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German Pages 160 [161] Year 2014
Folker Reichert
Das Bild der Welt im Mittelalter
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / /dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Primus Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach Einbandabbildung: TO-Karte mit den drei Kontinenten Asien, Afrika und Europa. Franz. Buchmalerei des 15. Jhs., aus: Barthelemy l’Anglais, Livre de la proprieté des choses. Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. français 9140, fol. 226 v. Foto: akg-images. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-25613-6 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Umschlagabbildung: Weltkarte mit den drei Kontinenten Asien, Afrika und Europa. Französische Buchmalerei (15. Jh.), aus: Barthelemy l’Anglais, Livre de la proprieté des choses; © akg-images ISBN 978-3-86312-370-3 www.primusverlag.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (pdf): 978-3-86312-940-8 eBook (epub): 978-3-86312-941-5
Inhalt Einleitung
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I Das Erbe der Antike
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Isidor von Sevilla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Kartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schemakarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolkartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II Die Mitte der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . Imago mundi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosmos-Ei und Erdglobus . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliche Kartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heilige Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Heilige Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III Die Wunder der Welt
9 9 11 14 18 23 26 26 28 31 36 39
. . . . . . . . . . . 43
Göttliche und natürliche Wunder . . . . . . . . . Eine Karriere zwischen Universität und Kaiserhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wunder allerorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gervasius von Tilbury und die Ebstorfer Weltkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spirituelle Kartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV Die Welt der Mongolen
43
44 46
52 56
. . . . . . . 60
Dschingis Khans Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spion des Papstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Spiegel des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm von Rubruk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V Die chinesische Welt
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60
VI Die Vermessung der Welt
. . . . 95
Was der Augenschein lehrt . . . . . . . . . . . . . . . 95 Ans Ziel kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Inselwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Wie modern war die ptolemäische Geographie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Henricus Martellus Germanus alias Arrigho di Federigho Martello . . . . . . . 111
VII Die Erfahrung der Welt . . . . . . . . 114 Vom Niederrhein in die Welt . . . . . . . . . . . . . . 114 Roma caput mundi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Der Sinai, Tor zu einer weiteren Welt . . . . . 118 Vom Thomasgrab in Indien zu den Quellen des Nils . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Ferne Mitte Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Am Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Heimkehr und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . 127
VIII Neue Welten in Übersee
. . . . . . 130
Vom Bauernjungen zum Professor . . . . . . . . 130 Typus Cosmographicus Universalis . . . . . . . 133 Unbekanntes Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Christen und Gewürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Neue Welt Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Cosmographia, das ist: Beschreibung der gantzen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
66 69 75
. . . . . . . . . . . . 78
Reisen zum Großkhan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begegnungen mit China . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralisierte Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schöner Frauen kleine Füße . . . . . . . . . . . . . .
78 83 88 91
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
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Gesüdete Weltkarte des Fra Mauro, um 1459.
Einleitung D
ieses Buch hat viel mit alten Karten zu tun, ist aber keine Geschichte der Kartographie, auch nicht ein Ausschnitt aus einer solchen. Vielmehr handelt es davon, welche Vorstellungen sich das Mittelalter von der irdischen Welt machte und wie es mit ihnen umging, um das Wirken Gottes zu begreifen. Gott in der Welt ist also weithin sein Thema, nur eben beschränkt auf die Welt des Menschen in seiner räumlichen und zeitlichen Existenz. Das eine ließ sich vom anderen schon deshalb nicht trennen, weil Geschichte als Heilsgeschichte, als planmäßiges Handeln Gottes auf Erden, aufgefasst wurde. Mittelalterliche Karten geben davon den anschaulichsten, sinnfälligsten und komplettesten Eindruck. Deshalb ist hier so oft von ihnen die Rede. Sie geben auf einen Blick wieder, welches Bild man sich von der Schöpfung und deren alles durchwaltendem Sinn machen konnte. Die kartographiehistorische Forschung hat lange gebraucht, die Eigenart mittelalterlicher Karten adäquat zu verstehen. Die allgemein übliche Vorstellung vom kontinuierlichen Fortschritt der Wissenschaften ließ sie als unvollkommene Machwerke erscheinen, als im Ansatz verfehlt und in der Ausführung misslungen. Erst die gründliche Entschlüsselung der auf ihnen versammelten Bilder und Zeichen, der kartographischen Symbole und Legenden, hat gezeigt, dass die Kartenmacher des Mittelalters andere Ziele als die modernen Kartographen verfolgten und ihre Erzeugnisse deshalb anders interpretiert werden müssen. Kein exakt vermessenes Abbild, sondern ein in allen Bestandteilen bedeutungsvolles Bild wollten die meisten vermitteln.
Das deutsche Wort „Weltbild“ machte im 19. Jahrhundert Karriere, wurde aber immer öfter mit Kants Neuschöpfung „Weltanschauung“ gleichgesetzt und teilte deren ambitiösen Gehalt. In andere Sprachen lässt es sich kaum übersetzen. Dabei reicht seine überlieferte Geschichte viel weiter, nämlich bis ins Althochdeutsche, zurück. Notker der Deutsche (Notker Labeo), Mönch in St. Gallen, übersetzte mit uuérlt-pílde die lateinische Verbindung imago mundi, sah die Vielfalt der Schöpfung darin begriffen und unterschied – ganz platonisch – zwischen einem Urbild (idea mundi), dem göttlichen Plan, und dessen Abbild (imago mundi), der sichtbaren Welt.1 Vom Ursprung des Wortes her ist also „Weltbild“ eine Weltvorstellung, die anschaulich geworden ist. Spätere Autoren nahmen es schlichter und trugen zusammen, was sie von der Welt wussten. Denn ein Bild von ihr zu entwerfen, setzte umfassendes Wissen voraus. Dieses konnte auf einer Weltkarte so gut wie in Form eines enzyklopädischen Texts präsentiert werden. Beide Darstellungsweisen hängen eng miteinander zusammen, auch wenn sie unterschiedliche Vorzüge besitzen. Beide kompilieren Informationen, ordnen verfügbares Wissen und streben eine abgerundete Darstellung an, freilich mit grundverschiedenen Mitteln. Man kann Karten als visuelle Enzyklopädien bezeichnen und in enzyklopädischen Texten Bilder der Welt vorfinden. In beidem spiegelt
Das Bild der Welt im Mittelalter
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sich Wissen, und durch beides wird Wissen vermittelt. Kommen sie zusammen zum Einsatz, etwa in der handschriftlichen Überlieferung antiker oder mittelalterlicher Schriften, können sie sich gegenseitig illustrieren oder einander ergänzen. Nach dem Wechselspiel von Kartenbild und Enzyklopädie wird in allen Kapiteln zu fragen sein. Weltbilder können sich ändern, und es gibt sogar Zeiten, in denen der Wandel beschleunigt erscheint. Vor allem Reisen und die damit verbundenen Einsichten nehmen darauf Einfluss. Neue, zumal geographische Kenntnisse stehen zur Verfügung, der Horizont kann sich weiten, der Transfer kultureller Praktiken wirkt sich aus. Dennoch werden sich Weltbilder nie vollständig ändern. Denn ihr Fundament besteht im Wissen der Bücher, tradiert über Generationen. Neuigkeiten, die auf den Erfahrungen von Reisenden beruhen, werden mit überkommenen Gewissheiten verglichen und müssen sich gegen die gelehrte oder volkstümliche Überlieferung behaupten. Das kann sich hinziehen. Auch können alte Weltbilder neben neuen weiter bestehen. Gesichertes Buchwissen ist unreflektiertem Reisewissen oft überlegen, Empirie nicht an sich schon im Vorteil. Das hat Sebastian Münster richtig gesehen, als er den weltkundigen Gelehrten vom reisenden Grobian unterschied.2 In der Geschichte der Weltbilder steckt immer auch eine Geschichte des Reisens und seines Korrektivs, einer Existenz mit den Büchern.
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Einleitung
1
Notker der Deutsche von St. Gallen, Die Hochzeit der Philologie und des Merkur. De nuptiis Philologiae et Mercurii von Martianus Capella, hg. von Evelyn Scherabon Firchow, Hildesheim 1999, Bd. 1, S. 60.
2
Sebastian Münster, Cosmographia, Basel 1544 [u. ö.], Vorrede.
Das Erbe der Antike
I
O
hne Mittelalter keine Antike. Auch umgekehrt könnte man argumentieren. Denn was wäre das Mittelalter ohne das historische, literarische und naturkundliche Wissen der Antike, was wäre die karolingische Dichtung ohne ihre klassischen Vorbilder, das staufische Kaisertum ohne das römische Recht, die scholastische Philosophie ohne Aristoteles und Platon? Doch gerade wegen seiner überragenden Bedeutung wurde das Erbe der Antike während des ganzen Mittelalters geschätzt und gepflegt. Zahllose, meist anonyme Kopisten machten sich um den Wortlaut der Texte verdient, und nicht weniger machten sich jene Autoren verdient, die das Wissen der Antike zusammentrugen, kürzten, ergänzten oder kommentierten und es auf diese Weise für ihre Mit- und Nachwelt bewahrten. Von allen der erfolgreichste war Isidor von Sevilla.
Isidor von Sevilla Isidor von Sevilla wurde wahrscheinlich um 560 in der ehemaligen römischen Provinz Baetica in Hispalis (Sevilla) geboren. Die Eltern stammten aus Carthago Nova (Cartagena) in der Nachbarprovinz Carthaginiensis, mussten aber von dort emigrieren. In beiden Provinzen verfügten sie über Vermögen. Die Familie gehörte zur hispano-romanischen Oberschicht, die nach dem Untergang des Imperium Romanum bestrebt sein musste, auch unter schwierigen und oft wechselnden politischen Bedingungen ihren Rang und Einfluss zu bewahren. Nach dem frühen Tod der Eltern sorgte der älteste Sohn, Leander, für die Erziehung und Ausbildung seiner drei Geschwister. Alle schlugen eine geistliche Laufbahn ein. Jeder der drei Söhne erlangte ein Bischofsamt. Die einzige Tochter, Florentina, leitete einen Nonnenkonvent, den (möglicherweise) ihre Mutter gegründet hatte. Man kann von einer geistlichen Dynastie sprechen. Man weiß zwar nicht, wie und worin der junge Isidor unterrichtet wurde, ob er die Kathedralschule besuchte oder ob er häuslichen Privatunterricht genoss und welche Bücher zu seiner Schullektüre gehörten; aber die Belesenheit, die er später als Autor an den Tag legte, lässt darauf schließen, dass er schon als Schüler nicht nur mit der Heiligen Schrift, sondern auch mit der antiken literarischen Tradition vertraut gemacht wurde. Als er schließlich nach dem Tod Leanders (599 /600) seinem Bruder als Bischof von Sevilla und Metropolit der Kirchenprovinz nachfolgte, war es ihm ein Anliegen, die Schultradition
Isidor von Sevilla
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aufrechtzuerhalten und das Bildungsniveau des Klerus zu heben. Er selbst scheint ein glänzender Prediger und engagierter Seelsorger gewesen zu sein. Zwei Provinzialkonzilien und vor allem dem Reichskonzil von Toledo 633 saß er vor, sein Einfluss auf deren Beschlüsse war beträchtlich. Gleichzeitig unterhielt er enge Beziehungen zur Politik. Denn gerade zu seiner Zeit und in seinem Wirkungskreis waren politische und religiöse Fragen nicht exakt voneinander zu trennen. Isidor lebte und wirkte in einem geographischen Raum, der von politischen, ethnischen und religiösen Spannungen geprägt war. Von Norden dehnte sich das junge Reich der Westgoten über die Pyrenäen hin aus. Dessen Mittelpunkt lag zunächst in Toulouse, dann in Narbonne und Barcelona, schließlich in Toledo im Zentrum der Iberischen Halbinsel. Der Schwerpunkt der königlichen Herrschaft verlagerte sich allmählich nach Süden. Doch ein Küstenstreifen, den Kaiser Justinian hatte besetzen lassen, um das Römische Reich zu erneuern, blieb für ein halbes Jahrhundert in byzantinischer Hand. Die hispanoromanische Oberschicht hatte es nicht leicht, sich zwischen den Fronten zu behaupten. Das Zahlenverhältnis zwischen den gotischen Eroberern und der einheimischen Bevölkerung war extrem asymmetrisch. 100 000 Goten sollen über 9 Millionen Hispanoromanen geherrscht haben. Hinzu kam der religiöse Konflikt. Die Fremdherrschaft wurde als besonders bedrückend empfunden, weil die Goten sich zum arianischen Christentum bekannten und deshalb von der katholischen Bevölkerungsmehrheit als Ketzer betrachtet wurden. Die Konfrontation war am heftigsten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts und löste sich in der zweiten schrittweise auf. Zuerst kam es hier und da zu gemischten Ehen, schließlich wurde das bis dahin gültige Eheverbot aufgehoben. Die Rechte von Goten und Romanen näherten sich allmählich einander an. Weniger ein Verschmelzungs- als ein Romanisierungsprozess kam in Gang. Dessen Abschluss bildete die Konversion der Goten zum katholischen Bekenntnis. Ein erster Versuch, über die Taufe eines rebellischen Prinzen die konfessionelle Einheit zu erreichen, war noch am Widerstand des Vaters, König Leovigilds, gescheitert. Leander, Isidors älterer Bruder, hatte sich beteiligt, indem er nach Konstantinopel reiste, um der Rebellion Rückendeckung zu verschaffen. Doch schon wenige Jahre später, sofort nach dem Thronwechsel, nahm der neue König Reccared eine religionspolitische Kehrtwende vor und trat zum katholischen Glauben über (587). Das anschließende Konzil in Toledo konnte triumphal die konfessionelle Einheit im Reich der Westgoten verkünden. Leander hatte die Beratungen geleitet und hielt die abschließende Predigt. Reccared wurde gar als neuer Konstantin gepriesen. Anders als sein Bruder und Vorgänger musste sich Isidor nicht mit der arianischen Häresie befassen. Dieser Konflikt war bereits ausgestanden, als er zum Bischof und Metropoliten berufen wurde. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, die neu gewonnene Einheit zu festigen und deren Grundlagen zu präzisieren. Mindestens drei seiner Werke leisteten dazu charakteristische Beiträge: • Eine „Geschichte der Goten (Historia Gothorum) rühmt die Traditionen, aus denen das gotische Volk hervorgegangen war, und beschreibt dessen Weg in die antike Zivilisation. Dem Werk steht ein „Lob Spaniens (Laus Spaniae) voran. • „Zwanzig Bücher Etymologien (Etymologiarum libri XX) versammeln das gesamte Wissen der Antike und stellen dem Leser das kulturelle Fundament der neuen Gemeinschaft vor Augen. • Die Schrift „Gegen die Juden über den katholischen Glauben (De fide catholica contra Iudaeos) bestärkt die konfessionelle Einheit, indem sie sie von einem Gegenüber, der jüdischen Minderheit, abgrenzt.
