region, und es war einst absichtlich als unberührte Wildnis bewahrt worden. Dorthin waren die russischen Zaren und Adligen gekommen, um sich zu erholen, die strahlende Sonne und die milde Meeresbrise zu genießen, die unberührte Küstenlinie zu bewundern und das smaragdgrüne Wasser im kleinen Hafen des kaiserlichen Anwesens, die Zypressenhaine, Plantagen und Weinberge, die blütenbedeckten Obstbäume, die Fliederbüsche und Glyzinien. Dort hatte Nikolaus II. den kunstvollen Liwadija-Palast errichtet, einen prächtigen Bau aus weißem Kalkstein, am Rand einer Klippe, davor wunderbare Rosengärten und der Blick auf das Meer, dahinter schneebedeckte Berge. Nach der Russischen Revolution war das kaiserliche Anwesen in ein Tuberkulosesanatorium umgewandelt worden. Und als die rachsüchtigen Deutschen die Ukraine überrannten, legten sie ganz besonderen Wert darauf, Jalta und seine Umgebung zu zerstören. Bei der Plünderung des Palasts waren sie ebenso gründlich vorgegangen, wie beim Horten gestohlenen Eigentums in den Vernichtungslagern. In Liwadija entfernten sie sorgfältig nicht nur Möbel und Kunst, sondern auch Armaturen, Türgriffe und Schlösser. Dass sie nicht auch noch die Dielenbretter herausrissen, war erstaunlich. In der nahegelegenen großen Stadt Sewastopol war die Zerstörung sogar noch vollständiger, jedes einzelne Gebäude schien in Trümmern zu liegen. Vom Sportklub der Stadt war wenig mehr geblieben als ein Platz voll umgestürzter Bäume und Granattrichter, von einer Kirche stand nur noch die verunstaltete Hülle. Nach dem Rückzug der Deutschen hatten Ratten, Flöhe und Läuse die Herrschaft über Paläste und Gärten auf ganz Jalta übernommen, und die Insel war für ein Gipfeltreffen der Alliierten alles andere als bereit. Daher hatten sowjetische Arbeitskommandos beharrlich den Schutt beiseite geräumt und Möbel und Dekorationen aus Anwesen bei Moskau beschlagnahmt, um zu ersetzen,

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was die Deutschen mitgenommen oder zerstört hatten. Personal aus drei Moskauer Hotels war mit dem Zug herangekarrt worden, doch die Zustände waren so fürchterlich, dass Stalin vor Ankunft des Präsidenten den ungewöhnlichen Schritt unternahm, medizinisches Personal der amerikanischen Marine anzufordern, um den Palast zu reinigen. Churchill, der gerade ein starkes Fieber überstanden hatte, traf sich auf Malta kurz mit Roosevelt, bevor er sich per Flugzeug auf den Weg auf die Krim machte. Seine Tochter erinnerte sich daran, wie schockiert sie über die „schreckliche Veränderung“ des Präsidenten seit ihrer letzten Begegnung in Teheran vor nur 14 Monaten war.3 Trotz Charme und Esprit war es „ziemlich offensichtlich, dass [Roosevelt] ein sehr kranker Mann war“. Lord Moran, Churchills Arzt, glaubte, der Präsident leide unter fortgeschrittener Arteriosklerose, und gab ihm nur noch sechs Monate zu leben. Auch entstand bei diesem Treffen erstmals der Eindruck, dass Roosevelt sehr stark abgeschirmt und vermehrt von seinen Beratern aus dem Außenministerium umgeben und geschützt wurde. Doch könnte das genauso gut auf Roosevelts Taktieren mit Stalin zurückzuführen sein wie auf größere Fürsorge wegen seiner angegriffenen Gesundheit.4 Wie beim vorherigen Treffen der Großen Drei, hatte Stalin den Ort bestimmt, und nun, da seine Armeen schnell nach Westen vordrangen, hatte er mehr denn je das Sagen. Wieder einmal versuchte Roosevelt, auf Stalin zuzugehen, indem er Churchill ausschloss, ähnlich wie am letzten Tag in Teheran. So traf sich Roosevelt, bevor die eigentlichen Sitzungen anfingen, heimlich mit Stalin und Molotow. Der Präsident brachte sein Entsetzen über die Zerstörung der Krim zum Ausdruck und fügte hinzu, seine Gefühle gegenüber den Deutschen seien noch mörderischer als zuvor, und er hoffe, Stalin werde den Trinkspruch auf die „Exekution von 50 000 deutschen Armeeoffizieren“ wiederholen – eben jenen Spruch, der Churchill in Teheran so sehr empört hatte. Stalin erwiderte ausweichend, inzwischen sei wohl jeder mehr auf Rache aus als im Jahr zuvor. Roosevelt brachte das Gespräch auf Frankreich und kündigte verschwörerisch an, er habe Stalin etwas „Indiskretes“ mitzuteilen, über das er nicht im Beisein von Churchill sprechen wolle. Seine pikante Information war, dass die Briten seit zwei Jahren versuchten, Frankreich künstlich zu einer starken Macht aufzubauen, was den Russen, die in den Franzosen Kollaborateure sahen, ein Gräuel war. Die Briten, fügte Roosevelt unaufrichtig hinzu, seien ein seltsames Volk, das alles gleichzeitig wolle. Stalin stimmte bereitwillig in die Schmähungen ein, und Roosevelt verließ das kleine Treffen im Glauben, die alte Teheraner Kameradschaft sei wieder hergestellt.

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Die Jalta-Konferenz dauerte acht Tage und war eine ausufernde Angelegenheit. Minister und Militärführer trafen sich am Morgen, und die Großen Drei kamen um 16 Uhr zusammen, doch fanden auch Diskussionen beim Mittagund beim Abendessen und bei vertraulichen Zweiergesprächen statt. Viele Themen wurden erörtert, doch wenige abschließend und offiziell geklärt. Stattdessen wurden die Punkte der Tagesordnung nach einiger Diskussion an die teilnehmenden Außenminister und Militärführer delegiert oder einfach kommentarlos fallengelassen, nur um zum nächsten überzugehen. Roosevelt glaubte weiterhin daran, Lösungen aus dem Stehgreif zu entwickeln, doch waren in Jalta bedeutend mehr Mitarbeiter anwesend als in Teheran, weshalb es weniger Gelegenheiten für spontane Entscheidungsfindung gab. Ein Berater des Außenministeriums und Charles Bohlen, der Dolmetscher des Präsidenten, beobachteten, dass sich der Präsident nicht ausreichend auf das Treffen vorbereitet hatte. Zwei Themen standen nicht auf der offiziellen Tagesordnung von Jalta: Das erste war, verständlicherweise, Roosevelts Gesundheit. Außer bei einem letzten Toast, den Stalin am Abend auf das Wohlergehen des Präsidenten ausbrachte, in dem er Roosevelt für die Lend-Lease-Politik würdigte und für die Mobilisierung der Welt gegen Hitler, war dieses Thema tabu. Dennoch erkannte Stalin zweifellos, dass es Roosevelt alles andere als gut ging. Außerdem zeichneten wahrscheinlich versteckte Aufnahmegeräte des sowjetischen Geheimdienstes Dr. Bruenns wiederholte Blutdruckmessungen und Elektrokardiogramme auf und entdeckten womöglich sogar, dass beim Gespräch über das Nachkriegspolen der Puls des Präsidenten unregelmäßig schlug.5 Zwar erholte er sich davon wieder, doch es gab andere besorgniserregende Momente, darunter eine weitschweifige, sehr unzusammenhängende Rede, die Roosevelt zu Beginn des zweiten Treffens hielt. Dabei sprach er über jenes Deutschland, das er 1886 als Junge kennengelernt hatte, ein Deutschland blühender, halbautonomer Staaten, das keine Ähnlichkeit mit Hitlers Schöpfung hatte. Zentralisierung in Berlin sei die Ursache der gegenwärtigen Missstände in der Welt, sagte er abschließend. Von sowjetischer und britischer Seite kam darauf keine Reaktion. Besonders vielsagend war vielleicht, dass Roosevelt, als er Stalin und Churchill zum Dinner empfing, zum ersten Mal nicht selbst die Cocktails mixte. Das zweite Thema, das in keiner der offiziellen Sitzungen ernsthaft diskutiert wurde, war das Schicksal der noch in Europa verbliebenen Juden. Tatsächlich hatten die sowjetischen Truppen Auschwitz eine Woche vor Beginn der Konferenz befreit, doch gibt es keinen Bericht darüber, dass Stalin zu irgendei-

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nem Zeitpunkt von den dort vorgefundenen Gräueln berichtet hätte. Die einzige, beiläufig Bemerkung fiel beim letzten Abendessen, als Stalin und Churchill begannen, über die britischen Parlamentswahlen zu sprechen, und sich Stalin verunsichert in ein anderes Thema flüchtete, indem er sagte, das jüdische Problem sei auch kompliziert. Der russische Führer bemerkte, er habe versucht, eine dauerhafte Zuflucht für die Juden in Birobidschan, einer ländlichen Siedlung in Russland, zu schaffen, doch nach einigen Jahren seien die Juden abgewandert und in die Städte gezogen. „Nur ein paar kleine Gruppen waren in der Landwirtschaft erfolgreich“, fügte er hinzu. Jetzt griff Roosevelt ins Gespräch ein und erklärte, er sei Zionist,6 worauf Stalin erwiderte, theoretisch sei er das auch, aber in der Praxis gebe es erhebliche Probleme. Roosevelt drängte weiter und ließ erkennen, dass er sich mit dem saudi-arabischen König treffen wolle, um über die Einwanderung von Juden nach Palästina zu sprechen. Stalin erkundigte sich, ob er König Ibn Saud im Gegenzug etwas anzubieten gedenke. Der Präsident erwiderte scherzhaft, „[d]ie sechs Millionen Juden in den Vereinigten Staaten“ – im Nachhinein gipfelt diese Geschmacklosigkeit natürlich in der Wahl ausgerechnet dieser Zahl. Doch Stalin verstand den peinlichen Witz ohnehin nicht, sondern erwog ernsthaft die Bedeutung einer Umsiedlung amerikanischer Juden. Auch er hatte schließlich versucht, sowjetische Juden umzusiedeln, und nun bemerkte er, Juden seien „Zwischenhändler, Geschäftemacher und Parasiten“. Dann witzelte Stalin gut gelaunt: „Kein Jude könnte in Jaroslawl leben“ – einer Stadt, die, wie der Dolmetscher Bohlen erklärte, bekannt war für die Gerissenheit ihrer reisenden Händler. Roosevelt lächelte schweigend dazu, und letzten Endes erhob Stalin keine Einwände dagegen, Juden nach Palästina emigrieren zu lassen. Abgesehen von einer Erklärung, dass alle vertriebenen Zivilisten in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt werden sollten, war das Schicksal der europäischen Juden – ob sie nun ermordet worden waren oder noch um ihr Überleben kämpften – anscheinend nicht der Beachtung durch die Großen Drei beim Gipfel in Jalta wert. Roosevelt war trotz seiner physischen Gebrechen in Jalta noch immer eine beeindruckende Persönlichkeit und beherrschte die Situation. Er moderierte jede Versammlung und stellte sicher, dass die Hauptthemen angesprochen wurden. Jetzt, da der Krieg gegen Hitler so gut wie gewonnen war, eine in der Geschichte einzigartige Leistung, ging es ihm vor allem darum, dass sich die Sowjetunion dem Krieg im Pazifik gegen die Japaner anschloss. Dafür wollte er vor seiner Abreise eine Zusage in der Tasche haben, und das gelang ihm auch mit einem geheimen Nachtrag zum offiziellen Kommuniqué. Da er für die

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­ roberung Tokios einen ausgedehnten Kampfeinsatz erwartete, erwirkte RooE sevelt von Stalin die Zusicherung, dem Pazifikkrieg nicht später als 90 Tage nach der deutschen Kapitulation beizutreten. Im Gegenzug sollte Stalin nach Japans Kapitulation die Kontrolle über Teile der Mandschurei erhalten. Der zweite für den Präsidenten wesentliche Punkt war eine Übereinkunft zur Gründung der Vereinten Nationen, um eine internationale Friedensordnung zu etablieren. Doch da waren die quälenden Nachkriegsfragen: Was sollte mit Deutschland geschehen? Beanspruchten die Franzosen dort eine Besatzungszone? Wie würden die Kriegsreparationen funktionieren? Sollte Deutschland zerlegt werden? Und was sollte aus Polen werden – dem Land von Auschwitz, dem Land des Warschauer Ghettos, dem Land des Warschauer Aufstands und einem Symbol des Krieges?7 Würde es ein freies und demokratisches Land sein oder ein Satellitenstaat der Sowjetunion werden? Dieses Thema sollte die Erinnerung an Roosevelt auf Jahre hinaus prägen. Die Ergebnisse waren ausgesprochen gemischt, obwohl die meisten Fragen scheinbar gelöst waren: Die Franzosen sollten an der Besatzung Deutschlands beteiligt werden und Gebiete in den britischen und amerikanischen Zonen kontrollieren. Deutschland sollte Reparationen zahlen, und die Sowjetunion die Hälfte davon erhalten. Und zukünftige Regierungen der Pufferstaaten entlang der sowjetischen Grenze sollten Moskau gegenüber „freundlich“ eingestellt sein. Zum Leidwesen vieler Beobachter gab der Präsident in Hinblick auf Polen zu viel auf. Polens Nachkriegsregierung sollte Mitglieder der Kommunistischen Partei enthalten, womit die Polen de facto von einer deutschen Herrschaft direkt in eine sowjetische kippten. Zur Verteidigung Roosevelts sei immerhin angeführt, dass diese Entscheidung im Grunde nur geopolitische Gegebenheiten festigte, befanden sich die sowjetischen Truppen doch schon auf polnischem Boden. Und doch versprach das offizielle Kommuniqué zumindest freie, allgemeine, geheime und ungehinderte Wahlen in Polen. Auch zum amerikanischen Plan für einen Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gab es eine Vereinbarung. Der Rat sollte fünf ständige Mitglieder, und jedes Mitglied ein Vetorecht bei jeder Ratsentscheidung haben. Weitere Entscheidungen zu den Vereinten Nationen wären bei der Eröffnungssitzung in San Francisco zu treffen, die für Ende April angesetzt wurde. Churchill hatte in Jalta wohl am meisten verloren, hatte er doch vergeblich einen klaren demokratischen Weg für die Staaten in Osteuropa gefordert. Doch zu einem gewissen Grade war auch Stalin Kompromisse eingegangen, indem er Frankreich Zutritt zur Kontrollkommission in Deutschland gewährte. Und Roosevelt hatte in Bezug auf Polen eindeutig kapituliert.

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Jalta wurde als ein triumphaler Erfolg und ein Signal dafür gefeiert, dass die Zusammenarbeit der Alliierten in der Nachkriegszeit fortgesetzt würde. Müde aber zuversichtlich reisten Roosevelt und seine Delegation wieder ab. Auf dem Weg nach Hause unterbrach der Präsident die Reise für ein Treffen mit den Königen von Ägypten und Saudi-Arabien sowie mit dem Kaiser von Äthiopien. Bekleidet mit einem wehenden schwarzen Umhang empfing Roosevelt jeden von ihnen auf dem Batteriedeck der USS Quincy. Der Ägypter und der Äthiopier trafen als Erste zu den Beratungen ein, Ibn Saud von Saudi-Arabien als Letzter am zweiten Tag. Der amerikanische Zerstörer Murphy war nach Dschidda geschickt worden, um ihn abzuholen, und als das Schiff wieder in See stach, bot sich ein beeindruckender Anblick – die New York Times nannte es einen „arabischen Hofstaat en miniature“. Dicke Teppiche bedeckten die Decks des Zerstörers, und ein königliches Zelt war neben dem vorderen Geschützturm aufgebaut. Als der König in Sichtweite der Amerikaner kam, saß er majestätisch auf einem großen vergoldeten Stuhl, umgeben von noch mehr Teppichen und bewacht von barfüßigen nubischen Soldaten mit gezogenen Säbeln. Neben Teppichen, Schafen, Zelten, Feuerschalen und geweihtem Wasser hatte Ibn Saud Verwandte, Wachen, Diener und Vorkoster im Gefolge, den königlichen Astrologen und einen zeremoniellen Kaffeeausschenker nicht zu vergessen. Zusätzlich waren da noch „neun unterschiedliche Sklaven, Köche, Gepäckträger und Küchenjungen“. Dies war das erste Mal, dass der saudi-arabische König sein Heimatland in der Wüste verließ. Einige Mitglieder seiner Entourage hatten noch nie das Meer gesehen, die meisten waren noch nie an Bord eines Schiffes gewesen, und alle sträubten sich, unter Deck zu gehen. Auch weigerten sie sich, etwas aus dem Schiffskasino zu essen, und schlachteten stattdessen ihre Schafe selbst, die in eigens errichteten Pferchen am Heck des Schiffs mitreisten. Noch atemberaubender für die Offiziere und die Mannschaft des Schiffs war der Anblick von Saudi-Arabern, die direkt neben dem Munitionsdepot ahnungslos ihren Kaffee über Kohlenpfannen brühten. Mit 70 Jahren spürte Ibn Saud wie Roosevelt sein Alter. Er ging langsam, humpelte dabei leicht und war auf einen Stock angewiesen, um das Gleichgewicht zu halten. Der König nahm auf einem gepolsterten Sessel neben Roosevelt an Deck der Quincy Platz. Die zwei Männer saßen dicht nebeneinander, Ibn Sauds voluminöse Gewänder flatterten zusammen mit Roosevelts Umhang im Wind. Niedrige Serviertische standen bereit, und zu Ehren des Königs

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war auch das Deck der Quincy dicht an dicht mit gewebten Teppichen ausgelegt. Frauen waren in der Gegenwart des Königs nicht erlaubt, daher war Anna, die Tochter des Präsidenten, die ihn während der Reise nach Jalta begleitet hatte, unter Deck geschickt worden. Nach den anfänglichen Freundlichkeiten, Geschenken und Gesprächen über Themen wie Öl und Aufforstung, versuchte Roosevelt, dem es nicht gelungen war Juden aus Auschwitz zu befreien, zumindest einigen Überlebenden zu helfen. Für das zugerichtete jüdische Volk in der Diaspora war sein Ansinnen von höchster Bedeutung. Deshalb steuerte er das Gespräch auf sein vorrangiges Anliegen, die Bitte an Ibn Saud, 10 000 weiteren Juden die Einreise nach Palästina zu erlauben. Wie immer vertraute Roosevelt auf seinen Charme und seine Überzeugungskraft, und wies darauf hin, dass diese Zahl doch lediglich einen sehr kleinen Anteil der Gesamtbevölkerung in der arabischen Welt ausmachen würde. Doch als Antwort erhielt er ein unmissverständliches Nein. Ibn Saud war von Beginn an uneinsichtig und setzte zu einer Rede an, in der er Juden beschuldigte, Geld von amerikanischen und britischen Kapitalisten zu benutzen, um arabische Landschaft „zum Blühen“ zu bringen, bezichtigte Juden, sie würden gegen Araber statt gegen Deutsche kämpfen,8 und schwor, dass die Araber eher selbst zu den Waffen greifen würden, als eine größere jüdische Emigration zu gestatten. „Die Araber würden eher sterben, als ihr Land den Juden abzutreten“, lautete seine scharfe Erwiderung. Roosevelt versuchte es mit einer Reihe weiterer Tricks, spielte die zionistische Bewegung in den Vereinigten Staaten herunter und fügte hinzu, er selbst und nicht der Kongress gestalte seine Außenpolitik. Doch mit jedem weiteren Argument von Roosevelt wurde der König widerwilliger. Ibn Saud verließ die Quincy mit dem Geschenk eines Flugzeugs, doch ohne in der Frage der jüdischen Flüchtlinge auch nur ein Jota nachgegeben zu haben. Tatsächlich war Roosevelts engster Berater, Harry Hopkins, bestürzt darüber, dass der Präsident wegen seiner schlechten Verfassung die zionistische Sache zu schnell aufgegeben habe.9 Außer einem familiären Mittagessen mit Winston Churchill im Schatten der sagenumwobenen Stadt Alexandria stand in Ägypten nichts mehr auf dem Programm. Neben Harry Hopkins hatte sich auch die Tochter des Präsidenten zu Churchill und seinen Kindern, Randolph und Sarah, gesellt. Churchill beschrieb Roosevelt später als gelassen, aber gebrechlich und nur noch schwach mit dem Leben verbunden. Der amerikanische Gesandte in Saudi-Arabien war sogar noch deutlicher und beschrieb Roosevelts Gesicht als „aschfahl“ und fügte hinzu: „Seine Falten waren tief eingegraben, die Augen in ohnmächtiger Erschöpfung verblasst. Er stand kurz vor einem Zusammenbruch“.

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Mit dem Aufbruch der Quincy Richtung Westen geriet die Reise jedoch stürmisch. Der französische General Charles de Gaulle, der nur deshalb in die Gestaltung der Nachkriegsordnung mit einbezogen war, weil Roosevelt und Churchill Stalin dazu überredet hatten, weigerte sich verächtlich, den Präsidenten in Algier zu treffen. Und ein erschöpfter Harry Hopkins entschied sich, nach Hause zu fliegen, statt eine weitere Woche auf See zu verbringen. Zwei Tage später starb Roosevelts langjähriger Berater Pa Watson an Herzversagen und einer Gehirnblutung in der Krankenstation des Schiffs. Der Präsident blieb jetzt morgens im Bett. Er verbrachte die Nachmittage mit seiner Tochter an Deck, blickte über das Wasser, rauchte und blätterte allenfalls gelegentlich in irgendeiner bereitliegenden Lektüre. Beim Umtrunk und beim Abendessen waren noch Spuren des früheren Roosevelts zu erkennen, der, als die Reise am 27. Februar zu Ende ging, darauf bestand, direkt den Zug nach Washington zu nehmen. Dort würde er zwei Tage später zum letzten Mal dem Kongress gegenübertreten. Den ganzen Februar hindurch bis zum März ging der Abtransport der Juden ins Innere Deutschlands weiter. Endlos marschierten sie in der bitteren Kälte. Diejenigen, die das Artilleriefeuer der Roten Armee hörten, fassten vielleicht neuen Mut, doch vermutlich wurden sie in Züge gepfercht, die sie rasch von der Front und der Befreiung entfernten. Wasser erhielten sie nur jeden zweiten Tag und kaum einmal etwas zu essen. Nur 200 der 1000 Frauen, die in einem versiegelten Zug ein nationalsozialistisches Lager östlich von Berlin verlassen hatten, überlebten den März. Tausende, die noch marschierten – Juden, die die Selektion überlebt hatten und Gaskammern, Hunger und Krankheit bisher entkommen waren –, w ­ urden jetzt zu den berüchtigten Todesmühlen im Herzen Deutschlands und Österreichs gebracht. Wenn sie durch Städte kamen, wiesen SS-Männer die Einwohner an, ihnen kein Essen zu reichen mit der Begründung, es seien schließlich Juden. Kinder hoben Steine vom Straßenrand auf und warfen sie auf die stolpernden Kolonnen. Bergen-Belsen, Dachau, Buchenwald, Mauthausen, Sachsenhausen und Ravensbrück und ihre weitreichenden Tentakeln von Außenlagern sollten die letzte Bestimmung für dieses Überbleibsel der „Endlösung“ sein. Die Nationalsozialisten hingen noch der irrwitzigen Vorstellung an, J­ uden und andere Menschen aus den evakuierten Lagern könnten als Sklavenarbeiter eingesetzt werden, während die Front sich schon Berlin näherte. In dieser verzerrten Vision sollten sie Straßen, Zuggleise und Brücken reparieren, Panzer-

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fallen aufstellen, um den Vormarsch der Alliierten zu schwächen, und einen Verbund von unterirdischen Bunkern im Riesengebirge oder den Alpen graben, von wo aus Hitler und die Wehrmacht weiterhin listig die Schlacht führen könnten, einen fantastischen Zermürbungskrieg mit Guerillamethoden. Die Wirklichkeit aber sah völlig anders aus. In Bergen-Belsen lagen Juden auf dem Boden, ohne Decken oder Essen. Läuse gediehen, und Typhus sowie Cholera grassierten. Im Freien wurden die Toten einfach übereinander geworfen und verwesten langsam. Unter denjenigen, die Bergen-Belsen erreichten, war auch Anne Frank. Sie und ihre Schwester Margot waren unter den Ersten, die Auschwitz im Oktober 1944 verließen und in den Westen transportiert wurden. Sie hatten schon bewiesen, dass sie zu schwerer Arbeit fähig waren, hatten sie doch in Auschwitz Steinblöcke geschleppt. Daher wurden sie ausgewählt, um als neue Arbeiter in den Westen geschickt zu werden, während ihr Vater und ihre Mutter zurückblieben. Ein Überlebender erinnerte sich an Anne in Bergen-Belsen, die runden Augen und das fröhliche Lächeln waren verschwunden, herzzerreißend bat sie um ein bisschen zusätzliche Getreideflocken.10 Für die Kinder und Jugendlichen waren Hunger und Typhus an der Tagesordnung. Margot Frank erkrankte zuerst, und Anne, deren Träume von Rettung sich zerschlagen hatten, erkrankte ebenfalls. Die Alliierten marschierten zwar in ihre Richtung, doch sie waren noch zu weit entfernt. Ansprachen des Präsidenten vor dem amerikanischen Kongress sind eine Tradition, die bis in die Tage von George Washington zurückreichen, als der Regierungssitz noch erst in New York und dann in Philadelphia lag.11 In Washington, D.C., unter der großen Kuppel, versammelte sich jetzt die Legislative, auf dass der höchste Vertreter der Exekutive ihr berichte. Der Senat belegt üblicherweise einen intimeren Raum, wo die Mitglieder im Lauf der Jahre ihre Namen und Initialen in zierliche Mahagonischreibtische geschnitzt haben. Doch der Plenarsaal des Repräsentantenhauses aus dem Jahr 1857 ist weitläufig, mit mehreren Reihen nicht zugewiesener Sitze und einer großen halbkreisförmigen Galerie. Als Franklin D. Roosevelt am 1. März ankam, herrschte dort reger Betrieb. Für die Kongressmitglieder war sein Anblick erschütternd: Der Mann, der jetzt am Ende des Krieges vor ihnen erschien, war ein völlig anderer als jener, der zu Kriegsbeginn das Wort an sie gerichtet hatte. Er lief nicht selbstsicher

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trotz Beinschienen am Arm eines Beraters wie bei seiner Ansprache nach Pearl Harbor. Stattdessen wurde er das erste Mal sanft in das Treppenhaus des Saals geschoben und zu einem karminroten Plüschsessel neben einem kleinen Tisch gebracht. Trotzdem war die Reaktion auf seine Ankunft ein donnernder Applaus. Roosevelt begann mit einem ungewöhnlichen Hinweis auf die „zehn Pfund Stahl“, die er normalerweise an seinen Unterschenkeln trug und bat scherzhaft, sein Sitzenbleiben zu entschuldigen. Seine Anhänger fanden Gefallen an der Rede, doch die Mehrheit erkannte den Roosevelt von einst nicht wieder. Wie Historiker bemerkten, folgte der Präsident seinem Text mit zitterndem Finger und stolperte trotzdem bei bestimmten Formulierungen und entstellte seine Worte. Er improvisierte, er holte aus und wich vom Thema ab, er sprach stockend und schwankend, verlor den Faden. „Ich fand nicht, dass das eine besonders gute Rede war“, vertraute Hassett seinem Tagebuch an: „Zunächst einmal war sie zu lang, und dann improvisierte der Präsident auch noch ständig hinzu, eine elende Angewohnheit, die selbst bessere Leistungen schmälert“. Roosevelt erwähnte beiläufig sein Treffen mit Ibn Saud nach der Konferenz von Jalta und fügte hinzu, dass er bei diesem Treffen viel über die Probleme zwischen Muslimen und Juden gelernt habe. Nur gelegentlich hob der Präsident die Stimme zur Betonung, überwiegend war sein Vortrag monoton. Dean Acheson, der berühmte zukünftige Staatssekretär, meinte nicht die Stimme eines regierenden Staatsoberhauptes zu vernehmen, sondern die eines Invaliden. Und den Versammelten musste auffallen, wie die Hand des Präsidenten zuckte und zitterte, als er sein Wasserglas hob. Nur gegen Ende, nach fast einer Stunde, als er über seine geliebten Vereinten Nationen und das anstehende Treffen in San Francisco sprach, klang er überzeugend. Er sprach darüber wie Amerika nach dem Ende des Ersten Weltkriegs seine Kämpfer enttäuscht habe, und fügte hinzu: „Wir können sie nicht wieder enttäuschen und erwarten, dass die Welt wieder überlebt.“12 Er sagte, die Jalta-Konferenz auf der Krim habe Jahrhunderten unilateraler Handlungen, exklusiver Allianzen, Einflusssphären und Machtverhältnissen ein Ende gesetzt – Instrumenten, die „immer versagt [hätten]“. Stattdessen sollten diese veralteten Gepflogenheiten den Weg frei machen für eine universelle Organisation, „in der alle friedliebenden Nationen endlich die Möglichkeit [hätten], Mitglieder zu werden“. Der Präsident, der den Krieg so gut wie gewonnen und den Weg zum Frieden geebnet hatte, erntete bei seinem Abgang einen weiteren stürmischen Applaus. Dies sollte sein letzter bedeutender öffentlicher Auftritt gewesen sein.

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Am 3. März verließ Roosevelt Washington in Richtung Hyde Park. Er plante Ende März wieder dorthin zurückzukehren, bevor er sich für zwei Wochen nach Warm Springs zurückzöge, um dann am 20. April im Zug zur Eröffnung der Konferenz der Vereinten Nationen nach San Francisco zu reisen. Am 17. März feierten die Roosevelts mit Freunden und der Familie ihren 40. Hochzeitstag. Nach Cocktails im Roten Salon, dem Abendessen und einem Film ging der Präsident zu Bett und erklärte, er wolle bis zum Mittag schlafen.13 Charles Bohlen hatte im Weißen Haus schon häufig das starke Zittern von Roosevelts Händen bemerkt, das es ihm sogar schwer machte, ein Telegramm zu halten. Wenn der Präsident sich mit Personen des öffentlichen Lebens und Politikern traf, riss er sich zwar zusammen, doch Bohlen war klar, dass seine „Konzentrationsfähigkeit nachließ“.14 Und dennoch kam ihm nicht der Gedanke, der Präsident könnte dem Tode nahe sein. Am Karfreitag, dem 30. März, kam Franklin D. Roosevelt in Warm Springs an, um sich zu erholen. Er fuhr selbst zu seinem „Kleinen Weißen Haus“, und blieb dann dort. William Hassett, der mit dem Präsidenten reiste, zog den stets wachsamen Dr. Howard Bruenn beiseite und flüsterte: „Er entschwindet uns, und keine Kraft auf Erden kann ihn hier halten.“ Hassett vermerkte, dass ­Bruenn zunächst „Einwände erhob“, im Verlauf des Gesprächs dann aber einräumte, Roosevelt spiele nur noch etwas vor, und hinzufügte: „Ich bin überzeugt, dass es keine Hilfe für ihn gibt“. Hassett zählte seine Sorgen auf, über Roosevelts Gleichgültigkeit vor der Wahl, darüber wie er aufgehört hatte zu plaudern, über seine Schwäche und seine immer kraftlosere Unterschrift – „die alte Stärke der Striche und der freizügige Gebrauch von Tinte sind vorbei, die Unterschrift endet oft verblasst.“ Bruenn, der jetzt seinem Patienten mehr zugetan war denn je, entgegnete, Roosevelts Zustand sei bedenklich, aber nicht hoffnungslos. Für Hassett jedoch „bestätigte dieses Gespräch [seine] Überzeugung, dass der Boss [sie] verlassen“ werde. Völlig untypischerweise vertraute Roosevelt Hassett an, dass er elf Kilo verloren habe. „Bin schockiert über sein Aussehen – verbraucht, erschöpft, entkräftet … keine Kraft, kein Appetit, ermüdet so leicht“, notierte Hassett in seinem Tagebuch am letzten Tag im März. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit. In Europa rückten die amerikanischen Armeen, die wie durch ein Wunder die Brücke von Remagen überquert hatten, weiter vor. Doch sogar als Nürnberg,

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die Stadt, in der Hitler seine großen nationalsozialistischen Aufmärsche abgehalten hatte, in Trümmern lag, dauerten die Todesmärsche an. Einige der Gefangenen mussten nicht nur marschieren, sondern auch schwere Lasten, das Raubgut der SS-Männer, über weite Strecken ziehen. Andere Gefangene wurden in Zügen transportiert. Eine Frau, Aliza Besser, erinnerte sich an die Zustände nach drei Tagen und Nächten in einem versiegelten Viehwaggon: „Kein Wasser. Sie sterben vor Durst. Lippen sind ausgetrocknet. Tumult bricht aus, und die deutschen Wachen schütten das Wasser vor unser aller Augen weg.“ Jüdische Gefangene, die gezwungen worden waren, den Bahnhof in Wien instand zu setzen, mussten vor den anrückenden sowjetischen Streitkräften zurückweichen. Zu essen hatten sie nur, was sie am Frühjahrsanfang von den Feldern ergattern konnten. Wer zu langsam lief, wurde erschossen. Fast die Hälfte von ihnen starb auf dem Weg nach Deutschland. Am 3.  April befreite die 7.  US-Armee zu ihrer unbeschreiblichen Freude 6000 alliierte Kriegsgefangene, doch schon der nächste Tag sah völlig anders aus. In strahlendem Sonnenschein rückten amerikanische Streitkräfte über das Land vor, als plötzlich deutsche Mörsergranaten auf sie herabregneten. Die Straßenschilder und Karten zeigten an, dass die Amerikaner vor einer Stadt namens Ohrdruf standen,15 bekannt als jener Ort, an dem Johann Sebastian Bach mehrere Werke komponiert hatte. Fast durch Zufall war eine Patrouille des 354. Infanterieregiments auf ein Lager gestoßen. Diese Männer waren nur auf Erkundung gewesen, auf der Suche nach vereinzelten Deutschen und erreichten zufällig eine kleine Erhebung im Gelände. Auf der anderen Seite sahen sie ein Tor, auf das sie langsam zugingen. Vielleicht hatte ein entlaufener Gefangener sie geführt, oder vielleicht kamen sie von selbst dorthin. Das Lager befand sich in der Mitte eines Waldes, umgeben von hohen Nadelbäumen, durch die die Sonne schien, und nichts wies darauf hin, dass sich hier etwas Besonderes zugetragen hatte. Rechts und links vom offenen Tor erstreckte sich ein hoher Stacheldrahtzaun, und über dem Eingang befand sich ein Holzschild. Darauf prangten die drei merkwürdigen Worte: „Arbeit macht frei“. Der Körper eines einsamen Wachmanns lag bewegungslos vor dem Eingang. Drinnen war jedoch überhaupt nichts gewöhnlich. Auf dem Gelände hinter den Zäunen waren Zehntausende Gefangene zusammengedrängt worden, und ihnen war befohlen worden, Tunnel für ein geplantes nationalsozialistisches Hauptquartier in einen nahen Berg zu graben. Mindestens 4000 Gefangene waren seit Ende 1944 gestorben oder ermordet worden. Die letzten 100 hatte man kurz vor der Ankunft der amerikanischen Streitkräfte erschossen. Unter den Toten waren Juden und auch polnische und sowjetische Kriegs-

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gefangene. Die Deutschen hatten auf der Flucht Massen ausgemergelter Leichen hinterlassen. Sie waren in gestreifte Uniformen gekleidet, unter denen ihre Körper fast nur noch aus Haut und Knochen bestanden, und ihre Schädel wiesen Einschusslöcher auf. Charles Payne, ein Großonkel von Präsident Barack Obama, erreichte Ohrdruf am 6. April. Er erinnerte sich: „Eine ganze Reihe von Menschen war getötet worden und lag auf dem Boden, Blechbecher in den Händen, als hätten sie Essen erwartet und seien stattdessen getötet worden. Man konnte ­sehen, wo das Maschinengewehr hinter den Büschen aufgebaut worden war.“ Sie waren offensichtlich zu schwach gewesen, um den Gewaltmarsch zu ­einem anderen Lager mitzumachen, und daher an Ort und Stelle niedergeschossen worden. „Der Gestank war so schrecklich“, erinnerte sich ein weiterer amerikanischer GI, der damals 20 Jahre alte Bruce Nikols. Er beschrieb einen überwältigenden Geruch nach ungelöschtem Kalk, schmutziger Kleidung, menschlichem Kot und Urin. Doch der Gestank stammte von weit mehr als den etwa 60 Leichen, die über den Exerzierplatz verstreut lagen. Direkt neben dem offenen Gelände, in der Nähe der grüngestrichenen Barracken, befand sich ein Holzschuppen, der auf einer Seite offen stand. Nikols erinnert sich: „Leichen waren in wechselnden Richtungen aufgestapelt wie Klafterholz“. Der Schuppen war für Strafaktionen genutzt worden, wenn Gefangene mit Schaufelschlägen auf Rücken und Kopf verprügelt wurden. Auch Galgen gab es, um Gefangene aufzuhängen. Und eine riesige Grube, um die Überreste zu verbrennen. Alles zur Verfügung stehende medizinische Personal, Ärzte und Schwestern, wurde angefordert, doch war das eher eine Geste, gab es doch kaum Überlebende. Nur einige Glückliche waren ihren Fängern entkommen, indem sie sich auf ihren Pritschen versteckt hatten. Wieder andere waren während der Evakuierung in die umliegenden Wälder geflohen, während der Rest auf Lastwagen geladen und in ein anderes Lager weiter im Inneren Deutschlands verlegt worden war.16 Die Schwächsten, außerstande sich zu bewegen, waren auf dem Exerzierplatz niedergeschossen worden. „Sie wollten nicht, dass sie befreit werden“, erklärte der amerikanische GI, „bis zum Schluss nicht“. Ohrdruf war das erste nationalsozialistische Lager, das innerhalb Deutschlands von den Alliierten befreit wurde. So viele verzerrte, entstellte Gesichter. So viel Schmerz. Drei amerikanische Generäle, Eisenhower, Patton und Bradley, Helden des D-Day, besuchten am 12. April 1945 das Lager. Patton sollte über das,

