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German Pages 188 [192] Year 1929
DAS GEHEIMNIS KIERKEGAARDS VON
ERICH PRZYWARA S. J.
MÜNCHEN UND BERLIN 1929 VERLAG VON R. OLDENBOURG
Imprlml potest Monachii, die 17. Apr. 1929 F. H a y l e r S. J . Praep. Prov. Germ. Sup.
Vie. gen. Nr. 4091 Imprimatur Monachii, die 6. Junii 1929 M. Dunstmair, vie. gen. Fischer
Alle Rechte, einschließlich das der Übersetzung, vorbehalten Copyright 1929 by R. Oldenbourg, Manchen und Berlin Druck von R. Oldenbourg, Manchen.
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K. M. Sorgi.
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Vorwort. Das Eigentümliche des großen Dänen verrät sich schon darin, daß fast alles Bedeutende, das über ihn geschrieben ist, nicht ruhige Darlegung über ihn, sondern offener oder geheimer Kampf mit ihm ward. C h r i s t o p h S c h r e m p f ringt mit ihm um Recht und Grenzen eines Kampfes gegen Christentum und Religion überhaupt, aber er muß sich gewaltsam von ihm losreißen, ja ihn noch gewaltsamer umdeuten, um in seiner „Aufrichtigkeit zum Irreligiösen" trotzig beharren zu können 1 ). T h e o d o r H a e c k e r weiß sich innerlich beglückt mit ihm eins im grimmigen Streit gegen alle seichten Welt-, Vernunft- und Lebens-Optimismen, allein er sichtet ihn von dem helleren Bergson her (Sören Kierkegaard 13 ff.) und überwindet ihn in die verschwiegene Herbheit Newmans 2 ). R o m a n o G u a r d i n i findet bei ihm seine A b lehnung eines „Gleichgewichts" der Gegensätze zugunsten eines beständigen „Vorübergangs" (Gegensatz 255) überrascht und erschreckt im letzten seelischen Ursprung, aber er mildert Z u g um Zug die zerrissenen Züge, daß die dämonische Tiefe nur noch als geheimnisvolle Schwermut atmet über edle Form*). A u g u s t V e t t e r faßt ihn mit den höflichsten, aber erbarmungslosesten Händen des Analytikers an, weil sich in ihm unheimliche Vorläuferschaft der Psychoanalyse mit ihrer schneidenden Überwindung kreuzt, aber er flieht, unter eleganter Verleugnung der Tatsachen, aus dem Glutkern dieser Kreuzung in die rationale Gradlinigkeit der psychoanalytischen Schulkategorien 4 ). ') Chr. S c h r e m p f , Sören Kierkegaard, I—II, Jena 1927/28. *) Th. H a e c k e r , S. K. und die Philosophie der Innerlichkeit, Mönchen 1913. — Ders., Vor- und Nachworte zu einzelnen Übertragungen (Kritik der Gegenwart, Innsbruck 1922; Pfahl im Fleisch, ebd. 1922; Begriff des Auserwählten, Hellerau 1917; Am Fuße des Altars, München 1923). — Ders., S. K. (in „Christentum und Kultur", Manchen 1927, S. 66 ff.). *) R o m . G u a r d i n i , Der Ausgangspunkt der Denkbewegung S. K. s. (Hochland 24, II, 1927, 12 ff.). 4) A u g . V e t t e r , Frömmigkeit als Leidenschaft, Leipzig 1928.
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Dieses Schicksal der Biographen ist aber nur äußerster Ausdruck des Schicksals der Zeit: man wird kaum eine neuere Richtung finden, aus deren Tiefe nicht das Rätselantlitz des Dänen schaute, mit den Zügen des Bildes, das Haecker seiner Ausgabe der „Religiösen Reden" (München 1922) vorgesetzt hat: die hinschmelzende, weiblich-kindliche Zartheit, und der Abgrund von Gewalt und Schwermut aus Augen und Mund, das berückendste Chroma und die schneidendste Diatonik. Aber es ist hinwiederum auch fast keine Richtimg, die eine ruhige, bewußte Aliseinandersetzung mit ihm vollzöge, Aug in Aug. Sie fliehen vor ihm, abgewandten Auges, ja manche verleugnet ihn, soweit sie nur kann, aber es geschieht dann um den Preis einer Flucht .aus der einen Seite Kierkegaards in die entgegengesetzte, aus dem „Verführer" in den „Ehemann", aus Climacus in Anti-Climacus usw. Kierkegaard ist Geheimnis im Doppelsinn des Wortes: Geheimnis, das mit seinem Zauber verstrickt, — Geheimnis, dessen Tiefe schreckt. Es bleibt nichts übrig, als Kierkegaard mit Kierkegaard zu prüfen, d. h. bis in das Allerletzte hinein seinen eigenen Standpunkt der Dialektik zur Methode zu machen: immer wieder den einen Kierkegaard gegen den andern zu stellen, — nicht um ihn so auf eine Formel zu bringen, sondern um alle Vorhänge zu heben bis zum letzten, der das Undurchdringliche birgt. In diesem Sinn setzen wir mit einer Untersuchung seines unmittelbaren Eindrucks ein: das Geheimnis des Stils und die hieraus sich entwickelnde Fragestellung. Der Weg führt von hier aus in das vorwiegend sachliche Gedankengewebe mit seinem philosophischen Vordergrund und seinen neurotischen oder religiösen Hintergründen: das Geheimnis des Werks. Dieses endlich wird durchsichtig in das Letzte: das Geheimnis der Seele. Ihrer besonderen Aufgabe getreu setzt die Arbeit das allgemein Biographische und Bibliographische voraus. Orientierend hierfür können sein: Torsten Bohlin (S. K. und das religiöse Denken der Gegenwart, Leipzig 1928) und Hans Reuter (S. K.s religionsphilosophische Gedanken im Verhältnis zu Hegels religionsphilosophischem System, Leipzig 1914) für die literarischen Zusammenhänge; Eduard Geis-
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mars ausführliche Kierkegaard-Biographie (S. K. Seine Lebensenfwicklung und seine Wirksamkeit als Schriftsteller, Göttingen 1927 ff., im Erscheinen) für das Persönliche. Ein besonderes Wort muß noch zu Hermann Diems Buch „Philosophie und Christentum bei Sören Kierkegaard" (München 1929) gesagt werden, weil es am umfassendsten von allen bisherigen Untersuchungen die Problematik sichtet. Was Diem über seine Methode ausführt (355 ff.) berührt sich nicht wenig mit unserm eigenen Standpunkt. Die Folge ist, daß wir für den philosophischen Kierkegaard weitgehend auf Diem als Ergänzung verweisen können. Aber es ist andererseits bezeichnend, daß wir es eigentlich nur für den philosophischen Kierkegaard können, d. h. für die Seite in ihm, die (gemäß unseren Ausführungen) grundsätzlich durchsichtig ist in das Dilemma zwischen dem psychoanalytischen und religiösen Kierkegaard. Wenn Diem eine Sichtung vom Persönlichen Kierkegaards her ablehnt (351 ff.), so hat dies zur Folge, daß sein Kierkegaard-Bild eine gewisse akademische Kühle erhält, daß das Dynamische der Bewegung zum Statischen eines fast minutiösen Systems wird. Gewiß verdient der Grundsatz Diems, daß man nicht an persönliche Geheimnisse rühren dürfe, alle Zustimmung. Aber wenn ein Schrifttum derart objektivierte Konfession ist wie das Kierkegaards, kann es auch in seiner objektiven Gestalt nicht anders erfaßt werden denn als atmendes Leben. Es besteht gewiß kein Recht, von persönlichen Notizen her ein objektives Werk in eine Autobiographie zu verkehren. Aber es ist eine methodische Notwendigkeit, ein Werk, das sich selbst als Konfession gibt, von seinen objektiven Gegebenheiten her ins Leben hinein zu sehen. Diese zweite Möglichkeit ist Diem entgangen. Im gleichen Verlag, wie dieses Buch, erscheint gleichzeitig die langersehnte Übertragung von Kierkegaards Dissertation über den Begriff der Ironie aus der Hand von Prof. H. H. Schaeder (Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates). Der Herausgeber und Übersetzer macht in seinem Vorwort selber darauf aufmerksam, wie diese Dissertation und das Tagebuchmaterial (das wir hauptsächlich verwendet haben) einander fordern. Wir glauben darum auch unsererseits sagen zu dürfen, daß das Zusammentreffen
— VIII — unserer Untersuchung mit dem Erscheinen dieser Übertragung eine überaus glückliche Fügung bedeute. Die Dissertation ist der geniale Vorblick Kierkegaards in sein werdendes Leben. Unsere Untersuchung möchte ein Rückblick sein, der dem Vorblick nicht allzusehr widerspricht, wenngleich gerade darin nicht selten das eigentliche Geheimnis eines Lebens sich breitet, daß Vorblick und Rückblick zueinander zielen, um einander fast nur in diesem „Zielen" zu treffen, zumal wenn das Auge des Vorblicks und das Auge des Rückblicks nicht dasselbe Auge sind. Aber immerhin wird es ein Sich-treffen im augustinischen homo-abyssus, im Geheimnisgrund von Mensch. Die Arbeit verdankt ihre literarische Entstehung einer Anregung der Schriftleitung der „Schweizer Rundschau", für die sie ursprünglich als Artikel gedacht war. Persönlich ist sie einmal der notwendige Abschluß der Auseinandersetzungen des Verfassers sowohl mit der Romantik wie mit der heutigen aporetischen Philosophie und der Theologie Karl Barths und seiner Freunde. Dann aber schließt sie sich mit des Verfassers Hegel-Auseinandersetzung (Ringen der Gegenwart II) zur vollständigen innergeschichtlichen Problematik der analogia entis zusammen. Die im besonderen Sinn religiösen Partien endlich weisen auf bestimmte Fragen von „Himmelreich der Seele", „Liebe" und „Wandlung" zurück. Es bleibt noch der in diesem Fall besonders motivierte Dank an die Münchener Staatsbibliothek. Sie hat dem Verfasser ein außergewöhnliches Entgegenkommen bewiesen. M ü n c h e n , Ostern 1929.
Inhalts-Übersicht (gleichzeitig als Sachregister) Seite
Vorwort Abkürzungen
V XII
Geheimnis des Stils 1 . Das Stil-Problem: Doppeldeutigkeit S. 1—3. — Extrem-Spannung und zerfasernde Analyse S. 3—6. —- Musikalität und Verschlossenheit S. 6—8.
i—15 1—8
2:. D a s F r a g e - P r o b l e m : zwischen Mystik und Eros: Schwermut S. 8. — Tod S. 9. — Es S. 10. das Zwischen: Wirklichkeit und Literatur S. 11—12. — Willens-Zwischen und Führungs-Zwischen S. 13—15.
8—15
Geheimnis des Werks 1.. E x i s t e n z - P h i l o s o p h i e : lebendiges Denken: Persönliches Denken S. 17. — Ethisches Denken S. 18. — Dialektisches Denken im lebendigen Augenblick S. 19. gebrochenes Denken: Versagendes Denken S. 20—21. — Erleidendes und leidendes Denken S. 21—23. existentielles Denken: Kierkegaard-Heidegger S. 23—26. Philosophie der Existenz: Philosophie der Existenz gegen Philosophie der Essenz (Hegel). S. 26—27. — Immanente und transzendierende Philosophie der Existenz S. 27—28. — Der Doppelsinn von Augenblick S. 29—31. J:. P s y c h o a n a l y s e : Grundlagen: Trieb als Ursprung S. 32. — Leidenschaft S. 32 bis 33. — Vitale Dialektik S. 33. — Wurzelsatz S. 33—34. Drama des Triebes zwischen Es und Ich: Angst S. 35—36. — Vorwiegen des Negativen S. 36—39. — Inversion S. 40—41.
16—113 16—31
31—41
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X
— Srite
3. S e l b s t w i d e r l e g u n g des P s y c h o a n a l y t i s c h e n : . . . . Die religiöse Inversion: Leidenschaft S. 42. — Angst S. 42. — Träumen S. 42. — Verschlossenheit S. 42. — Tod S. 42. — Christliche Psychologie zu Psychoanalyse und Individualpsychologie S. 43—44. — Schopenhauer S. 44. — Carus S. 45. — Naturwissenschaft S. 45. — Humanismus S. 46. Transparenz des Sexualen: des Positiv-Sexualen: Das Sexuale als Gleichnis S. 46—48. — Prediger-Ehe S. 48. — Kloster S. 49—50. — Die Frau S. 51—54. des Negativ-Sexualen S. 54—55.
41—55
4. E x i s t e n z i e l l e s C h r i s t e n t u m : Der existenzielle Glaube S. 56—57. Dieexistenziellen religiösen Kategorien: Augenblick S. 57. — Der Einzelne S. 57. — Verborgene Innerlichkeit S. 58. — Subjekt S. 59. — Geist S. 59—60.
55—60
5. Z u s p i t z u n g und P e r i p e t i e des L u t h e r t u m s : . . . . Ursprüngliches Luthertum: Alleinwirksamkeit, objektiv und subjektiv S. 61—65. — Richtend-erlösende Alleinwirksamkeit S. 65—67. — Protest-Korrektiv S. 67—70. Peripetie des Luthertums: Doppelsinn von Korrektiv S. 70. — Doppelsinn von Reformation S. 70. Kritik des Luthertums: Korrektiv und Regulativ S. 71. — Psychologie Luthers S. 71—73. — Tragik des Luthertums S. 73—746. Ü b e r w i n d u n g des L u t h e r t u m s :
60—74
das Korrektiv als Sublimierung: Diagnose S. 75—76. — Zwei Wege der Überwindung S. 76. die kreatttrliche Existenz: Entweder-Oder zwischen Katholizismus und Inversion S. 76—78. — Zwei Formen von Existenz-Philosophie S. 78—79. — Formalprinzip der kreatOrlichen Existenz: Das Gesetz der causae secundae S. 79—80. — Inhaltlichkeit der kreatOrlichen Existenz: Der abgelöste und hingelöste Mensch S. 80—82. der erste Weg der Überwindung: Objektiver Gehorsam S. 82 bis 84. — Objektive Amtlichkeit S. 84—87. der zweite Weg der Überwindung: Demut der Einfachheit und Gewöhnlichkeit: Das Freiwillige und das Allgemeine S. 87—88. — Leidens-Liebe und Bescheidung S. 88—90. Demut positiven Sich-lieben-lassens von Gott: Abgrund der Seligkeit S. 90—93. — Führung in Geduld S. 93—94. — Lösung der Verkleidungen S. 94. — Wandlung S. 95 bis 96. Religion der Wirklichkeit S. 96.
74—99
— XI —
Seite
Demut der Menschenliebe: Klärung der existentiell-religiösen Kategorien S. 97—99. — Liebe des Verschwindens S. 99. 7. P e r s p e k t i v e n i n s D o g m a t i s c h - K a t h o l i s c h e : 99—H3 Das innere Katholische: fides caritate formata S. 99—101. Objektivität S. xoi. — Liebe S. 102. Bewußte Beziehung zum Katholischen: Das Katholische als Heimat und Endziel des Dialektischen S. 103. — Katholische Romantik S. 103—105. — Katholizismus der Nacht (des „Wurzeins in") oder der Sehnsucht des „Zielens zu . . .") S. 105—107. Marienkatholizismus: Romantische „vitaleDialektik" (MannFrau) und katholisches „ E v a und Maria" S. 107—111. — Marien-Katholizismus als experimentum crucis der Existenzphilosophie von 1 und des existenziellen Christentums von 4 und 6—7 S. m — 1 1 3 . Geheimnis der Seele
114—176
n. F o r m g e b e n d e M a r i o l o g i e : 114—125 Allgemeine Mariologie (als Ursprungsform der zwei Katholizismen von 7): Maria allein S. 115. — Noch Eva S. 116. Persönliche Mariologie: Die Schmerzensmutter gemäß dem „Maria allein" S. 116—118. — Gemäß dem „noch Eva" S. 118—121. Regine-Olsen-Frage: Persönliche Mariologie und Regine Olsen S. 121—122. — Nacht des Geschöpfes und Nacht Gottes S. 123—125. .2. P e r s o n - I n v e r s i o n : 125—138 Dialektik des „Geheimnisses" S. 125—126. Die Verwicklung der Verlobung: von der Bindung an den Vater und der eigenen inneren Schwermut her S. 126 bis 129. — In sich selbst S. 129—133. Die Faktoren der Verwicklung: Bund der Schwermut S. 133 bis 135. — Eigenes Schicksal und eigene Schuld S. 136 bis 138. — Der Büßende S. 138. 3. E i n z e l k a m p f mit G o t t : Aufstieg aus der Immanenz zur Transzendenz: Erststellung Gottes S. 139—142. — Des Gottes der Erbsünde und Erlösung S. 142—144. Überwindung der verstiegenen Transzendenz: Negative Überwindung: Die Doppeldeutigkeit S. 144—146. Der fehlende Glaube S. 146. Positive Überwindung: Überwindung des Leidens: Überlassen S. 147—149. — Atem-Anhalten S. 149. — MitLeiden mit Gott S. 149. — Überwältigtwerden von der Liebe Gottes S. 150—152. — Leiden als Gnade und
138—157
— XII — Kraft S. 152—154. — Befreite und verklärte Liebe S. 155—156. — Mariologische „Ahnung" S. 157.
Seite
4. B e r u f s - I n v e r s i o n : 157—170 Objektive Literarisierung: das Antobiographische des Werkes Kierkegaards S. 158. — Das Problem S. 158—139. Subjektive Literarisierung: Schriftstellerdasein S. 160. — Drama des Literaten S. 161—163. — Literarisierung Reginens S. 164—166. Drama eines Sprechers Gottes: Gott-Unmittelbarkeit S. 167. Kindlichkeit S. 167—169. — Einfachheit S. 169. — Gelöste Menschlichkeit S. 169. — Reginens Züge S. 170. 5. S u b j e k t i v e S p i t z e n - E x i s t e n z : 171—176 Spitzen-Existenz: Katholizismus S. 171. — Mariologie S. 172. — Nacht S. 173. Das Zwischen als heilsgeschichtlich S. 174—176. Personen-Register 177
Abkürzungen Der Einfachheit wegen ist durchgehend das Korpus der deutschen Übertragungen angefahrt: für die Werke: GW = Ges. Werke, hsg. von Christ. Schrempf, I—XII, Jena 1909—22 Buch über Adler: Th.Haecker, der Begriff des Auserwählten, Hellerau 1917 Rel. Red. = Religiöse Reden, ed. Haecker, München 1922 Pfahl im Fleisch: Th. Haecker, Brenner 8 (1914) 706ff., 779ff. für die Tagebflcher: T G = Die Tagebflcher I II, ed. Haecker, München 1923 B R = Buch des Richters, ed. H. Gottsched, Jena 1905 B F = H. Lund (Obers, von E. Rohr), S. K. Verhältnis zu seiner Braut, Briefe und Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, Leipzig 1904 B R ist nur dann angefahrt, wenn die betr. Stelle unseres Wisiens nach in TG nicht enthalten war.
Geheimnis des Stils. i. Das Geheimnis Kierkegaards gibt sich zuerst im Problem seines Stils, und der Eindruck dieses Geheimnisses führt Schritt für Schritt zur Umgrenzung der Fragestellung an das Geheimnis seines Werkes und seiner Seele. „Doppeldeutigkeit" ist das erste Wort für dieses Geheimnis. Das gibt sich zunächst rein äußerlich. So gut wie alle Schriften, mit Ausnahme der Predigten und der letzten Kampfschriften, spielen in Pseudonymen: Viktor Eremita, Johannes de Silentio, Hilarius Buchbinder, William Afham, Frater Taciturnus, Vigilius Haufniensis, Johannes Climacus, Anti-Climacus. Und es sind nicht gradlinige Pseudonyme, d. h. solche, die sich nach der Absicht des Verfassers mit ihm selbst decken, sondern es sind dialektische Pseudonyme, von denen jedes nur eine Seite des Verfassers vertritt. Der Verfasser spricht durch den Gegensatz der Pseudonyme, er ist nicht Johannes Climacus und Anti-Climacus (TG II, 71), sondern das Zwischen ihres Gegeneinander. Und selbst das einzelne Pseudonym ist nicht einheitlich, es ist (etwa in „Entweder-Oder") geteilt in Herausgeber und Verfasser der herausgegebenen Papiere, und dieser Verfasser selbst noch aufgeteilt in A und B usw. Das geht dann aber folgerichtig in den Ton der Gedanken und Worte selbst hinein. Denn sie sind von dem einen Kierkegaard geschrieben, der im verzweigten Gegeneinander seiner Pseudonyme sich ausspricht: es spricht also niemals eigentlich nur Climacus, wenn Climacus spricht, sondern es spricht schon AntiClimacus hinein, ja mehr als das, schon die Einheit aller Pseudonyme. Im einzelnen Wort schillert die Doppeldeutigkeit des Teiles gegen den Teil und des Ganzen gegen die Teile. P r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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Und selbst das Ganze der Werke in ihrem gegenseitigen Sich-erklären, wie in ihrer Deutung durch die Tagebücher und die zwei Abhandlungen über „meine Wirksamkeit als Schriftsteller" (GW X) kann hier eine letzte Klärung nicht bringen. Denn so sehr man versucht sein könnte (gemäß der zeitüchen Abfolge), die drei Formalrichtungen in Kierkegaard aufzuteilen: vom Erotisch-Ästhetischen („EntwederOder"; „Stadien auf dem Lebensweg") über das Philosophische („Philosophische Brocken") zum Christlich-Religiösen, so widerspricht dem doch die wirkliche zeitliche Abfolge. „Furcht und Zittern" (1843) ist zwischen „Entweder-Oder" (1843) und „Stadien auf dem Lebensweg" (1845) als der praktischen Fortsetzung von „Entweder-Oder" eingeschaltet und ebenso der (mit „Furcht und Zittern" und „Krankheit zum Tode") grundlegende „Begriff der Angst" (1844) zwischen „PhilosophischeBrocken" (Juni 1844) und „Stadien auf dem Lebenswege" (1845). Ja, nicht genug, „EntwederOder" selbst enthält die streng-religiöse Abhandlung „Das Erbauliche in dem Gedanken, daß wir gegen Gott allzeit Unrecht haben", und zwei Monate nach Erscheinen von „Entweder-Oder" (Februar 1843) beginnen die ersten „Erbaulichen Reden" zu erscheinen, so daß wir also wieder vor der verwirrenden Gleichzeitigkeit der Gegensätze stehen. Die Tagebücher und die zwei obengenannten Abhandlungen sprechen„einerseits davon, daß „Entweder-Oder" zusammen mit „Stadien auf dem Lebenswege" den Kampf des „ethischen Moments" mit dem „Ästhetisch-Sinnlichen" besage, während „das Religiöse wird zu einer dämonischen Approximation. . . , Humor als seine Voraussetzung und sein Inkognito" (TG I, 223 f.). Anderseits betonen sie, daß der Verfasser von „Entweder-Oder" bereits „wesentlich ein religiöser Mensch war" (TG I, 395), ja, daß „Entweder-Oder" „im strengen Sinn im Kloster" geschrieben sei (GW X, 13), daß also „ich religiöser Schriftsteller bin und war, daß meine ganze schriftstellerische Tätigkeit sich um das Christentum dreht, um das Problem, wie man Christ wird" (GW X, 3), daß alles Nicht-Religiöse in den Schriften nur Pädagogik zur Religion hin sei (GW X , 19 ff.), ja eine Art pädagogischen Betrugs (ebd. 28 f.). Mithin bestünde die „Doppeldeutigkeit
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oder Duplizität" zwischen ästhetischer und religiöser Schriftstellerei (die durch das Mitten-Inne von Philosophie noch verschärft ist) „von Anfang bis zu Ende" (GW X, 7). So bleibt unaufgelöst, was Kierkegaard an derselben Stelle klar heraussagt: „Die Duplizität, die Doppeldeutigkeit1), ist hier eine bewußte, das Geheimnis des Schriftstellers, die wesentliche dialektische Eigentümlichkeit der ganzen Schriftstellerei." Und diese grundlegende Doppeldeutigkeit geht noch selbst in das zwischen ihren inneren Polen schwingende Zwischen ein, in die wurzelhafte Kierkegaardsche Schwermut. Vetter führt hier mit Recht als das für Kierkegaard Entscheidende sein Bekenntnis an, „es liege in der Natur der Schwermut, daß sie nie ganz wahr sei" (Vetter 179). Die Doppeldeutigkeit aber erfährt eine Verschärfung durch zwei weitere Momente, die in einer Art Widerspruch zueinander stehen, dessen Zusammenklang dann das letzte Ineffabile der Form Kierkegaards ausmacht. Es ist auf der einen Seite Doppeldeutigkeit als Spannung zwischen schärfsten Extremen, auf der andern Seite dieselbe Doppeldeutigkeit als verwirrende Üppigkeit seelischer Analyse bis ins Feinste und Unsagbarste. Spannung zwischen schärfsten E x t r e m e n : — im „Entweder-Oder" zwischen dem Ästhetisch-Sinnlichen des „Verführers", das bis zum „Genuß des Genusses" sich raffiniert, und dem Religiösen des „Ehemanns", der zu Gott unmittelbar sich weiß in der „ersten Liebe"; — in der Breite von „Entweder-Oder" und „Stadien auf dem Lebensweg" zu den Tagebuchnotizen der letzten Jahre die Spannung zwischen fast vibrierendem Versenktsein in das Spiel zwischen Mann und Weib und äußerster Askese des „reinen Geistes"; — in den beiden selben Werken die beständige Rede von unbeschränkter Hingabe als Sinn der Liebe und vorbehaltloser Offenheit als Sinn der Ehe (mit den Worten Vetters 167) und in den Tagebüchern das Drama der Verschlossenheit als Verschlossensein letztlich durch Gott gegen jegliches Geschöpf: der Ursprung des „Einzelnen" Kierkegaards (TGII, 206 f.; GW III, 75; VII, 193). Weiter: auf der einen ') Wir ersetzen den Ausdruck „Zweideutigkeit" der GW durch dea besseren Ausdruck „Doppeldeutigkeit" Haeckers. 1»
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Seite die Typen des Entfesselt-Menschlichen, Don Juan, Faust und der ewige Jude, als Vorbedingungen des Religiösen (TG I, 48 „erst indem diese Ideen lebendig werden in dem einzelnen Menschen und mittelbar werden, erst dann kommt das Moralische und Religiöse") und auf der andern Seite das Maß der Angst und der Verzweiflung und des Leidens und des Absterbens als das Maß des Religiösen (vgl. TG II, 82, 405); — im Climacus der „Philosophischen Brocken" der scheinbare Versuch, die Dialektik der Widersprüche auf die Einheit der „Existenz" und des „Augenblicks" zu bringen, und im Anti-Climacus der „Krankheit zum Tode" der jähe Sturm gegen jeglichen solchen Schein, bis nur die Kategorie der „Verzweiflung" bleibt; — im leidenschaftlichen Kampf der Blätter des „Augenblicks" (GW XII) die Forderung des Christen als des Ausnahmemenschen gegenüber der Menge, und im „Buch über Adler" und dem „Darf ein Mensch für die Wahrheit sich totschlagen lassen?" die unerbittliche Kritik an den „Außerordentlichen". Aber dieses schneidend Diatonische, das auf der einen Seite eine gewisse Klarheit vermittelt, wenigstens der fraglichen Extreme in sich, anderseits jede Vermittlung unmöglich macht und damit jede endgültige Formel, also eine wahre Klarheit verhindert, dieses Diatonische ist, selbst noch in dieser zugleich erreichten und vernichteten Klarheit, gebrochen und überwuchert durch das verwirrend Chromatische der zerfasernden Analyse. Kierkegaard selbst spricht hier von der „vegetativen Üppigkeit meines Stiles" (TG I, 329). Während das Entweder-Oder der Extreme in der relativen Klarheit des Bildes der einzelnen Pole weilte, gibt sich hier die ganze Unruhe-Fülle und Verfaserung des Zwischen der jeweiligen Pole: das „ins Unendliche" der Mischfarben und Halbtöne und das Heimatlose und Bodenlose dieses „ins Unendliche". Es ist in „Entweder-Oder" und „Stadien auf dem Lebenswege" das Zwischen der sprühenden Spannung zwischen Mann und Frau: die bis zur Todesstimmung ansteigende Skala des Sich-aufgebens in ein anderes Leben, durch die hindurchschneidet die Skala der Kälte des Zurückgeworfenseins ins leere Ich: das Vibrieren dieses beständigen Zwischen: nicht
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mehr in sich selbst und auch nicht im andern: die Verfaserung der Halbtöne zwischen „Verführer" und „Ehemann". Es ist in „Furcht und Zittern", „Begriff der Angst" und „Krankheit zum Tode" das einschneidendere Zwischen der ringenden Spannung zwischen Gott und Geschöpf: das Geschöpf die Sicherheit des Innergeschöpflichen aufsprengend bis in die Todeszone des „Wer Mein Antlitz sieht, muß sterben", bis in die Todesseligkeit der „Nacht Gottes" (vgl. TG I, 101, 339), und dieser Anstieg der Gottes-Einheit durchdemütigt und durchkältet von der wachsenden Bindung in Erde und Menschen hinein, bis zu echt menschlichem Empfinden des Schmerzes als Schmerz (vgl. TG II, 235): nicht mehr im Geschöpflichen zu Hause und doch nicht Gottverschmolzen: das geradezu „Ultraviolett" eines solchen „im Nichts". Endlich als Untergrund der gesamten Schriften und als eigentlicher Inhalt der Tagebücher das unheimliche resultierende Zwischen dieser ersten zwei, das Zwischen des Ich zu sich selbst: die im gänzlich Unsagbaren spielende Dialektik des „sich objektiv verhalten zu seiner eigenen Subjektivität" (TG II, 383). Einmal als höchste Nähe zur „unendlichen Subjektivität" Gottes (ebd. 384), darin Er „unendliche Verdopplung" ist (ebd. 384), das Subjekt, das Sich selbst das Objekt ist. Aber in dieser höchsten Ähnlichkeit darum auch die „größere Verschiedenheit": die vollkommene „Innerlichkeit" einer solchen Einheit von Subjekt und Objekt als „Isolation" für den Menschen, wohl als heroische des „Geistesmenschen" (GW XII, 59), aber als ein Heroismus, den „wir Menschen" nicht aushalten können (ebd.); — und die vollkommene „Unendlichkeit" einer solchen Spanne zwischen Ich und Ich als „Verdopplung" für den Menschen, wiederum wohl als heroische des „Geistesmenschen" (ebd. 58 f.), aber den Menschen im Innersten auseinandersprengend: das Zwischen also des erlebenden Menschen in seinem Erleben selber, das beständig Negative des Schnittes zwischen J a und Nein, sein Ich selber das Unmögliche eines reinen Zwischen. Das Paradox dieses gesteigerten Zwischen — Paradox zwischen Mann und Frau, Paradox zwischen Gott und Geschöpf, Paradox zwischen Ich und Ich (die Fülle des Kierke-
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gaardschen Grundbegriffes des „Paradox") — wird darum für Kierkegaard in besonderem Sinn spürbar in den an die Karikatur streifenden Zwischenaffekten. Die drei „Existenzsphären" des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen geben sich im „Äußeren" mit Vorliebe in ihrem „Konfinium" ( = Zwischengebiet): „Ironie ist das Konfinium zwischen dem Ästhetischen und Ethischen; Humor das Konfinium zwischen dem Ethischen und Religiösen" (GW VII, 187). Indem der „existierende Denker" kraft der beständigen Dialektik zwischen J a und Nein „in seinem Existenzverhältnis zur Wahrheit ebenso negativ wie positiv" ist, „hat er ebensoviel Komik wie er wesentlich Pathos hat", und dieses Gegeneinander von Komik und Pathos kennzeichnet ihn eigentlich als „beständig im Werden", d. h. als Geschöpf (GW VI, 167). Mit andern Worten: unser obiges dreifaches Zwischen überschlägt sich geradezu in seinem „Ultraviolett" in ein Groteskes. Die „Gefahr" (der weitere Lieblingsausdruck Kierkegaards), die in diesem Zwischen liegt, kann nicht schärfer umzeichnet werden, als darin, daß das gesteigerte Chroma des Vibrierens des Zwischen sich an dem feinen Übergang gibt, darin es ins Lächerliche überzugehen beginnen mag. Es ist das Doppelgesicht der „Gefahr", wie es Kierkegaard selber am unerbittlichsten gezeichnet hat: die „Gefahr" als „Vornehmheit" des „Aristokraten" (TG I, 287) und die Gefahr des „Gelächters" (ebd. II, 38: „die einzige Gefahr. . . , die ich für meine Kräfte groß genug fand"). So dürfte klar sein, was als letztes Formales aus diesem Widerspruch zwischen Extremklarheit der Pole und Unfaßlichkeit des Zwischen, zwischen harter Diatonik und verwirrendem Chroma, sich ergibt: die Musikalität und Verschlossenheit Kierkegaards. Das ist aber wiederum keine Lösung, sondern ein letzter Widerspruch. Denn der Sinn von Musik ist doch an und für sich gerade Offenbarung, Offenbarung dessen, was Gestalt, Farbe und Wort zu offenbaren nicht vermögen. Die M u s i k a l i t ä t als ein Grundprinzip in Kierkegaard ist von ihm selbst in seiner ganzen Tragweite am besten gesehen. Seine Richtung, Natur und Kunst musikalisch zu empfinden: „Das Meer ist wie ein Rezitativ von Mozart;
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der Gun-e-See wie eine Melodie Webers" (TG I, 12); „ . . . das eigentlich Reizvolle. . . , daß er die Gitarre strich. Diese Schwingungen wurden nahezu anschaulich für das Auge, gleichwie wann der Mond z. B. auf die Meeresfläche scheint, so daß die Wellen nahezu hörbar werden" (ebd. 44). Es ist die Musik des Mozartschen Don Juan, von der her er alles erlebt: „Don Juan unmittelbar musikalisch. . . und damit die unendliche Immanenz des Charakters im Musikalischen" (ebd. 93). Aber es ist die Musik, insofern sie, wie Kierkegaard im derselben Stelle mit seiner unheimlichen Aufrichtigkeit hinschreibt, geradezu die unmittelbare Sprache des Dämonischen ist: „das Dämonische wesentlich musikalisch . . . (in seinem) immateriellen (Tanz), wo sozusagen der Tanz Musik ist, die Musik Tanz, wo der Tanz die musikalische Klangfigur ist, die Musik anschaulich gemacht, die Musik festgehalten in einem sichtbaren Medium". Es ist Musikalität also, entsprechend dieser Einheit von Tanz und Musik im „immateriellen Dämonischen" (man denke etwa an heutige Kunst der Rhythmik, Mary Wigman usw.!), als die unmittelbare Sprache des Zwischen, das wir oben zeichneten: höchste Gestaltlosigkeit, da alles in verwirrenden („dämonischen" !) Rhythmus aufgelöst ist, Gestalt erst der geheimnisvolle Endeindruck des tönenden Chaos, So wird klar, wie Dasselbe Verschlossenheit heißen kann. Die Verbindung liegt im „Dämonischen". Dieses Dämonische hat bei Kierkegaard, folgerichtig zu allem, einen doppelten Sinn, der sich innerlich widerspricht. Es bezeichnet die unsagbarste Gottes-Nähe: da, wo alle gewurzelte Erdhaftigkeit aufgehört hat und das „Schweben" beginnt, doch auch das Schweben „zwischen Himmel und Erde". Es bezeichnet also damit ebenso die lauernde Nähe des schroffen Gegenteils, die Nähe des Dämonischen im eigentlichen Sinn, die Nähe des Absturzes mit Luzifer in die Tiefe. Es ist die furchtbarste Gestalt des „Paradox": nicht nur die allgemeine Nähe zwischen Genie und Dämonie, sondern hier im gesteigerten Fall: die Nähe zwischen Genie und Dämonie der Mystik. So ist denn das Wort Verschlossenheit bei Kierkegaard nicht nur in einem gewöhnlichen Sinn doppeldeutig: zwischen Verschlossenheit im Sinne seelischer Er-
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krankung (des Leidens an einem unaussprechbaren SchuldGeheimnis) und Verschlossenheit im Sinne der „verborgenen Innerlichkeit", die sich gegen die verzerrte Alltagswelt verschließt, um von innen her in das geistig-wirkliche „Allgemeine" zu dringen (TG II, 123). Sondern diese Doppeldeutigkeit ist selber noch (als eine relativ nur-menschliche) in eine tiefere durchsichtig: in jene zwischén Verschlossenheit als eigentlichem Zeichen des Bös-Dämonischen und Verschlossenheit als Zeichen der geheimnisvollsten Nähe zu Gott, des Einbeschlossenwerdens in die Geschlossenheit des „Deus tanquam ignotus" Thomas von Aquins, das „escondida" der Nacht Johannes' vom Kreuz. Kierkegaard zeichnet beide Verschlossenheiten mit der bebenden Sprache der Erfahrung. Die erste: „Das Dämonische ist das Verschlossene und unfreiwillig Offenbare" (GW V, 122). Die zweite in den vor Zittern der Feder selber verwirrten Zeilen des Tagebuches über „Hat ein Mensch das Recht, mit irgendeinem andern Menschen über die höchsten Angelegenheiten zu reden?": „der . . . Gedanke . . . hat mich mein ganzes Leben beschäftigt, und in dem Grad, daß ich nicht weiß, ob ich dieses sagen dürfte: hat ein Mensch das Recht usw.; denn im selben Augenblick hatte ich eigentlich das Schweigeverhältnis zu Gott gebrochen" (TG II, 206, vgl. B R 108). 2. Damit aber sind wir in dem Entweder-Oder gelandet, das das F r a g e - P r o b l e m Kierkegaards ausmacht. Es liegt am schärfsten in dem Wort, das stimmungshaft alles bei ihm durchzieht: Schwermut. Ist es Schwermut, wie Vetter will, als der vielleicht gewaltigste Fall psychoanalytischer Sublimierung: die Religiosität Kierkegaards als klarste Symbolsprache des Eros, also Schwermut als Schwermut des Dämonischen im negativen Sinn Kierkegaards, wo für ihn tatsächlich die Gleichung steht zwischen der „eigentlichen Genialität des sinnlichen Lebens" als musikalischer und dem Dämonischen (TG I, 93) ? Oder ist es Schwermut in dem Sinn, wie Reinh. Joh. Sorge aus eigener mystischer Erfahrung die „Nacht Gottes" beschreibt „Furchtbare Schwermut schließt mich zu" (Gericht über Zarathustra 25), das letzte
Geheimnis des „Selig die Trauernden", das Geheimnis, das Johannes vom Kreuz selbst in den Zeichen der Schwermut der Liebe gleichnishaft umschreibt (im „El Pastorcico") „del Amor muy lastimado" und „por. . . amor . . . lastimado" „aus Liebe trüb", also im tiefsten Verstand des eigenen kurzen Wortes Kierkegaards „Religion ist Schwermut" (vgl. ausführlich TG II, 39), in stärkster Erfüllung des „periissem, nisi periissem" als „Motto meines Lebens" (TG I, 384) ? Also folgerichtig die „Nacht Gottes" des Kirchenlehrers der Mystik als Weg der Deutung zu dem, was Kierkegaard selbst an der vielleicht geheimnisvollsten Stelle seiner Tagebücher „die Nacht des Unbedingten" nennt: „Der Mensch hat ein natürliches Grauen, ins Finstere zu gehen — was Wunder, daß ihm dann, natürlich, vor dem Unbedingten graut, sich einzulassen mit dem Unbedingten, von welchem gilt, daß keine Nacht und .keine Finsternis ist so halb schwarz' wie diese Finsternis und diese Nacht, wo alle relativen Ziele (die allgemeinen Meilensteine und Wegweiser), wo alle Zwecke (die Laternen, womit wir uns sonst helfen), wo selbst die zartesten und innerlichsten Gefühle von Hingegebenheit — gelöscht sind, denn sonst ist es nicht unbedingt das Unbedingte" (TG II, 339); aber dies im Lichte der früheren Stelle „Wenn es dunkel wird vor einem echten Christen in der Todesstunde, so ist es, weil das Sonnenlicht der Seligkeit ihm zu stark ins Auge scheint" (TG I, 101) ? Schwermut und Nacht sind, wie auch und gerade die eben berührte Stelle zeigt, für Kierkegaard gleichsinnig mit Opfer, Leiden und Tod, Opfer und Leiden und Tod aber als die höchste Spitze von Leidenschaft. Die drei Worte, die am stärksten für Kierkegaard das Zentrale ausdrücken: Schwermut und Leidenschaft, und Tod als ihre sinngebende Form. Das führt unsere Frage weiter. Ist es Tod von Schwermut-Leidenschaft in dem Sinne, wie auch das Letzte der Psychoanalyse Freuds das Todesverlangen ist, aus Leidenschaft, die zu Schwermut gebrochen und gehemmt und vergiftet ward? Oder ist es Leidenschaft im Sinne Johannes' vom Kreuz, die „llama de amor viva", die erst im „muerta en vida" ruht, die heilige Leidenschaft, die im Tode Leben hat, also entsprechend den letzten Tagebuch-
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zeilen Kierkegaards „Geist ist: zu leben wie gestorben (abzusterben)" (TG II, 405)? Das hat noch eine letzte Alisdrucksmöglichkeit. Die psychoanalytische Deutung wie die Deutung vom tiefsten Religiösen he^ gebraucht für das gemeinte Phänomen, um es in höchster Schärfe zu fassen, dasselbe abstrakteste Kennwort: „ E s " . Die Todes-Schwermut Freuds gibt sich in ihrem sozusagen metaphysischen Prinzip darin, daß das „Ich", weil es des „ E s " nicht Herr ward, d. h. weil es die sachliche Ordnung des Triebes verwirrend erfolglos widerstrebte, in das „ E s " als ein dunkles Schicksal untergehen will. Das Verhängnis des Eros, sein unpersönliches Es, mit dem der Ich-Trieb versagend rang, nimmt das Todesantlitz an: Liebe und Tod sind ein Januskopf. Aber auch dem Mystiker im Zustand der „Nacht" ist es eigen, die Liebe seines Herzens, seinen Gott, unpersönlich zu bezeichnen: als „weiselose Wüste", als „Abgrund", als „Finsternis", als „Urquell in Nacht", so sehr, daß die deutsche Mystik überkühn sprach vom Durchsinken durch den persönlichen „Gott" in die „Weiselosigkeit" der „Gottheit". Die Fragestellung, die damit ihren Höhepunkt erreicht, ist gewiß in ihrer Paradoxie, ja fast Frivolität, kaum zu ertragen. Aber einmal entspricht sie gerade so der Eigenart Kierkegaards, für den das Entweder-Oder, das sein Kennname ward (TG II, 304), das Alleräußerste der Pole faßt. Und objektiv ist es ja die erschütternde Doppeldeutigkeit des Wortes Liebe selber, die damit (entsprechend der Absicht Kierkegaards, alle Worte aus dem abschleifenden Alltag in die Heißglut des ursprünglichen Sinnes zurückzureiten, aus ihrer vergewöhnlichenden Fertigkeit in den außergewöhnlichen „Sprung" ihres Entspringens) — Liebe, die zugleich für „Trieb" steht und für „Gott ist die Liebe", — ja, nicht nur das, weil ja auch noch das Wort „Trieb" nach beiden äußersten Polen hinweist, — „Trieb" als Getriebensein vom Eros und als Getriebensein im Sinne des augustinischen „agi per Deum". Es ist jenes große Rätsel des Lebens, das die großen Lehrer der Aszese und Mystik wohl kannten, wenn sie für die mystischen Zustände nicht genug „Regeln zur Unterscheidung" aufstellen konnten: Mystik und Eros. — Wie