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I Das Erbe der Antike
Isidors „Etymologien hatten also nicht einfach einen pädagogisch-schulischen Zweck, sondern waren hochpolitisch gemeint. Indem sie ein kulturelles Erbe vermittelten, sollten sie daran mitwirken, dem nunmehr katholischen Reich der Westgoten eine die beiden wichtigsten Bevölkerungsgruppen zusammenschließende Identität zu verschaffen und die Synthese von antiker Bildung, (katholisch-)christlichem Glauben und gotischer Herrschaft zu befördern. Die Anregung dazu ging von König Sisebut aus, und Isidor widmete ihm eine erste Fassung. Denn beide hatten ein gemeinsames Interesse an dem Werk. Dessen Abschluss erlebte keiner von beiden. Sisebut starb schon 621, Isidor 15 Jahre nach ihm. Das unfertige Werk musste ein Schüler und Freund ordnen und redigieren. Doch alle Weichen hatte der Verfasser gestellt. Erstens hatte er sein Werk als Enzyklopädie angelegt, also als umfassende Sammlung alles Wissenswerten, geordnet nach Themenbereichen und Sachverhalten, über die man nachdenken konnte, die zu beobachten waren oder von deren Existenz man überzeugt war. Zu diesem Zweck trug er alle ihm erreichbaren Bücher zusammen (schon das war in den Wirren seiner Zeit eine Leistung) und entnahm ihnen, was er für mitteilenswert hielt. Die Liste seiner Quellen und Vorlagen ist auch dann noch erstaunlich, wenn man unterstellt, dass er manches nur indirekt, anderes nur oberflächlich kannte. Zweitens gab er das, was er vorfand, nur in verkürzter Form wieder. Zum Beispiel die „Naturgeschichte (Naturalis historia) des älteren Plinius war viel umfangreicher als Isidors „Etymologien . Er benutzte sie eifrig, übernahm aber nur einen Bruchteil ihrer Informationen. Es ging ihm nicht um jedes Detail, sondern auf das Wesen der Dinge kam es ihm an. Dieses aber glaubte er – drittens – zuerst in deren Namen zu erkennen. Sein Griechisch war bescheiden. Aber er wusste, dass to étymon „das Wahre bedeutet und dass der tiefere Sinn einer Sache sich über ihren Namen erschließt – „denn jede Einsicht in eine Sache ist klarer, wenn man die Herkunft des Wortes erkannt hat .1 Deshalb nannte er sein Werk – nach einigem Schwanken – ein Buch der Etymologien. Auf diese Weise entstand ein Text, der eine Brücke von der Antike zum Mittelalter schlug. Er handelt von Grammatik, Rhetorik und Musik, von Mathematik, Medizin und Recht, von Gott, der Kirche und den Engeln, von Menschen, Tieren und Steinen, von Landwirtschaft, Hausbau und Kriegen, nicht zuletzt von Geographie. Auf allen diesen Feldern wurde das Wissen der Vergangenheit für die Zukunft bewahrt.
Antike Geographie Welches geographische Wissen konnte der Bischof von Sevilla kommenden Generationen vermitteln? Beschränkte es sich auf den Mittelmeerraum und das vergangene Imperium Romanum oder ging es darüber hinaus? Anders gefragt: Wie weit reichte der Horizont der Antike? Wo lagen die Grenzen der Welt für Griechen und Römer? Das geographische Wissen der Antike wurde dauerhaft in drei großen Schüben vermehrt: zuerst durch die „Große griechische Kolonisation , die das Siedlungsgebiet der griechischen Stämme auf die Küsten Kleinasiens, des westlichen Mittelmeerraums und des Schwarzen Meers ausdehnte, dann durch die Feldzüge Alexanders des Großen bis nach Indien, schließlich durch die Expansion des Römischen Reichs in alle Himmelsrichtungen. Hinzu kamen die Unternehmungen Einzelner, die Unternehmungen von Kaufleuten, Abenteurern und Gesandten, die mit ihren spektakulären Berichten die Lücken des Wissens auffüllen konnten und deshalb stets Aufmerksamkeit fanden. Doch je weiter sie kamen, desto mehr verschwammen ihre Erzählungen ins Ungewisse oder wurden als auf-
Antike Geographie
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regende Nachrichten von weit entfernten, entweder idealen oder schrecklichen, Welten begriffen. Auf diese Weise waren die Weltkenntnisse der Antike ebenso ausgreifend wie umhegt und begrenzt. Als äußerste westliche Grenze wurden die „Säulen des Herkules (d. i. die Meerenge von Gibraltar) betrachtet. Der Halbgott selbst soll sie aufgestellt haben, und nur ihm war es vergönnt, über sie hinaus auf den Atlantik zu fahren, um eine seiner mythischen Taten dort zu vollbringen. Den Menschen dagegen sollten sie die Grenze ihres Wagemuts anzeigen. Noch in römischer Zeit fühlte man sich im Mittelmeer (dem mare nostrum), nicht aber auf dem Ozean zu Hause. Die Kanarischen Inseln galten als die „Glücklichen Inseln (Fortunatae insulae) und wurden nur von ganz wenigen aufgrund besonderer Umstände betreten. Ihre Entdeckung gelang auch nicht einem Römer, sondern einem Expeditionskorps des Königs Juba von Mauretanien. Doch gerade in der Abgeschiedenheit lag ihr paradiesischer Reiz. Ein mildes Klima, sanfte Winde, mäßige Niederschläge und Überfluss an allem sagte man ihnen nach. Bis zu den Barbaren habe sich der Glaube verbreitet, „dass dort das Elysische Gefilde und die Wohnung der Seligen liegen, die Homer besungen hat – so noch Plutarch im 2. Jahrhundert n. Chr.2 Wenn schon der atlantische Westen den Blicken der Römer entzogen blieb, so erst recht der äußerste Norden. Zwar hatte schon im 4. Jahrhundert v. Chr. Pytheas, ein griechischer Seefahrer aus Massalia (Marseille) die karthagischen Sperren bei Gibraltar umfahren und die nördlichen Meere erkundet. Er erzählte von Packeis, Nebelbänken und endlosem Dunkel, schließlich auch von einer fernen Insel, auf der Menschen von wilden Früchten, Wurzeln, Kräutern und etwas Viehzucht überleben konnten. Er nannte sie Thule, der Dichter Vergil fügte das Attribut ultima hinzu, und so war der Mythos von der „entferntesten Insel Thule (ultima Thyle) geboren.3 Man versuchte, sie zu identifizieren, hielt sie aber für unzugänglich und gab sich gerne damit zufrieden. Schon Britannien, geschweige denn Skandinavien, zählten die Römer nicht zu Europa. Denn je rauer das Klima, desto wilder seien die Menschen. Man hatte eine Vorstellung von Ostsee und Nordsee; schließlich gab es auch Handelsverbindungen dorthin. Aber jenseits des Rheins verschwammen die Kenntnisse der Geographen. Tacitus rühmte zwar das einfache Leben der Germanen, um seiner römischen Umgebung ein Muster an unverdorbener Moral vor Augen zu halten; aber er vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, wie schaurig die Urwälder und Moore Germaniens seien. Er schloss daraus, dass die Germanen die Ureinwohner sein müssten; denn wer hätte „Asien oder Afrika oder Italien verlassen und Germanien ansteuern mögen, das so ungestaltet in seinen Landschaften, rau in seinem Wetter und unfreundlich in Anbau und Aussehen ist – es müsste denn sein Heimatland sein? 4 Aus freien Stücken gehe niemand dorthin. Rhein und Donau galten als äußerste Grenzen einer Zivilisation, die ihre Wurzeln am Mittelmeer hatte. Einer ausgreifenden Kenntnis des Südens, also Afrikas, standen das Atlasgebirge und die Wüste Sahara im Wege. Sie bildeten eine Grenze des antiken Wissens. Nur den Norden kannte man gut. Die Provinzen Africa und Cyrenae gehörten bereits in republikanischer Zeit zum Römischen Reich, Mauretania wenig später, und für die Kultur Ägyptens hatten sich schon die Griechen sehr interessiert. Herodot zeigte an ihrem Beispiel, was er sich unter einer ganz anderen, einer „verkehrten Welt vorstellte. Denn alles schien dort der griechischen entgegengesetzt. Gern hätte er auch gewusst, von wo die fruchtbaren Fluten kamen, die alljährlich das Niltal überschwemmten. Wie viele andere stellte er sich die Frage nach den Quellen des Stroms, und wie viele andere tappte er im Dunkeln. Auch eine römische Expedition, von Kaiser Nero im Jahr 61 n. Chr. befohlen, kam nicht
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I Das Erbe der Antike
an ihr Ziel. Seitdem gingen die Meinungen vollends auseinander. Die einen nahmen an, dass der Nil in Westafrika entspringe und von dort – zum Teil unterirdisch – nach Ägypten abfließe. Die anderen vermuteten den Ursprung des Stroms weit im Süden, in zwei Seen bei den sogenannten Mondbergen. Doch das alles war pure Spekulation. Das Land der „Schwarzen , der Äthiopen, blieb das, was es schon für Homer war, nämlich das Land der „äußersten Menschen . Niemand hatte eine Vorstellung, wie weit der Kontinent nach Süden reichte. Die Expedition des Karthagers Hanno entlang der westafrikanischen Küste (um 525 v. Chr.) wird immerhin noch von Plinius erwähnt. Eine andere, frühere, die um den ganzen Kontinent herumgeführt haben soll, kannten nur Herodot und nach ihm auch Strabo, aber keiner der lateinischen Schriftsteller. Sie war fast völlig in Vergessenheit geraten. Weiter reichte die Kenntnis des Ostens. Das hängt mit den vielfältigen und immer besonderen Beziehungen zusammen, die das werdende Europa mit Asien unterhielt. Oft lagen die Reiche des Ostens mit denen des Westens im Krieg miteinander. Die Griechen wehrten sich gegen die Ansprüche der persischen Großkönige und ergriffen schließlich selbst die Initiative. Auch als Söldner wurden sie interessant. Daraus ergaben sich geographische Kenntnisse, wie sie etwa Xenophon vermittelte, als er den Zug der „Zehntausend von Mesopotamien zum Schwarzen Meer beschrieb. Alexander den Großen (den man auch den Maßlosen nennen könnte) zog es über Persien hinaus nach Indien, wo er mit Kleinkönigen am Oberlauf des Indus in Kontakt und Konflikt geriet. Einige seiner Gefolgsleute beschrieben seine und ihre Taten. Die Römer traten insofern ein weiteres Erbe der Griechen an, als auch sie mit Asien Krieg führten und zuerst mit den Parthern in Iran, dann mit deren Nachfolgern, den Sassaniden, fast unentwegt im Streit lagen. Doch da man nicht immer Krieg führen kann, blieb auch Raum für friedliche Kontakte. Ein gewisser Skylax von Karyanda fuhr im Auftrag des persischen Großkönigs die südasiatische Küste entlang (512 /509), der Arzt Ktesias aus Knidos in Kleinasien lebte 17 Jahre am Hof in Persepolis (405 – 388), und Megasthenes, von dem wir sonst nicht viel wissen, wurde als seleukidischer Gesandter an den Hof des Maurya-Kaisers Chandragupta in Pataliputra (Patna) am Ganges geschickt (um 302 v. Chr.). Alle drei hörten und erzählten von seltsamen Menschenrassen, die in Indien ihr Wesen oder Unwesen trieben: Kynokephale (Hundsköpfige), die einen Hundekopf auf einem menschlichen Körper trugen; Akephale (Kopflose) oder Blemmyer, die gar keinen Kopf besaßen, sondern Mund, Nase, Augen auf der Brust hatten; Skiapoden oder Monopoden, die sich selbst mit ihrem einen großen Fuß Schatten spenden und auf diesem auch noch besonders schnell laufen konnten; Pygmäen, die immerwährend gegen Kraniche kämpften; mundlose Astomen, die sich vom Geruch von Wurzeln, Blüten oder Äpfeln ernährten; Makrobier, die 120 Jahre, andere, die nur acht Jahre alt wurden, deren Frauen aber schon im Alter von fünf Jahren gebärfähig waren; Opisthodaktylen (Rückwärtsfüßler), Struthopoden (Straußenfüßler), Panotier (Großohrige), Ichthyophagen (Rohfischesser), Großlippler, Nasenlose, Giganten, Zyklopen und andere mehr. Sie wurden später als „Wundervölker (homines monstruosi) bezeichnet und sollten in der mittelalterlichen Literatur und Kosmographie eine bemerkenswerte Karriere erleben. Über Indien hinaus reisten nur die Kaufleute. Zwar wurde im Jahr 166 n. Chr. am chinesischen Kaiserhof in Luoyang eine Gruppe von Besuchern registriert, die sich als Gesandte des römischen Kaisers Mark Aurel ausgaben. Aber wahrscheinlich handelte es sich um Kaufleute, die sich davon eine bessere Behandlung und wohl auch bessere Geschäfte versprachen. Etwas früher, wohl um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert kamen Agenten ei-