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was im Holzschuppen verborgen lag, in sein Tagebuch schreiben: „Ein Berg von etwa 40  Leichen vollkommen nackter Menschen in den letzten Phasen der Auszehrung. Diese Leichen waren mit etwas Ätzkalk bestreut, nicht um sie zu zerstören, sondern um den Gestank zu beseitigen.“ Eisenhower selbst erinnerte sich, dass es Patton schlecht wurde – der berühmte General übergab sich, nachdem er all die Toten gesehen hatte – und konnte sich nicht überwinden, den Bestrafungsschuppen zu betreten. Beide Generäle sahen sich die Grube an, in der Leichen verbrannt worden waren. Patton beschrieb, dass er etwas sah, was er einen „Mammut Grill“ nannte. Auf Eisenbahngleisen über einem Ziegelfundament hatten die Deutschen vergeblich versucht, die Überreste von Hunderten von Toten zu verbrennen, indem sie Pech darüber schütteten und darunter Feuer entzündeten. Grimmig stellte Patton fest, dass dieser „Stapel von menschlichen Knochen, Schädeln, verkohlten Leibern auf oder unter dem Grill“ den Nachweis für viele weitere Hunderte von Toten erbrachte. Bradley, der mehr Opfer gesehen hatte, als er wollte, war sprachlos. Er sagte später: „Der Geruch des Todes überwältigte uns, schon bevor wir durch die Einzäunung kamen. Mehr als 3200 nackte, ausgemergelte Leichen waren in flache Gräber geworfen worden. Läuse krochen über die gelbliche Haut ihrer spitzen, knochigen Körper.“ Unter anderem sahen die Generäle auf ihrem Gang durch das Lager einen Metzgerblock, auf dem menschliche Kiefer zerschmettert worden waren, um die Goldfüllungen aus den Zähnen zu holen. Und Ohrdruf war nur ein Außenlager. Es hatte keine Gaskammer, kein Krematorium. Das Hauptlager in Buchenwald, am 11. April befreit, hielt weitere Schrecken bereit, darunter Schrumpfköpfe und aus Menschenknochen geschnitzte Aschenbecher. Als die ersten amerikanischen Truppen dort ankamen, in Panzern einen Feldweg hinauffuhren, erwarteten sie eine Schießerei mit den Deutschen. Die Panzer brachen durch zwei Reihen von Stacheldraht, spürten die elektrische Ladung und rollten zu einer Gruppe von Gebäuden auf einem Hügel. Das erste klare Bild, das der 19-jährige Soldat Harry Hedger erkannte, war „ein riesengroßer Schornstein“. Er rauchte noch. „Schwarzer Rauch quoll aus ihm heraus und von uns weg, aber wir konnten ihn immer noch riechen. Ein hässlicher, schrecklicher Gestank. Ein brutaler Gestank.“ Die Panzer kamen zum Halten, und die Männer sprangen heraus, bereit, sich flach auf den Boden zu werfen und mit dem Schießen zu beginnen. Dann sahen sie eine Gruppe menschlicher Wesen in Lumpen, die begannen, „aus und zwischen den Gebäuden vor uns herauszukriechen“. Hedger erinnerte sich an

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eine Uniform aus „schrecklich grobem Stoff “, abwechselnd mattgrau und dunkelblau gestreift. Mit schwacher Stimme fragten einige: „Seid ihr Amerikaner“? Hedger wurde losgeschickt, um die Einzäunung zu bewachen, und erhielt den Befehl niemanden hinein- oder herauszulassen. Als Hedgers Sergeant zurückkam, sagte er in sehr ruhigem Ton, dieser Ort sei das, was man ein Konzentrationslager nenne, und dass sie jetzt Dinge sehen würden, auf die sie keineswegs vorbereitet seien. „Er sagte uns, wir sollten so lange hinsehen, wie wir das aushalten könnten, und dann schnell raus kommen und in den Wald gehen.“ Hedger fügte hinzu: „Ich verstand das nicht, aber gleich sollte ich es besser wissen.“ Am Eingangstor standen in einer Bauhausschrift und in großen Lettern die drei Wörter zu lesen: „Jedem das Seine“. Hedger und seine Soldatenkameraden sahen wie Zahnstocher geschichtete, schmutzig graugrün verfärbte Leichen. In der Nähe stand ein langes zweistöckiges Gebäude. Im Inneren war es noch warm. Sie sahen schwere Metalltragen, die aus einer Reihe von Eisentoren in einer Backsteinmauer ragten. Und auf den Tragen lagen unvollständig verbrannte Leichen, drei pro Trage. „Drei Leichen pro Trage und mindestens 30 Tragen – und die Deutschen kamen immer noch nicht nach.“ Dann fanden sie Pritschen in Gebäuden, die aussahen wie große Scheunen, wo Hunderte von Menschen schliefen. Zusammengezwängte, lebende Leichen starrten sie ziellos, leblos, aus eingesunkenen Augen an. Hedger schaute auf die Pritschen, dachte an die Leichen und fragte sich: „Wo haben die Deutschen die alle her?“ Elie Wiesel erinnert sich, dass er sich nach der Befreiung von Buchenwald auf alles Essbare stürzte, das er finden konnte. Die Gefangenen waren von den Nationalsozialisten völlig zugrunde gerichtet: „Man dachte an nichts anderes. Weder an Rache noch an die Eltern. Nur an Brot.“17 Nach seinem Besuch in Ohrdruf forderte Eisenhower alle nicht unmittelbar ins Kampfgeschehen involvierten Einheiten in der näheren Umgebung auf, sich das Lager anzusehen. Ein bestürzter Patton brüllte: „Seht euch an, was diese Bastarde gemacht haben!“, und begab sich auf seine eigene Inspektion in Buchenwald. Danach befahl er dem Bürgermeister und allen Einwohnern des nahegelegenen Weimar, durch Buchenwald zu gehen und sich anzusehen, wo-

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für das deutsche Volk verantwortlich war. Keiner der Toten sollte vorher begraben werden. Nach dem Besuch des Lagers, noch in Sichtweite der Tore, begannen einige der Deutschen zu lachen. Voll Zorn zwang der diensthabende amerikanische Offizier jeden von ihnen, wieder umzukehren und erneut, nur diesmal viel langsamer, durchs Lager zu gehen, von einem Gebäude zum anderen. Dieses Mal zeigte es Wirkung. „Am nächsten Tag“, erinnerte sich Hedger, „hörten wir, dass der Bürgermeister und seine Frau Selbstmord begangen hatten.“ Eisenhower befahl, die Gräueltaten in den nationalsozialistischen Lagern sorgfältig zu dokumentieren, und rief dann Winston Churchill an, um zu beschreiben, was er beobachtet hatte. Drastische Fotos erreichten per Depesche London, und Churchill schickte die Bilder an jedes Mitglied seines Kabinetts. Seinen Präsidenten jedoch konnte General Eisenhower schon nicht mehr erreichen, als in Deutschland am 12. April die Nacht anbrach. Am 9. April fuhr Roosevelt die 140 Kilometer nach Macon, Georgia, um Lucy Mercer Rutherfurd zu treffen, und sie begleitete ihn zurück nach Warm Springs. Am nächsten Tag berichtete Dr.  Bruenn, Roosevelts Hautfarbe sei „viel besser“, sein Appetit „sehr gut“, und fügte hinzu, der Präsident habe „bei der Mahlzeit um Nachschlag“ gebeten. Doch als Henry Morgenthau am 11. April zum Abendessen vorbeikam, bestürzte ihn, was er sah. Er beschrieb Roosevelt als „sehr hager“ und bemerkte, wie dessen Hände so stark zitterten, dass er fast die Gläser umwarf. „Ich musste jedes Glas festhalten“, fügte er hinzu, „als er die Cocktails einschenkte“. Roosevelts Gedächtnis war getrübt, und er verwechselte oft Namen. Und Morgenthau fiel ganz besonders auf, wie schwer es dem Präsidenten fiel, sich von seinem Rollstuhl auf einen normalen Sitz zu hieven. „Es war eine Qual, ihm dabei zuzusehen“.18 Am folgenden Morgen, während Adolf Eichmann, der Organisator der „Endlösung“, bei seinem letzten Besuch durch Theresienstadt stolzierte und amerikanische Bomber Schweinfurt ungehindert unter Beschuss nahmen, beschwerte sich Roosevelt über leichte Kopfschmerzen und einen steifen Nacken. Bruenn gab dem Präsidenten eine leichte Massage. Elizabeth Shoumatoff, eine mit Lucy Mercer befreundete Malerin zu Besuch, um den Präsidenten zu porträtieren, bemerkte Roosevelts lebhafte Gesichtsfarbe, im Gegensatz zu seiner üblichen grauen Blässe. Sein gerötetes Gesicht war jedoch in Wirklichkeit eine verhängnisvolle Warnung. Um 13.15  Uhr am Nachmittag des 12.  April hob Franklin D. Roosevelt seine Hand zum Kopf und sagte: „Ich habe schreckliche

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Schmerzen im Hinterkopf “. Er brach zusammen und sollte nie wieder aufwachen. „Sobald ich das Haus betrat und das schwere Atmen hörte, war mir alles klar“, schrieb Hassett kurze Zeit später, „seine Augen waren geschlossen – sein Mund stand offen …“ Kurz nach 15.30  Uhr hörte Roosevelt zu atmen auf. Dr. Bruenn versuchte zu reanimieren, verabreichte eine Injektion mit KoffeinNatriumbenzoat und schließlich eine Adrenalinspritze direkt ins Herz, doch ohne Wirkung. Um 15.35 Uhr wurde Präsident Franklin D. Roosevelt für tot erklärt. Stunden später, während die Nachricht durch Telegrafendrähte zischte, ein fassungsloser Harry Truman sich darauf vorbereitete, den Amtseid abzulegen, und Eleanor Roosevelt nach Warm Springs fuhr, um den Leichnam ihres Ehemanns nach Hause zu geleiten, verließ ein Zug mit 109 Juden den Wiener Bahnhof, auf dem Weg ins Lager Theresienstadt. Es sollte die letzte Deportation sein, die eine nationalsozialistische Behörde, das Eichmannreferat, veranlasst hatte. Noch Tage später jedoch erhängte die Gestapo 20 jüdische Kinder im Keller einer Hamburger Schule.19 Am 14. April, während ein in aller Eile arrangierter Trauergottesdienst im East Room des Weißen Hauses abgehalten wurde, stießen amerikanische Truppen auf eine noch rauchende Verbrennungsgrube, wo die Toten eines weiteren nationalsozialistischen Außenlagers verbrannt worden waren. Und am 15. April, demselben Tag, an dem Franklin D. Roosevelt im Rosengarten von Hyde Park zur letzten Ruhe gebettet wurde, betraten amerikanische Truppen das Lager Nordhausen und ein Aufgebot von Briten drang gleichzeitig in Bergen-Belsen ein. 10 000 entblößte Körper erwarteten sie. In den Schlaflagern waren die Toten und die Sterbenden inmitten des Unrats kaum voneinander zu unterscheiden. Ein britischer Oberst beschrieb, wie Männer und Frauen zusammenbrachen, „während sie liefen und tot umfielen“.20 In „stinkenden Baracken voller Ungeziefer“ wurde von Ärzten „ein rotes Kreuz auf die Stirn derjenigen gemalt, von denen sie annahmen, sie hätten eine Chance zu überleben“. Während der ersten Wochen starben 300 Menschen pro Tag, danach noch um die 60 täglich. Amerikanischen GIs gaben den ausgezehrten Überlebenden in bester Absicht Schokolade, doch diese war zu reichhaltig und gab vielen den Rest. Auch verteilten die Soldaten Zigaretten an die befreiten KZ-Insassen, die sie aufaßen, statt sie zu rauchen. Ein Soldat der Alliierten, Peter Coombs, der auf offene Gräber gestarrt und eine „Schicht toter Körper“ gesehen hatte, schrieb seiner Frau: „Ich sah ihre

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Leichen in der Nähe ihrer Verschläge liegen, denn sie kriechen oder schwanken ins Sonnenlicht hinaus, um zu sterben. Ich beobachtete sie auf ihrer letzten kläglichen Reise, und sogar während ich zusah, starben sie … Ihr Ende ist einfach unvermeidlich, sie sind zu geschwächt, um ins Leben zurückgeholt werden zu können … Belsen ist der lebende Tod … und sollte das je notwendig sein, ist das zweifelsfrei die Antwort für alle, die wissen wollen, wofür wir gekämpft haben.“ Wofür wir gekämpft haben – diese Worte müssen nachgehallt haben wie ein Wechselgesang. Tatsächlich waren die befreiten KZ-Häftlinge, so sehr sie nach Essen verlangten, ebenfalls begierig darauf, Amerikaner zu sehen. Wo auch immer die Amerikaner auftauchten, die siegestrunkenen Szenen waren dieselben. J. D. Pletcher von der 71. Division, der geholfen hatte, das Lager Gunskirchen zu befreien, sagte: „Allein der Anblick eines Amerikaners erzeugte Jubel, Seufzen und Kreischen. Die Menschen drängten sich, um einen Amerikaner zu berühren, den Jeep zu berühren, unsere Arme zu küssen – vielleicht nur, um ganz sicher zu sein, dass wir echt waren. Die Menschen, die nicht mehr laufen konnten, krochen zu unserem Jeep. Die nicht mehr kriechen konnten, stützten sich auf den Ellenbogen hoch, und irgendwie, trotz all ihrer Schmerzen und ihres Leidens, zeigten sie durch ihre Blicke die Dankbarkeit und die Freude, die sie über die Ankunft der Amerikaner empfanden.“21 Die welken Trauerkränze waren weggebracht worden.22 Eleanor hatte ursprünglich gebeten, keine Blumen zu schicken, doch sie kamen trotzdem an, zunächst im Weißen Haus, dann in Hyde Park. Im Garten wurde das Gras langsam grün, und die Rosen trugen ihre ersten Blätter. In wenigen Wochen würden sich die ersten Knospen wölben und die Blüten sich nach und nach entfalten. Drum herum wuchs eine hohe immergrüne Hecke, die den Wind abhielt. Franklin D. Roosevelt war endlich zur Ruhe gekommen. Eine wahre Flut von Trauerbekundungen – von Verbündeten im Ausland und politischen Gegnern im Inland – war hereingebrochen. Der Aktienhandel wurde eingestellt, Baseball-Spiele wurden abgesagt, Kirchenglocken geläutet. Auf den Schlachtfeldern Europas weinten selbst kampferprobte Soldaten. Für viele, unzählig viele, war dies der traurigste Tag ihres Lebens. Hunderttausende standen mit gesenktem Kopf an den Eisenbahngleisen, als der Präsidentenzug Roosevelts Sarg auf der 1200 Kilometer langen Reise von Warm Springs nach Washington brachte. Unter einem samtenen Himmel standen die Trauernden entlang der Strecke und schauten in fassungsloser Stille zu. Sie sahen zu mit

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Tränen in den Augen. Sie sahen zu mit gefalteten Händen und still. Sie sahen zu von Farmen und Feldern und Städten aus, standen sprachlos und still, während Feuer entfacht wurden und der Zug langsam und geisterhaft vorbeiglitt. Schließlich erreichte er Washington. Während der Trauerzug von der Constitution Avenue bis zur 18. Straße nur schleppend voran kam und schließlich zum Weißen Haus gelangte, flogen Flugzeuge der Luftstreitkräfte darüber hinweg, und die Menschenmenge begann zu schluchzen. Ein einfacher Gottesdienst fand im East Room statt: Zu Beginn wurde die großartige Hymne „Faith of our Fathers“ gesungen, die der Präsident geliebt hatte, und zum Schluss wurden seine historischen Worte zitiert: „Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst“. Dann wurde der Leichnam in sein geliebtes Hyde Park gebracht, wo der Himmel strahlend blau war, der weiße Flieder blühte und die Vögel sangen. Es war ein erhabener und besinnlicher Augenblick. Kanonen dröhnten, und Kadetten feuerten drei Salven ab. Am Ende stimmte Reverend George Anthony an: „Wir übergeben diesen Körper der Erde. Erde zu Erde, Staub zu Staub.“ Nachdem Roosevelt so seine letzte Ruhe gefunden hatte, war die Trauerzeit im offiziellen Washington nur kurz. Robert Jackson, Richter am Obersten Gericht, erinnerte sich an seine Rückfahrt mit dem Zug von Roosevelts Beisetzung in Hyde Park. „Unter denen, die sich politische Vorteile verschaffen wollen, herrschte große Eile.23 Der dezente Ton im Zug veränderte sich auf dem Rückweg beträchtlich“, bemerkte er und fügte zurückhaltend hinzu: „Loyalitäten von Politikern wechseln schnell.“ Harry Truman war jetzt Präsident, und in Übersee war noch ein Krieg zu gewinnen. Erst nach fünf Tagen erbitterten Kampfes ergab sich Nürnberg am 21. April endlich Pattons Truppen. In dieser Phase bemerkte Eisenhower, die Deutschen hätten jetzt dermaßen viel vom Sprengstoff der Alliierten gekostet, „dass es ihnen ein Jahrhundert lang reichen sollte“. Ab dem 25. April war Berlin abgeschnitten. Himmler wie auch Göring, zwei der verabscheuungswürdigsten Nationalsozialisten, versuchten schamlos, einen Waffenstillstand mit den westlichen Alliierten auszuhandeln. Hitler befahl, beide Männer ihrer Ämter zu entheben. Die deutschen Truppen hofften inzwischen nur noch darauf, sich den Amerikanern ergeben zu können, statt einer sowjetischen Armee, die auf Rache sann. Am 28. April war der Nachhimmel über Berlin feurig rot vom Bombardement. Hitlers Bunker kam unter direkten Beschuss der sowjetischen Artillerie. Geschosse regneten nur so herab, und die Wände und Decken bebten unter den Explosionen. Am nächsten Morgen befahl der Führer, dass man Zyankali-

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kapseln an seine Mitarbeiter verteilen und sie seinem geliebten Hund Blondi verabreichen solle. Nachdem er jedem seiner Berater ermutigend die Hand gedrückt hatte, diktierte er eine letzte politische Botschaft, in der er seine Nachfolger ernannte und ein letztes Mal das „Judentum“ verdammte. Dann heiratete er eilig Eva Braun. Jetzt kam die Nachricht, dass die Deutschen keine Panzer und fast keine Munition mehr hatten. Bestenfalls konnten sie die Rote Armee noch 24 Stunden aufhalten. Hitlers letzte Handlung war ein Doppelselbstmord, was vorauszusehen war. Um 15.30 Uhr hatte Eva Braun, auf einem Sofa liegend, Gift genommen, und Adolf Hitler hatte auf eine Zyankalikapsel gebissen und sich gleichzeitig mit einer Pistole in die rechte Schläfe geschossen. Durch Zufall starb er fast zur selben Tageszeit wie Roosevelt. Und in einer schauerlichen Wendung wurden, auf Wunsch des „Führers“, die Leichen von ihm und Eva Braun in den Hof gebracht, mit Benzin übergossen und angezündet. Die Flammen bahnten sich ihren Weg durch Fleisch und Knochen, wie bei den Millionen Opfern Hitlers in Krematorien oder offenen Gruben. Am folgenden Tag wagte sich ein deutscher General, der Russisch sprach, mit einer weißen Flagge hinaus. Doch hatte er nicht die Vollmacht, über eine bedingungslose Kapitulation zu verhandeln. Goebbels und seine Frau vergifteten zuerst ihre Kinder und begingen danach Selbstmord, während die Festung Berlin bedingungslos den Sowjets übergeben wurde. Zu dem Zeitpunkt, als ein russischer Soldat die Flagge mit Hammer und Sichel über dem Dach des Reichstags schwenkte, lag die Stadt größtenteils in Trümmern. Die Rote Armee hatte allein im Kampf um die Stadt 300 000 Mann verloren. Die Zivilbevölkerung Berlins beklagte 125 000 Opfer. Und diese Zahlen erfassen bei Weitem nicht alle Verluste. Als eine Gruppe russischer Soldaten zufällig auf eine kleine, isolierte Handvoll von Juden traf, die in Berlin überlebt hatten, bestand einer der Soldat darauf, sie könnten unmöglich noch am Leben sein. Diese letzten Überlebenden, siech oder dem Tode nah, die durch trübe Augen starrten, fragten, wieso denn nicht. In seinem ungeschickten, gebrochenen Deutsch antwortete der fassungslose Russe: „Nichts Juden. Juden kaput.“24 Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte wurde am 7.  Mai im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims unterzeichnet und am folgenden Tag im Hauptquartier der 5. Sowjet­ armee in Berlin wiederholt. Fast sofort schwärmten die Bewohner Moskaus, ob im Schlafanzug oder im Pelzmantel, auf den Roten Platz, und die große Menge brüllte: „Lang leben die großen Amerikaner!“ Die ganze Welt war wie im

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Rausch: London, Paris, New York, Ankara, Brüssel. Und überall in Amerika, von der Wall Street in New York bis nach Washington, von Los Angeles bis Chicago ging ein Konfettiregen hernieder, Kanonen gaben Schüsse ab, und Menschen strömten auf die Straßen, jubelten, tanzten und feierten überglücklich stundenlang unter freiem Himmel. Churchill erklärte diese Feierlichkeiten zum „größten Freudenausbruch in der Geschichte der Menschheit“. Das alles waren die Früchte des Jahres 1944. Und doch dauerte es noch bis zum 15. Mai 1945 bis in Jugoslawien die Waffen der letzten deutschen Truppen schwiegen. Und der Krieg im Pazifik sollte erst Mitte August enden mit dem Abwurf der Atombomben, welche die Welt veränderten und deren Entwicklung Franklin D. Roosevelt gefördert hatte. Ein erschöpfter Abraham Lincoln hatte lange genug gelebt, um von der ergreifenden Kapitulation in Appomattox Kenntnis zu erhalten.25 Franklin D. Roosevelt hingegen erlebte den Sturz Berlins oder Japans nicht mehr. Und doch hatte er damit gerechnet. Sein Blick aber war, fast von dem Moment an, da die ersten Bomben fielen und die ersten Schüsse abgegeben wurden, fest auf den kommenden Frieden gerichtet. Es hatte eine außergewöhnliche Vision. In einer Rede, die er zum Jefferson-Gedenktag am 13. April geschrieben, aber nie gehalten hatte, erklärte er: „Der Sieg über unsere Feinde allein wird nicht ausreichen“. Er wollte nicht nur „ein Ende dieses Krieges“, er wollte „ein Ende für den Anfang aller Kriege“. In Anbetracht der Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs, über 36  Millionen, davon 19  Millionen Zivilisten,26 sind Roosevelts Überlegungen nachvollziehbar. Wie viele Humanisten vor ihm und viele nach ihm, wollte er „einen dauerhaften Frieden.“ Der Friede kam auch wirklich. Aber der Krieg wurde nicht ausgerottet, und die Welt ist ein hartherziger, gefährlicher Ort geblieben. Und die Vereinten Nationen, denen sich Roosevelt so verpflichtet fühlte, erwiesen sich oft als schwach und ineffektiv, wenn nicht sogar als kontraproduktiv. Doch in den 70 Jahren, die seit seinem Tod vergangen sind, hat es keinen massenhaften weltweiten Flächenbrand mehr gegeben. Der nächste globale Konflikt war der sogenannte Kalte Krieg mit angespannten Pattsituationen, Stellvertreterkonflikten und ideologischen Kämpfen, aber es kam nicht erneut zum Weltkrieg, und auf gewisse Weise ist der Frieden tatsächlich, wie von Roosevelt gewünscht, in einem größeren Umfang gewahrt worden. Das heutige Gespenst des Terrorismus war hingegen etwas, das Roosevelt nicht vorher­ sehen konnte.27

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Doch liegt eine gewisse Tragik in seinen Bemühungen. Franklin D. Roosevelt führte den Krieg auf sein Ende hin und verwirklichte auf diese Weise das historische Ziel, die Demokratie und die westliche Lebensweise zu verteidigen, doch verpasste er dabei womöglich den Augenblick für seine eigene „Emanzipations-Proklamation“. Der Amerikanische Bürgerkrieg war nicht nur ein verheerender Konflikt, er begann als Krieg um eine Sezession, endete jedoch als ein Kampf gegen Sklaverei und für menschliche Freiheit. Abraham Lincoln, gerade von seinem überwältigenden Sieg in Antietam zurückgekehrt, machte ihn durch Wort und Tat dazu. Von dem Augenblick an, da er die Emanzipations-Proklamation verkündete, ging es im Krieg nicht mehr nur um Föderalismus und das Recht der Staaten, auch nicht um den Erhalt der Union, es ging um Freiheit und das Ende der menschlichen Knechtschaft. Lincoln tat dies, obwohl sein Land nie einen Krieg im Namen der Schwarzen gebilligt hatte und trotz beträchtlicher Opposition im Norden und sogar innerhalb seiner eigenen Partei. Dennoch schritt Lincoln mutig voran, und sobald er diesen Schritt unternommen hatte, gab es keine Umkehr mehr. Roosevelt hingegen sprach viel und in den höchsten Tönen über Demokratie und Menschenwürde – die New York Times hatte sicherlich Recht damit, dass seine Führung „freie Menschen in jedem Teil der Welt inspirierte, mit größerer Hoffnung und Mut zu kämpfen“ –, doch gab es keinen Augenblick, in dem er die riesige menschliche Tragödie, die sich im von den Nationalsozialisten kontrollierten Europa abspielte, den gezielten Versuch, ein ganzes Volk auf Erden auszulöschen, unmissverständlich zum Gegenstand des Zweiten Weltkriegs machte. Im Zweiten Weltkrieg ging es letzten Endes um den militärischen Sieg, nicht wie im Amerikanischen Bürgerkrieg um etwas Größeres, zumindest nicht, bis der Kampf vollständig vorbei war. General Eisenhower, der kurz zuvor im April 1945 zum ersten Mal die Folgen der „Endlösung“ im nationalsozialistischen Lager Ohrdruf in Augenschein genommen hatte, schrieb eindringlich: „Uns wird erzählt, der amerikanische Soldat wisse nicht, wofür er kämpft. Zumindest weiß er jetzt, wogegen er kämpft.“ Dass Roosevelt nicht die Möglichkeit fand, eine Art Emanzipations-Proklamation abzugeben, ist tragisch, denn als eine von wenigen öffentlichen Figuren in der Geschichte verkörperte und verinnerlichte Roosevelt die Menschlichkeit, und er hatte die Fähigkeit andere zu inspirieren. Richter Jackson, der sich vom Obersten Gerichtshof beurlauben ließ, um beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als Hauptankläger zu fungieren, schrieb über diesen Mann, den er bewunderte: „Was sein Dahinscheiden für das Schicksal der Menschheit bedeutet, werden wir nie ermessen können“.28 Für Jackson und

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viele andere besaß Roosevelt eine „einnehmende Persönlichkeit, einen reich begabten und informierten Verstand, ein warmes und verständnisvolles Herz und einen Geist, der unbesiegbar war“. Der Republikaner Robert Taft sprach aus, was viele empfanden, als er Roosevelt „die größte Persönlichkeit unserer Zeit“ nannte. An der Heimatfront hatte der Krieg Roosevelt vor die große Herausforderung gestellt, die Nation zu einen. Größtenteils war ihm das gelungen. „Geschäftsleute, die Todfeinde des Präsidenten waren, ließen sich von ihm für verschiedene Ämter verpflichten. Menschen, die ihm misstraut hatten, wurden seine Gefolgsleute. Die Opposition schmolz so ziemlich zusammen“, fügte Jackson hinzu. Und Isaiah Berlin beobachtete zu Recht: „Er war einer der wenigen Staatsmänner im zwanzigsten oder irgendeinem anderen Jahrhundert, die offenbar keine Angst vor der Zukunft hatten.“29 Es fiele schwer, dem zu widersprechen. So klar wie jeder andere, außer vielleicht Churchill, erkannte Roosevelt die Bedrohung durch das aufkommende nationalsozialistische Deutschland. Mit der Zeit schaffte er es geschickt, die isolationistische Stimmung in seinem Land zu kippen, während er die Nation langsam immer weiter auf den Konflikt vorbereitete. Seine Lend-Lease-Politik war eine brillante Meisterleistung, eine Rettungsleine für Großbritannien und die Sowjetunion, die den Vereinigten Staaten kostbare Zeit verschaffte, um Produktion und Armee auf den Krieg vorzubereiten. Sobald der Konflikt eintrat, baute er ein riesiges, unbesiegbares Arsenal der Demokratie auf und setzte seine militärischen Ressourcen verstärkt gegen das nationalsozialistische Regime ein. Als Staatsmann, Stratege und Oberbefehlshaber dominierte er die Gipfeltreffen der alliierten Führer – keine leichte Aufgabe, wenn man in Betracht zieht, dass ihm Churchill und Stalin übergroß gegenüberstanden. Er mobilisierte die Kriegsindustrie in einem Ausmaß, das schwer nachvollziehbar ist: Während des Konflikts produzierten die Vereinigten Staaten zwei  Millionen Lastwagen, 300 000 Kampfflugzeuge, mehr als 100 000 Panzer, 87 000 Kriegsschiffe, 5 000 Lastschiffe, mehr als 20 Millionen Gewehre, Maschinengewehre und Pistolen und 44 Millionen Munitionsladungen – dies entspricht dem Bau von zwei Panamakanälen pro Monat. Er fasste persönlich den schwierigen Entschluss, in Nordafrika einzumarschieren, und sorgte dafür, dass Material an die Ostfront geflogen wurde. Er übergab den Italienfeldzug an Churchill, und sogar als seine Gesundheit nachließ, führte er die Aufsicht über den D-Day und hielt durch, als der Erfolg von „Operation Overlord“ ungewiss schien. Und bei all dem war er so überzeugend und handelte mit einem derart unvergleichlichen Instinkt, dass das amerikanische Volk ihm fast ohne Vorbehalt folgte.

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Sie hörten ihm bei seinen Kamingesprächen zu und hatten das Gefühl, als spräche er zu jedem Einzelnen von ihnen persönlich. Ums Radio geschart, wurden sie von seiner spritzigen Persönlichkeit berührt und hielten ihn für einen Freund. Und sie verloren im Krieg nie die Zuversicht, weil er sie nie verlor. Da es ihm nicht möglich war, sich einfach unter eine Menschenmenge zu mischen und eine Hand nach der anderen zu schütteln, nahm Roosevelt stattdessen mit seiner Stimme Kontakt auf, wusste er doch, wie er die Worte dafür nutzen konnte. Seit Lincoln hatte kein Präsident mehr vermocht, die Nation derart zu bewegen. Und die Empfindungen für Roosevelt gingen weit über Amerika hinaus. Der Berater des Außenministeriums, Charles Bohlen, alles andere als ein rückhaltloser Bewunderer Roosevelts, beobachtete, dass der Präsident bei seinen Verhandlungen mit ausländischen Führern fast immer die Oberhand gewann, vor allem aufgrund „seiner enormen Popularität in der ganzen Welt, sogar in Ländern, in denen er nie gewesen war“.30 Zu Hause war er bedeutend beliebter als seine großen Vorgänger in Kriegszeiten, Abraham Lincoln, Woodrow Wilson und John Adams. Und anders als Lincoln musste er nicht erst sterben, bevor ihm öffentlich Zuneigung bekundet wurde. Auch der Lauf der Zeit hat seine Bedeutung in der öffentlichen Meinung und bei Historikern nicht geschmälert, und das ist nur gerecht, war doch sein gesamtes Führungskonzept während des Kriegs ein gewaltiger Erfolg. Wenn auch spät, ermöglichte Roosevelt doch mit seinem War Refugee Board die Rettung von mehreren Hunderttausenden Menschen, die sonst durch die Nationalsozialisten ums Leben gekommen wären. Großbritannien nahm einige Flüchtlinge und die Sowjetunion europäische Juden aus dem Osten auf, aber keiner der beiden unternahm bewusste Anstrengungen für eine groß angelegte Rettung. Roosevelt war überlebensgroß und äußerst geschickt in der Wahl des richtigen Zeitpunkts, nichts schien außerhalb seiner Reichweite, seiner Fähigkeit, Probleme zu lösen, oder außerhalb seiner Vorstellungskraft zu liegen. Außer einer Sache: ein Holocaust, dessen Ausmaß immer deutlicher erkennbar wurde. Sein Blick reichte nicht viel weiter als bis zur Notwendigkeit, den Krieg zu gewinnen und den Frieden in der Nachkriegszeit zu gestalten. Hätte Roosevelt zu einem bestimmten Zeitpunkt diesen Konflikt zu einem Krieg für die Freiheit der Menschen erklärt – einem Krieg gegen die „Endlösung“, einem Krieg, um die unvorstellbaren NS-Grausamkeiten zu beenden, einem Krieg, um Hunderttausende, wenn nicht Millionen, unschuldiger Leben zu retten –, hätte er in Anbetracht der öffentlichen Bewunderung für ihn zwei-

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fellos die amerikanische Öffentlichkeit aufrütteln können, ihm zu folgen. 1944 hatte er die Möglichkeit dazu. Seine Entscheidung, keine nachhaltige Aktion anzustoßen, war eine seiner folgenschwersten Entscheidungen, mindestens genauso sehr wie seine größten militärischen Initiativen. Und so kam, als die Gewehre endlich schwiegen und die Lichter der Städte wieder angingen, als die Siegesparaden allmählich endeten, die Nationalflaggen wieder triumphierend in der Brise flatterten und das Tanzen in den Straßen vorbei war, die ganze Tragweite des Holocaust zum Vorschein. Bis zum heutigen Tage klingt das quälende Echo der Millionen Toten, mal als Flüstern und mal als lautes Rufen, nach. Auch das ist eine entsetzliche Frucht des Jahres 1944. Der Krieg war gewonnen und der Frieden geschlossen, zwei einzigartige Leistungen. Doch die größeren, unbeantworteten humanitären Fragen haben nicht nur das Andenken Roosevelts geprägt, sondern auch das seiner Nachfolger. Sie erhoben sich drohend über dem Prager Frühling und dem Aufstand in Ungarn, als Präsidenten zu handeln zögerten. Ähnliche Fragen stellten sich in Bezug auf andere Genozide, bei denen Amerika achselzuckend und unbeteiligt zusah: Pol Pots schrecklicher Völkermord in Kambodscha, vor dem die Welt ihre Augen verschloss, die Tragödie in Ruanda, eine der am schnellsten ausgebrochenen Mordorgien des Jahrhunderts, die offensichtlichen ethnischen Säuberungen im früheren Jugoslawien, das Aufkommen der brutalen Taliban in Afghanistan vor dem Anschlag am 11. September 2001, die sporadische Aufmerksamkeit, die Darfur im Sudan erhält, und das beidseitige Blutvergießen im Nahen Osten. Warum schenken wir einer Enthauptung, einer Hungersnot oder einem Gemetzel in der einen Nation unsere Aufmerksamkeit und Intervention, während wir unseren Blick von anderen Nationen abwenden? Das ist doch die Frage. Wie viel davon ist auf unsere Ambivalenz während des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen? Könnte es sein, dass unsere stockenden und zögerlichen Schritte damals dazu geführt haben, dass spätere Präsidenten sich hin- und hergerissen und unsicher fühlen? Das bleibt ein schier unlösbares Rätsel der Geschichte. Bei Kriegsende sagte ein bedrückter Edward Murrow während einer Radioübertragung aus Buchenwald: „Sie sprachen vom Präsidenten, kurz bevor er starb“. Und wie war das in Auschwitz? „Manchmal werde ich gefragt, ob ich die Antwort auf Auschwitz kenne“, schrieb Elie Wiesel. „Ich antworte dann, dass ich die nicht nur nicht kenne, sondern dass ich nicht einmal weiß, ob auf eine

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Tragödie dieses Ausmaßes eine Antwort möglich ist. Was ich weiß ist, dass … wenn wir von dieser Zeit des Bösen und der Finsternis sprechen, die so nah und doch so weit entfernt ist, dann ist ‚Verantwortung‘ das Schlüsselwort.“ Oder wie Abraham Lincoln selbst dies einmal einprägsam im Kongress sagte: „Wir müssen neu denken und neu handeln …Mitbürger, wir können der Geschichte nicht entkommen. Wir – selbst wir, die wir hier sind – besitzen die Macht und tragen die Verantwortung“. 70 Jahre später noch klingen die Fragen, die in den Lagern der Nationalsozialisten geflüstert wurden, nach: Wann kommen die Alliierten? Wann kommen die Amerikaner?