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also ist es: Weist der Charakter eines unpersönlichen Getriebenseins, den Leben und Schrifttum Kierkegaards unverkennbar verrät, auf das Es Freuds oder auf das Es Johannes' vom Kreuz? Aber entsprechend dem, was wir eingangs über die grundlegende Doppeldeutigkeit Kierkegaards feststellen mußten, hat auch durch das relative J a dieser Fragestellung ein Nein hindurchzuschneiden: Ist Kierkegaards Letztes vielleicht gar nicht „eines von beiden", sondern vielmehr ihr ungeklärtes und unklärbares Zwischen? Würden dem nicht die verstreuten Äußerungen entsprechen, die von einer solchen letzten unerklärlichen Unbestimmtheit reden, mit deutlichem oder verstecktem Hinblick auf die Frage des eigenen Lebens und Wirkens: das „Unglück meiner Existenz" in dem „meine Interessen stehen nicht alle einem einzigen subordiniert, sondern alle stehen koordiniert" (TG I, 22); — das „Rbmantische" darin liegend, „daß die zwei Hälften einer Idee auseinandergehalten werden durch etwas dazwischen liegendes Fremdartiges" (ebd. 47); — das „Romantische im Gebrochnen" aber darin bestehend, „daß ein unbefriedigter Drang es heraufbeschwört hat, ohne doch seine Befriedigung darin zu finden" (ebd. 48) ? Mit andern Worten: wir stehen an der Frage, die den Inhalt der leidenschaftlichen Abrechnung Christoph S c h r e m p f s mit Kierkegaard ausmacht: Ist die gesamte Problematik, die wir bisher aufgerollt haben, im Grund für Kierkegaard nur Anlaß seiner Publizistik ? Will Kierkegaard überhaupt jenes Verhältnis zu Wirklichkeiten, wie es in den zwei Möglichkeiten, die wir oben immer gegeneinander stellten, doch einbeschlossen ist, oder ist ihm das alles nur „Schriftstellerstoff", eine Bewegung, die er, kurz vor ihrem Einmünden in die Verwirklichung abbricht, um sie in das rein Literarische fruchtbar zu machen, so daß also jenes Ineinander von ästhetischer und religiöser Haltung, von dem Kierkegaard selber spricht, nicht besagte, wie er will, ein Beherrschtsein auch schon der ersten ästhetisch-erotischen Schriften durch das Religiöse (TG I, 395), sondern umgekehrt ein Beherrschtsein auch noch der letzten religiösen
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Schriften von der eigentümlichen Distanz zur praktischen Entscheidung, die dem Ästhetischen eigen ist? Man wird zunächst zugestehen müssen, daß nicht wenig für die Möglichkeit der Fragestellung Schrempfs spricht. Es spricht dafür die eigentümliche Art, wie Kierkegaard sein Leiden auf das Intellektuelle zentriert: Verstehen und Nichtverstehen (TG I, 46, 47/8; GW VI, 23, 31); — sein Traum von „deutlichem, entscheidendem, leidenschaftlichem Verständnis" als einer Erleichterung des Handelns (ebd. 420/1); — das „jeden Gedanken bis ins Kleinste zu denken" und „da soll Denken nichts anderes bedeuten als zu denken" als ersehntes Leben der Ewigkeit (ebd. 382/3). Es spricht weiter dafür seine ausgesprochene Schriftstellermentalität: die Idee, „das ganze menschliche Leben . . . wie eine große Rede auffassen" zu können, „in der die verschiedenen Menschen die verschiedenen Redeteile repräsentieren" (TG I, 46); — das „nur wenn ich produziere, befinde ich mich wohl" (ebd. 310) bis zur Überwindung der Schwermut durch sein Schriftstellerschicksal (ebd. II, 135 f.). Es könnte auch dafür sprechen, daß er selbst „bewaffnete Neutralität" als seinen Standpunkt bezeichnet (ebd. I, 112), also einen grundsätzlichen Abstand; daß er ferner von „geistiger Eleganz" als seinem „Wesen" redet (ebd. II, 149), so daß man nicht wenig versucht sein könnte, jene Stelle aus den „Stadien auf dem Lebensweg" als ein Selbstbekenntnis aufzufassen, wo er das „Psychologische" als „das letzte Konfinium zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen" bezeichnet (GW IV, 413 ff.), also das, was die Eigenart seiner gesamten Schriften ausmacht, die unerhört eindringende Psychologie, als ein Zwischen, darin die Ästhetik nicht mehr ganz Ästhetik ist, aber auch noch nicht praktische Religion. Dazu würde dann auch endlich passen, daß er selbst von sich sagt: „Was mir fehlte, war, ein vollkommen menschliches Leben zu führen, und nicht bloß eines der Erkenntnis" (TG I, 30) und darum den scharfen Satz hinschreiben kann: „Welche Tüchtigkeit in einem Individuum ist, kann man ermessen daran, wie weit er vom Verstehen zum Wollen hat. Was ein Mensch verstehen kann, das zu wollen muß er auch sich zwingen können. Zwischen Verstehen und
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Wollen liegen die Entschuldigungen und die Ausflüchte" (ebd. 247). Aber gerade diese letzten Äußerungen beleuchten unsere Frage anders. Wenn einer so unerbittlich das Verhängnis des Nur-Schriftstellers sieht, wie es in diesen Sätzen sich zeigt, dann ist sein Abstand zur Wirklichkeit zum mindesten nicht ruhender Abstand, sondern ein leidendes und ringendes Auf-dem-Wege zur Wirklichkeit. Weiter: wenn wir die Gesamtheit dieser Belegstellen, wie es nötig ist, bewußt auf dem Hintergrund der ganzen Entwicklung dieses unseres ersten Teiles sichten, so ergibt sich die Notwendigkeit, auch die Schrempfsche Möglichkeit dialektisch zu nehmen, d. h. ihr ihr Gegenteil als Möglichkeit gegenüberzustellen. Dieses Gegenteil wäre, daß das fragliche Zwischen Kierkegaards (zwischen einem entschiedenen Eros-Standpunkt und einem entschiedenen Gott-Standpunkt) auch ein Zwischen sein könnte, das nicht Wille, sondern geheimnisvolle Schickungist, nicht ein Nichtweiterwollen, sondern ein Geheimnis der Führung (TG II, 296), von der Kierkegaard sogar in bezug auf das Schriftstellern spricht: „mit geführter Feder" schreiben (TG 1,134). Unsere zweite Fragestellung muß also lauten: Wenn das Geheimnis Kierkegaards in einem unentschiedenen Zwischen besteht, ist dann dieses Zwischen ein solches, das im Höchstmaß auf Seiten Kierkegaards selbst liegt, das Zwischen des ästhetisch genießenden und in der Unverbindlichkeit des reinen Darstellens verharrenden Literaten (wie Schrempf will), — oder ist es ein Zwischen, das geheimnisvoll den zur Wirklichkeit Aufbrechenden trifft, immer dann trifft, wenn er sie schon zu ergreifen meint, d. h. also die Situation, die sich erschütternd in dem Tagebuchblatt ausspricht, das die Aufhebung der Verlobung mit Regine Olsen vorausahnen läßt: „Soll ich finden, was ich suche hier in dieser Welt, soll ich die Konklusion erleben von allen exzentrischen Prämissen meines Lebens, soll ich dich in meine Arme schließen — oder lautet die Order weiter? Bist du vorausgegangen, meine Sehnsucht, winkst du mir verklärt aus einer andern Welt ?" (TG I, 125) ? Damit aber ist klar, wie diese zweite Fragestellung, trotz oder vielmehr in ihrem Gegensatz zur ersten, zu einer
— 14 — schärferen Fassung der ersten wird. Denn das ästhetische Nur-Genießen ist die ganz konkrete Form, in der die psychoanalytische Erklärung das Leben Kierkegaards sieht: als den erotischen Narzissismus des Selbstgenusses in allen Dingen (Vetter 122 ff., 167, 183, 289). Das Zwischen eines geheimnisvollen Gehemmtseins „von oben" aber wäre die deutlichste Form, in der Erde und Mensch und eigenes Leben immer mehr „Nacht" wird, darinnen alle Wirklichkeiten zu ungreifbaren Schatten werden, das wahrhaftige Zwischen der Nacht, die nicht mehr Erdentag ist und noch nicht Himmelstag, die Nacht, darin dem Wandelnden und Wirkenden Erde, Mensch und eigenes Leben eher entgleiten, als daß sie in fester, herrschender Hand ruhen, und in der alles Wandeln und Wirken eher zum schmerzlichen Anstoßen und Angestoßenwerden wird als zum wachsenden Erfolg, — also ein Zustand, der einerseits fast wörtlich dem entspricht, was die Tagebücher Kierkegaards, ihn selbst nicht verstehend, stammelnd schildern, der aber anderseits unwiderstehlich an das gemahnt, was die Mystiker der „Nacht" sagen oder auch nur andeuten können. Das so überwiegende Motiv von Verstehen und Verständnis in Kierkegaards Schriften würde dann eine ganz andere Erklärung finden, als sie Schrempf und Vetter wollen, weil sie für die Geheimnisse inneren religiösen Lebens kein Auge haben (oder aus irgendwelchen Gründen das Auge hier grimmig schließen). Die eigentümliche Art, in der in den letzten Jahren das „Absterben" als Zeichen des Gott-Liebens in den Tagebüchern wächst (TG II, 291 ff., 294 ff. usw.), das Absterben auch in dem härtesten Sinn eines Sich-Geduldens, wann Gott den „Pfahl im Fleisch" löst (TG II, 296), bis zur immer erneuten Wiederkehr jenes Nachdenkens über das „Gott, mein Gott, wie hast Du mich verlassen!" Christi (TG II, 333, 340, 364), das schon in „Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen" (GW XI) begonnen hatte, diese Steigerung bis zu einer Teilnahme an der Gottverlassenheit Christi, die doch gerade in den Tagebuchblättern sich ehrfürchtig scheu des Abstandes zwischen Christ und Gottmensch bewußt hält (TG II, 340), — wäre es so ganz ausgeschlossen, dies von jenem Geheimnis der Nachtmystik des hl. Johannes vom Kreuz zu beleuchten,
— 15 — das Baruzi gerade in der mystischen Teilnahme an der Gottverlassenheit Christi am Kreuz erblickt, als die Höhe des „anéantissement de tout notre être" 1 ): Nacht eines geheimnisvollen Sich-nicht-verstanden-wissen durch Gott und Nichtverstehens Gottes ? E s handelt sich — wie wir wohl beachten müssen — nicht darum, die Hypothese aufzustellen, Kierkegaard sei Mystiker. E s handelt sich darum, zu zeigen, daß die Fragestellung erst dann weit und unbefangen genug ist, wenn sie, im Geiste des „radikalen Christentums" Kierkegaards (TG I, 38, 41) und seiner Spannung der entgegengesetzten Pole bis zum äußersten, auch die Nähe einer Möglichkeit einbeschließt, wie sie ein Vergleich der Sprache Kierkegaards mit den Hymnen des Kirchenlehrers der Nacht aufzudrängen scheint. *) B a r u z i , Saint Jean de la Croix (Paris 1924), 566. Vgl. vom Verf. Ringen der Gegenwart (Augsburg 1929), I, 483 ff.
Geheimnis des Werkes. i. Die Fragestellung, wie sie sich uns aus dem Geheimnis des Stils ergab, ergeht offenbar zunächst an das vorwiegend Objektive des Werks. Entsprechend dieser vorwiegenden Richtung der Untersuchung werden wir das Werk Kierkegaards am besten von seiner Überzeitlichkeit her zu sichten haben, d. h. ausgehend von seiner heutigen Auferstehung in der Problematik der Gegenwart zu seiner inneren Gestalt zurück. Denn im überzeitlichen Fortleben vollzieht sich die stärkere Objektivierung. Das zweite Methodische ist, daß wir mit dem sozusagen philosophisch-neutralen Kierkegaard beginnen, mit dem Kierkegaard der Existenz-Philosophie im weiten Sinn. Erst dann wird die Frage nach dem tieferen Sinn von „Existenz" zu stellen sein: ihrem psychoanalytischen oder religiösen. Indem aber hierin die eingangs beregte Doppeldeutigkeit aufblitzt, ist noch ein drittes Methodisches offenbar: die Relativität des jeweiligen Kierkegaard-Bildes, des philosophischen, psychoanalytischen, religiösen, lutherischen, katholischen. Es wird notwendig sein, jedem Bilde mit wirklichem Ernst nachzugehen. Aber dieser Emst darf nicht darüber täuschen, daß es sich jedesmal nur um eine relative Sicht handelt, die ihre Bedeutimg erst vom Gewebe des Ganzen her gewinnt. Der Weg dialektischer Methode hat hier seinen besonderen Platz, aber auch seine Schwierigkeit. Der Vordergrund des Werkes Kierkegaards ist seine E x i s t e n z - P h i l o s o p h i e . — Ihr Fortleben hat sie in dem, was wir die aporetische Mentalität der Gegenwart nennen können: die Abkehr vom alles erklärenden System zu den Unbegreiflichkeiten des Lebens. Es wird sich hier natur-
— 17 — gemäß nicht darum handeln, den direkten literarischen Abhängigkeiten nachzugehen, wenngleich diese in bestimmten Fällen offen zutage liegen. Es handelt sich vielmehr um jenes Tiefere, auf das es von unserer Fragestellung her ankommen muß: um das gleichsam unterirdische und unsichtbare Wiederaufleben, das Phänomen unerklärlicher Auferstehung eines großen Geistes unter immer anderer und neuer Gestalt, einer Auferstehung, die vielleicht nicht so sehr an eingehendes Studium seiner Schriften geknüpft ist, ja wohl sogar als erster Anstoß einem solchen Studium vorausgehen mag und so am eindringlichsten von der Unsterblichkeit geistigen Lebens zeugt. Die aporetische Mentalität der Gegenwart, in der Kierkegaards Existenz-Philosophie wieder auflebt, hat als ihre erste Formel: lebendiges Denken gegen a b s t r a k t e s Denken. Denn lebendiges Denken ist das geöffnete Hin-zu in die Unerschöpflichkeit des Lebens, also die Wurzel eines Denkens zu den Aporien hin. Abstraktes Denken aber zielt im Höchstmaß auf die Lösung der Aporien in die Überzeitlichkeit eines begrifflichen, geschlossenen Systems hinein: statisch in Wolff, dynamisch in Hegel. Dieses „lebendige Denken" erscheint einmal als pers ö n l i c h e s Denken, d. h. als ein Denken, in dem die Begriffssprache so viel gilt als sie der jeweilige Ausdruck der ringenden Denkbewegung ist. Das ruhende Ergebnis des Denkens wird im Höchstmaß als „verbum mentis" gefaßt, d. h. nicht so sehr als ein Ergebnis, das in sich ruhend dem anschauenden Geist gegenübersteht, sondern vorwiegend in actu nascendi, in jenem Zwischen, da es bereits „aus"gesprochen ist, aber doch immer noch aus-,,gesprochen". — Unter dieser Rücksicht ist es für G u a r d i n i und H a e c k e r persönliches Denken im Sinne von Denken als Personakt, „persona in actu"; bei Guardini als ein Denken, in dem das fließende Gegen- und Ineinander der Kräfte der Persönlichkeit ausgeprägt ist, bei Haecker mit dem stärkeren Akzent eines Denkens, darin sich die Härte persönlicher Selbstbehauptung gegen die Welt ausspricht. Wie hier Kierkegaard auflebt, sehen beide selbst zur Genüge. Deutlich sprechen ja auch die Tagebücher: „Wohl will ich nicht P r z y w a x a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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leugnen, daß ich noch einen Imperativ der Erkenntnis annehme, und daß durch ihn sich auch auf die Menschen wirken läßt, aber da muß er lebendig in mich aufgenommen werden" (TG I, 29). Noch deutlicher in diesem Licht die „Philosophischen Brocken": „Anstatt, daß das abstrakte Denken die Aufgabe hat, das Konkrete abstrakt zu verstehen, hat der subjektive Denker umgekehrt die Aufgabe, das Abstrakte konkret zu verstehen. Das abstrakte Denken sieht von den konkreten Menschen weg auf den reinen Menschen; der subjektive Denker versteht das abstrakte Menschsein in das Konkrete hinein" (GW VII, 49). Darum geht es um die Arbeit, „die verlorene Kraft und Bedeutung der Worte" zurückzugewinnen (TG I, 68). Und in diesem Sinne eines Denkens als konkreter Begegnung mit dem Konkreten in der Lebendigkeit des konkret Denkenden, aber nicht im Sinn eines relativistischen Subjektivismus (denn für Kierkegaard ist der letzte Sinn der „Innerlichkeit" der entschiedenere und erfolgreichere Weg in die „Objektivität" TG II, 123), in diesem Sinn sagen dann die „Philosophischen Brocken" zugespitzt: „DieWahrheit ist die Subjektivität" (GW VI, 265). Dasselbe lebendige Denken gibt sich darum weiter als ethisches Denken, d. h. als Denken, das in dem Maß die Forderung eines konkreten Denkens erfüllt, als es nicht die Haltung einer selbstgenügsamen Kontemplation einnimmt, sich in sich hinein er-innert (Grisebach), sondern in der Ebene des Tuns lebt, aber des Tuns, insofern es die erlebte Berührung mit den andersartigen Dingen ist, nicht ihre Bewältigung ins eigene Ich hinein, sondern das Anstoßen des Ich an das reale Du. Denn dann ist doch erst die Gewähr da, daß der Denkende nicht sich selbst in den Dingen anschaut, sondern den wirklichen Dingen begegnet, wie sie verschieden vom Denkenden sind. Ebenso aber erkennt auch der Denkende sich selbst in seiner Konkretheit doch erst in dem Maße, als er seine Verschiedenheit von den Dingen erfaßt. Es ist klar, was hier gemeint ist: Eberhard Grisebachs Philosophie, für die zwei Sätze entscheidend sind: das Tun als grenzensetzende Begegnimg zwischen Ding und Ding und darum als die Haltung, in der konkrete Erkenntnis möglich wird; damit aber die „Gegenwart" als das Kennwort
— 19 — solcher Erkenntnisweise, d. h. das Jetzt-hier der Begegnung zwischen Subjekt und Objekt als das „in meinem Gesichtskreis gegen mich gekehrt oder gegen mich herkommend" des Objekts, wie Grimms Wörterbuch das Wort ableitet (IV, 2281). Das aber ist wiederum typisches Aufleben Kierkegaards. Es sind die gemeinsamen sozusagen erkenntnistheoretischen Grundformeln der Tagebücher und der „Philosophischen Brocken". „Die wirkliche Subjektivität ist nicht die wissende, denn durch Wissen befindet man sich im Medium der Möglichkeit, sondern die ethisch-existierende Subjektivität" (GW VI, 15). „Das einzig Gewisse ist das Ethisch-Religiöse" (TG I, 299). Darum muß die Hegeische Philosophie von Grund aus abgelehnt werden, denn „sie hat keine Ethik" (Buch über Adler; ed. Haecker 255); „hieraus folgt ganz einfach, daß jeder lebende Mensch, der mit Hilfe der Hegeischen Philosophie sich in seinem eigenen persönlichen Leben verstehen will, in die törichteste Konfusion gerät" (ebd.). Kierkegaard betrachtet daher, wie die Bemerkungen der Tagebücher zeigen, seine Philosophie der „Philosophischen Brocken", die alle üblichen Fragen der Philosophie umfaßt, schlechthin als „Ethik". Ästhetik („Entweder-Oder" und .Stadien auf dem Lebensweg"), Ethik („Philosophische Brocken") und „Religion" (das Übrige) sind die drei Gesichtspunkte seines Schaffens. So schließt sich dann auch folgerichtig das Letzte an, die ethische bedingte „Gegenwart" des Denkens. „Die meisten Menschen werden sich in ihrer Religiosität höchstens gegenwärtig in einem Vergangenen oder in einem Zukünftigen, aber nicht in einem Gegenwärtigen" (Buch über Adler 227). „Das Seltene . . . i s t . . . , daß mein Denken wesentlich präsentisch ist" (TG I, 403). Auf diese Weise wird dann aber endlich drittens das lebendige Denken zu einem d i a l e k t i s c h e n Denken im lebendigen Augenblick. Es ist dialektisches Denken im Piaton-Sinn des Wortes, d. h. Denken im Gegeneinander des lebendigen Gesprächs, damit aber nicht ein Denken, das seine raumzeitliche Umwelt der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft sich in einen sachlichen Zusammenhang objektiviert, dem es gegenübersteht, sondern das in jenem Ineffabile lebt, darin diese ganze Erstreckung zusammen2*
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geballt liegt, die Vergangenheit als werdende Zukunft, die Zukunft wachsende Vergangenheit, die Gegenwart als der unfixierbare Schnittpunkt dieses doppelten Werdens: der „Augenblick". Es ist also Gemeinschafts-Denken, aber im lebendigen Akt von Gemeinschaft: im Sich-schneiden des Gesprächs (dia—legein). Es ist Geschichtsdenken, aber im lebendigen Akt von Geschichte: im geballten und zuckenden Augenblick. Hier braucht es kaum einzelner Nachweise. Denn es ist offenbar, wie hier jene Denktheorie vor uns liegt, die vorab durch den K a r l B a r t h der ersten Zeit und E m i l B r u n n e r (das „Gespräch") wie durch Friedr. G o g a r t e n (der „Augenblick") ausgearbeitet ward. Es ist die GesprächsDialektik gegen die „einlinige" Dialektik Hegels (d. h. die Dialektik des sich sich selbst entgegensetzenden „reinen" Denkens, für das die Lebendigkeit der Individuen aufgeht in reines Teilsein dieses Allgemeinen; das in den Idealismus des reinen Denkens gewendete „individuum de ratione materiae"). Es ist die Augenblicks-Geschichtlichkeit gegen die System-Geschichtlichkeit Hegels. Es ist aber ebenso offenbar, wie dies, und zwar ebenso nach der ausdrücklichen Absicht der eben genannten Richtung, formalste Erneuerung der Philosophie Kierkegaards ist: der Erneuerung der platonischen Gesprächs-Dialektik, mit der sie beginnt (GW VI, 8 ff.), und der Theorie vom Augenblick, die ihr Zentrum ist. „Während das griechische Pathos sich auf die Erinnerung konzentriert, konzentriert das Pathos unseres Projektes sich auf den Augenblick" (VI, 18). Sagen wir aber Gespräch und Augenblick, so ist das Tiefere der gesamten aporetischen Mentalität bereits mitausgesprochen: das ausdrückliche Nicht-Hindurch des bewältigenden reinen Denkens, die Gebrochenheit und Begrenztheit der Denkbewegung, die tiefere Lebendigkeit des lebendigen Denkens als des lebendigen Inneseins und praktischen Lebens (nicht nur Er-lebens) der Tiefe des Lebens: seiner Ungenüge in sich selbst. Das lebendige Denken ist: gebrochenes Denken gegen reines Denken. Es ist damit einmal, in einer gewissen, zunächst rein feststellenden relativen Neutralität, ein zuletzt versagen-
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des Denken. Dieses Versagen durchläuft in den heutigen Richtungen so gut wie alle sachlich möglichen Fassungen: in N i k o l a i H a r t m a n n s Aporetik ein letztlich vor der zusammenhanglosen Fülle sich-verlaufendes Denken; bei G u a r d i n i ein Denken, das gerade noch an die Stelle rührt, wo die fließenden Gegensätze das Ganze enthüllen wollen; bei Grisebach ein solches Stoßen an die „Grenze", das zum kritischen Protest gegen jedes runden-wollende System wird; in der unausgesprochenen Philosophie des B a r t h der ersten Zeit und in der ausgesprochenen B r u n n e r s und K n i t t e r meyers eine unerbittliche Demütigung alles feststellenden Denkens zu einem letzten reinen Fragen vor dem letzten Paradox oder die Dialektik als „qualitative" Dialektik des „Sprunges", d. h. nicht ein kontinuierliches Fortschreiten, sondern Sphäre gegen Sphäre scharf geschieden; — in der Art von Hedwig C o n r a d - M a r t i u s (vorab in ihrer „Zeit") die „Berührungs-Existenz", d. h. im Haben das stärkere Nicht-Haben (vgl. Kierkegaard, Buch über Adler 194). Wenn wir uns an das erinnern, was uns der rein formale Stil Kierkegaards enthüllte, so dürfte klar sein, wie in all dem Geist von seinem Geist erstanden ist: die bis ins Letzte gehende Ablehnimg geschlossenen und erklärenden Systems, die Grundkategorie des Paradox und des Sprunges (in den „Philosophischen Brocken") als das Fehdewort gegen denselben Feind, gegen den auch die Gesamtheit der obigen Namen sich richtet: den spekulativen Idealismus und Hegel als sein Haupt. Das wird noch deutlicher in dem, was man den inneren Affekt dieses versagenden Denkens nennen könnte: das erleidende und leidende Denken. Denn hier bricht das Eigenste Kierkegaards hervor: daß das innerste „Stöhnen der Kreatur" auch und gerade Denkhaltung zu sein hat, wenn es wirkliches Denken dieser wirklichen Kreatur sein will. Wir haben also hier die geheime und nicht selten offen ausgesprochene Vaterschaft Kierkegaards zu allen jenen heutigen Richtungen, in denen dieses Moment wirksam ist. Wenn P e t e r Wust und Kreise der sog. katholischen Phänomenologie einem aktiv-konstruierenden und auf dem Descartesschen Zweifel aufruhenden Denken (also einem
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in sich ruhenden Denken) das Denken des geöffnet aufschauenden, verehrenden und empfangenden Staunens gegenüberstellen, so steigt ins Gedächtnis, wie Kierkegaard gerade dies als seine Position gegen den deutschen Idealismus ansah. „ E s ist ein positiver Ausgangspunkt für die Philosophie, wenn Aristoteles meint, daß die Philosophie mit Staunen beginne, nicht wie in unserer Zeit mit Zweifel." „Was zum Beginn bewegt, ist Staunen; das, womit begonnen wird, ist ein Entschluß", gemäß der Art, wie das Staunen außerhalb immanenter Gegensatzpaare steht, gemäß Descartes „keinen Gegensatz hat", und gemäß Spinoza „nicht mit zu den drei Affekten" gehört, „aus denen er alles deduziert (cupiditas, laetitia, tristitia)" (TG I, 244). „Staunen, das alles tieferen Verstehens Anfang ist" (Rel. Red. 147). Denn es gibt keinen erkonstruierten absoluten Anfang. „Verhielte es sich richtig mit der Voraussetzungslosigkeit der Philosophen, dann müßte sie auch Rede stehen über die Sprache und deren ganze Bedeutung und Verhältnis zur Spekulation, denn hierin hat ja die Spekulation ein Medium, das sie nicht selber sich gegeben hat; und was das ewige Geheimnis des Bewußtseins ist als die Einheit der Naturbestimmung und Freiheitsbestimmung, dasselbe ist die Sprache: teils das ursprünglich Gegebene, teils das frei sich Entwickelnde. Und ebensowenig wie das Individuum, wie frei es sich auch entwickelt, jemals zu dem Punkt kommen kann, daß es absolut unabhängig wird, da im Gegenteil die wahre Freiheit im freien Sich-Zueignen des Gegebenen besteht und also im absoluten Abhängigsein durch die Freiheit, so auch mit der Sprache" (TG I, 148). Wenn für P a u l T i l l i c h das Letzte der Haltung in der Angst eines Sich-bedroht-wissens besteht, also im Zerbrochensein satter Sicherheit in die beständige Unsicherheit, so ist das, wie ohne viel Worte erhellt, betontes Wiederaufleben von Kierkegaards „Begriff der Angst", in jenem Sinn, den ein Tagebuchblatt besonders akzentuiert: „Die meisten Menschen leben allzu gesichert im Leben und lernen deshalb Gott so wenig kennen" (TG I, 311/2). Wenn für die Strindbergsche Dialektik L u d w i g M a r c u s e s (als eines Typus einer gewissen Richtung von Polaritätsphilosophie) die gejagte
— 23 — Schiefheit und ein gewisses Schielen der Affekte kennzeichnend ist, als Karikatursprache der inneren Verzweiflung des Menschen, der nirgendwo Boden hat, so steigt wiederum ein Kierkegaardbuch aus der Tiefe, seine „Krankheit zum Tod", in deren Zentrum die Verzweiflung steht, und wir erinnern uns an die Art, wie Kierkegaard gerade die gebrochenen Zwischenaffekte unterstreicht, Pathos und Komik als Affektausdruck des beständig werdenden Denkers in seinem Positiv-Negativ-Verhältnis zur Wahrheit (GW VI, 167) und Ironie und Humor als das jeweilige „Konfinium" zwischen Ästhetischem, Ethischem und Religiösem (GW VII, 187). Wenn endlich für die Denkhaltung K a r l B a r t h s und E d u a r d T h u r n e y s e n s zwei Worte kennzeichnend waren, Kreuz und Tod, d. h. der immer neue Schnitt mitten durch ein erreichen-wollendes Denken hindurch und das wahre Erfassen nur im Tod geschöpflichen Erfassens, so klingen hier die persönlichsten Akzente Kierkegaards: „begreifen, daß man es nicht begreifen kann" (TG I, 409); „Kreuzigung des Verstandes" (GW VII, 245); die Geisthaltung als „leben wie gestorben" (TG II, 405). So haben wir hier, wenn wir nun die beiden Seiten des aporetischen Denkens, das lebendige und das versagende Denken, zusammenschauen, den stärksten Gegensatz zu dem, was man im Geiste des deutschen Idealismus das „ideale Denken" nennen kann. Gegen ein Denken, das im stärksten Maße von der konkreten realen Existenz des Denkenden absieht zu einem „Denken an sich" hin, steht ein Denken, das geradezu als diese konkrete reale Existenz „in actu" bezeichnet werden muß, das konkret-reale ExistenzSein als Denk-Sein. Damit aber stehen wir an der Auferstehung des e x i s t e n t i e l l e n Denkens Kierkegaards in der Art wie die Phänomenologie Martin Heideggers die Existenz als das Wesen des Seins und hierin als das Wesen von Wahrheit und Wert faßt. Heideggers Phänomenologie1) läßt sich f o r m a l in folgende Sätze fassen. Sie hat sich (erstens) mit dem Sein !) Vgl. vom Verf. „Drei Richtungen der Phänomenologie", Stimmen der Zeit 1 1 5 (1927/28, II), 252 ff.
— 24 — des jeweils Seienden zu beschäftigen, in dem Sinne, daß das Seiende je ich selbst bin (231) und die Substanz des Menschen die Existenz (314). Sie tut es (zweitens) aus der erkenntnistheoretischen Einsicht heraus, daß jegliches Seinsverständnis (d. h. jegliches Erfassen des Seins) nicht nur selbst ein Sein ist (ein Daseiendes), sondern in der Tiefe als Seinsverständnis ein Sich-selbst-verstehen und Sich-selbstaussprechen des Seins (34, 165, 171, 183, 207 ff.). Sie übt endlich (drittens) diese Einsicht darin methodisch aus, daß sie das konkret Ethisch-Affektive (Sorgen, besorgen, Gewissen, Angst, Schuld usw.) als „Existential" betrachtet, d. h. als Existenz-Ausdruck, und darum folgerichtig in den Sinn der Existenz durch diese Existentiale hindurch einzudringen sucht, also sie zugleich zur Existenz hin sieht wie die Existenz in ihnen, so daß (viertens) die Existenz in ihrem Sinn nicht mehr abstrakt als Werden oder DaseinSosein erscheint, sondern ethisch-affektiv (bei Heidegger als „Sorge"). Das aber ist fast vollständig die innere Formalität der „Philosophischen Brocken". Zum ersten (dem „Sein des jeweils Seienden") betonen sie: „Dem Existierenden ist das Existieren das höchste Interesse" (GW VII, 13; „Interesse" im Sinn von „inter-esse", d. h. „die Wirklichkeit" als „ein inter-esse zwischen der hypothetischen Abstraktionseinheit von Denken und Sein", ebd.); „Existenz entspricht dem einzelnen" (TG II, 128); „die einzige Wirklichkeit, die es für einen Existierenden gibt, ist seine eigene ethische" (GW VII, 15). Zum zweiten (der Rückführung von Verstehen auf Sein) heißt es: „Daß der erkennende Geist ein existierender und daß jeder Mensch solch ein für sich existierender ist, kann ich nicht oft genug wiederholen" (GW VI, 265); „sich selbst in Existenz zu verstehen, war das griechische Prinzip" (GW VII, 49); „die Existenz denken und existieren dadurch zusammengesetzt.. . , daß ein Existierender ein Denkender ist" (ebd. 13). Das dritte (die Methode: das Ethisch-Affektive als Existential) gibt sich in der praktischen Grundrichtung der gesamten „Philosophischen Brokken", im und durch das Ethisch-Affektive die Existenz zu fassen, da Angst, Schuld, Verzweiflung, Glauben usw.
— 25 — „Existenzbestimmung" sind (vgl. z. B. ebd. 89). Das vierte endlich (das Ethisch-Affektive der Existenz in ihrem Sinn) spricht sich ausdrücklich in Kierkegaards Satz aus: „die einzige Wirklichkeit, die es für einen Existierenden gibt, ist seine eigene ethische" (ebd. 15); „die wirkliche Subjektivität ist. . . die ethisch existierende Subjektivität" (ebd.); „der subjektive Denker versteht das abstrakte Menschsein in das Konkrete hinein, dieser einzelne existierende Mensch zu sein" (ebd. 49). Das Bild der Auferstehung im Inhaltlichen ist nicht so einheitlich. Zunächst gehen die Übereinstimmungen weiter. Für Heidegger ist die Existenz ein beständiges Nochnicht (243 f.), für Kierkegaard „ein Streben und ein fortwährendes Inzwischen" (GW VII, 210). Für Heidegger sind Schuld, Angst, Tod usw. so sehr „Existentiale", d. h. Ausdruck des Wesens der Existenz, daß sich von ihnen aus Existenz in einem „ausgezeichneten modus der Erschlossenheit" als „das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein" (297) gibt; hier spricht nicht nur der Kierkegaard der Schuld, Angst und Verschlossenheit, sondern ganz ausdrücklich sein Satz vom „wesentlichen Bewußtsein der Schuld" als dem „möglichst großen Sichvertiefen in die Existenz" (GW VII, 215). Der entscheidende Unterschied aber beginnt, wo der letzte Sinn dieser durch Gewissen-Schuld-Angst-Tod gekennzeichneten Existenz in Frage steht. Hier biegt Heidegger alle über sich hinaus (zu Gott) weisenden Richtungen ins Immanente ab. Wenn bei Kierkegaard der Satz vom „Sichvertiefen in die eigene Existenz" weitergeht zur Kennzeichnung dieses Sichvertiefens als eines „Ausdrucks dafür, daß sich ein Existierender zu einer ewigen Seligkeit verhält" (GW VII, 215), so formt Heidegger dieses Sich-Vertiefen formal in das grundsätzliche „in der Welt" aller Existenz und inhaltlich in»die „Sorge" als ihr Wesen, d. h. nicht das Aufgerissensein aus sich heraus, sondern das angsthafte Sichverbergen in sich hinein. Wenn er daher gleichzeitig nicht scharf genug von einer Verderbung der Philosophie durch theologische Einflüsse sprechen kann, so offenbart sich darin das zäh-leidenschaftliche Sich-losreißen von dem, was in Kierkegaard nur mit Gewalt
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losgerissen werden kann: das Innerst-Religiöse und InnerstChristliche seiner Philosophie der Existenz. •
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Mit diesem Einmünden der zwei Stufen der aporetischen Mentalität der Gegenwart in eine Philosophie der E x i stenz stehen wir aber am Höhepunkt unserer gesamten ersten Frage: nach dem Fortwirken des philosophischen Kierkegaard. Es ist Höhepunkt in seinem Doppelsinn: Spitze, und Blick in Tiefe und Höhe. Als Spitze: im Fortwirken Kierkegaards in der Phänomenologie Heideggers enthüllt sich die eigentümliche geschichtliche Stelle seiner Philosophie. Als Blick in Tiefe und Höhe: in der Art, wie Heidegger Kierkegaard in die Immanenz des „in der Welt" des Ich preßt, aber als den Explosivstoff, der alle Immanenz in die höchste Höhe der Transzendenz sprengt, verrät sich das bewußt Vorläufige einer Philosophie bei Kierkegaard. Es ist die Kühle einer „Philosophie" der Existenz als mehr oder minder künstliche Kühlung jenes doppeldeutigen „Lebens" der Existenz, von dem wir im ersten Teil sprachen ; Existenz als ästhetisch-sinnliche oder als religiös-katastrophische, um die Ausdrücke Kierkegaards selbst zu gebrauchen. Wir stehen sicher zunächst auf dem Höhepunkt. Denn die Philosophie der Existenz ist nach dem ausdrücklichen Willen ihres Schöpfers das schärfste Nein gegen Hegel, und zwar gegen Hegel als Philosophen des Wesens: Philosophie der E x i s t e n z gegen Philosophie des Wesens (der Essenz). Gewiß, „die Bewegung in der Logik, das ist Hegels Verdienst" (GW V, 6), aber „in der Logik darf keine Bewegung werden" (ebd.), d. h. auch wenn sie die Existenz in ihre Problematik einbegreift, so wird es gerade durch eine solche fiinbegreifung immer nur „die Begriffsexistenz, die Idealitätsexistenz" (TG II, 127). Indem die Werdenslebendigkeit der Existenz in die ruhende Überzeitlichkeit der Begriffe erhoben wird, wird das Dasein folgerichtig soseins-artig. Es ist nur mehr die Rede vom „Wesen" oder „Sosein" des Daseins als Daseins, nicht vom wuchtenden, lebendigen „Dasein" des Daseins als Daseins. „Der ewige
— 27 — Ausdruck der Logik ist, was die Eleaten durch ein Mißverständnis auf die Existenz übertrugen: es entsteht nichts, alles ist" (GW V, 6). So „hat (Kant) . . . darin recht, daß durch die Existenz keine neue Inhaltsbestimmung zum Begriff hinzukommt. Kant denkt offenbar redlich an Existenz, die im Begriff nicht aufgeht, an empirische Existenz. Überall im Verhältnis der Idealität gilt, daß essentia existentia ist. . . (doch) Begriffsexistenz, ideale Existenz. Aber Existenz entspricht dem einzelnen, den einzelnen, was ja bereits Aristoteles lehrt, liegt außerhalb oder geht doch nicht auf im Begriff" (TG 127/8). Wenn wir also uns gewärtig halten, wie sowohl Hegel als auch die Heideggersche Fassimg der Existenzphilosophie Kierkegaards im Grundproblem aller Philosophie, im Problem zwischen Dasein (Existenz) und Sosein (Essenz), gegen die scholastische Analogie zwischen Dasein-Sosein-Identität Gottes und Dasein-Sosein-Spannungseinheit des Geschöpfes die Eindeutigkeit einer Identität stellen, die eine in sich selbst ausbrechende Spannung ist (als Selbstbewegung der Idee bei Hegel, als Sorge-Unruhe der Existenz bei HeideggerKierkegaard), also gegen die analogia entis das Eins von Identität-Widerspruch (wie wir es immer formulierten)1), so gewinnt diese Feststellung hier ihre Schärfe. Indem Hegels Philosophie (in ihrer ausgesprochenen Systemgestalt) Philosophie des Wesens ist, besagt ihr Identität-WiderspruchEins von Dasein-Sosein ein Hinein des Daseins ins Sosein, Existenz-Essenz-Eins von der Essenz her, die ideative Existenzbewegung der Essenz, die Idealität des „reinen Werdens". Indem Kierkegaard in der Formung Heideggers (also in der Einklammerung oder Abschneidung aller Bezüge ins Empirisch-Lebendige wie ins Transzendent-Religiöse) Philosophie der Existenz ist, bedeutet sie ein Eins von Dasein-Sosein von der Existenz her, ein Hinein des Soseins ins Dasein, das „sich in sich selbst zu sich selbst bewegen" des Daseins, das gleichsam „in sich selbst hinein gekrümmt sein" des Daseins (entsprechend der Heideggerschen „Sorge" ') Vgl. Religionsphilosophie, kath. Theologie, München 1926. „Eine in sich gegensätzliche Identität" sagt Rieh. Kroner. (Selbstverwirklichung des Geistes. Tübingen 1928, S. 222.)