Antike Geographie
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nes gräko-syrischen Geschäftsmanns Maës Titianos ins östliche Turkestan und erfuhren dort einiges über die Handelsrouten, die ins Innere Chinas führten. Sie erkundeten also die zentralasiatischen Verkehrswege, während ihre Nachfolger ein halbes Jahrhundert später über die sogenannte maritime Seidenstraße, auf dem Seeweg über Südostasien, nach China gelangten. Immer ging es um die chinesische Seide als wertvollstem Handelsgut, und die Leute, die sie herstellten (oder verkauften), nannte man Serer („Seidenleute ). Zahlreiche römische Autoren befassten sich mit ihnen, hatten also einen vagen Begriff von China und den Chinesen. Nur in der griechischen Tradition sprach man auch (und zutreffender) vom Land Thin und den Sinern, die es bewohnten. Aus all dem ergab sich ein Bild: Asien galt bei Griechen und Römern als der mit Abstand größte und bevölkerungsreichste Kontinent. Mehrere Großreiche gehörten zu ihm, und noch von fernen Inseln wie Taprobane (Ceylon, Ðri Lanka), Chrysé (Goldinsel) oder Argyre (Silberinsel) wurden großartige Dinge erzählt. Asien galt in vielem als überlegen, überlegen durch sein warmes, feuchtes Klima und die davon herrührende Fruchtbarkeit, überlegen durch Reichtum und Luxus. Plinius beklagte den andauernden Abfluss von Edelmetall durch den Handel mit Seide und warnte vor den langfristigen Folgen. Man konnte sich damit trösten, dass Reichtum die Menschen verdirbt. Orientalen galten deshalb als weich, dekadent und effeminiert, als schwach, feige und dem Wohlleben ergeben. Doch je größer die Entfernung, umso idealer schienen die Welten. Das galt schon für die „barbarischen Skythen, also die Völker jenseits des Schwarzen Meeres, des Tanais (Don) und der Mäotischen Sümpfe (Asowsches Meer), deren Lebensweise man für frugal und vorbildlich hielt. Das galt erst recht für die Serer, denen Langlebigkeit, Gerechtigkeit und moralische Integrität nachgesagt wurden. Eine Art Serer-Mythos war in Umlauf. Doch die meiste Bewunderung wurde Indien und den Indern entgegengebracht. Man hörte von der Weisheit der Brahmanen und Gymnosophisten, hielt sich den Reichtum des Landes an Edelsteinen, Gewürzen und Duftstoffen vor Augen, staunte über indische Witwen, die sich (angeblich) freiwillig verbrannten, und erfreute sich an den Kapriolen, die die Natur dort schlug. Auch von den „Wundervölkern wurde immer wieder Neues und Faszinierendes erzählt. Indien blieb im Weltbild der Europäer eine „verzauberte Welt , deren Schätze als „das Köstlichste galten, „was es auf Erden gibt .5
Antike Kartographie Ohne Mittelalter keine Antike. Das gilt grosso modo auch für die Kartographie. Denn aus der Zeit vor 500 n. Chr. sind fast keine Karten im Original erhalten geblieben, und bei den wenigen, die es gibt, handelt es sich um rohe Skizzen oder topographische Ansichten von begrenzter Reichweite. Dass es viel mehr und auch weiträumigere gegeben haben muss, wissen wir aus Andeutungen, Hinweisen, praktischen Anleitungen und gelehrten Diskussionen. Karten wurden im Katasterwesen, für die Kriegführung, auf Reisen und zu didaktischen Zwecken gebraucht. Sogar Globen sind textlich wie bildlich bezeugt. Doch nur der Tätigkeit mittelalterlicher Kopisten verdanken wir einen anschaulichen Eindruck von der kartographischen Expertise der alten Griechen und Römer. Es genügt, auf die drei bekanntesten und wichtigsten Beispiele einzugehen. Klaudios Ptolemaios (Claudius Ptolemäus, um 100 – um 170 n. Chr.) lebte und wirkte in Alexandria, dem bedeutendsten Zentrum hellenistischer Gelehrsamkeit. Das zum Königshof gehörende Museion mit seiner berühmten Bibliothek bestimmte den Ruf der Stadt. Namen wie die des Dichters Kallimachos, des Geographen Eratosthenes, der Philologen
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I Das Erbe der Antike
Aristophanes von Byzantion und Aristarchos von Samothrake bezeichnen die intellektuelle Tradition, in die sich Ptolemäus mit seinen Forschungen einreihte. Sie galten zunächst dem Kosmos und den Gestirnen (Mathematiké sýntaxis, der sogenannte Almagest, ferner der Tetrábiblos, ein Handbuch der Astrologie), wandten sich dann den irdischen Dingen zu (Schriften zu Mathematik, Harmonielehre und Optik) und nahmen schließlich die Erde im Ganzen in den Blick: Sein letztes Werk, die Geographiké hyphégesis, wörtlich: „Einführung in die Geographie (kurz: Geographia), setzt sich mit dem Werk eines Vorgängers, Marinos von Tyros, auseinander, gibt eine Anleitung zum Zeichnen von Welt- und Regionalkarten und bespricht die Möglichkeiten, den dreidimensionalen geographischen Raum auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren. Den anschließenden Hauptteil füllen endlose Listen mit geographischen Namen, etwa 8100 an der Zahl, Namen von Orten, Flüssen und Bergen, alle mit genauen Daten zu ihrer Lokalisierung auf Längen- und Breitengraden versehen. Mit ihnen ließen sich Karten zeichnen, die den Anspruch erhoben, die Welt genau so wiederzugeben, wie sie in Wirklichkeit aussah. Wann das geschah, ob Ptolemäus selbst solche Karten zeichnete oder zeichnen ließ, ob sie bald nach ihm oder viel später entstanden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die heutige Forschung nimmt an, dass eine Weltkarte und eine größere Anzahl von Regionalkarten von Anfang an zu dem Werk gehörten. Die ältesten erhaltenen Exemplare stammen allerdings aus dem späten 13. Jahrhundert, als in Byzanz das Interesse an Ptolemäus neu erweckt wurde. Der lateinische Westen bekam die ersten Ptolemäuskarten mehr als ein Jahrhundert später zu Gesicht. Zu ihren Stärken gehörte die mathematische Genauigkeit, mit der sie die Welt
1 Griechische Weltkarte nach Ptolemäus, 14. Jh. (London, British Library, Additional MS 19391, fol. 17v – 18r).
Antike Kartographie
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zwischen den Kanarischen Inseln im Westen und der (bis heute nicht plausibel identifizierten) Stadt Kattigara im äußersten Osten verzeichneten. Ihre Schwächen (ein gestauchtes Indien, eine viel zu große Insel Taprobane, der Indische Ozean als Binnenmeer) lassen sich mit den mangelhaften Unterlagen erklären, die Ptolemäus zur Verfügung standen.
2 Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana, die in gedrängter Form das antike Straßennetz abbildet. Alle Wege führten nach Rom (Wien, Österreich. Nationalbibl., Cod. Vind. 324; Faksimile von Konrad Miller, 1887).
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I Das Erbe der Antike
Auch die bekannteste antike Weltkarte, die sogenannte Tabula Peutingeriana, ist nicht im Original, sondern lediglich in einer Kopie aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert überliefert. Sie entstand in der Mitte des 4. Jahrhunderts, fußte aber auf älteren Vorlagen und wurde später bei Gelegenheit ergänzt. Im 5. oder 6. Jahrhundert kamen Einträge zu Jerusalem und dem Sinai dazu, und noch der Augsburger Humanist Konrad Peutinger (1465 – 1547), von dem sie ihren Namen erhielt, fügte mit Regensburg und Salzburg zwei Ortsnamen aus seiner eigenen Lebens- und Erfahrungswelt in das Kartenbild ein. Anders als die Ptolemäuskarten erhebt die Tabula Peutingeriana keinen wissenschaftlichen Anspruch und will nicht über das Aussehen der Welt spekulieren. Vielmehr gibt sie das verzweigte, höchst effiziente und das ganze Reich erfassende Straßennetz wieder, auf das die Römer so stolz waren. Deshalb die Hervorhebung der Hauptstadt, auf die nicht weniger als zwölf große Straßen zulaufen, und deshalb auch die ungewöhnliche Form eines aus zwölf Segmenten zusammengesetzten, 675 cm langen, aber nur 34 cm breiten Streifens, auf dem die Entfernungen in nord-südlicher Richtung ganz anders als die ost-westlichen behandelt werden mussten. Dadurch wirkt die ganze Karte auf den modernen Betrachter extrem ver-
3 Die Welt nach Kosmas Indikopleustes: Die Erde erscheint als flaches Rechteck, in das drei Meerbusen und das Mittelmeer einschneiden. Jenseits des östlichen Ozeans ist das irdische Paradies zu erkennen (Rom, Bibl. Apost. Vat., Ms. Vat. Gr. 699, fol. 40v).
zerrt. Der zeitgenössische Betrachter dagegen wurde durch die Berechnung der Abstände zwischen den einzelnen Orten und Stationen ausreichend informiert. Ob man damit reisen oder – wie aus einer Aussage des römischen Militärschriftstellers Vegetius hervorzugehen scheint – einen Krieg führen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin reicht die Tabula Peutingeriana von der Iberischen Halbinsel im Westen bis nach China (Sera maior), Taprobane und an den Ort, wo Alexander der Große das Orakel der Bäume der Sonne und des Mondes über seine Zukunft befragt haben soll. So weit im Osten führte Rom keine Kriege. Aber so weit reichte sein Blick. Wahrscheinlich diente die Karte repräsentativen Zwecken und wies ihren Besitzer (der ein vermögender Mann gewesen sein muss) als wohlinformierten, traditionsbewussten und einflussreichen römischen Bürger aus. Ganz andere Akzente setzte ein Autor, der wie Ptolemäus in Alexandria lebte, aber keinen Beitrag zur alexandrinischen Wissenschaft vorlegen wollte, sondern – ganz im Gegenteil – als Autodidakt ein geographisches Weltbild nach dem Wortlaut der Bibel propagierte. Man hat sich daran gewöhnt, ihn Kosmas den Indienfahrer (Kosmas Indikopleustes) zu nennen; aber weder ist der Name Kosmas gesichert, noch ist er dorthin gefahren, was man heute unter Indien versteht. Immerhin konnte er in seiner Eigenschaft als Kaufmann auch Gegenden bereisen, die später unter einen erweiterten Begriff von Indien fielen: Axum, Südarabien und die Insel Sokotra. Er war wohl nestorianischer Christ, vielleicht sogar Mönch; in jedem Fall meinte er es mit seinem Glauben sehr ernst. In seinem einzig erhaltenen Werk, einer „Christlichen Topographie , entstanden um die Mitte des 6. Jahrhunderts, verteidigte er die Weltsicht der Heiligen Schrift gegen die Theorien der Philosophen und Kosmographen, gegen den „Heiden Ptolemäus und seine christlichen Adepten, die versuchten, dessen Lehren mit dem Schöpfungsbericht der Genesis zu versöhnen. Kosmas dagegen bestand auf einer reinen, kompromisslosen Lektüre. „Gehorsam bis zum Unverstand hat man einmal seine Weltsicht genannt.6 Die der „Christlichen Topographie beigegebenen Karten und Illustrationen zeigen keine kugelförmige, sondern eine flache rechteckige Erde, die ein zweigeschossiger Himmel in Form der Stiftshütte überwölbt.