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Danksagungen Vor einigen Jahren wurde ich eines Abends in einem New Yorker Hotel zu einem kleinen Abendessen mit Martha Stewart, Mike Wallace, Frank McCourt, unseren Gastgebern Wayne und Catherine Reynolds und Elie Wiesel eingeladen. Es entspann sich eine breit gefächerte, vielschichtige Unterhaltung. Irgendwann sah ich hinüber zu Elie, der nach wie vor der Inbegriff moralischer Autorität für den Holocaust war, und fragte, ob Franklin Delano Roosevelt in Bezug auf Auschwitz das Richtige getan habe. Er blickte von der Seite zu mir herüber und erklärte mit leiser Stimme: „Die Frage ist zu wichtig, um sie jetzt zu erörtern.“ Seine Antwort hat mich bei der Konzeption des vorliegenden Buches begleitet. An einem anderen Abend traf sich ein kleine Gruppe von Historikern zum Essen beim britischen Botschafter in Washington, um über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Zu der Gruppe gehörten der Historiker Andrew Roberts sowie Chris Buckley, Christopher Hitchens, Michael Beschloss, Rick Atkinson und ich. Auch diesmal hatte ich hinterher viel Stoff zum Nachdenken hinsichtlich der diplomatischen und militärischen Aspekte des Zweiten Weltkriegs, die bei der Arbeit an diesem Buch ebenfalls ins Spiel kamen. Wie bei meinen früheren Büchern stehe ich zuallererst in der Schuld einer Vielzahl herausragender Wissenschaftler und einzigartiger Historiker, die zu zahlreich sind, um sie alle hier zu nennen; ihre Arbeit hat mich zugleich angeregt und geschult. Außerdem möchte ich den Mitarbeitern der Franklin D. Roosevelt Presidential Library in Hyde Park danken, die mir enorm geholfen haben, vor allem Matthew Hanson; der Dwight D. Eisenhower Presidential Library, vor allem Kathy Struss; dem United States Holocaust Memorial Museum, vor allem Judith Cohen und Michael Abramowitz; dem U.S. Army Center of Military History in Fort McNair in Washington; und dem U.S. Army Military History Institute. Ich habe über den Amerikanischen Bürgerkrieg, Abraham Lincoln und seine Epoche geschrieben; über die Gründerzeit, George Washington und seine stürmische Epoche; und nun habe ich meine Aufmerksamkeit dem Zweiten Weltkrieg, Franklin Delano Roosevelt und seiner Epoche zugewandt. Es ist ein seltenes Privileg, in der Welt der drei bedeutendsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gelebt zu haben. Einmal mehr ist mein Werk eine ­Erzählung, und mein Ziel war es, grundverschiedene historische Forschungsansätze und -ergebnisse zu verweben, um Ereignisse getreulich so nachzuemp-

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finden, wie sie sich abgespielt haben könnten. Die Beschäftigung mit den anderen Giganten im Präsidentenamt und den anderen gewaltigen Epochen in der amerikanischen Geschichte hat mir, wie ich glaube, auch zu einem beträchtlichen Verständnis für den Zweiten Weltkrieg und die Führung des Landes durch seine Präsidenten verholfen. Und ich habe unermesslich profitiert von bedeutenden Koryphäen für diese frühen Zeiträume, Leuten, die ich überaus bewundere, wie etwa meinen guten Freund Gordon Wood und James McPherson. Wie früher bereits hatte ich auch diesmal das Glück, durch eine Reihe von Autorenkollegen und Vertretern der Geisteswissenschaften unterstützt zu werden, die mir während der Arbeit an diesem Buch halfen und mir Mut machten. Ich möchte meinen Freunden Chris Buckley, P. J. O’Rourke, Wayne und Catherine Reynolds, Mark Penn und Nancy Jacobson sowie James Guerra danken. Des Weiteren Howard Owens, ehemals Präsident von National Geographic Channels, mit dem ich eine wunderbare Zusammenarbeit hatte; Evan Thomas; Ron Chernow; Max Boot; David Ignatius; Chris Wallace; Bret Baier; James Rosen; meinen Mit-Vorständen und Kollegen am Ford’s Theatre, darunter Eric Spiegel und Paul Tetreault; und dem angesehenen Wissenschaftler Richard Breitman, der Kapitel 9 über Eduard Schulte sorgfältig las (er ist zusammen mit Walter Lacqueur Verfasser des Buches über Schulte: Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr. Aus dem Engl. übers., Frankfurt am Main 1986) und zahllose hilfreiche Kommentare abgab. Lyric Winik half bei der Redaktion des Manuskripts. Zu nennen sind darüber hinaus einige der höchsten politischen Entscheidungsträger der Nation, mit denen ich das Glück hatte, über dieses Buch, insbesondere die schicksalhafte Entscheidung, ob Auschwitz bombardiert werden sollte oder nicht, zu sprechen: Ex-Präsident Bill Clinton; Ex-Präsident George W. Bush, bei einem privaten Mittagessen im Weißen Haus; Ex-Außenministerin Condoleezza Rice während eines privaten Abendessens im State Department; dem ehemaligen Minister für Innere Sicherheit Michael Chertoff; dem ehemaligen Stabschef des Weißen Hauses Josh Bolton; General Dave Petraeus, der mir hinsichtlich der militärischen Seite der Dinge viele Denkanstöße gab; dem ehemaligen Verteidigungsminister Bill Cohen; und Richter Laurence „Larry“ Silberman, der über einen gewaltigen Fundus an Wissen sowohl über den Zweiten Weltkrieg als auch über Franklin D. Roosevelt verfügt und der mehr Dinge infrage stellte und mir in Erinnerung rief, als zu erwähnen mir lieb ist. Seine wunderbare Frau Tricia sorgte derweil dafür, dass ich nicht verhungerte. John Fahey von der National Geographic Society ermutigte und unterstützte mich. Das taten auch Nancy Pelosi, von 2007 bis 2011 Sprecherin des Reprä-

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sentantenhauses, sowie John Roberts, Stephen Breyer, Antonin Scalia und Sam Alito. Rick Atkinson war eine Inspiration; ebenso Doris Kearns Goodwin, die Maßstäbe gesetzt hat. Der ehemalige Kongressabgeordnete Steve Solarz unterbreitete mir, bevor er verstarb, eine Idee für ein Buch – eine Variante dessen, worüber ich am Ende schrieb. Mein besonderer Dank gilt Edwin S. Grosvenor, Herausgeber und Chefredakteur der wunderbaren Zeitschrift American History, der mir großzügigerweise einige der Karten aus der herausragenden AH-Sammlung zur Verfügung stellte. Für weitere Ermutigung und Unterstützung danke ich Roy und Abby Blunt, Janet Cohen, Chuck Robb, Wayne und Lea Berman sowie Meryl Chertoff. Außerdem Rusty Powell; Ken Weinstein und Amy Kauffman; Carol Watson vom National Endowment for the Humanities, einer staatlichen Stiftung in den Vereinigten Staaten zur Förderung der Geisteswissenschaften; den früheren NEHVorsitzenden Jim Leach und Bruce Cole und jetzt vor allem William „Bro“ Adams, dem gegenwärtigen NEH-Vorsitzenden; Marvin Krislov; John Gaddis; dem ehemaligen britischen Botschafter Sir Nigel Sheinwald, dessen Abendessen für Historiker in der Botschaft stets eine Herausforderung für mich waren; Sir Peter Westmacott; und den ehemaligen Mehrheitsführern im Senat Harry Reid und Tom Daschle, zusammen mit Mitch McConnell und Rose Styron. Mit Steve Gillon und Anthony Giacchino beim History Channel arbeitete ich gemeinsam an einem fabelhaften dokumentarischen Special über Pearl Harbor und Roosevelt, das mein Denken außerordentlich beflügelte. Während einiger Höhen und Tiefen bei der Arbeit an diesem Buch hatte ich das Glück, liebe Freunde an meiner Seite zu haben, Burnie Bond und Mark Werksman. Außerdem Rick Kahlenberg, die wunderbare Mari Will, Mark und Margot Bisnow, Victoria und Chris Knopes, Eleni Rossides, Clint Stinchcomb, Jim Denton, Alice Kelly, Adam Lovinger, Rick und Susie Leach, Nina Solarz, meinen Tenniskumpel David Cody und Stewart Patrick. Öffentlich danken muss ich besonders meinem Bruder und meiner Schwägerin, Gary und Trish Winik. Außerdem Larry Goldstein. Mein getreuer Computer-Guru, Roy Hewitt, war stets zur Stelle, ebenso mein anderer kluger Computer-Guru, Ari Goldberg. Thomas Simpson half ebenso bei der Recherche wie Nicholas Cravatta. Rachel Dillan war fantastisch beim Zusammensuchen von Originaldokumenten und haufenweise weiteren Forschungsarbeiten für mich. Besonderen Dank schulde ich dem Verlag Simon & Schuster, der das Buch herausbrachte, wie es nur Simon & Schuster kann. Ich danke meinem unvergleichlichen Verleger Jonathan Karp, der ein alter Freund und der Beste in der

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Branche ist. Mein erster Lektor, Thomas LeBien, arbeitete leidenschaftlich mit mir, um mir bei der Gestaltung des Buches und der Schärfung meiner Ideen und Vorstellungen zu helfen. Priscilla Painton, die ihn ablöste, betreute das Manuskript mit Hilfe ihrer talentierten Assistentin Sophia Jimenez geschickt und tatkräftig bis zur Veröffentlichung. Richard Rhorer und Dana Tucker halfen bei Vertrieb und Marketing. Anne Tate Pearce war eine geschätzte Partnerin bei der Werbung. Meine Quellen übergab ich Andrea Sachs, vormals die Chefreporterin für Verlagswesen bei der Zeitschrift Time; um die Ursprünglichkeit meiner Prosa zu gewährleisten, verglich sie sie mit den Quellen und half auf unzählige andere Arten, unter anderem bei den wichtigsten Fakten und bei der Faktenüberprüfung. Es war eine Freude, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wie in früheren Jahren wurde ich von meinem Literaturagenten Michael Carlisle von Inkwell Management vertreten. Und dann sind da noch die Familienmitglieder. Meine Mutter, Lynn Abrams, verlor, während ich dieses Buch schrieb, einen langwierigen Kampf gegen den Krebs. Sie liebte meine Schriftstellerei und liebte Bücher. Wir sprachen fast jeden Tag miteinander. Ich vermisse sie schrecklich. Ich weiß, dies ist ein Buch, das sie ansprechen würde. Mein Stiefvater, Steve Abrams, vergaß nie, nach mir zu sehen, sodass wir beide über meine Mutter sprechen konnten. Meine wunderbaren Cousins Peter und Sylvia Winik waren ebenfalls immer da, über die bloße Pflichterfüllung hinaus. Und vor allem sind da meine beiden heißgeliebten Jungs, Nathanial, dreizehn, und BC, elf, die der größte Segen meines Lebens sind. Wenn wir nicht über Tennis reden, was oft geschieht, reden wir über Geschichte. Beide wurden aufs Engste vertraut mit diesem Buch. Beide wissen von Roosevelt, vom D-Day und vom Holocaust. BC ist ein begabter Militärhistoriker. Sein Bruder Nathanial, ein gelehrter Überflieger, hat schon sämtliche Bücher seines „Daddys“ gelesen. Er gleicht seine Liebe zu Geschichte und Biografie (er kann mit seinem kleinen Bruder bereits die Probleme des Zweiten Weltkriegs erörtern) mit einem Hang zu Science Fiction (Geschichte in der Zukunft) aus. Sie sind meine beiden besonderen Schätze, und dieses Buch ist ihnen gewidmet, mit aller Liebe, die ich aufbringen kann.

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Bildnachweise Illustrationen S. 2 Franklin D. Roosevelt Presedential Library S. 8 Franklin D. Roosevelt Presedential Library S. 19 Eisenhower Presedential Library S. 79 American Heritage S. 81 American Heritage S. 203 United States Holocaust Memorial Museum S. 244–245 American Heritage S. 324–325 American Heritage S. 342 American Heritage S. 413 United States Holocaust Memorial Museum S. 471 American Heritage S. 479 American Heritage S. 483 United States Holocaust Memorial Museum

Bildteil 1 United States Holocaust Memorial Museum 2 United States Holocaust Memorial Museum 3 United States Holocaust Memorial Museum 4 United States Holocaust Memorial Museum 5 United States Holocaust Memorial Museum 6 United States Holocaust Memorial Museum 7 United States Holocaust Memorial Museum 8 United States Holocaust Memorial Museum 9 United States Holocaust Memorial Museum 10 United States Holocaust Memorial Museum 11 United States Holocaust Memorial Museum 12 United States Holocaust Memorial Museum 13 United States Holocaust Memorial Museum 14 United States Holocaust Memorial Museum 15 Franklin D. Roosevelt Presedential Library 16 Franklin D. Roosevelt Presedential Library 17 Eisenhower Presedential Library

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Bildnachweise

18 Eisenhower Presedential Library 19 Eisenhower Presedential Library 20 Eisenhower Presedential Library 21 Eisenhower Presedential Library 22 Eisenhower Presedential Library 23 Franklin D. Roosevelt Presedential Library 24 Eisenhower Presedential Library 25 Eisenhower Presedential Library 26 Franklin D. Roosevelt Presedential Library

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Anmerkungen Auftakt 1 Vgl. auch Sarah Churchill: A Thread in the Tapestry (Sphere, 1968), S. 62 f.; Rick Atkinson: An Army at Dawn. The War in North Africa, 1942–1943 (Holt, 2007). Zum Treffen von Churchill und Roosevelt in Kairo vgl.: Aufzeichnungen aus der Roosevelt-Bibliothek, offizielles Tagebuch der Reise des Präsidenten, 23. November; handschriftliche Tagebuchnotizen von Roosevelt; Brief von Roosevelt an Grace Tully, in: Jon Meacham: Franklin and Winston. An Intimate Portrait of an Epic Friendship (Random House, 2004), S. 246–249. Siehe auch New York Times, Kairo-Datumszeile, 5. Dezember; James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom. 1940–1945 (Open Road Media, 2012), S. 404–416, insb. 415 f. Zum Hintergrund über Ägypten siehe Stacy Schiff: Cleopatra. A Life (Random House, 2010), S. 1f., 76; siehe auch die herausragende Arbeit von Desmond Stewart: The Pyramids and Sphinx (Newsweek, 1979). 2 Siehe auch Stephen Ambrose: D-Day. June 6, 1944. The Battle for the Normandy Beaches (Pocket Books, 2002), S. 41. Zur Bombardierung von Berlin am 22./23. November 1943 siehe Donald Miller: Masters of the Air. America’s Bomber Boys Who Fought the Air War Against Nazi Germany (Simon & Schuster, 2007); A.  C. Grayling: Among the Dead Cities (Bloomsbury, 2006); Alan W.  Cooper: Bombers over Berlin. The RAF Offensive November 1943–March 1944 (Pen and Sword, 2013); Robin Neillands: Der Krieg der Bomber. Arthur Harris und die Bomberoffensive der Alliierten 1939–1945. Aus dem Engl. übers., Berlin 2002; Robert F. Dorr: Mission to Berlin. The American Airmen Who Struck at the Heart of Hitler’s Reich (Zenith, 2011). Die Darstellung der Bombardierung Berlins stützt sich hier hauptsächlich auf Martin Middlebrook: The Berlin Raids. R.A.F. Bomber Command Winter 1943–1944 (Viking, 1988), S. 104–123; und die hervorragende Studie von Roger Moorhouse: Berlin at War (Basic Books, 2010), S. 307–335. Zu weiteren Details siehe Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, München 2006, passim; Stephen Ambrose: The Wild Blue. The Men and Boys Who Flew the B-24s over Germany, 1944–1945 (Simon & Schuster, 2002), S. 108. Dieser prahlende General war Hap Arnold. Hinsichtlich der Bomberoffensive ist anzumerken, dass die Briten hofften, die Moral der Deutschen zu zermürben, während die Strategie der Amerikaner darin bestand, kriegswichtige Ziele zu treffen. Siehe auch Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 42002, insb. S. 363–370; siehe auch die detailreiche Studie von Daniel Oakman: „The Battle of Berlin“, Wartime 25 (2004). Oakman zitiert Goebbels, der beklagte, dass nun die Hölle über die Deutschen hereinbreche. Die deutsche Propaganda bezeichnete die Bombardierungen ernsthaft als das Werk „anglo-amerikanischer Terrorflieger“. Siehe auch Helga Schneider: Kein Himmel über Berlin. Eine Kindheit. Aus dem Ital. übers., München 2003, S.  7 –74. Dieses Buch fängt eindrucksvoll die Realität des belagerten Berlin zu Kriegszeiten ein. Schneiders Vater kämpfte an der Ostfront; ihre Mutter hatte Berlin verlassen, um als Wache in Auschwitz-Birkenau zu arbeiten. 3 Zur Schilderung des Wegs in die Gaskammern vgl. die Schauder erregenden Erinnerungen von Rudolf Höß, der seelenruhig von „blühenden Menschen“ berichtet, die „unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöfts, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod“ gingen. Rudolph Höss: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höss, hrsg. von Martin Broszat, München 81981, S. 129. Zu dieser Episode siehe die maßgebliche Studie von Martin Gilbert: The Holocaust. A History of the Jews, 1933–1945. The Years of Extermination (Norton, 2012), S. 633. Siehe auch Jadwiga Bezwinska, Danuta Czech und Krystyna Mich-

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Anmerkungen alik (Hrsg.): Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. Aus dem Jidd. übers., 2., neu bearb. Aufl., Oświęcim 1996. Geschrieben mit schwarzer Tinte auf 21 Seiten, in Jiddisch, wurden diese Handschriften 1952 am Standort von Krematorium III entdeckt. Die Namen der Verfasser sind unbekannt.

Kapitel 1 1 Zu diesem Kapitel und überhaupt zur gesamten Konferenz siehe Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Bd. 5: Der Ring schließt sich. Erstes Buch: Italien kapituliert, S. 366. Zweites Buch: Von Teheran bis Rom, S. 26–102 Bern o. J. (Neue Schweizer Bibliothek). Siehe auch die folgenden herausragenden Werke: Jon Meacham: Franklin and Winston. An Intimate Portrait of an Epic Friendship (Random House, 2004), S.  248; Charles Bohlen: Witness to History. 1929–1969 (Norton, 1973), S. 132; James MacGregor Burns: The Soldier of Freedom. 1940– 1945 (Open Road Media, 2012), S. 402; Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time. Franklin and Eleanor Roosevelt – The Home Front in World War II (Simon & Schuster, 1994), S. 473; und H. W. Brands: Traitor to His Class (Doubleday, 2008), S. 727 f. 2 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 26. 3 Siehe White House Museum, Air Force One. 4 Roosevelt hatte in seiner Kindheit eine geliebte Tante bei einem Brand verloren. Siehe Geoffrey Ward: Before the Trumpet. Young Franklin Roosevelt, 1882–1905 (Harper and Row, 1985), S. 117 ff. 5 Siehe Von Hardesty und Bob Schiefferr: Air Force One. The Aircraft That Shaped the Modern Presidency (Creative Publishing International, 2005), S. 36–41. 6 Zu mehr Informationen über die Reisen und Roosevelts Abneigung gegen das Fliegen siehe z.B. Meacham, Franklin and Winston, S. 204. 7 Zu dieser Reise vgl.: Roosevelt an seine Frau, 18.  November 1943, Box 12, Roosevelt Family Papers, Franklin D. Roosevelt Library; ebenfalls sehr gut sind MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 406; Goodwin, No Ordinary Time, S. 473. 8 Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 630; David Reynolds: In Command of History. Churchill Fighting and Writing the Second World War (Allen Lane, 2004), S. 326; Warren F.  Kimball: A Different Take on FDR at Teheran (Center for the Study of Intelligence, 2007), (letzter Zugriff: Oktober 2016). 9 Siehe z.B. Philip Mattar: Encyclopedia of the Modern Middle East and Africa, 2004 (Macmillan Library Reference, 2004); Elliott Roosevelt: A Rendezvous with Destiny. The Roosevelts of the White House (Putnam, 1975); und Michael F. Reilly: Reilly of the White House, S. 173 f. 10 Über das junge Washington, D.C., siehe Jay Winik: The Great Upheaval (Harper, 2007), Kap. 11. 11 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 28. 12 Hierzu und zur Beschreibung der Fahrt durch die Stadt siehe Sarah Churchill: A Thread in the Tapestry (Sphere, 1968), S.  64  f.; Churchill, Der Zweite Weltkrieg 5/2, S.  27–29; und Bohlen, Witness to History, S. 135. Sarah verfolgte die Ereignisse interessiert. Sie vermerkt außerdem, dass die Verkehrsstockung der Tatsache geschuldet war, dass zur gleichen Zeit der Schah von Iran durch die Stadt fuhr, was niemand zuvor gegenüber der alliierten Delegation erwähnt hatte. 13 Siehe z.B. Bohlen, Witness to History, S. 135; und Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 28 f. Bohlen ist skeptisch, was die Gefahren für die amerikanische Delegation betrifft. Ich pflichte ihm bei. 14 Zu den Einzelheiten siehe Reilly, Reilly of the White House, S. 178 f. 15 Ebd., S.  179. Zu weiteren Informationen über die sowjetischen Sicherheitsmaßnahmen, die ebenso sehr dazu dienten, die amerikanische Delegation auszuspionieren, wie sie zu schützen,

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siehe auch Brands, Traitor to His Class, S. 732; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 406; Meacham, Franklin and Winston, S. 249. So war auch Bohlen nervös, weil er Roosevelts einziger Übersetzer war, und er fürchtete Roosevelts Sprunghaftigkeit, was seine Ideen zur Strukturierung des Ganzen betraf. Siehe Bohlen, Witness to History, S. 136. Forrest Davis: „What Really Happened in Tehran“, in: Saturday Evening Post, 13. und 20. Mai 1944; Goodwin, No Ordinary Time, S. 474 f.; Brands, Traitor to His Class, S. 737 ff.; Meacham, Franklin and Winston, S. 253 f. Zu diesem Abschnitt über den jungen Roosevelt siehe vor allem Smith, FDR, insb. über Grover Cleveland S. 23 und 17–22. Zur Groton School und zum starken Einfluss von Endicott Peabody, ebd., insb. S. 28; siehe auch H. W. Brands, Traitor to His Class, S. 24–27. Smith betont, dass Roosevelt nach dem Tod seines Vaters Trost im Glauben fand. Roosevelt war so angetan von Peabodys Vortrag von Dickens Weihnachtsgeschichte, dass er jedes Jahr an Heiligabend seine eigene Familie um sich scharte, um ihnen eine gekürzte Fassung vorzulesen, zu der Tiny Tims Worte gehörten „Gott segne uns alle“. Siehe Rexford G. Tugwell: The Democratic Roosevelt (Doubleday, 1957), S. 510; auch James Roosevelt und Sydney Shalett: Affectionately, FDR. A Son’s Story of a Lonely Man (Harcourt, Brace, 1959), S. 57. Als er Präsident wurde, schrieb Roosevelt sogar an Peabody und dankte ihm für sein „inspirierendes Beispiel“. Was Roosevelts Zeit auf der Groton School, seine Ablehnung durch den Porcellian und sein Studium betrifft, stütze ich mich stark auf Smith, FDR, S. 30; Brands, Traitor to His Class, S. 32 f.; Geoffrey Ward: First-Class Temperament. The Emergence of Franklin Roosevelt (Harper and Row, 1989), S. 31, 34, 41. Von dieser Erkenntnis ließ Roosevelt sich während seiner Präsidentschaft leiten. Von Charakter und Temperament her Empirist, war er nie der strenge Ideologe, als den seine Kritiker ihn darstellten. Später meinte Roosevelt, die nützlichste Vorbereitung auf ein öffentliches Amt sei seine Arbeit beim Harvard Crimson gewesen; siehe dazu Nathan Miller: FDR. An Intimate History (Doubleday, 1983), S. 39. Zur Reise nach Washington und zur Begegnung mit Theodore Roosevelt siehe insb. Smith, FDR, S. 32. Vgl. Eleanor Roosevelt an Sara Roosevelt, 2. Dezember 1903. Siehe auch „Liebste Mama“ an Sara Roosevelt, 4. Dezember 1903; Smith, FDR, S. 36; Ward, First-Class Temperament, S. 16–17; Brands, A Traitor to His Class, S. 36, 38–41. Vor allem Ward betrieb Quellenforschung zu diesem Thema, insb. Roosevelts Beziehung zu Alice Sohier, von der er einmal meinte, von allen Debütantinnen sei sie die „reizendste“ gewesen. Siehe Franklin D. Roosevelt Library, im Folgenden FDRL, 21. März 1934, Roosevelt an Colonel Sohier. Siehe auch Ward, Before the Trumpet, S. 253 ff. Auf alle diese Darstellungen stütze ich mich stark. Zu Eleanors Jugend und progressiven Neigungen siehe Smith, FDR, S. 46. Zu den Zitaten und zu ihrer frühen Beziehung vgl. Eleanor an Roosevelt, 4. Januar 1904, FDRL; Blanche Wiesen Cook: Eleanor Roosevelt, 1884–1933 (Viking, 1992); Crystal Eastman: On Women and Revolution (Oxford University Press, 1978); Smith, FDR, S. 47; Meacham, Franklin and Winston, S. 16, 22. Smith, FDR, S. 49. Smith, FDR, S. 50. Z.B. ebd., S. 54. Zu weiteren Informationen über Roosevelts Beziehung zu seiner Mutter bis zu seinen Collegejahren siehe Meacham, Franklin and Winston, S. 14 ff., 20 ff. Meacham betont, dass Sara sein Eheleben so beherrschen wollte, wie sie seine Jugend beherrscht hatte, S. 22. Smith, FDR, S. 55. Tatsächlich hielt Roosevelt sein Leben lang einschließlich seiner Präsidentschaft an dieser Vorstellung fest.

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Anmerkungen 30 E bd., S.  57. Er hatte auch ein unstillbares Verlangen zu gefallen und konnte, mit Goodwins Worten, ausweichend, doppelzüngig und unaufrichtig sein. Und er beherrschte die Kunst, seine wahren Gefühle zu verbergen. Einen prägnanten und eleganten Überblick über diese Seite Roosevelts bietet Goodwin, No Ordinary Time, S. 76–80. 31 Siehe vor allem Ward, First-Class Temperament, S. 122 und Brands, Traitor to His Class, S. 69. 32 Siehe Ward, First-Class Temperament, S. 138 f. Es ist sehr umstritten, ob das stimmt. Manche, wie Daniel O’Connell, der erfahrene Boss in Albany County, der eng mit Roosevelt zusammenarbeitete, hielten ihn für einen Fanatiker, der nichts für die Armen übrig habe und leicht antikatholisch eingestellt sei. Wenn das überhaupt jemals stimmte, so änderte es sich im Laufe der Zeit. Zweifellos war er aber von Anfang an ein Produkt seiner Erziehung – eines streng kontrollierten Lebens, in dem er nur Männern und Frauen seiner sozialen Schicht begegnete, von denen viele entfernte Verwandte waren, und in welchem er kaum Zugang zu Angehörigen anderer Gesellschaftsschichten hatte. Ward betont jedoch auch, dass Roosevelt, „unter dem Zwang der machtpolitischen Wirklichkeit“ nach und nach toleranter wurde, S. 138. 33 Selbstverständlich änderte Eleanor ihre Ansichten gegenüber Juden später erheblich. Siehe Goodwin, No Ordinary Time, S. 102; Smith, FDR, S. 148. Ich würde behaupten, dass sie sich sehr viel stärker änderte als Roosevelt selbst. Tatsächlich wurde sie, so gut wie jeder in der Regierung, zur leidenschaftlichen Unterstützerin der Juden in ihrer Zeit der Not. 34 Ward, First-Class Temperament, S. 159; Frances Perkins: The Roosevelt I knew (Penguin Classics, 2011), S. 9; Brands, Traitor to His Class, S. 54 f. Dies war ein bei Roosevelt seltener Moment der Selbstreflexion. 35 Sogar hier kann man Roosevelts pragmatische Wurzeln erkennen; er war ebenso sehr Politiker wie leidenschaftlicher Ideologe. Ward, First-Class Temperament, S. 162. 36 Es sei erwähnt, dass auch Eleanor erkrankte. Ward, First-Class Temperament, S. 188. Eleanor führte die Erkrankung auf schmutziges Wasser zurück, mit dem sie und Franklin sich auf der Rückkehr von Campobello Island die Zähne geputzt hatten. Bezeichnenderweise erholte sie sich sehr schnell, während er schon hier eine schwächere Konstitution erkennen ließ. 37 Siehe Ward, First-Class Temperament, S. 196–199. Howe bemerkte einmal: „Ich werde von allen gehasst. […] Und ich will von allen gehasst werden.“ Das einzige, was für ihn zähle, sei der schwache Kandidat, der seine Hilfe wolle, S. 196. Zu weiteren Informationen über Louis Howe, der eine zentrale und faszinierende Figur in Roosevelts Leben war, siehe Goodwin, No Ordinary Time, S. 20, 90 f., 588 f.; Brands, Traitor to His Class, S. 69 ff.; Meacham, Franklin and Winston, S. 26, 29. Aber Howe, dieser hässliche, exzentrische, kleine Mann voller Eigenarten, war auch ein Genie, in mancher Hinsicht ein Vorläufer des heutigen Politikberaters James Carville. Howe und Roosevelt waren während der nächsten 23 Jahre unzertrennlich. Siehe auch James MacGregor Burns: The Lion and the Fox (Harcourt, Brace, 1956), S. 45. Als Roosevelt 1933 ins Weiße Haus einzog, wurde Howe sein Sekretär – was dem heutigen Stabschef entsprach –, und er wich Roosevelt nicht von der Seite, bis er im April 1936 starb. 38 Walton Chronicle, 23. September 1914; Roosevelt an Langdon P. Marvin, 19. Oktober 1914; siehe auch Smith, FDR, S. 123 ff., worauf sich dieser Abschnitt im Wesentlichen stützt. 39 Siehe Roosevelt an Navy League Convention, 13. April 1916; siehe auch Smith, FDR, S. 132 ff. 40 Für das Zitat und zu Lucy Mercer siehe Michael Teague: Mrs. L. Conversations with Alice Roosevelt Longworth (Doubleday, 1981), S. 157 f.; siehe auch Smith, FDR, S. 153. Elliott Roosevelt, An Untold Story, S. 82, beschrieb „einen Hauch von Feuer“ in Lucys Augen. Teague wiederum charakterisiert das Verhältnis so: „Einsamer Junge trifft Mädchen.“ 41 Smith, FDR, S. 158. Erwähnenswert ist, dass Roosevelt mit 31 Jahren der jüngste Staatssekretär seit 1860 war. 42 Hierzu und zu Roosevelts Reiseverlauf, Smith, FDR, S. 158. 43 Ward, First-Class Temperament, S. 392 f., 401 f.; Smith, FDR, S. 58 f.

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Anmerkungen 44 E leanor an Joseph Lasch, 25. Oktober 1943, zit. aus Lasch, Eleanor and Franklin. The Story of Their Relationship (Norton, 1971), S.  220. Für eine besonders anschauliche Darstellung, wie Roosevelt an Lungenentzündung erkrankte und seiner gesundheitlichen Probleme allgemein, siehe Ward, First-Class Temperament, S. 408, 410 ff. Siehe auch Smith, FDR, S. 159f. 45 Ich stütze mich hier besonders auf Smith, FDR, S.  165–187; Ward, First-Class Temperament, S. 417–423; Goodwin, No Ordinary Time, S. 16, 20. Über Theodore Roosevelt bemerkte Franklin: „Ich behaupte nicht, zu wissen, was Theodore Roosevelt sage würde, wenn er heute lebte, aber ich kann nicht umhin zu denken, dass der Mann, der das Wort ‚pussy footer‘ [Leisetreter] erfunden hat, der Versuchung nicht widerstehen könnte, es auf Mister Harding anzuwenden“, Roosevelt-Rede in Waukegan, Illinois, 12. August 1920, FDRL. Was Roosevelts Redestil angeht, so war er noch nicht legendär oder geschliffen. Eleanor merkte an: „Es wird langsam unmöglich, F. zu stoppen, wenn er einmal anfängt zu reden. Aus zehn Minuten werden immer 20, aus 30 immer 45, und die abendlichen Reden dauern jetzt zwei Stunden!“ Eleanor an Sara Roosevelt, 19. Oktober 1920, FDRL. 46 Dieser Abschnitt stützt sich im Wesentlichen auf Smith, FDR, S. 188–198; Goodwin, No Ordinary Time, S. 16 f.; Brands, Traitor to His Class, S. 69 ff.; Goodwins Darstellung ist ziemlich ergreifend. Die gründlichste und überzeugendste Darstellung ist Ward, First-Class Temperament, S. 584–598. Anna versteckte sich Wandschrank, um Dr. Lovetts Erklärungen zu lauschen, und erfuhr daher, was mit ihrem Vater nicht stimmte, bevor er selbst es wusste: John W. Boettiger, A Love in Shadow (Norton, 1978), S. 88. In späteren Jahren erinnerten sich mehrere der Kinder, dass sie Schnupfen gehabt hatten wie Franklin, und konnten den Gedanken nicht abschütteln, dass auch sie unter Polio litten, aber in seiner schwächsten Form. Ward, First-Class Temperament, S. 590, behauptet, dass Grace Howe möglicherweise leicht betroffen war. Es wurden auch drastische Maßnahmen erwogen. Doktor Samuel A. Levine aus Boston glaubte, dass binnen 24 Stunden eine Spinalpunktion vorgenommen werden müsse, um den Druck auf die Wirbelsäule zu lindern. Bei diesem Eingriff wäre sofort Fieber aufgetreten; am Ende wurde er nie durchgeführt. 47 Siehe Smith, FDR, S. 210–227, auf den ich mich hier stütze. 48 Zur Großen Depression siehe David Kennedy: Freedom from Fear. The American People in Depression and War, 1929– 1941 (Oxford University Press, 2001). Außerdem Robert S. McElvaine: The Great Depression. America 1929–1941 (Times Books, 1993); und T. H. Watkins: The Great Depression. America in the 1930s (Little, Brown, 1993). 49 Was Roosevelts Wahl betrifft, stütze ich mich auf Smith, FDR, S. 249–287. Für weitere Informationen zu Roosevelts überwältigendem Wahlsieg siehe Goodwin, No Ordinary Time, S. 100, 110, 115; Brands, Traitor to His Class, S. 264 f. 50 Arthur Schlesinger: The Politics of Upheaval. 1935–1936. Bd. 3: The Age of Roosevelt (Mariner, 2003), S. 3. 51 Francis Beverley Biddle war Richter in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg der US-amerikanische Hauptrichter bei den Nürnberger Prozessen. Goodwin, No Ordinary Time, S. 204. 52 Brands, Traitor to His Class, S. 561 f. Was Roosevelts Umgang mit dem Pressekorps betrifft, so hielt er in seiner ersten Amtszeit 337 Pressekonferenzen ab, gewöhnlich mittwochs um zehn Uhr morgens und freitags um vier Uhr nachmittags. Redakteure konnten den Präsidenten gesondert sprechen. Siehe Frank Freidel: Franklin D. Roosevelt. Launching the New Deal (Little, Brown, 1973), Anm. 224. 53 Bohlen, Witness to History, Anm. 210. Bohlen sagt weiter, Roosevelt sei der Ansicht gewesen, der einzig sinnvolle Umgang mit dem Senat sei ihn komplett zu umgehen. Außerdem behauptet er zutreffend, dass Roosevelt das Protokoll verachtete. Eine überraschende Feststellung von Bohlen ist, Roosevelt sei kein „liebenswerter Mensch“ gewesen. Er sei lediglich kraft seiner Stel-

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lung beliebt gewesen, argumentiert Bohlen. Schließlich behauptet er noch, dass Roosevelt seine außenpolitischen Aufgaben „recht gut“ erledigt habe. Schlesinger, The Politics of Upheaval, S. 67. Seiner intuitiven Einsicht in die enorme Tragweite der Bedrohung durch Hitler verleiht Roosevelt hier beredt Ausdruck. Ray Tucker: „Ickes – and No Fooling“, in: Collier’s, 30.  September 1933; Smith, FDR, S.  332. Siehe auch Jonathan Alter: The Defining Moment. FDR’s Hundred Days and the Triumph of Hope (Simon & Schuster, 2006). Zu diesem Schlüsselereignis siehe Smith, FDR, S. 434. Rundfunkansprache am 26. Oktober 1939; siehe auch Smith, FDR, S. 440. Siehe auch Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie (Frankfurt am Main / Berlin / Wien, 1973), S. 778. Protokoll einer Besprechung mit dem Senate Military Affairs Committee, 31.  Januar 1939, Art.  1565, 8; Donald B.  Schewe (Hrsg.): Franklin D.  Roosevelt on Foreign Affairs (New York: Garland, 1979). Siehe auch Smith, FDR, S. 431. Roosevelts Worte fanden den begeisterten Beifall der anwesenden Senatoren. Aus 8 Public Papers and Addresses (Random House, Macmillan, Harper and Brothers, 1933–58), S. 460–464. Ebenfalls zu finden in Smith, FDR, S. 436. Cordell Hull lehnte die Erklärung entschieden ab, die sich auch als stillschweigende Zurückweisung der Behauptung Woodrow Wilsons bewahrheitete, diese Nation bliebe „tatsächlich wie auf dem Papier neutral“. Botschaft an den Kongress, 21. September 1939, 8 Public Papers and Addresses, S. 512–522. Siehe auch Joseph Alsop und Robert Kintner: American White Paper (New York: Simon & Schuster, 1940), S. 73 ff; Smith, FDR, S. 438. Roosevelt an Lord Tweedsmuir, 5. Oktober 1939, in: FDR. His Personal Letters, hrsg. von Elliott Roosevelt, 4 Bde. (Ovoll, Sloan & Pearce, 1947–50) hier Bd. 2, S. 934; Smith, FDR, S. 439. Smith, FDR, S. 445–446. McIntire wurde für die Dauer des Krieges ein strenger Beobachter der Gesundheit Roosevelts. Churchill sprudelte ständig vor Ideen über, manche waren überaus praktikabel, manche nicht. Siehe Meacham, Franklin and Winston, S. 10 ff. Siehe auch zwei wunderbare Biografien: Martin Gilbert: Churchill. A Life (Holt, 1992) und William Manchester: Winston Churchill. Allein gegen Hitler. 1932–1940, München 1990; vgl. auch die Website der BBC zu Dünkirchen: (letzter Zugriff: Oktober 2016) Zur deutschen Perspektive, vor allem nach Dünkirchen, siehe das maßgebliche Werk von Ian Kershaw: Hitler 1889–1945, München 32009, S. 602–605; Smith, FDR, S. 444–448. Interessant ist, dass der kürzlich verstorbene Historiker Stephen Ambrose das interessante Argument vorbrachte, Roosevelt hätte schon früher sehr viel energischer hätte intervenieren müssen. Diese Debatte wird nach wie vor äußerst kontrovers geführt. Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Bd. 2: Englands grösste Stunde. Zweites Buch: Allein, S. 76. Zur mangelnden Bereitschaft der Vereinigten Staaten und zur Unzulänglichkeit der US-Truppen siehe Goodwin, No Ordinary Time, S. 143; Smith, FDR, S. 428. Zu dieser Tour durch Paris und der gespenstischen Szene im Invalidendom siehe vor allem Kershaw, Hitler, S. 607. Auf YouTube gibt es zudem Filmaufnahmen davon, wie deutsche Truppen durch Paris marschieren und Hitler triumphiert. Kershaw, Hitler, S. 608. Ebd. Der General war Wilhelm Keitel. Wie sehr seine Generäle von Hitler fasziniert waren, ist kaum zu überschätzen. Ich stütze mich hier stark auf Kershaw, Hitler, S. 611 f.