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als Sinn der Existenz), die in sich selbst hinein gebogene Realität des „existentiellen Werdens". In Hegel und Kierkegaard-Heidegger stehen sich die beiden, einander fordernden, Formen absoluter Philosophie gegenüber, d. h. einer Philosophie, für die das Geschöpf Gott ist. In Hegels Philosophie, in der die Existenz Essenz ward, ist es eine solche absolute Philosophie, die das Geschöpf als Selbstbewegung Gottes faßt, also vorwiegend theopanistisch. In Kierkegaard-Heideggers Philosophie, in der die Essenz Existenz ward, ist es eine solche absolute Philosophie, in der das Geschöpf sich in sich selbst zusammenschließt (das „in der Welt" als formales Wesen der Existenz, wie „Sorge" ihr materiales ist), also vorwiegend pantheistisch. Aber gerade diese äußerste Zuspitzung wird zur Überwindung: zum B l i c k in T i e f e und Höhe. Denn schon die Hegeische Philosophie in der Zuspitzung ihres „reinen Werdens" erscheint geschichtlich als nachfolgendes Verhängnis des tiefen Gedankens, der die Abhandlung über die „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems" (1801) beherrscht: das „Werden" gegen die Absolutheit Fichtes und Schellings. Und wenn wir die Einflüsse der Romantik hinzunehmen, die zum mindesten als Unterströmung auch des späteren Hegel anzusprechen sind, so müssen wir sagen, daß jene Philosophie der Essenz, wie sie eben als starrer, kalter Typus vor uns stand, innerlich von Kreatur-Bewußtsein erschüttert ist. Das ist aber nun in ungleich gewaltigerem Ausmaß beim Gegenpol der Fall. Denn das, was wir eben als typische Philosophie der Existenz hinstellten, ist ja in seinem Wesen, wie wir oben sahen, ein einziger Explosionskörper: die Umbiegung der wesenhaft transzendent (zu Gott hin) gerichteten „Angst" Kierkegaards in die ins Immanente starrende „Sorge" Heideggers. Damit aber wird das ganze Bild der aporetischen Mentalität der Gegenwart aus seiner scheinbaren Geschlossenheit philosophischer Kühle aufgesprengt. Denn in der Art, wie die Existenz-Philosophie Kierkegaards in der ExistenzPhänomenologie Heideggers erscheint, brechen die zwei tiefer liegenden Deutungen dieser Konzentrierung von allem auf die Existenz durch. Einmal: diese Konzentrierung als
— 29 — Verstaming ins Ich, d. h. (psychoanalytisch) als Inversion, In-sich-hinein-gekehrt-sein. Dann aber: die Konzentrierung als Einkehr in das innerste Geheimnis (kreatürlicher) Existenz, als Aufreißen aller irdischen Idealismen (alles kreatürlichen ,,rein" eines „reinen Denkens", „reinen Wollens", „reinen Werdens" usw.) in das ganz nackte „nicht ist", und hierin die Unmittelbarkeit zum allein wahren „Ist", zu dem, für den allein alles „rein" zulässig und erfordert ist, zu Gott, und darum zu Gott, wie Er im schärfsten Sinn „geschieden und unterschieden ist gegen alles, was außer Ihm ist oder gedacht werden kann" (Vatic. sess 3, cap. 1). Mit andern Worten: der Kierkegaard der heutigen Existenz-Philosophie ist ein Vordergrund, der durchlässig ist in den Kierkegaard des Entweder-Oder zwischen Psychoanalyse und strenger Religion. Wenn wir mit einem wahren Recht sagen können, daß die „Existenz" (das Grundwort des philosophischen Kierkegaard und der heutigen Gesamt-Philosophie der Existenz) sich in dem andern Wort „ A u g e n b l i c k " schlagwortartig gebe (die Lebensgefülltheit wie Nichtigkeit von „Augenblick"), so zeichnet Kierkegaard selbst mit scharfen Worten diese Vorläufigkeit der Philosophie der Existenz zum Problem der Psychoanalyse und der strengen Religion. Einmal „pflegt man bisweilen das sinnliche Leben so zu bestimmen, daß es im Augenblick und nur im Augenblick s e i . . . ; (aber dieser) Augenblick bezeichnet das Gegenwärtige als ein solches, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat; darin liegt ja die Unvollkommenheit des sinnlichen Lebens." Dann aber ist Augenblick das schärfste Wort für das Ewige. „Das Ewige bezeichnet auch das Gegenwärtige, das kein Vergangenes und kein Zukünftiges hat, und dies ist des Ewigen Vollkommenheit. . . ; so tritt klar hervor, daß der Augenblick nicht eine bloße Bestimmung der Zeit ist; . . . (er ist) nicht eigentlich ein Atom der Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit; er ist der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, gleichsam die Zeit zum Stehen zu bringen." (GW V, 83—85.) „Der Augenblick ist jenes Doppeldeutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt,
— 30 — in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt." Damit steigt unser Gegensatz zum äußersten. Es ist ja schon die innerste Problematik Goethes, da für ihn „Augenblick" gleichzeitig Grundwort sinnenhaften Lebens ist, Zusammenschießen aller Lust in den einen „köstlichen" Augenblick, — und dann doch dasselbe Wort wieder als Ausdruck des unberechenbaren Empfangens von oben, als der „günstige", d. h. „vergönnte" Augenblick, und beides wahrhaft doppeldeutig ineinander fließend. Einmal in einem Sinn, der zum sinnlichen Augenblick hin neigt, zum Goetheschen „Auge", in der Sicht des Gottfried-Keller-Verses „Trinkt ihr Augen, was die Wimper hält": „Ich weiß, daß mir nichts angehört als der Gedanke, der ungestört aus meiner Seele will fließen, und jeder günstige Augenblick, den mich ein liebendes Geschick von Grund aus läßt genießen." Dann aber auch in einem Sinn, der das „von oben her" des Augenblicks aufblitzen läßt, indem das Goethesche „Auge" sich als Hindurchleuchten göttlichen Lichtes erfaßt: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?" Aber das ist in dem obigen Kierkegaard-Wort aus dem Goetheschen etwas häuslichen Beruhigtsein in das äußerste Entweder-Oder zwischen Erde und Himmel aufgerissen. Und es ist so aufgerissen, daß die zwei gegenwärtigen tieferen systemhaften Deutungen der Existenz-Philosophie in ihrem schärfsten Gegensatz hervorspringen. Die Psychoanalyse als ein solches radikales „Abreißen der Ewigkeit durch die Zeit", daß alles „ewige Leben" Nichts ist, Tod als rein negatives Aufhören der allein „gefüllten" Zeitlichkeit (Vetter 289 ff.). Die strenge Religion aber (im Auferstehen Kierkegaards in der Richtung Karl Barths) als ein solches „Durchdringen der Zeit durch die Ewigkeit", daß die Zeit zum ge-
— 31 — urteilten und verurteilten Todes-Nicht wird vor dem Allein der Ewigkeit. Wir stehen wieder in der Unerbittlichkeit der alten Fragestellung: zwischen dem „Ästhetisch-Sinnlichen" und dem Religiösen. 2. Die P s y c h o a n a l y s e als tiefere Deutung der Existenzphilosophie Kierkegaards wird von Vetter mit Bewußtsein an den Begriff der Existenz angeknüpft. „ E r (Kierkegaard) hat den Geist wieder an seinen triebhaften Ausgang zurückgebracht, den er in Piatons entsinnlichender Liebesauffassung und seiner Ideenlehre zuerst verließ und den er dann im Christentum ganz aus den Augen verlor. . . . Bei keinem der andern großen Denker tritt der betrachtende Geist so nahe an die persönlichste Wirklichkeit heran und schafft eine .existentielle' Philosophie" (141/2). Philosophie der Existenz, und zwar existentielle Philosophie der Existenz, d. h. eine solche, die in die Existenz sich versenkt, ist eben Einkehr in den „Ursprung". Liegt aber der Ursprung des Menschen nicht in dem Geheimnis, darin ein Mensch aus der Einheit zweier entspringt? Von dieser Frage her ist der psychoanalytische Sinn einer existentiellen Philosophie der Existenz Rückführung von allem auf das Geheimnis des Triebes, und das Geheimnis Kierkegaards, in seinem ungelösten, dialektischen Hin und Her ist das Geheimnis seines Ringens mit dieser letzten unheimlichen Einsicht, ihr bejahendes Leugnen und ihr leugnendes Bejahen. „Niemand hat so scharf wie er die veränderte Forderung des zu sich selbst gelangten christlichen Geistes, das Bedürfnis der Wiederaneignung von Weib und Welt, von Sinnlichkeit und Vernunft, ins Auge gefaßt und ist zugleich so entsetzt davor zurückgewichen" (18). Aber eben darum ist Kierkegaards Zwiespalt entscheidende Grundlegung der Psychoanalyse, weil in diesem Zwiespalt sich das ganze psychoanalytische Drama zusammenballt: das rücksichtslose Zurück des Geistes in seinen Trieb-Ursprung, und das Sich-Aufbäumen des Geistes dagegen, mit der Folge der Trieb-Verkehrungen bis in die Leidens- und Todes-Sucht: das Freud-Drama zwischen Es (Trieb) und Ich (Geist). Kierkegaards Kampf gegen
— 32 — Hegel und ein solcher Kampf, in dem doch der Kämpfer vom Feind immer wieder von hinten herum beeinflußt ist, hat hier seine Orientierung von Schopenhauer her, von dem Schopenhauer, der zusammen mit Carus als Ahn der Psychoanalyse gilt: „ E r (K.) steht in der Mitte zwischen der gedanklichen Entrücktheit des einen (Hegels) und der willensstarken Unbefangenheit des andern (Schopenhauer), in die sein Streben mündet" (82). Für diese Deutung scheint nicht Weniges zu sprechen. Für alle drei Rücksichten, unter denen die Psychoanalyse die tiefere Existenz-Philosophie Kierkegaards sein will, lassen sich Zeugnisse aufstellen: für die Zentrierung von allem auf die Sexualität, für den Kampf des bewußten Ich dagegen bis zu Grausamkeits-, Leidens- und Todessucht und für den aus diesem Kampf resultierenden Ich-Zustand der tatlos träumenden und starrenden Einwärtsgekehrtheit (Inversion). Existenz im psychoanalytischen Sinn ist T r i e b als Ursprung: der Trieb als „die" Existenz. Das ist darum dann in äußerster Schärfe aufgestellt, wenn auch der andere, entgegengesetzte Sinn von Ursprung auf diesen einen restlos zurückgeführt ist: der „Ursprung aus Gott" auf den „Ursprung aus dem Trieb". Kierkegaard als Ahn der Psychoanalyse in diesem Punkt ist also dann ihr eigentlichster Ahn. Denn wenn in der Tat bei diesem radikalsten Anwalt radikaler Religion eine Philosophie des Triebes die eigentliche Wurzel ist, so ist die hier in Frage stehende Grundthese der Psychoanalyse am unwidersprechlichsten ausgesprochen. Vetter betitelt darum sein Buch mit Recht „Frömmigkeit als Leidenschaft". Alle andern Rückführungen (von Wissenschaft, Kunst usw.) auf den Trieb sind demgegenüber unwichtig. Denn hier handelt es sich um das „Absolute". Ist Gott das Absolute oder der Trieb? Als Erstes spricht hier wohl Kierkegaards durchgehende Akzentuierung von L e i d e n s c h a f t . „Leidenschaft ist doch die Hauptsache, sie ist der eigentliche Kraftmesser für die Menschen" (TG I, 170). Er zeichnet sie als das Treibende seines „Entweder-Oder": „lauter Leidenschaft, und diese ist immer paradox und soll nicht vernichtet werden; denn das Paradox ist des Gedanken Leidenschaft. Das Motto deutet
— 33 — auch an, daß es lauter Leidenschaft ist in ihrem Eigenwillen', (TG I, 206/7). Wenn er also, wie wir früher sahen, betont, daß das „Entweder-Oder" innerlich religiös sei (GW X, 3), ja „im strengen Sinn im Kloster geschrieben" (ebd. 13), so scheint es hiernach Religion und Kloster zu sein, die in der „Leidenschaft" grundgelegt sind. So faßt denn auch Kierkegaard weiterhin den Weg zu Gott selber unter dieser Rücksicht: Gott ist das „Unbekannte, gegen das der Verstand in seiner Leidenschaft anstößt" (GW VI, 36) und Ihm so Untertan wird. E s ist darum Religion nach den zwei Seiten,
die Kierkegaard an ihr hervorhebt, selber Leidenschaft. Sie ist Leidenschaft als Religion des Nein der entschiedenen und ernsten Wenigen gegen die indifferente Menge: „die Leidenschaft, die Leidenschaftlichkeit gehört wesentlich zu jeder Religion" (GW X, 79). Sie ist Leidenschaft als Religion der Innerlichkeit: „leidenschaftlichste Innerlichkeit" (GW VII, 193). Und Kierkegaard scheint der Psychoanalyse auch noch den letzten Triumph zu vergönnen, wenn sie sein Wort liest: „Daß das Christentum der göttlichen Leidenschaft Gotteskampf mit sich selber i s t . . . , das ist vergessen; Gott ist umgeschaffen zu so etwas Mildem, das weder Gott ist noch Mensch" (TG II, 237). Als weiteres schließt sich die Art an, wie in der Tat in Kierkegaards Schriften die v i t a l e Dialektik, d. h. das Für und Gegen zwischen Mann und Frau eine zentrale Stellung einnimmt. Einmal unter der Rücksicht, die im „Entweder-Oder" am stärksten ausgeprägt ist: dem Problem eines Gegensatzes oder einer Vereinigung der Hingabe zwischen Mann und Frau und der Hingabe zwischen Geschöpf und Gott. Dann aber ausdrücklich in der Art, daß immer wieder, unwiderstehlich, das religiöse Verhältnis zwischen Geschöpf und Gott vom Verhältnis zwischen Mann und Frau her gesichtet erscheint, vielleicht am auffälligsten in jenem Tagebuchblatt, in dem das „die Geliebte. . . küssen" als Gleichnis des „für seine Überzeugung leiden" erscheint (TG II, 241), und in der Art, wie Climacus die „unglückliche Liebe" als ganz besonderes Gleichnis Gottes nimmt (GW VI, 23). So kann nicht auffallen, wenn Kierkegaard auch ausdrücklich den Wurzelsatz der P s y c h o a n a l y s e zu unterP r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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schreiben scheint. Fast echt psychoanalytisch ist ihm Schopenhauer das „Kontragift" gegen den „nonsentialen (christlichen) Optimismus", d. h. gegen den „eudämonistischen protestantischen im besondern den dänischen Epikuräismus" (TG II, 351). „Es hat mir", nämlich gegen Hegels Art, „das Dasein zu erklären", „unsäglich Spaß gemacht, Schopenhauer zu lesen" (ebd. 351/2). Ja, er kann ausdrücklich mit der grimmigen Geschlechtspsychologie Schopenhauers wetteifern (BR 155 ff.). Und so könnte seine scharfe Anklage gegen Schopenhauer auf „schwermütige Wollust", „tiefen Menschenhaß" (TG II, 345), auf ein „Herausdestillieren" von „Genuß . . . aus Askese" (ebd. 369) als das erscheinen, als was es Vetter hinstellt: Zurückschrecken vor der Konsequenz Schopenhauers. Es würde dann schon hier einfließen,.was ins Folgende gehört: der Kampf gegen das ungebrochen Sexuale. In diesem Sinne wäre dann der Satz aus Kierkegaards zentralem „Begriff der Angst" seine besondere Fassimg einer psychoanalytischen Existenzphilosophie: „ohne Sünde keine Sexualität und ohne Sexualität keine Geschichte" (GW V, 43). — Das leitet unmittelbar zum Folgenden über. *
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Wenn die Tiefe einer Existenzphilosophie das Rätsel des Triebs ist, so bedeutet das frühere allgemeine „sich selbst in Existenz.. . verstehen" (GW VII, 49) nicht nur die Einsicht in den Trieb als allbeherrschenden Ursprung, sondern auch weiter die Einsicht in das innere Drama des Triebes zwischen seinem Es und dem Ich des Geistes. Denn dann ist das persönliche Ich völlig fremdzwecklich zum Geschlecht. Das Geschlecht ist für das Ich zuletzt der Tod, aus dem neues Leben des Geschlechts entspringt. Die Kategorien des geschlechtbestimmten Ich sind mithin von hier aus: Angst, Leiden, Opfer, Tod. Die andere Seite des Triebes als AllUrsprungs ist ein solcher Kampf des Ich mit dem Es des Triebes, der Untergang ist. Das Ich bevorzugt darum in seiner Terminologie negative Ausdrücke in einem doppelten Sinn: als Ausdrücke seines Hasses gegen den übermächtigen Trieb und als solche seines eigenen Untergehens.
— 35 — Der Grundaffekt, der dem Kampf zwischen Es und Ich entspricht, ist die A n g s t , wie Vetter sehr klar ausführt (219). Es ist Angst, in Kierkegaards Sprache als „sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie" (GW V, 36; vgl. 69, 71), in der Sprache der Psychoanalyse als „Ambivalenz". Das Ich ist in das Es des Triebes unwiderstehlich hineingezogen und kämpft doch gegen ihn, weil in ihm (im obigen Sinn) ihm der Tod dräut. Die Ambivalenz der Angst, ihre innere Dialektik, prägt sich darum (in den Gedanken der Psychoanalyse) in eine „Verleumdung" des Triebes aus: er erscheint als Sünde, ja als die Sünde. Angst hat als „Angst vor der Sünde" ihr stärkstes Verführerisches und ihr stärkstes Schreckendes. Hier ist nun nicht zu leugnen, daß Kierkegaard wie der Ahn dieser Auffassimg erscheint. Angst ist zentraler Begriff seiner ganzen Psychologie des religiösen Lebens und des Christentums. Die geschichtliche Voraussetzung von Christentum ist durch sie wurzelhaft bestimmt: „Angst als Voraussetzimg der Erbsünde, welche dieselbe zugleich rückläufig, in der Richtung auf ihren Ursprung, bestimmt" (GW V, 40). Und ebenso ist Angst das Formende im Eingang von Christentum: „wenn das Individuum durch die Angst zum Glauben gebildet wird, so wird die Angst gerade ausreuten, was sie selbst hervorbringt" (ebd. 160). Diese Angst aber ist aufs engste mit sexualer Sinnlichkeit geknüpft. „ J e mehr Angst, desto mehr Sinnlichkeit" (ebd. 68). Es ist die Angst als Ausdruck dessen, daß im Geschlechtsleben das Ich des Geistes zu versinken droht. „Im Augenblick der Konzeption ist der Geist am entferntesten und deshalb die Angst am größten. In dieser Angst wird das neue Individuum. In dem Augenblick der Geburt kulminiert die Angst zum zweitenmal im Weibe, und in diesem Augenblick kommt das neue Individuum zur Welt. . . . Als Gebärende ist das Weib wieder auf dem Höhepunkt des einen Extrems der Synthese; deshalb erbebt der Geist, denn er hat in diesem Augenblick keine Aufgabe, er ist gleichsam suspendiert" (ebd. 68). „Angst ist. . . ein Begehren nach dem, was man fürchtet . . . Angst ist eine fremde Macht, die das Individuum ergreift, und doch kann man von ihr nicht sich losreißen und will es 3*
— 36 — nicht, denn man fürchtet, aber was man fürchtet, das begehrt man. Angst macht . . . das Individuum ohnmächtig, und die erste Sünde geschieht immer in Ohnmacht; es mangelt darum anscheinend die Zurechnungsfähigkeit, aber dieser Mangel ist die eigentliche Bestrickung. — Das Weib hat mehr Angst als der Mann; darum war sie es, die die Schlange zum Angriff ausersah, und sie betrog durch ihre Angst" (TG I, 171/2). Hier haben wir, wie es scheint, alle Momente zusammen, die für den psychoanalytischen Begriff der Angst erfordert sind. Es ist Angst im sexualen Sinn als beherrschende Hai tung des Menschlichen: als „Ausdruck für die Vollkommenheit der menschlichen Natur" (ebd. 68). Es ist Angst als Bewußtsein des Geistes um sein drohendes Untergehen in das Es des Triebes. Es ist Angst als besondere Eigenschaft des Weibüchen, weil „das Weib sinnlicher ist als der Mann" (ebd. 60, 62), ja geradezu das verlockend Sinnliche für ihn, so daß der Mann den Geist nur retten kann im Maße seiner Flucht vor der Frau (BR 155 ff.). Angst also ist Angst vor der Frau. Diese so bestimmte Angst ist das natürliche Schicksal des Menschen, da er in Angst empfangen und geboren wird, um in Angst zu zeugen und zu empfangen und zu gebären. Diese Angst ist weiter, in der Form des Kampfes, im Christentum lebendig. Nicht nur darin, daß „das Christentum und alle tieferen Lebensanschauungen das Verhältnis zum anderen Geschlecht mit ungünstigen Augen (anschauen), weil sie annehmen, daß es des Mannes Degradation ist, wenn er sich mit dem anderen Geschlechte einläßt" (BR 159). Sondern auch ganz zugespitzt darin, „daß die Kirche beim Weibe mehr Gewicht auf die Bewahrung der Virginität gelegt hat als beim Manne, die Nonne mehr geehrt hat als den Mönch" (ebd. 157), weil eben im Verzicht der Frau auf das Geschlechtsleben (folgerichtig zur obigen Theorie) der Gegenstand der Angst am härtesten getroffen ist: „damit, daß sie auf dieses Leben und auf die Ehe verzichtet, gibt das Weib viel mehr auf als der Mann" (ebd.). Aus dieser Bestimmung der Angst ergibt sich dann folgerichtig das Weitere: das Vorwiegen des N e g a t i v e n in der seelischen Haltung, wiederum im doppelten Sinn nega-
— 37 — tiven Erliegens und negativen Kampfes. Denn wenn das Es des Triebes das All-Ursprüngliche und darum All-Mächtige ist, dann gibt es für die Haltung des Ich des Geistes nur ein Entweder-Oder: zwischen müdem Versinken und Haß. Die Worte, die hier in Frage stehen, Leiden, Opfer, Tod (als Entfaltung der Angst), sind doppeldeutig. Denn bei der Allmacht des Triebes kann ja auch der Kampf nichts anderes sein als wachsendes Erliegen, nur daß das Erliegen sich als Kampf maskiert, um (individualpsychologisch ausgedrückt) seines Minderwertigkeitsgefühls durch eine raffinierte Überkompensierung Herr zu werden: durch Leiden, Opfer, Tod als „Überlegenheit" gegenüber der rohen Kraft. Es wird Kampf des Ich (Geist) gegen das Es (Trieb) in einem doppelten Sinn: einmal als leidenschaftliche Verneinung des Triebes, ihn leiden zu machen, ihn zu opfern, ihn zu töten, also als negative geschlechtliche Aszese; — dann aber als Obsiegenwollen des Geistes durch sein Erliegen (weil ja, kraft der All-Macht des Triebes und kraft seiner Ursprungsbeziehung zum Geist, es gar nicht möglich ist, den Trieb zu vernichten) also als Macht durch Ohnmacht, als Umdeutung der eigenen Leidens-Opfer-Tod-Negativität zu positivem Vorzug (Ressentiment). Und beide Weisen, kraft des Triebes als All-Ursprungs und All-Ziels, sind nur verschiedene Masken des einen objektiv-faktischen Leidens und Opfers und Todes des Geistes in den Trieb hinein: die Rückkehr des Geistes in seinen Ursprung. All das aber ist — in Wiedergeburt Bachofenscher Romantik — konkret in der Beziehung des Mannes zur Frau oder, schärfer noch, des Männlichen im Menschen zu seinem Weiblichen: aus der Nacht des doppelten Mutterschoßes der Mutter-Erde und der Mutter-Frau, im unterliegenden Kampf gegen ihn, in ihn zurück. Das Doppelantlitz des Es des Triebes, Leben und Tod spricht im Doppelantlitz der Frau: „das Weib als Mutter Lebensquell und Todesgöttin in einem". Das Gesetz des Es des Triebes, danach das Ich des Geistes aus ihm entsteht, über ihn hinauszusteigen, um gegen ihn kämpfend in ihn zurückzusinken, ist konkret im BachofenGesetz zwischen Mutterprinzip des Mutterschoßes und Vaterprinzip des Geistes, erde-naturhaft „chthonischem" und
— 38 — himmlisch „apollinischem" Prinzip: vom Mutterprinzip über das scheinbar obsiegende Vaterprinzip zum Mutterprinzip zurück1). Hier scheint fast die ganze Entwicklung der Gedankenweit Kierkegaards seine Ahnschaft zur Psychoanalyse zu zeigen. Es beginnt mit den Tagebuchblättern über den Gegensatz zwischen dem Ideal einer „Hochschule des Menschengeschlechtes", wo „große, ausgezeichnet begabte Männer, die in das Rad der menschlichen Entwicklung eingegriffen haben" vereinigt wären (TG I, 43), und der „wundem lieh stickigen Luft, die uns im Christentum entgegenkommt" (ebd. 41), dem „seligen Hinstarren mit einem dieser matten hinstarrenden Augen mit einer großen und fixierten Pupille oder mit einem in Feuchtigkeit schwimmenden Blick, der alles klare Sehen verhindert" (ebd. 42), wo „keine Rede (ist) von einem geistigen, kräftigen Leben" (ebd.). Des Christen Phantasie ist betont negativ: „überall fast, wo der Christ mit dem künftigen Leben sich beschäftigt, da ist Strafe, Verwüstimg, Untergang, ewige Qual und Pein das, was ihm vorschwebt, und ebenso üppig und ausschweifend wie seine Phantasie in dieser Hinsicht ist, ebenso mager ist sie, wenn die Rede ist von der Seligkeit der Glaubenden und Auserwählten" (ebd.). „In der religiösen Sphäre ist das Positive am Negativen kenntlich, das Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit am Leiden kenntlich" (GW VII, 216), so sehr, daß „Leiden . . . der wesentliche Ausdruck des existentiellen Pathos" ist (ebd. 133). Der entscheidende Ausdruck der Existenzwirklichkeit des Christen ist das „für die Lehre leiden" und so „versetzt" sein „unter einem unendlichen Druck" (GW XI, 180). „Die Wirklichkeit des Leidens ist das existentielle Pathos, und unter der Wirklichkeit des Leidens wird dessen Fortdauer verstanden als für das pathetische Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit wesentlich" (GW VII, 133). „Was die frohe Botschaft. .. sein soll — das macht mich, menschlich geredet, zum allerelendesten Menschen" (GW XI, 180). Diese Ausschließlichkeit des Leidens wird dann aber noch verschärft durch das ebenso „existentielle", d. h. die ') Vgl. vom Verf. Ringen der Gegenwart I (Augsburg 1929), 344 ff.
— 39 — Existenz des Christen ausmachende Schuldbewußtsein. „Das Erbauliche in dem Gedanken, daß wir gegen Gott allezeit unrecht haben", ist der Titel einer ganzen Abhandlung (GW II, 295 ff.). „Der entscheidende Ausdruck des existentiellen Pathos ist Schuld. . . . Die ewige Erinnerung an die Schuld ist der höchste Ausdruck dafür, daß sich das Schuldbewußtsein zu einer ewigen Seligkeit verhält" (GW VII, 209); „das Verhältnis ist an der Totalität des Schuldbewußtseins kenntlich" (ebd. 216); „schuldig leiden ist ein niedrigerer Ausdruck als unschuldig leiden, und doch ist es ein höherer Ausdruck, weil das Negative Kennzeichen einer höheren Position ist" (ebd. 217/8). So ist „mein Leiden . . . meine Überlegenheit". Es ist aber anderseits die Haltung einer Verzweiflung. Man muß in dieses lebentötende Christentum „den verzweifelnden Sprung . . . tun" (TG I, 41). Und dieses Dumpfe der Verzweiflung entlädt sich in das Vorwiegen gebrochener Affekte: Komik-Pathos als Ausdruck des Werdens (GW VI, 167), Ironie und Humor als das schillernde Zwischen von Ästhetischem-Ethischem-Religiösem (GW VII, 187), Ironie als dasjenige, das „die Phänomene offenbar macht" (TG I, 255), das Lachen in der Form des Gegensatzes zum inneren Leben als „befriedigender Ausdruck" (ebd. 207). Das Ganze aber, wie es scheint, ist wie ein einziger Ausdruck des verzweifelnden und versagenden Kampfes zwischen Geist und Trieb. Christentum, dessen „Tendenz . . . ist, den Geist weiterzuführen", ist ein solches, darin „das Religiöse das Erotische suspendiert" (GW V, 66), weil der „Geist im Verhältnis der Scham zum Sexuellen steht" (TG II, 186), und „Enthaltsamkeit der Ausdruck für Geist wird" (ebd. 358); — aber der Geist ist dazu bestimmt, „zu leben wie gestorben (abzusterben)" (TG II, 405). Das Ganze fernerhin, wie es ebenfalls scheint, ist Vollendung dessen, was schon von der Angst her sich gab: verzweifelter Kampf gegen das Weibliche (vgl. Vetter 25). Auf der einen Seite eine herunterreißende Kritik, die sich mit Schopenhauer mißt: „das Weib dazu bestimmt, den Mann zu demütigen und unbedeutend zu machen" (BR 155) ; eine „Mystifikation" des Unendlichen, die ihn in die End-
— 40 — lichkeit zieht (ebd. 157); „das Weib" als „der personifizierte Egoismus" (ebd. 158); „die ganze Geschichte mit Mann und Weib" als „eine ungeheuer fein angelegte Intrigue oder ein Possen, darauf berechnet den Mann qua Geist zunichte zu machen" (ebd.), so daß von hier aus „die Knabenliebe des Altertums" sich von der Tatsache her erkläre, daß „das Intellektuelle. . . gar nichts mit der Liebe zu dem andern Geschlecht zu tun hatte" (TG II, 152). Auf der andern Seite aber ein Nichtloskönnen vom Weiblichen: in dem Motiv der „unglücklichen Liebe", das mit Vorliebe zum Gleichnis des Verhältnisses Gottes zum Menschen wird (GW IV, 373 ff.; VI, 23). So wird das Drama zwischen Trieb (Es) und Geist (Ich), das in der Angst sich anspann und in der Betonung des Negativen sich abspielte, zum Ausklang eines träumenden, schwermütigen, nur hier und da durch Ausbrüche unterbrochenen Versinkens in sich selbst, ein fortdauerndes SichBeschäftigen mit sich selbst bis zur Selbstspaltung, bis zum gereizten Haß gegen alles Außen, und endgültig ein Allein mit dem Tod in den Tod hinein. Es ist das, was die Psychoanalyse I n v e r s i o n nennt. Leidenschaft und Angst münden in das tatenlose T r ä u men. „Das Wünschen ist eigentlich das Maximum, zu dem wir kommen; und wenn dies Wünschen recht brennend ausgedrückt wird, dann meinen wir außerordentlich fortgeschritten zu sein" (BR 117). „Die Angst ist eine Bestimmimg des träumenden Geistes" (GW V, 36) in der Weise, wie Kierkegaard in der Einleitung zu „de omnibus dubitandum est" den Traumzustand des Johannes Climacus schildert (Haecker: Brenner IV [1914], 674 ff.). Es ist ein Träumen, das einmal verzehrende Schwermut ist. „Die Phantasie als solche macht immer schwermütig" (TG I, 207); „Schwermut und Religiosität wunderlich sich mischend" (TG II, 39). Und darum Schwermut in den Tod hinein: „Galeerensklave, mit dem Tod zusammengekettet; so oft das Leben sich rührt, rasselt die Kette, und der Tod läßt alles verwelken — und dies geschieht jede Minute" (BR 80). Es ist aber auch ein S i c h v e r s c h l i e ß e n gegen das Außen, das unheimlich sich hin und her wirft
— 41 — zwischen einem stolzen Ungerührtseinwollen („je reiner ein Mensch ist, desto mehr nähert er sich auch im Verhältnis zu andern Menschen dem, für sie nicht Objekt sein zu können", TG I, 304) und jähen Hohn- und Haßausbrüchen gegen die Menge und den Pöbel (TG II, 378 f.; GW X , 77 ff., 95 usw.), da „die Sache des Christentums" „durch . . . und mit" „der Kategorie des einzelnen steht und fällt" (BR 107). Es ist weiter ein Träumen, das zur S e l b s t s p a l t u n g ausartet: der Geistesmensch als gekennzeichnet durch „Verdopplung" und „Isolation" (GW X I I , 58/9) und hierin das nächste Gleichnis Gottes, der „unendliche Verdopplung" ist (TG II, 385). Die Selbstspaltung aber wird zum Leiden an einer inneren U n w a h r h a f t i g k e i t : der Mensch, dem alle Tat untersank in Traum, ward zum „Dichter", „der Dichter aber heuchelt mit dem Menschen" (GW X I I , 92). Es wird zur dunklen Dämonie der E i n s a m k e i t : „in der Einsamkeit ist das Absolute, aber auch die absolute Gefahr" (BR 107). Es wird zur sprengenden Unruhe: „das Christentum ist die intensivst-stärkste, die größtmöglichste Unruhe, es läßt sich keine größere denken, es will. . . das Menschendasein beunruhigen vom tiefsten Grund aus, eilles sprengen, Ellies brechen. . . . Wo einer Christ werden soll, da muß Unruhe sein, und wo einer Christ geworden ist, da wird Unruhe" (TG II, 379). Es wird zum J ä h - D ä m o n i s c h e n schlechthin: „dus Dämonische ist das Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare" (GW V, 122). So wird man jedenfalls das zugeben müssen: im Maße als Kierkegaardsche Existenzphilosophie ihren Sinn hat in einem solchen „möglichst großen Sich vertiefen in die Existenz" (GW VII, 215), das zu seinem Ziel das „Ich in der Welt" hat, in dem Maß wird sie psychoanalytische Inversionsphilosophie. 3Aber eben hier setzt die S e l b s t w i d e r l e g u n g des P s y c h o a n a l y t i s c h e n ein. Gerade das obige Wort vom „das Menschendasein beunruhigen von seinem tiefsten Grund aus", das die Inversion nach ihrer kennzeichnendsten Seite zu geben schien, nämlich als Explosionsnähe (in akuten
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Irrsinn), gerade dieses Wort sprengt die ganze scheinbar unwiderlegliche psychoanalytische Existenzphilosophie zu ihrem Gegenteil: zu jener Kierkegaard-Deutung, die in der Richtung Karl Barths ihren starken Ausdruck gewann. Der „Irrsinn" der Inversion, dem der Kierkegaard der Psychoanalyse nahe scheint, ist der „Irrsinn" des in sich verbauten Menschen, den Gott zu Sich aufbricht: „die Furcht, mit der der Irrsinnige die geistige geheimnisvolle Überlegenheit des genialen Arztes fühlt, muß ungefähr dem ersten nahezu feindlichen Schritt der Gottesfurcht entsprechen" (TG II, 36). Die Leidenschaft, von der die Rede ging, ist die Leidenschaft dieses Kampfes zwischen Gott und Mensch. „Zwischen Gott und dem Menschen ist ein Streit, und ein Streit, der auf Tod und Leben geführt wird" (TG II, 217). Und es ist dann die Leidenschaft des Kampfes des gottergriffenen Menschen für die Majestät Gottes gegen Menschendünkel (BR 123 f.). Die Angst, die sich anschloß, ist die Angst des „natürlichen Menschen" vor dem Gott, der die unbedingte Übergabe und Hingabe fordert. „Wie der Fischer, wenn er das Garn gelegt hat, im Wasser Lärm macht, um die Fische seinen Weg zu jagen und desto mehr zu fangen; wie der Jäger mit der Schar der Treiber das ganze Terrain umspannt und das Wild in Menge aufscheucht zu der Stelle hin, wo es geschossen werden soll: so jagt Gott, der geliebt werden will, mit Hilfe von Unruhe nach den Menschen" (TG II, 379; vgl. GW V, 153 ff.). Wenn dann aber diese Angst „Bestimmung des träumenden Geistes" ist (GW V, 36), dann zeigt auch das Träumen ein anderes Gesicht, jenes Gesicht, das Reinh. Joh. Sorge in seinem „Gericht über Zarathustra", das hier zu der Deutung Kierkegaards wird, enthüllt: das Träumen als das völlige Verstummen und Vernachten in Gott hinein: „Da kommt der Traum, der Traum!" (43). Dieser Traum dann ist die Verschlossenheit, Verschlossenheit als Beschlossenheit in Gott hinein: „Schließ mich zu!" (44). Dieser Traum dann endlich ist der Tod, Tod aus dem Tod des Geschöpfes ins Ewige Leben: „Nur im T o d e . . . darf ich
— 43 — sehen . . . , nur im Tode . . . ich geboren . . . , nur im Tode überwunden . . . . nur im Tode Traum" (Nachgel. Gedichte 77). Die Tiefe der Kierkegaardschen Psychologie ist von hier aus nicht die Tiefenpsychologie der Psychoanalyse, sondern die Psychologie der „Tiefen Gottes": „christliche Psychologie", wie Haecker glücklich prägt (Kierkegaard 32). Ja, von dieser Deutung aus müssen wir sagen: der Kierkegaard der Psychoanalyse ist das „Wild", auf das der „göttliche Jäger" des Kierkegaard der „christlichen Psychologie" es gerade abgesehen hat. Die „Existenz" der Psychoanalyse ist, wie in Gertrud Le Forts „Schweißtuch der Veronika" die psychoanalytische Periode von Tante Edelgart, die letzte krampfhafte Verdeckung der eigentlichen Existenz, der letzte raffinierte Versuch, die wesenhafte Aufgebrochenheit dieser letzten Existenz künstlich in sich selbst hinein zu schließen, ihren Charakter einer Existenz zu Gott hin, ja, von Gott her und in Gott, zu einer Existenz „in der Welt" zu verkehren (die psychoanalytische Erziehung zur „Gemeinschaft"). Es ist die letzte, in Selbstsucht leidenschaftliche, um das Selbst angsthafte und darum traumhaft-schwermütig, empfindlichgereizte, hinsiechende Selbsttäuschung der „Existenz" über ihr innerstes, letztes Wesen: über das „unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir", weil unsere Existenz ist das „geschaffen . . . zu Dir hin" 1 ). >) Damit dürfte die Stellung dieser Abhandlung, hier und noch mehr im SchluBteil, zu P s y c h o a n a l y s e und I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e klar sein. Es ist im Grunde keine andere als diejenige, die aus Gertrud Le Forts ..Schweißtuch der Veronika" (Manchen 1928) spricht. Soweit beide, Psychoanalyse wie Individualpsychologie, die Zerfetztheit des Nenrotikers auf ein innergeschöpflich Letztes zurückführen und von hier aus zu heilen suchen, sei es „Trieb" oder „Machtwille", insoweit gilt das unerhört scharfe Wort von Tante Edelgart nach ihrem Erwachen aus der psychotherapeutischen Narkose: „Ich beichtete dem Arzt und empfing von ihm die einzige Absolution, welche die Welt zu spenden vermag, nämlich die Absolution des Psychiaters, vor dem es keine Sflnde gibt, die nicht vergeben werden kann, weil es ja keine Seele gibt, die sich Gott versagen kann. Und diese Absolution hat mir jenen furchtbaren Frieden verliehen, von welchem heute Tausende leben, deren Krankheit nichts anderes ist, als daß sie den Frieden Gottes verschmähten" (349). Die Tiefe der Neurose ist das „unruhige Herz". Wird es in die Pflege einer rein diesseitigen Gemeinschaftserziehung genommen, so entsteht nur der ewig sich selbst „pflegende" „Pflegling",
— 44 — Von hier ai\s wird darum klar, wie Kierkegaard zur schließlichen erregten Ablehnung Schopenhauers kommt. Der Pessimismus Schopenhauers ist nicht ein solcher „Durchbruch" durch eine behagliche Oberflächlichkeit, der von letzter selbstloser Aufrichtigkeit erzwungen ist (die immer nur von Gott her möglich ist). „Er ist nicht selber die durch Askese erreichte Kontemplation, sondern eine Kontemplation, die kontemplierend sich zu jener Askese verhält. . . . aber den die Großmutter im selben Roman das wahre Wort sagt: „Daß doch die Ärzte, wenn sie solche Fälle heilen, immer nur Philister aus den Menschen machen können!" (242 f.) Aber es ist der Philister mit der dämonischen Tiefe. Von hier aus wird man ein Doppeltes sagen können. Einmal: daß eine Individualpsychologie, die sich dem Religiösen versperrt oder es nur als Symbol für „Gemeinschaft" und „Werte" nimmt, der größeren Gewalt der Psychoanalyse erliegen muß, zumal wenn sie in einer reinen Abwehrstellung verharrt, d. h. die Existenz des Triebes wegleugnet in eine reine Form geistiger Selbstbehauptung usw. Es prägt sich dann im Schicksal der Theorien das bekannte Schicksal des Lebens aus: daß zwischen Eros und Agape, zwischen Trieb und Religion, ein Entweder-Oder besteht, das die Mittelstandpunkte entweder zerfetzt oder karikiert. Aber ebenso gilt das andere: insofern Individualpsychologie ihren „finalen" Standpunkt so versteht, daß er den ehrlichen, wenn auch langsamen Weg in den „finis ultimus" bedeutet, den Weg der Erklärung vom Geist her als zuletzt Erklärung vom geistigen Gott her, in dem Maße ist Individualpsychologie der heutige Wiederansatz dessen, was wir oben mit dem Wort Haeckers „christliche Psychologie" nannten. Eine solche radikale „christliche Psychologie" faßt jede Neurose als so oder so, religiös bedingt. Alle neurotischen Erscheinungen sind in der Tiefe religiöse Konflikte, deren Verkleidung das Krankheitsbild des Neurotikers ist. Es gilt dann ein Doppeltes. Einmal: die Gesamtheit des Dogmas, wie sie im Credo vorliegt, ist hier die Quelle der „Theorie". Anderseits: vom Realismus dieser Theorie aus ist jede Angst beseitigt vor einer ruhigen Sicht jener Realismen, die der einzelne Fall bietet. Das Credo verfestigt den Arzt wie den Patienten so sehr in der Hingabe an den unbegreiflichen Gott und Seine „unerforschlichen Wege und unbegreiflichen Gerichte", in das „Meine Wege sind nicht eure Wege", daß die ruhige „Freiheit der Kinder Gottes" gewonnen ist, alle Dinge so zu sehen und einzusehen, wie sie wirklich sind, weil ja das Dogma nicht einen „idealen Menschen" lehrt, sondern den „omnis homo mendax", den VerkleidungsMenschen der Erbsfinde und den Buße-Menschen der Erlösung, der seine Buße in dem abzubüßen hat, worin er gesündigt. Das sind die, wenn man so will, psychiatrischen Grundsätze, nach denen wir hier und im folgenden verfahren. Wir gehen hierin am meisten mit den Arbeiten Rudolf Allers' einig.