Antike Kartographie
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Vier Meere bzw. Golfe (Mittelmeer, Rotes Meer, Persischer Golf, Kaspisches Meer) ragen in den Kontinentalblock hinein. Im Osten, jenseits des Ozeans, schließt sich das Paradies an, von dem vier Flüsse, die Paradiesflüsse Gihon, Phison, Euphrat und Tigris, ausgehen. Weite Verbreitung war dem Werk und den Karten nicht beschieden. Nur drei vollständige Handschriften sind überliefert, alle aus dem 9.-11. Jahrhundert, alle geschrieben im byzantinisch-orthodoxen Raum. Eine Übersetzung wurde in Russland viel gelesen. Im lateinischen Westen spielte Kosmas bis zum 18. Jahrhundert keine Rolle. Doch das Prinzip, die irdische Welt ganz aus christlichem Blickwinkel zu deuten und zu beschreiben, lag zu nahe, um nicht über kurz oder lang auch dort praktiziert zu werden.
Schemakarten Da so wenige antike Karten erhalten geblieben sind, lässt sich nicht rekonstruieren, welches Bild der Erde Isidor von Sevilla vor Augen hatte, als er die geographischen Teile seiner „Etymologien verfasste. Doch wir wissen, auf welchen Grundlagen er seine Darstellung aufbaute. Vor allem die „Naturgeschichte (Naturalis historia) des älteren Plinius, aber auch die viel knapperen „Merkwürdigkeiten (Collectanea rerum memorabilium) des C. Iulius Solinus und das polemische Geschichtswerk „Wider die Heiden (Historiae adversum paganos) des Paulus Orosius wurden ausgiebig exzerpiert, gekürzt und redigiert. Man hat einmal die „Etymologien mit einem Kopfbahnhof verglichen: „Alles Vorausgegangene mündet hier, ein daraus neu zusammengestellter Zug verlässt diesen Knotenpunkt geistiger Strömungen. 7 Isidor hielt die Welt für ein geordnetes Ganzes, dem man sich von außen nach innen, vom Allgemeinen zum Besonderen annähern könne. Denn so war sie von Gott eingerichtet worden. Man nenne sie mundus, und das komme von motus: „Bewegung , weil ihre Elemente: Himmel, Sonne, Mond, Luft und Meere ständig in Bewegung seien. Er kannte aber auch das griechische Wort Kosmos und übersetzte es richtig mit „Schmuck (ornamentum). „Wir sehen nämlich mit unseren leiblichen Augen nichts Schöneres als diese Welt. 8 Dazu trügen Wolken (nubes, angeblich von obnubere: „verhüllen ), Blitz (fulgur /fulmen, angeblich von ferire: „schlagen ) und Donner (tonitrus, angeblich von sonus: „Klang und terrere: „erschrecken ), Wind (ventus, angeblich von vehemens: „heftig oder violentus: „gewaltig ) und Wasser (aqua, angeblich von aequalis: „eben ) gleichermaßen bei. Bei Letzterem müsse man allerdings zwischen dem Meer im Allgemeinen (mare, angeblich von amarus: „bitter ), dem Ozean, der rundum den Erdkreis umläuft, dem Mittelmeer, das „sich mitten über die Erde bis nach Osten ergießt und dabei Europa, Asien und Afrika voneinander abgrenzt, und den vielen einfach nur ablaufenden Flüssen (fluvius, von fluere: „fließen ) unterscheiden. Terra, die Erde, deutete Isidor mit terere: „reiben , als Abrieb sozusagen. Sie war für ihn gleichbedeutend mit dem Festland und den Inseln, jedenfalls mit trockenem Land. Die Vorgebirge (promuntoria) verdienten schon deshalb einen eigenen Eintrag, weil sie aus dem Meer herausragen und das Nasse vom Trockenen abteilen. Diese Landmasse sei kreisrund wie ein Rad geformt und werde ringsum vom Ozean umflossen. Nach innen aber sei der Erdkreis (orbis) in unterschiedlich große Kontinente gegliedert: Asien, das die Hälfte einnehme, Europa und Afrika bzw. Libya, die sich den Rest teilten. Die Namen erklärte der Mythos: Asia war die Tochter des Okeanos und der Tethys, Europa, Tochter Agenors, wurde von Zeus nach Kreta entführt, Agenors Mutter hieß Libya und gab dem ganzen Kontinent ihren Namen. Doch im Fall Afrikas war sich Isidor nicht ganz sicher.
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Auch andere Herleitungen des Namens (von einem Wind Libs oder dem Adjektiv apricus: „der Sonnenwärme ausgesetzt ) kamen infrage. Auf die Erklärung der Namen folgt die Bestimmung der Grenzen: Asiens durch den Ozean, den Fluss Don und die Mäotischen Sümpfe, Europas durch Don, Mittelmeer und die Gadischen Inseln (Gibraltar) mit den Säulen des Herkules, Afrikas durch das Mittelmeer im Norden und Ägypten im Osten. Auf diese Weise wurden Großräume definiert, die sich in Länder und Regionen gliedern ließen. Asien als der größte Kontinent hatte davon mehr als Europa zu bieten, über Afrika war nicht so viel in Erfahrung zu bringen. Isidors Listen sind zwar redlich bemüht, Wesentliches über die einzelnen Länder zu sagen; doch beharrlich geben sie die Einseitigkeit seiner Unterlagen wieder. Streckenweise sind sie nichts weiter als eine Aufzählung der römischen Provinzen. Das Heilige Land ist mit Palästina, Judäa, Samaria und Galiläa deutlich überrepräsentiert. Von Spanien ließ sich vieles und nur Gutes berichten, mehr noch von Italien, einem „wunderschönen Land mit fruchtbarem Boden und erfreulichstem Reichtum an Nahrungsmitteln .9 Im Norden dagegen ging Isidors Blick nicht über Germanien und ein nebulöses Skythien hinaus, die Serer im Osten waren ihm nur einen einzigen Satz wert, und was er von Schwarzafrika mitteilen konnte, bestätigte die üblichen Vorstellungen von wilden Tieren und seltsamen Menschen. Denn das alles lag in weiter Entfernung. Man kann Isidors geographische Aussagen komplett auf eine Weltkarte übertragen und so sein Weltbild rekonstruieren. Dicht gedrängte, fast unübersichtliche Fülle ist das Ergebnis. Erhalten sind aber nur solche Karten, die eine mehr oder weniger rigide Auswahl vornehmen und die Weltsicht der „Etymologien auf ihr Wesentliches reduzieren. Gerade deren Kernaussagen über Erde und Kosmos treten dann am sinnfälligsten hervor, wenn der Kartograph auf jedes unnötige Detail verzichtet und sich auf ein einfaches Schema beschränkt. In den zahlreichen Handschriften, die Isidors „Etymologien überliefern, bis hin zum ersten Druck von 1472, ist regelmäßig eine Kartenskizze enthalten, die durch ihre radikale Einfachheit unmittelbar einleuchtet. Ihr kreisrunder Rand stellt den Ozean dar. Die von ihm ausgehenden Gewässer trennen die drei Kontinente der Alten Welt voneinander. Deren Namen werden fast immer genannt, oft auch die Namen von Mittelmeer (Mare magnum, Mare mediterraneum), Don (Tanais) und Nil, den Isidor allerdings noch nicht als Grenzfluss zwischen Asien und Afrika verstanden hatte. Nicht immer, aber häufig werden die Kontinente zusätzlich mit den Namen der Noah-Söhne Sem, Ham und Japhet bezeichnet. Denn von ihnen gingen nach dem Zeugnis der Bibel alle Völker aus (Genesis 10). Nach mittelalterlicher Vorstellung durften die Nachkommen Japhets Europa besiedeln, den Söhnen Sems war Asien anvertraut; die Kinder Hams dagegen mussten im heißen und unwirtlichen Afrika leben, weil Noah sie verflucht hatte. Die Versklavung schwarzer Menschen wurde damit begründet. Jedes Kartenbild ist „eine hochgradige Abstraktion von der Vielfalt der irdischen Erscheinungen .10 Es gibt keine andere mittelalterliche Karte, die so eindrucksvoll und plausibel von der Wirklichkeit abstrahiert wie das vielfach kopierte Schema, das Isidors Vorstellung von der Welt illustriert. Die kompakte, kreisrunde Form gibt dem Land den Vorzug vor den Gewässern. Die Ostung (Orientierung) verweist auf den Beginn der Geschichte und das Heilsgeschehen beim Sonnenaufgang. Die asymmetrische Dreiteilung bringt gedachte Größenverhältnisse auf den Punkt und gewichtet die Bedeutung der Kontinente. Durch die Nennung der Noachiden wird die antike Aufteilung der Erde christianisiert. Der das Land umgebende Ozean erinnert an ein O, Mittelmeer, Don und Nil bilden Schaft und Balken eines T. Man spricht von TO-Karten.
4 Noch im Druck des späten 15. Jahrhunderts wurde das TO-Schema zur Darstellung des Erdkreises verwendet (Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, Augsburg 1472).
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Kein Kartograph erhob den Anspruch, allein mit einer solchen Karte die irdischen Verhältnisse wiedergeben zu können. Jeder wusste, dass sie aus didaktischen Gründen die Vielfalt der Erscheinungen auf eine Auswahl von Merkmalen reduzierte. Wollte man andere Sachverhalte zur Anschauung bringen, musste sie ein anderes Aussehen haben. Das TO-Schema illustrierte Isidors Aussagen zur „Erde und ihren Teilen (Buch XIV). An anderer Stelle, im XIII. Buch, sprach er vom Himmel über der Erde, von den Bestandteilen des Himmels und von den klimatischen Verhältnissen, die unter ihm herrschten. Diese seien nicht überall gleich; vielmehr machten übermäßige Kälte und Wärme die Erde nur teilweise bewohnbar. Man müsse sich den Himmel in fünf Abschnitte geteilt vorstellen, die man als Zonen bezeichne, weil sie „die ganze Sphäre umspannen .11 Die Bedeutung des ursprünglich griechischen Worts zona: „Gürtel stand ihm vor Augen.
5 Hemisphärische Karte in einer Isidor-Handschrift des 13. Jahrhunderts: TO-Schema und Klimazonen ergänzen einander (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Sal. IX 39, fol. 1v).
Karten, die die fünf Zonen darstellten, verfuhren genauso schematisch wie die TO-Karten und konnten auf fast alles verzichten, was nichts über Kälte, Wärme und Bewohnbarkeit aussagte. Weil sie nicht christlich gemeint waren, brauchten sie weder Ostung noch biblische Bezüge und konnten sogar die Namen der Kontinente entbehren. Es genügte, wenn die Umrisse der Küsten und einige Landmarken dem Betrachter Orientierung verschafften, und es kam darauf an, die Zonen zu benennen, in denen so unterschiedliche Temperaturen und Lebensverhältnisse herrschten: eine kalte im Norden (zona frigida septentrionalis), dann eine gemäßigte (zona temperata), eine völlig verbrannte in der Mitte (zona perusta, torrida), eine weitere gemäßigte und eine kalte im Süden (zona frigida australis). Nahm man mit fünf Fingern einen Ball in die Hand, hatte man ein schönes Merkschema vor Augen. Nur die beiden gemäßigten Zonen galten als bewohnbar. Denn man nahm an, dass im Süden ähnliche klimatische Verhältnisse wie im Norden herrschten. Alle Zonenkarten enthalten ein spekulatives Element und alle legten auf Spiegelbildlichkeit Wert. Der kalten Zone im Norden entsprach eine kalte im Süden, „unserer gemäßigten eine ebensolche, also bewohnbare in der südlichen Hemisphäre. Isidor ging selbstverständlich davon aus, dass ein weiterer, ein vierter Kontinent im Süden liege; vielleicht lebten dort Antipoden. Doch Genaues wisse man von ihm nicht, weil „er uns wegen der Glut der Sonne unbekannt ist .12 Ein abschreckend breiter Ozean oder das Flammenmeer der mittleren, verbrannten Zone trennt auf den Karten die Welten.
6 Weltkarte im TO-Schema mit den Noah-Söhnen Sem, Ham und Japhet, deren Nachkommen die Kontinente Asien, Afrika und Europa besiedeln (Simon Marmion, um 1459 – 1463; Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, Ms. 9231, fol. 281v).
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7 Zonenkarte in der Historia figuralis des Girardus von Antwerpen (1272). Die blaue Farbe bezeichnet die Kälte an den Polen, die rote die Gluthitze am Äquator, die freie Fläche die Unzugänglichkeit der Antökumene im Süden (Utrecht, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Ms. 737, fol. 49v).