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Anmerkungen 72 F ür einen Überblick siehe Stephen Ambrose und C. L. Sulzberger: The American Heritage New History of WWII (Viking Adult Press, 1997), S. 84, 87, 94 f. Zur Luftschlacht um England siehe Miller, Masters of the Air, insb. S. 1–24. 73 Zitat aus Murrows Sendungen beim US-amerikanischen Sender Columbia Broadcasting System während des „Blitz“; abgedruckt in Ambrose, American Heritage, S. 94. 74 Was die Kritik an Roosevelt betrifft, folge ich hier MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 388; ich denke, er macht seine Sache ganz gut. 75 Ebd., S. 335, 388. Dieser Abschnitt orientiert sich eng an MacGregor Burns, der vermerkt, es habe 1943 in den USA jede Woche eine neue Krise gegeben – Ausstände bei den Eisenbahnern, wilde Streiks, Bergarbeiterstreiks etc. Siehe auch Goodwin, No Ordinary Time, der über dieselben Ereignisse berichtet und dabei besonders auf die Hindernisse im Innern abhebt, vor denen Roosevelt stand. 76 Dieses anschauliche Zitat stammt von dem Republikaner William Allen White aus Kansas, zit. in MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 331. 77 Zu Roosevelts Regierungsstil siehe Robert Dallek: Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932–1945 (Oxford University Press, 1979); MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 351. 78 Schlesinger, Politics of Upheaval, S. 8, 91. 79 MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S.  249; und zur Einweihung des Jefferson Memorials S. 356 f. 80 Robert Rosen: Saving the Jews. Franklin D. Roosevelt and the Holocaust (Basic Books, 2007), S. 434 f. 81 Ich folge hier MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 254. Zu Camp David siehe insb. Goodwin, No Ordinary Time, S. 385 f. 82 Zitat aus Schlesinger, The Politics of Upheaval, S. 637. Die Madison Square Garden-Rede ist auf YouTube zu sehen. 83 Schlesinger, The Politics of Upheaval, S. 511, 553, 650. Diese Äußerung steht für eine Debatte, die bis heute noch nicht entschieden ist. 84 Zu Roosevelt und Teheran vgl. grundsätzlich Bohlen, Witness to History, S.  138–142; Dallek, Roosevelt and American Foreign Policy, S.  429–442; Brands, Traitor to His Class, S.  546–556; Goodwin, No Ordinary Time, S. 471–478; Meacham, Franklin and Winston, S. 248–266. 85 Siehe Brands, Traitor to His Class, S. 552. Bohlens Beobachtung, dass er auf diesem Gipfel härter arbeitete als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seiner Karriere, lässt auf die Intensität des Treffens schließen. Brands, S. 552, bemerkt über den mangelnden Fortschritt, dass er eine persönliche Beziehung zwischen den beiden Führern gefestigt habe. 86 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 33; Bohlen, Witness to History, S. 141 f.; Brands, Traitor to His Class, S. 549. Bohlen fiel auf, dass Stalin erstaunlich leise sprach und stets genau die richtigen Worte wählte. 87 Churchill: Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 34. 88 Zit. nach Simon Sebag Montefiore: Stalin. Am Hof des roten Zaren (Frankfurt am Main, 2005), S. 532. 89 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 36. 90 Zu dieser Episode siehe etwa Averell Harriman und Elie Abel: Special Envoy to Churchill and Stalin, 1941–1946 (Random House, 1975), S. 267; Brands, Traitor to His Class, S. 549; und Meacham, Franklin and Winston, S. 251. 91 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 45. 92 Reilly, Reilly of the White House, S. 150, 180. 93 Ebd., S. 180; Bohlen, Witness to History, S. 143; Meacham, Franklin and Winston, S. 145. 94 Zit. nach Sebag Montefiore, Stalin, S. 533. 95 Bohlen, Witness to History, S. 143; Meacham, Franklin and Winston, S. 252 ff.; Brands, Traitor to His Class, S. 551.

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Anmerkungen 96 D ie leiseste Kritik an Stalins Regime galt als Vergehen gegen den Staat, und er selbst murmelte einmal: „Wer wird sich in zehn oder zwanzig Jahren noch an all diese Schufte erinnern? Niemand.“ 97 Wegen einer falschen Übersetzung dachte Stalin, Roosevelt redete über die baltischen Staaten, nicht über die Ostsee. 98 Roosevelts kleiner Schwächeanfall findet sich in Bohlen, Witness to History, S. 143 f.; und Meacham, Franklin and Winston, S. 254. 99 Siehe Bohlen, Witness to History, S. 144 f. 100 Mehr denn je kämpfen die drei Staatsführer hier um Einfluss. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 36–41. 101 Zit. nach Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 53. 102 Dieses und das folgende Zitat aus Sebag Montefiore, Stalin, S. 535. 103 Zit. nach Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 62. 104 Bohlen, Witness to History, S. 146; Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 62 ff. 105 Reilly, Reilly of the White House, S.  181; Bohlen, Witness to History, S.  146  f.; Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 63. 106 Beide Zitate aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 63. Siehe auch Bohlen, Witness to History, S. 146–157; Brands, Traitor to His Class, 553; Meacham, Franklin and Winston, S. 258–261. 107 Zit. aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 73. 108 Zu dieser reizenden Episode siehe Sarah Churchill, A Thread in the Tapestry, S. 66. 109 Zit. aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 5/2, S. 76. 110 Roosevelts Bemühungen, Stalin für sich einzunehmen, finden sich in zwei Quellen, auf die ich mich vor allem stütze: Meacham, Franklin and Winston, S. 264 f., 258; und Brands, Traitor to His Class, S. 552 f. 111 Auch MacGregor Burns betont dies, in Soldier of Freedom. 112 Zur bedeutsamen und anscheinend in der letzten Sekunde getroffenen Entscheidung für Eisenhower, siehe auch Michael Korda: „An Interview with George C.  Marshall“, Forrest C.  Pogue, 5. Oktober 1956 (Marshall-Akten, George C. Marshall Research Library, Virginia Military Institute, Lexington); und Mark Perry: Partners in Command (Penguin, 2007), S. 238 ff. Roosevelt betonte, dass Marshall „Anspruch auf seinen Platz in der Geschichte“ habe: Robert Sherwood: Roosevelt and Hopkins. An Intimate History (Enigma, 2008), S. 770. Letztendlich war Marshall ein Opfer komplizierter Winkelzüge innerhalb der militärischen Befehlsstruktur, daheim wie bei den Alliierten. Wie Perry betont, kam Roosevelt, der hoffte, Marshall würde selbst verzichten, nur langsam davon ab, ihn zu ernennen. Aber Marshall, der den Oberbefehl unbedingt wollte, druckste herum und zwang damit Roosevelt bei einem der sicher „unangenehmsten Treffen“ in der Geschichte der Beziehungen zwischen zivilem und militärischem Sektor in den USA, die Entscheidung zu fällen (vgl. Perry, S. 240). 113 Brands, Traitor to His Class, S. 580. 114 Siehe dazu auch Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, München 1982, S. 203.

Kapitel 2 1 Antony Shaw: World War II. Day by Day (Chartwell, 2010), 133; The Suction Pump, 8. März 1944, PPA 1944–1945, S. 99 f. Siehe auch MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom (Harcourt, 1970), S. 438. Etwa um diese Zeit erholte sich Churchill von einer Lungenentzündung, gegen die ihm Antibiotika und Digitalis verschrieben worden waren. 2 Aus Edward R. Murrow: In Search of Light The Broadcasts of Edward R. Murrow 1938–1961, hrsg. von Edward Bliss Jr. (Knopf, 1967), S. 90–95. Das Zitat stammt aus seiner unvergesslichen

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Sendung vom 15. April 1945 aus Buchenwald, wieder abgedruckt in Robert Abzug: American Views of the Holocaust, 1933–1945. A Brief Documentary History (St. Martin’s, 1999), S. 202. Siehe insb. MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 438 f., woraus ich den Ausdruck „die reine Hölle für einen Soldaten“ (im Original „soldier’s hell“, Anm. des Übersetzers) entlehnt habe; W. G. F. Jackson: The Battle for Italy (Harper, 1967), S. 182–201; Ambrose, American Heritage, S. 359. Rick Atkinson: The Day of Battle. The War in Sicily and Italy, 1943–1944 (Holt, 2008) liefert eine hervorragende Darstellung der Hindernisse, denen sich die GIs beim Italienfeldzug gegenübersahen und weswegen sie stecken blieben. Siehe auch Mark Perry: Partners in Command (Penguin, 2007), S. 272–278. Ambrose, American Heritage, S. 365. Das Material zum Hintergrund der Invasion ist äußerst umfangreich, und ich habe reichlich Gebrauch davon gemacht. Siehe z.B. Perry, Partners in Command, S. 268–272, 277–298; Roland Ruppenthal: Logistical Support of the Armies. Bd. 1: The European Theatre of Operations (Office of the Chief of Military History, 1953); Forrest Pogue: D-Day. The Normandy Invasion in Retrospect (University of Kansas Press, 1971); B. H. Liddell Hart: The Rommel Papers (Harcourt, Brace, 1953), S. 465; Cornelius Ryan: Der längste Tag. Normandie, 6. Juni 1944, München 1998; Samuel Eliot Morison, The Invasion of France and Germany 1944–1945 (Little, Brown, 1959); MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 473. Stephen Ambrose: The Supreme Commander. The War Years of Dwight Eisenhower (Anchor, 2012) liefert einen komprimierten Überblick ebenso Ambrose, American Heritage, auf die ich mich beide stark stütze. Zu weiteren Informationen über die umfangreichen Vorbereitungen siehe z.B. Ambrose, Supreme Commander, S. 412 f.; siehe auch Max Hastings: Unternehmen Overlord. D-day und die Invasion in der Normandie 1944, Wien / München 1985, Kap. 17. In Großbritannien kursierte ein Witz, dass die Amerikaner so viele Männer und so viel Material herüberschickten, dass die Insel, gäbe es die Sperrballons nicht, im Meer versinken würde. Ambrose, American Heritage, S. 413, 465. Zu diesen wunderbaren Details, wie dem grünen und dem roten Telefon, siehe MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 474. Ambrose, The Supreme Commander, S. 431; siehe auch Stephen Ambrose: D-Day. June 6, 1944 – The Battle for Normandy Beaches (Pocket Books, 2002), S. 68. Erwin Rommel / The Rommel Papers, hrsg. von B. H. Liddell Hart (Harcourt, Brace, 1953); Ambrose, D-Day, S. 41, 588; Morison, The Invasion, S. 152–53. Zu den alliierten Landungsfahrzeugen siehe Gordon Harrison: Cross Channel Attack (Department of the Army, 1951), S. 59–63. In diesem Abschnitt stütze ich mich besonders auf Ambrose, American Heritage, S.  465. Zu weiteren Informationen über den Atlantikwall siehe J. E. Kaufmann und H. W. Kaufmann: Fortress Third Reich. German Fortifications and Defense Systems in World War II (Da Capo, 2007), S. 194–223; und Alan Wilt: The Atlantic Wall. Hitler’s Defenses in the West, 1941–1944 (Enigma, 2004). Dass Hitler später die Panzer nicht einsetzte, gehört zusammen mit der Eröffnung einer zweiten Front gegen die Sowjetunion und der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten zu seinen schwersten Fehlentscheidungen. (letzter Zugriff: Oktober 2016). Siehe auch Ambrose, American Heritage, S. 461–66. Time, 29. Mai 1944, S. 18; Tully, FDR, My Boss, S. 274; William Hassett: Off the Record with FDR (Rutgers University Press, 1958), S. 239. Einen hervorragenden Überblick bieten Goodwin, No Ordinary Time, S. 491 f.; Brands, Traitor to His Class, S. 581–584. Siehe hierzu die wunderbare Dokumentation von David Grubin, FDR, auf American Experience, PBS, 1994. New York Times, 26. März 1944, S. 35; Hassett, Off the Record, S. 239; Goodwin, No Ordinary Time, S. 492; Brands, Traitor to His Class, S. 579; Atkinson, The Day of Battle, S. 20.

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Anmerkungen 16 M an kann das Ausmaß, in dem Roosevelts Gesundheit in dieser Zeit beeinträchtigt war, schwerlich übertreiben. Von Historikern ist dieser Umstand zu oft übersehen oder bagatellisiert worden. Doch es gab einige zeitgenössische Berichte, die seine Gesundheit anzweifelten, und heute existiert eine kritische Literatur zu dem Thema. Siehe Stephen Lomazow und Eric Fettmann: FDR’s Deadly Secret (Public Affairs, 2009). Zu weiteren Details über Roosevelts Gesundheit siehe James MacGregor Burns: „FDR. The Untold Story of His Last Year“, Saturday Review, 11. April 1970; „Did the US Elect a Dying President? The Inside Facts of the Final Weeks of FDR“, in: U.S. News and World Report, 23.  März 1951; George Creel: „The President’s Health“, in: Collier’s, 3.  März 1945; Karl C. Wold: „The Truth About FDR’s Health“, in: Look, 15. Februar 1949; Noah Frapericant: „Franklin D. Roosevelt’s Nose and Throat Ailments“, in: Eye, Ear, Nose and Throat Monthly, Februar 1957, S. 103–106; Rudolph Marx: „FDR: A Medical History“, in: Today’s Health, April 1961, S. 54; Richard Norton Smith: „‚The President Is Fine‘ and Other Historical Lies“, in: Columbia Journalism Review, September/Oktober 2001. 17 Siehe Jim Bishop: FDR’s Last Year (Morrow, 1974), S. 4; Smith, FDR, S. 603. Sehr gut in diesem Kontext ist der Berater des Weißen Hauses, Hassett, Off the Record, S. 231, 233, 239–241. Bezeichnenderweise hatte Roosevelts Blutdruck im Juli 1935 noch 136 zu 75 betragen, im 27. März 1944 war er mit 186 zu 108 sehr hoch. 18 Hierzu und für das Folgende siehe Goodwin, No Ordinary Time, S. 494 f., basierend auf ihrem Interview mit Bruenn. Zu weiteren Informationen über McIntire, der eine zentrale Rolle im Drama um Roosevelt spielte und der oft mit Dr. Bruenn aneinandergeriet, siehe Robert H. Farrell: The Dying President. Franklin Roosevelt (Missouri, 1978). 19 Für mehr Informationen siehe Howard Bruenn: „Examination Revealed”, Annals of Internal Medicine (April 1970), S. 580 f. 20 Goodwin, No Ordinary Time, S. 494; Smith, FDR, S. 604; Lomazow und Fettman, FDR’s Deadly Secret, S. 101. 21 Hierzu und zu den folgenden Abschnitten siehe Atkinson, The Day of Battle, S. 308; Goodwin, No Ordinary Time, S. 495, 496; Smith, FDR, S. 603. Erwähnenswert ist, dass Goodwin Bruenn zu Digitalis interviewte, das von manchen für ein Wundermittel gehalten wurde, aber ernste Nebenwirkungen haben konnte. Zum Vergleich: Als Churchill Lungenentzündung hatte, machte er ebenfalls eine Digitalis-Kur. Lomazow und Fettman erörtern lang und breit sowohl die Talgzyste des Präsidenten als auch die Tatsache, dass er eine Prostatauntersuchung hatte und dass Digitalis gegen die Herzinsuffizienz eingesetzt wurde, in FDR’s Deadly Secret, S. 103–104. Bruenn wusste vorher nicht genau, dass er Roosevelt tatsächlich behandeln würde, und anfangs händigte man ihm die Patientenakte des Präsidenten nicht aus. 22 Smith, FDR, S. 603–05; Goodwin, No Ordinary Time, S. 497. Smith und Goodwin nennen zwei unterschiedliche Daten. Korrekt ist der 3. April. 23 Siehe Brands, Traitor to His Class, S. 581; Dallek, Roosevelt and American Foreign Policy, S. 442. Lomazow und Fettman glauben jedoch, dass Roosevelt über seinen Zustand vollständig in Kenntnis gesetzt wurde und dass er sich insgeheim Sorgen darüber machte: FDR’s Deadly Secret, S. 104 f. 24 In April 1865 betone ich dies in Bezug auf Anführer, die im Amerikanischen Bürgerkrieg einen Weg finden mussten. Siehe auch Atkinson, Day of Battle, S. 22. 25 Siehe insb. „President Returns from Month’s Rest on Baruch Estate,” New York Times, 8. Mai 1944, A1. Siehe auch Lee Brockington: Plantation Between the Waters. A Brief History of Hobcaw Barony (History Press, 2006), S. 95; Bernard Baruch: Baruch. The Public Years (Pocket Books, 1962) S. 335–337; und Goodwin, No Ordinary Time, S. 497. 26 Meine Darstellung von Auschwitz – des Ortes und seiner Geschichte – orientiert sich weitgehend an Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 32015, S. 21 ff. und 77 ff. Für jeden Leser eine unschätzbare Erfahrung ist eine Reise nach Auschwitz selbst, ein

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Besuch im Holocaust-Museum in Washington, D.C., und in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Steinbacher, Auschwitz, S. 21. Die Literatur über den berüchtigten Selektionsprozess ist immens. Zur Lektüre empfohlen: Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, Freiburg im Brsg. 52013; Wiesel schildert den Prozess anschaulich aus eigener Erfahrung; Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, München / Wien 1988, S. 28, und für die Zugfahrt nach Auschwitz S. 25 ff. Wiesel, Die Nacht, S. 52. Ich stütze mich hier u.a. auf Peter Hellman: The Auschwitz Album. A Book Based upon an Album Discovered by a Concentration Camp Survivor, Lili Meier (Random House, 1981), S. 166. Siehe auch Steinbacher, Auschwitz (insb. zum Thema Ausplünderung S. 82 ff.); Robert-Jan van Pelt und Debórah Dwork: Auschwitz. Von 1270 bis heute, Zürich / München 1998; Otto Friedrich: Königreich Auschwitz, Hamburg 1995; Yisrael Gutman und Michael Berenbaum: Anatomy of the Auschwitz Death Camp (Indiana University Press, 1998); Rudolf Höss: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höss, hrsg. von Martin Broszat, München 1963; Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990; Laurence Rees: Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens, München 2007. Vgl. (letzter Zugriff: Oktober 2016). Steinbacher, Auschwitz, S. 80. Zit. aus Friedrich, Königreich Auschwitz, S. 100. Gespräch von Germar Rudolf mit Dr. Hans Münch in seinem Haus, Forggenseestr. 27, 87672 Roßhaupten, am 15. Juni 1995, (letzter Zugriff: Oktober 2016). Zu den Sonderkommandos, deren Angehörige in doppeltem Sinne Sklaven waren und auf schrecklichste Weise mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiten mussten, wollten sie nicht auf der Stelle sterben, siehe Shlomo Venezia in Zusammenarbeit mit Béatrice Prasquier: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz. Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden, München 2008; Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz, Frankfurt am Main 2010. Van Pelt und Dwork, Auschwitz, S. 197 f.

Kapitel 3 1 Elliott Roosevelt: As He Saw It (Duell, Sloane and Pierce, 1946), S. 370; Robert Dallek: Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932–1945 (Oxford University Press, 1979), S. 442. 2 Dieser Abschnitt profitiert außerordentlich von dem sogenannten „Auschwitz-Album“, zwei Fotoalben mit Originalfotografien aus dem Konzentrationslager Auschwitz, von denen sich eines, das 116 Aufnahmen des zur Wachmannschaft des Lagers gehörenden SS-Obersturmführers Karl Höcker enthält, heute im Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., befindet (letzter Zugriff: November 2016). Die Fotos gehören zu den bedeutenden Funden der Holocaust-Forschung und sind wichtig für das Verständnis der Mentalität der nationalsozialistischen Lagerleitung in Auschwitz. Des Weiteren stützt sich dieser Abschnitt auf Jennifer Geddes: „Blueberries, Accordions, and Auschwitz“, in: Culture (Institute for Advanced Studies in Culture, 2008), S. 2–5. 3 Die Fotografien dieser Nazis auf Urlaub sind deshalb so bedrückend, weil sie diese Deutschen als liebevolle, normale Leute zeigen, als „gute Nachbarn von nebenan“. 4 In den deutschen begleitenden Vermerken zu diesen Fotografien werden die für den Tod von Nationalsozialisten verantwortlichen Alliierten als „Terroristen“ bezeichnet.

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Zu den entsetzlichen Bedingungen in Auschwitz und den anderen Lagern siehe Jan Karski: „Polish Death Camps“, in: Collier’s (14. Oktober 1944), S. 18 f., 60 f. – Karskis Beobachtungen sind besonders prägnant, weil er Augenzeuge in einem der Lager war; Robert Abzug: America Views the Holocaust, 1933–1945. A Brief Documentary History (St. Martin’s, 1999); Yisrael Gutman und Michael Berenbaum: Anatomy of the Auschwitz Death Camp (Indian University Press, 1998); RobertJan van Pelt und Debórah Dwork: Auschwitz. Von 1270 bis heute, Zürich / München 1998; Christopher Browning: Remembering Survival. Inside a Nazi Slave Labor Camp (Norton, 2011); Otto Friedrich: Königreich Auschwitz, Hamburg 1995; Olga Lengyel: Five Chimneys. The Story of Auschwitz (Chicago Review Press, 1995); Flip Mueller: Eyewitness Auschwitz. Three Years in the Gas Chambers (Ivan R. Dee, 1999); Steve Hochstadt: Sources of the Holocaust. Documents in History (Palgrave Macmillan, 2004). Grundlage für dieses Kapitel sind die bemerkenswerten Erinnerungen von Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz, Frankfurt am Main 2010. Um der Authentizität willen habe ich mich bemüht, sein Wortwahl und Stimme zu bewahren. Es war Vrba, der die Peitsche, mit der Häftlinge geschlagen wurden, „Katze“ nannte. Siehe auch Steinbacher, Auschwitz. Interview des Autors mit Hans Münch, Moment Magazine, Oktober 1998. Zu dieser Silvesterfeier in Auschwitz, dem Abendessen und den anderen Punkten des Unterhaltungsprogramms siehe die Studie von Steinbacher, Auschwitz, S. 60 f., auch S. 36, auf die ich mich hier weitgehend stütze. Vgl. (letzter Zugriff: Oktober 2016). Kershaw, Hitler, S. 750–757. Wie so viele andere Prophezeiungen der Nationalsozialisten erwies sich natürlich auch diese als falsch; sie war ein Beweis für den Größenwahn, die Täuschungen und die Hybris der NS-Machthaber. Sie glaubten, die Geschichte würde sie rechtfertigen. Siehe auch Michael Kimmelman: „50 Years After Trial Eichmann Secrets Live On“, in: New York Times, 9. Mai 2011. Kershaw, Hitler, S. 754. Zum Hintergrund siehe Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben, S. 41–45. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 56–63. Ebd., S. 137. Ebd., S. 206. Ebd., S. 299. Ebd., S. 230. Ebd., S. 240. Ebd., S. 253. Ebd., S. 305. Dieser Abschnitt über die Juden aus Theresienstadt orientiert sich eng an Martin Gilberts erschütternder Darstellung Auschwitz und die Alliierten, München 1982, S.  211  f., siehe auch S. 199. Am 30. Juli 1980 gab Vrba Gilbert in einem Brief weitere Informationen. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 227. Siehe ebd., S. 212; O. Kraus und E. Kulka: The Death Factory (Oxford University Press, 1966), S.  172  ff.; Erich Kulka: Utek z tabora smrti (Howard Fertig, 2013), S.  69–71; Yuri Suhl: They Fought Back. The Story of Jewish Resistance in Nazi Europe (London, 1968), S. 244; Jadwiga Bezwinska, Danuta Czech und Krystyna Michalik (Hrsg.): Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, 2., neu bearb. Aufl., Oświęcim 1996. Diese (weiter oben bereits angeführten) 21 Seiten umfassenden und im Original jiddischen Handschriften, geschrieben mit schwarzer Tinte, wurden 1952 am Standort von Krematorium III entdeckt. Die Verfasser sind unbekannt, und der letzte Eintrag datiert vom 26. November 1944.

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Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 331. Zit. aus ebd., S. 332. Ebd., S. 333. Zit. aus ebd., S. 335. Ebd., S. 336. Ebd., S. 339. Ebd., S. 343. Ebd., S. 348. Ebd., S. 351–360. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 227. Tragischerweise erkannte weder die britische noch die amerikanische Aufklärung die Bedeutung der Fotografien. Ich stütze mich hier stark auf „Interpretation Report D.377A“ vom 18. April 1944, „Locality Oswiecim (Auschwitz): Synthetic Rubber and Synthetic Oil Plant“, United States Strategic Bombing Survey, Record Group 243; auf die dramatischen Berichte und Noten in Gilbert, Auschwitz und die Allierten, S. 206–211; und auf Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 388. Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 383. Zu den patrouillierenden Hunden siehe Himmlers Brief vom 8. Februar 1943, in Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, drei Bde., Frankfurt am Main 1990, Bd. 2, S. 979. Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 385. Ebd., S. 386. Ebd., S. 387. Zur Deportation der Juden aus Majdanek nach Auschwitz siehe vor allem Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 237. Die Deutschen hatte diese Opfer an einem einzigen Tag, dem 3. November 1943, im Rahmen der von Heinrich Himmler nach dem Aufstand im Vernichtungslager Sobibór angeordneten „Aktion Erntefest“ in den Wäldern mit Maschinengewehren niedergemäht. Ebd., S. 186 f. Friedrich Hartjenstein war Leiter des Wachsturmbanns und Lagerkommandant von AuschwitzBirkenau von 22. November 1943 bis Mai 1944. Ebd., S. 232. Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 389 f. Ebd., S. 390.

Kapitel 4 1 Siehe Bernard Baruch: Baruch. The Public Years (Holt, Rinehart and Winston, 1960), S. 335 ff.; Lee Brockington: Plantation Between the Waters. A Brief History of Hobcaw Barony (History Press, 2006); Belle W. Baruch Foundation-Website; Mary Miller: Baroness of Hobcaw. The Life of Belle W. Baruch (University of South Carolina Press, 2010). 2 Michael F. Reilly: Reilly of the White House (Simon & Schuster, 1947), S. 16. Siehe auch A. Merriman Smith: Thank You, Mister President. A White House Notebook (Harper, 1946), S. 139. 3 FDRL-Video 135, ein Stummfilm über Roosevelts Aufenthalt in Hobcaw Barony, ist auf YouTube anzusehen. Dieses Video zeigt Roosevelts Gefolge, das großartige Anwesen Hobcaw, die im Wind flatternde amerikanische Flagge, Fala, der mit einer schwarzen Katze herumtollt, und gegen Ende Roosevelt, wie er von Bernard Baruchs Boot aus angelt (letzter Zugriff: November 2016). 4 Aus Doris Kearns Goodwins Interview mit Dr. Bruenn in No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994). Man kann sich fragen, ob McIntire nachlässig war, weil er nicht offener mit Roosevelt über seinen Zustand sprach. Interessant ist, dass Dr. Hugh E. Evans betont, dass Krankheiten zur damaligen Zeit nicht „mit Patienten erörtert“ wurden. Er fügt hinzu: „Die gesundheitlichen

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Belange des Präsidenten galten als vertraulich, über sie wurde selten offen oder mit klinischen Details berichtet.” The Hidden Campaign: FDR’s Health in the 1944 Elections (M. E. Sharp, 2002), S. 61. Vrba: Ich kann nicht vergeben, S. 392. Telegramm zit. aus Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 232. Der vollständige Text des Telegramms findet sich in Erich Kulka: „Five Escapes from Auschwitz“, in: Yuri Suhl (Hrsg.): They Fought Back. The Story of Jewish Resistance in Nazi Europe (Crown, 1968), S. 232. Dieser Abschnitt folgt eng Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 228–234. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 232. Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 394. Ebd., S. 396. Ebd., S. 397. Ebd., S. 399. Ebd., S. 400. Ebd., S. 407. Rudolf Vrba zit. aus Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 239. Zit. aus ebd. Natürlich besaß Roosevelt, was Vrba und Wetzler aber nicht wissen konnten, umfangreiche Informationen über die bevorstehende Mordaktion an den Ungarn, auch wenn sie nicht so detailliert und maßgeblich waren wie das, was die beiden lieferten. Ebd., S. 412–416. Siehe auch Vrbas ausführlichen Brief in Gilbert, Auschwitz und die Allierten, S. 239 f.; mehr findet sich in Kulka, „Five Escapes from Auschwitz“, S. 233. Krasnansky war äußerst beeindruckt von dem „wunderbaren Gedächtnis” der beiden Flüchtlinge, als er sie zwei ganze Tage lang zur „Wirklichkeit“ von Auschwitz ins Kreuzverhör nahm. Siehe dazu Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 240. Die Notiz, in der er seinem Vertrauen in Vrba und Wetzler Ausdruck gab, wurde zuerst am 26. November 1944 vom War Refugee Board (Kriegsflüchtlingskomitee) in Washington als Teil der offiziellen Gesamtpublikation zum VrbaWetzler-Bericht veröffentlicht. Doch die Details, wie es kam, dass die Vrba-Wetzler-Mitteilungen wirkungslos blieben, werden bis auf den heutigen Tag durch die Betrügerei der Nationalsozialisten, den „Waren-gegen-Blut“-Vorschlag und die Selbsttäuschung aufseiten einiger prominenter Juden verschleiert. Die Geschichte ist eines Spionagethrillers würdig. Siehe z.B. Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 417–420. Alternative Namensschreibweise Rezső Kasztner. Zu weiteren Informationen über Lucy Mercer siehe Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S.  160–164; James MacGregor Burns mit Susan Dunn: The Three Roosevelts. Patrician Leaders Who Transformed America (Grove, 2001), S. 155 f.; Joseph P. Lash: Eleanor and Franklin. The Story of Their Relationship (Norton, 1971), S. 220; Elliott Roosevelt: An Untold Story. The Roosevelts of Hyde Park (Putnam, 1973); David D. Roosevelt: Grandmere. A Personal History of Eleanor Roosevelt (Warner, 2002), z.B. S. 112. Siehe Howard Bruenn: „Clinical Notes“, in: Annals of Internal Medicine, April 1970, S.  548. Trotzdem bemerkte Merriman Smith, dass Roosevelt „guter Dinge“ war. Siehe Smith, Thank You, S. 140 f. Siehe auch Goodwin, No Ordinary Time, S. 500; Eleanor Roosevelt: This I Remember (Harper, 1949), S. 371. Stephen Ambrose: D-Day (Pocket Books, 2002), S. 170. Ausführlich behandelt wird die SlaptonSands-Episode von Ken Small: The Forgotten Dead (Bloomsbury, 1988); siehe auch „Das vergessene Desaster“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juni 2014 (letzter Zugriff: November 2016); Sven Felix Kellerhoff: „Die Übung, die in einer Katastrophe endete“, in: Die Welt, 27. April 2014, (letzter Zugriff: November 2016).

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Anmerkungen 22 S iehe Craig Smith, 24. Januar 2005, BBC-Ausdruck über Slapton Sands; Small, Forgotten Dead, z.B. S. 44–48. Smalls Darstellung enthält die folgende Schilderung (S. 48): „Da waren Männer, die riefen, schrien, beteten und starben. […] Aber das Rufen und Brüllen und Schreien und Beten hatte abgenommen. Die Männer schliefen ein und ließen die Rettungsflöße los – und starben.“ Siehe auch Alex Kershaw: The Bedford Boys. One American Town’s Ultimate D-Day Sacrifice (Da Capo, 2003), S.  89  f.; Tom Sollosi, Valley Independent, 3. Juni 2004. Kershaw schreibt, dass einige Offiziere so schockiert waren über den „Pfusch“ in Slapton Sands, dass sie ihre Rolle bei „Overlord“ in Zweifel zu ziehen begannen. 23 Siehe Harry Butcher: My Three Years with Eisenhower (Simon & Schuster, 1946), S. 531; Kershaw, Bedford Boys, S. 91. Kershaw merkt an (S. 92), dass die Heimlichtuerei um die Katastrophe unerlässlich war, denn wäre sie publik geworden, hätte sie die Deutschen auf „Overlord“ aufmerksam gemacht. Siehe auch Ralph Ingersoll: Top-Secret (Harcourt, Brace, 1946), S. 105. 24 Im Laufe der Zeit fand man die Leichen aller Nachrichtenoffiziere, was als kleines Wunder erachtet wurde. 25 Hierzu und zum Rest des Kapitels siehe Rick Atkinson: The Day of Battle (Holt, 2007), S. 311.

Kapitel 5 1 2 3 4

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Eleanor Roosevelt: This I Remember (New York, Harper, 1949), S. 372. Morton Mintz, Washington Post, 17. April 1983. Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, München 1982, S. 251. Zu weiteren Details über die als „Brand-Affäre“ bekannte ebenso verwickelte wie rätselhafte Episode siehe Yehuda Bauer: Flight and Rescue (Magnes Press, 1981), S. 345. Siehe auch Kai Bird: The Chairman (Simon & Schuster, 1992), S. 218. Ein junger Diplomat beim Kriegsflüchtlingskomitee, Ira Hirschmann, verfasste ebenfalls einen ausführlichen Aktenvermerk über die Affäre. Siehe dazu vor allem Bird, S. 690, und Robert Rosen: Saving the Jews. Franklin D. Roosevelt and the Holocaust (Thunder’s Mouth, 2006), S. 392 ff. Anfangs mahnte Roosevelt Hirschmann eindringlich „weiterzureden“. Während Hirschmann redete, glaubte FDR, „dass diese Menschen noch eine Überlebenschance“ hätten. Eichmann hatte Brand tatsächlich in aller Ruhe gesagt: „… ich möchte Waren gegen Blut.“ Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 238. Siehe auch Bauer, Flight and Rescue, S. 144–149. Zit. aus Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 242. Für eine beeindruckende Darstellung siehe vor allem Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, Freiburg 52013, S. 19; Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz, Frankfurt am Main 2010, S.  416; und Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, vor allem S. 244–248. Die Krematorien waren „übersät mit formlosen Köpfen und Leibern“, Yehuda Bauer: A History of the Holocaust (Franklin Watts, 2001), S. 344. Siehe dazu Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt am Main 1990, Bd. 2, S. 898 ff. Primo Levi, der bedeutende Autor und Holocaust-Überlebende, schildert dies besonders eindringlich. Siehe Ist das ein Mensch?, in: Ders.: Ist das Ein Mensch? Die Atempause, München/Wien 1986, vor allem S. 24–27. Siehe auch Vrba, Ich kann nicht vergeben, S. 84–101. Bauer, History of the Holocaust, S. 344 f. Siehe auch Ian Kershaw: Hitler 1889–1945, München 32009, S. 863 ff., 951. Bauer, History of the Holocaust, S. 344. Wiesel, Die Nacht, dokumentiert zum Beispiel auch jene Illusionen, die viele angstvolle Juden hegten. Bauer, History of the Holocaust, S. 344. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, hebt ebenfalls hervor, dass die Aushebungen weitergingen. BBC-Interviews mit Überlebenden. Diese Transporte zählten zu den erschütterndsten. Überlebende erinnerten sich an die Kinder, bevor sie in die Züge stiegen.