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Hier (aber) kann sich.. . das Allerfurchtbarste verstecken, eine verderbliche Art schwermütiger Wollust, item ein tiefer Menschenhaß" (TG II, 345). Er ist darum „nicht gründlicher Pessimist" (TG II, 368), d. h. der Pessimist der radikalen Umkehr und des radikalen Durchbruchs durch die Eitelkeit und Vergeblichkeit aller Kreatur. „So weit entfernt, daß S. eigentlich Pessimist ist, repräsentiert er höchstens: das Interessante, er macht in gewisser Weise die Askese interessant, . . . Genuß sogar herauszudestillieren aus — Askese" (ebd.). Kierkegaard zeichnet also mit aller für den FachPsychoanalytiker wünschenswerten Deutlichkeit Schopenhauers inversiven Charakter, deckt aber das als Grund auf, was wir eben darlegten: die raffinierte Versperrung der Inversion gegen Gott. Er gibt die psychoanalytische Theorie in optima forma und erklärt ihren Gehalt aus der religiösen I n v e r s i o n als der Tiefe der psychoanalytischen: „hinter und über dem Nervenfieber. . . das gesteigerte Hiobsdrama, die Empörung der zu kurz gekommenen Kreatur gegen den Schöpfer" (Haecker, Vorwort zum „Pfahl im Fleisch"; Brenner IV, 695). Alle Nervenerschütterung in der Tiefe ist keine Nervensache, sondern verzweifelter Kampf der Seele mit dem Gott, der sie aufschlagen will zur unbedingten Übergabe und Hingabe, zum fraglosen Opfer. Das ist dann auch folgerichtig der Einwand Kierkegaards gegen den andern Ahn der Psychoanalyse, gegen Carus: „ich will mit Vergnügen einräumen, daß Carus' Buch (Psyche) vorzüglich ist; und wenn er qualitativ jedem das Seine geben will, so werde ich dankbar einige gute psychologische Bemerkungen von ihm annehmen. Er mache auf allen entscheidenden Punkten absolut Platz — für das Wunder, für Gottes Schöpfermacht, für den absoluten Ausdruck der Anbetung. . . . Zwischen diesen beiden Bestimmungen darf keine Nähe sein, sie müssen um alles nicht in die gefährliche Nähe zueinander gebracht werden, die sophistisch ist" (TG I, 301). Das wird dann darum endlich zu dem Einwand Kierkegaards gegen die A l l e i n h e r r s c h a f t n a t u r w i s s e n s c h a f t licher Methode. Ihre Beugung von allem unter Maß und
— 46 — Zahl ist Flucht vor der Tatsache des Geistes und des Geistes im Forscher selbst: „ein solches Talent. . . erklärt die ganze Natur — aber versteht nicht sich selbst" (TG I, 303). Ihre Wegdeutung der „qualitativen Übergänge" (von Natur zu Bewußtsein, Seele, Geist: TG I, 294 ff.) wird auch zum Wegdeuten des „Gott anbeten" als dessen, was sich gar nicht ableiten und erklären läßt, sondern „absolut das Höchste" ist (ebd. 296). Sie ist „eingebildet zum Aufruhr gegen Gott", indem „sie. . . entweder Gott ganz überflüssig machen und die Naturgesetze substituieren wird. . . , so daß der Mensch eigentlich Gott wird, oder Gott so peinlich geniert in seine eigenen Gesetze zwängt, daß, wenn ich so sagen darf, der Teufel Gott sein möchte" (BR 123 f.). Es wird aber auch zu dem Einwand Kierkegaards gegen einen Humanismus, der sich einerseits als Geistigkeit gegen das Naturwissenschaftliche abheben, anderseits jedoch Nur-Humanität sein will, also nicht gerade Inversion in das „in der Welt" von Maß und Zahl, aber immerhin die feinere und darum verkleidetere Inversion in das „reine Menschentum". Hier spricht Kierkegaard seine unerbittlichste Kritik: „Was ist es denn, was wir jetzt das Humane nennen ? Es ist ein verflüchtigtes Christentum, . . . ein Bodensatz des Christentums" (TG II, 243). Aller solcher Humanismus ist raffiniert krankhaftes Versteckenspiel: auf der einen Seite Feindschaft gegen Christentum, auf der andern Seite Zehren von seinen Gütern: „schafft doch das bloß Humane her — denn das Humane, das wir jetzt haben, ist eigentlich des Christentums" (ebd.). •
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So zeigt sich nun folgerichtig die T r a n s p a r e n z des scheinbar B l o ß - S e x u a l e n , die seine Überwindung ist. Wenn Vetter den Kierkegaard-Typus psychoanalytisch als „Zustand seines grenzenlos gewordenen Selbstgenusses" in allen Dingen (150) bezeichnet wissen will, so gibt ihm der Kierkegaard des „Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller" ruhig die „Duplizität in meiner ganzen Schriftstellerei: ob der Autor ein ästhetischer oder ein religiöser Schriftsteller ist" ruhig zu (GW X, 7), aber er bezeichnet sie
— 47 — als „bewußte" (ebd.) und erläutert dieses in den Tagebüchern dahin, daß er in dem „Entweder-Oder" zwischen Lebensgenuß und Religion nur das Letzte als das Wurzelhafte ansehe. „Ich zeigte die Ehe als Oder, aber die Ehe war ja nicht meines Lebens Oder, ich liege viel weiter weg von jenem Entweder. Jenes Entweder (nämlich des „Verführers" im „Entweder-Oder") bedeutet nämlich Lebensgenuß in zügellosestem Sinn. Da liegen alle Zwischeninstanzen: Lebensgenuß, aber mit ethischem Zusatz. Aber hier ist nicht mein Oder. Dann folgt Lebensgenuß mit ethisch-religiösem Zusatz; aber dies ist noch nicht mein Oder. So bleibt nur ein Oder zurück: Leiden, Entsagung, das Religiöse: zu weniger als nichts werden in dieser Welt. Bin ich ein ursprünglicher Dialektiker, ist mein Wesen Dialektik, kann ich nur Ruhe finden in diesem letzten Oder, nicht in irgendeinem intermediären Oder; denn nur wenn Ruhe wird in dem letzten Oder, ist es ausgeschöpft: Entweder-Oder" (TG II, 304/5). Von hier aus kehrt sich mithin die frühere Untersuchung um. Das P o s i t i v - S e x u a l e , d.h. das natürliche Zueinander von Mann und Frau, gewinnt seine, alle Gefangenheit überwindende Transparenz. Wenn Kierkegaard die „unglückliche Liebe" als Gleichnis für das Religiöse gebraucht, so ist es, weil gerade in diesem Gleichnis ein menschliches Gleichnis das Unsagbarste Gottes ausdrückt: Seine so große Unterschiedenheit und Verschiedenheit zum Geschöpf (die akzentuierte „größere Verschiedenheit" der analogia entis), daß es „gar nicht so leicht" ist, „daß Gott sich verständlich mache . . . , wenn Er nicht vernichten soll, was Ihm ungleichartig ist" (GW VI, 23),—und so sehr vermag auch hier „kein menschliches Verhältnis eine genaue Analogie abzugeben", daß „es für den Hochsinnigen (im Vergleich zu dem, was das Gleichnis meint) wie ein Scherz (ist), daß sich die Liebenden in der Zeit nicht bekommen" (ebd.). Und wenn der Psychoanalytiker darauf seinen Finger legen wollte, daß hier (wie an den Stellen über die durchgehende Verheiratung des protestantischen Klerus) eine persönliche Unfähigkeit abreagiert würde, indem sie objektiviert wird, so antwortet Kierkegaards eigene klare Scheidung zwischen persönlichem Fall und objektiver Sache. „Ich behaupte nicht, habe nie-
— 48 — mals behauptet, daß ich, weil es dem Christentum entgegen sein sollte, mich nicht verheiratet habe, als wäre es christlich eine Vollkommenheit bei mir, daß ich unverheiratet bin. . . . So blieb ich unverheiratet, und nun bekam ich Gelegenheit, darüber nachzudenken, was das Christentum eigentlich damit gemeint hat, den ledigen Stand anzupreisen" (TG II, 93). So gibt sich auch in der Tat die Art seines K a m p f e s gegen die grundsätzliche V e r h e i r a t u n g des Predigers. In Luther selbst sieht er die Entartung vom „Glaubensheld" zum „politischen Held" zum „Stichwort, unter dem er sowohl von Geistlichen wie Laien erinnert ward: Wer nicht hebt Wein, Weib und Gesang usw." (TG II, 176). Im Protestantismus überhaupt geht es dahin, „daß es für ein Verbrechen angesehen wird, wenn ein Pfarrer sich nicht verheiratet." „Im Mittelalter entsprach Unverheiratetheit der Heiligkeit (dies im Begriff, abgesehen davon, ob auch ein Liederlicher darunter war), nun ist es ein Verdacht, ein liederlicher Mensch zu sein, vor dem Frauen und Töchter nicht sicher sein können. . . . Im Mittelalter hatte man am meisten Vertrauen zu dem Unverheirateten, man meinte, in seinem ledigen Stand eine Garantie zu haben — das ist der Syllogismus des Geistes. Nim hat man am meisten Vertrauen zu dem Verheirateten, man meint, darin, daß er verheiratet ist, eine Garantie zu haben, daß er eines Frau und Töchter nicht verführen würde, das ist der Syllogismus des Fleisches" (TG II, 57). Christentum ist nur insofern „ehefeindlich", als es auf ein „Dezentralisieren" des Sexualen zielt, während „von Natur. . . der Mensch das Dasein auf Fortpflanzung des Geschlechts" zentralisiert und „reißender Wolf" wird, „sobald einer im Ernst an diesen Punkt rühren soll" (TG II, 392). So richtet sich die Polemik gegen die grundsätzliche Heirat der Pfarrer nicht eigentlich gegen die Frau als solche, sondern gegen die irdische Behaglichkeit und Enge des Haushaltes als den augenfälligen Ausdruck jener „Weltlichkeit" und jenes „Christentums... im Interesse des Menschen" (als „Reaktion des Menschlichen gegen das Christliche in Gottes Interesse", TG II, 404), das nach Kierkegaard
— 49 — teils der unmittelbare (TG II, 404), teils der spätere Charakter Luthers (TG II, 176) und des Protestantismus ist (GW XI, 170 ff.; TG II, 287). Es geht gegen die „akkreditierte Mittelmäßigkeit", die Luther geschaffen habe: der Luther der Tischreden: „ein Gottesmann, der in Gemütlichkeit dasitzt" (TG II, 336, 338). Es geht gegen jene Weltlichkeit, die die spezifisch protestantische Weltlichkeit einer „geistlosen Weltlichkeit" gegenüber der katholischen Weltliehkeitsform der „Scheinheiligkeit" ist. Die zweite (der Typus eines „katholischen Prälaten, durchaus verweltlicht, natürlich nicht bis zum äußersten ..., (sondern) menschlich so klug ausspekuliert und das ist just das Allerweltlichste, — kluger Genuß und wiederum Genuß seiner Klugheit") wird immer vom Katholiken „leicht" als „nur Weltlichkeit" erkannt, während die erste (protestantische) das „Raffinement" in sich habe „ — Tod und Hölle! würde vielleicht der katholische Prälat (nämlich der verweltlichte) sagen, Tod und Hölle! — das Raffinement, daß die Mitzeit seine Weltlichkeit und weltlichen Lebensgenuß versteht als — Frömmigkeit" (TG II, 287 ff.). Es handelt sich um „christliche Idealität" (von der „der Katholizismus . . . Begriff und Vorstellung" hat) gegen „Endlichkeit von einem Ende zum andern" (die der Protestantismus sei: TG II, 388). In diesem Sinne schreibt Kierkegaard: „Die Christenheit brauchte wirklich in hohem Grade wieder eine unverheiratete Person, um das Christentum wieder aufzunehmen, nicht als wäre da etwas einzuwenden gegen die Ehe, aber sie hat doch allzusehr die Oberhand bekommen. Es ist zuletzt der wahre und höchste Ernst geworden, sich zu verheiraten" (TG I, 408). „Die Frage ist doch, ob nicht Mönchsorden von neuem nötig werden, um doch wieder Pfarrer zu bekommen oder Menschen, die einzig leben, um zu predigen. . . Wenn das Sich-nicht-"erheiraten bloß richtig verstanden wird, so braucht die Religion immer Unverheiratete, besonders in unserer Zeit" (ebd. 428). ; In diesem Sinn kehrt auch so häufig das Wort wieder: zurück zum Kloster. ,,,Das Kloster' ist ein wesentliches dialektisches Moment im Christentum, darum müssen wir es auch draußen haben als ein Seezeichen, wo wir sind — P r i y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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— 50 — selbst wenn auch ich selbst nicht in eines gehen wollte. Aber wenn da wirklich in jeder Generation wahres Christentum ist, so müssen auch Individuen da sein, die diesen Drang haben. Was würde Luther denken, wenn er jetzt sich umsehen würde. Daß also in unserer Zeit gar keine Menschen mehr sind, die das Religiöse überwältigt hat — daß wir alle so stark geworden sind — oder so schwach in Religiosität! Daß die wenigen Analogien zu solchen Menschen heutzutage auf das Irrenhaus deuten" (TG I, 352). So sehr das mittelalterliche Kloster „eine argwöhnische Innerlichkeit (war) und . . . diese daher im Äußern sehen" wollte, so war „in der Klosterbewegung . . . doch Leidenschaft und Respekt vor dem absoluten rikog" (VII, 106). In diesem Sinn besteht ein praktisches Entweder-Oder zwischen dem Kloster als „point de vue" der „Vollkommenheit" und dem „rein in Weltlichkeit versunken" (TG II, 178), dem „Profanen", das „ein so brillantes Geschäft gemacht hat", weil die Innerlichkeit des reinen Glaubens (des protestantischen Fiduzialglaubens) so sehr „verborgene Innerlichkeit" geworden ist, daß der glaubende Mensch „selbst. . . einen außerordentlichen Glauben (braucht), um zu glauben, daß er den Glauben hat" (ebd. 179). In diesem Sinn also einer radikalen Überwindung des „in der Welt" in die Unbedingtheit des Religiösen klingt Kierkegaards „Zurück zu dem Kloster, aus dem Luther ausbrach, ist die Sache des Christentums zunächst zu führen" (TG II, 353). E s ist sein „Zurück zum Kloster" nicht ein scharfes Zeichen des Inversionscharakters seiner ganzen Lehre. Im Gegenteil: die Sachlage, die er schildert (der dänische Protestantismus seiner Zeit: T G II, 353 f.) und gegen die er sein „Zurück zum Kloster" richtet, zeigt in dem Raffinement ihrer geistlich autorisierten bürgerlichen Weltlichkeit (TG II, 287) den Charakter einer Erkrankung: die Brechung ursprünglich religiöser Unbedingtheit in das bürgerlich behagliche Dasein und das Verstecken dieser Brechimg vor sich selbst unter religiöser Verkleidung. Mit andern Worten: Kierkegaard ist hier nicht Patient, sondern Arzt. E r sieht im verweltlichten Protestantismus, ja in Luther selbst die Krankheit des abgeschüttelten Joches: „ein Reformator, der das Joch abschütteln will, — ist eine
— 51 — bedenkliche Sache" (TG II, 153). Gegen diese Krankheit geht sein unerbitterhcher Ruf: Entsagung, Opfer, Unbedingtheit1). Von diesem Ganzen aus ist also nun Kierkegaards scheinbare Zynik gegen die F r a u zu sichten. Man wird, im Geiste der Dialektik von „Entweder-Oder" das Wort von der Frau als „Mystifikation der Unendlichkeit" als irgendwie zu „ A " (dem „Verführer") gehörig anzusehen haben, dem solche Worte hegen. Dann ist aber das notwendige Gegenwort aus den „Papieren B's" zu entnehmen, das ganz anders lautet: „,Das Weib ist schwach'. Nein, sie ist demütig, sie steht Gott näher als der Mann. Und die Liebe ist alles für sie, und so wird sie den Segen Gottes nicht verschmähen. . . . Das Ärgernis geht immer vom Mann aus; denn der Mann ist stolz, er will alles sein, er will nichts über sich haben" (GW II, 45/6). „Das Weib ist zugleich vollkommener und unvollkommener als der Mann. Der Name Weib bezeichnet das Reinste und Vollkommenste, wie das Schwächste und Elendeste; der Name Weib bezeichnet das Sinnliche, wie das über alles Sinnliche hinausgehobene Geistige; der Name Weib bezeichnet die Unschuld in ihrer erhabenen Größe, wie das tiefe erdrückende Schuldgefühl. Das Weib ist in gewissem Sinne vollkommener als der Mann, und das drückt die Heilige Schrift dadurch aus, daß sie dem Weib die größere Schuld zuweist. . . Es heißt auch: ,Der Mann soll Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen'; man sollte erwarten: Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und ihrem Mann anhangen, da sie doch die schwächere ist. Aber in diesem Wort liegt eben die Bedeutung des Weibes" (ebd. 78). Wenn wir uns nun erinnern, wie sehr Kierkegaard betont, daß er selbst in seinem Letzten „weit weg" liege vom „Entweder" (der Papiere A's) und über das „Oder" hinaus (TG II, 304/5), so müssen wir Auf einen Abbruch religiöser Unbedingtheit führt Kierkegaard auch die Abschaffung der Beicht zurück. „Die Abschaffung der Beichte ein Zusammenwirken von Gemeinde und Pfarrer. Der Gemeinde wurde bange, zur Beichte zu gehen; der Beichtstuhl brachte einem die Sache zu nahe. Den Pfarrern wurde bange, die Beichte zu hören; die Sache wird allzu ernst" (TG II, 214). 4*
— 52 — folgerichtig die Äußerung aus den „Papieren B's" als die ihm innerst eigenere betrachten und dementsprechend die zynische Tagebuchstelle von der Mystifikation als ein vordergründliches Gefecht, das von dieser Tiefe her und von seinem besonderen Anlaß her zu deuten ist. Erwägen wir die ungeheure Spannimgsweite der Dialektik Kierkegaards, die dem abschwächend Vermittelnden als dem Feind widerstrebt, so gibt sich die fragliche Stelle als leidenschaftlicher Ausbruch gegen jene Verbürgerlichung der Tiefe des Weiblichen, die im Typus der satten kleinlichkeitskrämerischen Hausfrau vorliegt, wie ihn Kierkegaard in der Umgebimg dieser Stelle unbarmherzig zeichnet (BR 155 ff.). Nimmt man die Stelle auch noch im Zusammenhang der gesamten Polemik Kierkegaards gegen die protestantische Bürgerlichkeits-Frömmigkeit, so ist ihre Meinung wohl deutlich: Kampf für das Metaphysische der Frau, ob es nun sich im „Chthonischen" der Konzeption Bachofens gibt als das Unterirdisch-Dämonische (was durch die „Papiere A's" hindurchfunkelt) oder im Göttlich-Überirdischen der Konzeption Novalis' (die Kierkegaard vom RegineOlsen-Erlebnis her nicht fremd ist: TG I, 124/5), — Kampf für dieses Metaphysische gegen das „gezähmte Haustier" (dieser Nietzsche-Ausdruck dürfte hier nicht unpassend sein). Das Wort von B. im Entweder-Oder", daß die Frau unter und über dem Mann sei, wird so zur tieferen Beleuchtung der in Frage stehenden Tagebuchstelle. Die „Mystifikation" wird damit begründet: „es gibt in ihrem Leben einen Augenblick, wo sie täuschend so aussieht, als wäre gerade sie die Unendlichkeit" (BR 157). Denken wir nun an die Unterscheidung des hl. Thomas (S. Th. 1 q. 86 a. 2 corp., Quodl.3 a. 3) zwischen einer doppelten Unendlichkeit, der Unendlichkeit der „materia" und der Unendlichkeit der „forma", d. h. der Unendlichkeit des brütenden Chaos und der Unendlichkeit der reinen Klarheit, so ist der zynische Zorn Kierkegaards in seiner versteckten Meinung wohl enthüllt. Es ist der Zorn gegen die Frau des „weltlich Ding" der lutherischen Eheauffassung. Indem diese Ehe eine bürgerliche Angelegenheit ist, ist der „Abgrund nach unten" des Weiblichen sorgsam zugedeckt. Aber indem sie
— 53 — eine nur-bürgerliche Angelegenheit ist, ist die Urkraft und die Urfülle dieses „Abgrunds nach unten" nicht positiv überwunden in eine höhere Unendlichkeit: in die Unendlichkeit des Mysteriums Christi im Mysterium der Ehe. Der Abgrund ist nur zugedeckt, nicht überwunden, und eine solche Art endet immer in eine unerträgliche Flachheit. Wenn also unsere Tagebuchstelle sich fortsetzt in die Rede davon, daß mit Recht „die Kirche beim Weibe mehr Gewicht auf die Bewahrung der Virginität gelegt hat als beim Manne, die Nonne mehr geehrt hat als den Mönch" (ebd.), so bleibt es für ihre Deutung folgerichtig nicht bei dem Vordergrund einer Entwertung der Frau (sie soll nicht heiraten, damit sie nicht den Mann in die Endlichkeit hineinlockt), sondern eine letzte, wir müssen schon sagen, heilige Tiefe dämmert auf. „Mystifikation der Unendlichkeit"1) heißt nun, im Sinne Kierkegaards, der das strengste „Oder" (den strengsten religiösen Standpunkt) will: die Frau ist der Schimmer der göttlichen Unendlichkeit, und darum ist die „Jungfrau" so sehr das Entscheidende (die Jungfrau im eigentlichen Sinn wie der innere Jungfräulichkeitsatem der Ehe als des sakramentalen „Mysterium in Christo"), d. h. also die Frau, wie sie gemäß den „Papieren B.s" „vollkommener als der Mann" ist. Die vordergründliche Zynik Kierkegaards gegen die Frau ist Zynik gegen die Frau des nur-bürgerlichen „weltlich Ding" der lutherischen Eheauffassung, aus dem Ideal heraus, das bei Kierkegaard nicht ausgesprochen ist, bei Novalis aber und bei Reinh. Joh. Sorge, die an dieselbe Tiefe des Weiblichen rühren, sich in letzter Zartheit offenbart: das „das Weibliche zieht uns hinan" des Faustschlusses: Maria, die Jungfrau als „rein Anrühren der letzten heiligen Klare" (Reinh. Joh. Sorge) und die christliche Frau in ihr und durch sie. Der Ursprung der Kierkegaardschen Beurteilung der Frau ist wieder das gleiche wie im ganzen vorhergehenden: die Unbedingtheit des Religiösen (vgl. TG II, 281). *) Vgl. hierzu im „Entweder-Oder" (die Papiere B.s) die „innere Unendlichkeit" der Ehe (GW II, 52) mit dem religiösen „Pilger zur Unendlichkeit" (ebd. 71).
— 54 — Von eben dieser Tiefe her klärt sich dann auch das Letzte, das vom psychoanalytischen Kierkegaard noch übrig bleibt: das scheinbar Negativ-Sexuale der Liebe zu Leiden und Untergang. Dieses Leiden und dieser Untergang sind die „Schule der Anfechtung", darin der Mensch das „zwischen Himmel und Erde" des „entscheidend mit Gott sich einlassen" (TG II, i n ) durchlebt: „christliche Liebe menschlich gesprochen wie Grausamkeit. . . und so doch wieder Liebe, Mitleid eine höhere Strenge und so doch wieder Mitleid"; „daß, indem der Mensch sich schwach fühlt, er selber umgekehrt zu dem bloß Menschlichen zurückkommt und es beinahe so wird, daß es ihm ist, als müßte er just das in entscheidendem Sinn Christliche bereuen, als wäre es schlecht und recht Grausamkeit, schlecht und recht Strenge, schlecht und recht Stolz"; „daß es ist, als müßte man es wie eine Sünde bereuen, daß man überhaupt so weit sich hinausgewagt hat, daß man überhaupt in Berührung kam mit Anfechtung"; aber „daß da doch beständig in ihr eine Ahnung glimmt von einem höheren und seligeren Verstehen"; „man ahnt die Seügkeit — aber bis auf weiteres drückt sie sich in der entsetzlichsten Qual aus" (ebd. 111/2). „Das Anstrengende an der Gottesvorstellung ist, verstehen zu sollen, daß das Leiden nicht bloß auszuhalten ist, sondern ein Gutes ist, eine Gabe von einem Gott der Liebe" (TG II, 66). Es ist also wahrlich „nicht Leiden Genuß" (wie die psychoanalytische Deutung lautet), sondern „Leiden, die mit dazugehören, damit ein Mensch ein Werkzeug Gottes sein könne. Dies ist das Selige" (TG II, 273). So sind „Vorsehung und Erlösung . . . Kategorien der Verzweiflung" nicht so, daß sie das sind, „worüber verzweifelt wird, sondern das, was die Verzweiflung fernhält": „ich müßte verzweifeln, wenn ich es nicht glauben dürfte, ja sollte" (TG I, 281). Es ist ein Aufgewühlt- und Durchwühltsein, das nur darum ertragbar ist, weil es zugleich in der Tiefe völlig übergeben in Gott ruht: ein Negatives nur insofern, als der in Gott zu einer „Existenz in Gott" hineingezogene Mensch (unrichtigerweise) auf sich selbst reflektiert und hierin noch einmal versucht, in sich selbst zu stehen. Es ist das „Nichts", das dem „Es werde" entspricht: „Gott schafft alles aus
— 55 — Nichts — und alles, das Gott gebrauchen will, macht Er zuerst zu nichts" (TG II, 366). Da es also das Nichts ist, hat der Blick nicht auf ihm zu ruhen (also nicht auf Leiden, Opfer, Absterben usw.), sondern zu dem „Es werde" hin. Es ist ein Zerspaltenwerden im Ich nicht zum Sinn eines selbstgenießerischen Mit-sich-allein. Das „ist eine Unmöglichkeit und macht jedes solche Existieren zu einer Illusion oder zu einem Experimentieren" (TG II, 133). Sondern-es geschieht durch „ein Drittes, das außerhalb steht und zwingt" (ebd.). Es ist Einsamkeit zum Sinn der Unbedingtheit, solus cum Solo, zum absoluten Gott: „in der Einsamkeit ist das Absolute, aber auch die absolute Gefahr; in der Gesellschaft ist die Relativität und die relative Gefahr, doch wohl zu merken zugleich die Gefahr, die mehr als relativ ist: des Absoluten verlustig zu gehen, nie zu entdecken, daß es da ist, nie sein Leben danach zu bestimmen, wie weit man auch davon entfernt ist, es zu sein" (BR 107). 4So bekommt unser anfängliches scheinbar neutralphilosophisches „in der Existenz stehen" und „sich in Existenz verstehen" der Existenz-Philosophie ein ganz anderes inneres Gesicht, schroff entgegengesetzt zum eben erledigten psychoanalytischen. „Der Begriff der Angst" sagt: „Der Mensch war also eine Synthese von Seele und Leib, er ist aber zugleich eine Synthese des Zeitlichen und des Ewigen" (GW V, 80). Als Synthese von Seele und Leib könnte er noch versucht sein, seinen Ursprung im Leib zu suchen: so kommt die Psychoanalyse als Deutung der Existenzphilosophie zustande: das „sich in Existenz verstehen" als Einkehr in den leiblichen Ursprung. Für eine Synthese von Zeit und Ewigkeit aber rückt der Ursprung unweigerlich in die höchste Höhe: in Gott (GW V, 85). „Sich in Existenz verstehen" heißt nun: sich im völligen, ausnahmslosen, bedingungslosen aus-in-zu-Gott verstehen. War die Hegel-Feindschaft der psychoanalytisch begründeten Existenzphilosophie gegen den Hegel des „reinen Geistes" gerichtet, so ist die Hegel-Feindschaft dieser entgegengesetzten
— 56 — Begründung, der Begründung durch eine radikale Transzendenz, gegen den Hegel der Immanenz des Göttlichen in der Weltentwicklung vermeint (TG I, 63). Kierkegaardsche Existenzphilospphie ist in ihrer Tiefe „existentielles Christentum". Das heißt ein Doppeltes. Einmal: der Christ bricht kraft seines Christentums die glatte Oberfläche der gewöhnlichen Existenz durch in den Abgrund ihrer Tiefe, so daß alle bürgerliche Beruhigtheit aufhört und die Welt in ihrer Nacktheit dasteht: als Kampf zwischen Gott und Teufel. „Es gibt nichts, wovor der natürliche Mensch sich so krümmt, als gerade das, was das Neue Testament Christentum nennt" (BR 161). „Sobald ich das, was ich sage, existentiell ausdrücken will, also das Christliche in die Wirklichkeit setze: dann sprenge ich gleichsam das Dasein, das Ärgernis ist sogleich da" (ebd. 143/4). »»Die Existenz eines Christen berührt das Dasein", indem auf seine christliche Entschiedenheit hin „sich das seit hundert Jahren verzauberte Schloß öffnet, und alles Leben wird. . . . Die Engel bekommen zu tun . . . Auf der andern Seite: finstere, unheimliche Dämonen, die lange untätig dagesessen, . . . springen auf und recken ihre Glieder" (ebd. 160). Der zweite Sinn aber, das Positive dieses Negativen, ist: der christliche Glauben, im Hebräerbrief-Verstand der sperandarum substantia rerum, als das Stehen des Menschen in der wahren Existenz, nämlich in Gott, Ihm hingegeben um Seiner selbst willen in Ihn hinein (das alte credere Deum Deo in Deum). Er ist die Bindimg des existierenden Menschen zum existierenden Gott: „der Glaube ist darum die Antizipation des Ewigen, die die Momente zusammenhält, die Trennungen der Existenz" (TG I, 284). Es ist in ihm darum das Doppelgesicht, das in „Furcht und Zittern" unbarmherzig sich zeigt: das „Paradoxe" eines solchen blinden „in Gott hinein" und seine unsagbare Sicherheit. Kierkegaards Wort „Das einzig Gewisse ist das EthischReligiöse" (TG I, 299) ist darum echt dialektisch, d. h. doppeldeutig. Es gemahnt in die Abraham-Situation von „Furcht und Zittern" zurück: das Sich-aufgeben des Glaubenden in den Gott hinein, der selber in Sich, in Seiner Geschiedenheit
— 57 — und Unterschiedenheit zu jeglichem Geschöpilichen und darum in Seiner Unbegreiflichkeit, in „Seiner Nacht", ja in Seinem „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und Meine Wege sind nicht eure Wege" der Glaubensgrund ist: das motivum fidei formale als motivum inqreatum. Es ist menschlich gesehen wie Paradox, Verzweiflung, (blinder) Sprung. Es ist erst von Gott her gesehen unendliche Sicherheit, Teilnahme an dem unveränderlichen, unbeirrbaren „Ist" der Veritas Prima1). So ist für diese Existenz des existentiellen Christentums das unerbittliche Schlußwort von „Furcht und Zittern" das Motto: „Entweder gibt es ein solches Paradox, daß der einzelne in einem absoluten Verhältnis zu dem Absoluten steht, oder Abraham ist verloren" (GW III, 112). Die zugespitzten Grundausdrücke Kierkegaards weisen mithin durch einen scheinbar äußersten Individualismus in dieses äußerste Aug in Aug mit dem unbegreiflichen Gott der Majestät. Der „ A u g e n b l i c k " , der individualistisch alle Verbindung der Zeiten abreißt und alles auf das präsente Jetzt konzentriert, ist vielmehr „der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit" (GW V, 85) und insofern das unfaßliche Eins eines Eintritts höchster Fülle (nämlich der Ewigkeit) mit stärkster Nichtigkeit (nämlich des Zeit-Angesichtes des Augenblicks als eines Nichts). „Das Ewige ist der unendliche Gehalt, und doch soll dieser kommensurabel gemacht werden für die Zeitlichkeit, und die Berührung ist im — Augenblick. Und doch ist der Augenblick ein Nichts" (Buch über Adler 194). Folgerichtig ist der „ E i n z e l n e " , der in diesem Augenblick in absoluter Einsamkeit zum absoluten Gott steht, als solcher nicht durch ein Prius des Einzelnen gegenüber der Menge bestimmt (was eine Erkrankung einschlösse), sondern durch die „Priorität Gottes auf einen Menschen" (TG II, 207), d. h. in dem Sinn, daß „sein Verhältnis zum Allgemeinen durch sein Verhältnis zum Absoluten, nicht sein Verhältnis zum Absoluten durch sein Verhältnis zum Allgemeinen bestimmt ist" (GW III, 63). „Im tiefsten Sinn, ') Zur kath. Auffassung hierin vgl. unten Geheimnis der Seele i.
— 58 — eigentlich, gibt es nur zwei Parteien, zwischen ihnen zu wählen, und hier liegt die Kategorie ,der Einzelne': entweder Gott gehorsam, Ihn fürchtend und liebend, mit Gott gegen die Menschen zu halten, so daß man die Menschen in Gott liebt; oder mit den Menschen gegen Gott zu halten, so daß man pfuschend Gott vermenschlicht, ,und meinet nicht, was Gottes ist, sondern was des Menschen ist'" (TG II, 217). Es gibt von dieser Absolutheit zu Gott hin kein positives oder negatives Vergleichen mit andern mehr. „Wenn ein Mensch (der einzelne) zu Gott sich verhält, so muß er leicht fassen, daß Gott absolut, ja grenzenlos absolut das Recht hat, alles von ihm zu fordern, aber anderseits, daß auch das Gottesverhältnis selbst absolut, ja grenzenlos absolut ein Abgrund der Seligkeit ist. Aber ist dieses so, so ist ja eo ipso die Rücksicht auf und der Vergleich mit jedem andern Menschen vergessen" (TG I, 317). So ist der Einzelne insofern „die christlich entscheidende Kategorie", als „in gehorsamer Unterwerfung unter Gottes Majestät geglaubt werden soll" nicht „mit Hilfe von .Gründen', ,die Zeit', ,das Publikum', .diese geehrte Versammlung' usf." (GW X, 95). Es ist mithin weiter die „verborgene I n n e r l i c h k e i t " nur insofern keine Kategorie der Verkleidung für eine Flucht vor religiöser Entschiedenheit (nicht die komische „verborgene Innerlichkeit" von GW IX, 93 und VII, 192 usw.), als sie sowohl das Wissen darum ist, „daß die Grenze des gegenseitigen Verstehens die absolute Leidenschaft ist" (GW VII, 194), die Leidenschaft zu Gott hin, wie das Wissen um die beständige eigene Inkonsequenz in diesem Punkt, und insofern ein Humor über sich selbst. „In seinem Innern ist der Religiöse nichts weniger als Humorist, er ist im Gegenteil absolut mit seinem Gottesverhältnis beschäftigt.... Da er aber, weil die wahre Religiosität in der verborgenen Innerlichkeit besteht, sie nicht im Äußern ausdrücken darf, wodurch sie ja verweltlicht wird, so muß er beständig den Widerspruch entdecken, und eben weil es ihm noch nicht ganz gelang, die Innerlichkeit (im Sinne der verkleideten) zu widerrufen, wird Humor sein Inkognito und ein Indizium" (GW VII, 193/4).