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8 Große hemisphärische Weltkarte aus dem Liber floridus des Lambert von Saint-Omer (um 1180): Der bekannten Ökumene liegt ein vierter Kontinent gegenüber, von dem man nichts wisse, auf dem aber spiegelbildlich die gleichen klimatischen Verhältnisse herrschen müssten (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1 Gud. lat., fol. 69v – 70r).
Schemakarten sollten ausgewählte geographische, klimatologische und astronomische Sachverhalte zur Darstellung bringen. Da sie die Wirklichkeit nicht abbildeten, sondern deren Wesen sichtbar machen wollten, ließen sie sich leicht variieren oder ergänzen, und da sie keinen Anspruch auf exklusive Gültigkeit erheben konnten, ließen sie sich gut miteinander kombinieren. Es fiel nicht schwer, die Umrisse einer TO-Karte in eine Klimazonenkarte einzuzeichnen und noch den Sonnenlauf oder die Laufbahn der Gestirne darüberzulegen. Die früheste separate Europa-Karte erweist sich als Ausschnitt einer TO-Karte – Afrika und Asien fielen einfach unter den Tisch. Der vierte Kontinent, dessen Existenz sich scheinbar logisch aus dem Konzept der Klimazonen ergab, konnte auch ohne diese den drei anderen Erdteilen gegenübergestellt werden (so besonders anschaulich bei Lambert von Saint-Omer). Der Zonenkarte ließ sich ein anderes Schema zur Seite stellen, das nicht Temperaturunterschiede, sondern den unterschiedlichen Neigungswinkel der Sonnenstrahlung thematisierte und sieben Klimazonen allein auf der nördlichen Erdhalbkugel konstruierte. Als besonders dauerhaft und wandlungsfähig erwies sich das TO-Schema. Es fand bereits auf der ältesten erhaltenen mittelalterlichen Weltkarte (einer Sankt Galler Isidor-Handschrift des späten 7. oder frühen 8. Jahrhunderts) Verwendung, wurde vielfach variiert und blieb bis ins späte 15. Jahrhundert, also fast ein Jahrtausend, präsent. Auf dem Reichs-
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9 Kaiser Augustus mit dem dreigeteilten Erdglobus als Zeichen seiner weltumspannenden Herrschaft (1112 – 1115; Gent, Universitätsbibl., Ms. 92, fol. 138v).
apfel konnte es die kaiserliche Weltherrschaft symbolisieren, in einem Schulbuch half es, geographisches Grundwissen zu vermitteln (so im Rudimentum novitiorum von 1475), und an die Errettung der Welt sollte es erinnern, wenn das T im O als Taukreuz, als das Kreuz Christi interpretiert wurde.
Symbolkartographie Selbst dort, wo noch ein enger Zusammenhang mit Isidors „Etymologien erhalten blieb, konnte das Schema deutlich über seine ursprüngliche Aufgabe hinausgehen und Inhalte in sich aufnehmen, die die Aussage des Kartenbilds in eine neue Richtung drängten. Eine Münchener Handschrift aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhundert enthält eine ganzseitige Weltkarte, die Isidors Kapitel über den Erdkreis (De orbe) illustriert. Das TO-Schema ist gut erkennbar, wenn auch an den Kontinentalgrenzen in Auflösung begriffen. Insofern hält sich das Bild an den Text. Doch die Karte bietet mehr, als dieser verspricht. Es handelt sich nämlich nicht einfach um eine Darstellung geographischer Verhältnisse, sondern um eine Verortung von Geschichte. Fast alle Ortsnamen bezeichnen Schauplätze, an denen in der Vergangenheit etwas Bedeutsames stattfand. Einige erinnern an Taten der Griechen und Römer (Rom, Athen, Karthago, Karrhae), andere sind der biblischen Geschichte ent-
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nommen (Tyrus, Babylon, Kapernaum, der Berg Sinai), und davon die wichtigsten spielen auf die Heilsgeschichte an. Durch Noahs Arche wurde die Menschheit, am Roten Meer das Volk Israel gerettet. Der Durchgang durch die Fluten ist mit einer Art Landbrücke kenntlich gemacht. Die rote Farbe weist auf das Blut Christi voraus. Geburt und Tod des Herrn werden durch die Stadt Bethlehem und die Grabeskirche in Jerusalem repräsentiert, und das apokalyptische Ende der Geschichte wird durch die Völker Gog und Magog eingeleitet, die aus ihrem Gefängnis hinter dem Kaukasus, hinter den porte Caspie, ausbrechen werden, in das sie Alexander der Große eingeschlossen hatte. Überhaupt sind die Taten des ruhelosen Welteroberers und vorchristlichen Gottsuchers (so hat das Mittelalter Alexander gesehen) gleich mehrfach verzeichnet (are Alexandri, castra Alexandri, columpne Alexandri, civitas Alexandria u. Ä. m.). Bei Isidor hatte er keine vergleichbare Rolle gespielt. Die Aussage der Karte geht also weit über den von ihr illustrierten Text hinaus. Dem großen Philosophen und Theologen Hugo von St. Viktor (†1141), der die irdischen Dinge als Zeichen begriff, die auf die jenseitigen verweisen, hat sie so gut gefallen, dass er sie (oder eine ihr zum Verwechseln ähnliche) ausführlich beschrieb. Ihr Anliegen war die Darstellung der Heilsgeschichte im Spiegel ihrer Schauplätze auf Erden, die Durchdringung geographischer Gegebenheiten mit geistlichem Sinn. Sie stellt ein frühes Beispiel einer „heilsgeschichtlich orientierten Symbolkartographie 13 dar, wie sie im ganzen Hochmittelalter und sogar darüber hinaus als beispielhaft galt. Antike Bildung und christliche Deutung gingen in ihr eine charakteristische und lange Zeit überzeugende Verbindung ein.
10 Anonyme Isidor-Karte aus dem späten 11. oder frühen 12. Jh., deren Einträge auf Ereignisse der weltlichen, biblischen und Heilsgeschichte anspielen, am auffälligsten mit der Farbe des Roten Meers, die auf das Blut Jesu Christi vorausweist (München, Bayer. Staatsbibl., clm 10058, fol. 154v).
1
Isidor von Sevilla, Etymologiae I, XXIX 3: Omnis enim rei inspectio etymologia cognita planior est.
2
Plutarch, Vita des Sertorius 8 (zit. Sonnabend, Grenzen der Welt, S. 76).
3
Vergil, Georgica I 30.
4
Tacitus, Germania 2.
5
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 174, 178.
6
Franz Ferdinand Schwarz, zit. Schneider, Kosmas Indikopleustes, S. 266.
7
Von den Brincken, Fines Terrae, S. 45.
8
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII, I 2: Nihil enim mundo pulchrius oculis carnis aspicimus; Übersetzung Möller, S. 491.
9
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII, IV 18: terra omnibus pulcherrima, soli fertilitate, pabuli ubertate gratissima; Übersetzung Möller, S. 526f.
10
Lindgren, Abstraktion, S. 30.
11
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII 6,1: in circumductione sphaerae existunt; Übersetzung Möller, S. 495.
12
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV, V 17: solis ardore incognita nobis est; Übersetzung Möller, S. 530.
13
Anna-Dorothee von den Brincken, Descriptio Terrarum. Zur Repräsentation von bewohntem Raum im späteren deutschen Mittelalter, in: dies., Studien zur Universalkartographie, S. 623 – 646, hier S. 628.
Symbolkartographie
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II
Die Mitte der Welt D
ie „Etymologien des Bischofs Isidor von Sevilla waren ein ungemein erfolgreiches Buch, und das für sehr lange Zeit. Bis ins 18. Jahrhundert wurden sie zumindest als respektable Leistung gewürdigt. Erst dann kippte die Stimmung, und man fand die Arbeitsweise des Autors schematisch, sein Wissen dürftig, die Etymologien naiv. Theodor Mommsen nannte ihn einen sorglosen Kompilator, der über Vergangenheit und Gegenwart gleich wenig mitzuteilen wisse, und Mommsens Urteil wog schwer. Man gewöhnte sich daran, Isidors Werk den Rang eines „Konversationslexikons zuzugestehen, es als den „Brockhaus des frühen Mittelalters zu bezeichnen.1 Das war nicht einmal wohlwollend gemeint. Ein ganz anderes Urteil ergibt sich, wenn man die Wirkungsgeschichte des Buches bedenkt.
Imago mundi Isidors Leistung bestand in der Vermittlung antiker Bildung an ein Umfeld, das angesichts gewandelter politischer und Lebensverhältnisse nach geistiger Orientierung verlangte. Daran gab es jedoch nicht nur auf der Iberischen Halbinsel, sondern auch sonst in Westund Südeuropa Bedarf. An der Versöhnung von lateinischer Antike und katholischem Christentum mit den neuen Herrschaftsverhältnissen war überall gleich viel gelegen. Die Verbreitung der „Etymologien macht das deutlich. Um die tausend Handschriften sind bis heute erhalten geblieben und bezeugen die anhaltende Wertschätzung des Werks, die mit der Erfindung des Buchdrucks keineswegs aufhörte. Zuerst wurde es in England und Irland bekannt, dann – vor allem durch die Vermittlung iro-schottischer und angelsächsischer Missionare – auch auf dem Festland. Bis ins ferne Island reichte seine Wirkung. Das Verständnis der antiken Überlieferung wurde dadurch wesentlich erleichtert. Die karolingische Bildungspolitik (auch sie eine Reanimation der Antike) profitierte davon und steigerte gleichzeitig die Nachfrage nach Manuskripten. Immer mehr von ihnen fanden den Weg in die Bibliotheken. Zweifellos hatten die „Etymologien ihre zeitbedingten Schwächen; doch ihre imposante Wirkungsgeschichte gibt sie als ein Werk zu erkennen, das „dem ganzen Mittelalter als Grundbuch gedient hat .2 Der Autor selbst wurde schon bald nach seinem Tod als größter Gelehrter aller Zeiten (in saeculorum fine doctissimus)3 gepriesen, und Dante ließ ihn mit anderen Geistesgrößen wie den Theologen Thomas von Aquin und Albertus Magnus, dem Rechtslehrer Gratian und
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II Die Mitte der Welt
dem Philosophen Boëthius den Sonnenhimmel im Paradies bewohnen (Divina Commedia, Paradiso X). Er galt als der „Lehrmeister des Mittelalters (praeceptor medii aevi) und wurde schließlich 1722 zum Kirchenlehrer der katholischen Kirche, 2001 sogar zum Schutzpatron des Internets erhoben. Andere versuchten, seinem Beispiel zu folgen. Doch erst im 12. Jahrhundert gelang es einem Autor, Isidors Werk zwar nicht zu übertreffen, aber doch dessen Monopol als Schul- und Bildungslektüre zu brechen. Merkwürdigerweise ist über die Person des Verfassers nur wenig bekannt, und das wenige, was wir wissen, lässt sich nur mit mancherlei Hypothesen zu einem einigermaßen schlüssigen Lebensbild verknüpfen. Um sein Werk vor den Neidern zu schützen, wollte er anonym bleiben und treibt so bis heute ein Versteckspiel mit seinen Lesern. Schon sein Name: Honorius Augustodunensis wirft Fragen auf. Denn so nannte er sich offenbar erst in seinen späteren Lebensjahren, und mit Augustodunum, d. i. Autun im Herzogtum Burgund, hatte er nichts zu tun. Hinweise auf Augsburg, Siegburg, Kaiseraugst oder das Kollegiatstift Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle in Regensburg führen nicht weiter. Eine befriedigende Deutung des Beinamens steht nach wie vor aus. Gesichert scheint, dass Honorius nicht auf dem Festland geboren wurde und eine „internationale Karriere durchlief. Er hieß wohl ursprünglich Henricus, stammte vielleicht aus Irland und verbrachte die prägenden Jahre seines Lebens in England, wo er die Schriften Anselms von Canterbury kennenlernen konnte. In der Regierungszeit Kaiser Heinrichs V. kam er nach Regensburg und lebte im Schottenkloster Weih St. Peter als Mönch und Inkluse. Er trat mit reformkirchlichen Kreisen in Verbindung und beteiligte sich an der öffentlichen Debatte um die gregorianische Reform. Ob er noch einmal das Kloster wechselte und sich nach Lambach im heutigen Oberösterreich zurückzog, ist nicht mehr als eine Vermutung. Ein Schleier des Geheimnisses umgibt auch die letzten Jahre seines Lebens. Nicht ohne Stolz zählte Honorius einmal die 22 größeren Werke auf, die er geschrieben hatte. Man solle sie nicht verachten und werde sehen, wer nach ihm noch komme.4 Seine kleineren Schriften überging er. Honorius war also ein ebenso fleißiger wie selbstbewusster, ein fruchtbarer und auch einflussreicher Autor, der sich auf verschiedenen Feldern bewährte. Er verfasste Predigten und Texte für den liturgischen Gebrauch, theologische Werke, die das Wort Gottes und die Geschichte interpretierten, polemische Traktate zur Kirchenreform, schließlich auch naturkundliche Schriften, die das Wesen und die Geheimnisse der Schöpfung ergründen sollten. Seine besondere Fähigkeit bestand darin, die Dinge, über die er schrieb, ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen und in wenigen Worten zu sagen, worum es eigentlich ging. In der Forschung wurde ihm deshalb eine gewisse Neigung zur Vereinfachung und Popularisierung, wenn nicht gar zur „Banalisierung , attestiert.5 Mit den großen Philosophen des 12. Jahrhunderts konnte er sich keinesfalls messen. Doch er bemühte sich um Verständlichkeit und erreichte die Leser. Er besaß ein didaktisches Talent. Darin lag das Geheimnis seines Erfolgs. Vor allem im Umkreis der Orte, wo er sein Leben verbrachte, also in Süddeutschland, Österreich und England, erzielte er Wirkung. Die weiteste Verbreitung fand das Elucidarium, das Zwiegespräch eines Lehrers mit seinem Schüler über die Grundsätze und Ziele der Kirchenreform. Mehr als 300 Abschriften und Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen bezeugen seinen immensen Erfolg. Kein anderes Werk des Honorius hatte so aktuellen Bezug. Aber weit verbreitet waren auch sein Hohelied-Kommentar (In cantica canticorum), eine Predigtsammlung für die wichtigsten Festtage im Kirchenjahr (Speculum ecclesiae) sowie vor allem eine Beschreibung der Welt in drei Büchern, nach Ausweis der Handschriftenüberlieferung (ebenfalls
Imago mundi
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mehr als 300 Manuskripte) und Übersetzungen (ins Altfranzösische, Altspanische, Italienische und sogar Altwestnordische) sein zweitwichtigstes Werk. Es war dem Verfasser so wichtig, dass er es zwischen 1107 und 1139 mehrfach überarbeitete und redigierte. Er gab ihm einen naheliegenden, aber bis dahin nicht gebräuchlichen Titel: Imago mundi – „Bild der Welt . Einige spätere Autoren (Gautier bzw. Gossuin de Metz, Jacopo d’Acqui, Pierre d’Ailly) machten sich den Titel zueigen, ließen sich also von dessen eingängiger Metaphorik überzeugen: „Wie in einem Spiegelbild soll man die Einrichtung der ganzen Welt erkennen können – so der Verfasser selbst über den Zweck seines Werks.6 Alles, was ist, teilt sich für Honorius in drei Kategorien, und jede davon ist ihm ein eigenes Buch wert. Das erste handelt vom Raum, das zweite von der Zeit, das dritte von der Geschichte. Anders als Isidor von Sevilla, der ein Thema an das andere reihte und so auf zwanzig Bücher „Etymologien kam, beschränkte sich Honorius auf die fundamentalsten Aspekte und ordnete ihnen die irdischen und himmlischen, die sichtbaren und unsichtbaren Erscheinungen zu. Vieles ließ er schlicht beiseite. Zum Raum gehören nicht nur die Erde, die Erdteile, die Inseln und Länder, sondern auch die Hölle, das Wetter, die Tiere, die Menschen und sogar die Gestirne. Auf die Definition der Zeit, von Honorius als endlich verstanden, folgt die Beschreibung der Zeitmaße (vom Moment bis zum Jahrhundert) und der astronomischen Grundlagen des Kalenders. Geschichte ereignet sich in der Abfolge von Weltaltern, Reichen, Christenverfolgungen und Herrschern. Jeweils wählt Honorius den allgemeinsten Sachverhalt als Ausgangspunkt seiner Darstellung. Die Geschichte beginnt mit dem Sturz Satans aus dem Himmel, vor der Zeit steht die Ewigkeit, und den weitesten Raum bildet der Kosmos. Dort, also in den ersten Kapiteln des ganzen Werkes, spricht der Verfasser von den Grundlagen seines kosmographischen Weltbilds.