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Anmerkungen 14 Z u den Bedingungen in den Viehwaggons siehe Levi, Ist das ein Mensch?, S.  25  ff.; Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 247 f. 15 Ich beziehe mich hier direkt auf Levi, Ist das ein Mensch?, S. 25 ff. Siehe auch The Last Days, ein Dokumentarfilm über fünf ungarische Juden. Regie: James Moll, ausführender Produzent: Steven Spielberg. 16 Siehe Debórah Dwork und Robert Jan van Pelt: Holocaust. A History (Norton, 2002), vor allem S. 239–284. 17 Zur Ankunft in Auschwitz siehe die eindringliche Schilderung von Elie Wiesel, Die Nacht, S. 43–49. 18 Ich stütze diese Einschätzung auf die Interpretation von David S. Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989, S. 330– 350. 19 Stephen Ambrose: D-Day. June 6, 1944 (Pocket Books, 2002), S. 166–169, das Zitat stammt von S. 168. 20 Siehe Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 208 und 225 f. Zu mehr Informationen über den Italienfeldzug siehe Carlo D’Este: Fateful Decision. Anzio and the Battle for Rome (Harper Perennial, 1992); siehe auch John Keegan (Hrsg.): The Times Atlas of the Second World War (HarperCollins, 1989). 21 Roosevelt gab sich selten solchen verzweifelten Gedanken hin, aber dies war ein solcher Moment. Siehe das Interview mit Jay Winik in der Dokumentation Pearl Harbor. 24 Hours After, History Channel, 2010, Regie: Anthony Giachinno; siehe auch die American Experience PBS-Dokumentation FDR, Regie: David Grubin. Zu weiteren Details siehe Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), vor allem S. 506–507 über Roosevelt, der sich wünschte, in London zu sein. 22 New York Times, 4. Juni 1944. 23 Im Folgenden stütze ich mich stark auf Goodwin, No Ordinary Time, S. 507; Ambrose, D-Day, S. 182–185; und American Heritage. New History of World War II, überarbeitet und aktualisiert von Stephen Ambrose (Penguin, 1997), S. 470–471. Zu weiteren Informationen über die Gedanken, Sorgen und Ängste der Soldaten siehe die maßgebliche Studie von Max Hastings: Overlord. D-Day and the Battle for Normandy (Vintage, 2006); siehe auch D-Day. The Normandy Landings in the Words of Those Who Took Part, hrsg. von Jon E. Lewis (Magpie, 2010). Die Wettervorhersagen der Deutschen und jene der Alliierten wichen extrem voneinander ab. Während Captain Stagg nach den schlechten Bedingungen am 5. Juni ein „Zeitfenster“ mit annehmbarem Wetter vorhersagte, sahen dies die Deutschen nicht voraus, was sich als verhängnisvoller Fehler erwies, allerdings mit dem Verlust ihrer entlegenen Wetterstationen zu erklären ist. Siehe auch Russell Weigley: Eisenhower’s Lieutenants (Indiana University Press, 1980); und Omar Bradley: A Soldier’s Story (Vintage, 1964). Außerdem stütze ich mich bei meiner Darstellung stark auf Stephen Ambrose: The Supreme Commander (Doubleday, 1970), S. 414–418. Eine besonders wichtige Quelle ist Captain Harry C. Butcher: My Three Years with Eisenhower (Simon & Schuster, 1946). 24 Ich stütze mich hier unter anderem auf James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom (Harcourt, 1970), S. 475 f. Zu Eisenhowers Entscheidung, die „Overlord“-Invasion zu beginnen, siehe z.B. Mark Perry: Partners in Command (Penguin, 2007), S. 296–299. Laut einigen Historikern sagte Eisenhower „Los!“ oder „Auf geht’s!“ Bei Perry sagt er „Wir legen los!“ Siehe auch Ambrose: D-Day, S. 188 f.; ich folge hinsichtlich der Entscheidungs-Chronologie Ambrose. Siehe dazu auch Carlo D’Este: Eisenhower. A Soldier’s Life (Holt, 2002), S. 525. 25 Eisenhower selbst hatten die Zweifel des Präsidenten einmal zu dem mürrischen Kommentar veranlasst: „Sagen Sie Roosevelt, ich bin der beste verdammte Oberstleutnant in der U.S. Army“. 26 Für detaillierte Informationen über Opfer und Pannen siehe vor allem Ambrose: D-Day, S. 312 ff. und MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 476 f., auf den ich mich besonders stütze. Man hatte damit gerechnet, dass die Lastensegler Probleme bekommen und sogar abstürzen

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Anmerkungen

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würden. Doch die Kommunikationspannen, beispielsweise mit Feldfunkgeräten, kamen unerwartet. Natürlich hatte man es hier mit jenem Phänomen zu tun, das der Meisterstratege Carl von Clausewitz einst den „Nebel des Krieges“ genannt hatte. Dieses Material stammt aus Ambrose, D-Day, S. 313; und Hastings, Overlord. Zum schlafenden Hitler siehe Kershaw, Hitler, S. 874 f.; Walter Warlimont: Inside Hitler’s Headquarters (Presidio Press, 1962), S. 403–406. Ambrose, D-Day, S. 264. Ebd., S. 263; eine Liste der Schiffe siehe S. 235. Ebd., S. 271. Was die Pannen und Unfälle an Omaha Beach betrifft, ist Goodwin, No Ordinary Time, sehr gut. Für weitere Informationen über die Pannen und Unfälle am Omaha Beach ist Ambrose, American Heritage, S. 467, sehr hilfreich. Stephen Ambrose zit. aus Paul Kennedy, Die Casablanca-Strategie. Wie die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, München 2014, S. 290. Ebd., S. 289 f. George Pickett war Generalmajor der Konföderierten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Picketts Division war die Speerspitze von General Robert Edward Lees Schlussattacke bei Gettysburg, weshalb dieser ebenso tapfere wie auch verhängnisvolle Angriff als Pickett's Charge in die Geschichte einging. Zu den Bedford Boys siehe Alex Kershaw: The Bedford Boys. One American Town’s Ultimate DDay Sacrifice (Da Capo, 2003). Bedford, Virginia, war eine kleine Arbeiterstadt von etwa 3000 Einwohnern. Keine Stadt in den USA erlitt an einem einzigen Tag einen so großen Verlust, und Kershaws kurze Skizzen – etwa von Müttern und Ehefrauen, die mittels Western Union-Telegrammen benachrichtigt wurden – sind äußerst bewegend. Vgl. hierzu und zum Folgenden Ambrose, D-Day, S. 331–338; Max Hastings: Overlord (Simon & Schuster, 1984), S. 92; Ambrose, D-Day, S. 435. Eine Weile war Bradley der Verzweiflung nahe; siehe Omar Bradley und Clay Blair: A General’s Life. An Autobiography (Simon & Schuster, 1983), S. 249. Ein Deutscher bemerkte: „Hier mussten sie brutal um jeden Zentimeter kämpfen”, Lewis, D-Day, S. 148. Wie ein Soldat es ausdrückte: „Es war jetzt offenes Land, und wir hatten den ‚Atlantikwall‘ durchbrochen“, Lewis, D-Day, S. 135. Dennoch „explodierten die Bomben buchstäblich überall gleichzeitig“, wie ein Lieutenant betonte, Lewis, D-Day, S.  134. Siehe auch Ambrose, D-Day, S. 340. Ambrose, D-Day, S. 381, 340 ff. Und wie Kershaw, Hitler, beinahe rührend betont, schlief Hitler immer noch. Bei den Einzelheiten über die ausgelassenen Reaktionen auf die Erfolge der Alliierten folge ich eng der New York Times vom 6. und 7. Juni 1944; Michael Korda: Ike (Harper Perennial, 2007), S. 479 ff.; Ambrose, D-Day, S. 486–508, insb. S. 489 f. Teils zit. aus Andreas Spinrath: „‚Nichts akzeptieren außer vollständigen Sieg‘. Dwight D. Eisenhower“, in: Spiegel Online, 14.10.2015, (letzter Zugriff: November 2016). Diese kurze Skizze stammt aus meinem Buch April 1865. The Month That Saved America (HarperCollins, 2001). Zur internationalen und nationalen Reaktion siehe New Yorker, 10. Juni 1944; Wall Street Journal, 7. Juni 1944; Milwaukee Journal, 7. Juni 1944; New Orleans Times Picayune, 7. Juni 1944; New York Times, 7. Juni 1944; David Lang: „Letter from Rome“,in: New Yorker, 17. Juni 1944; Times (London), 7. Juni 1944; Alexander Werth: Russia at War, 1941–1945 (New York: Dutton, 1964), S. 853 ff.; Atlanta Constitution, 7. Juni 1944; Bedford Bulletin, 8. Juni, 6. Juli 1944. Für einen Gesamtüberblick siehe auch Ambrose, D-Day, S. 494.

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Anmerkungen

Kapitel 6 1 Siehe zu diesem und den beiden folgenden Abschnitten das meisterhafte Werk von Rick Atkinson: The Day of Battle. The War in Sicily and Italy, 1943–1944 (Holt, 2007), S. 269. 2 Siehe dazu und zu dem „Tempo! Tempo! Tempo!“ Michael Korda, Ike (Harper Perennial, 2007), S. 479. 3 Rommel widerstrebte es, mit der Luftwaffe zu fliegen, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. 4 Zit. aus Jon E. Lewis (Hrsg.): D-Day (Magpie, 2010), S. 92. 5 Siehe Stephen Ambrose, D-Day (Pocket Books, 2002), S. 483. Die Offensive der Alliierten am D-Day war so überwältigend, dass Rommel einem Adjutanten auf der Rückfahrt von Deutschland sagte, dass er, wäre er im Augenblick Befehlshaber der alliierten Streitkräfte, den Krieg in 14 Tagen beenden könnte; aus Korda, Ike, S. 483. 6 Ambrose, American Heritage, S. 476. Der Pilot beobachtete das Schauspiel aus seiner P-47. Siehe zu diesen Abschnitten auch Korda, Ike, S.  477–483; James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom (Harcourt, 1970), S. 476 f.; und Ambrose, D-Day, S. 530, 548, 576 f. Später kursierte in der Wehrmacht ein Witz: „Wenn das Flugzeug am Himmel silbern war, dann war es ein amerikanisches, wenn es blau war, dann war es ein britisches, und wenn es unsichtbar war, dann war es unseres.“; siehe Ambrose, D-Day, S. 578. 7 Alle Zitate aus Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, München 1982, S. 273 f.; zu den beiden weiteren entflohenen Häftlingen siehe S. 253 f. 8 Für die Franks, einschließlich Otto, einst Besitzer einer erfolgreichen Gewürzfirma, wurde das Verfolgen des Kriegsverlaufs zu einem emotionalen Rettungsanker. Sehr viele Informationen dazu bietet die Website des Anne Frank Hauses (letzter Zugriff: November 2016), die den Betrachter in das geheime Versteck hinter dem Bücherregal führt, wo sich acht Menschen bei Tage vollkommen still verhalten und jede Regung, jede Bewegung und jedes Husten unterdrücken mussten. 9 Das Tagebuch der Anne Frank. 12. Juni 1942 – 1. August 1944, Frankfurt am Main 511980, S. 54. 10 Ebd., S. 52. 11 Ebd., S. 58. 12 Ebd., S. 62. 13 Ebd., S. 92. 14 Ebd., S. 91. 15 Ebd., S. 184 f. 16 Ebd., S. 185. 17 Siehe dazu Hans-Joachim Neumann und Henrik Eberle: War Hitler krank? Ein abschließender Befund, Bergisch Gladbach 2009, S. 191–194. 18 Ich stütze mich in diesen Abschnitten stark auf Kershaw, Hitler, S. 737, 750 f. Kershaw unterstreicht die scheinbare Paradoxie von Hitlers Verschwiegenheit hinsichtlich der Vernichtung der Juden. Zu den verschiedenen Zitaten siehe S. 737, 751.

Kapitel 7 1 Zitiert nach Ian Kershaw: Hitler. 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 214. Im Rückblick kann dies sicher als eine der wichtigsten Reden Hitlers gelten, auch wenn sie damals nicht als solche erkannt wurde. 2 Zitiert nach ebd., S. 213. 3 Zitiert nach ebd., S. 195. Vgl. auch Walter Laqueur und Richard Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr, Frankfurt am Main 1986. Mehr zur „Reichs-

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Anmerkungen

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kristallnacht“ vgl. Martin Gilbert: The Holocaust. A History of the Jews of Europe During the Second World War (Holt, 1985), S. 69–75. Dieses Buch ist eine bemerkenswerte Quelle, in der eine Vielzahl jüdischer Stimmen aus der Zeit des Weltkriegs und des Holocausts zu finden sind. Zudem sind zwei weitere Bücher empfehlenswert: Yehuda Bauer: A History of the Holocaust (Franklin Watts, 2001), S. 116 f. und Smith: FDR, S. 426. Drei Wochen zuvor wurde der berühmte Flieger Charles Lindbergh in Berlin durch Hermann Göring mit dem Dienstauszeichnungskreuz geehrt. Vgl. William Shirer: Das Jahrzehnt des Unheils. Meine Erlebnisse und Erfahrungen in Deutschland und Europa 1930–1940, München 1989, S. 312. Die „Reichskristallnacht“ versetzte viele Juden in Panik, zumal sie gezwungen wurden, eine Wiedergutmachung von einer Milliarde Reichsmark zu zahlen. Vgl. dazu Lucy S. Dawidowicz: Der Krieg gegen die Juden. 1933–1945, München 1979, und Hitlers Reichstagsrede. Zitiert nach Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 199. Kershaw zitiert hier ausführlich aus Goebbels’ Tagebüchern. In Diane Ackerman: Die Frau des Zoodirektors. Eine Geschichte aus dem Krieg, München 2016. Smith: FDR, S. 426. Kershaw, Hitler. 1936–45, S. 652. Vgl. dazu Kershaw, Hitler. 1936–1945, S. 202 ff. Kershaw macht eine kluge Bemerkung: Man solle die Titel der deutschen Gesetze selbst beachten. Etwa das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Während den Juden die Teilnahme am öffentlichen Leben immer schwieriger gemacht wurde, betonte dieses Gesetz auf fast aberwitzige Weise, ihnen sei „das Zeigen der jüdischen Farben gestattet“ und „die Ausübung dieser Befugnis […] unter staatlichem Schutz“ stehe. Vgl. Bauer, History of the Holocaust, S. 111. Zu Roosevelt und Immigration vgl. bspw. Smith: FDR, S. 427. Wenn Roosevelt größeren politischen Spielraum hatte, so argumentierte Smith, tat er, was in seiner Macht lag. Nach der Reichspogromnacht schlug er etwa vor, für deutsche Staatsbürger, die mit Besucher-Visa in den USA waren, den Aufenthalt zu verlängern. „Ich weiß nicht, ob wir aus Sicht der Menschlichkeit das Recht haben, sie auf ein Schiff zu setzen und zurück nach Deutschland zu schicken“, sagte er (S. 428). Ein entscheidender Punkt sollte allerdings werden, dass Roosevelt nicht bereit war, zu viel politisches Kapital in diese Angelegenheit zu investieren. Rede vom 30. Januar 1939. Vgl. dazu Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time. Franklin and Eleanor Roosevelt – The Home Front in World War II (Simon & Schuster, 1994). Für weitere Informationen zur Konferenz von Évian und der Irrfahrt der St. Louis vgl. „Topics of the Times: Refugee Ship“, in: New York Times, 8. Juni 1939. Hier fasste die Times gut zusammen: „Deutschland wird, bei der großen Gastfreundschaft seiner Konzentrationslager, diese Unglücklichen gern willkommen heißen.“ Vgl. auch David S.  Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989; Arthur Morse: Die Wasser teilten sich nicht, Bern 1968. In ihrer sorgfältigen Arbeit zeichnen Richard Breitman und Allan Lichtman – FDR and the Jews (Belknap Press of Harvard University Press, 2013), S. 136–139 – ein ganz anderes Bild von der Irrfahrt der St. Louis. Sie erklären, dass 254 der Passagiere schließlich in einem der NS-Lager oder auf der Flucht vor ihren Verfolgern ums Leben gekommen seien. Sie betonen zudem, die Küstenwache habe die Passagiere nicht davon abgehalten, an Land zu kommen – sie habe sich vielmehr um eine Lösung bemüht. Vgl. auch Sarah Ogilvie und Scott Miller: Refuge Denied. The St. Louis Passengers and the Holocaust (University of Wisconsin Press, 2010); und Gordon Thomas und Max Morgan-Writt: Voyage of the Damned. A Shocking True Story of Hope, Betrayal and Nazi Terror (Skyhorse, 2010). Geoffrey Ward: A First-Class Temperament. The Emergence of Franklin Roosevelt (Harper and Row, 1989), S. 254. New York Times, 7. Juli 1940, A5; vgl. auch Goodwin: No Ordinary Time, S. 100. Vgl. dazu die ausgezeichnete und differenzierte Darstellung in Goodwin: No Ordinary Time S. 101.

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Anmerkungen 15 D aniel Yankelovich: „German Behavior, American Attitudes“, Diskussion im Mai 1988 auf einer Konferenz in Harvard zum Holocaust und den Medien. Vgl. auch Goodwin: No Ordinary Time, S. 102. 16 David S. Wyman: Paper Walls. America and the Refugee Crisis, 1938–1941 (Pantheon, 1985), S. 188–191; vgl. auch Henry Feingold: The Politics of Rescue. The Roosevelt Administration and the Holocaust, 1938–1945 (Rutgers University Press, 1970), S. 128–131; Goodwin: No Ordinary Time, S. 103; sowie Ausschnitte aus Roosevelts Ansprache auf YouTube und American Experience: FDR, PBS Dokumentarfilm von David Gruban. 17 Nation, 28. Dezember 1940, S. 649. Mehr zur durchaus kritisch zu sehenden Person Breckinridge Long vgl. Feingold: Politics of Rescue, S. 131–135. Zur „enormen Psychose“ vgl. Breckinridge Long, The War Diaries of Breckinridge Long: Selections from the Years 1939–1944, Fred L. Israel (Hrsg.) (University of Nebraska Press, 1966), S. 108. 18 New York Times, 11. Dezember 1943, A1. Dieses Memorandum von Breckinridge Long über die Verzögerung und effektive Verhinderung der Immigration gehört zu den schrecklichsten in der Geschichte des US-Außenministeriums. 19 Goodwin: No Ordinary Time, S. 173. 20 Nation, 28. Dezember 1940, S. 648. 21 Zu McDonald vgl. James McDonald: Refugees and Rescue. The Diaries and Papers of James G. McDonald, 1935–1945, Richard Breitman, Barbara McDonald Stewart und Severin Hochburg (Hrsg.) (Indiana University Press 2009). 22 Wyman: Paper Walls, S. 147; Goodwin: No Ordinary Time, S. 174. 23 Zu dieser Episode vgl. den ausführlichen Artikel in der New York Times, 19. August 1940, A5. Weitere Details finden sich auch im YouTube-Video von Greg Hansard von der Virginia Historical Society, < https://www.youtube.com/watch?v=rGqE27fAHio> (letzter Zugriff: November 2016). 24 Stella Hershan: A Woman of Quality (Crown, 1970), S. 41; Goodwin: No Ordinary Time, S. 174. 25 Aus Eleanor Roosevelts Interview mit James Roosevelt; vgl. dazu Goodwin: No Ordinary Time, S.  174–176. Eleanor Roosevelts Behauptung, Long sei ein Faschist, wird bezeugt von Justine Polier, Oral History in der Franklin D. Roosevelt Presidential Library. 26 Auch Churchills Biograf William Manchester, ein Anhänger Roosevelts, betont dessen Zurückhaltung in diesem Punkt in Winston Churchill. Allein gegen Hitler. 1932–1940, München 1990, S. 568. 27 Nation, 28. Dezember 1940, S. 649. 28 Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 15 und 22. 29 Vgl. James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 11; Smith: FDR, S. 447. 30 Dieses und andere Zitate stammen z.B. aus Smith, FDR, S. 448 f. 31 New York Times, 18. Dezember 1940, 1, S. 10. Zu Churchills Jubel und den Kritiken gegen Roosevelts Schulterschluss mit Frankreich und England vgl. Smith: FDR, S. 449 und 436. 32 Zit. aus Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Bd. 2: Englands grösste Stunde. Erstes Buch: Der Zusammenbruch Frankreichs, S. 163, Bern o. J. (Neue Schweizer Bibliothek). 33 Vgl. z.B. Smith, FDR, S. 464. 34 Goodwin: No Ordinary Time, S. 194. Zum „America First Commitee“ vgl. auch Wayne S. Cole: America First. The Battle Against Intervention, 1940–1941 (University of Wisconsin Press, 1953), S. 14. 35 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 4. 36 Smith: FDR, S. 481; Goodwin: No Ordinary Time, S. 191. 37 Zit. aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg 2/2, S. 105 f. Dies gehört zu den bekanntesten ChurchillZitaten über den Krieg. Siehe auch Smith: FDR, S. 467; Ambrose: American Heritage, S. 113. 38 Dieser Abschnitt folgt Goodwin: No Ordinary Time, S. 142; Smith: FDR, S. 472. Vgl. außerdem Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 2/2, S. 107–122.

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Anmerkungen 39 M acGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 441; Goodwin: No Ordinary Time, S. 148. 40 V gl. dazu z.B. Smith: FDR, S. 483. 41 Zu Churchills wichtigem, 4000 Worte langen Brief vgl. Smith: FDR, S. 484; Ambrose: American Heritage, S. 114; Goodwin: No Ordinary Time, S. 192 f.; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 12 f. 42 Churchill an Roosevelt am 8. Dezember 1940, zit. aus: Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 2/2, S. 288–297. 43 Zu dieser Entscheidung gibt es viele gute Darstellungen. Hier wurde Smith: FDR, S. 484 herangezogen. 44 Hier zeigte sich wieder der alte Roosevelt. Gut porträtiert wird er etwa bei Jon Meacham: Franklin and Winston. An Intimate Portrait of an Epic Friendship (Random House, 2003), S. 78–81; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 25; Smith: FDR, S. 485. 45 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 26. 46 Ebd.; teils zit. aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 2/2, S. 299. Diese Abschnitte beruhen großteils auf Burns detaillierter Darstellung von Roosevelts Rede. Vgl. zudem Smith: FDR, S. 485. 47 Was keine Übertreibung war. Zit. aus Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 2/2, S. 299. Vgl. Smith: FDR; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 27. 48 Vgl. Smith: FDR, S. 486 49 Meacham: Franklin and Winston, S. 79. Das Miller Center for Public Affairs an der University of Virginia hat das Kamingespräch 16 zusammen mit Fotos auf YouTube hochgeladen. Diese Rede war einer von Roosevelts verblüffendsten Leistungen; seine Stimme ist klar, klangvoll und autoritär. Für Zitate daraus vgl. auch MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 27 ff. Roosevelt selbst betonte, dass dies kein „gewöhnliches“ Kamingespräch gewesen sei. 50 Zit. nach Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 2/2, S. 305. 51 Henry Wadsworth Longfellow: Gedichte. Deutsch von Alexander Neidhardt. C. W. Leske, 1856. 52 Smith: FDR, S. 489 f.; Meacham: Franklin and Winston, S. 81. Beachtenswert ist auch Wendell Willkies Bruch mit seiner Parteiführung und seine öffentliche Befürwortung des Lend-andLease-Act. 53 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 44–48. Roosevelt erklärte bei einem Treffen der White House Correspondents’ Association, dass die Entscheidungen in einer Demokratie langsam getroffen würden, doch wenn sie getroffen wurden dann „nicht mit der Stimme eines Mannes, sondern mit den Stimmen von 130 Millionen.“ 54 Dieser Abschnitt folgte der Darstellung in Ambrose: American Heritage, S. 114. 55 Vgl. New York Herald Tribune, 6. April 1941, A1; Ambrose: American Heritage, S. 98. 56 Vgl. dazu bspw. Smith: FDR, S. 492. 57 Ebd., S. 493; vgl auch MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 66. Zu Roosevelts Strategie und seiner Aussage „Ich warte darauf, in die Situation gestoßen zu werden“ vgl. bspw. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 91 f.; Smith: FDR, S. 492.

Kapitel 8 1 James MacGregor Burns, Roosevelt. The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 72. 2 Ebd. Für weitere Zitate vgl. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 510. Dieses Buch stützt sich ausgiebig auf Kershaws Analsyse, die als bestes einbändiges Werk über Hitler gelten kann. Für weitere Details zu Hitlers Verhältnis zu seinen Generälen, das für den Verlauf des Krieges entscheidend werden würde, vgl. auch Hitler’s Secret Conversations (Farrar, Straus and Young, 1953), vor allem wegen der Einleitung von Hugh Trevor-Roper; Hugh Trevor-Roper (Hrsg.): Blitzkrieg to Defeat. Hitler’s War Directives, 1939–1945 (Holt, Rinehart and Winston, 1965); Walter Warlimont: Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939–1945, Frankfurt am Main 1962; Barton Whaley:

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Codeword Barbarossa (MIT Press, 1973); Hugh Trevor-Roper: Hitler’s Tabletalk, 1941–1944 (Enigma Books, 2007); Telford Taylor: Sword and Swastika (Simon & Schuster, 1952). MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 68 ff. Zu diesem Abschnitt vgl. auch Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 460, auf das hier Bezug genommen wird. Dieser Abschnitt bezieht sich auf MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 68; und Kershaw: Hitler. 1936–1945, S.  507. Das „Unternehmen Barbarossa“ war Hitlers wichtigste strategische Militärentscheidung, auch wenn sie vor allem die endgültige Niederlage Deutschlands besiegelte. Zum ersten Angriff und weiteren Details vgl. Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), S. 253; Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 517 ff.; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 96. (Letzter Zugriff: November 2016). Zit. nach Churchill, Der Zweite Weltkrieg. Bd. 3: Die grosse Allianz. Erstes Buch: Hitlers Angriff auf Russland, S. 442, Bern o. J. (Neue Schweizer Bibliothek). Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 519. Für Weiteres zu Hitlers Herrschaft über Europa und den Vergleich mit anderen Herrschern vgl. beispielsweise das Buch des Autors über Napoleons Versuch, den Nahen Osten zu schlucken: Jay Winik: The Great Upheaval (Harper, 2006). Napoleon beging natürlich vergleichbare Fehler, als er sich auf die Weiten Russlands stürzte. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 628 Ebd., S. 629. Kershaw hat mit seinem viel zu selten beachteten Hinweis recht, dass die ersten Anweisungen spontan getroffen wurde, oft verwirrend und dabei alles andere als systematisch waren; der Autor verdankt dieser Analyse eine Reihe neuer Erkenntnisse. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 621. Es gibt Aufnahmen, bzw. Filmrollen, von diesem Gewaltexzess in Litauen. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 621. Von hier stammen auch die Angaben zu den Verfehlungen deutscher Generäle in den eroberten Gebieten. Sehr bewegende Berichte dazu in Martin Gilbert: The Holocaust (Holt, 1985), S. 202 f.; Anatolij Kuznezow: Babij Jar. Die Schlucht des Leids, München 2001. Gilbert: Holocaust, S. 204 f. Ebd., S. 212–217. Von hier stammt auch ein Großteil dieses Abschnitts. Jewish Chronicle, 14. November 1941; Gilbert: Holocaust, S. 232 f. Churchills Wort von „Gottes Mühlen“ stammt aus Friedrich von Logaus Gedicht „Göttliche Rache“, das er in der Übersetzung von Henry Wadsworth Longfellow kennengelernt hat. Kershaw, Hitler, S. 628. Für dieses und weitere Zitate sowie zur Analyse der „Endlösung“ vgl. Kershaw: Hitler. 1936– 1945, S. 652 ff.; Gilbert: Holocaust, S. 213; und das sehr lesenswerte Buch von Anthony Read: The Devil’s Disciples. Hitler’s Inner Circle (Norton, 2004), hier vor allem S. 751. Brief an Walther Rauff, 16. Mai 1942, Bericht vom 30. Oktober 1941 an den Generalkommissar in Minsk; vgl. Gilbert: Holocaust, S. 222. Brief an Walther Rauff, 16. Mai 1942. Hier wird Bezug genommen auf Gilbert: Holocaust, S. 239 und S. 245; sowie Read: Devil’s Disciples, S. 753. Diese Episode, die half, die "Endlösung" einzuleiten, wird detailliert beschrieben in Gilbert: Holocaust, S. 240. Gilbert: Holocaust, S. 245 ff. Vgl vor allem Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990; ders. (Hrsg.): Documents of Destruction. Germany and Jewry, 1933–1945 (W. H. Allen, 1972), S. 88–99; vgl. auch Gilbert: Holocaust, S. 284. Vgl. Gilbert: Holocaust, S. 281. Ebd., S. 282.

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Anmerkungen 28 E bd., S. 283. 29 D er Text der verhängnisvollen Sportpalastrede nach dem Word Future Fund (letzter Zugriff: November 2016); vgl auch Gilbert: Holocaust, S. 285. 30 Vgl. Read: Devil’s Disciples, S. 755; Gilbert: Holocaust, S. 285 ff. 31 Zu diesem und weiteren Zitaten sowie zu Marshalls und Eisenhowers strategischen Planungen vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 342; Mark Perry: Partners in Command. George Marshall and Dwight Eisenhower in War and Peace (Penguin, 2007), S. 76. 32 Zu Churchills Überlegungen vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 345. Nach dem Krieg leugnete Churchill wortreich, dass er gegen einen großangelegten Angriff auf Europa gewesen sei. Winston S. Churchill: The Grand Alliance (Houghton Mifflin, 1950), S. 581 f. 33 Vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 342. 34 Ebd., S. 343. Weitere Details stammen aus Perry: Partners in Command, S. 77 ff.. Hier wird der Akzent auf die strategische Interaktion der Generäle gelegt. Vgl. auch Forrest C. Pogue: George C. Marshall. Education of a General (Viking, 1963). Dabei wird deutlich, dass die US-amerikanischen Generäle, von dem demokratischen Prozess ihrer Ausbildung profitierend, deutlich freimütiger waren als die duckmäuserischen Wehrmachtsgeneräle. Dies ist auch deshalb eine bedeutende Quelle, da Pogue zwischen August 1956 und April 1957 eine Serie von fünf ausführlichen Interviews mit Marshall geführt hat. Sie bieten den besten und vollständigsten Zugang zu Marshalls Ansichten. Die Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und umfassten im Vorfeld verabredete Fragen. Wichtig bleibt festzustellen, dass Marshall und Eisenhower neben Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Auffassungen hatten; vgl. Forrest C. Pogue: „The Supreme Command“, in US Army in World War II. European Theater of Operations (U.S. Army Center of Military History, 1996), S. 33 ff. Vgl. auch Dwight D. Eisenhower: Kreuzzug in Europa, Amsterdam 1948; Carlo D’Este: Eisenhower. A Soldier’s Life (Holt, 2002); Ed Cray: General of the Army. George C. Marshall, Soldier and Statesman (Rowman and Littlefield, 1990). 35 Goodwin: No Ordinary Time, S. 344; Forrest C. Pogue: George C. Marshall. Ordeal and Hope (Viking, 1966), S. 328. 36 Hier folgt die Darstellung Perry: Partners in Command, S. 97. 37 Vgl. dazu Pogue: George C Marshall. Ordeal and Hope, S.  323; Perry: Partners in Command, S. 99. 38 Winston S. Churchill: Der zweite Weltkrieg. Bd. 4: Schicksalswende. Erstes Buch: Die Sturmflut aus Japan, S. 441, Bern o. J. (Neue Schweizer Bibliothek). 39 Zu dieser faszinierenden Episode, bei der Churchill sich niedergeschlagen zeigte – ganz ähnlich wie der private Roosevelt nach Pearl Harbor – vgl. Perry: Partners in Command, S. 100; Goodwin: No Ordinary Time, S. 347; Jon Meacham: Franklin and Winston (Random House, 2003); Winston S. Churchill: The Hinge of Fate (Houghton Mifflin, 1950), S. 280 ff. und S. 343. 40 Roosevelts Reaktion war sicher instinktiv, vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 347 f.; vgl. dazu ebenfalls Hadley Cantril: „Evaluating the Probable Reactions to the Landing in North Africa in 1942. A Case Study“, in: Public Opinion Quarterly, Herbst 1965, S. 400–410. 41 Zit. nach Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 4/1, S. 443. 42 Dieses und weitere Zitate in Goodwin: No Ordinary Time, S. 348. 43 Zu Stalins Zweifeln an den politischen Aspekten der „Operation Torch“ vgl. Robert E. Sherwood: Roosevelt and Hopkins (Harper, 1948), S. 618. 44 Captain Harry Butcher: My Three Years with Eisenhower. The Personal Diary of Captain Harry C. Butcher, 1942–1945 (Simon & Schuster, 1946), S. 29. 45 Dwight D. Eisenhower: Kreuzzug in Europa. 46 Vgl. Henry Stimsons Tagebuch, Eintrag vom 21. Juni 1942, Yale University. 47 Eric Larrabee: Chief Franklin Delano Roosevelt, His Lieutenants, and Their War (Harper and Row, 1987), S. 9; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 288 f.; Goodwin: No Ordinary Time, S. 349. Zum Hintergrund der Invasion vgl. William L. Langer: Our Vichy Gamble (Knopf, 1947).

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Anmerkungen 48 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 289 f. 1942 war Roosevelt in dieser Angelegenheit seinen Beratern weit voraus, die die Bedeutung der US-amerikanischen Öffentlichkeit nicht erkannten. Vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 349 f. Zu weiteren Details über den Austausch zwischen Roosevelt und Churchill rund um die „Operation Torch“ vgl. Churchill: Hinge of Fate, S. 530–543. 49 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 289 f.

Kapitel 9 1 Dieses Kapitel greift vor allem auf das oft übersehene Buch zu Eduard Schulte von zwei wichtigen Holocaust-Forschern zurück: Walter Laqueur und Richard Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr, Frankfurt am Main 1986. Den Autoren ist es gelungen, Schultes Leben bis in viele Einzelheiten hinein nachzuvollziehen, was die Studie zu einer hervorragenden Forschungsarbeit werden lässt. Daneben gibt es einen weiteren bedeutenden Text, James M. Markham: „An Unsung Good German. ‚Fame‘ Comes at Last“, in: New York Times, 9. November 1983. Richard Breitman hatte sich bereit erklärt, Kapitel 9 dieser Arbeit zu lesen und zu kommentieren, wofür ihm an dieser Stelle gedankt werden soll. 2 Zu Schultes persönlichen Ansichten, die einen der wenigen Einblicke in die Gedankenwelt eines NS-Gegner bieten, vgl. Der Mann, der das Schweigen brach, S. 48. Zur „Nacht der langen Messer“ vgl. auch Anthony Read: The Devil’s Disciples (Norton, 2004), S. 345–374; sowie Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 17 ff. Zu Schultes religiösem und familiärem Hintergrund, zu seiner Ehe und seinen ersten Reaktionen auf das NS-Regime vgl. Der Mann, der das Schweigen brach, S. 13–35. 3 Der Mann, der das Schweigen brach, S. 36–56. Zu Hitlers Außenpolitik, auf die Schulte ebenfalls reagierte, vgl. Gerard Weinberg: The Foreign Policy of Hitler’s Germany. Starting World War II, 1937–1939 (University of Chicago Press, 1980), S. 313–327. Zur überraschenden Haltung des deutschen Militärs in den 1930er-Jahren Hitler gegenüber vgl. Peter Hoffman: The History of the German Resistance, 1933–1945 (McGill-Queens University Press, 1996). 4 Zu Schultes Einschätzung vgl. Der Mann, der das Schweigen brach, S. 36. Details zu dem Treffen zwischen Hitler und den Industriellen finden sich auch in William Manchester: Winston Churchill. Allein gegen Hitler. 1932 –1940, München 1990, S. 71 ff. 5 Diese Episode stammt aus Der Mann, der das Schweigen brach, S. 53 f. 6 Ebd., S. 69 ff. 7 Vgl. z.B. ebd., S. 60 und 102. 8 Ebd., S. 8. 9 Mehr zu Himmler und Auschwitz findet sich in Read: Devil’s Disciples, S. 86 und 757; vgl. auch Sybille Steinbacher: Auschwitz.Geschichte und Nachgeschichte, München 2004. 10 Vgl. Read: Devil’s Disciples, S. 179 f. 11 Ebd. 12 Vgl. Gilbert: Holocaust, S. 373. 13 Die beste Abhandlung über Himmlers Besuch in Auschwitz und seinen Empfang dort findet sich in Rudolf Vrba: Als Kanada in Auschwitz lag. Meine Flucht aus dem Vernichtungslager, München 1999, S. 3 ff. 14 Ebd., S. 6; für diesen Abschnitt ebenfalls herangezogen wurde Read: Devil’s Disciples, S. 757 ff. 15 Read: Devil’s Disciples, S. 758. Vgl. ebenfalls Der Mann, der das Schweigen brach, S. 10. 16 Vgl. Martin Gilbert: The Holocaust (Holt, 1985), S. 387 zu Himmlers Direktive vom 19. Juli über die Umsiedlung der Juden. 17 Zu Schultes erschütternder Zugfahrt in die Schweiz finden sich die hier zitierten und weitere zahlreiche Details in Der Mann, der das Schweigen brach, S. 94 ff. 18 Ebd., S. 102.

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Anmerkungen 19 E bd., S. 103 ff. Hier lässt sich im Kleinen erkennen, wie sogar die Juden mit dem Ausmaß und den grauenhaften Details der „Endlösung“ rangen. Schultes Kontaktmann war Isidor Koppelmann, die rechte Hand eines engen Geschäftspartners von Schulte. 20 Mehr zu Sagalowitz lässt sich seinen Dokumenten entnehmen, die in Yad Vashem, Jerusalem, aufbewahrt werden. 21 Der Mann, der das Schweigen brach, S. 110. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 112. Viele Menschen ließen sich von der Behauptung verführen, die NS-Grausamkeiten seien nur Produkte der Einbildung oder üble Propaganda, vergleichbar mit den Geschichten, die während des Ersten Weltkriegs kursierten; vgl. dazu Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers „Endlösung“, Frankfurt am Main 1981. 24 Einzelheiten zu diesem ausgiebigen Mittagessen finden sich in Der Mann, der das Schweigen brach, S. 119, aus dem auch weitere Details der Ausführungen hier stammen. 25 Ebd., S. 129. 26 Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, München 1982; Gilberts Darstellung kommt es, genau wie bei Breitman, zugute, dass er Riegner persönlich interviewen konnte. Details zu Schultes Aufenthalt in Genf finden sich auch in Der Mann, der das Schweigen brach, S. 129 ff. 27 Zitate aus Eltings Zusammenfassung des Treffens finden sich in David S. Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989, S. 52 ff. Wymans Buch, eine der bedeutenden Arbeiten zu diesem Thema, äußert sich sehr kritisch und überzeugend über Roosevelt. 28 Der Mann, der das Schweigen brach, S. 131. 29 Ebd., S. 131. 30 Dies folgt der Einschätzung von Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 53 ff.