— 59 — So ist der „Einzelne" allein von Gott aus das wahrhaft „ k o n k r e t e S u b j e k t " : „In absoluter Leidenschaft befindet sich der Leidenschaftliche auf der höchsten Spitze seiner konkreten Subjektivität" (GW VII, 194). Er nimmt teil an der „unendlichen Verdoppelung Gottes, darin Er Sich selbst vollkommen Objekt ist (erkenntnismäßig) und doch vollkommen (willensmäßig) subjektiviertes Objekt" (TG II, 383 ff.). Er nimmt teil an derselben Eigenschaft Gottes, darin Er „nicht Objekt sein kann für den Menschen" (TG I, 304), d. h. im Sinn eines Objektes, das der Mensch behandelt und sich dadurch über es stellt. Gott ist „das Subjekt" und darum: „wenn einer Gott leugnet, so tut er Gott keinen Schaden, sondern vernichtet sich selbst; wenn einer Gott spottet — so spottet er seiner selbst." So ähnlich wird es, bei allem „unendlichen qualitativen Unterschied", mit dem von Gott her bestimmten „Einzelnen": „je reiner ein Mensch ist, desto mehr nähert er sich auch im Verhältnis zu andern Menschen dem, für sie nicht Objekt sein zu können" (ebd.). Damit aber sind der „Einzelne" und „ G e i s t " im selben Sinn gleichbedeutend: „,der Einzelne' ist die Kategorie des Geistes" im Sinne der „gehorsamen Unterwerfung unter Gottes Majestät" (GW X, 95). „Geist" ist darum „zu leben wie gestorben" (TG II, 405), weil „wirklich qua Geist zu leben" „nahezu eine übermenschliche Aufgabe" ist. „Dazu wird ein Gottesbewußtsein erfordert, wie es in dem Gottmenschen war" (TG II, 83). Mit andern Worten: Geist ist Sterben vom „natürlichen Menschen" aus, weil er positiv ist Leben in und aus Gott. Als „Person" ist er „eine individuelle Bestimmtheit, festgestellt dadurch, daß sie von Gott weiß in der Möglichkeit des Gewissens." „Nicht das Bewußtsein von der Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist das Konstituierende, insoweit dieses nur das Verhältnis ist, worin die Bestimmtheit zu sich selber sich verhält, wogegen Gottes Mitwissen die Fixierung ist, die Befestigung" (TG I, 238/9). Und sein Vollbegriff ist allein noch als „Christentum des Neuen Testamentes" faßbar und verwirklichbar, d. h. im Sinne des äußersten Gottes-Radikalismus der Blätter des „Augenblick" (GW XII, 5 8 ! ) : Geist allein von Gott her.
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„Geist" und „Augenblick" gehören zusammen: „sobald der Geist gesetzt wird, ist der Augenblick da" (GW V, 85). Der Augenblick aber ist zwar „jenes Doppeldeutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren" (ebd. 86), aber so, daß er „nicht eigentlich ein Atom der Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit ist" (ebd. 85) und darum teilhabend an der Gegenwärtigkeit des Ewigen (ebd.). Indem aber „Augenblick" gleichzeitig eigentümliche Bestimmung des sinnlichen Lebens ist, im Sinne seiner „Unvollkommenheit" als des negativ Momentanen, so gibt sich von hier aus die ganze gefährliche Doppeldeutigkeit des Geisteslebens im Menschen: die Verwechselbarkeit von „Augenblick" und „Augenblick", das unvermittelte Entweder-Oder zwischen reiner Sinnlichkeit und Teilnahme an der Geistigkeit Gottes. Und mithin: das Leben nur zu leben „von oben nach unten", von Gott her. „Partizipiert nicht jeder Mensch wesentlich am Absoluten, so ist alles vorbei" (ebd. 113). 5Wir haben damit den Blick frei für die Auferstehung Kierkegaards in der „reinen Transzendenz" der Richtungen, die auf Karl Barth zurückgehen, d. h. auf den Kierkegaard der Zuspitzung und P e r i p e t i e des L u t h e r t u m s . Kierkegaards „Existenz in Gott und von Gott her" ist hier in einem mehrfachen Sinn zur Neugeburt des Luthertums geworden: zu einer Neugeburt ursprünglicher lutherischer Intention gegenüber ihrer Verweltlichung (Kierkegaard contra Schleiermacher und Hegel; vgl. TG II, 53: „es könnte vielleicht recht zweckmäßig sein, einmal eine Predigt von Luther wörtlich auswendig zu lernen — und sie zu halten, ohne sich etwas merken zu lassen — und dann sehen, wie rasend die Geistlichen würden — und dann sagen: das ist wörtlich eine Predigt von Luther"), aber auch zu einer Neugeburt der innersten verhängnisvollen Problematik eben dieses ursprünglichen Luthertums, jener Problematik, von der aus auch der verweltlichte Protestantismus als rechtmäßige Folge Luthers erscheinen muß, so daß Neugeburt Umgeburt zu werden beginnt oder wenigstens zu beginnen scheint, d. h. so etwas wie Rückkehr zum „alten
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Mutterschoß", im vollen Sinn des Wortes Kierkegaards „Zurück zu dem Kloster, aus dem Luther ausbrach, ist die Sache des Christentums zunächst zu führen" (TG II, 353). Wir umzeichnen zunächst den ersten Sinn, um dann den zweiten herauswachsen zu lassen. U r s p r ü n g l i c h e s L u t h e r t u m ist Steigerung der Allwirksamkeit Gottes zur Alleinwirksamkeit. Darin liegt ein Objektives (des Bildes Gottes) und ein Subjektives (der religiösen Haltung). Das Objektive ist das Bild Gottes als der unbedingten, streng transzendenten Majestät, der gegenüber jegliches Recht des Menschen aufgehoben ist, von der aus alles Positive des Menschen nur sein kann Eintritt Gottes in die Zeit, aber damit im Widerspruch zu ihr und sie brechend, insofern sie geschöpfliche Zeit ist. Das entsprechend Subjektive ist das Aufgebrochenwerden des Menschen in Furcht und Schrecken (die terrores Luthers), der blinde wagende Sprung in das, was dem natürlichen Menschen nur Paradox ist, und die Unterwerfung auf Gnade und Ungnade: mithin der Glauben als gegen den Verstand, die Gnade als gegen die Natur und ihr Wirken, Gott als gegen das Geschöpf. Wie sehr dieses Objektive das Gottes-Bild ist, das von Karl Barths „Römerbrief" her die ganze Bewegung formte, ist offenbar. Es hat seine Spannweite zwischen der mehr negativen Transzendenz des anfänglichen K a r l B a r t h und der die Zeit erfüllenden Transzendenz, des „Kairos", Paul Tillichs. Es liegt weiter zwischen der mehr dogmatischsystematischen Fassung Karl Barths, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch mehr nach seiner überzeitlichen metaphysischen Grundlage sieht, und der mehr geschichtsphilosophischen Färbung Friedr. Gogartens, die das Problem einer Offenbarung als Geschichte sichtet. Es hat zu einem Pol die überwiegend theologische Sicht Karl Barths, für den das Negatiwerhältnis zwischen Gott und Geschöpf sich unter dem Gedanken des Gerichtes mit Vorliebe gibt, und zum andern Pol die mehr religionsphilosophische Orientierung E m i l B r u n n e r s E b e r h a r d Grisebachs und Heinr. K n i t t e r m e y e r s , die das Bild von Gott als Grenze bevorzugen Es scheidet sich zwischen Barth und B u l t mann nach der Richtung von: Offenbarung als theologischer Vor-
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gang gegen Offenbarung als formales Prinzip. Entsprechend liegen dann auch die Spannweiten innerhalb des Subjektiven. Zwischen Karl Barth und Tillich: Glauben vom radikalen Nichtigsein her und Glauben als Ergriffensein. Zwischen Karl Barth und Gogarten: Glauben als radikale Geschöpfhaltung und Glauben als Haltung des geschichtlichen „Augenblicks" oder der „Wirklichkeit". Zwischen Karl Barth und Brunner-Grisebach-Knittermeyer: Glauben als geschlossene Haltung der „andern Welt" (theologisch - eschatologisch) und Glauben in actu des Begrenztwerdens durch Gott (philosophisch-eschatologisch). Zwischen Barth und Bultmann: Glauben als Haltung vom lebendigen Gott her, und Glauben als Aufgebrochensein des (Heideggerisch) „endlichen" Menschen. Das aber ist in Wahrheit Auferstehimg des „Kierkegaard contra zeitgenössischen Protestantismus", und darum erneuert sich auch in dieser gesamten Richtimg sein Protest gegen das Christentum Hegels und Schleiermachers. Es ist im o b j e k t i v e n G o t t e s - B i l d einmal die scharfe Unterstreichung des „unendlichen qualitativen Unterschieds" (TG I, 304) zwischen Gott und Mensch. „Darin liegt eigentlich die ganze Grundverwirrung der modernen Zeit. . .: daß man den klaffenden Abgrund der Qualität im Unterschied zwischen Gott und Mensch weggenommen hat" (ebd. 353), und darum „liegt" „eine christlich-religiöse Erweckung. . . in der Sphäre der Transzendenz" (Buch über Adler 238). Das hat zur Folge, daß es sich in Christentum um „Christentum in Gottes Interesse" (TG II, 233, 237) handelt, um das unerbittliche Entweder-Oder (XII, 11) zwischen „mit Gott gegen die Menschen" und „mit den Menschen gegen Gott" (TG II, 217), um die „Abrechnung zwischen Gott und der Welt" (ebd. 233), um die Betonung Gottes auch und gerade in der Betonung eines Mittlers zwischen Gott und Mensch („einen Mittler brauche ich auch, gerade um darauf aufmerksam zu machen, daß es Gott ist, mit dem ich sozusagen die Ehre habe, zu reden", TG II, 244). Gott ist, gegen alle distanzlose Art, sich „des Christentums zu bemächtigen", die „unendliche Egoität", die allein zu Sich hin ist und alles übrige zu Ihr (TG II, 237). „Er ist das
— 63 — unendliche Ego, das unmöglich umgebildet werden kann, um dir zu gefallen, sondern du mußt absolut umgebildet werden, um Ihm zu gefallen" (SR 104)- Er ist darum das „Majestätische", „die göttliche Majestät" (TG II, 388/9; GW X, 95), die „unbedingte Majestät" (BR 109). Er ist „das Unbekannte, gegen das der Mensch in seiner paradoxen Leidenschaft anstößt und das den Menschen auch an seiner Selbsterkenntnis irre macht" (GW VI, 36), das Unbekannte, „das wohl da ist, aber eben unbekannt ist, und insofern nicht da ist" (ebd. 40), das Unbekannte als „Grenze, zu der man beständig kommt, und als solche ist es. . . das Heterogene, das absolut Verschiedene" (ebd. 41), in dem Sinn, daß ein Erreichen Gottes mit dem Verstand unmöglich wird, weil Gott in allem Beweis Seiner schon vorausgesetzt ist als der alles unbedingt Begründende und Bestimmende: „ich schließe... beständig nicht auf das Dasein, sondern ich schließe von dem Dasein aus" (ebd. 36/7); „bloß um zu wissen, daß Gott das Verschiedene ist, bedarf der Mensch Gottes, und nun bekommt er zu wissen, daß Gott absolut von ihm verschieden ist" (43). Und in demselben Sinn ist Gott das absolute itloq, d. h. alle in sich gründende Ethik sprengend in einer „teleologischen Suspension der Ethik" (GW III, 48, 52 ff.). Gott ist das Nein der absoluten Verschiedenheit, die „maior dissimilitudo" der katholischen analogia entis als „solum dissimilitudo", erkenntnismäßig der Gott der negativen Theologie als einziger, willensmäßig der Gott der reinen (formalistischen) Freiheit des Spätskotismus („nicht will Gott, was wahr und gut und schön ist, sondern wahr und gut und schön sind nachträgliche Benennung des rein formalen absoluten Gottes-Willens"). Tritt dieser Gott in die Geschichte ein, so kann das nur als absoluter Bruch der Geschichte geschehen, nicht als ein „ewig Geschichtliches" im Sinne Hegels (GW VII, 258), sondern als „Bruch mit allem (auch geschichtlichen) Denken" (ebd.), nicht als „Übergang", sondern als „Augenblick" (GW V, 78), und zwar von der Geschöpfgeschichte aus gesehen als Untergangsaugenblick (ebd. 85), d. h. im Augenblick als „Nichts" und hierin die „Berührung" des „unendlichen Gehalts" des „Ewigen" in die Zeit (Buch über Adler
— 64 — 194). als „Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, gleichsam die Zeit zum Stehen zu bringen" (GW V, 85), „ n i c h t . . . ein Atom der Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit" (ebd.). Diesem objektiven Gottesbild entspricht dann die subj e k t i v e H a l t u n g Strich für Strich. Der „unendliche qualitative Unterschied" fordert den Glauben nicht als „unmittelbaren Trieb des Herzens", wie zwischen seinesgleichen, sondern als „Paradox des Daseins" (GW III, 41), darum den Glauben nicht als „Schluß von der Wirkimg auf die Ursache", sondern als „Beschluß" (GW VI, 76), d. h. als Beschluß des „Sprunges" in die unverbundene Nacht des „unendlichen qualitativen Unterschieds", als Glauben „gegen den Verstand" (GW VII, 264), „kraft des Absurden" (GW III, 29). Das „Christentum in Gottes Interesse" fordert ein „in das offene Meer mich stürzen. . . , auf Gnade und Ungnade leben in Gottes Gewalt" (TG I, 311). Das Christentum der „unbedingten Majestät" verlangt die Unbedingtheit der Anbetung, „da die Qualitäten absolut verschieden sind" (GW VII, 105). Es verlangt den Glauben als „gehorsame Unterwerfung unter Gottes Majestät" (GW X, 95), „selig anbetend das Majestätische ausweisen, die göttliche Majestät" (TG II, 389). „Ehre sei Gott, mehr sage ich nicht, der Rest ist doch Gewäsch, was ein Mensch weiter hinzufügt" (TG I, 367), und darum Gott als „terminus medius in allem, was ein Mensch sich vornimmt" (TG I, 214). „Der Christ ist ein Page der unbedingten Majestät. Seine einzige Kunst, die er übt, ist auch unbedingt die einzige Kunst: unbedingt anzubeten . . . in der Handlung unbedingten Gehorsams. Wie das Kind eines Seiltänzers von frühester Zeit an im Rücken und in jeder Muskel geschmeidig gemacht wird, so daß es, täglich darin geübt, zuletzt lauter Geschmeidigkeit ist und jede, unbedingt jede Bewegung in den für den Menschen halsbrecherischsten Stellungen immer leicht und lächelnd machen kann: so ist es mit dem Anbeten der imbedingten Majestät, sie unbedingt anzubeten, so daß da kein Gedanke an einen Grund oder ein Weshalb ist, sie unbedingt in allem
— 65 — anzubeten, allzeit fröhlich, dankbar, lächelnd. So versteht man das, wovon die alte Kirche redete, daß der Christ nach dem Tode unter die Engel aufgenommen werde — dies ist ja wie eine Schulübung dazu" (BR 110). So wird die religiöse Haltung folgerichtig zu einem Aufgebrochenwerden, das unter allen „Schrecken der Ewigkeit... (entweder ewige Wahrheit oder ewige Verlorenheit)" (TG II, 60) sich vollzieht, als „entsetzlicher Widerstand gegen den Anfang des Glaubens" (GW VII, 264), als „Ärgernis im Anfang" (ebd.), der „erste nahezu feindliche Schritt der Gottesfurcht" (TG I, 136), die „absolute Furcht" (BR 145), „die intensivststärkste, die größtmögliche Unruhe" (TG II, 379), ein „das Menschendasein beunruhigen vom tiefsten Grund aus, alles sprengen, alles brechen" (ebd.), „das fortwährende Furcht und Zittern" im „existieren" des Glaubenden (GW VII, 265). Dieses (objektiv und subjektiv) Grundlegende erfährt aber seine eigentliche Verschärfung dadurch, daß die Alleinwirksamkeit die richtend-erlösende Alleinwirksamkeit des allein-heiligen Gottes gegenüber der unaustilgbaren Erbsünde-Nichtigkeit des Menschen ist. Die Alleinwirksamkeit und der zugehörige „reine Glauben" erhalten von hier aus erst ihr eigentlich Ungeheures: das doppelte Ungeheure der Dämonie des Erbsünde-Menschen und der Leidenschaft des richtend-zerstörenden Gottes. Indem aber dieses Ungeheure das Ungeheure der Alleinwirksamkeitslehre ist, wird noch ein drittes Ungeheuereres spürbar: wie auch die Erbsünde-Dämonie des Menschen im Letzten auf Gott zurückgehen müsse (im Sinne eines opus alienum Gottes) und so den Blick öffnet für einen „Abgrund" in Gott (in dem Sinn, der zu Jakob Böhme führt). Dieses dreifache Dämonische (der Erbsünde, der göttlichen richtenden Leidenschaft, des Abgrundes in Gott) ist in der Tat auch die Tiefe der heutigen Luther-Erneuerung: in der ursprünglichen Barth-Richtung das Drama zwischen der alles-durchdringenden (bis in die Ethik hinauf) SündeDämonie und der richtenden Gottes-Leidenschaft, die im Tod des Sünders die Sünde aufhebt; bei P a u l Tillich das P r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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Gesamt-Dämonische dieses Kampfes als begründet in einem dämonischen Abgrund in Gott selbst1). Hier aber stehen wir ebenso an der Tiefe Kierkegaards. Die absolute „Verschiedenheit", die Gott vom Menschen trennt, fußt in der Sünde (GW VI, 43), und die eigentliche Gewalt des Paradoxes zwischen Gott und Mensch, das Paradox, daß zwischen Gott und Geschöpf trotz ihrer absoluten Verschiedenheit Einheit sein soll, ist erst von dieser Tiefe her absolut: negativ, indem es die absolute Verschiedenheit der Sünde zum Vorschein bringt, positiv, indem es diese absolute Verschiedenheit „in der absoluten Gleichheit aufheben will" (ebd.). So entsteht eine doppelte Dämonie: die Dämonie des absolut gegen Gott getrennten Geschöpfes und die religiöse Dämonie des leidenschaftlichen Verschmelzens mit Gott trotz dieser Trennung, die Dämonie eines Einbruches in Gott hinein. Das Dämonische ist unwegtilgbare Grundkategorie des religiösen Vorgangs (GW V, 1 1 7 ff.). Damit fällt ein letzter dunkler Schatten in das Wesen Gottes selbst: ein „unendlich tieferer Kummer" in Ihm (GW VI, 23) (als aller Menschenkummer), „im Himmel nicht nur Freude..., sondern auch Kummer" (ebd. 27). Und nicht ein passiver Kummer, sondern ein zornig-iiebendes leidenschaftliches Jagen nach dem Menschen (TG II, 293, 379), so daß Religion als „dämonische Approximation" erscheint (TG I, 224) und „Schule der Anfechtung" (TG II, 1 1 1 ) als der Name des Verkehrs zwischen Gott und Mensch. Es ist mithin „das Sündenbewußtsein, das den Menschen an das Christentum bindet" (TG 1,416), so sehr, daß „Schuld" „der entscheidende Ausdruck des existentiellen Pathos" ist (GW VII, 209), das Verhältnis zwischen Gott und Mensch „an der Totalität des Schuldbewußtseins kenntlich" (ebd. 216) Es ist mithin Leiden, Opfer, Tod der Sinn von Christentum, das langsame Zerstörtwerden des Seins, weil es Erbsündesein ist: „Leiden als der wesentliche Ausdruck des existentiellen Pathos" (GW -VII, 133), „den Tod so nah wie möglich haben" (BR 108), das „Ich sterbe täglich" (ebd. 102). Von i) Vgl. hier die scharfe Bemerkung Kierkegaards über Schelling (GW V, 55), der „die Nachwehen der Sonde in der Schöpfung" als ,,Schöpferwehen der Gottheit" fasse. Das aber ist der Schelling redivivus Tillichs.
— 67 — der unausrottbaren Radikalität der Erbsünde her, von der darin beschlossenen Radikalität des Dämonischen, ist Christentum wesenhaft „Radikalkur" (TG I, 38, 41), d. h. das Negative als Zeichen des Positiven (GW VII, 216), und darum Christentum „Eschatologismus": „es ist in dem Grade qualvoll, der wahre Christ zu sein, daß es nicht zum Aushalten wäre, wenn nicht beständig Christi Wiederkunft als nahe bevorstehend erwartet würde" (TG II, 59). Aus dieser qualifizierten Alleinwirksamkeitstheologie- und -Praxis, d. h. der Alleinwirksamkeit des Erbsünde-ErlösungsGottes folgt nun unmittelbar alles, was man den „ P r o t e s t " oder das „ K o r r e k t i v " in der Haltung des ursprünglichen Luthertums nennen kann und muß. Mit Ausnahme der innersten Innerlichkeit, die das unsichtbare Eins mit dem alleinwirksamen Gott ist, steht alles unter der „ratio peccati" (der unaustilgbaren Erbsünde). Es muß also diese „innerste Innerlichkeit" (als Eins mit dem alleinwirksamen Gott) eine beständige Abscheidung vollziehen: eine Abscheidung gegenüber der Natur, der sichtbaren Menschenwelt, der Geschichte. Ja, sie muß sich auch abscheiden gegen sich selbst, insofern ein religiöses Leben zu einer ruhenden Zuständlichkeit neigt und so von dem „in indivisibili" des unmittelbaren Aktes sich entfernt, eine solche Zuständlichkeit aber immer wieder etwas Menschliches ist, das nicht Gott ist. Christentum ist Geist gegen Natur, Innerlichkeit gegen Amt und Gemeinschaft, Gegenwärtigkeit gegen Tradition, Werden gegen Zustand. Aber insofern Geist, Innerlichkeit, Gegenwärtigkeit, Werden noch irgendetwas Positives bezeichnen, stehen auch sie unter der „ratio peccati", da alles Geschöpfliche als solches unter ihr steht. Sie sind also „religiös" allein im Sinn eines grundsätzlichen Nein auch zu sich, insofern sie nicht Alleinwirksamkeit Gottes „in actu" sind. Sie sind, vom Geschöpflichen aus, „religiös" als solches Nein, d. h. als reiner Protest und reines Korrektiv zu allem Geschöpflichen außer ihnen und in ihnen. Wie sehr das zusammenschließendes Ethos der LutherErneuerung unserer Gegenwart ist, braucht kaum gesagt zu werden. Denn diese Erneuerung kennzeichnet sich gerade durch die Konsequenz, in der das Nein bis zum Nein gegen 6*
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die Innerlichkeit selbst geführt wird, nicht nur als Nein gegen sichtbare Natur, Gemeinschaft, Amtskirche (was der bisherige Protestantismus auch tat), sondern als vollendendes Nein und darum auch als Nein gegen das Heiligtum dieses bisherigen Protestantismus, gegen die Innerlichkeit des „freien" oder geschichtbedingten (Ritsehl, Herrmann) religiösen Erlebnisses. Das Nein gegen das Geschöpfliche überhaupt (die ursprüngliche Barth-Richtung) oder die Haltung des formalen Protestes (Grisebach) wird zum alleinigen Index innerhalb der Sphäre des Geschöpflichen. Es ist „Innerlichkeit" nur mehr im Sinne der richtenden Unsichtbarkeit Gottes (Barth) und eines Menschaktes als reinen Aktes, d. h. „in actu", im „Augenblick" seines „Werdens" (Grisebach), und dieses Werdens selbst nicht als einer Kräftigkeit „von unten nach oben", sondern als eines mir geschehenden Werdens „von oben nach unten" (Gogarten). In dieser Form aber ist es jene höchste Zuspitzung des Luthertums, die im besondersten Sinn Luthertum Kierkegaards heißt. Es ist der Sinn seines Kampfes für das „Religiös-Ethische" gegen die „Naturwissenschaften", weil diese dem Menschen ein Recht gegen Gott einräumen oder Gott in Gesetze einzwängen (BR 124 ff. usw.). Denn der „Geist" des Religiös-Ethischen heißt „zu leben wie gestorben" (TG II, 405). Es ist die innere Meinung seines leidenschaftlicheren Kampfes gegen das Christentum der „alle" für das Christentum des „Einzelnen" (GW III, 75; X I I , 22 ff., 45 ff., 53 ff.), gegen das Christentum des „Offiziellen" für das Christentum des „Persönlichen" (GW X I I , 51 ff., 66 ff.; TG II, 339); gegen das Christentum des Außen für das Christentum des Innen (GW VII, 193). Denn der „Einzelne" ist der Ausdruck der absoluten Unmittelbarkeit zu Gott: „entweder . . . mit Gott gegen die Menschen . . . oder mit den Menschen gegen Gott" (TG II, 217). Die „Innerlichkeit" ist die Innerlichkeit der „absoluten Leidenschaft" (GW VII, 194). Das „Persönliche" aber besagt, daß der religiöse Mensch durch sein Einssein mit dem persönlichen Gott nicht anders denn „Subjekt" sein kann, so daß „Amt" zum Zeichen der Gott-Ferne wird (TG I, 304 usw.).
— 69 — So enthüllt sich auch die innerste Meinung seines Kampfes gegen ein Christentum der (gewöhnlichen) Geschichte für ein Christentum der unmittelbaren Präsenz zwischen Gott und Mensch im „Augenblick" (GW VI, 18; TG II, 122; GW V, 83). Es geht um die Schöpfer-Unmittelbarkeit des Erlöser-Gottes zum absoluten Sünde-Nichts des Menschen: „im Augenblick wird er (der Mensch) sich der Wiedergeburt bewußt; denn sein vorangehender Zustand war ja, nicht zu sein" (GW VI, 18). Es ist die subjektive Anwendung dessen, daß alle Kundgabe Gottes, weil Kundgabe Gottes, in die Zeit einbricht als „Atom der Ewigkeit", und darum subjektiv auch nur im Glauben empfangen wird, insofern der Glauben, durchbrechend und durchgebrochen durch die Zeit (in ihrem Kontinuitätsablauf von Vergangenheit zu Zukunft, d. h. als „Übergang"), im Jetzt dieses „Atoms der Ewigkeit" steht: „wenn ein Existierender nicht den Glauben hat, so ist weder Gott, noch auch ist Gott da, unerachtet Gott doch ewig verstanden, ewig ist" (TG I, 284). So spitzt sich dann endlich das Ganze zu in Kierkegaards Kampf für das Christ-werden gegen das Christ-sein (das Thema der „Einübung im Christentum" GW IX). Es ist ein dreifacher Protest: gegen das Christentum reiner Lehre für das Christentum des praktischen Christwerdens (etwa das realize Newmans: GW VII, 77), weiter gegen das Christentxml der Unverantwortlichkeit des „Kindes" für das Christentum des ringenden Ernstes (GW VII, 237 ff.; BR 153 f.), in der Tiefe endlich gegen das Christentum irgendeines „Bestehens" für das Christentum des beständig neuen „Werdens" (GW V, 78; B R 117/8, 123/3). Werden ist ein Sein im Nichtsein, der Glauben aber als (durch die Erbsünde) qualifiziertes „Paradox des Daseins" ist das gnadenhafte „Sein (des Gottes Eins)" im urschuldigen Nicht-sein. „Glauben und Werden (also) entsprechen einander und betreffen die aufgehobenen Bestimmungen des Seins" (GW VI, 78). Sie sind der Ausdruck der Absolutheit Gottes. So bleibt als Resultat allein das beständige „Korrektiv", d. h. das beständige Nein zu irgendwelchen Verfestigungen dieses zwischen Himmel und Erde schwebenden GlaubenWerdens: das Lutherische in seinem innersten Wesen als
— 70 — „Korrektiv" (TG II, 284, 331) und Kierkegaards Lebenswerk in seinem innersten Sinn als „Korrektiv" (BR 100, 172). •
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Hier, in diesem höchsten Punkt des Luthertums Kierkegaards, liegt aber gleichzeitig die Peripetie: das „Korrektiv" als sich verkehrend in eine „Norm" (das „Korrektiv" als Luthertum: TG II, 284, 331) oder das „Korrektiv" als sichopfernde Resignation im Sinne des übergeordneten Ganzen (das „Korrektiv" Kierkegaards: B R . 100, 172). „ K o r r e k t i v " ist jener Punkt, der zugleich höchstes Sich-opfern sein kann und höchste Hybris: Verzicht auf positiven Gehalt des eigenen Werks, um durch negative Kritik allein der Positivität des Ganzen zu dienen, — und anmaßendes Richteramt über das Ganze mit dem Erfolg einer Ersetzung des Ganzen durch die Negativität der eigenen Kritik. Der erste Weg heißt: „Wer ein Korrektiv bringen soll, hat. . . die schwachen Seiten des Bestehenden genau und gründlich zu studieren — und dann einseitig das Gegenteil hinzustellen, tüchtig einseitig. Gerade darin liegt das Korrektiv und darin wieder die Resignation dessen, der das tun soll. Das Korrektiv wird ja in gewissem Sinne dem Bestehenden geopfert" (BR 172). Darum (und hier dunkelt der zweite Weg auf) ist es „ein unseliger Irrtum. . . , wenn nun der, welcher zum Anbringen des Korrektivs gebraucht wird, ungeduldig wird und das Korrektiv zum Normativ für die andern machen will, das ist ein Versuch, alles zu verwirren" (ebd. 100). „Korrektiv" ist „Reformation". Aber „ R e f o r m a t i o n " ist das haarscharfe Zwischen, entweder zum Geopfertwerden im doppelten „innigsten Verständnis des Geopfertwerdens", dem Verständnis, daß Gott auf „diese Weise" einen Menschen „benutzen" will, und dem Verständnis der Erfahrung, daß Gott gerade darin überwältigend spricht „Gott ist die Liebe" (BR 100), — oder zur . Revolution", die alles zerstört, ja noch schlimmer: in einer flachen Weltlichkeit endet. Hier, wo Kierkegaard an und für sich zum rücksichtslosen Vollender des Luthertums wird, in der Zuspitzung von Luthertum zum rein formalen Protest (der „allerstärkst
— 71 — begabten Individuen" TG I, 102, der „wenig Menschen, die begabt sind, die protestantische Lebensanschauung zu ertragen", ebd. 101, weil es um den Menschen geht, „der in Todesangst dasitzt, in Furcht und Zittern und viel Anfechtung", ebd. II, 291), — hier wird er zum furchtbaren Kritiker desselben Luthertums. Denn seine alles durchdringende K r i t i k lautet: „das Luthertum" ist „eigentlich ein Korrektiv", und es ist „im P r o t e s t a n t i s m u s zum R e g u l a t i v gemacht worden" (TG II, 284). „Katholizismus und Protestantismus" verhalten sich „zueinander wie . . . ein Bau, der nicht stehen kann, sich verhält zu einem Strebepfeiler, der nicht allein stehen kann, wogegen das Ganze sogar recht sicher und fest stehen kann, wenn es beisammen bleibt" (ebd. 284/5). „Das Lutherische ist ein Korrektiv — aber ein Korrektiv zur Norm gemacht, zum Ganzen, ist eo ipso in der zweiten Generation (wo man also das nicht hat, zu dem es das Korrektiv war) verwirrend. Und mit jeder Generation, wo es so weiter geht, muß es schümmer werden, bis das Ende sein wird, daß dieses Korrektiv, das selbständig sich etabliert hat, genau das Gegenteil seiner ursprünglichen Bestimmung hervorbringt. Und das ist auch der Fall. Das lutherische Korrektiv bringt, wenn es selbständig das ganze Christentum sein soll, die raffinierteste Art von Weltlichkeit und Heidentum hervor" (TG II, 331/2). „(Luther) war es vorbehalten durch (seine Heirat als Mönch mit einer Nonne) . . . in der Christenheit den größten Skandal zu erregen, der jemals erregt ist" (BR 115), und „je mehr ich danach sehe, desto mehr sehe ich, wie der Protestantismus das Christentum von Grund aus verwirrt hat" (TG II, 392). Diese Verwirrung leitet sich für Kierkegaard aus der inneren P s y c h o l o g i e L u t h e r s ab. Es ist die Psychologie „eines gewissen sicheren Geistes, der mit Entschiedenheit redet, die .gewaltig' ist. Und doch scheint mir difese Sicherheit etwas Tumultuarisches in sich zu haben, das gerade Unsicherheit i s t . . . , ein Seelenzustand, (der) seine Deckung sucht bei seinem Gegensatz. . . . Der Unsicherheit der Angst will man nicht einmal Wort geben, man will (oder darf) sie nicht einmal richtig nennen, und man zwingt gerade den Gegensatz herauf im Vertrauen, daß dies helfen soll. . . (es)
— 72 — sind seine Äußerungen beständig, gleich als ob in einem fort der Blitz hinter ihm einschlüge" (TG I, 229/30). Es ist darum korrelat die Psychologie einer gewaltsamen Vereinseitigimg. „Luthers Lehre ist doch nicht bloß ein Zurückkehren zu dem ursprünglichen Christentum, sondern eine Modifikation des Christlichen. Er zieht einseitig Paulus vor und benützt weniger die Evangelien. Und am besten widerlegt er selber seine Bibeltheorie, er, der den Brief des Jakobus verwirft, warum, weil er nicht zum Kanon gehört? Nein, das leugnet er nicht, sondern aus einem Grund, so daß er selbst einen höheren Ausgangspunkt hat als die Bibel" (TG II, 118). In dieser doppelten Psychologie liegt aber erstens die Psychologie des Menschen, der ein Joch abgeschüttelt hat und auch weiterhin dem „auf Leben und Tod" aus dem Wege geht, beides aber unter der verhängnisvollen Verkleidung des „Reformators". „Ein Reformator, der das Joch abschütteln will, — ist eine bedenkliche Sache" (TG II, 153). „Luther hat doch eigentlich imberechenbaren Schaden angerichtet dadurch, daß er nicht Märtyrer geworden ist. Teils ist es eigene Sache, daß einer, der in dem Grad gezeichnet ist, Gottes Mann zu sein wie er, in direktem gemütlichem Umgang mit anbetenden Bewunderern und Anhängern endet. . . . Die Weltlichkeit hat sich . . . das Lutherische zunutzen gemacht, um das Verhältnis rein umzukehren, so daß das Reformatorsein auf die Weise, daß man gut davon kommt, für das Höhere angesehen wird. O siehe, da brach das Ganze entzwei, der Nerv im Christentum" (TG II, 336/7). „Das Lutherische mit dem Glauben ist nun geradezu wie ein Feigenblatt geworden für das unchristlichste Sichdrücken" (TG II, 31). Es liegt weiter darin die Psychologie einer Akzentuierung des „Interesse des Menschen". „Luther drückt Christentum aus im Interesse des Menschen, ist eigentlich Reaktion des Menschlichen gegen das Christliche in Gottes Interesse" und somit „der Gegensatz zum .Apostel'" (TG II, 404). „Überhaupt will Luther die Liebe immer bloß als Liebe zum Nächsten erklären, recht als ob es nicht auch Pflicht wäre, Gott zu lieben. Eigentlich hat Luther an die Stelle der Liebe
— 73 — zu Gott den Glauben gesetzt und dann Liebe genannt: Liebe zum Nächsten" (TG II, 21). Es liegt endlich darin die Psychologie des ganz mit sich selbst beschäftigten Patienten, der doch Arzt sein will. „ J e mehr ich auf Luther sehe, desto deutlicher scheint es mir, daß Luther auch in dieser Verwechslung liegt: das Patientsein mit dem Arztsein zu verwechseln. Er ist ein für die Christenheit äußerst wichtiger Patient, aber er ist nicht der Arzt; er hat die Leidenschaft des Patienten, sein Leiden auszudrücken und zu beschreiben und wonach er Drang fühlt als Linderung. Aber er hat nicht die Übersicht des Arztes" (TG II, 353). Auf diesem Wege kommt die ganze furchtbare T r a g i k des L u t h e r t u m s zustande. Sein Umschlag aus einer übersteigerten Betonung der Transzendenz zu „Endlichkeit von einem Ende zum andern" (gegenüber der „christlichen Idealität" des Katholizismus: TG II, 388). Sein Umschlag aus einer übersteigerten Betonung geistiger Innerlichkeit in den „Syllogismus des Fleisches" der Ausschließlichkeit der Ehe (gegenüber dem „Syllogismus des Geistes" der mittelalterlichen Erststellung der Jungfräulichkeit: TG II, 57). Sein Umschlag aus dem Außerordentlichen von „Reformation" in die „allergefährlichste Demoralisation", nämlich die „akkreditierte Mittelmäßigkeit" als Zeichen eines Reformatorseins (TG II, 337/8). „Luther hat das höchste geistige Prinzip eingesetzt, bloße Innerlichkeit. Das kann so gefährlich werden, daß wir zu dem allerniedersten des Heidentums herabsinken können (doch das Höchste und das Niederste gleichen ja auch einander), wo sinnliche Ausschweifung als Gottesdienst gefeiert wurde; so kann im Protestantismus erreicht werden, daß Weltlichkeit geehrt und hochgeachtet wird als — Frommheit" (und dies im Unterschied zu Katholizismus, wo Weltlichkeit sich immer klar als solche gegen Frommheit abzeichnet TG II, 289 ff.). „Der Protestantismus ist der roheste und brutalste Plebeismus. Man will nichts wissen von irgendeinem Qualitätsunterschied zwischen dem Apostel, dem Wahrheitszeugen und sich selber, unerachtet eines Existenz total verschieden ist von der jener, so verschieden wie essen und gegessen werden" (TG II, 362).
— 74 — Es ist nicht nur die Tragik, daß die „verborgene Innerlichkeit" des „Glaubens" verborgen wird bis zu einem „außerordentlichen Glauben, um zu glauben, daß der Mensch den Glauben hat" (TG II, 179). Sondern sie wird zur innerlich krank verbogenen Innerlichkeit, die den „Syllogismus des Fleisches" für den „Syllogismus des Geistes" ansieht (TG II, 57, 289 ff.), zum „Lutherischen Resultat (ohne seine Voraussetzung), daß Gottesfürchtigkeit just Freimütigkeit ist, am Leben sich zu erfreuen" (TG II, 289). Der übersteigerte „Ernst" des Reformators (das absolutgesetzte Korrektiv) erliegt den „Listen der Natur" (in der Sprache der „Nachfolge Christi"), während die katholische „Voraussetzung . . . , daß wir Menschen doch etwas Schlingel sind", dieser Verkehrung vorbeugt (TG II, 291). Es ist das verbreiterte F o r t l e b e n der T r a g i k L u t h e r s . Nicht nur die Politisierung des Religiösen: „dieses unselige Politische, dieses Den-Papst-stürzen-wollen, das ist und bleibt doch Luthers Verwirrtheit" (TG II, 31). Nicht nur die Ersetzung des Papstes durch das „Publikum" (TG II, 340). Sondern jene ganze furchtbare Skala, wie sie Kierkegaard rücksichtslos hinzeichnet: vom „Glaubensheld" („der fromme gottesfürchtige Mann, als solcher wesentlich ein Fremder in der Welt") zum „politischen Held", zum „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang usw." (TG II, 176)
6. Damit aber entsteht die Frage nach der positiven Ü b e r w i n d u n g des L u t h e r t u m s . Sie hegt für Kierkegaard auf zwei Wegen, die sich ergänzen. Der erste Weg — der sich in den Versuchen Erik Petersons und des Karl Barth von Dogmatik I erneuert — zielt auf eine Ersetzung des „Korrektiv", als einer noch ich-gefärbten Bestimmtheit, durch den „Gehorsam" gegen objektive Autorität (bis zur Annäherung an einen opus-operatum-Charakter solcher Autorität). Der zweite Weg — den auch Erik Peterson und der späte Barth innerlich ablehnen, so daß also Kierkegaard hier der Überwinder auch dieses, dem Katholizismus scheinbar nahen Luthertums ist — richtet sich gegen die Wurzel des Ganzen: gegen die Leidenschaft des „Entweder-Oder".