Kosmos-Ei und Erdglobus Honorius Augustodunensis stellte sich das Weltall (mundus) kugelrund vor, so rund wie einen Ball. Allerdings setze es sich wie ein Ei aus verschiedenen Bestandteilen zusammen. Denn ein Ei werde ringsum von seiner Schale umgeben, und in der Schale befinde sich das Eiweiß, im Eiweiß der Dotter, am Dotter ein Fetttropfen. Genauso werde das Weltall vom Himmel umgeben, und unter dem Himmel befinde sich reiner Äther (purus ether), unter dem Äther stürmische Luft (turbidus aër), in der Luft die Erde, dem Fetttropfen vergleichbar. Deren Gestalt aber sei kreisrund, deshalb werde sie der Erdkreis (orbis) genannt.7 Wenn man nämlich von weit oben auf sie schauen könnte, würden sogar die Höhe der Berge und die Tiefe der Täler kleiner wirken als der Finger eines Mannes, der einen Ball in der Hand hält. Der Erde Umfang messe 180 000 Stadien oder etwas mehr als 12 000 Meilen. Sie befinde sich genau in der Mitte des Weltalls wie der Mittelpunkt eines Kreises, also von den Grenzen des Kosmos gleich weit entfernt, und werde nicht etwa durch Pfosten und Stützen, sondern durch die Allmacht Gottes in ihrer Lage gehalten. Auf allen Seiten werde sie von den Fluten des Ozeans umspült, und auch das Festland sei – wie der menschliche Körper von Blutadern – überall von Wasseradern durchzogen und mit Feuchtigkeit versorgt. Wo immer man grabe, werde man deshalb auf Wasser stoßen. Es war nicht sonderlich originell, wie Honorius das Aussehen des Weltalls und der Erde beschrieb. Seine Vorlagen lassen sich leicht eruieren. Isidors Enzyklopädie war nur eine davon. Zitate aus den Psalmen schmücken den Text. Auch das Weltall als Ei zu beschreiben, war keineswegs neu. Der römische Universalgelehrte Marcus Terentius Varro, für Seneca „der gelehrteste der Römer ,8 hatte damit einen Anfang gemacht. Mittelalterliche Autoren
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1 Gedankenexperiment, mit dem sich die Rundheit des Globus zeigen ließ: Zwei Männer bewegen sich in entgegengesetzter Richtung voneinander fort und müssen irgendwann wieder aufeinander treffen (Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 574, fol. 42r).
wie Johannes Scotus Eriugena und Remigius von Auxerre, später auch Petrus Abaelardus und Hildegard von Bingen folgten ihm nach und verfeinerten die Metapher. Auch andere Varianten (wie etwa Eischale = Himmel, Häutchen unter der Schale = Äther, Eiweiß = Wasser, Eidotter = Erde) kamen in Umlauf. Honorius Augustodunensis befand sich also in guter Gesellschaft, als er das Bild vom „Kosmos-Ei aufgriff und es seinem eigenen Werk einverleibte. Indem aber seine Imago mundi weite Verbreitung erlangte, machte sie auch das „Kosmos-Ei populär.9 Daraus geht hervor, dass sowohl die Leser der Imago mundi als auch die ihrer Vorlagen und Vorläufer eine Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde besaßen. Denn der Vergleich mit dem Fetttröpfchen am Eidotter unterstellt eine plastische Rundform, und auch das Bild vom Ball in der Hand lässt nur diese Interpretation zu. Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass die Gelehrten des Mittelalters nie einen Zweifel an der Kugelform der Erde hegten. In der Antike war sie nachgewiesen worden, und das Mittelalter trug das Wissen der Antike beflissen weiter. Auch in dieser Hinsicht hielt es an den Erkenntnissen der griechischen und römischen Wissenschaft fest. Das Modell der Zonenkarte setzt die Vorstellung der Erdkugel logisch voraus und wurde als Veranschaulichung eines von gleich großen Klimazonen umgürteten Erdglobus verstanden. Einige Kartenzeichner ha-
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ben sogar versucht, den sphärischen Charakter der Erde durch gekrümmte Trennlinien zwischen den Zonen zu visualisieren. Das TO-Schema wirkt zwar, wie wenn es eine flache, runde Erdscheibe wiedergäbe. Es sollte aber zunächst nur zeigen, in welchem Nah- und Größenverhältnis die drei Kontinente zueinander stehen, und nimmt auf das Problem, die drei Dimensionen des Raums auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren, keine Rücksicht. Man kann von ihm nichts erwarten, was mit ihm nicht bezweckt war. Dass das Mittelalter über die kosmographischen Verhältnisse nicht schlechter informiert war als die Antike, deren Kenntnisse es an Humanismus und Neuzeit übermittelte, geht aus zahlreichen Äußerungen sowohl gelehrten als auch populären Charakters hervor. Im 9. Jahrhundert wurde die Lehre von der Kugelgestalt von Gelehrten wie Theodulf von Orléans und Johannes Scotus Eriugena, im 10. von Gerbert von Reims, im 11. von Hermann von Reichenau vertreten. Ein lehrhaftes Werk aus dem späten 12. Jahrhundert, der mittelhochdeutsche Lucidarius, bezeichnete die Erde ausdrücklich als kugelförmig (sinewel). Später wurde sie dann gerne mit einem Apfel verglichen, und die wärmende Sonne sei wie eine Kerze, die man an die Frucht hält. Dadurch erklärten sich die unterschiedlichen Temperaturen in den unterschiedlichen Klimazonen der Erde. Der begnadete und deshalb viel beschäftigte Prediger Berthold von Regensburg schließlich stellte fest, sie sei „ganz so beschaffen wie ein Ball , und ging dann dazu über, seinen Zuhörern das „Kosmos-Ei zu erklären.10 Wenn man genau hinsah, lagen die Beweise für die Kugelgestalt der Erde offen zutage. Bei einer Mondfinsternis war der Erdschatten zu erkennen, bei einer Reise von Norden nach Süden rückten die Sternbilder dem Horizont näher (um schließlich ganz zu verschwinden), und wenn man mit dem Schiff auf den Ozean fuhr, sah man den Mast länger als den Rumpf. Wer den Ausguck bestieg, hatte das Festland länger und das Ziel früher als alle anderen vor Augen. Sogar ein Gedankenexperiment konnte man sich zurechtlegen: Wenn sich zwei Männer in entgegengesetzter Richtung voneinander entfernten und immer geradeaus gingen, mussten sie sich eines Tages auf der anderen Seite der Erde begegnen. Denn „wenn es unterwegs keine Hindernisse gäbe, könnte man auf ihr eine Runde machen wie eine Fliege um einen Apfel . Und „wenn der Globus seiner Achse nach durchstochen wäre, könnte man auf der anderen Seite den Himmel sehen .11 Der viel gelesene, aber immer noch mysteriöse Johann von Mandeville machte daraus eine hübsche Geschichte, die er in seine um 1356 entstandene fingierte Beschreibung einer Reise von England nach Ostasien einfügte. Vielleicht kam er selbst nie weiter als bis zur nächsten ordentlich bestückten Bibliothek. Aber auch (wenn nicht gerade) dort konnte man erfahren, wie es um die Welt bestellt war. In seiner Jugend – so Mandeville – habe er von einem vornehmen Landsmann gehört, der es zu Hause nicht mehr aushielt; denn er wollte die Welt sehen. Er kam nach Indien und noch weiter bis zu den 5000 Inseln, die man dort angeblich vorfindet. Er reiste auf dem Land und zur See, immer um den Globus herum, bis er zu einer fernen Insel gelangte, wo er eine ihm vertraute, nämlich seine eigene Sprache gesprochen hörte. Er sah einen Mann, der mit einem Ochsengespann pflügte und dabei dieselben Worte gebrauchte, die in seiner Heimat beim Pflügen gebraucht wurden. Er wunderte sich sehr, weil er nicht verstand, wie das sein könne. Wäre er noch ein bisschen weiter gereist, wäre er bald nach Hause gekommen. Aber als er wenig später kein Schiff finden konnte, kehrte er um und machte sich auf den Heimweg – „so hatte er eine lange Reise .12 Schließlich kam er nach Norwegen, und ein Sturm verschlug ihn auf eine Insel. Dort aber merkte er, dass er wieder genau dorthin zurückgekehrt war, wo die Ochsen in seiner Muttersprache zum Pflügen getrieben wurden. So also konnte es jemandem
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ergehen, der einmal um die Erde reiste, aber die geographischen Voraussetzungen nicht recht bedachte. Vielleicht können wir die Geschichte – jenseits ihrer Pointe – als Hinweis darauf verstehen, dass sich doch nicht jedermann in Kosmographie und Geographie auskannte, dass sich nicht jedermann der Kugelform der Erde bewusst war. Die Gelehrten wussten Bescheid. Multiplikatoren wie Honorius Augustodunensis, Johann von Mandeville oder auch Berthold von Regensburg brachten gelehrtes Wissen unter die Leute. Viele kannten den Reichsapfel und wussten, dass er die Herrschaft über die Erdkugel symbolisierte. Was dagegen die einfachen Leute, auf dem Land wie in der Stadt, vom Aussehen der Erde dachten, ob sie überhaupt daran denken wollten, das wissen wir nicht. Das wissen wir nicht für das Mittelalter und auch nicht für die Antike.