Kapitel 10 1 David S. Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989, S.  53. Weiteres zu dieser zentralen Figur in Stephen Wise: Challenging Years. The Autobiography of Stephen Wise (East and West Library, 1949); Carl Herman Voss (Hrsg.): Stephen S. Wise. Servant of the People (Jewish Society, 1969); Melvin Urofsky: A Voice That Spoke for Justice. The Life and Times of Stephen S. Wise (State University of New York Press, 1982). 2 Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, S. 57 f. Neben ideologischen Gründen und den Meinungen zum Thema „Naher Osten / Juden“ könnten bürokratische Strukturen das Verhalten des Außenministeriums erklären; vgl. dazu die einschlägige Arbeit zur Bürokratie im politischen Handeln von Graham Allison: Essence of Decision. Explaining the Cuban Missile Crisis (Pearson, 1999). Eine weitere Erklärungsmöglichkeit wäre das Gruppendenken; vgl. dazu Irving Janis: Groupthink. Psychological Studies of Foreign-Policy Decisions and Fiascoes (Houghton Mifflin, 1983). 3 Vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 82 für dieses Zitat sowie zu Wises Hintergrund und seinem Vertrauen in Roosevelt. 4 Diese Einzelheiten stammen aus William Manchester: Winston Churchill. Allein gegen Hitler. 1932 – 1940, München 1990. 5 Aus Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 54 ff. aus dem hier ausgiebig zitiert wird. Vgl. dazu auch Benjamin Wells: Sumner Welles. FDR’s Global Strategist (St. Martin’s 1997). 6 Mehr dazu vgl. Cordell Hull: The Memoirs of Cordell Hull (Macmillan 1948); Harold Hinton: Cordell Hull. A Biography (Doubleday, 2008); zu ihrer Zusammenarbeit vgl. Irwin F. Gelman: Secret

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Anmerkungen

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Affairs. FDR, Cordell Hull and Sumner Welles (Enigma, 2003); Walter Isaacson und Evan Thomas: The Wise Men. Six Friends and the World They Made (Simon & Schuster), 1986. William Manchester: Winston Churchill, S. 87. Dieser Abschnitt basiert auf dem bemerkenswerten Bericht von Erik Larsen: In the Garden of Beasts. Love, Terror, and an American Family in Hitler’s Berlin (Crown, 2012), S. 241, 32, 17. Vgl. Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach, S. 136 f. für die Stellungnahme des Außenministeriums. Voss: Stephen S. Wise, S. 248 ff.; Justine Polier und James W. Wise (Hrsg.): The Personal Letters of Stephen Wise. 1933–1949 (Beacon Press 1956), S. 260 f. Auch dieser Abschnitt bezieht sich auf Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 57 f.. Wichtig bleibt festzuhalten, wie auch Wyman anmerkt, dass zu diesem Zeitpunkt wohl wirklich jeder Führer eines jüdischen Verbands in den USA sich darüber im Klaren war, dass die Auslöschung der Juden vorangetrieben wurde. Im Gegensatz dazu stellt Walter Laqueur in Was niemand wissen wollte fest, die jüdischen Verantwortlichen hätten nur sehr langsam verstanden, dass die systematische Ermordung ihres Volkes vonstatten ging. Wymans Analyse ist überzeugender. Aus Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach, S.139. Es darf nicht vergessen oder unterschätzt werden, wie wichtig es prominenten Juden dieser Zeit war, nicht zu jüdisch zu erscheinen. Sie wollten eher als Amerikaner denn als Juden dastehen. Frankfurter passt daher genau in dieses Bild. Ebd., S. 145. Ebd., S. 145 f. Zu diesem Abschnitt vgl. ebenfalls Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 58. Vgl. Robert N.  Rosen: Saving the Jews. Franklin D.  Roosevelt and the Holocaust (Thunder’s Mouth, 2006), S. 237 f. Zu den Zitaten und dem Treffen mit Harrison vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 61 ff. sowie Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach, S. 140 ff. National Jewish Monthly, Oktober 1942, S. 36 f. Vgl. auch Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 59; New York Times, 30. Oktober 1942. Ganz offensichtlich setzten sich zu diesem Augenblick die unterschiedlichen Informationen über die verschwundenen Juden und den Holocaust zu einem Gesamtbild zusammen und lösten das Rätsel. Aus der Rede vom 30.  September 1942 zur Eröffnung des Winterhilfswerks, zitiert nach Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 704. Hier auch noch weitere Details zu Hitlers Programm. Vgl. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 64, aus dem hier ausführlich zitiert wird. New York Times, 25. November 1942, A10. Es heißt immer, dass nichts über Auschwitz bekannt gewesen sei, doch dieser Bericht aus Jerusalem erwähnt Auschwitz ausdrücklich, unter dem Namen „Oswiecim“. Regierungsmitglieder mussten nichts anderes tun, um Näheres zu erfahren, als Zeitung zu lesen. Zu den Statistiken der ermordeten Juden vgl. Martin Gilbert: Der Zweite Weltkrieg. Eine chronologische Gesamtdarstellung, München 1991; vgl. auch Gerard Weinberg: Germany, Hitler and World War II (Cambridge University, 1966), S. 218. New York Times, 25. November 1942, A10. Details aus der New York Herald Tribune, 25. November 1942, S. 1. Mehr zum Tag Tag der Trauer und des Gebets vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 396; und Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 84. Aus Goebbels Tagebüchern, vgl. dazu auch Goodwin: No Ordinary Time, S. 397. Aus Adolph Held: Jewish Labor Committee Archives, 8. Dezember 1942; die Zitate finden sich auch in Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 84 ff., der diese Episode ausführlich darstellt. Das Treffen mit Roosevelt wird, wie hier wiedergegeben, dargestellt in Breitman: Der Mann, der das Schweigen brach, S. 143 f.; sowie in Rosen: Saving the Jews, S. 244. Vgl. auch Deborah Lipstadt: Beyond Belief. The American Press and the Coming of the Holocaust, 1933–1945 (Free Press, 1986), S. 1984 f.; Richard Breitman: Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis – von den Alliierten tole-

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riert, München 1999, Kapitel 9 (übrigens ein faszinierendes Buch); und Arthur Morse: While 6 Million Died. A Chronicle of American Apathy (Random House, 1968), S. 28. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 86. Ebd. Ebd. James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 286 f. Hier wird wieder der alte Roosevelt sichtbar, der die Bürokratie umkurvt, wenn es seinen Absichten nutzt Zu diesen Abschnitten vgl. Palcor Bulletin, 17. Dezember 1942; vgl. außerdem Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten, München 1982, der eine bewegende Darstellung der Abläufe bietet. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 87. Ebd., S. 78. Goodwin: No Ordinary Time, S. 397. New York Times, 18. Dezember 1942, S. 46; die Zitate finden sich auch in Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 90. William Manchester: Winston Churchill, S. 345. Dieser Abschnitt zitiert vor allem die New York Times, 23.  April 1942, S.  1 und 16 und vom 16. August 1942, Sektion 7, S. 5. Für weitere Informationen dazu vgl. New Republic, 21. September 1942, S. 336; Fortune, November 1942, S. 227; Time, 25. Mai 1942, S. 16. Für einen Überblick vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 356–359. Forrest Pogue: George C. Marshall (Viking, 1963), S. 123 und 402; sowie Mark Perry: Partners in Command (Penguin, 2007), S. 127. Perry: Partners in Command, S. 166 und 175. Zur Ausrüstung vgl. Goodwin: No Ordinary Time, S. 387. Roosevelts Befehl an Robert Murphy findet sich in Charles Murphy: „The Unknown Battle“, in: Life, 16. Oktober 1944, S. 102 und 106. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 292. Goodwin: No Ordinary Time, S. 388. Perry: Partners in Command, S. 139. Major General Richard W. Stephens: „Northwest Africa. Seizing the Initiative in the West“, in: US Army in World War II, Mediterranean Theater of Operations (Government Printing Office, 1956), S. 260–265. Vgl. zudem den ausgezeichneten Bericht in Burns: Soldier of Freedom, S. 296, aus dem auch die hier aufgeführten Zitate stammen. Außerdem wurde für die Darstellung herangezogen von Rick Atkinson: An Army at Dawn (Holt, 2007), S. 121 f.; und Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008) S. 562 ff. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 297. Zu Marshalls und Eisenhowers Verteidigung des „Clark-Darlan-Abkommens“ vgl. Konferenz mit Marshall, 15. November 1942, Clapper Papers, Library of Congress. Mehr zu Militär und Politik findet sich in Harry C. Butcher: My Three Years with Eisenhower (Simon & Schuster, 1946), S. 165. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 300. Ebd. Robert E. Sherwood: Roosevelt and Hopkins (Harper, 1948), S. 656; vgl. auch Goodwin: No Ordinary Time, S. 389. Vgl. Kai Bird: The Chairman, John J. McCloy. The Making of the Establishment (Simon & Schuster, 1992), S. 202; dies ist eine hervorragende Arbeit. Vgl. Sherwood: Roosevelt and Hopkins, S. 665; Samuel Rosenman: Working with Roosevelt (Harper, 1952), S. 365; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 302.

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Anmerkungen

Kapitel 11 1 Roger Moorhouse: Berlin at War (Basic Books, 2010), S. 336–340. Der Text von Goebbels’ Rede lässt sich online z.B. hier finden: (letzter Zugriff: November 2016). Vgl. ebenfalls William Shirer: The Rise and Fall of the Third Reich (Simon & Schuster, 1960). 2 Bezüglich Washington, D.C., während des Krieges stützt sich diese Arbeit größtenteils auf das schmale, wunderbare Buch des altgedienten Journalisten David Brinkley, der viele eindringliche Beobachtungen darin festgehalten hat: Washington Goes to War. The Extraordinary Story of the Transformation of the City and a Nation (Random House, 1999), S. 23, 73, 74 f., 83, 95 f. Weitere Informationen finden sich zudem in Paul K. Williams: Washington DC. The World War II Years (Arcadia, 2014). 3 James MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 305 f.; zum Text der Rede: Samuel Rosenman (Hrsg.): The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt. Bde. 1941–1945 (Harper, 1950), S. 21–34; zu Roosevelts Vorbereitungen auf diese Kongressrede vgl. Samuel Rosenman: Working with Roosevelt (Harper, 1952), S. 366. 4 Michael Reilly: Reilly of the White House (Simon & Schuster, 1947), S. 150 und 180. 5 Elliott Roosevelt: As He Saw It (Duell, Sloane and Pierce, 1946), S. 324 f. 6 Zu den Gesprächen und den Strategien bei der Konferenz in Casablanca vgl. H.  W.  Brands: Traitor to His Class. The Privileged Life and Radical Presidency of Franklin Delano Roosevelt (Doubleday, 2008), S. 695–708 und 521 f.; Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 565 f. Als Hintergrundinformation für dieses Gespräch ist wichtig zu wissen, dass Mitte Februar 1943 Rommels Panzer das II. US-Korps am Kasserinpass geschlagen hat; Dwight D. Eisenhower: Kreuzzug in Europa, Amsterdam 1948. 7 Diese beiden Absätze beziehen sich vor allem auf Jon Meacham: Franklin and Winston (Random House, 2004), S. 204 und 207 sowie auf das auf S. 205 abgebildete, wunderbare Foto von Churchill, der seinen Willen durchsetzt; vgl. auch Elliott Roosevelt: As He Saw It, S. 329. 8 Zu diesem Abschnitt, inklusive der Frage nach der bedingungslosen Kapitulation, vgl. Meacham: Franklin and Winston, S. 208 f.; Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), S. 409 f.; Smith: FDR, S. 567 f. Smith merkt an, dass die bedingungslose Kapitulation ausführlich besprochen wurde und Roosevelt hier nicht spontan gehandelt habe. Die Diskussion darüber hält noch immer an. 9 Zu diesen Schätzungen vgl. z.B.: (letzter Zugriff: November 2016). 10 Aus MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 330. Burns’ Schilderungen von Hitler zu dieser Zeit sind sehr beeindruckend, weshalb hier auch auf sie zurückgegriffen wurde. 11 Ebd. 12 Zu Hitlers schlechtem Gesundheitszustand, seinen Medikamenten und Symptomen vgl. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 752 ff., auf den sich diese Paragrafen hier berufen. Vgl. zudem MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S.  331 und für die Liste derjenigen, die Hitler hasste, S. 309 f (mit einigen Ergänzungen). 13 Kershaw: Hitler. 1936–1945, 1889-1936, Stuttgart 1998, erstes Kapitel. Der Einfluss des frühen Todes seiner Mutter auf Hitler sollte nicht unterschätzt werden. Die Darstellung der HitlerBiografie lehnt sich stark an Kershaw an. Andere Werke, die hier verwendet wurden, sind: Adolf Hitler: Mein Kampf; Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt am Main 1969; Alan Bullock: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Kronberg 1977; Ron Rosenbaum: Hitler. The Search for the Origins of His Evil (HarperCollins, 1998); William Shirer: The Rise and Fall of the Third Reich (Rosetta, 2011); Daniel Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 2012; Thomas Fuchs: Adolf Hitler. A Concise Biography (Berkeley, 2000). Burns:

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Soldier of Freedom liefert ebenfalls faszinierende Einsichten zum Wesen des Führers. Zur mehr als wichtigen Beziehung zwischen Hitler und seinen Generälen vgl. Corelli Barnett: Hitler’s Generals (Grove Weidenfeld, 1989). Zu dieser Darstellung vgl. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 54 ff. Kershaw stellt eindrucksvoll dar, dass Hitler von Kindesbeinen an ein Träumer und ein von Wahn und Phobien heimgesuchter Dilettant gewesen sei. Ebd., S. 55, 57 ff. und 61. Ebd., S. 89 Ebd., S. 76. Ebd., S. 78 ff. Hier auch ab S. 64 ff. Details zu seiner sich entwickelnden Weltsicht und dem „gewaltigsten deutschen Bürgermeister“. Hitler absorbierte hier, was betont werden sollte, den gängigen Antisemitismus seiner Zeit. Z.B. ebd., S. 109 ff. Der Erste Weltkrieg ist entscheidend für das Verständnis von Hitler. Ebd., S. 151 ff. Ebd., S. 149. Ebd., S. 259 ff. Vgl. auch Mein Kampf. Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 422. Die Illusionen der Moderaten in Bezug auf Hitler waren fast grenzenlos. Dazu vgl. auch Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 510; und William Manchester: Winston Spencer Churchill. The Last Lion (Delta, 1988), S. 63. Vgl. Kershaw, Hitler, S. 547 ff.; Manchester: The Last Lion, S. 81. Ebd. Lippmann galt als einer der bedeutendsten Journalisten der USA, wobei seine Ambivalenz dem eigenen jüdischen Glauben gegenüber sein Urteilsvermögen trübte, vgl. Ronald Steel: Walter Lippmann and the American Century (Little, Brown, 1980). Diese Abschnitte über die Konsolidierung Hitlers beruhen vor allem auf Kershaw: Hitler. 1936– 1945, S: 547; Manchester: The Last Lion, S.  79  ff.; und Erik Larsen: In the Garden of Beasts (Crown, 2012), S. 19. Vgl. Manchester: The Last Lion, S. 117; Kershaw: Hitler. 1936–1945, S. 402. Zu dieser kritischen Senatsabstimmung vgl. David S. Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1989, S. 113. Ebd., S. 123; und New York Times, 13. Dezember 1942 Nation, 13. März 1943, S. 366 f.; und Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 108. Nation gehörte zu den wortgewandtesten Stimmen jener Tage. Im United States Holocaust Memorial Museum und auf dessen Webseite findet sich Filmmaterial zur Aufführung. (letzter Zugriff: November 2016). Vgl. auch Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 108 f., auf das hier stark Bezug genommen wird. Vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 110. New York Times, 13. Februar 1943. New York Times, 16. Februar 1943. Vgl. dazu auch Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 104 ff. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 107 f. Vgl. das Protokoll des Treffens des Joint Committee, 29. März 1943, in Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 371 und auch S. 116. Zu diesem Material vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 119; vgl. auch zu Sir Thomas Moore, Manchester: The Last Lion, S. 101. Reams Haltung lässt an die erschreckende Bemerkung des britischen Abgeordneten Sir Thomas Moore denken, der zu Beginn des Krieges festhielt, er könne keine Spuren von Amtsmissbrauch im NS-Regime erkennen: „Wenn ich nach meiner persönlichen Kenntnis von Herrn Hitler urteilen darf, so sind Friede und Gerechtigkeit der Schlüssel zu seiner Politik.“

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Anmerkungen 40 Z um Luxus der Konferenz vgl. London Observer, 20. April 1943; und New York Times, 20. April 1943. Zum Ablauf der Konferenz vgl. vor allem Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 123 ff. 41 Zu den Abweichungen von den Hauptthemen vgl. Berichte in Manchester Guardian, 20.-24. April 1943. Vgl. auch Arthur Morse: Apathy (Ace Publishing, 1968), S. 54 und 60. 42 MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 396. 43 Vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 126. und 385 f. Hier auch weitere Details zum Ablauf der Konferenz. Zum Hin und Her der Diskussion, die schließlich im Nirgendwo endete, vgl. ebd., S. 134 f. 44 Foreign Relations of the U.S. Band 1, 1943, S. 134. 45 Hier vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 139 für die Interpretation dieser Aussage. 46 Vgl. Meacham: Franklin and Winston, S. 227. 47 Zu diesem und anderen Zitaten vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 151; zur aufrichtigen Diskussion unter den US-Delegierten an Ostern, als sie das erkannten, was Wyman ein Volksproblem nennt, vgl. seinen Anhang A, S. 389. Die Zitate aus Deutschland stammen aus Manchester: The Last Lion, S. 121. Vgl. auch Meacham: Franklin and Winston, S. 227 für die Diskussion über die Meinung der Regierung zur Bermuda-Konferenz. Meacham hält fest, dass dies eine der wenigen Gelegenheiten war, bei der Roosevelt und Churchill aktiv über den Holocaust diskutiert haben, auch wenn sie zu keiner Lösung gekommen sind. Am 30. Juni schrieb Churchill an Roosevelt: „Unsere unmittelbaren Möglichkeiten, den Opfern von Hitlers antijüdischen Taten zu helfen, sind derzeit so limitiert, dass die Eröffnung des kleines Lagers, das zum Ziel haben sollte, einige von ihnen in Sicherheit zu bringen, uns umso wichtiger zu sein scheint.“ 48 Vgl. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 143 f. 49 Diese Erörterung folgt Martin Gilbert: The Holocaust (Holt, 1985), S. 461. Vgl. auch Dan Kurzman: Der Aufstand. Die letzten Tage des Warschauer Ghettos, München 1979; Israel Gutman: Resistance. The Warsaw Ghetto Uprising (Mariner, 1998); Kazik: Memoirs of a Warsaw Ghetto Fighter (Yale University Press, 2002); Emmanuel Ringleblum: Notes from the Warsaw Ghetto (iBooks, 2006). 50 Dieser und die vorherigen Abschnitte nach Gilbert: Holocaust, S. 557–564. 51 Ebd., S. 564–567. 52 Ebd. Die Worte „Rettet uns“ hallte überall dort nach, wo man von ihnen gehört hatte, wie ein heldenhaftes Echo durch die Reihen der Juden. 53 Diese Abhandlung ist MacGregor Burns für die Aufzeichnung des Austauschs zwischen Roosevelt und Archibald MacLeish über die Kriegszeit zu Dank verpflichtet. Sie folgt MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 389–392. 54 Zur Trident-Konferenz und der Diskussion über Italien vgl. zum Beispiel Goodwin: No Ordinary Time, S. 439. Smith: FDR, S. 572–576; Meacham: Franklin and Winston, S. 223–226. 55 Vgl. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S.  390; Meacham: Franklin and Winston, S.  214; Goodwin: No Ordinary Time, S. 419. 56 Smith: FDR, S. 576 für dieses und die folgenden Zitate.

Kapitel 12 1 Tagebuch Harold D. Smith, Franklin D. Roosevelt Presidential Library, Roosevelt Memorandum vom 14. September 1942; zu finden auch in MacGregor Burns: Roosevelt. The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 343. Zu Roosevelt als Amtschef vgl. Barry Dean Karl: Executive Reorganization and Reform in the New Deal (Harvard University Press, 1963); vgl. auch die überzeugende Studie von Richard E. Neustadt: Presidential Power (Wiley, 1960), vor allem S.  214  f., in der Roosevelts Führungsstil analysiert wird. Auch Henry Stimson macht scharfsinnige Beobachtungen über Roosevelt als Verwaltungspolitiker, vgl. seine Tage-

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bucheinträge vom 23. Januar 1943, 3. Februar 1943 und 28. März 1943, Stimson Papers, Box 400, Library of Congress. Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), S. 453. Für weitere Details zur Dringlichkeitskonferenz vgl. auch David S. Wyman: Das unerwünschte Volk, Frankfurt am Main 1989, S. 176 ff. Auf beide Werke wird hier Bezug genommen. Zitate aus Goodwin: No Ordinary Time, S. 454. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 178. Diese Darstellung beruht zum größten Teil auf Jan Karski: Collier’s, 14. Oktober 1944, S. 18 f. und 60 f. Karski bemühte sich, alles festzuhalten, was er gesehen und erlebt hat, wodurch sein Artikel sehr eindringlich wird. Vgl. zudem Goodwin: No Ordinary Time, S. 454. Vgl. die American Experience PBS Dokumentation: America and the Holocaust; Henry Morgenthau Diary, Franklin D.  Roosevelt Presidential Library; Robert N. Rosen: Saving the Jews (Thunder’s Mouth) 2006, S. 297 und 347. Für weitere Details vgl. E. Thomas Wood und Stanislas Jankowski: Karski. How One Man Tried to Stop the Holocaust (Wiley, 1996). Es soll noch einmal daran erinnert werden, dass Karskis ursprünglicher Auftrag war, für ein freies Polen zu werben und Roosevelt vor der Sowjetunion zu warnen. Als er jedoch in das Lager kam und sah, was dort vor sich ging, änderte er seine Meinung. Nicht nur Cordell Hull auch John Pehle berichtet, dass Roosevelt nach Karskis Bericht „fassungslos“ gewesen sei. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 397. Allis Radosh und Ronald Radosh: A Safe Haven. Harry S. Truman and the Founding of Israel (Harper Perennial, 2009), S. 18 ff. Roosevelt erklärte, dass Problem der Juden in Palästina ließe sich lösen, wenn man einen Stacheldrahtzaun um das Siedlungsgebiet ziehen würde. Sam Rosenman stimmte Roosevelt unter der Bedingung zu, dass dieser Zaun „die Juden drinnen und die Araber draußen“ halten müsse, vgl. S. 20. Zu den unsicheren Gegebenheiten im Nahen Osten folgt diese Analyse vor allem der Beobachtung von MacGregor Burns, dass der militärische Erfolg in Italien eine ganze Reihe neuer Optionen im Nahen Osten eröffnete. Vgl. das Morgenthau Tagebuch, Eintrag vom 3. Dezember 1942, Franklin D. Roosevelt Presidential Library. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 180. Rosen: Saving the Jews, S. 289 und 391. Zu den rumänischen Juden: Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 98 ff. Aus Franklin Delano Roosevelt: Message to Congress, 17. September 1943, S. 106, (letzter Zugriff: November 2016). Rosen: Saving the Jews, S. 290 führt das Goebbels Zitat an. MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 250. Diese Diskussion über die Kriegstechnologien beruht vor allem auf Irvin Stewart: Organizing Scientific Research for War (Little, Brown, 1948), S. 5 ff.; sowie Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 578 ff.; und MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 249 ff. (ein von Douglas Rose und Stuart Burns verfasster Abschnitt, vor allem S. 252). Die Liste der konventionellen Waffen stammt von MacGregor Burns und Rick Atkinson. Zum National Defense Research Committee, der zivil-militärischen Kooperation und dem wissenschaftlichen Austausch zwischen den USA und Großbritannien vgl. James P. Baxter: Scientists Against Time (Little, Brown, 1946), S. 14 ff., 119 ff. und 129. Zur Entwicklung der Atombombe und der Befürchtung, Hitler könne sie zuerst in die Hände bekommen, gibt es eine Reihe ausgezeichneter Bücher. Vgl. Richard Rhodes: Die Atombombe oder die Geschichte des 8.  Schöpfungstages, Nördlingen 1988; Richard Rhodes: Arsenals of Folly. The Making of the Nuclear Arms Race (Vintage, 2008); Robert Jungk: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, München 1994; sowie die herausragende Arbeit von Kai Bird und Martin Sherwin: J. Robert Oppenheimer. Die Biographie, Berlin 2009. Diese Darstellung folgt Wyman: Das unerwünschte Volk, S.  214  ff. Morgenthaus „satanische Kombination“ dürfte einer der unverblümtesten Kommentare sein, die je von einem Kabinetts-

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mitglied der USA geäußert wurde. Offenbar war Morgenthau in diesem Moment am Ende seiner Weisheit. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 215. Nach Rosen: Saving the Jews, S. 342; Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 215. Vgl. dazu die ausgezeichnete Arbeit von Richard Brightman und Allan Lichtman: FDR and the Jews (Belknap Press of Harvard University Press, 2013), S. 229. Material aus Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 218. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 221 ff. Dieser und die drei folgenden Absätze stützen sich auf das Protokoll des Foreign Affairs Committee Meeting vom 26. November 1943 (Government Printing Office), S. 32. Der gesamte Text – „Rescue of the Jewish and Other Peoples in Nazi Occupied Territory, Hearings Before the Committee on Foreign Affairs, 78th Congress, First Session on H. Res. 350 and H. Res 352, Resolutions Providing for the Establishment by the Executive of a Commission to Effectuate the Rescue of the Jewish People of Europe“ – ist eine faszinierende und spannende Lektüre. New York Times, 12. Dezember 1943; vgl. auch Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 221 ff. Die New York Times und andere große Zeitungen folgten bei ihrer Berichterstattung der Regierungslinie. Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 229. Die Übersetzung er Sockelinschrift lautet: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, /Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, /Die bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten; /Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,/ Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!“ Die Zitate stammen aus dem Bericht, der über die Jewish Virtual Library online aufgerufen werden kann. (letzter Zugriff: November 2016). Vgl. hierzu vor allem Michael Beschloss: The Conquerors. Roosevelt, Truman and the Destruction of Hitler’s Germany, 1941–1945 (Simon & Schuster, 2002), vor allem S. 44–55. Andere wertvolle Quellen waren u.a. John Morton Blum: Roosevelt and Morgenthau (Houghton Mifflin, 1970); John Morton Blum (Hrsg.): From the Morgenthau Diaries, 3 Bde. (Houghton Mifflin, 1959, 1965, 1967); und Henry Morgenthau III: Mostly Morgenthaus. A Family History (Ticknor and Fields, 1991). Zu den spezifischen Zitaten und weiteren Details vgl. Blum: Morgenthau Diaries, XVI, S. 12–15, 193 f., 206 ff., 211 und 245–265; Mostly Morgenthaus, XIII. Zur Fishkill Farms vgl. Time, 25. Januar 1943; Henry Morgenthau III schreibt, dass Henry Sr. die Farm für seinen Sohn gekauft habe (Blum: Roosevelt and Morgenthau, S. 218), doch Morgenthau selbst bestätigte Journalisten gegenüber, er habe sie mit dem Geld gekauft, das er durch Investitionen mit Familiengeld erwirtschaftet habe. Zu Morgenthau und seinem schwankenden Verhältnis zum Judentum vgl. vor allem Mostly Morgenthaus, XIII. Zum Verhältnis Morgenthau und Zionismus vgl. Diaries, S. 193 f. und 206 ff. Vgl zudem Geoffrey Ward: First-Class Temperament (Harper and Row, 1989), S. 253. Beschloss: The Conquerors, S. 48. Das Original des signierten Fotos befindet sich in der Franklin D. Roosevelt Presidential Library. Vgl. Mostly Morgenthaus, S. 267 f. und 271 f.; Beschloss: The Conquerors, S. 49; Blum: Morgenthau Diaries, Band 1, S. 77. Dieses verblüffende Zitat stammt aus Kai Bird: The Chairman (Simon & Schuster, 1992), S. 100; Vgl. auch Beschloss: The Conquerors, S. 48–52. Interessant ist, dass Morgenthau erst nach dem Krieg zum ersten Mal an einem Pessach-Seder teilgenommen hat. Hierbei erfuhr er dann eine Art Erweckungserlebnis. Dieser Abschnitt stützt sich ausgiebig auf Beschloss: The Conquerors, S. 50 f.; und Kai Bird: The Chairman, S. 224. Diese gehört zu den bekanntesten Bemerkungen Morgenthaus.

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Anmerkungen 30 Z u Morgenthau und dem Zweiten Weltkrieg vgl. Blum: Morgenthau Diaries, Band 2, S. 86–93; Mostly Morgenthaus, S. 318 ff. 31 Vgl. Beschloss: The Conquerors, S. 71 und Bird: The Chairman. 32 Dieser Abschnitt stützt sich auf Beschloss: The Conquerors, S. 51 ff. 33 Vgl. Bird: The Chairman (Simon & Schuster), S. 225 f. 34 Vgl. Irwin Gellman: Secret Affairs. Franklin Roosevelt, Cordell Hull and Sumner Welles (Johns Hopkins University Press, 1995), S. 25 f., 97 ff., 209 und 286; sowie Beschloss: The Conquerors, S. 54. 35 Vgl. Samuel Rosenman: Working with Roosevelt (Harper, 1952), S. 340; Morgenthau Diaries, S. 693, 196 und 202–210; Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 81 ff.; Rosen: Saving the Jews, S. 340–347; sowie Richard Breitman und Alan Kraut: American Refugee Policy (Indiana University Press, 1988), S. 189. Bezeichnenderweise verglich Morgenthau sein Engagement für die Juden mit dem seines Vaters für die Armenier, siehe Blum: Roosevelt and Morgenthau, S. 8. 36 Vgl. zum Beispiel Rosen: Saving the Jews, S. 341. 37 Blum: Roosevelt and Morgenthau, S. 531 f.; Beschloss: The Conquerors, S. 56. 38 Zu diesem Abschnitt vgl. Blum: Roosevelt and Morgenthau, Inhaltsverzeichnis; Beschloss: The Conquerors, S. 58; MacGregor Burns: Soldier of Freedom, S. 346–48. Andere Forscher, etwa Wyman, geben die Periode der Untertätigkeit mit 14 Monaten an. Das War Refugee Board schätzt, dass es 200 000 Juden gerettet hat; vgl. Mostly Morgenthaus, S. 335. An anderen Stellen wird die Zahl auf mehrere Zehntausend geschätzt, vgl. etwa Henry Feingold: The Politics of Rescue, S. 307; vgl. auch Wyman: Das unerwünschte Volk, S. 355.

Kapitel 13 1 Ich danke Rachel Dillan für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung dieser Liste amerikanischer Juden, die im Holocaust hätten sterben können. Weitere Informationen zu diesen Personen, vgl. (letzter Zugriff: November 2016 2 Vgl. das ausgezeichnete Werk von Donald L. Miller: Masters of the Air: America’s Bomber Boys Who Fought the Air War Against Nazi Germany (Simon & Schuster, 2006), S. 255 ff.; 260 ff.; Walter S. Moody: „Big Week: Gaining Air Superiority over the Luftwaffe“, in: Air Power History 41, Nr. 2 (Sommer 1994); Robert N. Rosen: Saving the Jews (Thunder’s Mouth, 2006), S. 366; Charles Murphy: „The Unknown Battle“, in: Life, 16. Oktober 1944, S. 104; Bernard Lawrence Boylan: The Development of the American Long-Range Escort Fighter, Dissertation, University of Missouri, 1955, S. 218 f. 3 Tatsächlich war DuBois Protestant. 4 Dieser Abschnitt stützt sich stark auf Rosen, Saving the Jews, S. 348; vgl. David S. Wyman Das unerwünschte Volk: Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden (Frankfurt am Main, 1989), S. 245–257; sowie „History of the WRB“, FDRL, S. 289. 5 Aktivitäten des WRB, vgl. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 234-248. 6 Zur Errichtung einer amerikanischen Zufluchtsstätte für Juden, ebd., S. 306–312; Rosen, Saving the Jews, 362; Harvey Strum: „Fort Ontario Refugee Shelter, 1944–1946“, in: American Jewish History 63 (September 1983 – Juni 1984), S. 404; Richard Breitman und Alan Kraut: American Refugee Policy and European Jewry, 1933–1945 (Indiana University Press, 1988), S. 197 ff. 7 Zur Machtübernahme in Ungarn beziehe ich mich auf Kershaw, Hitler, S. 826. 8 William Hassett: Off the Record with FDR (Rutgers University Press, 1958), S. 239. 9 Michael Beschloss: The Conquerors (Simon & Schuster, 2002), S. 59; Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 290 f. Die ursprünglich vom WRB entworfene Erklärung war noch stärker, doch Sam Rosenman verwässerte sie, wobei er behauptete, gerade eine explizite und alleinige Erwähnung der Juden würde sie schwächen. Trotzdem war die Erklärung – unter anderem zu Hitlers „wahn-

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sinnigen, kriminellen Gelüsten“ – eine Abkehr von der Vergangenheit und wirkte elektrifizierend. Roosevelt hatte dies auch zuvor mit Stalin und Churchill abgeklärt. New York Times, 26. März 1944; Rosen, Saving the Jews, S. 358, 356. Eisenhowers Erklärung findet sich u.a. in Rosen, Saving the Jews, S. 356 f. New York Times, 10. Mai 1944, A1, zu diesen Absätzen. Für die Situation der Amerikaner japanischer Herkunft macht Kai Bird die Politik verantwortlich: The Chairman (Simon & Schuster, 1942), S. 171. Ich beziehe mich stark auf Bird, Chairman, eine mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Biographie; über McCloys Mutter und seine Jugendjahre, vgl. S. 27 f. Ebd., S. 28–46, 50–53. Ebd., S. 77. Ebd., S. 126, 138. Zu diesem Abschnitt, vgl. ebd., S. 142 f. und 147 ff. Smith, FDR, S. 549 f. Damals war J. Edgar Hoover zwanzig Jahre alt. Er bezeichnete auch die Evakuierung als „vollkommen ungerechtfertigt“. Weitere Informationen vgl. Bird, Chairman, S. 148 f. McCloy sprach auch schon früh über die Verfassung, als sei diese ein unerhebliches Blatt Papier verglichen mit Sicherheitsbedenken, vgl. Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 551. Es ist jedoch tatsächlich so, dass mit dem 14. Verfassungszusatz jeder in den USA Geborene die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft oder dem Status seiner Eltern. Aus diesem Grund bezeichnet Smith, FDR, diesen ganzen Vorgang zu Recht als „schäbig“. Weitere Informationen, vgl. Bird, Chairman, S. 148 f. Vgl. Bird, Chairman, S. 151 f. Zu einer sehr unterschiedlichen Darstellung von Roosevelts und McCloys Verhalten, vgl. H.  W.  Brands: Traitor to His Class (Doubleday, 2008), S.  489–492. Brands bemerkt, dass Roosevelt der historischen Praxis folgte, sich in Kriegszeiten auf feindliche Ausländer zu konzentrieren, er die japanischstämmigen Amerikaner jedoch nicht deportieren, sondern lediglich internieren ließ, und dass Roosevelt kein weiteres Pearl Harbor riskieren wollte. Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), nennt ihrerseits diese Entscheidung „tragisch“, zitiert die American Civil Liberties Union mit den Worten, dies war „der schlimmste einzelne massive Verstoß gegen die Bürgerrechte amerikanischer Bürger in unserer Geschichte“, und fügt hinzu, dass die Behauptung einer militärischen Notwendigkeit rassistisch motiviert war, S. 321 f., besonders S. 321. Über McCloys Einfluss auf Fragen der nationalen Sicherheit schreibt Bird, McCloy „wurde der erste nationale Sicherheitsmanager des Landes, eine Art ‚politischer Kommissar‘, der bei Konflikten, die zwischen zivilen politischen Interessen und dem Bestreben der Militärs, den Krieg zu gewinnen, aufzutreten drohten, als Vermittler auftrat“, Chairman, S. 175. Eine kurze Biografie McCloys, vgl. Alan Brinkley: „Minister Without Portfolio“, in: Harper’s, Februar 1983, S. 31–46. Vgl. Bird, Chairman, 149 f. Weitere Informationen zur Evakuierung japanischstämmiger Amerikaner, vgl. das Buch von Robert Dallek: Franklin D.  Roosevelt and American Foreign Policy 1932–1945 (Oxford University Press, 1979), S. 334–337. Dallek weist darauf hin, dass Roosevelt selten einer Theorie, sondern vor allem einer „militärischen Notwendigkeit“ folgte. Roosevelt scherzte sogar gegenüber Hoover: „Haben Sie auch die ausländischen Kellner in den wichtigsten Hotels in Washington recht gut ausgemistet?“ Dallek erwähnt, dass Roosevelts Heuchelei bezüglich dieser Themen „auffallend“ sei, S. 336. Er verweist darauf, dass der Präsident gerade zu der Zeit, als er gegen die „Barbarei“ der Nazis wetterte und über „den großen Aufschwung menschlicher Freiheit“ in Amerika sprach, die Grundrechte der Amerikaner japanischer Herkunft mit Füßen trat. Weitere Einzelheiten zur Internierung, vgl. Bird, Chairman, S. 153 ff., 160 f., und Smith, FDR, S. 551 ff.