— 75 — Den gemeinsamen Sinn beider Wege hat Kierkegaard in einer unerhört scharfen Zeichnung der Tragik Savonarolas dargelegt: es geht um die unheimliche Verkleidung des „ K o r r e k t i v " als einer (psychoanalytischen) Sublimierung, also um den katastrophalen Absturz der Hypertranszendenz des „existentiellen Christentums" in die „existentielle Psychoanalyse". Schärfer gesagt: um den Punkt, wo die Theorie Vetters sich doch noch zu bestätigen scheint: die Transzendenz-Leidenschaft, das gesteigerte Erbsünde-ErlösungDrama, die absolute und protestierende Innerlichkeit des „existentiellen Christentums" als Sublimierung von Leidenschaft, Drama zwischen Ich und Es, Inversions-Innerlichkeit der „existentiellen Psychoanalyse". Kierkegaard zeichnet diese Sublimierung selber und entrollt in ihrer Beurteilung die Gesamtheit der zwei Wege ihrer Überwindung, von denen wir sprachen. „Das Wort des Savonarola von sich selber, daß er wie ein Hammer sei in Gottes Hand: gebrauche ihn, solange du willst, und willst du ihn nicht länger gebrauchen, so wirf ihn weg — ist eigentlich eine Beleidigung gegen Gott. So kann kein Mensch ein Verhältnis haben zu Gott. Es ist allzu erotisch gleichstufig und legt doch eigentlich Gott Veränderimg unter; es ist wie wenn ein Mädchen von dem Treulosen sagt: ich bin zufrieden damit, daß er mich eine ganz kurze Zeit geliebt hat, dann warf er mich weg, aber ich liebe ihn trotzdem. . . . Das Verfehlte an jenem Wort ist just der leidenschaftliche Schwung: wenn du ihn nicht länger gebrauchen willst, denn die Aufgabe im Verhältnis zu Gott ist beständig die des Glaubens, daß er deshalb und dessen ungeachtet einen gleich sehr hebt. Also müßte Savonarola sagen: ob du mich nun gebrauchst oder nicht gebrauchst, hilf mir bloß den Glauben festzuhalten, daß du die Liebe bist; daß also Savonarola nicht deshalb glaubt, daß Gott ihn liebt, weil er ihn gebraucht — sondern weil Gott die Liebe ist, so daß da also nicht, geschweige in einer der Veränderimg unterlegten Reflexion, auf sein Verhältnis zu Gott reflektiert wird, sondern auf Gottes Wesen, daß er die Liebe ist. Im Grund ist etwas Verzweifeltes in jenem Wort des Savonarola, daß also Gott nicht derselbe sein sollte gegen
— 76 — einen Menschen, wenn er ihn nicht länger gebrauchen kann" (TG I, 414/5). In dieser Stelle, die ins letzte hinableuchtet, ist alles zusammengefaßt. Die Diagnose des „ e x i s t e n t i e l l e n C h r i s t e n t u m s " : in der scheinbaren Hypertranszendenz ein distanzloses „sich als Gottes Auswirkung wollen", hierin auf scheinbar rein geistig-religiösem Gebiet die Haltung des begehrlichen „für mich" („Verhältnis zu Gott", nicht „Gottes Wesen") und die Messung Gottes am Haben Gottes (und „Haben Gottes" in der gefährlich-verkleideten Form des „Werkzeug Gottes"), hierin aber dann die Sublimierung (d. h. Verkleidung, nicht Überwindimg) der eigentlichen „concupiscentia", nämlich im „erotisch gleichstufig", „leidenschaftliche Schwung", „Verzweifeltes". Aber ebenso der Weg der Überwindung: Primat des „Gottes Wesen" über „Verhältnis zu Gott" und „Gottes Wesen, daß er die Liebe ist" gegen den anthropopathischen Tragizismus des „als veränderte sich Gott, als wäre es Gott, der einen leidig würde". Im ersten Weg vollzieht sich das eigentliche, entscheidende „exire e semetipso" (in der Sprache des Exerzitienbüchleins): die Objektivität der Anbetimg und des Gehorsams an Stelle einer noch so transzendent gefaßten Heilsgewißheit (auch der Heilsgewißheit des „reinen Werkzeug"). Der zweite Weg bedeutet die Überwindung eines geheimen Heroizismus (und hierin einer Wiederkehr der „erotischen Gleichstufigkeit"): der im objektiven Gehorsam gegen Gott distanzierte Mensch nicht als „kalt Unbedürftiger", sondern kindhaft demütig und fröhlich Gottes Liebe empfangend und erbittend. Es geht um die Gewinnung des „gelösten Menschen", gelöst im Doppelsinn des Wortes: ab-gelöst von der letzten, auch der religiösen Selbstsucht (im ersten Weg), hin-gelöst vom letzten, religiösheroischen, Sich-haben in das schwebende Kindesverhältnis (im zweiten Weg). *
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Wir kommen hier Schritt für Schritt zum letzten, lösenden Sinn der Existenzphilosophie Kierkegaards: weder die psychoanalytische Existenz der getriebenen Materie noch die transzendent-lutherische Existenz des getriebenen Gott-
— 77 — Werkzeug oder Gott-Ausfluß, sondern die gelöst schwebende Mitte des „Menschen Gottes" (mit dem paulinischen Ausdruck: II, Tim. 3, 17), Mensch in der ehrfürchtigen Distanz des objektiven Gehorsams, Mensch in der kindlich-ehrfürchtigen ruhigen Geborgenheit, Mensch mit dem leise fröhlichen Humor des „daß wir Menschen doch etwas Schlingel sind", das Kierkegaard wehmütig als das typisch Katholische erkennt (TG II, 291). Es ist der Kierkegaard „ k r e a t ü r licher E x i s t e n z " . In diesem Kierkegaard erhält das Positive der Existenz-Philosophie seine entscheidende Grundlegung. In diesem Kierkegaard ist, wie der Ablauf unserer Darlegungen ausweist, das hinüber und herüber schlagende Entweder-Oder zwischen Psychoanalyse und existentiellem Christentum überwunden. Dieser Kierkegaard aber ist, wie der Vergleich dieser „kreatürlichen Existenz" mit der Philosophie-Theologie der analogia entis von selbst zeigt, der Kierkegaard, der in den Katholizismus führt: der Kierkegaard des „Heim zur M u t t e r k i r c h e " als lösender Sinn des Kierkegaard der Psychoanalyse und des konsequenten Luthertums, und „tantum-quantum" als ihr lösender Sinn. D. h. es gilt, kraft aller Zusammenhänge, die aufgezeigt wurden und noch werden, ein wirklich letztes Entweder-Oder, und hierin ist Kierkegaard wirklich das unsterbliche Entweder-Oder (GW XII, 1 1 ; TG II, 282): entweder (für den Menschen, der vom Wirbel Kierkegaards in die letzten Tiefen des Lebens geschleudert ist) das „heim zur Mutterkirche" oder das hinsiechende Ahasvertum einer zigeunernden Problematik um der Problematik willen: die Lösung oder überhaupt keine Lösung1), — falls man nicht (aber in einer Pervertierung des Wortes „Lösung") jene angsthaft gepflegte und vergiftet flache „ruhige Bürgerlichkeit" als Lösung einer „Mitte" ansprechen will, die nicht selten das Resultat psychoanalytischer Behandlung religiös-aufgewühlter Seelen ist, d. h. jenes geheim katastrophische Vergessenwollen des „Rufes", Es ist aber hier die Lehre vom „Heilsminimum" zu beachten, d. h. vom Katholizismus des Katholiken, der wenigstens „zur Seele der Kirche" gehört (Hingen der Gegenwart II, 610 ff.).
— 78 — die trainierte Ruhe, die beständig in der Höchstanstrengung der Trainage steht, jenes Unheimlichste, das Kierkegaard selbst in Bischof Mynster als Typus des dänischen Protestantismus seiner Zeit hinzeichnet, „einen weltlich klugen, künstlerisch begabten Epikuräer, einen Meister im Hervorzaubern und Aufrechterhalten eines Scheins" (TG II, 354), es sei denn, daß zuletzt doch auch hier, aber dann bis ins letzte erschütternd, der Durchbruch geschieht, den Gertrud Le Fort im Schluß des „Schweißtuch der Veronika" gestaltet hat. Wenn wir auf unsere früheren Entgegensetzungen (S. 26ff.) zwischen Essenz-Philosophie Hegels und E x i s t e n z - P h i l o sophie Kierkegaards zurückgreifen wollen, so müssen wir nun in der Existenz-Philosophie Kierkegaards selber einen ähnlichen Gegensatz feststellen: einmal die psychoanalytisch fundierte Existenz-Philosophie Kierkegaards als ExistenzPhilosophie im Sinne einer materiell-realen Existenz, also (in weiterer Anwendung unserer früheren Darlegungen an derselben Stelle) als eine solche Philosophie von IdentitätWiderspruch zwischen Existenz und Essenz, die das Prinzip dieses Verhältnisses von Identität-Widerspruch in der materiell-realen Existenz hat; — dann aber die transzendentlutherisch fundierte Existenz-Philosophie Kierkegaards als Existenzphilosophie im Sinne einer geistig-idealen Existenz (in Gott), also (in gleicher Anwendung wie eben) als eine solche Philosophie von Identität-Widerspruch zwischen Existenz und Essenz, die das Prinzip dieses Verhältnisses von Identität-Widerspruch in der geistig-idealen Existenz hat. Hierin liegt ein Doppeltes. Einmal: daß diesen beiden inner-kierkegaardschen Formen das formale Verhältnis von Identität-Widerspruch gemeinsam ist. Es ist das nur der philosophische Ausdruck desselben, was wir oben mit der Methode einer Psychologie religiösen Lebens aufwiesen: die Lösungsform einer forcierten „Absolutheit", die gerade darum innerlich explosiv ist. Das andere ist: daß beide innerkierkegaardschen Formen zu einer Wiederkehr der Dialektik zwischen (Hegelscher) Essenz-Philosophie und (unterschei dend-kierkegaardscher) Existenz-Philosophie werden, die psychoanalytische Form materiell-realer Existenz zur bru
— 79 — talsten Existenz-Philosophie, die transzendent-lutherische Form geistig-idealer Existenz zu einer Neugeburt geistig idealer Essenz (die „essentiae aeternae" als geistiges Sein in Gott und von Gott her) innerhalb von Existenz-Philosophie. Mit andern Worten: das Entweder-Oder zwischen Essenz-Philosophie und Existenz-Philosophie ist so nicht gelöst, sondern verkleidet und (weil beide Formen eine Lösung vorgeben) — verklemmt. Daraus aber ergibt sich uns nun die philosophische Gestalt unserer obigen letzten Perspektive: der „dritte" Kierkegaard als Überwindung sowohl der gemeinsamen inneren Formalität („Identität-Widerspruch") wie der inhaltlichen Verklemmung seiner beiden ersten Grundformen von Existenz-Philosophie. Denn jener Doppelsinn von Gelöstheit des Menschen Gottes, den wir oben entwickelten, trägt in sich zunächst ein wesentlich anderes Formalprinzip. Es ist nicht extreme Gottes-Identität mit der extremen Gegenseite reiner Negativität der Kreatur (höchster Widerspruch gegen Gott), sondern das positive Ineinander eines „Gott alles", aber nicht „Gott allein", und „Kreatur eigen" (d. h. eigen-wirklich-wirkend-wertig). Es ist eine Distanz, die positive Anbetung und positiver Gehorsam und positive Liebe ist (d. h. nicht die reine Negativität, sondern das Unterschiedensein einer wahren „causa secunda" im bekannten Sinn des Wortes). Es ist eine Nähe und ein geborgenes Ruhen in Gott, das die Distanz der dienenden Ehrfurcht einbeschließt: Nähe und Einssein im Engeldienst des „Heilig, Heilig, Heilig, Herr Gott Sababoth". Es ist also, philosophisch gefaßt, positives Unähnlichsein in Ähnlichsein und Ähnlichsein in Unähnlichsein: die analogia entis. Es ist gewiß eine „maior dissimilitudo" (Later IV, cap. 2), das ungeminderte „Gott geschieden und unterschieden gegen alles, was außer Ihm ist oder gedacht werden kann" (Vatic. sess. 3, cap. 1). Aber es ist eine Transzendenz, die sich am entscheidensten darin zeigt, daß es die Transzendenz einer causa prima gegenüber causae secundae ist. Thomas spricht: „Daß Er den Geschöpfen Wirkkräfte verleiht, (ist) . . . aus Seiner vollkommenen Fülle, die genügend ist, allen mitzuteilen" (q. disp. de spir. creat. a. 10 ad 16); „je artnäher
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ein Wesen Gott ist, um so weniger wird es von Ihm gelenkt und ist geschaffen, sich selbst zu lenken" (Ver. q. 22 a.4 corp). Kierkegaard schreibt: „Gottes Allmacht ist. . . seine Güte. Denn Güte ist, ganz hinzugeben, aber so, daß man allmählich sich selbst zurücknimmt, den Empfänger unabhängig macht. Alle endliche Macht macht abhängig, nur die Allmacht kann unabhängig machen, aus Nichts hervorbringen, was Bestand hat in sich. . . . Sie kann geben, ohne doch das Mindeste ihrer Macht aufzugeben, nämlich: sie kann unabhängig machen. Dieses ist das Unbegreifliche, daß die Allmacht nicht bloß das Imposanteste von allem hervorbringen kann: der Welt sichtbare Totalität, sondern das Gebrechlichste von allem hervorzubringen vermag: ein gegenüber der Allmacht unabhängiges Wesen. Daß also die Allmacht, die mit ihrer gewaltigen Hand so schwer auf der Welt liegen kann, zugleich so leicht sich machen kann, daß das Gewordene Unabhängigkeit erhält. . . . Die Erschaffung aus Nichts ist. . . der Ausdruck der Allmacht dafür, unabhängig machen zu können. Der, dem ich absolut alles schulde, während er doch ebenso absolut alles behalten hat, er gerade hat mich unabhängig gemacht. Wenn Gott, um den Menschen zu schaffen, selbst etwas von seiner Macht verloren hätte, dann könnte er gerade nicht den Menschen unabhängig machen" (TG I, 292/3). Das ist, fast bis auf die Worte, dieselbe Art einer Rückführung des äußersten Falles relativer Selbständigkeit der Kreatur, nämlich ihrer Freiheit, auf Gottes Transzendenz, wie sie Thomas vornimmt: das „seipsum agere ad finem" der freien Kreatur gleichzeitig als höchste Ähnlichkeit zu Gott und als Ausfluß Seiner als causa prima (Ver. q 22 a 4 corp + a 6 corp -f a 8 corp + a 9 corp). Es ist Transzendenz, die Distanz setzt: positive Distanz des liebendehrfürchtigen Geschöpfes als stärkster Erweis der allwirkenden Transzendenz der causa prima. Es ist analogia entis grundlegend „von oben". Von diesem geänderten Formprinzip aus löst sich darum nun auch das I n h a l t l i c h e : das verklemmte Ineinander einer Existenz-Philosophie, die einerseits brutal-materielle Existenz sagt, als Allein-Existenz bis zum äußersten, anderseits geistig-ideale Existenz bis zur schwindelnden Höhe
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eines „in Gott", also eine verkleidete „ewige, ideale Essenz" in ihrer geistig-idealen In-Existenz in Gott. Wie im LebendigReligiösen an dieser Stelle das gelöste Schweben des „Menschen Gottes" sichtbar ward, so hier nun, im Metaphysischen, die gelöste Schwebe eines Zueinander und Ineinander von Existenz und Essenz: die analogia entis zwischen Gott und Geschöpf sich auswirkend in die innere analogia entis des Geschöpfes selbst: zwischen Existenz und Essenz: analogia entis als „Realgeschiedenheit in Real-Eins" zwischen Existenz und Essenz. Diese Lösung greift dann auch weiter zurück in die beiden Seiten der „aporetischen Mentalität", wie wir sie nannten, d. h. Existenzphilosophie im Sinne lebendigen Denkens und Existenz-Philosophie im Sinne gebrochenen Denkens. Diese beiden Seiten werden zum philosophischen Ausdruck des Menschen der analogia entis und seiner doppelten Gelöstheit: seiner Gelöstheit als Ab-gelöstheit im gebrochenen Denken, seiner Gelöstheit als Hin-gelöstheit im lebendigen Denken. Es ist der Mensch, wie er im doppelten Sinn des Wortes in Gott aufgehoben ist, aufgehoben im Sinne des „exire e semetipso", des Sich-verlierens, aber ebenso aufgehoben im Sinne des „Mensch werden durch Gott", des Sich-gewinnens: „wer seine Seele verliert, gewinnt sie." Aber es ist damit in der schärfsten Form eine Lösung „im Geheimnis und ins Geheimnis hinein", nicht eine Lösung, die Gott und Geschöpf aus einem übergeordneten Prinzip, Identität- oder Widerspruchsprinzip oder der Koppelung von Identität und Widerspruch, ableitet, weder ableitet von unten nach oben noch von oben nach unten, sondern alles rückführt in das Geheimnis Gottes, in jenes letzte Geheimnis, wie es Thomas und Kierkegaard gemeinsam als das letzte sehen: Gottes allwirkende Transzendenz, die doch eine wahre Positivität des Geschöpfes begründet. So sind wir wieder bei unsern zwei Wegen der Überwindung der verhängnisvollen lutherischen Transzendenz, die eine solche Positivität des Geschöpfes auflöst und damit, folgerichtig zu dem Satze Thomas' und Kierkegaards über das Sichbedingen wahrer Transzendenz Gottes und Positivität des Geschöpfes, zu einer Auflösung der Transzendenz P r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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Gottes kommt, zum menschgeknüpften Gott der Heilsgewißheit oder (mehr calvinisch) der Werkzeuggewißheit, zur Auflösung des „Gott in Sich" zum „Gott für uns". *
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Das E r s t e ist darum: o b j e k t i v e r Gehorsam zu o b j e k t i v e r A u t o r i t ä t . — Darin ist ein Zweifaches verstanden. Einmal: objektiver Gehorsam, d. h. keine Messung des Gehorsams am (auch religiösen) Nutzen für den Gehorchenden, sondern Gehorsam gegen die Autorität um der Autorität willen. Dann: objektive Autorität, d. h. nicht Autorität in dem Sinne, daß der unsichtbare Gott durch ein mächtiges subjektives Erlebnis sich kundtut, das dann in andern Menschen weiterzündet, sondern objektiv-amtliche Autorität, die so sehr amtlich ist, daß sie von der Begabung und Würdigkeit des menschlichen Trägers unabhängig ist, d. h. Autorität der successio apostolica und des opus operatum. Auf diesem Wege ist gewährleistet, worum es geht: eine unbedingte Souveränität Gottes, in der doch bis ins feinste, nämlich im sichtbaren Repräsentanten Gottes, die Distinktion gegen den Menschen gewahrt ist, und eine Distinktion, in der bereits wahre Positivität liegt, die Positivität des werkhaften Gehorsamsaktes und die Positivität des werkhaften Ausübens göttlicher Autorität. Es wird darum ein Zweifaches verständlich. Einmal die Art, wie Erik Peterson und der späte Karl Barth, aus scharfer Sicht des Verhängnisses des reinen Korrektivs, hier eine letzte Auferstehung Kierkegaards besagen (die sich bei Erik Peterson über Husserl-Objektivismus, beim Karl Barth der Dogmatik über orthodoxen Calvinismus vollzieht), die Auferstehimg des Prinzips des objektiven Gehorsams und eines Anfangs objektiver Autorität. Dann aber die Grenze, wo sie sich scharf gegen ihn scheiden: da wo die objektive Autorität das eigentliche Gesicht des opus operatum anzunehmen beginnt. Denn hier liegt die ganz unmißverständliche Grenze gegen das eigentlich Katholische. Karl B a r t h bleibt bei dem Gehorsam gegen eine rein unsichtbare Autorität, während die sichtbare Kirche ausschließlich hörende Kirche ist und höchstens insofern den Gläubigen überge-
— 83 — ordnet als sie das eigentlich hörende Subjekt ist und die Gläubigen in ihr und durch sie. E r i k Peterson geht wohl weiter, indem er (in „Was ist Theologie ?) ein wahres autoritatives Dogma aufstellt und (in „Die Kirche") eine sichtbare Autoritätskirche als vom Hl. Geist inspirierte Konzession eines ursprünglichen Eschatologismus an die Welt der Heiden. Aber das autoritative Dogma ruht nicht in einem autoritativen Lehramt, sondern in einer phänomenologischen religiösen Geltungssphäre, und die sichtbare Autoritätskirche der Welt der Heiden ist Konzession, nicht Ursprünglichkeit ( = nicht von Christus gestiftet). Es fehlt das letzte Entscheidende : der sichtbare, geringe Mensch als amtlicher Träger von Gottes Autorität. Kierkegaard aber geht den Weg bis ins letzte. Christentum steht und fällt mit dem o b j e k t i v e n Gehorsam. Das heißt zunächst Unabhängigkeit des objektiv Christlichen gegenüber dem subjektiven Christenleben. „Das Christliche ist da, ehe irgendein Christ da ist; es muß da sein, damit einer Christ werden kann; es enthält die Bestimmung, nach der geprüft wird, ob einer Christ geworden ist; es hält sein objektives Bestehen aufrecht außerhalb aller Glaubenden, während es zugleich in der Innerlichkeit des Glaubenden ist. Kurz, hier ist keine Identität zwischen dem Subjektiven und Objektiven; ob das Christliche in noch so vieler Gläubigen Herzen kommt, jeder Gläubige bleibt sich bewußt, daß es nicht in seinem Herzen aufgekommen ist, bleibt sich bewußt, daß die objektive Bestimmung des Christlichen nicht zurückgeführt werden kann wie Liebe auf Verliebung. . . . Wenn keiner darauf aufmerksam geworden wäre, daß Gott in menschlicher Gestalt sich in Christo offenbart hatte, er hätte doch sich offenbart" (Buch über Adler 243). In diesem Sinn ist Christentum nicht eine Lehre, die philosophisch überzeugt, sondern Person-Autorität, die Gehorsam fordert. Das ist „des Christentums paradoxe Heterogenität von aller Lehre im wissenschaftlichen Sinn, daß sie setzt: die Autorität. Ein Philosoph mit Autorität ist nonsens. Denn ein Philosoph reicht nicht weiter, als seine Lehre reicht; kann ich beweisen, daß seine Lehre sich selbst widerspricht, unrichtig ist usw., so hat er nichts zu sagen. 6*
— 84 — Das Paradoxe ist, daß die Person höher ist als die Lehre" (TG II, 126). Hieraus folgt von selbst, daß es im Christwerden wesentlich um das Opfer des Gehorsams geht. „Die Einwände gegen das Christentum kommen aus Insubordination, Unlust zu gehorchen, Aufruhr gegen alle Autorität. Darum hat man bis jetzt in der Luft gefochten gegen die Einwände, weil man intellektuell mit dem Zweifel gekämpft hat, anstatt daß ethisch mit dem Aufruhr gekämpft werden sollte" (TG I, 313). Darum bedeutet die Kantische Autonomie „Gesetzlosigkeit oder das Experimentieren. . . . Wenn nichts höheres Bindendes ist als ich selbst, woher soll ich da als A., der Bindende, die Strenge bekommen, die ich nicht habe als der B., der gebunden werden soll, wenn doch A und B dasselbe Selbst ist. . . . Das Umsetzen, das eigentlich statt hat von Unmittelbarkeit zu Geist, dieses Absterben wird nicht Ernst . . . , wenn da nicht ein Drittes ist, das Zwingende, das nicht das Individuum ist. . . . Das mit meiner Strenge wird zu nichts, ich muß einen andern haben als Helfer, der die Strenge sein kann, wenn er auch die Milde ist" (TG II, 133/4) ,.Die göttliche Autorität ist das qualitativ Entscheidende" (Buch über Adler 167). „Die ganze moderne Spekulation ist deshalb affektiert dadurch, daß sie auf der einen Seite den Gehorsam und auf der andern Seite die Autorität abgeschafft hat und dessenungeachtet rechtgläubig sein will" (Buch über Adler 178). „Meine Aufgabe ist im Dienste der Wahrheit, ihre Form wesentlich Gehorsam. Etwas Neues soll nicht gebracht werden, sondern überall sollen die Springfedern wieder so in Gang gesetzt werden, daß das Alte, durchaus das Alte wieder wie neu werden soll" (TG I, 354/5; vgl. II, 198 ff. über Gewissensfreiheit). Diesem objektiven Gehorsam auf Seiten des Gehorchenden ist dann aber notwendig korrelat auf Seiten der christlichen Autorität ihre strenge Objektivität, d. h. aber ihre o b j e k t i v e A m t l i c h k e i t im Unterschied zur empirischen Person des Trägers. Es braucht den „Zeugen", d. h. den rein objektiven Übermittler einer objektiven Tatsache, nicht den „Maieutiker", d. h. denjenigen, der von seinem Subjekt
— 85 — aus in das Subjektive des andern eingreift. „Die Mitteilung des Christlichen muß doch zuletzt mit dem .Zeugen* enden, das Maieutische kann nicht die letzte Form sein. Denn christlich verstanden, liegt die Wahrheit doch nicht im Subjekt (wie Sokrates es verstand), sondern ist eine Offenbarung, die verkündigt werden muß. In der Christenheit kann ganz richtig das Maieutische zu gebrauchen sein, just weil die meisten in der Einbildung leben, Christen zu sein. Aber da das Christentum doch Christentum ist, so muß der Maieutiker der Zeuge werden. Zuletzt wird der Maieutiker auch nicht die Verantwortung aushalten können, denn das Maieutische ist doch immer ein in menschlicher Klugheit Ruhendes, wenn es auch noch so sehr geheiligt ist und geweiht in Furcht und Zittern" (TG I, 407). Es braucht weiter den Apostel. „,Der Apostel' drückt Christentum aus in Gottes Interesse, kommt mit Autorität von Gott und in dessen Interesse" (TG II, 404; im Gegensatz zu Luther, der = „Christentum... im Interesse des Menschen"). Es braucht darum das Zeichen der Beglaubigung, d. h. die Ordination. „Die christliche Rede läßt sich bis zu einem gewissen Grad mit dem Zweifel ein — die Predigt operiert absolut, einzig und allein durch die Autorität der Schrift, der Apostel Christi. . . . Eine Predigt setzt einen Priester (die Ordination) voraus; die christliche Rede kann ein gewöhnlicher Mensch sein" (TG I, 312/3). „Ein Priester ist, was er ist, durch die Ordination. . . . Alles ist Gewäsch über Genie und Talent und Studium und Beredsamkeit und daß der Priesterrock gut kleide. . . . Ein Priester soll Autorität gebrauchen, er soll zu den Menschen sagen: I h r sollet, das soll er, ob sie ihn auch totschlügen, das soll er, ob so auch alle vom Christentum abfielen" (TG II, 356/7). So ist das letzte bereits mitgesagt, die völlige Unabhängigkeit der Autorität vom Subjektiven des Trägers, so sehr, daß gerade die Schwäche oder gar Unwürdigkeit dieses Subjektiven zur stärksten Darstellung des Entscheidenden des Objektiven wird. „Der Apostel ist als solcher nicht, wie der durch natürliche Begabung ausgezeichnete natürliche Mensch, seiner Zeit voraus; er mag ein ganz einfältiger Mensch sein. . . . Denn das wesentliche Paradox ist eben der
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Protest gegen die Immanenz. . . . Ein Genie wird rein ästhetisch gewürdigt nach dem Gehalt, den es hat; ein Apostel ist, was er ist, dadurch, daß er göttliche Autorität hat. Die göttliche Autorität ist das qualitativ Entscheidende. Nicht durch ästhetische oder philosophische Würdigung des Gehalts der Lehre soll oder kann ich zu dem Ergebnis kommen: ergo ist er, der diese Lehre vorträgt, durch eine Offenbarung berufen; ergo ist er ein Apostel. Umgekehrt: wer durch eine Offenbarung berufen, mit einer Lehre betraut wurde, geht davon aus, daß er durch eine Offenbarung autorisiert ist. Ich soll nicht deshalb auf Paulus hören, weil er geistreich, vielleicht unvergleichlich geistreich ist, sondern ich soll mich unter Paulus beugen, weil er göttliche Autorität hat" (GW X, 144). So waren „die Apostel ganz einfache Menschen . . . aus der niedersten Klasse, denn just darum wird ihre Autorität desto stärker akzentuiert, sie waren nichts durch sich selbst, nicht Genies, nicht Geheimräte, nicht Landeshauptleute, sondern Fischer" — darum alles durch ihre Autorität von Gott, und „so verhält es sich auch mit dem schlechten Griechisch des Neuen Testaments" (TG I, 339). So ist das „Majestätische nach außen" der katholischen Kirche nach innen der Beginn mit der Demütigkeit: „Gott beginnt mit seiner Erniedrigung — Christus nahm die Gestalt eines Knechtes an und noch nennt der Papst sich servus servorum" (TG I, 117). Aus diesem Ganzen heraus wird dann endlich auch das persönlichste Beten selbst entpersönlicht in die Objektivität „Was das heißen will, in Jesu Namen beten, wird vielleicht am allereinfachsten so erklärt: Eine Obrigkeitsperson befiehlt dies, und das im Namen des K ö n i g s , was will das sagen? Das will fürs erste sagen: ich bin selber nichts, ich habe keine Macht, nichts, aus mir selber zu sagen — aber es geschieht im Namen des Königs. So heißt im Namen Jesu beten: ich darf mich Gott nicht nähern außer im Mittler, soll mein Gebet erhört werden, so muß es in Jesu Namen sein, was ihm Kraft gibt, ist dieser Name. Demnächst, wenn eine Obrigkeitsperson im Namen des Königs befiehlt, so folgt natürlich von selber, daß, was er befiehlt, des Königs Wille sein muß, er kann nicht im Namen des Königs be-
— 87 — fehlen, was sein eigener Wille ist. So heißt auch im Namen Jesu beten, so zu beten, daß es in Übereinstimmung mit Jesu Willen ist, ich kann nicht im Namen Jesu um meinen eigenen Willen beten: Jesu Name ist nicht eine gleichgültige Unterzeichnung, sondern das Entscheidende; daß Jesu Name voran steht, heißt nicht im Namen Jesu beten, sondern das heißt, daß ich Jesu Namen dazu nennen darf, das will sagen, ihn mir denken, seinen heiligen Willen zusammendenken mit dem, worum ich bete. Endlich, wenn eine Obrigkeitsperson im Namen des Königs befiehlt, bedeutet es, daß dieser die Verantwortung dafür übernimmt. So auch mit dem Beten im Namen Jesu, so nimmt Jesus die Verantwortung und alle Folgen auf sich, er tritt vor uns, tritt an die Stelle des Betenden" (TG II, 97). *
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Aber dieses gesamte Erste enthält noch einen letzten Rest jener äußersten Anspannung, die im „Korrektiv" lag, einen angespannten Heroizismus, der verdächtig sein könnte, eine letzte Hochmutsverkleidung zu sein: die Unbedürftigkeit des rein sachlich Gehorchenden und rein sachlich ein Amt Vollziehenden. So ergibt sich die entscheidende Notwendigkeit dessen, was wir oben den zweiten Weg der Überwindung des „Korrektiv" nannten: demütig echte Menschlichkeit. Er knüpft unmittelbar an das letzte des ersten Weges an: an Gottes Autorität im geringen Menschen. Aber dieses „im geringen Menschen" gleitet nun aus einem harten Ton des „Paradoxes" in die Wärme stiller Kindlichkeit über: die strenge Ab-Gelöstheit in die schwingende Hin-Gelöstheit. Das Opfer wird von einem geheimen Opfer-Hochmut gelöst. Es wird singendes und lächelndes Opfer, das da singt und lächelt: Gott ist die Liebe. Damit ist aber gesagt, daß Kierkegaard hier zum einschneidenden Richter seiner eigenen Auferstehung im Neu-Luthertum der Barth-Thurneysen und ihres Kreises bis zu Tillich, Grisebach, Peterson wird: nämlich ihrer bald heroizistischen, bald kühlphilosophischen, bald klassisch-objektiven, bald prophetischgestrafften, bald tragisch-leidenden Anspannung. Der in ihnen Erneuerte wird ihr Überwinder.
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Diese Überwindung setzt bei der Haltung des Opfers selbst ein: der Opfernde soll seine Opfer-Außerordentlichkeit selber opfern. „Schwerer als auszuziehen nach Moria, um Isaak zu opfern, ist es, wenn man bereits das Messer gezogen hat — so unbedingt gehorsam verstehen zu können und verstehen zu wollen, das wird nicht verlangt" (TG II, 260). Es geht um die Demut der E i n f a c h h e i t und Gewöhnlichkeit als Überwindimg des Dranges zum Außerordentlichen. Man soll sich in keiner Weise um das große F r e i w i l l i g e drängen, sondern es ruhig dem Ruf der Gnade überlassen. „Vom Standpunkt der allgemeinen Forderung aus ist. . . das Freiwillige das Vermessene; und also muß man eine unmittelbare Gewißheit haben darüber, daß es im besonderen von einem verlangt wird, um es wagen zu können. . . . Das Allgemeine ist: schlecht und recht vor Gott zugeben, daß man Mensch ist, sowohl dieses wie jenes zu wünschen, auf erlaubte Weise zu arbeiten, um es zu erreichen, es der Vorsehimg überlassend, ob man es erreichen wird, da es ja in jedem Augenblick in deren Macht steht, es tun zu können. Das Allgemeine ist, es Gott zu überlassen, ob er einen verhindern will, das Gewünschte zu erreichen oder es ihm nehmen will — aber nicht freiwillig es aufzugeben, dagegen demütig erkennend, daß man dazu nicht die Kraft hat, noch auch die unmittelbare Gewißheit des Besonderen — und so im übrigen ruhend in der .Gnade'" (TG II, 197/8); vgl. Buch über Adler 50 ff.). Darum kommt es für den Klostermenschen darauf an, daß er sich nicht als außerordentlichen Menschen ansehe. „Der Fehler im Mittelalter war nicht das Kloster und die Askese, sondern der Fehler war, daß die Weltlichkeit im Grunde dadurch gesiegt hatte, daß der Mönch Staat machte als außerordentlicher Christ" (TG II, 343). — „Die Klosterbewegung . . . muß im Gegenteil demütig gegen Gott vor sich gehen und nicht ohne eine gewisse Beschämung" (GW VII, 106/7). Darum kommt es auch in keiner Weise dem Menschen zu, durch leidenschaftliche Intransigenz auf sein eigenes M a r t y r i u m hinzuarbeiten. „Eine weit größere Prätention
— 89 — (als die, einen Menschen um der Wahrheit willen zu töten) liegt darin: daß man im vermeinten Besitz der Wahrheit sich berechtigt glaubt, sich von andern um der Wahrheit willen totschlagen zu lassen, andre also um der Wahrheit willen des Mordes schuldig werden zu lassen" (GW X, 133). „Seinen Untergang zu wollen ist so hoch, daß nur das Göttliche diesen Willen vollkommen rein haben kann. In jedem Menschen, der so etwas wollte, wird immer ein Zusatz von Schwermut sein. Hier liegt also der Fehler. Vielleicht ist es ein zurückgedrängter Wunsch u. ä., über den er doch eigenmächtig verzweifelt «(denn für Gott ist alles möglich), und nun wirft sich seine Leidenschaft auf diese Art Heroismus. Aber dieses ist nicht zulässig. Ein Mensch soll vor Gott seine Wünsche zugeben, menschlich sehen, sie erfüllt zu bekommen, Gott darum bitten, daß er es tun wolle — und dann es Gott überlassen, ob er möglicherweise just auf diesem Weg seinem Untergang entgegen gehen soll. Kurz: ein Mensch soll ein Mensch sein" (TG II, 220) — bis zur katholischen Voraussetzung, „daß wir Menschen doch etwas Schlingel sind" (ebd. 291). Und darum ist es nicht zulässig und ist gefährlich, Gott leidenschaftlich um Leiden anzugehen. Denn „so könnte ja das Individuum (stoisch) gleichsam Gott herausfordern wollen, Leiden zu senden, damit das Individuum zeigen könnte, daß es trotzdem Gott zu lieben vermöchte. Dieses ist vermessen und so weit wie möglich davon entfernt, Gottesfurcht zu sein, da es Egoismus ist, der frech gleichsam mit Gott sich messen will" (TG II, 294). Darum: „ 1 . Man soll niemals das Leiden begehren. Nein, bleib du nur in der Bestimmung, um irdische gute Tage zu beten. Wenn einer das Leiden begehrt, da wäre es ja, als vermöchte er durch sich selber dieses Furchtbare zu lösen: daß just Leiden das Kennzeichen von Gottes Liebe ist. . . . 2. Wagen sollst du sicherlich, denn zu wagen (für die Wahrheit usw.) ist just Christentum. Aber du sollst doch bis auf weiteres nicht so wagen, daß nicht eine menschliche Möglichkeit bleibt, daß du auch, menschlich gesprochen, gut wegkommen kannst, wie man sagt. Das will heißen: es ist Möglichkeit da, zu unterliegen, es ist aber auch Möglichkeit da, daß es gut gehe.
— 90 — Aber ist dem Leiden, menschlich gesprochen und verstanden, nicht zu entgehen, und du doch vor Gott dich selber darin verstehst, wagen zu wollen und zu sollen: niemals doch muß das Leiden selbst ziXoc sein, du mußt nicht wagen, um zum Leiden zu kommen, denn dieses ist vermessen, heißt Gott versuchen. So den Leiden sich aussetzen zu wollen, um des Leidens willen, ist eine vermessene persönliche Zudringlichkeit und Naseweisheit gegen Gott, als wolltest du Gott zu einem Wettkampf herausfordern. Nein, aber wenn es die Sache ist — wiewohl du siehst, daß das Leiden, menschlich gesprochen, unentrinnbar ist, wage du nur, du wagst dann nicht, um zum Leiden zu kommen, sondern du wagst, um die Sache nicht zu verraten" (ebd. 294 ff.). Mit dieser Überwindung eines Leidensdranges, der als solcher (wie Kierkegaard zwischen den Zeilen andeutet) eine innere Perversion sein kann, in die Demut der ruhigen Gottes-Hingabe, damit ist die tiefere Überwindung eines Opfer-Paroxysmus bereits vorgezeichnet: die Demut posit i v e n S i c h - l i e b e n - l a s s e n s von G o t t , nicht ein Unbedürftig-sein wie Gott, sondern die Kindlichkeit in Gott hinein. Wenngleich der Christ ein „Page der imbedingten Majestät" (BR 109) sein soll, so doch nicht „selber das Majestätische sein", sondern „selber bloß leidend das Majestätische ausweisen, bewundernd, oder — denn hier wird das Höchste möglich — selig anbetend das Majestätische ausweisen, die göttliche Majestät" (TG II, 388/9). Wenngleich der Christ zugleich möglichst „Subjekt" sein soll, d. h. Leben gewordene Lehre, und möglichst sich selbst Objekt, d. h. sich selbst unabhängig objektiv gegenüber stehend, so ist das doch eigenstes Gottes-Attribut, das dem Menschen in dieser Reinheit nicht möglich ist. „Er kann weder ganz sich so überlegen werden, daß er vollkommen sich objektiv zu sich selber verhält, noch so subjektiv werden, daß er ganz vollführen kann, was er in objektiver Überlegenheit über sich selber verstanden hat sich selber betreffend, er kann nicht imbedingt, vollkommen objektiv sich selbst sehen, und könnte er das, kann er nicht unbedingt subjektiv diesen Anblick von sich selber wiedergeben" (TG II, 385).