Christliche Kartographie Honorius Augustodunensis hat keine eigene Weltkarte angefertigt oder konzipiert. Man kann nur vermuten, dass er in seinen Unterlagen auch kartographisches Material besaß. Doch keines seiner Werke, nicht einmal die Imago mundi, glaubte er mit einer Karte ausstatten zu sollen. Die Leser seiner Enzyklopädie mussten ohne kartographische Anschauung auskommen. Mehrere Kopisten sahen sich veranlasst, die Überlieferung zu korrigieren und den Mangel – so es denn einer war – zu beheben. Die meisten begnügten sich mit einer einfachen Skizze. Nur einer gab sich mehr Mühe. Er lebte und arbeitete im Domkapitel zu Durham im nordöstlichen England und schickte einer Abschrift der Imago mundi eine detaillierte Weltkarte voraus. Aufgrund eines Missverständnisses wurde er lange Zeit mit einem Kanoniker Heinrich von Mainz identifiziert. Doch mittlerweile verzichtet die Forschung auf eine namentliche Bezeichnung des Autors und spricht nur noch von der „Sawley-Karte . Denn von Durham kam die Handschrift schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts in die kleine Zisterzienserabtei Sawley in Lancashire (ehemals Yorkshire) nahe der Irischen See, nach deren Auflösung (1536) schließlich in das Corpus Christi College in Cambridge. Die Karte sollte den Text der Imago mundi illustrieren, gibt aber deren Inhalt nur in den Grundzügen wieder. Wahrscheinlich hatte der Kartenmacher eine großformatige, gerollte oder gefaltete Weltkarte zur Verfügung, die er auf Buchformat reduzierte. Sie war also für die Imago mundi zunächst nicht bestimmt und kennt Orte, die dort gar nicht vorkommen: Köln am Rhein, Paris in Frankreich, Meroë in Ägypten, den südindischen Hafen Kottonara (Coconare), über den – so Plinius – in der Antike der Pfeffer exportiert wurde, die Stadt Henoch (Enos), die Kain vorzeiten gebaut haben soll. Von all dem konnte man anderswo lesen, nicht aber bei Honorius Augustodunensis. Trotzdem waren Text und Karte miteinander kompatibel: Beide sind dem TO-Schema verpflichtet, verfolgen enzyklopädische Absichten und wollen das Wirken Gottes in der Welt erklären. Auch in der Auswahl der in Geschichte und Heilsgeschichte wichtigen Orte ähneln sie sich. Der Kartenmacher machte sogar noch deutlicher, dass es ihm um eine christliche Sicht auf die Welt ging. Die Mittel der visuellen Reduktion und Konzentration, die den Kartographen privilegieren, brachte er dabei wirkungsvoll zum Einsatz: Den Rahmen bilden vier Engel, die auf die Schauplätze des Heilsgeschehens hinweisen. Ganz im Osten, wo nach dem Zeugnis der Genesis alles anfing, liegt das irdische Paradies, aus dem die vier Paradiesflüsse Gihon (Nil), Phison (Ganges), Euphrat und Tigris austreten und dann die
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2 Sog. Sawley-Karte (um 1190; früher Heinrich von Mainz zugeschrieben): Eine „Achse des Heils“ führt vom irdischen Paradies über die Paradiesflüsse nach Jerusalem und von da weiter nach Rom. Die Verzeichnung aller zwölf jüdischen Stämme lenkt den Blick des Betrachters auf das Heilige Land (Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2).
Erde durchspülen. Westlich davon, weiter unten auf der Karte, erhebt sich der Turm von Babel. Mit der Verwirrung der Sprachen begann hier die Geschichte der Völker, die die Länder der Erde besiedeln. Als das heilsgeschichtlich bedeutsamste galt das Volk Israel, dessen Siedlungsgebiet sich unmittelbar anschließt. Von dort aus fand das Christentum seinen Weg nach Rom und von da bis an die Grenzen Europas. Weitere Orte, die in der Geschichte des Christentums eine Rolle gespielt hatten (das Rote Meer, der Berg Sinai, das Gefängnis der Völker Gog und Magog, die Wüstenklöster des heiligen Antonius, Antiochia, Konstantinopel, das Jakobus-Grab in Spanien u. a. m.), säumen den Weg des Heils, der nach Ansicht des Kartographen vom Paradies in gerader Richtung bis nach Rom geführt hatte. Man kann von einer „Heilsachse sprechen.13 Das scheinbare Zentrum der Karte bilden die Kykladen (Cyclades insule) mit dem Apollo-Heiligtum auf Delos. Man hat versucht, den merkwürdigen Sachverhalt mit dem Weiterwirken antiker Traditionen zu erklären. Doch der optische Eindruck täuscht. Der unmittelbar darüber liegende Raum zwischen Libanon, Gilead, Jordan und Mittelmeer mit den Wohngebieten aller zwölf jüdischen Stämme (nirgendwo sonst auf einer mittelalterlichen Weltkarte sind sie
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vollständig verzeichnet) und den Städten Jerusalem, Bethlehem und Jericho nimmt mehr Platz in Anspruch als jeder andere Landstrich auf der Karte. Er zieht alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Die Karte aus Sawley, deren größere Vorlage wir nicht kennen, hatte Vorläufer und fand Nachfolger, vor allem in England. Schon die sogenannte Angelsächsische Weltkarte oder Cottoniana (benannt nach dem Handschriftensammler Robert Bruce Cotton, 1571 – 1631), entstanden im frühen 11. Jahrhundert, heute im Britischen Museum, gab den jüdischen Stämmen ähnlich viel (wenn nicht noch mehr) Raum, hielt sich aber mit weiteren christlichen Einträgen eher zurück. So gibt es im äußersten Osten kein Paradies, sondern nur einen Goldberg, die fruchtbare Insel Taprobane und ein Übermaß an Löwen (hic abundant leones). Eine Oxforder Karte von ca. 1100 oder 1110 sieht dagegen die Welt im Zeichen des Kreuzes und füllt deren Mitte mit dem Namen der Heiligen Stadt HIERUSALEM, geschrieben in Majuskeln, mit graphischer Emphase sozusagen. Dafür muss es besondere Gründe gegeben haben. In der Dichte der Einträge und der Stringenz ihrer Konzeption wird die Karte aus Sawley von ihren Vorläufern nicht erreicht. Übertroffen wird sie von der sogenannten Psalterkarte in London. Das ist insofern bemerkenswert, als sie einen Durchmesser von gerade einmal 9 cm besitzt und mit extrem wenig Bildfläche auskommen muss. Wahrscheinlich wurde sie um 1265 nach einer viel größeren Vorlage, vielleicht einer Wandkarte, vielleicht in Westminster, gezeichnet. Nur so lässt sich die Fülle der Informationen erklären. Das Ergebnis schmückt ein kleinformatiges (14,4 × 10,3 cm) Gebetbuch, das einen Kalender und den Psalter enthält. Daher der Name, unter dem die Karte bekannt ist. Sie fungiert als eine Art bildlicher Prolog. Da die Psalmen die Schöpfung besingen und so das Lob Gottes verkünden, hätten sie gar nicht angemessener illustriert werden können.
3 Auf der Oxforder Weltkarte von ca. 1100 / 1110 scheint Europa die beiden anderen Kontinente zu dominieren. Erstmals erscheint Jerusalem als kartographische Mitte der Welt. Wahrscheinlich gab die Eroberung der Heiligen Stadt im Ersten Kreuzzug dazu den Anlass (Oxford, St. John’s College, Ms. 17, fol. 6r).
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4 Die Londoner Psalterkarte gibt einer christlichen Weltsicht Ausdruck. Ihr Rahmen beschreibt die Herrschaft Jesu Christi, das Kartenbild den Weg des Heils in der Welt. Jerusalem erscheint markant als deren Mitte (London, British Library, Additional MS 28681, fol. 9r).
Entschlossen folgt der Verfasser dem TO-Schema, und das in dreifacher Hinsicht: im Rahmen, auf der Karte selbst und auf deren Rückseite. Über der Welt thront Christus als allmächtiger Herrscher, als Pantokrator, dem allein ein Kreuznimbus zusteht. Gezähmte Drachen unterwerfen sich ihm, zwei Engel schwenken Weihrauch. Mit der Linken segnet Christus die Schöpfung, die Rechte hält einen Globus, den ein aufgetragenes T als Erdkugel kennzeichnet. Die Karte führt das Bild weiter aus und füllt das Schema mit bedeutsamen Orten. 145 Inschriften sind zu entziffern, manche nur bei genauem Hinsehen. Asien
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hat Geschichte, Europa die Gegenwart, Afrika vor allem wundersame Menschen zu bieten. Was auf der Vorderseite im Bild gezeigt ist, wird auf der Rückseite durch eine Beschreibung der Kontinente unterstützt. Christi Leib umspannt hier schützend den Globus. Ins Auge springen die Orte, auf die es bei einer geistlichen Deutung des Kartenbilds ankommt. Wie ein Blickfang wirkt das irdische Paradies, nicht nur wegen der Nähe zu Christus, sondern auch weil nur hier zwei unbestritten menschliche Wesen zu sehen sind: nicht Adam und Eva, wie meistens gesagt wird, sondern die Propheten Henoch und Elias, die beide an ihrem Lebensende entrückt wurden. Dem Garten Eden entströmen die Paradiesflüsse (nicht vier, sondern fünf, weil der Ganges nicht wie sonst üblich mit dem Phison gleichgesetzt ist) und bewässern die Erde. Den Süden nimmt von dort aus das (wie immer blutig) Rote Meer ein, den Norden das Berggefängnis der Völker Gog und Magog. Sie sind zwar nicht eigens genannt, doch jedermann wusste Bescheid, wenn er die verschlossene Pforte im Kranz der Berge hinter Armenien sah. Man glaubte, sie mit dem Eisernen Tor bei Derbent im Kaukasus identifizieren zu können. Gog und Magog standen für die Gefährdung, das Rote Meer für die Erlösung des Menschengeschlechts. In den Räumen dazwischen wimmelt es von Reminiszenzen an die biblische Geschichte und den Alexan-
5 Die Rückseite der Psalterkarte zeigt Christus in schützender Haltung. Die Texte erläutern, was man sich unter Asien, Europa und Afrika vorstellen sollte (London, British Library, Additional MS 28681, fol. 9v).
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derroman. Die ganze Karte ist auf Symmetrie angelegt und bringt eine Ordnung in die Erscheinungen von Natur und Geschichte. Doch die kreisrunde Form verlangt eine Mitte, und wie auf der Sawley-Karte wird sie überbreit durch das Heilige Land eingenommen, nun konzentriert auf die Heilige Stadt Jerusalem, deren dreifaches Rund, bestehend aus Heiligem Grab, Namenszug und Ringmauer, dem Rund der Ökumene und auch des Paradieses entspricht. Aus mehreren konzentrischen Kreisen und einer „Heilsachse , die auf Jerusalem zielt, setzt sich das Weltbild der Psalterkarte zusammen. Heiliges Land und Heilige Stadt bilden – geographisch und theologisch – die Mitte der Welt.