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Anmerkungen 24 M ichi Nishigiura Wegyln: Years of Infamy: The Untold Story of America’s Concentration Camps (University of Washington Press, 1995), S. 156. 25 James MacGregor Burns: Roosevelt: The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 463. 26 In Wirklichkeit war die Abstimmung in New York bedeutend wichtiger. 27 Hierfür und bezüglich Jacob Rosenheims Anstrengungen beziehe ich mich auf Bird, Chairman, S. 211; Michael Gilbert: Auschwitz und die Alliierten (Frankfurt am Main, 1985), S. 278 f.; Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 332. 28 Dulles sollte später der erste zivile Direktor der CIA werden. 29 Zu McClellands Bemühungen, vgl. Harrison Gerhardt (McClelland) to Secretary of State for War Refugee Board, 6/24/44, ASW, 400, 38, Jews, box 44, RG 107, NA, vgl. dazu die von mir benutzte Zusammenfassung in Bird, Chairman, S. 212. Offensichtlich exponierte McClelland sich stark, ein Hinweis darauf, dass das Beweismaterial über das Abschlachten der Juden immer grauenhafter wurde. 30 Zitate finden sich in Bird, Chairman, S. 213, ebenso die Originalmitteilung, der Autor ist im Besitz einer Kopie. Vgl. dazu Dino Brugioni und Robert Poirier: The Holocaust Revisited: A Retrospective Analysis of the Auschwitz Birkenau Extermination Complex (Central Intelligence Agency, 1979), S. 5. 31 Zur Debatte über das Bombardement und die Zurückhaltung des Militärs vgl. die ausgezeichnete Arbeit Michael Neufeld und Michael Berenbaum (Hrsg.): The Bombing of Auschwitz. Should the Allies Have Attempted It?, (University Press of Kansas / United States Holocaust Memorial Museum, 2003), insbesondere S. 276. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Gerhart Riegner, der in diesem Drama ein Hauptakteur war; er fühlte sich von den Alliierten verraten, die, nachdem sie die Informationen erhalten hatten, nichts unternahmen. Der besprochene Aufsatz von Tammy Biddle bietet eine gute Übersicht. Hier findet sich auch eine hilfreiche Zusammenstellung der wichtigsten Dokumente, die das Buch zu einer wertvollen Quelle macht, vgl. S. 240–281. Für meine Zwecke habe ich Kopien der Originale aus den Akten des WRB benutzt. Vgl. auch Bird, Chairman, S. 213 f. 32 Vgl. Richard Davis: Carl Spaatz and the Air War in Europe (Smithsonian Institution Press for Center for Air Force History, 1993); Wesley Frank Craven und James Lea Cate: The Army Air Forces in World War II, 7 Bd. (University of Chicago Press, 1948–1958). Vgl. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 333, 358–362, insbesondere S. 307. 33 Vgl. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 364. 34 Ebd., S 363 f.; ich beziehe mich hier auf die hervorragende Beschreibung von Gilbert. Ebenfalls stütze ich mich auf Dino Brugioni: „The Aerial Photos of the Auschwitz Birkenau Extermination Complex“, in: Neufeld und Berenbaum (Hrsg.): The Bombing of Auschwitz (Kansas Press, 2000), S. 52–58. Brugioni weist darauf hin, dass Birkenau mindestens 30 Mal fotografiert wurde. Als Mitglied einer Bomberbesatzung während des Zweiten Weltkriegs ist er hier besonders kompetent. Später war er Angestellter der CIA und 1948 Mitbegründer des National Photographic Interpretation Center. Bei einer späteren erneuten Überprüfung der Fotos stellte er überrascht fest, dass sie, sowohl in Auschwitz als auch in Birkenau, tatsächlich Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Holocaust deutlich zeigten – Beweismaterial, das nach 1944 und Anfang 1945 völlig übersehen wurde. Neben anderen Bildern waren deutlich Menschen zu erkennen, die sich auf dem Weg in den Tod befanden oder für Sklavenarbeit ausgewählt wurden. Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte: die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers „Endlösung“ (Frankfurt am Main, 1981), S. 108–111, stellt fest, dass die Nachrichtendienste, unter anderem britische Kryptologen, abgefangene Informationen über die große Anzahl von Zügen, mit denen Juden in die schlesischen Vernichtungslager gebracht wurden, unterdrückten. Möglicherweise sah Churchill weiteres Beweismaterial über die Vernichtungslager. Vgl. Peter Calvocorressi: Top-Secret Ultra (Ballantine, 1981), S. 16. In diesen Memoiren behauptet Calvocorressi, ein ehemaliger britischer Mitarbeiter von Bletchley Park, dass einige Kryptologen anfingen, die täglichen Statistiken, die per Funk von jedem Konzentrationslager nach Berlin geschickt wurden,

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abzuhören. Er sagt, in den abgehörten Mitteilungen sei die Anzahl der Neuankömmlinge, die Anzahl der Insassen im jedem Lager sowie die Anzahl der Getöteten genau angeben worden. In diesem Fall hätte Bletchley Park die britischen politischen Entscheidungsträger informieren müssen. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 353 f., 361. Robert L. Beir mit Brian Josepher: Roosevelt and the Holocaust. A Rooseveltian Examines the Policies and Remembers the Times (Barricade, 2006), S. 254; Elie Wiesel: Die Nacht (Freiburg 2013), S. 89; Primo Levi: Ist das ein Mensch? Die Atempause (München 2011), S. 148; vgl. Bird, Chairman, S. 214. Einer von Edward Murrows Radioübertragungen zufolge, „sprachen sie in Buchenwald über den Präsidenten, kurz bevor er starb“, und zweifellos war es in Auschwitz genauso. Hiermit wird eine Debatte vorweggenommen, die bis zum heutigen Tag andauert. Die These, die Bombardierung der Lager in Betracht zu ziehen, sei ein reines Konzept des 21. Jahrhunderts, ist damit hinfällig. Diese Zitate stammen aus den Originaldokumenten, zu finden sind sie auch in Bird, Chairman, S. 214 f. Vgl. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 291. Ebd. Vgl. Bird, Chairman, S. 214 ff. Nachdrucke der entsprechenden Memoranden, vgl. Neufeld und Berenbaum, The Bombing of Auschwitz, S. 274–279. Vgl. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 323–334. Vgl. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 312. Vgl. ebd., S. 318, 324 f.; Bird, Chairman, S. 217. Churchill wetterte außerdem, dass er voll und ganz dafür sei, dass der „denkbar lauteste Aufschrei“ ertönen solle, Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 324. Es besteht kein Zweifel daran, dass Churchills Wortwahl aufrichtig und tiefempfunden war. Hierbei beziehe ich mich stark auf Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 312 f., zur Entscheidung, die Deportationen zu beenden, vgl. S. 312 f. Die Bombardierung Budapests, bei der auch Regierungsgebäude und Privathäuser getroffen wurden, verstärkte den Druck deutlich. Bird, Chairman, S. 217. Vgl. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 271–274. Rosen, Saving the Jews, S. 464 f., sieht dies kritischer und nennt Wallenberg einen amerikanischen Spion. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 345. Vgl. Bird, Chairman, S. 214. Vgl. den außergewöhnlichen Briefwechsel zwischen McCloy und Kubowitzki, 9.  August und 14. August, wiedergegeben in Neufeld und Berenbaum, The Bombing of Auschwitz, S. 273 f. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 365. New York Times, 29. Oktober 1943, S. 7. New York Times, 19. November 2013, A9. Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 370. Hierbei stütze ich mich weitgehend auf Kershaw, Hitler, S. 943; Onlinequellen, wie z.B. (letzter Zugriff: November 2016); Gordon Corrigan: The Second World War: A Military History (Thomas Dunne, 2011), S. 476 f.; Neil Orpen: Airlift to Warsaw: The Rising of 1944 (University of Oklahoma Press, 1984). Über das Warschauer Ghetto selbst, vgl. den Augenzeugenbericht des entflohenen Tosha Bialer: „Behind the Wall (Life – and Death – in Warsaw’s Ghetto)“, in: Collier’s, 20. Februar 1943, S. 17 f., 66 f.; 27. Februar 1943, S. 29–33. Nur zwei Monate nachdem die Alliierten den Massenmord an europäischen Juden bestätigten, erreichte diese beeindruckende Geschichte Millionen von Amerikanern. Sie enthielt eindringliche Fotos von Kindern mit Beinen dünn wie Zahnstocher, die in leerstehenden Zeitungsbuden schliefen. Vgl. dazu Robert H. Abzug: America Views the Holocaust 1933–1945: A Documentary History (St. Martin’s,

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1999). Slessors Bericht zum Warschauer Aufstand, vgl. The Central Blue: The Autobiography of Sir John Slessor, RAF (Praeger, 1957), S. 611–621. Zur komplexen Vorgehensweise, um den polnischen Widerstand mit Nachschub zu versorgen, und bei den Zitaten stütze ich mich auf Slessor, Central Blue, S. 620; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 534–537; Dallek, Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, S. 517–521; und Smith, FDR, S. 630 f. Vgl. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 352 f.; Slessor, Central Blue, S. 620. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 352. Goodwin, No Ordinary Time, S. 520; American Heritage: New History of World War II (Ambrose), S. 488–503; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 553. Vgl. den Austausch von Memoranden zwischen John Pehle und John J. McCloy, 8. November und 18. November 1944, in Neufeld und Berenbaum, The Bombing of Auschwitz, S. 278 ff. Die zeitgenössische Literatur zum Bombardement von Auschwitz ist umfangreich, sehr ausführlich und zeitweise verwirrend oder irreführend und oft faszinierend. Der führende Befürworter des Bombardements ist Wyman in Das unerwünschte Volk; zwei seiner wichtigsten Kritiker sind James H. Kitchens III und Richard H. Levy, die Fakten über die Verfügbarkeit und Genauigkeit von Bombenflugzeugen zusammentragen: zur deutschen Abwehr, der Entfernung und der Platzierung von Zielen. Ihr wichtigstes Argument ist, dass Auschwitz zu bombardieren militärisch nicht durchführbar oder machbar gewesen sei. Stuart G. Erdheim widerlegt so gut wie alle ihre Argumente mit einer äußerst detaillierten Gegendarstellung. Er weist systematisch darauf hin, dass die Bombardierung nicht wegen operationaler Undurchführbarkeit unterlassen wurde, sondern wegen der Einstellung der Alliierten und Roosevelts Politik. Er führt an, in der Logik der Kritiker hätten sonst zahlreiche andere Bombardierungseinsätze des Zweiten Weltkriegs nicht stattfinden dürfen. In seiner gründlichen Auseinandersetzung berücksichtigt Erdheim die Abfangjäger der Luftwaffe, den Zustand der deutschen Luftverteidigung, die Genauigkeit des Bombardements, das Wetter und andere Faktoren. Es bestehen, anhand seiner Ausführungen, kaum Zweifel, dass P-38 Kampfflugzeuge oder Mosquito-Bomber mit präzisen Bombardements Auschwitz im Tiefflug hätten angreifen können. Auch größeren Bombern wäre das möglich gewesen, doch wären die Verluste dann höher gewesen. Erdheims Argumentation wird unterstützt durch den Historiker Rondall R. Rice, der anführt, dass die 15. Air Force mit B-17 und B-24 Bombern sowohl die technischen Möglichkeiten sowie eine günstige Gelegenheit gehabt hätten, um Auschwitz mit einer „großen Erfolgswahrscheinlichkeit“ zu bombardieren. Der einzige Grund dies nicht zu tun, war der fehlende politische Wille. Der renommierte Militärhistoriker Williamson Murray besteht darauf, dass das Militär mit der Invasion in Frankreich beschäftigt war und rund um die Uhr arbeitete, doch ein weiterer Militärhistoriker, Richard G. Davis, widerspricht dem. Richard Breitman, zum Beispiel, weist darauf hin, dass auf der Basis eines 1943 erhaltenen Geheimdienstberichts, Anfang 1944 ein Angriff hätte geplant werden können, wäre der politische Wille vorhanden gewesen. Es gibt auch ein hypothetisches Szenario: Hätte Roosevelt zur Zeit seiner Ansprache am 24. März 1944 einen Angriff befohlen und wäre dieser genau dann, kurz vor dem Beginn der Deportationen aus Ungarn, durchgeführt worden, dann hätte die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten erheblich behindert werden können. Als das nationalsozialistische Deutschland sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, dauerte es acht Monate, um die komplexen industriellen Tötungsmaschinen zu errichten. Im Frühjahr 1944 wäre dem erschöpften „Dritten Reich“ ein Wiederaufbau sehr schwer gefallen. Die Behauptung, dass ein Bombardement von Auschwitz eine ahistorische Debatte sei, die unsere Werte im 21. Jahrhundert reflektierten, wird durch Benjamin Akzins Memorandum völlig entkräftet. Levy behauptet, dass die jüdische Gemeinschaft erheblich gespalten war, doch das waren während des Amerikanischen Bürgerkriegs auch die Unionsstaaten. Dies hielt Abraham Lincoln jedoch nicht davon ab, die Emanzipations-Proklamation zu erlassen oder Kampfeinheiten von Afro-Amerikanern in der Armee aufzustellen. Zum Hin und Her in diesen Artikeln und zur weiteren Infor-

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mation, vgl. die einzelnen Aufsätze in Neufeld und Berenbaum, The Bombing of Auschwitz. Zur Diskussion von Genauigkeit und Vergleichen zwischen den amerikanischen und den britischen Bomberstreitkräften vgl. W. Hays Parks, „‚Precision‘ and ‚Area‘ Bombing: Who Did Which, and When?“, in: Journal of Strategic Studies 18 (März 1995): S. 145–174. Zur allgemeinen Erörterung, vgl. Richard G. Davis: „German Railyards and Cities: US Bombing Policy, 1944–1945“, in: Air Power History 42 (Sommer 1995), S. 47–63, Tammy Davis Biddle: „Air War“, in: Michael Howard, George Andreopoulos und Mark Shulman (Hrsg.): The Laws of War (Yale University Press, 1994). Zur Zerstörung Deutschlands durch die Luftangriffe der Alliierten, vgl. insbesondere Alfred C. Mierzejewski: Bomben auf die Reichsbahn: der Zusammenbruch der deutschen Kriegswirtschaft 1944–1945 (Freiburg 1993). Zu dieser Zeit versuchten die Deutschen die Alliierten durch ihr Angebot „Blut gegen Waren“ abzulenken: Vgl. Yehuda Bauer: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945 (Frankfurt am Main 1996); Richard Breitman und Shlomo Aronson: „The End of the ‚Final Solution‘? Nazi Plans to Ransom Jews in 1944“, in: Central European History 25 (1992); S. 177–203. Zur allgemeinen Debatte, vgl. Verne Newton (Hrsg.): FDR and the Holocaust (St. Martin’s, 1996). 100 000, das sind ungefähr 30 000 Menschen mehr als 2013 beim Superbowl anwesend waren, oder etwas mehr, als im Amerikanischen Bürgerkrieg zur Zeit der Schlacht von Gettysburg in der Potomac-Armee dienten. Rosen, Saving the Jews, S. 398. Vgl. die Debatte in Brands, Traitor to His Class, S. 570. Brands sieht das Problem deutlich anders als z.B. Goodwin in No Ordinary Time oder Smith in FDR. Sowohl Goodwin als auch Smith verstehen Roosevelts Versäumnis, strengere Maßnahmen zu ergreifen, als ein erhebliches moralisches und politisches Versagen, sogar als einen Makel in seiner sonst herausragenden Führung während des Zweiten Weltkriegs. Im Rückblick gibt es subtile Hinweise darauf, dass Roosevelt erkannte, dass die Geschichte Tatenlosigkeit in Bezug auf die Juden nicht sonderlich gut bewerten würde, obwohl er kaum Spuren zu diesem Thema hinterlassen hat. Liest man Henry Morgenthaus Tagebucheintrag vom 3. Dezember 1942, kann man erkennen, dass Roosevelt nach einer Lösung suchte, die zumindest jene Juden, die Hitlers Zugriff lebend entkommen waren, retten würde, indem er ihnen ein zukunftsfähiges Heimatland in Palästina zur Verfügung stellte. Er entwickelte Ideen sowohl für Juden außerhalb Europas, als auch für jene im „Herzen Europas“. Der Präsident sagte zu Morgenthau: „Ich prüfe viele andere Gegenden in der Welt, in die Flüchtlinge aus Europa gebracht werden könnten.“ Morgenthau war überrascht, „dass der Präsident dieses Thema mit so großem Interesse verfolgte und sich so stark damit auseinandergesetzt hatte, um eine Entscheidung zu treffen. Das fand ich sehr ermutigend und erfreulich.“ Vgl. „Concerning Placing Jewish Refugees“, Morgenthau Diary, 3. Dezember 1942, in David S. Wyman (Hrsg.): America and the Holocaust: Responsibility for America’s Failure, Band 13, (Garland, 1991), S. 8 f. Vgl. auch Abzug, America Views the Holocaust, S. 134 f. Vgl. Wyman, Das unerwünschte Volk, S. 357. Den Ausspruch „zwischen Wissen und Nichtwissen“, habe ich von dem protestantischen Theologen W. A. Visser’t Hooft übernommen. Gefunden habe ich dieses wunderbare Zitat in Bird, Chairman, S. 222.

Kapitel 14 1 David Brinkley: Washington Goes to War (Random House, 1999), S. 255. 2 Ebd.; sowie James MacGregor Burns: Roosevelt: The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 499 ff. 3 MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 502 f.; Brinkley, Washington, S. 260. 4 Vgl. Brinkley, Washington, S. 257 f.

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bd., S. 259 f. und MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 504 f. E Truman hatte zunächst James Byrnes aus South Carolina unterstützt, der vom Supreme Court zurückgetreten war, um das Office of Economic Stabilization zu leiten. Vgl. MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 506. MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 507. Näheres zu Lincolns zweiter Amtsantrittsrede, der besten Ansprache eines Präsidenten in der Geschichte, vgl. Jay Winik: April 1865 (HarperCollins, 2001), S. 34 f. Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), S. 529. Vgl. Goodwin, No Ordinary Time, S. 529 f.; Samuel Rosenman: Working with Roosevelt (Harper, 1952), S. 453; Brinkley, Washington; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 508. Dick Strobel, der das Foto machte, sagte, als es erschien, sei „der Teufel los“ gewesen; ähnlich wie Mitarbeiter des Präsidenten heute, waren Roosevelts Leute wütend über die AP. Diese delikaten Details erfuhr Goodwin von Strobel. Nach MacGregor Burns kam wegen der großen Sorge über Roosevelts Gesundheit ein Gerücht auf, er habe sich im Mai in Hobcaw Barony heimlich einer Operation unterzogen. Detaillierter Bericht über das versuchte Attentat, vgl. Kershaw, Hitler, S.  863–896, Zitat auf S. 866. Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 620; Goodwin, No Ordinary Time, S. 530 f. Zur außergewöhnlichen Szene im Militärhospital, bei der Roosevelt zum ersten Mal seine Zurückhaltung fallen ließ, vgl. Rosenman, Working with Roosevelt, S.  458; Smith, FDR, S.  621; Goodwin, No Ordinary Time, S. 532. Smith, FDR, S. 622; William Manchester: American Caesar, 1880–1964 (Little, Brown, 1978), S. 369. MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 507 ff. Zu Bruenns Beobachtungen, vgl. Goodwin, No Ordinary Time, S. 537. Zur Ansprache in Bremerton, vgl. Rosenman, Working with Roosevelt, S. 461 f. Mehr zu Roosevelts Zusammenbruch, vgl. Elliott Roosevelt und James Brough: A Rendezvous with Destiny: The Roosevelts of the White House (Putnam, 1975), S. 378. Vgl. Rosenman, Working with Roosevelt, S. 462; Smith, FDR, S. 623. Vgl. William Hassett: Off the Record with FDR (Rutgers University Press, 1958), S. 266 f. Brinkley, Washington, S. 262. Goodwin, No Ordinary Time, S. 541 f. Dieses Mal schaffte Roosevelt es, Lucy wieder auf Tranquility Farms zu treffen. In den folgenden Abschnitten beziehe ich mich stark auf Lord Moran: Churchill: Der Kampf ums Überleben 1940–1965. Aus dem Tagebuch seines Leibarztes Lord Moran (Gütersloh 1969), S. 204–207; Smith, FDR, S. 623 f.; Cordell Hull: The Memoirs of Cordell Hull, 2 Bd. (Macmillan, 1948), S. 1613–1621; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 519 ff. Zwischen Anthony Eden und Churchill kam es zu einem heftigen Wortwechsel über den Morgenthau Plan, wobei Eden darauf bestand, dass Churchill diesen nicht unterstützen solle, und sich zu guter Letzt durchsetzte. Vgl. Robert Dallek: Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932–1945 (Oxford University Press, 1979), S. 473. Vgl. Goodwin, No Ordinary Time, S. 546 f. Brinkley, Washington, S. 253 f. Rosenman, Working with Roosevelt, S. 474. Ebd., S. 478; bei diesen zwei Abschnitten und den Zitaten stütze ich mich weitgehend auf Rosenman: „The old master“, in: Time, 2. Oktober 1944, S. 21. Vgl. auch MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 521 ff.; Goodwin, No Ordinary Time, S. 547 f. Zum Witz über Fala, vgl. Franklin D. Roosevelt: Links von der Mitte, Briefe, Reden Konferenzen (Frankfurt am Main, 1952), S. 460 f. Franklin D. Roosevelt: Links von der Mitte, S. 460 f.

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Anmerkungen 28 V gl. insbesondere Kershaw, Hitler, S. 944., Hitler übergab die Verantwortung für die Stadt nicht an die Wehrmacht, sondern stattdessen voller Gehässigkeit an Himmler und die SS zur Zerstörung. 29 Zu Roosevelts Wahlkampf in New York stütze ich mich auf die ausgezeichneten Berichte in Goodwin, No Ordinary Time, S. 549 ff.; und MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 525 f., Letzterer nennt die Tage in New York einen doppelten Triumph. 30 Eleanor Roosevelt: Wie ich es sah: Politisches und Privates um Franklin D. Roosevelt (Wien, Stuttgart 1951), S. 355. 31 Franklin D. Roosevelt, Links von der Mitte, S. 462. 32 Hassett, Off the Record, S. 282. Hassett hätte nicht verkehrter liegen können. Zu den folgenden drei Abschnitten und den Wahlergebnisse, vgl. Harold Gosnell: Champion Campaigner: Franklin D. Roosevelt (Macmillan, 1952), S. 211 f. 33 Vgl. Hassett, Off the Record, S. 294. 34 Es wurde bei Roosevelt ein Blutdruck von 210/122 gemessen, was damals noch als unauffällig galt. 35 Zu Hitler und seinen verzweifelten Bemühungen zu dieser Zeit, Gordon Corrigan: The Second World War: A Military History (Thomas Dunne, 2011), S. 457, 485–88. 36 Zu Hitlers nachlassender Gesundheit und seinen Phobien, ebd., S.  488; und Kershaw, Hitler, S. 945 ff. Der Ausdruck „leichtgläubige Bevölkerung“ stammt von Kershaw. Kershaw stellt fest, dass Hitler, unterstützt von seinem Leibarzt Theodore Morrell, einem Kurpfuscher, mit größter Wahrscheinlichkeit unter einer Form psychischer Abnormalität und Persönlichkeitsstörung litt. 37 Als hilfreiche Quelle, vgl. Sybille Steinbacher: Auschwitz: Geschichte und Nachgeschichte (München 2015), S. 77–84, 94–97; Martin Gilbert: Auschwitz und die Alliierten (München 1982), S. 380–83, nennt weitere Vorkommnisse. 38 Vgl. Richard Lauterbach: „Murder, Inc.“, in: Time, 11. September 1944, S. 36. Die Sowjets sahen die Duschen, die Gaskammern, die Doppelreihen des elektrisch geladenen Stacheldrahtzauns, die „Todesstraße“, den Raum voller Ausweise und Dokumente – und das „Meer von Schuhen, 820 000 Paar, aufgehäuft wie Kohlebrocken“, über die der Korrespondent ergreifend schrieb: „Majdanek wurde plötzlich real. Es war nicht mehr ein halb erinnerter Ausschnitt eines alten Films oder eines Zeitungsartikels aus der Prawda oder ein Kapitel aus dem Buch eines deutschen Flüchtlings“. Auffallend ist, dass der Christian Century über diesen Bericht schrieb, es handle sich dabei um wenig mehr als Übertreibungen und Hirngespinste: vgl. „Biggest Atrocity Story Breaks in Poland“, in: Christian Century, 13. September 1944, 1045. Vgl. auch, Robert H. Abzug: America Views the Holocaust (St. Martin’s, 1999), S. 179–182. 39 Martin Gilbert: The Holocaust (Holt, 1985), S. 627–632 zu Majdanek, seiner Befreiung und dem Vormarsch der Alliierten, S. 706–711. Gilbert bemerkt: „Befreiung und Versklavung ereigneten sich“ zur selben Zeit am 18.  Juli 1944. Fotografien von verkohlten menschlichen Überresten wurden veröffentlicht und erregten weithin Entsetzen. Ein SS-Offizier tobte vor Wut über das „schlampige … Gesindel“, das nicht beizeiten die „Spuren tilgte“. Vgl. dazu, Berichte in Steinbacher, Auschwitz, S. 95, 97 ff.; Gilbert, The Holocaust, S. 706–730; und Corrigan, Second World War, S. 474. 40 Vgl. Corrigan, Second World War, S. 535–38; Martin Gilbert: Der Zweite Weltkrieg. Eine chronologische Gesamtdarstellung (München 1991), S. 615. Zu Details vgl. den Bericht des PulitzerPreisträgers Rick Atkinson: The Guns at Last Light: The War in Western Europe, 1944–1945 (Holt, 2013), S. 412–92. Bei den Angaben zur Schlacht, zur Aufforderung zur Kapitulation und den Angaben zu Verlusten beziehe ich mich auch auf Ambrose, American Heritage, S. 502 f. 41 Darin ähnelte er Rommel, der ausgerechnet am D-Day auf Heimatbesuch war und seiner Frau neue Schuhe mitbrachte. 42 Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis (Freiburg 2013), S. 135, 139 f.; Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, S. 392 ff. und S. 790; Steinbacher, Auschwitz, S. 99 ff.; und U.S. Holocaust Memorial Museum, „Auschwitz“, zur Öffnung von Auschwitz.

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Kapitel 15 1 Zu diesen Abschnitten vgl. Franklin D. Roosevelt: Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, 1944–45 (Harper, 1950), S. 523; Samuel Rosenman: Working with Roosevelt (Harper, 1952), S. 516; und James MacGregor Burns: Roosevelt: The Soldier of Freedom, 1940–1945 (Harcourt, 1970), S. 558–563. Es ist interessant, dass Roosevelt nach der Zeremonie das größte Festessen seiner zwölfjährigen Amtszeit im Weißen Haus mit insgesamt 2000 Gästen abhielt. Zum „stechenden Schmerz“ und „völlig durchgefroren“ (ein Omen dessen, was kommen sollte, vgl. James Roosevelt und Sydney Schalett: Affectionately FDR (Harcourt Brace, 1959), S. 355; und Doris Kearns Goodwin: No Ordinary Time (Simon & Schuster, 1994), S. 572 f. Zum großen Festessen, Bess Furman: Washington By-Line (Knopf, 1949), S. 3. Zur Internierung japanischstämmiger Amerikaner, Roger Daniels: Concentration Camps USA: Japanese-Americans and World War II (Holt, Rinehart and Winston, 1970); Allen Bosworth: America’s Concentration Camps (Norton, 1967); Gordon Corrigan: The Second World War: A Military History (Thomas Dunne, 2011) S. 538; Allis Radosh und Ronald Radosh, A Safe Haven: Harry S. Truman and the Founding of Israel (Harper Perennial, 2010), S.  1. Vgl. dazu Bertram Hulen: „Shivering Thousands Stamp in Snow at Inauguration“, in: New York Times, 21. Januar 1945, S. 1. 2 Zu den Vorbereitungen auf Jalta und die Eröffnung des Gipfels, vgl. H. W. Brands: Traitor to His Class (Doubleday, 2008), S. 592; Sara Churchill: A Thread in the Tapestry (Dodd, Mead, 1967), S. 76, 79 f.; Charles Bohlen: Witness to History, 1929–1969 (Norton, 1973), S. 174; Jean Edward Smith, S. 629 f.; Robert Dallek: Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy (Oxford University Press, 1998) und Jean Edward Smith: FDR (Random House, 2008), S. 507–521. 3 Über Roosevelts angegriffene Gesundheit bemerkte auch Frances Perkins, dass er „sehr schlecht aussah“, obwohl Bohlen beharrlich behauptete „unser Führer war krank, aber er war erfolgreich“. Vgl. Bohlen, Witness, S. 177–184; Smith, FDR, S. 630 f.; Dallek, Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, S. 519. 4 Er erwähnte, dass de Gaulle sich mit Johanna von Orleans verglich; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 566. 5 Etwa Richtmikrofone, die eine Unterhaltung aus fast 200 Metern Entfernung einfangen konnten. 6 Ebd. S. 577 f.; Bohlen, Witness, S. 203; Radosh und Radosh, Safe Haven, S. 11, 25; Richard Breitman und Allan J. Lichtman: FDR and the Jews (Belknap Press, 2013), S. 301. Tatsächlich beinhalteten sowohl die demokratischen als auch die republikanischen Parteiprogramme deutlich zionistische Ansichten. 7 Roosevelts Unterstützer bestehen darauf, dass er alles Menschenmögliche unternahm, während Kritiker beteuern, dass er die Polen verkauft habe; vgl. Dallek, Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, S. 514 f. Ein prägnanter Bericht, der Roosevelt sehr kritisch sieht, vgl. Amos Perlmutter: FDR and Stalin: A Not So Grand Alliance, 1943–1945 (University of Missouri Press, 1993); vgl. auch Jonathan Fenby: Alliance: The Inside Story of How Roosevelt, Stalin and Churchill Won One War and Began Another (MacAdam/Cage, 2007). Goodwin, No Ordinary Time, S. 597, stellt fest, dass nach Jalta, aufgrund der sich verschlechternden Lage in Polen, die Beziehung zwischen Stalin und Roosevelt einen „Tiefpunkt“ erreichte. Stalin brach umgehend sein feierliches Versprechen, dass das kommunistische Regime in Warschau freie Wahlen abhalten und seine Basis erweitern werde, stattdessen hielten die Kommunisten an der Macht fest und schufen die Grundlage für den Kalten Krieg. 8 Tatsächlich hatte der Großmufti Mohammed Amin al-Husseini für Hitler Partei ergriffen und hatten Juden durchaus gegen die Deutschen gekämpft. 9 Nähere Angaben zu diesem Treffen, vgl. insbesondere „U.S. Warship Becomes Arab Court in Miniature for Ibn Saud’s Voyage“, in: New York Times, 21.  Februar 1945, S.  1; „White House Announcement of New Talks“, in: New York Times, 21. Februar 1945; William Eddy: FDR Meets

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Ibn Saud (American Friends of the Middle East, 1954), S. 31 f.; Bohlen, Witness, S. 203 f., dessen Bericht im Wesentlichen das Treffen wörtlich wiedergibt und so als Grundlage für alle anderen Berichte dient; Breitmann und Lichtman, FDR and the Jews, S. 302; MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 578 f.; Radosh und Radosh, Safe Haven, S. 19, S. 26 f. Harry Hopkins, der selbst schwer kranke Berater des Präsidenten, sollte später schreiben, er habe das Gefühl gehabt, dass der Präsident nicht völlig begriff, was Ibn Saud sagte, insbesondere die Tatsache, dass die Araber auf jeden Fall gegen die Juden zu den Waffen greifen würden. Harry Hopkins starb 1946. Zu Bergen-Belsen und der Familie Frank, vgl. z.B. Martin Gilbert: The Holocaust (Norton, 2012), S. 784–792; und das Anne Frank Tagebuch (Frankfurt am Main, 1992). Mit dem Kongress ist die Zusammenkunft beider Kammern der USA, dem Senat und dem Repräsentantenhaus, bezeichnet. Zur Kongresssitzung vgl. MacGregor Burns, Soldier of Freedom, S. 581 f.; Smith, FDR, S. 632 f.; und die freimütigen Beobachtungen von William Hassett: Off the Record with FDR (Rutgers University Press, 1998), S. 318. Zu dieser Zeit verlor Roosevelt bereits langsam seinen Geschmackssinn. Zu Roosevelts starkem Gewichtsverlust vgl. insbesondere Hassett, Off the Record, S. 319–329; und Bohlen, Witness, S. 206. Zur Befreiung von Ohrdruf, einem Außenlager von Buchenwald, vgl. z.B. den Bericht von David Cohen über seine Erlebnisse, (letzter Zugriff: November 2016). Cohen war Funker bei der 4. Panzerdivision. Inzwischen nannte General Eisenhower „die barbarische“ Behandlung der Juden „unglaublich“. Er forderte Kongressmitglieder dazu auf, Botschafter in der Welt zu werden für die Gräueltaten der Nazis. General Patton brüllte: „Seht euch an, was diese Bastarde gemacht haben!“ Vgl. auch Gilbert, The Holocaust, S. 790 ff. Dass schon bei der Unruhe der Evakuierung Gefangene entkamen, stützt die Behauptung des WRB, dass eine Bombardierung der Lager vielen zur Flucht verholfen hätte. Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis (Freiburg 2013), S. 156. Zu Roosevelts Tod, Smith, FDR, S.  635  f.; Brands, Traitor to His Class, S.  605  ff.; Goodwin, S. 602 f.; Hassett, Off the Record, S. 332–337. Hassett äußerte sich zu Roosevelts Ableben recht blumig, bemerkte aber im Wesentlichen, dass alle es vorausgesehen hätten, aber niemand wirklich darauf vorbereitet war. Gemeint ist die Schule am Bullenhuser Damm im heutigen Stadteil Rothenburgsort. Die Kinder wurden dort in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 ermordet. Gilbert, The Holocaust, S. 790–96. J.  D.  Pletcher: “The Americans Have Come – at Last!“, in: The 71st Came … to Gunskirchen, Witness to the Holocaust Publication Series, Nr. 1 (Emory University, 1979), S. 4–11; Nachdruck in Robert H. Abzug: America Views the Holocaust (St. Martin’s, 1999), insbesondere S. 195 f. Goodwin, No Ordinary Time, insbesondere S.  613  ff.; zu ihrer Bewertung Roosevelts, vgl. S. 606–611. Vgl. Robert Jackson: The Man: An Insider’s Portrait of Franklin Roosevelt (Oxford University Press, 2003), S. 167. Zu diesem unglaublichen Zitat, vgl. Roger Moorhouse: Berlin at War (Basic Books, 2010), S. 306. Zum Vergleich mit Lincoln, vgl. Jay Winik: April 1865 (Harper Collins, 2001), S. 247 ff.; Alan Guelzo: Lincoln’s Emancipation Proclamation: The End of Slavery in America (Simon & Schuster, 2006). Allis Radosh und Ronald Radosh: A Safe Haven (Harper Perennial, 2009), S. 2; Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart (Frankfurt am Main, 2009), S. 34–35. Obwohl er beim Anschlag vom 11. September 2001 Ähnlichkeiten mit Pearl Harbor erkannt hätte. Jackson, The Man, S. 169, 158.

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Anmerkungen 29 H enry Handy (Hrsg.): Isaiah Berlin. Persönliche Eindrücke (Berlin 2001), S. 74. Andere Beurteilungen Roosevelts, vgl. New York Times, 13.  April 1945, S.  18; Brands, Traitor to His Class, S. 613 f. Eric Larrabee: Commander-in-Chief: Franklin Delano Roosevelt, His Lieutenants, and Their War (Harper and Row, 1987), S. 644; Larrabee schreibt, Roosevelts Verhalten als Oberbefehlshaber habe seine Größe gezeigt. William Leuchtenberg: Franklin D. Roosevelt and the New Deal (Harper and Row, 1963), S. 327; Leuchtenberg schreibt, unter Roosevelt „wurde das Weiße Haus zum Mittelpunkt der ganzen Regierung – die Quelle von Ideen, Initiator von Taten, Repräsentant nationaler Interessen. [Er] schuf das moderne Präsidentenamt.“ Roosevelt selbst sagte einmal: „Ich bin wie eine Katze, ich schlage kurz zu, und dann ruhe ich mich aus“, das war vielleicht eines der Geheimnisse seiner Größe. Vgl. dazu James MacGregor Burns: Leadership (Harper and Row, 1978), S. 281. 30 Bohlen, Witness, S. 210.