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Diese demütige und wachsende Unterscheidung gegen Gott wird hier von zwei Seiten her möglich: von der überwältigenden Erfahrimg der Liebe Gottes, dadurch aller Unbedürftigkeits-Stoizismus hinschmilzt in die restlose Kindlichkeit, — und von dem Warten und der Geduld und dem Wandel eines wahrhaft inneren und innigen Verkehrs mit Gott. Gott ist die strenge Forderung des Entweder-Oder (TG II, 282; GW XII, 11), aber Er ist der A b g r u n d der S e l i g k e i t mitten darin, und so die wurzelhafte Ausrodung eines stoischen Radikalismus. „Wenn ein Mensch... zu Gott sich verhält, so muß er leicht fassen, daß Gott absolut, ja grenzenlos absolut das Recht hat, alles von ihm zu fordern; aber anderseits, daß auch das Gottesverhältnis selbst absolut, ja grenzenlos absolut ein Abgrund der Seligkeit ist" (TG I, 317). Die Majestät Gottes bedingt gewiß „Furcht und Zittern", aber „Furcht und Zittern ist nicht primus motor in dem christlichen Leben, denn das ist die Liebe" (TG 1,126), es ist „Seligkeit in Furcht und Zittern" (Rel. Red. 139). Gott verlangt das Opfer bis zum letzten, „das kleine bißchen Zimt zu sein", „um dem übrigen einen bestimmten Geschmack zu geben", „aber Gott weiß anderseits wohl, wen er wählt, um ihn auf diese Weise zu benutzen, und dann versteht er es auch, ihm im innigsten Verständnis das Geopfertwerden so selig zu machen, daß man unter den tausend verschiedenen Stimmen, welche jede auf ihre Weise dasselbe ausdrücken, auch seine und vielleicht gerade seine in Wahrheit de profundis hört: Gott ist die Liebe. Der Vogel auf dem Zweige, die Lilie auf der Wiese, der Hirsch im Wald, der Fisch im Meere, zahllose Scharen froher Menschen jubeln: Gott ist die Liebe. Aber gleichsam tragend wie die Baßpartie klingt unter allen diesen Sopranen das de profundis von den Geopferten her: Gott ist die Liebe" (BR 100). Und die letzte Opfer-Akzentuation löst sich darin, daß alles Opfer und Absterben ein schwaches Mitlieben mit Gottes Lieben ist. Es ist „im Christentum . . . nicht das Gesetz, das befiehlt: du sollst absterben, sondern die Liebe, die sagt: liebst du mich denn nicht ? Und wenn darauf geantwortet wird: ja — so folgt daraus von selbst, daß du
— 92 — absterben mußt. . . . Das Christentum verkündet nicht das Gesetz, es verkündet im Gegenteil, was Gott in unendlicher Liebe für den Menschen getan hat. Gott muß es wohl vorkommen, als wäre es so viel, daß es die Steine rühren müßte. Da hält so gleichsam die Verkündigung an. Da tritt nun eine Pause ein, denn das Nächste will Gott nicht befehlen, aber doch wartet er auf das Nächste, nämlich, daß dieses nun den Menschen so rühre, daß er beschließe, Gott zu lieben. Aber entschließt er sich dazu, so entschließt er sich eo ipso auch zum Absterben. Also, im Christentum hat Gott gleichsam, um so menschlich zu reden, uns Menschen gefreit, um unsere Liebe zu gewinnen" (TG II, 291/2). „Gott hat nur eine Leidenschaft: zu lieben und geliebt sein zu wollen. Was ihm so gefallen hat, ist: existentiell mit den Menschen alle die verschiedenen Weisen durchzugehen, auf die geliebt werden kann: das Lieben durchzugehen. Bald will er geliebt sein wie ein Vater von seinem Kind, bald wie ein Freund vom Freund, bald so geliebt wie der, der bloß einem gute Gaben bringt, bald so wie der, der den Geliebten versucht und prüft. Und im Christentum ist, wenn ich so sagen darf, die Idee die: geliebt sein zu wollen, wie ein Bräutigam von seiner Braut, und so, daß es eitel Prüfung wird" (TG II, 385/6). Und darum kommt es „auf die Apriorität (an), die dadurch gewonnen wird, daß es von frühester Zeit an für einen absolut ausgemacht ist, daß Gott die Liebe ist. Dieser Beweis eines unerklärlichen Eindrucks, daß Gott die Liebe ist, eines Eindrucks, der zusammengewachsen ist mit Eines ganzem Wesen von frühester Zeit an: das ist eigentlich die Hauptsache" (TG I, 318). „Was macht einen Menschen groß, zum Wunder der Schöpfung, wohlgefällig in den Augen Gottes? Was macht einen Menschen stark, stärker als die ganze Welt, was macht ihn schwach, schwächer als ein Kind ? Was macht einen Menschen unerschütterlich, unerschütterlicher als den Felsen, was macht ihn weich, weicher als Wachs? — Es ist die Liebe!" (Rel. Red. 1.) Auf diesem Wege kommt zustande, worauf alles ankommt, die Lösung des imbegreiflichen „Paradox" in die Einfalt des Kindes. „Das Gesetz ist steigender Tiefsinn im
— 93 — Mehr-und-mehr-begreifen, daß man nicht begreifen kann. Hier kommt so all das Kindliche wieder, aber in zweiter Potenz. Der so Gereifte hat Naivität, Einfalt, Staunen, aber hat sie wesentlich mit Humor, doch nicht, daß es Humor ist" (TG II, 88). Mit diesem Kindlichen aber gibt sich nim auch das andere: das Geheimnis einer inneren lebendigen F ü h r u n g durch G o t t : ein Lösen des „in indivisibili" des EntwederOder in das Eigentümliche eines wahrhaft inneren Lebens, sein Wogen, sein Warten, seinen Wandel, sein Reifen aus wolkenhoher Idealität in die schlichte Wirklichkeit. Es entsteht das wahrhaft „existentielle Christentum", die E x i s t e n t i a l i t ä t eines „Menschen Gottes". Es ist eine E r z i e h u n g durch Gott in langsamer Geduld. „So ist. . . Gott unendliche Liebe, daß er nicht gleichsam plötzlich auf einmal einen Menschen überfällt und von ihm verlangt, daß er Geist sein soll — so müßte ein Mensch umkommen. Nein, er greift so sachte an, es ist eine langsame Operation, eine Erziehung; es kommen viele Augenblicke, wo etwas geblasen wird, Gott auf endliche Weise den Patienten stärkt — aber dann weiter. Und eines fordert Gott in jedem Augenblick unbedingt: Redlichkeit, d a ß . . . et gestehe, daß dieses (Glück, Erfolg u. ä.) um seiner Schwachheit willen da ist, eine Akkommodation von Gott, etwas, das er vielleicht auch in einem späteren Augenblick entbehren soll — um weiter zu kommen. Weiter wird in jedem Augenblick vom Patienten die Redlichkeit gefordert, daß er jedesmal, da er seine Klugheit gebraucht, um sich etwas Linderung zu verschaffen, etwas Erleichterung: auf der Stelle in seinem Gottesverhältnis dieses als ein Debet notiere" (TG II, 273 f.). „Gott ist der Gott der Geduld. Doch will Gott, daß der Mensch verstehen soll, daß er mit diesem Irdischen ein für allemal so tief brechen muß, daß in allem Ernst der Geist hervortritt. Und so will er ferner, daß man langsam es sich abgewöhnen soll. Aber kein fleischlicher Fanatismus, ach, denn da ist just ein Fanatismus, der fleischlich ist. Du sollst von Gott glauben, daß er väterlich genug ist, kindlich mit dir sich freuen zu wollen, wo du in deiner menschlichen Vorstellung freudig bist. Aber du
— 94 — sollst dich daran erinnern, daß gestrebt werden soll, damit der Sinn aus dem Irdischen umgebildet werden kann" (TG II, 116). Auf diese Weise gerade wird alles innerlich überwunden, was durch seine Unruhe und Gewaltsamkeit auf jene unterirdischen Verkleidungen weist, von denen die Psychoanalyse spricht. Die versteckte L e i d e n s c h a f t wird getroffen durch den „demütigen Mut". „Es ist. . . ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle: der stolze Mut, der sich erdreisten darf, alles zu fürchten, und der demütige Mut, der alles hoffen darf" (TG I, 157). Gegen die N e g a t i v i t ä t einer Verdrängung des Leiblichen richtet sich die Beobachtung: ,,es kann eine Anfechtung sein, aber es kann auch wahr sein: daß ein Mensch zuviel von Gott verlangt, allzusehr Geist sein will und so in einem gewissen Sinn gleichsam Gott mehr oder anders lieben will als Gott es erlauben kann oder dulden will, wenn er inbezug auf alle seine Leiden und Versuchungen beständig bloß geistig geholfen sein will. Es gibt unschuldige menschliche Hilfsmittel (Zerstreuung, körperliche Erfrischimg usw.), welche ein Mensch nicht übersehen darf, ohne von Gott zu viel zu verlangen" (TG II, 59). Die Angst wird als Ungeduld entlarvt. „Angst ist doch eigentüch nichts anderes als Ungeduld" (ebd. 132), als ein geheimes Begehren. Und einer gefährlichen Leidensliebe begegnet das Wort vom gefühlten Schmerz. „Man sagt wohl, daß das Religiöse ist: froh zu sein im Schmerz, wiewohl Schmerz und Leiden andauern. Wir wollen indes, wie wahr dieses auch ist, auch nicht übertreiben; denn ein Mensch ist doch ein Mensch; und könnte oder sollte die Freude im Schmerz ganz oder gar dieselbe sein wie die Freude ohne Schmerz: so würde ja die Ewigkeit nahezu überflüssig" (ebd. 235). Diese Erziehung in Geduld erreicht aber ihre eigentliche Kraft vom innerst Religiösen her, von der Geduld im Wandel von Trost und Untrost und im Wandel der verschiedenen Gotteserfahrungen. Es wird das Gebet immer mehr ein freies Geschehen von Gott her. „Hier (im Gebet) sollte man ja glauben, daß der Mensch auf die freieste, subjektivste Weise in ein Verhältnis
— 95 — zu Gott sich setze, und doch hören wir, daß es der Heilige Geist ist, der das Gebet wirkt, so daß das einzige Gebet, das noch übrig bliebe, das wäre: beten zu können, wenngleich bei tieferem Nachsehen auch noch dieses in uns gewirkt wird. . . . Man kann deshalb auch sagen, daß alles Erkennen gleichsam ein Atemzug ist, eine respiratio" (TG I, 1 1 7 f.). Es wird darum ein Warten in Geduld und Stille. „So gibt es eine religiöse Anfechtung. . . . wo ein Ekel an dem Religiösen eintritt, während doch dieses trotzdem für den Leidenden die höchste Realität ist; aber er hat sich zu viel damit beschäftigt. Hier ist nichts zu machen außer Geduld und Stille, so kommt die Seligkeit wieder, und umso stärker" (TG II, 156). Es wird ein Wandel darin, daß Gott bald persönlich zum Menschen ist, bald rein objektiv. „Gott ist sicherlich Person, aber ob er gegenüber dem Einzelnen es sein will, beruht darauf, ob es Gott also gefällt. Das ist Gnade von Gott, daß er im Verhältnis zu dir Person sein will; wenn du seine Gnade verspielst, straft er dich dadurch, daß er sich objektiv zu dir verhält. Und in dem Sinn kann man sagen, daß die Welt nicht (trotz aller Beweise) einen persönlichen Gott hat" (TG II, 392). Aber es ist im Letzten ein Wandel im Sinne des Aufleuchtens des innergöttlichen Lebens im Leben des Menschen: vom Hervortreten des Vaters zum Hervortreten des Sohnes zum Hervortreten des Heiligen Geistes. Es „ist nicht der Geist, der zum Sohne führt, und der Sohn, der zum Vater führt, nein, es ist der Vater, der auf den Sohn weist, der Sohn, der auf den Geist weist, und erst dann ist es wiederum der Geist, der zum Sohne führt, und der Sohn, der zum Vater führt" (TG II, 3 1 1 f.). Dieser Weg wird zur einschneidendsten Erziehung des Menschen: zur kindlichen Ehrfurcht gegen Gott und hierin zur gelösten Menschlichkeit. E s „ist, wenn ich so sagen darf, wie Gottes Zurückhaltung auf Grund seiner Majestät. . . . Gerade indem er mehr sich hingibt, mehr mit dem Menschen sich einläßt. . . , gerade da wird der Mensch, wiewohl eleviert, degradiert. In Wahrheit wird er eleviert, aber er wird eleviert dadurch, daß er eine unendlich höhere Vorstellung
— 96 — bekommt von Gott, und so wird er degradiert. . . . ,1hm gebührt es, zu wachsen, mir, geringer zu werden', das ist das Gesetz für alle Annäherung zu Gott. . . . Durch das Gesetz der Umkehrung gesichert sein, daß die Annäherimg Entfernung ist: unendliche Majestät! ,Aber so verliere ich ja auf eine Weise Gott.' Wie, Er wächst ja! Nein, verliere ich etwas, verliere ich mein Selbstisches, mich selbst, bis ich ganz die Seligkeit finde in dieser Anbetung: Ihm gebührt es, zu wachsen, mir, geringer zu werden. Aber dieses ist ja das Gesetz für alle wahre Liebe. Wollte ich, daß es so sein sollte, daß ich wüchse zugleich damit, daß Gott wüchse, so wäre dieses doch wohl Eigenliebe" (ebd. 312). „Es ist mit dem Verhältnis zu Gott nicht wie mit dem Verhältnis zu einem Menschen, daß, je länger sie zusammenleben und je näher sie einander kennen lernen, desto näher sie einander auch kommen: oh, umgekehrt im Verhältnis zu Gott; je länger man zusammenlebt mit ihm, desto unendlicher wird er — und desto weniger wird man selber. Ach, als Kind schien es einem doch, daß Gott und Mensch gut zusammen spielen könnten. Ach, als Jüngling träumte man doch davon, daß, wenn man recht unbedingt und rasend sich anstrengen wollte wie ein Verliebter, wenn auch anbetend, so ließe sich das Verhältnis doch noch zustande bringen. Ach, als Mann entdeckt man, wie unendlich Gott ist, und den unendlichen Abstand. Dies . . . hat etwas gemeinsam mit der sokratischen Unwissenheit, mit der nicht begonnen wurde, sondern geendet — daß es endete mit Unwissenheit!" (TG II, 95 f.). So kommt es Schritt für Schritt zur Religion der gewöhnlichen ruhigen Wirklichkeit. — Es bildet sich die Religion der kleinen Dinge: „es gilt gerade, Gott in kleinen Dingen glauben zu können, sonst steht man doch nicht in einem rechten Verhältnis zu ihm. . . (es) gilt. . . , Gott mit einzubeziehen in die Wirklichkeit dieser Welt, wo er doch gewiß ist. Als Paulus an Bord des Schiffes war, das nahe dem Untergang war, da bat er nicht bloß um seine ewige Seligkeit, sondern auch um seine zeitliche" (TG I, 199). — Es wird die Religion des Tischgebets: „es war in früheren Zeiten ein frommer Brauch in den Häusern, daß vor der
— 97 — Mahlzeit gebetet wurde" (TG I, 322). „Die Heiden hatten doch viel mehr Takt für geziemende Religiosität in dem täglichen Leben als im besonderen wir Protestanten. Man denke bloß daran, wie sie bei ihren Mahlzeiten, Festlichkeiten und so nahezu überall, zuerst der Götter gedachten" (TG II, 69). Und selbst der für den Protestanten höchst anstößige Ablaß gewinnt die Farbe der Kindlichkeit, wobei der Anstoß dann daran liegt, „daß ich niemals richtig ein Kind gewesen bin" (TG II, 287). Ging diese gesamte Erziehimg auf das, was wir hier eingangs demütig echte Menschlichkeit nannten, so kann es nicht ausbleiben, daß ihre Überwindung der „unbeschnittenen Unmittelbarkeit" und „unrasierten Leidenschaft" des Entweder-Oder, wie Kierkegaard sich ausdrückt (TG I, 215), auch auf das Letzte übergreift: auf die Beziehung von Mensch zu Mensch. Das Entweder-Oder zwischen Gott und Welt (TG I, 317; ebd. II, 217; GW XII, 59) wird geklärt zur Demut der Menschenliebe. Denn erst dann erkennt und anerkennt sich der „Mensch Gottes" wirklich als Mensch im Unterschied zu Gott, wenn er sich erkennt und anerkennt als gebendes und empfangendes Glied von Gemeinschaft. Denn erst dann ist der geheime Absolutheitstraum unwiderbringlich ausgeträumt: einsam und unbedürftig wie der Sich selbst genügende Gott. Darum aber geschieht auch diese Überwindung von Gott her. Es ist die Frucht der Liebe Gottes und der Liebe in Gott, daß die Härte der Einsamkeit sich löst, und der Einsame seinen Brüdern und Schwestern wiedergegeben „wird". In diesem Sinn gilt für die von Kierkegaard so sehr betonte I n n e r l i c h k e i t , „daß die Innerlichkeit just in ihrem Maximum wieder hier Objektivität ist" (TG II, 123). Es gilt, daß die Überlegenheit des „ E i n z e l n e n " ihr Kriterium gerade am Dienen hat. „Daß der Größte ein Dienender ist, dieses liegt im Verhältnis der wahren Überlegenheit. Wenn ein Mensch einem anderen ein wenig überlegen ist, so ist er Herr und herrscht. Ist er ihm absolut überlegen, so ist er dienend, denn so wird er (der absolut Überlegene) im Verhältnis zu ihm nur mit seinem Gottesverhältnis zu tun haben, und so wird er ein Dienender. J e geringer der andere P r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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— 98 — ist, um so mehr wird der Überlegene der Dienende. . . . Wäre Christus nicht Gott gewesen, so wäre er auch nicht in absolutem Sinn ein Dienender geworden" (TG II, 53/4). Eis gilt, daß die Forderung der U n b e d i n g t h e i t sich nur auf die Erststellung des Reiches Gottes richtet, nicht auf die schlechthinnige Ertötung menschlicher Beziehungen, da „Liebe zu Gott" nicht „Haß gegen die Welt ist und umgekehrt" (BR 114). „Alle diese Stellen, wo Christus so unbedingt das Unbedingte betont, müssen doch so verstanden werden, daß die Betreffenden eine Bedingimg machten, also nicht unbedingt zuerst das Reich Gottes suchen wollten. . . . Der Sinn kann nicht der sein, daß Christus kein Mitgefühl haben sollte mit diesem Menschlichen: seinen Vater begraben zu wollen, Abschied nehmen zu wollen von den Seinen, Er, der selber weinte am Grab des Lazarus, Er, der selber die Mutter der Fürsorge des Sohnes anvertraute" (TG II, 364/5). Es gilt, daß die kühle O b j e k t i v i t ä t gegen sich selbst ihre Frucht in der Subjektivität gegen andere haben müsse, d. h. im liebevollen persönlichen Eingehen auf sie. „Die meisten Menschen sind subjektiv gegen sich selbst und objektiv gegen alle andern, entsetzlich objektiv zuweilen — ach, die Aufgabe ist just, objektiv gegen sich selbst zu sein und subjektiv gegen alle anderen" (TG I, 335). Aber es ist diese geöffnete Liebe wesenhaft nicht Haltung einer stoisch unbedürftig oder in ihre Unbedürftigkeit verzückten „schenkenden Tugend". Es ist einmal — für den Menschen, der zur religiösen Unbedingtheit hin erzogen wird — die Demut des Menschlichen als der Verknüpftheit mit der Welt. „Da Gott ja doch selber diese Welt erschaffen hat und erhält, soll man sich wohl in acht nehmen vor dem asketischen Fanatismus, der sie ohne weiteres haßt und vernichtet. Nein, christlich am mildesten könnte ich das Verhältnis so darstellen. Diese Welt ist wie Spiel und Spielzeug für das Kind. Der Vater kann das Spielen sogar schön finden und kindlich darauf eingehen; aber doch fordert er, daß das Kind es sich langsam abgewöhnen soll" (TG II, 115). Es ist anders — für den Menschen, der für das Reich Gottes leidet und streitet — das Überwältigende der Liebe
— 99 — Gottes, das keine Bitterkeit aufkommen läßt. Weil „das Gottesverhältnis selbst absolut, ja grenzenlos absolut ein Abgrund der Seligkeit i s t . . . , so i s t . . . eo ipso die Rücksicht auf und der Vergleich mit jedem andern Menschen vergessen. Wenn so einer sagen wül: ,ich halte froh alles Böse aus, alle eure Verfolgungen, um Gottes willen', und dann hinzufügt: ,aber ihr, meine Verfolger, ihr werdet auch drüben dafi^r zu leiden haben', so ist dieser letzte Teil der Rede Weltlichkeit. Das Verhältnis zu Gott ist offenbar ein solches Gut, ein so ungeheures Gewicht von Seligkeit, daß, wenn ich es bloß fasse, so ist meine Seligkeit im absolutesten Sinn absolut, und sie wird im Gegenteil geringer durch diesen weltlichen Vergleich, daß meine Feinde ausgeschlossen bleiben sollen" (TG I, 318). Von hier aus ist dann endlich der letzte Sinn des Opfers das Geopfertsein für die Gemeinschaft und ein Geopfertsein als unmerkliches Verschwinden. Das „Gott ist die Liebe" als der Grundsinn des Opfers (BR 100) ist vollendet in diesem Charakter eines spurlosen, unbeachteten Verschwindens, wie ja auch Gott Sich in das aufdringliche Räderwerk der Welt verschwinden läßt, von Schöpfung zu Menschwerdung. „O, die Weltleitung ist eine ungeheure Haushaltung, ein grandioses Gemälde. Doch machts der Meister, Gott in den Himmeln, wie die Köchin und der Künstler, er sagt: Da muß noch ein kleines bißchen Zimt hinein, ein kleines bißchen Rot angebracht werden. Wir begreifen nicht, warum, wir sehen es kaum, in dem Grade verschwindet ein kleines bißchen Zimt im Ganzen, aber Gott weiß, warum" (ebd. 99/100). 7Damit dürfte klar sein, wohinein die Gesamtheit dieser Haltungen zielt: in eine Überwindung der Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes in eine solche von Seiner Allwirksamkeit, die die Eigenwirksamkeit des Geschöpfes nicht nur zuläßt, sondern fordert. Die P e r s p e k t i v e n ins dogmatisch K a t h o l i s c h e enthüllen sich als der letzte Sinn all dieser Überwindungen und Reifungen. Es überwindet sich einmal der „alleinige und unsichtbare Glaube" in den „Glauben, der in der Liebe wirksam 7»
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ist": in die katholische f i d e s c a r i t a t e f o r m a t a . Der reine unsichtbare Glaube führt zuifl Verschwinden des Glaubens (TG II, 179; GW VII, 193) und zu einem „Sichdrücken" (TG II, 31). Darum hat Luther schon gefordert, daß „der Glaube soll erkannt werden an der Liebe", und zwar an keiner unsichtbaren Liebe, sondern am „Liebeswerk" (TG II, 68). Aber Luther „ w i l l . . . die Liebe immer bloß als Liebe zum Nächsten erklären, recht als ob es nicht auch Pflicht wäre, Gott zu lieben. Eigentlich hat Luther an die Stelle der Liebe zu Gott den Glauben gesetzt und dann Liebe genannt: Liebe zum Nächsten" (TG II, 21). Darum ist die Konsequenz der Art, wie Kierkegaard die Gottesliebe, und zwar als Liebe Gottes zu uns wie als tätige Liebe unser zu Gott, in den Mittelpunkt rückt, daß der „unsichtbare Glauben allein", der der Ausdruck der übersteigerten lutherischen Transzendenz und ihres verhängnisvollen Absturzes ist, ausdrücklich sich wandelt in das letzte Unauflösliche dessen, was für die katholische „fides caritate formata" die Wurzel ist: die Ein-Zweiheit von Gnade und Werk, Glauben und Nachfolge, Freiheit und Gesetz. Es ist in der Grundhaltung Erneuerung des tri dentinischen C h r i s t u s b i l d e s (sess. VI, can. 21): „in unserer Zeit ist es nun doch offenbar, daß, was hervortreten soll, die Seite von Christus ist, daß er das Vorbild ist" (TG II, 31). — Es ist darum Gnade und Werk. „Kein Streben kann eine ewige Seligkeit erwerben. Darum ist sie .Gnade'. Hier kommt dann wieder die Gefahr, daß dieses, daß es Gnade ist, betäubend, lähmend wirkt. . . . Hier wieder die Verdoppelung! Daß das angestrengteste menschliche Streben, daß es doch ein Narrenstreich ist, eine verlorene Mühe, eine lächerliche Gebärde, wenn es der Versuch sein sollte, die Seligkeit zu verdienen — und so doch . . . sich anzustrengen trotz einem, der in vollem Ernste meinte, durch seine Anstrengung die Seligkeit zu erwerben" (TG II, 301/2). — Es ist G l a u b e n und Nachfolge. „Die Nachfolge doch nicht so, daß sie ist, um Justiz zu halten, um Demut zu lernen und Drang zur Gnade, um den Zweifel anzuhalten", also als lutherisches Inzitament zum reinen Glauben, sondern als wahrhaft tätige Auswirkung des Glaubens: „wenn ich leide
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und elend wie der Elendeste an Christus mich wende — und er hilft mir: was dann? So sagt er: aber so mußt du mir nachfolgen, absterben, leiden für die Lehre, gehaßt werden von allen Menschen" (TG II, 261). — Es ist endlich F r e i heit und Z u c h t : „Freiheit" muß sjch darin als die rechte erweisen, daß sie „dazu führt, das Geistesleben unendlich mehr angestrengt zu machen als es vorher war" (TG II, 154). Dieses durchgeführte Gesetz der causae secundae öffnet aber seine Tiefe in dem, was man die katholische O b j e k t i v i t ä t nennen kann. Die Betonung des Mitwirkens mit der Gnade führt zur Betonung des Unterschieds zwischen Gott und Geschöpf und einer solchen Betonung, in der ein ichsüchtiges Sichanklammern an Gott sich löst in die ichvergessene Anbetung der Ehrfurcht. Gott ist nicht seinem Wesen nach fremdzwecklich zum Heil des Menschen hin, sondern der Meiisch ist hin zum selbstvergessenen Dienst Gottes. Andererseits aber liegt in der katholischen Betonung des Werkes die Betonung des objektiven Dienstes. Die Betonung des Dienstes ist die Wiederkehr der Betonung der Gnade in der Betonung des Werkes: die Lösung von einer Werk-Angst in die Werk-Objektivität. Und hierin ist sie die Lösung des Krampfes der „Heilsgewißheit" in die ruhige Übergabe des Heiles in die unbegreifliche Liebe Gottes. „Heilsgewißheit" kommt nicht der Kreatur zu, die als wirkliche Kreatur immer das Schwingen und Schweben ist. „Davon, ob ich Glauben habe, kann ich keine unmittelbare Gewißheit bekommen — denn Glauben ist gerade dieses dialektische Schweben, das, unaufhörlich in Furcht und Zittern, doch nie verzweifelt. Glaube ist diese nicht endende Besorgnis um sich selbst, welche einen in der Bereitschaft alles zu wagen wach hält, diese Besorgnis, ob man auch wirklich Glauben hat — und siehe, gerade diese Besorgnis ist Glaube" (BR 130; vgl. Trident. sess. VI, cap. 13). „In der Ungewißheit ist das Streben" (TG II, 302). So aber vollzieht sich das Tiefste: das Versinken der angstvollen Sorge um das Ich vor der Sicht Gottes. „Verliere ich etwas, verliere ich mein Selbstisches, mich selbst, bis ich ganz die Seligkeit finde in dieser Anbetung: Ihm gebührt es, zu wachsen, mir, geringer zu werden" (TG II, 312). Angst tun Aufstieg-Abstieg des Ich
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geht auf in das Eine: die Anbetung Gottes, wie Er nahe ist im Fernsein und fern im Nahesein, der urkatholische „Gott in uns und über uns": „Annäherung-Entfernung und doch wirkliche Annäherung" (TG II, 244); — „unendliche Majestät!" (ebd. 312). Es ist das innerste Geheimnis der L i e b e , die für Kierkegaard der Mittelpunkt ist und für den Katholiken das Unterscheidungswort gegen das Luthertum. Es ist einmal Liebe, wie sie in der Feindesliebe zur größten Spannweite des Menschlichen wird und hierin der Erweis, daß Gott im Liebenden tätig ist und der Liebende tätig in Gottesliebe, weil solche Liebe nur von Gottesliebe her möglich ist. „Seinen Feind lieben kann man nur um Gottes willen oder weil man Gott liebt. Das Kennzeichen, daß man Gott liebt, ist ganz richtig das dialektische, denn immittelbar haßt man seinen Feind; aber wenn einer seinen Feind liebt, so ist es deutlich, daß er Gott fürchtet und liebt, und nur so kann man Gott lieben" (TG I, 415). Aber es ist darum andererseits eine Liebe, die über alles Geschöpfliche hinaus im unsichtbaren Geheimnis Gottes ruht. „Die christliche Liebe kannst du nicht einmal daran erkennen, daß sie den Feind hebt, denn dies kann ja auch eine verborgene Form der Verbitterung sein, wie einer es tut — um glühende Kohlen auf sein Haupt zu sammeln" (zit. bei Haecker, Sören Kierkegaard usw. 27 nach der dän. Ges. Ausg. IX, 140). *
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Damit aber erhebt sich die Frage nach der bewußten Beziehung Kierkegaards zum K a t h o l i z i s m u s . E i n e r seits ist es kein Wunder, daß sich auch ganz bewußt bei Kierkegaard die Aussicht ins K a t h o l i s c h e öffnet, nicht nur in objektiv tatsächlich katholischen Lehrpunkten. — Das Katholische ist die Gemeinschaft, darin schließlich auch das „allerstärkst begabte Individuum", das des Protestantismus, im Sinne des Korrektivs fähig wäre, irgendwie wurzeln muß. „Es gibt überhaupt wenig Menschen, die imstande sind, die protestantische Lebensanschauung zu ertragen, und diese muß, wenn sie in Wahrheit für den gemeinen Mann stärkend sein soll, entweder zu einer kleinen Gemeinschaft
— 103 — sich konstituieren (Separatismus, Konventikel usw.) oder dem Katholizismus sich nähern, um in beiden Fällen in dem Sozialen das Zusammentragen der Lebensbürde zu entwickeln, das nur die allerstärkst begabten Individuen entbehren können. Christus ist wohl für alle gestorben, auch für mich; aber dieses „für mich" muß doch so aufgefaßt werden, daß er für mich gestorben ist nur, insoweit ich zu den Vielen gehöre" (TG I, 101 f.). — Das Katholische weiter, und zwar im betonten Sinn objektiver Kirche, ist die Perspektive, die von einer durchgelebten romantischen Dialektik aus sich öffnet. „Wenn das Dialektische (Romantische) welthistorisch durchgelebt ist (eine Periode, die ich gewiß auch so sehr bezeichnend die Periode des Individualismus nennen könnte — etwas, das auch leicht historisch sich nachweisen läßt), muß das soziale Leben wieder in höchstem Grade dazu kommen, seine Rolle zu spielen und Ideen, wie Staat (z. B. wie er bei den Griechen war; Kirche in älterer katholischer Bedeutung) müssen notwendig reicher und voller wiederkommen, das will sagen mit all dem Inhalt, den die Verschiedenheit des überlebten Individualismus geben kann, so daß das Individuum nichts zu bedeuten hat als solches; sondern alles als Glied in der Kette. Darum beginnt auch der Begriff Kirche mehr sich geltend zu machen, der Begriff von einem festen, objektiven Glauben usw., gleichwie auch die Neigung, Gesellschaften zu gründen, ein wiewohl bislang armseliger Vorläufer dieser Entwicklung ist" (TG I, 56/7). Kann es da endlich auffallen, daß die Tagebücher schon früh auf die zwei Brandherde der katholischen R o m a n t i k weisen : auf Baader (TG I, 49) und auf Görres (TG I, 65, 103), auf den Görres der Mystik (ebd. 65) und ganz intensiv auf den akzentuiert katholisch-kirchlichen Görres des „Athanasius": „ich habe in diesen Tagen Görres* Athanasius gelesen, nicht bloß mit den Augen, sondern mit meiner ganzen Liebe — mit der Herzgrube" (ebd. 103), — während die ins Lutherische weisenden Romantiker Schelling und Hegel fast nur seiner ätzenden Kritik begegnen (vgl. z. B. 173 ff.) ? Wenn wir aber andererseits das Wort Kierkegaards beachten „es ist klar, daß ich in meinen Schriften eine weitere
— 104 — Bestimmung des Begriffs , Glauben' gegeben habe, die bislang nicht dagewesen war" (TG II, 194), also ein Wort, das, auf dem Hintergrund der ungeheuren Spannweite zwischen Psychoanalyse, Luthertum und Katholizismus, auf die bekannte Art weisen könnte, darin Novalis wie Schelling wie der frühe Görres von dem Neuen einer religiösen Synthese der Gegensätze träumten, — so wird sichtbar, wie durch dieses ganze große Sachbild einer scheinbaren Überwindung aller Gegensätze ins Katholische das S p h i n x - A n t l i t z der alten F r a g e heraufsteigt. Ist dieses große Umspannende vielleicht etwa nur ein Künstlertraum, gerade darum so objektiv und unerbittlich sachlich und weit, weil derjenige, der ihn spann, nicht so sehr mit der Leidenschaft des homo religiosus daran beteiligt ist als mit dem relativen Erleben des Künstlers, dem sich immer in alles Leben die künstlerische Distanz einschiebt, jene Distanz, die ihn einerseits vor dem Versinken wahrt wie auch seine Universalität ermöglicht, andererseits aber zu einer Verfälschung einfach gelebten Lebens führen kann wie auch künstlerisch zum Artistentum ? — Wenn wir das von Kierkegaard selbst freimütig zugestandene Ästhetische in ihm erwägen wie auch so manche Eigentümlichkeiten der Sprache, die wohl in den Rausch des Erlebnisses selbst hineinreißt, aber dann doch eine merkwürdig starke Lust der Formung verrät, so kann diese Frage wohl nicht ganz vermessen genannt werden. Andererseits aber: Ist es glaubhaft, daß ein Mensch, der so tief in das Verborgenste religiösen Lebens hineinschaut und dessen Stil, bei aller künstlerischen Geformtheit, doch fühlbar zittert unter der Wucht der Erlebnisse, ist es glaubhaft, daß ein solcher nur distanziert analysiere? Ist nicht hier das unleugbar Chaotische nicht nur der Werke, sondern auch der Tagebücher das große Argument: nicht nur das Fehlen jeglichen ausgefeilten „Systems", sondern das beständige Sich-ineinander-schieben widersprechender Gesteinsschichten ? Man wird die brutale Art, wie diese ganze Frage bei Christoph Schrempf gestellt ist, ablehnen können und doch eine neue Fassung versuchen müssen. Wenn Kierkegaards
— 105 — Aussage keine Selbsttäuschung ist, daß in Bezug auf das Entweder-Oder zwischen Ästhetisch-Erotischem und EthischReligiösem (das dialektische Gegeneinander von A und B im „Entweder-Oder"), sein eigener Standpunkt noch weiter als das Oder liege, d. h. über die Religiosität eines ruhigen Bürgertums hinaus in einer „radikalen Religiosität" (TG II, 3°4/5). so bleibt doch die Frage nach der Art dieses RadikalReligiösen. Wenn es weiter wahr ist, was wir oben darlegten, daß der systematische Gedankenzusammenhang Kierkegaards dieses Radikal-Religiöse nicht nur unbewußt-faktisch im entscheidend Katholischen verankert, sondern auch bewußt die katholische Möglichkeit sichtet, oder wenigstens zu sichten sich anschickt, so geht die Frage nach der Art des Radikal-Religiösen notwendig auf die Art dieses Katholischen. Wollen wir also die Frage in ihrer letzten Schärfe, so ist es die Frage zwischen zwei K a t h o l i z i s m e n , die zur Wahl stehen. Beide Katholizismen sind in gewisser Weise dem offen, was uns eben zu unserer Fragestellung trieb: die Weite der Spannweiten und das brütende Chaos. Beide Katholizismen aber haben ihren Fixpunkt, von dem aus sich diese Weite richtet und dieses Chaos langsam ordnet, jeweils anders. Bei dem einen ist er so etwas wie die „Wurzel", die von der Tiefe her ruhig atmet und formt in das Gewirr und Drängen des Wachstums. Bei dem andern ist er wie das „Ziel", das alles sehnsüchtige Schweifen, so sehr es abirren mag, auf sich zu lenkt. Den ersten Katholizismus könnte man als „ K a t h o l i z i s m u s der N a c h t " bezeichnen, weil er in der Nacht der Wurzel ruht. Er ist so tief in Ruhe gewurzelt, daß alle Witterungen der Welt und des Lebens durch seine Adern rasen können, bald bis zur täuschenden Ähnlichkeit mit entfesselter Leidenschaft, bald bis zu ebenso täuschender Ähnlichkeit mit morbider Dekadence, ohne daß hierdurch etwas anderes zu Endergebnis sich ereignete als Lösung und Durchbruch eines überwältigend strömenden Reichtums der Seele. Alle Witterungen, so sonderbar und erschreckend sie auch aussehen mögen, sind nur im Dienst dieser mählichen Auflockerung, ja Aufwühlung aller angsthaften und selbstsüchtigen Starrheiten und Krusten, im Dienst eines wirk-
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liehen Aufreibens jeglicher rein vitaler Robustheit, weil der „natürliche Mensch" zu grobe Sinne hat für das „sanfte Säuseln" der Ankunft des Herrn. Alle scheinbar begehrlich wühlende Leidenschaft ist nur die Begleiterscheinung der Rauchwolken, darin der „natürliche Mensch" im durchbrechenden Feuer Gottes verqualmt, alle scheinbar siechende Morbidität nur der Verwesungshauch des Absterbens desselben „natürlichen Menschen", vielleicht manchmal so stark, daß er das Tiefere verdeckt, die religiös-sensible Zartheit des Geist-Menschen, so unglaublich zart, weil sein Leben ein beständiges Lauschen auf die Stimme dessen ist, der als der Unsichtbare auch der Unhörbare ist und Unspürbare, unsichtbar und unhörbar und unspürbar für das unabgestorbene „natürliche" Sehen und Hören und Spüren und darum nur sichtbar und hörbar und spürbar in seinem Tod. Es ist Leben im Tod, und darum vielleicht die unzerstörbare Gottes-Gesundheit des Geist-Menschen (sein „wer kann uns widerstehen" des Römerbriefes 8, 31) in einer „natürlichen" Erscheinungsform, die einer Morbidität täuschend ähnlich sein könnte. Der zweite Katholizismus wäre demgegenüber ein „ K a tholizismus der Sehnsucht". Es ist der Katholizismus, wie er gerade in der Romantik nicht allzu selten war und insofern Kierkegaard als dem „größten Romantiker" nicht fremd zu sein brauchte. Hier ist Katholizismus das Ziel beständiger Sehnsucht, ja fast Grenzidee im Sinn des Marburger Kantianismus, d. h. darum immer nur ersehnt und geahnt („Sehnsucht" und „Ahnung" als die Romantikerworte), daß hierdurch der „unendliche Progreß" möglich sei, nur hier nicht als Fortschritt von Stufe zu Stufe, sondern im Sinn eines immer neu und sprühender wühlenden Chaos. Es ist Katholizismus im Sinn jener Romantiker, die bei der Lektüre Kierkegaards teils unwillkürlich dem Leser einfallen, teils von Kierkegaard selbst ausdrücklich genannt werden; das elektrische Sprühen Baaders zwischen den Polen von Theosophie und Katholizismus, das unheimliche Sich-selbstweiter-spinnen und Sich-in-sich-selbst-hinein-verspinnen der Märchen-Phantasie Clemens Brentanos, der immer unberechenbare und bis ins Alter hinein unterirdisch grollende
— 107 — Vulkan Görres, das ekstatische Schauen Novalis' durch und in der Nacht des Todes, immer wieder über das Menschliche hinaus und doch immer wieder das Göttliche humanisierend. Es ist ein Katholizismus, dem, wie es scheint, darum von Zeit zu Zeit die unerhört hellen Einsichten gelingen und sich auch in eine Sprache kleiden, die der Einfachheit der Schrift gleichen könnten, weil sie in dieser ganz reifen Form für den, dem sie entquellen oder dem sie als „freie Kinder Gottes" (nach dem Goetheausdruck) geschenkt werden, religiös unverbindlich sind und darum eine ästhetische oder rhetorische Idealität annehmen können, also gerade durch ihre Höhe und Reife eine persönliche Unwirklichkeit (gemäß dem Newmanwort) verdächtig anzeigen, eine geheime „Literarität", und eine „Literarität", die gerade zu ihrer Entstehung des Gegenpoles des wühlenden, nie beruhigten, inneren Chaos bedürfte. Es wäre hier (natürlich rein faktisch-objektiv, nicht subjektiv-intendiert) das chaotische, nie gelöste Wühlen der Erlebnisse fast wie „Anlaß" des literarischen Schaffens. Zwischen diesen zwei Katholizismen steht konkret unsere Frage nach dem Katholizismus Kierkegaards. Ist es mehr Katholizismus der Nacht ? Ist es mehr Katholizismus der Sehnsucht? Indem aber diese gesamte Fragestellung von der Psychologie aufgewühlten Lebens her kommt, indem sie weiter zum mindesten als Einschlag die spezifisch romantische Aufgewühltheit betrifft, hierdurch nimmt sie letztlich jene konkrete Form an, die von dieser spezifisch romantischen Aufgewühltheit her sich bedingt, die ebenso von Kierkegaards persönlichem Leben aus gefordert ist und die auch Schrempf ausdrücklich sichtet: die S t e l l u n g zur Frau. Das Problem der Psychoanalyse ist wiedergekehrt, um hier positiv überwunden zu werden. Der romantischen Dialektik (als der literarischen Form der Aufgewühltheit) ist es nach Alfred Bäumlers wahrer Beobachtung eigen, daß sie an Stelle der Aufklärungsdialektik zwischen Subjekt und Objekt die Dialektik zwischen Mann und Frau setzt. Das ist die Grundhaltung der „erotischen" Philosophie Baaders; das ist die ausdrückliche Problemstellung der Schriften des frühen Görres („Glauben und Wis-
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sen" usw.); das ist das Zentralproblem Bachofens zwischen Vaterherrschaft und Mutterherrschaft; das ist das zeugende Novaliserlebnis, die Frühentrissene, die die Religion der Nacht und des Todes begründet; das ist der Umtrieb in der Heimatlosigkeit Clemens Brentanos, zwischen Sophie Mereau und Katharina Emmerich. Das ist aber ebenso ganz unmißverständlich das Geheimnis in Kierkegaard: das Erlebnis der aufgelösten Verlobung mit Regine Olsen und doch die lebenslange Treue zu ihr; der brutale (brutal bis zu Heimtücke der Verstellung) Bruch mit ihr und das Verhältnis zu ihr doch das unlöschbare Symbol, darin Mensch und Welt und Gott sich darstellen; die „unglückliche Liebe", in deren Bild sowohl Transzendenz des lutherischen „existentiellen Christentums" wie seine Überwindung ins Katholische sich zum mindesten unbewußt spiegeln. In beiden aber ist das Problem der Frau ein „metaphysisches". Die Romantik sieht es als mehr philosophische Metaphysik, in den Gesichtspunkten von Ursprung und Ideal. Die Nachttiefe des Mütterlichen ist die Nacht des Ursprungs, die Uchte Unberührtheit des Jungfräulichen die Lichtheit des Ideals. Kierkegaard sichtet es als im eigentlichen Sinn christliche Metaphysik: das Zwischen von Erbsünde und Erlösung im Zeichen der Frau, jene doppelte Unendlichkeit der Frau, von der wir früher sprachen. So ist von selbst ersichtlich, wie hierin auch die Frage nach dem Sinn eines (wenigstens unbewußten) Katholizismus Kierkegaards zu ihrer schärfsten Form kommt. Denn für die sogenannten Unterscheidungslehren zwischen Luthertum und Katholizismus war, gemäß dem Empfinden von drei Jahrhunderten, die Stellung zur Frau das schärfste Symbol der Trennung: Luthertum als „Christus-Christentum" und Katholizismus als „Marien-Christentum", Luthertum als „EheChristentum" und Katholizismus als „JungfräulichkeitsChristentum". Es ist einmal das p h i l o s o p h i s c h e P r o b l e m der F r a u , wie es im philosophischen Gegensatz der Romantik gegen die Aufklärung sich umzeichnet: eine Philosophie, die die Ur-Realität des Menschlichen positiv einbezieht
— 109 — nämlich die Doppelung des Menschen in Mann und Frau, gegen eine Philosophie, die mit einem illusionären „reinen Bewußtsein" einsetzt; weiter eine Philosophie, die in die Ursprünge des Geschichtlich-Realen zurückgeht, in den Muttergrund des Lebens, und darum mit jener differenzierenden Einfühlung in das Lebendige, das die besondere Genialität der Frau darstellt, — gegen eine Philosophie, die von der Realität weg strebt in die Idealität des Systems der reinen Begriffe, und darum mit der harten Gewaltsamkeit des Mannes, der das Leben und die Person unter das „Allgemeine" und die „Sache" beugt; — eine Philosophie darum endlich, die zu einer positiven Bewältigung des Problems des Weiblichen wenigstens hinstrebt, — gegen eine Philosophie, die in negativer Flucht sich davon abwendet oder die Kühle des Ignorierens fingiert, um entweder in verkrampfte Starrheit zu verholzen (Kant) oder in den UmschlagsParoxysmus zwischen offizieller unnahbarer PhilosophieGeistigkeit und privater Sexus-Verknechtung unterzugehen. Es liegt in dem Ganzen aber tiefer (und insofern mußte die Romantik im Fragment stecken bleiben, im Fragment, das bald in den Farben ultravioletten Tiefsinns funkelt, bald in der Bitterkeit der Ironie schwehlt), es hegt tiefer das c h r i s t l i c h e Problem der F r a u , das Problem des Christentums zwischen Eva und Maria: die Frau in der sündigen Unendlichkeit (vgl. S. 51 ff.) Evas als menschlicher Ursprung der Nacht-Welt der Erbsünde1), die Frau in der makellosen Unendlichkeit der jungfräulichen „Mutter Gottes" als menschlicher Ursprung des Gott-Tages der Erlösung, der Bernhardische Tiefsinn des ,,si vir non cadit nisi per feminam, etiam non crigitur nisi per feminam", die Frau als der Ursprung im Menschlichen, Ursprung der Erbsünde und Ursprung der Erlösung, und hierin die Verwirklichung und Überverwirklichung dessen, was die Philosophie der Romantik ahnte. Es ist Erfüllung ihrer Ahnung. Denn die Welt und Menschheit und Geschichte, die wir leben, ist nur diese eine ') Im Sinne der Verleitung zur Erbsünde ist E v a der „Ursprung", im Sinne des Sitzes der Formalität der Erbsünde ist Adam ihr fortzeugender Quell (vgl. hierzu und ff. Ringen der Gegenwart I, 528 ff.).
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einzige: Welt und Menschheit und Geschichte der Erbsünde und Erlösung, und damit Welt und Menschheit und Geschichte des doppelten Ursprungscharakters der Frau, Erbsünde-Ursprung und Erlösungs-Ursprung. Es ist Über-Erfüllung ihrer Ahnung. Denn E v a als Ursprung der Erbsünde weist zurück auf die übernatürliche Erhöhung des Menschengeschlechtes, auf die ursprüngliche Bestimmung der Ehe als gottbegründeten Quellgrundes göttlichen Lebens, des Lebens der Teilnahme an der göttlichen Natur, des Lebens der „Kinder des Vaters", ,,dem Sohn eingeformt", „den Heiligen Geist im Herzen". Es ist also Ursprung der Erbsünde nicht im Sinn gewöhnlicher Menschensündigkeit, sondern im geradezu dämonischen Sinn fortgeworfenen Gottes-Lebens. Es ist „Unendlichkeit" des brütenden Chaos (materia, potentia, nach dem früher zitierten Thomaswort) nicht nur im verschärften Sinn des Sünde-Chaos, sondern in einem streng übernatürlichen Sinn, sündiges Unendlichkeit-Chaos, das groß und unauslöschlich die Züge eines verlorenen „Gott mein Leben" trägt. Aber ebenso ist Maria als Ursprung der Erlösung nicht Ursprung einer gewöhnlichen Idealität, nur leuchtende Unendlichkeit der reinen Klarheit (das Symbol der ThomasUnendlichkeit der forma: die Rafael-Madonna). Sondern sie ist im ganz strengen wörtlichen Sinn Ursprung der Unendlichkeit Gottes in Seinem Eintritt in die Welt und Menschheit und Geschichte, im höchsten Sinn die Unendlichkeit der forma in sich tragend, die Ipsa Forma, den Actus Ipse. Sie ist als Mutter Gottes Ihn empfangend und nährend und gebärend, als Mutter Gottes, des als „Haupt und Leib Ein Christus" der Kirche (als der Welt, der Menschheit, der Geschichte) Fortlebenden Ihn zum immer neuen „nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir" der Glieder Christi fortempfangend, fort-nährend, fort-gebärend. Sie ist die Mutter Gottes als Mutter der Kinder Gottes, die Mutter Christi als Mutter der Christen, die vom Heiligen Geist Überschattete als das „Gefäß des Geistes" (vas spirituale), das in seiner Fülle in die Geist-Menschen überfließt. Die Liebe, die „Gott ist" im innergöttlichen Liebes-Eins des Vaters und Sohnes im Geist wie in der messianischen „processio ad extra",
— III — dem Ausgehen in Welt, Menschheit und Geschichte hinein, dem Ausgehen, darin die Fülle des innergöttlichen Lebens, das die Liebe ist, zum innergöttlichen Leben der Heilsgeschichte wird, die über-ökonomische Trinität zur ökonomischen, diese Liebe, die Gott ist, strömt aus in Welt, Menschheit und Geschichte hinein durch die Eine Pforte, die sich öffnend geschlossen ist und geschlossen sich öffnet, durch die in Gott und durch Gott verschlossene und doch darin Gott zu den Menschen hin schenkende Liebe der Jungfrau-Mutter. Es ist ein Zweifaches über alles Ahnen erfüllt: die K n ü p f u n g des W o r t e s Liebe an die F r a u und die Doppeldeutigkeit dieses Ganzen zwischen dämonischer und göttlicher Liebe und dämonischer und göttlicher Unendlichkeit der Frau. Gott ist die Liebe, und darum ist alle Liebe in ihrer Tiefe entweder Gott-Verrat oder Gott-Innesein. Als Gott-Verrat ist die Liebe das Verhängnis von der Erbsünde her: per Evam. Als Gott-Innesein ist die Liebe die Seligkeit von der Erlösung her: per Mariam. Damit ist die wahre „Existentialität" sowohl sogenannter reiner Existenzphilosophie wie der entscheidenden Tiefe des formgebenden „existentiellen Christentums" unauflöslich an die S t e l l u n g zur F r a u geknüpft: entweder im Sinne Adams, der einerseits unfrei sich von Eva verlocken läßt, andererseits alle Schuld auf sie schiebt, um sich in seiner „reinen Geistigkeit" verzweifelt zu retten, — oder im Sinne des „neuen Adam", der ganz und gar vertrauendes Kind der „neuen Eva" ist, nicht nur hineingeschmiegt in ihre reine Fraulichkeit, sondern als Kind aus ihrem Fleisch und Blut, und doch anderseits „claustrum virginitatis meae non violavit", der Sohn der unberührten Jungfrau „ante partum, in partu, post partum", in der Nähe der Liebe die Distanz richtend, bis zur Distanz von Kana, bis zur Distanz von Golgatha, zwar nicht abweisende Distanz, sondern Distanz der liebenden Ehrfurcht, aber doch Distanz, weil auch die Liebe der Jungfrau-Mutter nur ein Abgeleitetes ist, ein Gleichnis, — nur Gott allein, der Sohn im Eins des Geistes mit dem Vater, die Liebe.
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In diesem Sinn liegt tatsächlich die E n t s c h e i d u n g s f r a g e zwischen L u t h e r t u m und K a t h o l i z i s m u s (aber auch zwischen unbewußtem Katholizismus des Lutheraners und unbewußtem Luthertum des Katholiken) und damit die Entscheidungsfrage über das Geheimnis Kierkegaards hier. Das Regine-Olsen-Erlebnis ist nicht persönlicher Zufall, sondern metaphysisches, ja hier dogmatisches Symbol. Denn die gegensätzliche Zweiheit des lutherischen „Christus-Christentums" und „Ehe-Christentums" ist in Wahrheit die Zweiheit einer leidenschaftlichen Negation: der Negation Mariens und der Negation der gottgeweihten Jungfräulichkeit des Priester- wie des Ordensstandes. So wird es einerseits zu dem gewollt „rein geistigen Christentum" (der frau-feindlichen Männlichkeit), andererseits zum Absturz, wie wir ihn von Kierkegaard selbst geschildert fanden, in den „Syllogismus des Fleisches" der alleinseligmachenden bürgerlichen Ehe. Dementsprechend liegt die innere katholische.Spannung zwischen wahrhaft religiöser Verehrung des Fraulichen in der Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter und jener ehrfürchtigen Distanz zum Fraulichen, wie sie im Primat der Jungfräulichkeit lebt und in diesem Primat, wie er heiligend notwendig auch die Ehe durchklärt, weil sie das Mysterium der jungfräulichen Einheit der Kirche-Braut zu Christus-Bräutigam ist, das Mysterium einer jungfräulichen Fruchtbarkeit. Es ist eine Spannung, die in ihrem objektiven Sinn wahrhaft „singende" Spannung ist, das unsagbare Singen der richtig gespannten Saiten. Denn sie ist positiv überwindende Verklärung und verklärende Überwindung des Sphinxantlitzes der Frau, ihres Zwischen zwischen dämonischer Unendlichkeit der Erbsünde und göttlicher Unendlichkeit der Erlösung. Wenn die Frau nach dem geheimnisvollen Wort der Genesis dasjenige ist, dahinein der Mann auswandert aus „Vater und Mutter", um „seinem Weibe anzuhangen", also in ihr seine Heimat findet, so hat dieses Wort in seiner Auferstehung in der Epheserstelle vom „Geheimnis in Christo und der Kirche" (Eph. 5, 31 f.) seine eigentliche Deutung. Der Mann ist wie das ordnende Haupt, die Frau wie der
— 113 — Reichtum und die Fülle des Leibes. Er ist wie das Gesetz, die Ordnung der Heimat, sie aber wie das unmittelbare Leben der Heimat. Er ist das Statut, sie ist die Heimat selbst. Aber beides als „Geheimnis in Christo und der Kirche". D. h. einmal als heiliges Geheimnis, das keinen rücksichtslosen Zugriff erlaubt, weder Zugriff „unbeschnittener Leidenschaft" (mit dem Ausdruck Kierkegaards), noch Zugriff des Hasses als einer ja nur verklemmten Leidenschaft. Dann aber als Geheimnis „in Christo und der Kirche", d. h. Haupt wie Heimat allein von Gott her, im Sterben des „Menschen des Fleisches" in den „Meqschen des Geistes", aber des Geistes C h r i s t i , und darum wiederum in Überwindung alles Stolzes und Hasses des Geistes in die Demut des menschgewordenen Gottes und seines „non horruisti virginis uterum", d. h. seiner distanzierenden göttlichen Huldigung zur Frau: Ave Maria! So aber ist es in der Tat, wie man leicht sehen kann, der entscheidende Punkt jener Überwindung einer überspannten Transzendenz (die zu einer schlimmeren Immanenz abstürzt), um die es in allen Fragen der E x i s t e n z - P h i l o s o p h i e ging. Die Geistigkeit der Jungfrau ist wie d a s Symbol jener zu Gott hin lauschenden Geistigkeit, die sich abzuheben hatte gegen eine stolze Geistigkeit des „wie Gott": „Einsamkeit zu Gott" gegen „Einsamkeit als Gott". Der Wirklichkeitssinn der Mutter aber gibt sich wie das Symbol jener demütigen Menschlichkeit, die sich ebenfalls abzuheben hatte gegen ein gefährliches „allzu sehr Geist": nicht ein Wirklichkeitssinn, der sich rein herrscherlich zur Wirklichkeit verhält, sondern ein Wirklichkeitssinn geklärt durch das Offensein 4es Empfangens und das Sich-Einfühlen demütiger Liebe. In dieser tieferen Form wird nun unsere frühere Frage der zwei Katholizismen (Katholizismus der Nacht oder der Sehnsucht) zur letzten, entscheidenden Frage an Kierkegaard.
P r z y w a r a , Das Geheimnis Kierkegaards.
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Geheimnis der Seele. i. Das Geheimnis des Werkes Kierkegaards hat mit der Frage nach der Art seines (wenigstens unbewußten) Katholizismus und mit dieser Frage, insofern sie notwendig in den mariologischen Katholizismus hineinführte, den Punkt erreicht, wo es entscheidend durchsichtig ist in das persönliche Geheimnis, in das Geheimnis der Seele Kierkegaards. Denn das Geheimnis, das dunkel und bestimmend in dieser Seele steht, ist sein Gotteskampf gegen und um Regine Olsen. Es wird mithin ein doppelter Weg einzuschlagen sein. Einmal von dem bisherigen her: aus dem allgemeinen mariologischen Katholizismus in die persönliche Mariologie Kierkegaards und von hier in die Frage um Regine Olsen. Dann aber von diesem Geheimnis der Seele Kierkegaards zurück in das Geheimnis seines Werks: sein persönlicher Seelenkampf als Echtheitsprobe auf die Problematik dieses Werks, wie wir sie sich entwickeln sahen. So lösen sich zwei Fragen in eins: die bisherige (mit der das Geheimnis des Werkes Kierkegaards schloß) nach der Art des bei ihm vermeinten Katholizismus und die neue nach dem Geheimnis seiner Seele. Wir müssen demnach ausgehen von der Problematik des Katholizismus, wie er sich uns eben am Schluß gab: als K a t h o l i z i s m u s des „zwischen E v a u n d M a r i a " , In dieser Form zeigt er zunächst allgemein auf den innergeschöpflichen Ursprung (im früher bestimmten Sinn von Ursprung) seines grundlegenden „zwischen Erbsünde und Erlösung". Die Erbsünde ist zwar in der Taufe „getilgt", aber ist in ihren „Folgen" nicht voll aufgehoben. Mithin ist die Erlösung zwar wirklich geschehen, aber nicht voll ausgewirkt. Wir stehen also in einem Zwischen: „sind" bereits Kinder Gottes, aber, gemäß den Worten des Römerbriefes, hin-gekreuzigt und hin-stöhnend zur Voll-Erlösung,
— 115 — und Voll-Erlösung gerade vom „Leib dieses Todes". Erbsünde aber zeigt zurück auf Eva, Erlösung setzt ein in Maria, ein „zwischen Erbsünde und Erlösung" ruht also in einem „zwischen Eva und Maria". Damit aber gewinnen unsere zwei Katholizismen von früher (Katholizismus der Nacht uäd Katholizismus der Sehnsucht) ebenfalls ihre Gestalt vom „innergeschöpflichen Ursprung" her. Das Chaotische in ihnen ist der Ausdruck des „noch Erbsünde (in ihren Folgen)", also, vom Ursprung her gesehen, wurzelnd in einem „noch Eva". Die Klarheit mitten darin ist die Offenbarung des „schon Erlösung", also, vom Ursprung her gesehen, ein „schon Maria" bezeugend. Insofern aber der Katholizismus der Nacht die ruhige Klarheit zur Wurzel hat (als Katholizismus eines „Wurzeins in . . ."), gibt sich dieses „zwischen Erbsünde und Erlösung", wie es in das „zwischen Eva und Maria" rückweist, in einem Vorwiegen von Erlösung, wie es auf ein Vorwiegen von Maria hinzeigt, während umgekehrt der Katholizismus der Sehnsucht (als Katholizismus eines „Zielens zu. . .") offenbar durch ein Vorwiegen von Erbsünde bezeichnet ist, wie es einem Vorwiegen von Eva entspricht. In dem Gegeneinander dieser beiden Formen ist also unser Katholizismus des „zwischen Eva und Maria" zu sichten. Die erste Fassung wäre ein Höchstmaß der Annäherung zu „Maria a l l e i n " als Ursprung eines „Erlösung allein". Hier wäre alles Hin-gekreuzigtsein und Hin-stöhnen von der Tiefe her in eine unsagbare Klarheit und Ruhe befreit, wenngleich es in den Vordergründen ein Hin-leiden und Hinstöhnen bliebe, ja vielleicht sogar in einem gewissen Sinn ein empfindlicheres, weil diese letzte innere Klarheit auch eine größere innere Zartheit mit sich bringt: der „Pfahl im Fleisch" dessen, der „in den dritten Himmel verzückt war" (wie Kierkegaard im „Pfahl im Fleisch" es selber zeichnet). Es wäre damit, vom Ursprung des „Maria allein" her, gewiß eine große innere Befreitheit und Klarheit in Bezug auf das konkret-praktische „zwischen Eva und Maria", das Sich-ausbreiten der Klarheit der göttlichen Unendlichkeit in der Frau, die Frau der „aurora consurgens", der „aufgehenden Morgenröte" des Lebens der Himmel, — 8*
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wenngleich wiederum vielleicht von jener letzten Entrücktheit her die Realität des „zwischen Eva und Maria" schmerzlicher spürbar wird. Aber es ist in beiden Fällen ein akzentuiert „erlösendes" Leiden, d. h. im Sinne des Mitwirkens an der Erlösung: gerade weil in der Tiefe „erlöst", darum blutender und sterbender mitwirkend, in Bluten und Sterben, an der Erlösung der Welt. Umgekehrt wäre die zweite Fassimg ein Höchstmaß des Verhaftetseins im „noch E v a " als Ursprungs des „noch Erbsünde". Hier trüge folgerichtig alles Hin-leiden und Hinstöhnen den betonten Charakter eines Hin-leidens und Hinstöhnens zur eigenen Erlösung, aus quälender Unfreiheit und Zerrissenheit herauf zu ersehnter Freiheit und Klarheit. Es wäre, vom Ursprung her, ein konkret-praktisches Leiden unter der anderen Unendlichkeit der Frau, der dämonischen Unendlichkeit Evas, der „Frau mit der Schlange", nicht zwar der Frau, die die Schlange ist, da Eva Verführte und Erlöste selber ist, aber immerhin der Frau, die auf die Schlange hört, — wenngleich auch dieses Leiden bereits Leiden eines Erlösten, weil Getauften, ist, und insofern unter der milden Klarheit der Jungfrau-Mutter steht, freilich als ein ganz intim-persönliches „ad te suspiramus, exules filii Evae". Das aber ist der Hintergrund für das spezifische Marienbild K i e r k e g a a r d s , wie es persönlich konkret auf das Regine-Olsen-Problem weist. Denn das ist ja allgemein die Probe darauf, ob einer wirklichkeitshaft „Kind Mariens" ist und wie er es ist, im Sinne mehr des ersten oder mehr des zweiten Katholizismus: inwieweit er Maria in der Frau überhaupt sieht. Die Seuse-Begebenheit, da er einer Frau den Steg überließ: „Eia, hebe Frau, meine Gewohnheit ist es, daß ich allen Frauen gern Zucht und Ehre entbiete um der zarten Gottesmutter von Himmelreich willen" (Kap. 20 der Vita). Dieses spezifische Marienbild Kierkegaards ist die Jungfrau-Mutter des „Auch deine Seele soll ein Schwert durchdringen", die Jungfrau-Mutter, die mit dem Sohn das Höchste der Leiden, die Gott-Verlassenheit mitleiden soll, zum „Augenblick. . . , wo sie beim Anblick des Leidens
— 117 — des Sohnes — zweifeln wird, ob das Ganze nicht eine Einbildung war, ein Betrug, das Ganze, daß Gabriel von Gott gesendet ihr verkündigt hatte, daß sie die Auserwählte sei" „TG II, 333). „Wie Christus ruft: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen — so hat auch Jungfrau Maria ein menschlich dem Entsprechendes durchmachen gemußt. Ein Schwert soll deine Seele durchdringen — und des Herzens Gedanken offenbar machen, auch das deine, ob du noch glauben darfst, noch demütig genug bist zu glauben, daß du in Wahrheit die Auserwählte bist unter den Weibern, die, welche Gnade gefunden hat vor Gott" (ebd.). Es ist ein Marienbild, das in beide Katholizismen zurückweist, und zwar in einer ganz neuen und für den ersten Augenblick erschreckenden Weise. Aber die Art, wie Maria hier in die nächste Nähe der Verlorenheit der Sünde gerückt wird, in ein fast Taumeln im höchsten Augenblick der Erlösung zu einem unerhörten Abgrund der Verzweiflung, ist ja von Kierkegaard selbst als Mit-Leiden des gleichen, noch rätselhafteren Leidens des Gottmenschen selbst gezeichnet: als Mit-Leiden des Höhepunktes Seines für die Sünder der Gott-Verlorenheit stellvertretenden Leidens, des Leidens gerade der Gott-Verlassenheit1). So spricht in diesem Marienbild unser doppelter K a t h o l i z i s m u s von der letzten Tiefe des jeweiligen „Ursprungs" her. Als persönliches Mitleiden der Gott-Verlassenheit des Gottmenschen ist es der unsagbar tiefste Hinabstieg Marias zu Eva, man könnte sagen das durchlebte Stehen in jenem „primum instans conceptionis", darin sie, gemäß dem Dogma von der unbefleckten Empfängnis zwar sofort Kind Gottes ist, aber „intuitu meritorum Christi Jesu S a l v a t o r i s humani generis", also als Erlöste. Das besagt einmal — und insofern ist hier der „Ursprung" des K a t h o l i z i s m u s der Nacht (des „Wurzeins in. . .") am schärfsten gefaßt — ein solches durchlebte Stehen, das den Abgrund der Eva-Verlorenheit von der ') Über den letzten im „Zweifeln" liegenden, unkatholischen Akzent vgl. unten Nr. 5.
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alles überschauernden Seligkeit der Mutter des Erlösers her durchlebt. Es ist dann in dem Elisabethwort ,,beata quae credidisti" „Selig, weil du geglaubt hast!" das „beata" betont, das Selig-sein mitten in der abgründigen Dunkelheit des Glaubens, mitten in seinem für das Empfinden des natürlichen Menschen ungeheuerlichen, schwindelnden Wagnis. Es ist dann, in dem mit-opfernden und mit-sühnenden Durchkosten der Eva-Verlorenheit dasselbe, was die katholische Theologie von der Gott-Verlassenheit Christi sagt: daß Er mitten in ihr die Selige Anschauung Gottes gehabt habe, — nicht zu Linderung des Leidens, sondern gerade mit der Folge seiner Verschärfung, da die Gott-Verlorenheit nicht stärker durchlitten werden kann als gerade vom durchschauernden Gott-Besitz her. Es ist — vom Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis her — ein betontes Stehen im durchlebten „primum instans conceptionis", insofern dieser Moment das entscheidende „Licht in der Finsternis" ist, der Durchbruch der Nacht der Erbsünde, der erste Morgenstrahl, aber gerade darin bis in die letzte Fiber zitternd zur überwundenen grausigen Nacht hin. Von der andern Seite aber her — und so erhalten wir den „Ursprung" des K a t h o l i z i s m u s der S e h n s u c h t (des „Zielens zu . . .") in seiner Spitze — gibt sich dasselbe Geheimnis als ein solches durchlebte Stehen in dem „primum instans conceptionis", darin Maria den Abgrund der EvaVerlorenheit fast von ihm selbst her zur Höhe ihrer eignen Gnadenfülle als Mutter des Erlösers hin erlebt, — soweit es nur der Unbefleckt Empfangenen und allzeit Sündenreinen möglich, aber ihr als einer (kraft ihres Empfangensefns durch menschliche Ehe) „Tochter Evas" in einem letzten Bezug notwendig ist. Es ist dann in dem Elisabethwort, das wir anführten, einmal die Unterstreichung des „credidisti", d. h. die Unterstreichung der Nacht des „bloß" Glaubens. Es ist Durchleben des Glaubens nach der negativen Seite einer „göttlichen Tugend": Gott als sein formaler Gegenstand (objectum materiale), wie als sein formaler Beweggrund (motivum formale) und darum n i c h t s Geschöpfliches (kein Sehen, Spüren, Einsehen usw.) als innerlich formale Stütze des
— 119 — ungeheuren „auf Gott hin in Gott hinein" des Glaubens, so daß er von hier aus (nach dieser negativen Seite) wie höchste Verzweiflung aussehen mag, als, wie Kierkegaard es zugespitzt ausdrückt, „verzweifelter Sprung", als Verzweifeln" 1 ). Das ist aber dann in unserm Fall noch gesteigert, weil es um den Erlösungsglauben geht: um das Geheimnis eines Glaubens aus der Welt der Eva-Verlorenheit heraus in die erschreckende Un-Glaublichkeit einer aufgehenden Welt des „Gott als Kind einer Tochter Evas". So wird es, für das Empfinden des natürlichen Menschen und auch ganz objektiv als negative Seite des „bloß" Glaubens (denn auch Maria hat in ihrem irdischen Leben nicht die Selige Anschauung, die den Glauben aufhebt) fast zu dem, was Kierkegaard „Krankheit zum Tod" nennt. Es wird zum Tot-sein des natürlichen Menschen, weil und insofern er Kind Adams und Evas ist. Es wird zum Durchleiden einer wahren Todesnacht und einer Todesnacht, wie aller Tod von der einen Sünde her ist. Damit aber ist es, in diesem mit-opfernden und mit-sühnenden Durchkosten der Eva-Verlorenheit, wahrhaft das Mit-Leiden mit der unverminderten Realität der Gottverlassenheit Christi in ihrem eigentlichen Sinn: Mit-Leiden mit Seinem erlösenden Durchleiden, aber gerade darum Durch-leiden der Verlorenheit der Sünde. Christus selbst „trägt unsere Sünde" und hier in ihrem Abgrund, der in die endgültige Verlorenheit der Hölle 1 ) Das katholische Dogma betont freilich das „non contra, sed supra rationem" des Glaubens (als Noetisches des „non destruit, sed supponit et perficit naturam" der Gnade) und darum, als seine Anwendung, wahre „argumenta" und „signa certissima", auf die sie sich die „praeambula fidei" stützen, damit das „fidei nostrae obsequium" sei „rationi consentaneum" (Vatic. sess. 3, cap. 3; Denz. 1790), d. h. eine wahre „Vernünftigkeit" des Glaubens in dem Sinn, daß sowohl der Akt wie der Inhalt des Glaubens zum mindesten „nicht" sachlich „widerlegt" werden können (als Folge des „non contra rationem"). Aber diese certitudo praeambulorum (die „Vernflnftigkeit" des Glaubens) ist scharf zu scheiden von der inneren certitudo fidei (dem ,,Gründen" des Glaubens), für die das unverminderte „supra rationem" gilt. Diese eigentliche formale Glaubens-Sicherheit ist darum allein im motivum increatum, d. h. noetisch in der auctoritas ipsius Dei (Denz 1789) und ontisch in der illuminatio et inspiratio Spiritus S. (ebd. 1791). In diesem Sinn ist Glauben „Nacht" (obscuritas fidei). (Vgl. Ringen der Gegenwart II, 493 f.)
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weist, in die „poena damni", in den Gott-Verlust, — und Maria mit ihm. Dieses ganze Leiden hat aber noch eine letzte Verschärfung, in der das (relative) „noch Eva" der Gottesmutter eigentlich heraustritt. Ihr Leiden ist — vom Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis her — ein betontes Stehen im durchlebten „primum instans conceptionis", insofern es heißt „intuitu meritorum . . . Salvatoris", d. h. insofern in diesem primum instans Heiligung ist auf Grund der Erlösung. Darin ist — gemäß katholischem Dogma — gewiß zunächst der Titel der Mutter des Erlösers betont, weil auf ihn allein hin diese Heiligung im ersten Augenblick ihres Daseins besteht. Darin ist gleichzeitig der Titel auf Mitwirkung am Erlösungswerk selbst auferlegt, also auf ein Mit-Leiden bis zur Leidenshöhe der Gottverlassenheit am Kreuz. Aber es liegt noch ein Drittes darin, was zum Geheimnis des verschärften Leidens Mariens wird, zu einem Leiden ohne den Trost des Mit-leidens. Maria selbst ist als Erlöste Zu betrachten, zwar nicht in dem Sinn, daß in ihr auch nur einen Augenblick die wirkliche Erbsünde (reatus peccati originalis) herrschte, aber doch in dem geheimnisvollen Sinn, den die Theologie das „debitum" eines solchen „reatus" nennt, d. h. ein „eigentlich dazu gehören sollen", eine Art indirekter „Rechtstitel" auf die Erbsünde, der damit nicht nur berechtigt, sondern zwingt, Maria im Sinne des „intuitu meritorum . . . Salvatoris" als Erlöste anzusehen, gewiß nicht als Erlöste im gleichen Vollsinn wie wir „verbannten Kinder Evas", aber doch in einem wahren Sinn, der diese Worte der Definition rechtfertigt. Das aber bedeutet dann, was als Letztes in den Kierkegaard-Worten über die Schmerzensmutter liegt: nicht nur ein Mit-Leiden mit der Gott-Verlassenheit, wie sie der Gottmensch litt, sondern hier das Eintreten der letzten Distanz zwischen Gott und Kreatur, wie sie auch, im härtesten, von Kierkegaard nicht berührten Sinn, als Schwert durch die Seele der Jungfrau-Mutter schneidet, nämlich als das „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen" mitten in der großen Einheit ihres Mit-Leidens mit Seinem höchsten Leiden, mit Seiner Gott Verlassenheit. Maria, als (im Sinne
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des „debitum") erlöste Tochter Evas muß zugleich ihr eigenes Erlösten-Leiden, den Abgrund der Eva-Verlorenheit, allein leiden und zurückbleiben vor dem bittersten Erlöser-Leiden ihres göttlichen Sohnes, vor Seinem rein stellvertretenden Durchleideh des Höllenabgrunds der Sünde (ihrer Gottverlassenheit) und einem Durchleiden, das Er vollzieht wiederum in einer Lage, die Ihn scharf von der Mutter trennt, nämlich als Gottmensch und darum seiner Menschheit nach als in der Seligen Anschauung Gottes. Als das besondere Marien-Leiden erscheint das „deine Seele durchschneidende Schwert" einer schauernden Einsamkeit des gottnahen Geschöpfes, das in der höchsten Gottnähe wie zurückgestoßen ist, und nicht nur zurückgestoßen ist in einem Bedürfen, in einem Trostverlangen, sondern in einem Helfenwollen, in einem Trostspendenwollen. Es ist nicht nur die schutzbedürftige Frau, der gegenüber hier die Scheidung eintritt, sondern die mütterliche Frau, deren Bedürfnis es ist, Schutz zu schenken. Es ist nicht nur die zarte Braut, es ist die selbstlos liebende Mutter. Und es ist hier die zarteste der Jungfrauen, die „virgo virginum", die „Braut des Heiligen Geistes", — und es ist hier die größte der Mütter, die „mulier fortis", die wahre Mutter Christi, — und es ist die Mutter Christi als die Braut Christi, als der Heilige Schoß, dessen Blüte Er ist, und als der Heilige Schoß, der (in der katholischen Wahrheit von der Mittlerschaft Mariens) der jungfräuliche Mutterschoß des „Haupt und Leib Ein Christus" ist, die Mutter Christi als Mutter der Christen, ihre Mutterschaft Seines Lebens als Brautschaft Seines Fortlebens, — und das alles immer durchatmet durch die reinste Hingabe des „Siehe die Magd des Herrn! Mir geschehe nach deinem Wort!" und durchatmet auch und gerade unter dem Kreuz, — und auch und gerade hier die Scheidung durch das Schwert! *
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Damit aber, mit diesen letzten, äußersten Ausdeutungen des Marienbildes Kierkegaards, wird das ganz sichtbar, was dieses Bild für sein L e b e n s p r o b l e m der a u f g e l ö s t e n V e r l o b u n g mit Regine Olsen bedeutet: ein Klären und
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Verklären einer beide Teile bis in die äußerste Verzweiflung treibenden Trennung „um Gottes Willen", des unlösbar scharfen Entweder-Oder zwischen Gott und Mensch. Eine Menschenliebe, die alles Kranke und Trübe und Schwermütige wie mit einem Schlag zu einem frohen Leben in Gott zu klären schien, aus der der Flug zu Gott sich mühelos, wie von selbst erhob, und eben hierin die unerklärlich dunkle „Ordre weiter" aus einer schon einsetzenden Lösimg in das alte Elend der zehrenden Schwermut wieder hinein, um der absoluten Gotteshebe willen. Es ist ein Klären und Verklären dessen, was gerade Regine Olsen selber am schärfsten formuliert hat, „ G o t t . . . , dem er mich geopfert, sei es nun aus einer angeborenen Neigung zur Selbstquälerei. . . (ein Zweifel, den er selber hegte), oder wie ich annehme, daß es die Zeit und die Resultate seines Wirkens zeigen werden, infolge einer höheren göttlichen Berufung" (Lund ioo/i). Es ist nicht die Frage der Psychoanalyse: ob das Marienbild ein Symbol des Regine-Olsen-Erlebnisses sei oder das Regine-Olsen-Erlebnis vielmehr der Durchbruch in die Tiefe dieses Marienbildes. Das ist im Grund im Früheren schon ausgemacht. Es ist vielmehr, in Folgerichtigkeit der allgemeinen Korrespondenz unserer beiden Katholizismen zu dem Doppelsinn dieses Marienbildes, die Frage nach dem Sinn dieses Marienbildes, den es für Kierkegaard von dem eigentlichen Sinn seines Regine-Olsen-Erlebnisses her hat: nach der Seite des ersten Katholizismus der Nacht (des „Wurzeins in. . . " ) hin und damit in einem Vorwiegen des Marienbildes der Gottes-Braut und Gottes-Mutter, — oder nach der Seite des zweiten Katholizismus der Sehnsucht (des „Zielens z u . . .") hin und damit als Betonung des Marienbildes der Gottes-Braut und Gottes-Mutter. Wir können, unter Rückgreifen auf die eigentümliche Tagebuchstelle über die „Nacht des Unbedingten", die wir früher anführten, unsere Frage noch anders formulieren, so daß ihr Formalstes heraustritt. Die Stelle über das MitLeiden Mariens mit der Gottverlassenheit Christi bildet in den Tagebüchern das Schlußglied einmal zu den Stellen, wo die Gottverlassenheit Christi allein den merkwürdig häufig wiederkehrenden Betrachtungsstoff darstellt (TG II,
— 123 — 333» 34°. 3^4)> und dann zu den Stellen, die die „Nacht des Unbedingten" behandeln, sei es als grauende „Finsternis" (TG II, 339), sei es als Geblendetsein vom „Sonnenlicht der Ewigkeit" (ebd. I, IOI). Es ist damit eine geschlossene Darlegung der „ N a c h t " : Nacht Christi, Nacht Mariens, Nacht des Christen (Kierkegaard). Es ist aber damit ebenso, sowohl von dem eben dargelegten Doppelgesicht der Nacht Christi und Mariens her, wie durch das Doppelgesicht der „Nacht des Unbedingten (mehr negativ TG II, 339; mehr positiv TG I, 101)" eine „Nacht" im doppelten Sinn: „Nacht", die im Höchstmaß als „Nacht des Geschöpfes" erscheint und hierin als Grauen der Finsternis (TG II, 339) und darum als Nacht der Sehnsucht (entsprechend dem Katholizismus der Sehnsucht), — andererseits „Nacht" als „Nacht GQttes", d. h. als Gott-Inne-sein in seiner unbegreiflichsten Form, als Inne-Sein dem „unbegreiflichen Gott', wie Er gerade als Unbegreiflicher nicht anders erscheinen kann für geschöpfliches Fassen denn als die „hell-lichte Finsternis" des Pseudo-Areopagiten, als der „Deus tanquam ignotus" Thomas von Aquins, als die „Nacht" Johannes' vom Kreuz, also Nacht (letzter) Klarheit (entsprechend dem Katholizismus der Nacht). Die Nacht der Gottverlassenheit Christi und Mariens erscheint darum so bis ins Unerträgliche gesteigert, weil hier Nacht des Geschöpfes und Nacht Gottes unerhört sich durchdringen. Es ist Durchleiden der Nacht der ErbsündeVerlorenheit des einstmals gotterfüllten Geschöpfes, — aber in demselben Augenblick das Durchbrechen der unbegreiflichsten Seligkeit der Liebe, die Gott ist, das „unzugängliche Licht" dieser Liebe als Nacht. Es ist die Liebe des Vaters, der Seinen Sohn und Seine Mutter gerade darum jetzt am innigsten liebt, weil gerade jetzt durch beider grausige Nacht der Finsternis (tenebrae facrae sunt. . .) das Liebeswerk Seines Herzens vollbracht wird (consummatum est). Es ist aber, in einer entscheidenderen Tiefe, die Liebe des Vaters, weil hier das Geheimnis des innergöttlichen Lebens, die avavLefpahxlwaig (Dionys von Alexandrien) des Sohnes zum Vater im Geist, ihr Liebes-Eins im Geist der Liebe, seine „processio ad extra" hat, seine heilsgeschichtliche Ge-
— 124 — stalt: im „Vater, in Deine H ä n d e . . . " als dem Ausklang des „Gott, mein Gott, wie hast Du mich verlassen". Die innerheilsgeschichtliche avmu