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Register Abruzzen, deutscher Überfall in den 382 Acheson, Dean 310, 407, 495 Achsenmächte 163, 231, 235, 239, 245, 267, 271, 323, 324, 329, 331, 333, 338, 342, 364, 367, 386, 392, 397, 421 Akademie der bildenden Künste (Wien) 348 Afrika 270 f., 274, 320, 326–328, 335, 369, 371, 390; siehe auch Nordafrika und einzelne Länder Afrikakorps 268, 324 Agudath Israel Weltorganisation (AIWO) 428 Ägypten 10 f., 84, 240, 269, 325, 325, 391, 491 f. Air Force, US Strategic 445 f. Akzin, Benjamin 431, 433 f., 447, 449, 477, 555 Albanien 263, 442 Albany, NY 36–38, 405 Alexandria 269, 325, 343, 492 Alex Zink, Filzfabrik 103 Algerien 262, 270, 327 Algier 244, 270, 324, 327–329, 376, 493 Allach 483 Allenswood Academy 33 f. Allied Mediterranean Air Force 199 Alpen 68, 173, 175, 344, 377, 494 Ambrose, Stephen 523, 526 America First Committee 227, 238 American Agriculturist 405 f. American Civil Liberties Union (ACLU) 551 amerikanische Juden 291, 293, 300–311, 373, 401, 489, 550 Amiens, Gefängnis von 440, 448, 450, 471 Amsterdam 196 f., 244, 462 Anaconda Copper Mining Company 276 Andersen, Hans Christian 115 Angeln 140 Anne Frank Haus 535 „Anschluss“ Österreichs 209, 280 f., 343, 359 Anthony, George 504 Anti-Nazi-Demonstrationen 304, 365 Antisemitismus 94, 205 f., 208, 213 f., 285, 294 f., 322, 349–354, 372, 403, 406, 546; siehe auch Auschwitz; „Endlösung“, Holocaust Anzio 79, 176, 415 Appeasement-Politik 51, 235 Araber 390, 492, 548, 559 Ardennen 53, 446, 475, 478, 479, 485 „arische“ Rasse 115, 201, 205, 260, 315, 351 Aristokratie 278, 458 Armee, deutsche siehe Wehrmacht Armee, französische 53 f., 125, 328

Armee, italienische 381 f. Armee, sowjetische siehe Rote Armee Armee, US- 79, 333, 382, 471, 480, 483, 496 f. Ärmelkanal 13, 53 f., 57, 64, 67 f., 81, 84 f., 156, 165, 172 f., 176, 180, 183, 185, 238, 248, 266 f., 269, 271, 340, 377, 379 Armenier 404, 550 Army Corps of Engineers, United States 395 Arnold, Hap 189, 518 Associated Press (AP) 172, 186, 457, 556 Atherton, Ray 308 Atlantikwall 85, 156 f., 180, 196, 534 Atlantischer Ozean 192, 241 Atombombe 394–396, 485, 506, 549 Aufstand der Polnischen Heimatarmee (Warschauer Aufstand, 1944) 443 f., 462 f., 466, 490 Aufstand des Sonderkommandos in Auschwitz (1944) 473 f. Aufstand im Warschauer Ghetto (1943) 374–376 Augusta, USS 184 Auschwitz (Konzentrationslager) 93 ff., 101 f., 104, 107–109, 111–115, 117–129, 132–136, 138, 142–149, 152–154, 163, 165, 170 f., 196– 199, 201, 259, 265, 283 f., 286–289, 313, 316, 361, 368, 372, 383, 389, 401, 413, 415, 418, 421 f., 428–440, 442 f., 445, 447 f., 450 f., 462, 472, 475–478, 480–482, 485, 488, 490, 492, 494, 510, 527–531, 543, 553–555 Auschwitz (Stadt) 102, 104 Auschwitz I 95, 112, 443 Auschwitz III 112 f., 432 Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) 95, 112, 119, 121, 124, 132, 154, 165, 198, 265, 287, 429, 432, 443, 447 f., 450, 472–478, 480, 518, 530, 552 australische Schwadron 441 Azalea, HMS 157 Babi Jar 254 f. Bad Nauheim 29 Badoglio, Pietro 381 Bagdad 10, 20, 23 Balfour-Deklaration (1917) 302 Balkan 199, 226, 238, 248, 289, 338, 343, 368, 378, 383, 416, 419, 442 Ball, William 141 Baltimore, USS 459 Baltische Staaten 75, 251, 525 Barkley, Alben W. 234, 361 Baruch, Bernard 37, 93, 138–141, 154 f., 161, 406, 530

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Register Basra 20 Bastogne 478, 479, 480 Bayern 173, 175, 275, 355 BBC 186, 283, 315, 321 f., 328, 420, 475, 482 Becker, Dr. 258 f. Bedford, VA 534 Bedford Boys 183, 534 Belgien 28, 52 f., 84, 162, 167, 177, 188, 212, 229, 244, 263, 265, 281, 289, 296, 360, 471 belgische Juden 133, 167, 289, 296 Belgrad 239 Belleau, FDRs Gang durch den Wald von 42 Belzec 264, 296, 310, 316, 388, 415, 472 Berchtesgaden 194 Bergen-Belsen 477, 493 f., 502 Bergson, Peter H. 364–366, 385, 387, 399, 421 Berle Jr., Adolf 219 Berlin 13–17, 52, 55–57, 80, 102 f., 112, 114, 120, 136, 144, 163, 174, 176, 189, 200 f., 206 f., 211, 240, 244, 253, 255, 259–261, 263, 275–277, 281 f., 286, 289, 292 f., 308, 314 f., 335, 337, 342, 345, 352, 354, 358 f., 366, 381 f., 388, 393, 415, 459, 469, 488, 493, 504–506, 518, 553 Berlin, Schlacht um 13–17, 504 f., 518 Berlin, Irving 414 Berlin, Isaiah 61 f., 508 Bermuda-Konferenz (1943) 366, 368–370, 372, 376, 385, 400, 547 Bern 244, 298 f., 361, 393, 437, 471 Beskiden 146 Besser, Aliza 497 Bestechung 117 f., 126 Bethesda Naval Hospital 88, 419 Bethlehem Steel 424 Biddle, Francis Beverley 48, 426 f., 522 Bielsko-Biała 146, 284 „Big Week“ 415 Bird, Kai 525, 449 Birmingham, deutscher Angriff auf 57, 244 Birobidschan 489 „Blitzkrieg“ 52, 54, 56, 240, 251, 257, 279, 343, 470 Block 11 (Auschwitz) 110, 130, 259 Block 14 (Auschwitz) 126 Blondi (Hitlers Schäferhündin) 200, 346 f., 505 Bloom, Sol 369 f., 399–401 Boettiger, Johnnie 470 Bohlen, Charles 488 f., 496, 509, 520, 522–524, 558 f. Bolschewismus 56, 205, 247 f., 250, 280, 352 Bolton, Frances 229 Bombardements, alliierte 14, 181, 194, 314, 385, 430, 433 f., 436 f., 440

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Bombardierung von Auschwitz-Birkenau 433 f., 554 Borah, William 226 Bormann, Martin 200 Boston, MA 32, 83, 197, 363, 460, 468 Bracht, Fritz 288 Bradley, Omar 184, 479, 498 f., 534 Brand, Joel 164 Brandeis, Louis 302 Braun, Eva 200, 347, 505 Braunau am Inn 347 Breckinridge, John C. 216 Breckinridge, Margaret Miller 216 Breckinridge Long, Samuel Miller 215 f., 223, 307, 371, 398, 400, 403, 424, 537 Breitman, Richard 554 Bremen 199, 314 Bremer Woll-Kämmerei 102 Brenner (Pass) 344, 382 Breslau (Wrocław) 276 f., 289, 296 Brinkley, David 462, 545 British Museum 11 Bruenn, Howard 88–91, 139, 141, 155, 419, 461, 488, 496, 501 f. Brugioni, Dino 522 f. Buchenwald 211, 417, 477, 493, 499 f., 510, 525, 553, 559; siehe auch Ohrdruf Bücherverbrennung 281 Bukarest, Bischof von 364 Bullitt, William 49 f., 52 Buna-Werke 112, 288, 447 Bürgerbräukeller, München siehe Hitlerputsch Burns, James MacGregor 370, 453, 461 Burzio, Giuseppe 164 Butcher, Harry C. 160, 186 Buttinger, Joseph 222 f. Byrnes, James 60 Calvocorressi, Peter 553 Canterbury, Erzbischof von (William Temple) 313, 362, 366, 421 Casablanca 22, 68, 270 f., 324, 327, 329 f., 334, 339, 341, 361, 376 f. Casablanca-Konferenz (1943) 22, 68, 361, 376 f., 545 Celler, Emanuel 401, 451 Chamberlain, Neville 51, 322 Chelmno 259–261, 265 Churchill, Randolph 435, 492 Churchill, Sarah 492 Churchill, Winston S. 8, 11 f., 17, 20–22, 24–26, 42, 48, 51, 53 f., 57 f., 64–75, 78, 83 ff., 87, 92 f., 161 f., 165, 172, 192 f., 198, 201, 224–226, 228– 231, 234, 236–238, 240 f., 250, 256, 267–269,

Register 271 f., 293, 298, 324–326, 333, 339–341, 344, 346, 359–361, 376–380, 394–396, 435 f., 439, 444–446, 454, 463 f., 480, 486–490, 492 f., 501, 506, 508, 547, 553, 556 f. Clark, Mark W. 79, 327, 330, 426 Clauberg, Carl 108 Clausewitz, Carl von 443, 534 Cleveland, Grover 28 Cohen, Ben 410 Conant, James B. 396 Coombs, Peter 502 Coughlin, Father 63 Cox, James M. 43 Cox, Oscar 310, 398 f., 410 Cravath, Henderson, und de Gersdorff, Kanzlei 424 Crowley, Leo 408, 411 Culbertson, Paul 299 f. Dallek, Robert 551 f. Dana, Frances 32 Dänemark 162, 226, 281 Daniels, Josephus 38 f., 41, 43, 332 Darlan, Jean-François 330–332, 381 Davis, Richard G. 554 f. D-Day 19, 81, 92 f., 104 f., 115, 156, 160, 165, 171–173, 175, 181, 190–195, 198 f., 201, 419, 422, 450, 454, 498, 508, 515, 535, 558; siehe auch Normandie Denman, William 427 Dewey, Thomas E. 366, 453 f., 457, 462, 464, 466, 469 DeWitt, John 425 f. Dickens, Charles 76, 402, 520 Dickstein, Samuel 372 Dodds, Harold W. 369, 371 f. Doris (Jüdin) 291 Douglas, Lewis 407 Douglas, William O. 455 Dschingis Khan 346 DuBois Jr., Josiah 220, 402, 409, 416, 550 Dulles, Allen 429, 552 Dunn, James 219 Durbrow, Elbridge 299 f. Early, Steve 188, 454, 457 Eden, Anthony 210, 321, 366 f., 376, 436, 439, 556 f. Eichmann, Adolf 112, 115, 121, 164 f., 257, 261, 263, 282, 393, 418, 501 f., 532 Einstein, Albert 363, 394, 414 Eisenhower, Dwight D. 19, 48, 60, 75 f., 79, 82, 84, 156 f., 160, 171–176, 181, 185–187, 192– 194, 221, 266, 268–272, 326 f., 330 f., 333, 340,

371, 376, 420, 427, 455, 479 f., 498–501, 504, 507, 534, 559 Eisenhower, Milton 427 El Alamein 11, 99, 270, 283, 315, 325, 326, 332 Eliot, Charles W. 30 Elting Jr., Howard 297 f. Emerson, Ralph Waldo 485 „Endlösung“ 108, 201, 204, 208, 251, 257, 259– 263, 265, 273, 311, 313, 315, 319 f., 322, 409, 418 f., 450, 493, 507, 509, 542, 553; siehe auch Auschwitz, Holocaust, Vernichtung Erdheim, Stuart G. 554 Ermächtigungsgesetz (1933) 358 Essen, Nahrungsmittel 68, 90, 118–120, 125, 147, 150, 167–169, 314, 326, 429, 438, 444, 470, 493 f., 498, 503 Euthanasie 258 Evakuierung 257, 262, 426 f., 473, 485, 498, 551, 559 Evans, Hugh E. 531 Évian, Konferenz von (1938) 209 f., 310 Fala (FDRs Hund) 140, 189, 466, 530 Farley, James 37 FBI (Federal Bureau of Investigation) 425, 460 Fermi, Enrico 394, 396 Fettman, Eric 527 Finnland 75, 226, 283 Fitzner, Otto 281–283 Flossenburg 477 Foggia, Flughafen von 79, 129, 171, 383, 431, 448 Forrest, Nathan Bedford 324 Fotografien (Konzentrationslager) 129, 198, 204, 253, 413, 432, 475–477, 528 Fox, George 52 Frank, Anne 196–198, 494, 535 Frank, Hans 207, 252, 258, 260 Frank, Margot 196, 494 Frank, Otto 196 Frankfurter, Felix 303, 309, 388, 414 Frankreich 10, 42, 51, 53 f., 65, 67–69, 72, 82, 84, 90, 156, 167, 171 f., 195 f., 212, 222, 224–226, 229, 239, 245, 251, 255, 262 f., 265, 266, 270, 281, 289, 294, 296, 311, 328–331, 333, 338, 340, 342 f., 361, 370, 377–379, 383, 391 f., 415 f., 440, 443, 450, 454, 462 f., 470, 471, 487, 490, 537, 554 Franz Ferdinand, Erzherzog 24 Friedrich I., römisch-deutscher König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 248 Friedrich II., König von Preußen 358 „Fünfte Kolonne“ 215, 424

563

Register Gaskammern 93, 97–101, 108 f., 113 f., 119–122, 125, 129, 133, 163, 261, 264 f., 286–288, 296, 316, 361, 368, 373, 375, 401, 429, 432 f., 440, 443, 449 f., 462, 473, 475–478, 481 f., 493, 499, 518, 557 Gaston, Herbert 398 Gaulle, Charles de 188, 331, 341, 376, 493, 558 Georg VI., König von England 323 Gerard, James W. 39 Gerhardt, Harrison 416, 431 Gestapo (Geheime Staatspolizei) 16, 136, 144, 150 f., 218, 261, 264, 277, 283, 290, 315, 387, 452, 462, 502 Giesche AG 275 f., 278, 280–283, 288 Gilbert, Martin 557 f. Gillette, Guy 399, 402 Gillette-Rogers-Resolution 399, 401, 412 Giraud, Henri Honoré 341, 376 Glackens, William 106 Goebbels, Joseph 15, 17, 112, 200 f., 206–208, 211, 246 f., 250, 252 f., 261, 314, 318, 335 f., 345 f., 356, 358, 364, 381, 393, 418, 505, 518 Goldstein, Israel 372 Goodwin, Doris Kearns 386, 521, 527, 551, 555, 559 Göring, Hermann 17, 78, 200, 246, 257, 279 f., 346, 358, 504, 536 Grant, Ulysses S. 341 Grey, Edward 55 Groß-Rosen 477 Gryn, Hugo 433 Haining, Jane 438 Halifax, Lord 366 Hanfstaengl, Ernst „Putzi“ 359 Hannibal 193 Harding, Warren 43, 522 Harriman, Averell 75, 241 Harris, Arthur 415 Harrison, Leland 298, 300, 310, 312 Hartjenstein, Friedrich 136, 143, 530 Hassett, William 60, 88, 161, 419, 462, 468 f., 495 f., 502, 559 Hedger, Harry 499–501 Hemingway, Ernest 231 Herzl, Theodor 302 Heß, Rudolf 354 Heydrich, Reinhard 112, 206, 257, 261–263 Hiemer, Ernst 208 Himmler, Heinrich 95, 112, 115, 132, 144, 206, 246, 251, 257 f., 260, 281–289, 317, 358, 374, 444, 459, 477, 504, 530, 557 Himmler, Margarete, geb. Boden 285 Hindenburg, Paul von 356, 358

564

Hirschmann, Ira 532 Hitler, Adolf 13 f., 17 f., 41, 48–58, 60–62, 64, 69, 71 f., 78, 82–85, 93, 108, 112 f., 115, 143, 163, 165 f., 173, 175, 179, 185 f., 193–196, 199–201, 203, 204–206, 208, 210–212, 214, 220, 224 f., 229, 232, 238–242, 246–253, 255, 257, 261, 263 f., 266, 269, 271, 277–281, 283–286, 288 f., 291, 293–299, 303 f., 308, 311–316, 319, 322, 324, 329, 331, 335 f., 338, 342–363, 365, 367 f., 370 f., 373, 380–382, 387–389, 393 f., 396, 398, 401, 403, 408, 414, 416–419, 431 f., 437, 446, 458 f., 469, 472, 475, 478, 480, 485, 488 f., 494, 497, 504 f., 523, 526, 534–536, 539, 545–547, 549, 551, 557, 559 Hitler, Alois 347 f. Hitler, Klara, geb. Pölzl 347 f. Hitlerputsch (1923) 285, 354, 359 Hobcaw Barony 93, 105, 138–141, 154 f., 161, 460, 530, 556 Holmes, John Haynes 309 Holocaust 202, 226, 304, 318, 361, 402 f., 409, 509 f., 512, 528, 547, 550, 552; siehe auch Auschwitz; „Endlösung“; Konzentrationslager Hoover, Herbert 47, 385 f. Hoover, J. Edgar 425 f., 460, 551 f. Hopkins, Harry 48, 60, 70, 161, 221, 231 f., 241, 267, 328, 366, 407, 449 f., 460 f., 492 f., 559 Horthy, Miklós 418, 437 Höß, Rudolf 123 f., 286, 289, 482 Hößler, Franz 98 f., 108 Howe, Grace 522 Howe, Louis 38 f., 43, 45, 407, 521 Hugenberg, Alfred 355 Hull, Cordell 20, 48 f., 213, 221, 234, 306–308, 366 f., 389, 397 f., 407–411, 463 f., 523, 548 Hull, John E. 430 Hunger 47, 96, 98, 109, 111, 113, 119 f., 142, 147, 168 f., 252, 255, 257, 264, 277, 311, 317, 321, 346, 354 f., 370, 374, 398, 481, 493 f., 510 Ibn Saud, Abd al-Aziz, König von Saudi-Arabien 391, 489, 491 f., 495, 559 Ickes, Harold 50, 303, 422 f., 428 I. G. Farben 103, 113, 129, 279, 288, 431 Jackson, Andrew 27, 62 Jackson, Robert 229, 504, 507 f. Jalta-Konferenz (1945) 245, 486, 488–492, 495, 559 Jefferson, Thomas 27, 61, 506 Johnson, Samuel 236 Jüdischer Weltkongress 294 f. Jugoslawien 239–241, 245, 265, 368, 389, 506, 510

Register

Kairo 8, 9–11, 17, 20–22, 74 f., 164, 192, 239, 270, 325, 326, 377 Kairo-Konferenz („Sphinx-Konferenz“) 8, 11 Kamingespräche (FDRs) 51, 76, 162, 176, 215, 234, 236, 304, 320, 381, 484, 509, 538 Kapitulation 56, 141, 214, 229, 341–343, 351 f., 381, 394, 478, 490, 505, 506 Karski, Jan 385, 387–389, 421, 475, 529, 548 Kastner, Rudolf 154, 164 f. Kaunas, Progrom in 245, 252 Keitel, Wilhelm 523 Kennedy, Joseph 42 Kershaw, Alex 532, 534 Kershaw, Ian 472, 535 f., 539, 546, 557 Kesselring, Albert 192, 378 f., 382 King, Admiral 189 Kitchens, James H. 554 Klimt, Gustav 350 Knox, William Franklin „Frank“ 155 Konzentrationslager 95, 113, 117, 134, 142, 144, 147, 149 f., 153, 204, 207, 212, 222, 236, 259, 281, 284, 286, 310, 333, 357, 359, 388 f., 420, 422, 428, 466, 476, 482, 483, 500, 528, 536, 553 Koppelmann, Isidor 542 Kopycinski, Adam 110 Krasnansky, Oskar 154, 164, 196, 531 Krebs 91 f., 348, 460, 515 Krematorien: 97 f., 101 f., 109, 119, 121 f., 133, 135, 154, 165, 196, 198, 287, 289, 291, 316, 368, 432, 443, 451, 472–475, 477 f., 481, 499, 505, 519, 530, 532 Krüger, Friedrich-Wilhelm 289 Krupp AG, Friedrich 113, 279, 447 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 280 Kube, Wilhelm 258 Kubowitzki, Leon 439 Kulka, Erich 433 LaGuardia, Fiorello 191, 317, 337, 365, 385 f., 468 Lahey, Dr. 90 Lane, Arthur Bliss 446 Lange, Rudolf 261 Langer, William 372 Laqueur, Walter 541, 543, 553 La Roche Guyon 194 Larrabee, Eric 560 Leahy, Admiral 192 Lee, Robert Edward 534 LeHand, Marguerite Alice „Missy“ 52, 407 Lemberg (Lwiw) 245, 264, 472 Lend-Lease-Politik 39, 59, 73, 141, 234, 238, 340, 398, 488, 508 Lerner, Max 385

Leuchtenberg, William 560 Levi, Primo 433, 528, 532 Leviathan, USS 42 Leviné, Eugen 352 Levine, Samuel A. 522 Levy, Joseph 421 Levy, Richard H. 554 f. Libyen 11, 268, 325, 325, 339, 371 Lincoln, Abraham 27, 58 f., 62, 162, 188, 390, 456, 485 f., 506 f., 509, 511, 555 Lindbergh, Charles 226, 238, 536 Lindenbaum, Shalom 440 Lippmann, Walter 60, 357, 546 Lomazow, Stephen 527 London 34, 42, 52, 56 f., 129, 225, 227, 236, 240, 244, 264, 267 f., 276 f., 280 f., 294, 297, 306, 308, 316, 318, 321, 326, 331, 333, 361, 364, 369, 376, 388, 436, 444, 471, 475, 501, 506 Long, Huey 63 Long, William Strudwick 216 Longfellow, Henry Wadsworth 237 Longworth, Alice Roosevelt 33, 41, 453 Lovett, Dr. 522 Lublin (Stadt) 245, 374 f., 475 Lublin-Majdanek siehe Majdanek Lucas, Scott 369 Lueger, Karl 350 Luftangriffe auf London, deutsche 56 f., 227, 236, 240 Luftschlacht um England 228; siehe auch Birmingham; London Luxemburg 162, 263, 471, 479 Luxemburg, Rosa 352 Luxford, Ansel 397 Lwiw siehe Lemberg MacArthur, Douglas 60, 453, 456, 459 f. MacLeish, Archibald 377, 547 Majdanek 117, 134 f., 374 f., 472, 475 f., 482, 557 Malin, Patrick 222 Manchester, William 537 Marshall, George C. 27, 60, 66, 71, 75 f., 186, 189, 221, 267–272, 330, 339 f., 376, 455, 525, 540 Marshall, John 190 Mauthausen 477, 493 McAuliffe, Anthony 478 f. McClelland, Roswell 429 f., 433, 552 McCloy Jr., John J. 189, 408 f., 416, 423–428, 430 f., 435 f., 439 f., 447–450, 475, 551 McCloy Sr., John J. 423 f. McCormick, Anne O’Hare 366 McDonald, James G. 220–222, 304, 317 McIntire, Ross 52, 70, 88–91, 139, 155, 422, 464 f., 467, 523, 527, 530 f.

565

Register McKinley, William 31 Meacham, Jon 520, 547 Meir, Golda 210 Meltzer, Bernard 398 f. Mengele, Josef 96 f., 108, 113 Mercer, Lucy siehe Rutherfurd, Lucy Mercer Molotow, Wjatscheslaw M. 65, 249, 267 f., 270, 283, 487 Monowitz 112, 129, 432, 442; siehe auch Auschwitz Montgomery, Bernard Law 11, 79, 174, 283, 325, 339, 343 f., 379 f., 478 f. Moore, Thomas 547 Moran, Lord 87, 464, 487 Mordowicz, Czesław 196, 475 Morgan, J. P. 34 Morgenthau, Elinor Fatman 405 Morgenthau Jr., Henry 61, 77, 222, 232, 234, 241, 303, 331, 336, 366, 390, 393, 397–399, 402–412, 414–418, 421, 434, 450, 463, 501, 549 f., 555 f. Morgenthau Sr., Henry 404, 407, 549 Moskau 20 f., 66, 191, 245, 249–251, 255, 257, 261, 293, 342 f., 444, 486 f., 490, 505 Münch, Hans 101, 111 München 113, 199, 205 f., 244, 276, 278, 284 f., 314, 351–354 Mundt, Karl 400 f. Murphy, Robert 320, 327 Murray, Williamson 554 Murrow, Edward R. 57, 78, 333, 510, 525, 553 Mussolini, Benito 62, 217, 225, 246, 346, 360, 380–382 Napoleon 9, 54, 56, 84, 247, 249, 251, 342, 539 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 261, 277, 279 f., 285, 288, 353, 355, 356, 452 Natzweiler 477 Neuengamme 477 New York 28, 31 f., 35–40, 43–46, 51, 58, 61, 77, 139, 161, 165, 186, 188, 190 f., 211, 214, 216, 218, 222, 275 f., 281, 294, 301–304, 306 f., 309 f., 316 f., 322, 337, 362, 364–366, 373, 385, 400–402, 405–407, 414, 417, 419, 421–424, 428, 440, 448, 453, 460, 466 f., 469, 475, 491, 494, 506 f. Niederlande 13, 52, 122, 138, 167, 188, 196, 212, 214 f., 229, 244, 263, 281, 296, 338, 360, 415, 462, 470 Nikolaus II., Zar von Russland 486 Niebuhr, Reinhold 372 Niehaus, Max 121 Nikols, Bruce 498 Nimitz, Chester W. 60, 459

566

Nordafrika, Schlachtfelder von 12, 79, 99, 175, 192, 238, 266, 269 f., 293, 311, 314, 323, 324, 325, 326–333, 338–341, 343 f., 361, 370 f., 376, 378 f., 508; siehe auch Algerien, El Alamein, Libyen, Marokko, Suezkanal, Tunesien Normandie, Invasion in der 18, 75, 82, 85, 141, 156, 170 f., 174 f., 179–182, 192–197, 394, 417, 420 f., 439, 449, 462, 470, 471; siehe auch „Operation Overlord“ Nürnberg 103, 116, 205, 286, 359, 366, 415, 496, 504, 507 Obama, Barack 28, 498 Oberschlesien 105, 121, 128 f., 171, 281–283, 288, 429 O’Connell, Daniel 521 Odessa, 245, 251, 256, 415 Ohrdruf 497–500, 507, 559; siehe auch Buchenwald Olsen, Iver 434 f., 437 „Operation Bolero“ 266–268 „Operation Jericho“ 440 „Operation Overlord“ 19, 67 f., 71 f., 74, 76, 81– 84, 86, 155, 161, 163, 165, 171, 174, 185, 378, 394, 449, 508, 532 „Operation Torch“ 269–271, 320, 333 Oppenheimer, J. Robert 397, 414 Österreich 41, 94, 114, 209 f., 226, 244, 257 f. 279–281, 284, 296, 347, 353, 359, 383, 442, 477, 493 Ostsee 69, 244, 249, 251, 478, 525 Palästina 11, 210, 245, 294, 302, 304, 308, 317, 325, 364, 387, 390–392, 400, 416, 421, 489, 492, 548, 555 Papen, Franz von 277, 356 Paris 31, 34, 42, 50, 52–55, 126, 206, 222, 244, 276, 279, 281, 294, 342, 388, 424, 450, 463, 471, 506 Parker, Dorothy 385 Patton, George S. 76, 79, 82, 324, 326, 339, 379 f., 498–500, 504 Paul, Randolph 220, 398, 411 Paulus, Friedrich 342, 343 Payne, Charles 498 Peabody, Endicott 29 f., 520 Pearl Harbor 58, 171, 192, 259–261, 297, 332, 336, 395, 423, 425, 449, 459, 495, 540, 551, 560 Pehle, John 397, 411, 415–417, 421, 429–431, 433–435, 447–449, 548 Pepper, Claude 228 f. Perkins, Frances 45, 303, 484, 558 Perry, Mark 525 Pétain, Henri Philippe 331 Pfeilkreuzler (Ungarn) 438

Register Pickard, Percy 441 Pickett, George 99, 182, 534 Pitt, William 114 Pius XII., Papst 420 Pletcher, J. D. 503 Pogue, Forrest C. 540 Polen 18, 72, 75, 84, 94 f., 116, 128, 130 f., 138, 147, 162, 167, 171, 179, 201, 207, 226, 229, 245, 252, 255, 257, 264 f., 279–281, 283, 290, 296, 298, 316 f., 321, 336, 338, 343, 360, 367, 373, 378, 383, 387, 415, 418 f., 422, 429, 435, 444– 446, 462, 466, 475, 477, 480, 488, 490, 548, 558 f. Pollack, Dr. 152 f. Polnische Exilregierung 75, 308, 316, 321, 475 Polnische Heimatarmee 374, 443–445, 450; siehe auch Aufstand der Polnischen Heimatarmee Prag 94, 244, 510 Preston, Guy 424 Prettyman, Arthur 234 Prügel 110, 120 f., 207, 252 f., 277, 357, 498 Ravensbrück 477, 493 Rayburn, Sam 189, 322, 396 Reagan, Ronald 28 Reams, R. Borden 367, 547 Reichsbahn 113 „Reichskristallnacht“ (1938) 206–208, 210 f., 281, 536 Reichstagswahl, deutsche 452 Reilly, Mike 22, 26, 460 Résistance, französische 177, 187, 341, 440 f., 448, 473 Rettung von Juden 154, 164, 362, 365, 372, 386 f., 391–393, 399 f., 403, 410, 412, 416 f., 421, 428, 430, 433, 439, 442, 450, 509 Reynaud, Paul 54 Rezniqi, Arslan 442 Rice, Rondall R. 554 Riegner, Gerhart 293–302, 305 f., 308–310, 312, 319, 321, 391–393, 397, 403, 429, 475, 542, 552 Riegner-Telegramm 296, 300 f., 305 f., 309 f. Ringle, Kenneth D. 426 Roberts, Owen J. 369, 425 Robespierre, Maximilien de 253, 347 Robinson, Edward G. 362, 414 Rogers Jr., Will 399 Röhm, Ernst 277, 285, 359 Rommel, Erwin 11, 53, 84–86, 156, 160, 178, 192, 194, 196, 265, 268–270, 283, 314 f., 324– 326, 332 f., 343 f., 382, 459, 535, 545, 558 Rommel, Lucie 194, 558 Roosevelt, Alice siehe Longworth, Alice Roosevelt Roosevelt, Anna 35, 88, 522 Roosevelt, Anna Rebecca Hall 33

Roosevelt, Eleanor 32–38, 40–44, 90 f., 141, 171, 186, 189, 213, 220, 222 f., 234, 309, 318, 363, 386 f., 423, 428, 456, 462 f., 467, 502 f. Roosevelt, Elliott (Eleanors Vater) 32 f. Roosevelt, Elliott (FDRs Sohn) 22 f., 87, 155, 339, 341 Roosevelt, James (FDRs Vater) 28–31, 37, 91, 423 Roosevelt, James (FDRs Sohn) 484 Roosevelt, Quentin 42 Roosevelt, Sara Ann Delano 28, 30, 234 Roosevelt, Theodore 31, 33, 37, 59, 274, 522 Rose, Billy 362 f. Rosenberg, Walter siehe Vrba, Rudolf Rosenheim, Jacob 428–430 Rosenman, Sam 410 f., 460, 465, 548, 551 Rosin, Arnost 196, 475 Rote Armee 23, 65, 67, 73, 125, 134, 247, 261, 343, 352, 415, 443, 475–477, 480–482, 493, 505 Rotes Kreuz, Internationales 18, 120 f., 201, 312, 437 Royal Air Force, britische 13, 56, 78, 129, 436, 440, 554 Rundstedt, Gerd von 194, 251 Rutherfurd, Lucy Mercer 154, 463, 501 Sachsenhausen 477, 493 Sagalowitz, Benjamin „Benno“ 292 f., 295 f., 312, 542 Saudi-Arabien 391, 489, 491 f. Schiffler, Andrew 400 Schlesische Schuhwerke 113 Schloß, Julius 280 Schneider, Helga 518 Schönerer, Georg Ritter von 349 Schröder, Gustav 211 f. Schulte, Clara 276, 279 Schulte, Eduard 273–284, 286, 288–293, 295– 299, 312, 322, 388 f., 403, 421, 475, 513, 541 f. Schulte, Ruprecht 275 Schulte, William 214 Schulte, Wolfgang 275 Schwarzes Meer 408 Scipio Africanus 193 Selektionsprozess 96 f., 109, 113, 122, 127, 196, 474, 477, 493 Sherwood, Robert E. 87 Shoumatoff, Elisabeth 501 Siemens-Schuckert-Werke 113, 447 Silverman, Samuel Sydney 306 Slapton Sands 155–160, 174, 532 Slessor, John 444 f. Small, Ken 532 Smertenko, Johan J. 450 Smith, A. Merriman 531

567

Register Smith, Alfred E. „Al“ 43 Smith, Jean Edward 41 Smith, Walter Bedell 174 Sobibór 265, 296, 316, 376, 415, 472, 530 Sohier, Alice 32, 520 Sowjetarmee siehe Rote Armee Sowjetunion 11, 18, 56–58, 64, 66, 72, 163, 219, 242, 245, 247–252, 255, 257, 261, 268, 283, 293, 320, 332, 335, 340, 343, 359, 445 f., 466, 468, 472, 482, 489 f., 508 f., 526, 548 Speer, Albert 200, 346, 396 Spellman, Francis Joseph 420 Squire, Paul 313 SS (Schutzstaffel) 18, 95–100, 102–108, 110–115, 117 f., 120–132, 134–136, 142–145, 164, 166– 168, 197 f., 206 f., 222, 253 ff., 258, 261 f., 264 f., 277, 282 f., 285–287, 297, 353, 359, 375, 382, 432 f., 443, 448, 458 f., 470, 473 f., 478, 480 f., 485, 493, 497, 528, 557 Stagg, Captain 533 Stalin, Josef 20 f., 23, 25–27, 48, 58, 63–76, 87, 163, 192, 199, 247, 249, 267, 270 f., 284, 339– 341, 344, 346, 377, 402, 428, 444 f., 454, 480, 486–490, 493, 508, 524 f., 551, 559 Stalingrad 64, 245, 314, 323, 326, 339, 342, 343 f., 380 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 458, 472 Stimson, Henry 60, 230, 234, 241, 266, 270 f., 396, 407 f., 411, 417, 425–428, 435, 463, 548 Stowe, Harriet Beecher 114 Strasser, Gregor 285, 355 Straus, Gladys 407 Strobel, Dick 556 Südafrika 129, 222, 349 Suezkanal 10 f., 23, 269, 315, 325, 343 Sumner, Charles 307 Syrien 245, 325, 391 Szilárd, Léo 394 Sztójay, Döme 122, 422 Taft, Robert 508 Taylor, Myron C. 209, 310 f. Teague, Michael 521 Tedder, Arthur 174 Theresienstadt 120 f., 501 f. Tobruk 268 f., 325, 325 f. Treblinka 264, 296, 316, 372, 374–376, 415, 472 Trident-Konferenz (1943) 376 f. Triest 129, 244 Truman, Bess 455 Truman, Harry 361, 455, 470, 502, 504, 556 Tugwell, Rex 62 Tully, Grace 65, 329, 407 Tunesien 11, 193, 262, 270, 324, 330, 344 Tydings, Millard 308

568

Ungarn 96, 116, 122 f., 127, 138, 152, 154, 163– 167, 169, 171, 196, 198, 240, 262 f., 289, 311, 360, 418–422, 428 f., 433, 437–439, 475, 510, 531, 554 Unglick, Charles 125–127 Unterernährung 110, 299 „Unternehmen Barbarossa“ 248, 252, 283, 539 Urey, Harold 396 Vernichtung (der Juden; „unwerten Lebens“) 93, 112, 115–118, 120 f., 138, 164 f., 198, 201, 205, 257, 263 f., 296, 298, 312 f., 315–317, 321, 334, 365, 412, 414, 418 f., 421 f., 429, 433, 435, 447, 472, 482 Vernichtungslager 112, 116 f., 121, 257, 264, 334, 374–376, 387, 414, 428–431, 433 f., 436, 439, 447, 449, 472, 480, 486, 501, 530, 553; siehe auch einzelne Lager Vichy-Frankreich 54, 239, 244 f., 270, 311, 328– 331, 388, 471 Viktor Emanuel III., König von Italien 380 f. Volkov, Dmitri 125, 144, 148 Vrba, Rudolf (Walter Rosenberg) 115–120, 122– 138, 142–154, 164 f., 170, 196, 201, 421, 429, 431, 433, 435 f., 447, 449, 475 f., 529, 531, 542 Vrba-Wetzler-Bericht 154, 165, 201, 429, 433, 435 f., 447, 449, 475, 531 Wagner, Bob 467 Wagner, Richard 314, 347, 349 Wallace, Henry 470 Wallenberg, Raoul 437–439, 553 Wannseekonferenz (1942) 259–264 Warburg, James Paul 308 Ward, Geoffrey C. 520–522 „Waren gegen Blut“ 164, 531 f. Warren, George 369, 372 Warschauer Aufstand (1944) siehe Aufstand der Polnischen Heimatarmee Warschauer Ghetto 289, 296, 309, 372–376, 387, 490 Washington, D.C. 20, 24, 27 f., 32, 39 f., 42, 46 f., 49, 62, 75, 77, 83, 139–141, 155, 161, 175, 186, 197, 202, 207, 216, 219, 224, 228, 238, 263, 266–268, 282, 298 f., 305 f., 310, 316, 321, 326, 332 f., 336 f., 361, 363, 366, 368 f., 371, 376 f., 395, 402, 414, 417, 425–427, 433, 436, 439, 451 f., 460 f., 463–465, 467, 469, 475, 493, 496, 503 f., 506 Washington, George 27, 50 f., 59, 138, 162, 494 Wasser 15, 22–24, 28, 35, 40 f., 53, 80, 85, 95, 99, 109 f., 119, 124, 135, 140, 142, 148 f., 157–160, 167 f., 171, 173, 180–185, 209, 211, 256, 271, 285, 295, 329, 339, 350, 368, 459, 467, 491, 493, 495, 497, 521

Register Wasserstoffbombe Watson, Pa 188, 493 Wedgwood, Josiah 115 Wehrmacht, deutsche 11, 25, 53, 57 f., 84, 122, 176 f., 179, 193, 212, 214, 224, 229, 238 f., 242, 247–252, 257, 266, 280, 293 f., 315, 323, 326, 336, 338, 343 f., 380, 382, 470, 494, 535, 540, 557 Weimar 358, 500 Weimarer Republik 277, 353, 355, 358 Weißes Haus 22, 27, 32–34, 36, 39, 52, 59, 65, 76, 87, 90–92, 105, 139, 165, 170 f., 176, 186, 188, 192, 202, 212, 225, 228 f., 232, 234, 236, 249, 267, 291, 298, 311, 315 f., 318 f., 331, 334, 336, 341, 362 f., 365 f., 368, 376, 389, 392, 395, 410 f., 423, 430, 434, 436, 440, 442, 448, 454, 463, 470, 484, 496, 502–504, 560 Weissmandl, Chaim Michael Dov 164 Weißrussland 251, 258, 450 Weizmann, Chaim 210, 391 Welles, Sumner 52, 220 f., 306 f., 310, 313, 315, 366, 407 Wetzler, Fred 127–138, 142–154, 164 f., 170, 196, 201, 421, 429, 433, 435 f., 447, 449, 475, 531 Wheeler, Burton 226, 238 White, Harry Dexter 410 White, William Allen 47, 524 Wien 113, 197, 201, 244, 284, 301, 348–351, 462, 497, 502

Wiesel, Elie 481, 500, 510, 512, 528, 532 f. Wilhelm II., deutscher Kaiser 31, 54 Wilhelm der Eroberer 84 f. Willkie, Wendell 229, 237, 331, 365, 453, 455, 538 Wilson, Woodrow 38 f., 43, 59, 86, 216, 227, 302, 404, 454, 470, 484, 509, 523 Wise, Stephen 297–311, 316–321, 365 f., 368 f., 385, 392 f., 404, 412, 421, 429 Wolfsschanze 200, 344, 361, 458, 469, 472 Woodin, William 407 WRB (War Refugee Board) 411 f., 415–418, 420 f., 429–431, 434–440, 447, 551, 559 Wyman, David S. 401, 542 f., 550, 554 Yad Vashem 528, 542 Zementfabrik AG Golleschau 113 Žilina 153 f., 168 Zink 275 f., 296 Zionismus 94, 117, 152, 154, 302, 304 f., 362, 391, 406, 489, 492, 558 Zürich 289, 292, 296, 298 Zwangsarbeit 108, 112 f., 129, 229, 248, 257, 264 f., 283, 295, 309, 313, 316 f., 373 f., 420, 477 Zyanid 473 Zyankali 376, 504 f. Zyklon B 100, 113, 121, 259, 451, 473

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Was wollten die Nazis in Tibet?

Peter Meier-Hüsing Nazis in Tibet Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer 288 Seiten, 30 Abb., geb. mit SU ISBN 978-3-8062-3438-1

Um die ›Deutsche Tibet-Expedition‹ unter der Leitung von Ernst Schäfer ranken sich bis heute viele Spekulationen. Suchten sie den Ur-Arier? Ging es um geheime diplomatische Kontakte? Peter Meier-Hüsing rollt Geschichte und Nachspiel dieser seltsamen Unternehmung auf.

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Hollywoods schmutzige Geschäfte

Ben Urwand Der Pakt Hollywoods Geschäfte mit Hitler 320 Seiten, 23 Abb., geb. mit SU ISBN 978-3-8062-3371-1

Hollywood schloss einen Pakt mit Hitler. Ben Urwand erzählt die Geschichte dieses Skandals. Es ist die dunkle Seite von Hollywoods ›Golden Age‹, die Urwand unter Rückgriff auf bisher unbekanntes Archivmaterial beschreibt - temporeich und spannend!

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Eine wahre Geschichte

Sam Pivnik Der letzte Überlebende Wie ich dem Holocaust entkam 304 Seiten, 16 Abb., geb. mit SU ISBN 978-3-8062-3478-7

Sam war 13 Jahre alt, als die Deutschen kamen. Seine Familie lebte in einem oberschlesischen Städtchen. Da brach die Hölle über sie herein. Auschwitz, die Todesmärsche, die Bombardierung der Cap Arcona – unzählige Male entkam der Junge dem Tod.

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Über den Inhalt Das Jahr der Entscheidung

Der D-Day im Westen, der Vormarsch der Roten Armee im Osten, der Luftkrieg über deutschen Städten, der Warschauer Aufstand – das Jahr 1944 ist voller dramatischer Ereignisse und Entscheidungen. Erst durch das Bündnis von Roosevelt, Stalin und Churchill gelingt es, Hitler zu schlagen. Und während die Häftlinge in den Lagern fragen: »Wann kommen die Alliierten? Wann kommen die Amerikaner?«, eilt der US-Präsident von Wahlkampfveranstaltung zu Wahlkampfveranstaltung. In seinem packenden Werk beschreibt Jay Winik nicht nur den Kriegsverlauf, seine Recherchen zeigen auch, was sich im Weißen Haus abspielte, als der tatkräftige US-Präsident, schon sterbenskrank, vom Morden an den ungarischen Juden in Auschwitz erfährt. Seine Forschungen zeigen ein erschreckendes Bild aus dem innersten Zirkel der Macht.

Über den Autor Jay Winik

Der Autor ist Historiker und hat an den berühmten Universitäten von Yale und an der London School of Economics studiert. Winik schreibt regelmäßig für die New York Times, Washington Post und Wall Street Journal. Mit »1944« veröffentlicht er seinen zweiten New-York-Times-Bestseller.