Das Heilige Land Dass mittelalterliche Kartographen (und die Betrachter ihrer Karten) dem Heiligen Land besondere Aufmerksamkeit schenkten, liegt auf der Hand. Denn dort in Palästina hatte die Wiege des Christentums gestanden; dort lagen seine Wurzeln, und das war für fast jedermann von Belang. Da das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen war, übernahm es dessen örtliche Traditionen, die viel mit Jerusalem, weniger mit Ägypten, dem Sinai und dem Zweistromland, gar nichts mit dem Rest der Welt zu tun hatten. Zugleich schuf es neue Traditionen, die sich an das Leben Jesu knüpften. Christus aber hatte ausschließlich in Palästina gewirkt. Das Christentum definierte sich – nach schier endlosen Debatten, die sich um Christi Gottesnatur gedreht hatten – als monotheistische Religion auf trinitarischer Grundlage. Es erhob also wie das Judentum Anspruch auf alleinige Wahrheit und exklusive Geltung. In fremde Geistes- und Götterwelten konnte seine Glaubenslehre nicht „übersetzt werden. Doch anders als das Judentum verschrieb es sich der Mission und wollte alle Völker erreichen. Christi Missionsbefehl war von Beginn an in Geltung. Dadurch wurde die Botschaft von Sündenfall und Erlösung weit über ihren Ursprung hinaus verbreitet. Indem sie sich auf konkrete Orte bezog, waren diese ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens. Die geistige Bindung an das Heilige Land, wo der eine Gott sich mehrfach offenbart hatte, blieb dadurch immer präsent. Nirgendwo kam sie so deutlich zum Ausdruck wie auf Karten. Man hat 21 mittelalterliche Karten gezählt, die allein das Heilige Land zeigen, also Regionalkarten darstellen. Für keine andere Region lassen sich auch nur annähernd vergleichbare Zahlen angeben. Nur Palästina zog so viel Aufmerksamkeit auf sich. Zwar stammen fast alle diese Karten aus dem 12. – 15. Jahrhundert. Aber die älteste Heiligland-Karte, ein Mosaik auf dem Fußboden einer byzantinischen Basilika im heute jordanischen Madaba, stammt aus der Mitte des 6. Jahrhunderts, also aus einer Zeit, bis zu der wir überhaupt nichts Vergleichbares besitzen, schon gar nicht in dieser Dimension. Mehr als zwei Millionen verschiedenfarbige Steinchen wurden aufgewandt, um auf einer Fläche von 144 Quadratmetern ein Bild des Heiligen Landes mitsamt den benachbarten Regionen entstehen zu lassen. Boote auf dem Toten Meer, Palmen bei Jericho, Gazellen in der Wüste und Fische in Jordan und Nil sollten die Illusion einer Landschaft erzeugen. Doch vor allem kam es darauf an, durch die den Baulichkeiten beigefügten Inschriften zu erklären, welcher Ort welche biblische Bedeutung besaß. Madaba war bis zu seiner Zerstörung im Jahre 746 Bischofssitz und Wallfahrtsziel. Vielleicht gab die Karte den Pilgern die Möglichkeit, sich auf das Erlebnis einer sakralen Landschaft einzustellen. Sicher aber bezeugt sie die definitive Inbesitznahme Palästinas durch das Christentum am Ende der Antike. Da mit den Muslimen bald weitere Mitbewerber auf den Plan traten und dann heftig mit
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den Christen konkurrierten, sollte es auch auf späteren Karten immer wieder um Besitz und Herrschaft in Gottes eigenem Land gehen. Den Höhepunkt des Konflikts zwischen Christen und Muslimen bildeten die Kreuzzüge und das halbe Jahrhundert, das auf sie folgte. Eingeleitet wurde er durch die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099, neu entfacht durch die Rückeroberung der Heiligen Stadt 1187, nicht abgeschlossen durch die Einnahme Akkons als letztem christlichen Stützpunkt 1291, erst gemildert durch den Modus vivendi, der seit den 1330er-Jahren praktiziert wurde. Kartographen konnten zu all dem etwas beitragen, indem sie den Konflikt visuell feststellten, Grenzlinien zwischen den Konfliktparteien zogen und die Ansprüche der eigenen Seite hervorhoben. Die christlichen Eroberer sahen sich zunächst vor die Aufgabe gestellt, ein Land zu erkunden, das sie bis dahin nur aus der Heiligen Schrift kannten. Man wusste von den benachbarten Wüsten, hatte eine Vorstellung vom Roten und vom Toten Meer und erwartete ein Land, in dem Milch und Honig fließen sollten. Mit der Wirklichkeit musste man zurechtkommen. Auf die Eroberung der Städte und festen Plätze folgte die Erfassung und Erkundung des Landes. Bewaffnete Expeditionen wurden ausgeschickt, um die Herrschaft der Kreuzfahrer zu sichern und gleichzeitig ein Bild von der natürlichen Beschaffenheit Palästinas zu gewinnen. Landnahme und Landesaufnahme fielen in eins. Fulcher von Chartres, Kaplan König Balduins I. von Jerusalem und Teilnehmer an einer dieser Streifzüge, berichtet, wie man mithilfe einheimischer Führer das Gelände explorierte, die Früchte des Landes kennenlernte (süße, wohlschmeckende Datteln zum Beispiel) und sich schließlich mit den Eigenarten des Toten Meeres (des „Salzmeers der Bibel) vertraut machte: Niemand könne darin „untertauchen oder ertrinken, selbst wenn er es wollte ,14 und das Wasser sei „bitterer als Nieswurz ;15 es sei „dermaßen salzhaltig, dass weder Vierfüßler noch Vögel es trinken können .16 Die Erklärungen, die sich Fulcher zurechtlegte, lassen erkennen, wie sehr ihn die natürlichen Verhältnisse irritierten. An einer anderen Expedition, die zum Roten Meer führte, konnte er nicht teilnehmen. Aber er ließ sich von den Heimkehrern berichten und bekam auch Gesteinsproben vorgelegt. Aus ihnen schloss er, dass das Wasser des Roten Meeres „so hell und klar sei „wie jedes andere Meerwasser und nur der felsige Untergrund den Eindruck einer roten Färbung erzeuge. Isidors „Etymologien , wo man eine ähnliche Erklärung lesen konnte, stand ihm offenbar nicht zur Verfügung.17
6 Jerusalem auf der Mosaikkarte in Madaba (Jordanien) aus dem 6. Jh.
Aus diesen und ähnlichen Beobachtungen formte sich den Kreuzfahrern ein genaueres Bild von der Natur des Landes, in dem sie heimisch werden sollten. Ihr Wissen bildete die Grundlage für Landesbeschreibungen (wie die des Rorgo Fretellus aus Nazareth), wurde von Pilgern genutzt (Johannes von Würzburg zum Beispiel) und ging in die zahlreichen Palästina-Karten ein, die seit dem 12. Jahrhundert entstanden. Wie genau sie sein konnten,
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7 Matthaeus Parisiensis: Akkon, der letzte christliche Stützpunkt im Heiligen Land (um 1250; London, British Library, Royal MS 14 C VII, fol. 4v – 5r)
auch wenn sich der Verfasser nie in Palästina aufhielt, zeigen die vier Exemplare, die der gelehrte Geschichtsschreiber Matthaeus Parisiensis im fernen Kloster Saint Albans bei London um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfertigte. Über Chroniken und Pilgerberichte hinaus standen ihm vermutlich auch mündliche Auskünfte zur Verfügung – so detailgenau sind seine Karten. Sie verzeichnen Straßen, Berge und andere topographische Merkmale, Entfernungen, Herrschaftsverhältnisse und eine große Zahl von Kreuzfahrerburgen, bis heute die eindrucksvollsten Zeugen christlicher Präsenz im Heiligen Land. Überall bemüht sich der Autor um größtmögliche Aktualität seiner Darstellung. Freund und Feind werden mit Namen genannt. Zwar ist Jerusalem mittlerweile verloren. Noch aber befindet sich Akkon in christlicher Hand. Deshalb treten Hafen und Festung übergroß in Erscheinung. Diese Stadt sei die „Hoffnung und Zuflucht aller Christen im Heiligen Land .18 So heißt es auf einer der vier Karten.
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Ein halbes Jahrhundert später war auch Akkon verloren. Von der christlichen Herrschaft war nichts mehr geblieben. Karten, die Palästina als Heiliges Land der Christen wiedergeben, brachten keine tatsächlichen Verhältnisse, sondern Forderungen zum Ausdruck. Namentlich auf die Heilige Stadt Jerusalem richteten sich die Ansprüche.
Die Heilige Stadt Bis heute wird in der Grabeskirche zu Jerusalem, exakt unter der Vierungskuppel im griechischen Katholikón, der „Nabel der Welt gezeigt. Christus selbst soll die Stelle bestimmt haben: Hic est medium mundi – „hier ist die Mitte der Welt . Kyrillos, Bischof von Jerusalem im 4. Jahrhundert, deutete daher die Passion als ein auch kosmographisch zentrales Ereignis: Der Herr habe am Kreuz die Hände ausgestreckt, um den ganzen Erdkreis zu umfassen; denn der Hügel Golgatha sei der Mittelpunkt der Welt. Mehrere Argumente ließen sich dafür anführen. Besuchern zeigte man gern eine Säule, die zur Zeit der Sommersonnenwende keinen Schatten warf; das sei der Beweis. Zwar wusste der eine oder andere, dass so etwas auch anderswo vorkommen konnte. Doch als frommer Pilger wollte man nicht widersprechen. In jedem Fall war man besser beraten, die Aussagen der Heiligen Schrift heranzuziehen. Beim Propheten Hesekiel heißt es: „Das ist Jerusalem. Mitten unter die Völker habe ich es gesetzt und rings um es her die Länder (Ez 5,5). Dort sei der Nabel der Welt. Man konnte darunter auch die Mitte des Landes Palästina verstehen. Aber schon die jüdische Kommentarliteratur legte sich auf die Weltmitte fest, und dem folgte die christliche Deutung. Der Kirchenlehrer Hieronymus brachte zudem ein theologisches Argument ins Spiel: Im Osten liege Asien, im Westen Europa, im Süden Afrika, und im Norden lebten die Völker Skythiens, Armeniens und des Pontus. In Jerusalem, in medio terrae, habe der Herr das Heil der Menschen bewirkt, und alle Völker könnten daran teilhaben. Hieronymus selbst war deshalb ins Heilige Land gekommen, stand aber mit seinen Wünschen und Erwartungen nicht allein. Jeder fromme Christ hegte den innigen Wunsch, dorthin zu reisen, wo sich das „Herz der Erde befand: das Grab des Erlösers, das „niemand sein Eigen nennen durfte, weil es ausnahmslos allen gehörte .19 Schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts setzte ein christliches Pilgerwesen ein, das den jeweiligen politischen Umständen entsprechend mal besser, mal schlechter funktionierte, nie aber vollständig verschwand. Die Auffindung des Heiligen Kreuzes durch die Kaiserin Helena (326 /27) gab ihm Auftrieb. Ihr Sohn Konstantin ließ das Grab Christi, die Schädelstätte Golgatha, die Weltmitte und andere Gedenkstätten unter dem Dach der Grabeskirche vereinen und gab damit der Wallfahrt ein herausragendes Ziel. Nach der muslimischen Eroberung Jerusalems (638) sahen sich christliche Pilger zahlreichen, aber keineswegs unüberwindlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Im 12. Jahrhundert dagegen, zur Zeit der Kreuzfahrerstaaten, hatten sie ungehinderten Zugang. Alle Pilger wollten dort beten, wo die Füße des Herrn gestanden hatten (ubi steterunt pedes eius, Psalm 131,7). Bei den heiligen Stätten konnten sie das Leben und Sterben Jesu imaginieren. Sie wussten aber auch, dass die Passion eine Vorgeschichte hatte und ein Nachspiel haben würde. Beides hatte mit Jerusalem zu tun. Das Grab Adams, der Gott nicht gehorcht und Eva erkannt hatte, wurde auf Golgatha lokalisiert, sodass Christi Kreuzestod den Sündenfall unmittelbar sühnte. Am Ende der Geschichte aber sollte das himmlische Jerusalem, ein Prachtbau mit Edelsteinen und Diamanten, so hoch wie breit und lang, das irdische ersetzen. Die Apokalypse des Johannes, ein Grundtext der christlichen Geschichtsauffassung, erzählte davon. Im Tal Josaphat, dem Kidrontal zwischen der Stadt und dem Ölberg,
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8 Hochmittelalterliche Pläne von Jerusalem zeigen örtliche Baulichkeiten wie die Grabeskirche, den Davidsturm oder den Felsendom, geben aber die Heilige Stadt meistens in idealer Rundform wieder. Die umliegenden Orte haben alle mit der biblischen Geschichte zu tun. Die Kampfszene darunter situiert die Karte in das Zeitalter der Kreuzzüge (13. Jh.; ’s-Gravenhage, Koninklijke Bibliotheek, Cod. 75 F 5, fol. 1r).
sollte das Jüngste Gericht stattfinden. Es gab Pilger, die sich mit einem Stein einen guten Platz reservierten. Das irdische Jerusalem hatte zwar wenig von einer himmlischen Stadt. Aber wer es wollte, erhielt wenigstens „eine Vorstellung von jener Stadt, nach der wir uns sehnen .20 Denn die gesamte Heilsgeschichte fand in Jerusalem statt. Nirgendwo sonst wusste sich der fromme Christ der Wahrheit des Glaubens so nahe wie hier. Da mittelalterliche Karten nicht einfach die Wirklichkeit abbilden, sondern die eigentliche Bedeutung der Orte spiegeln sollten, musste Jerusalem von den Kartographen ganz anders als alle anderen Städte behandelt werden. Schon die große Zahl der erhaltenen Stadtpläne und Ansichten spricht eine deutliche Sprache. Keine andere Großstadt, nicht einmal Rom oder Konstantinopel, konnte da mithalten. Offenbar gab es großes Interesse daran, die überragende Bedeutung der Heiligen Stadt durch eine ihr allein vorbehaltene Zeichnung gewürdigt zu sehen. Es gibt sogar Stadtpläne (sogenannte Situs-Karten), die man heute als zwar einfache, aber doch an der örtlichen Realität orientierte Kartierungen gelten lassen würde, Pläne, die nicht nur Kirchen, sondern auch weltliche Gebäude benennen, die Unregelmäßigkeiten im Verlauf der Straßen wiedergeben und die parallelogrammförmigen Umrisse der ummauerten Stadt, der heutigen Altstadt, erkennen lassen.
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9 Auch das Jerusalem der biblischen Geschichte wurde bevorzugt in kreisrunder Form wiedergegeben. Die Miniatur, eingezeichnet in die Initiale A, zeigt die Belagerung der Heiligen Stadt durch Nebukadnezar, wie sie im Buch Daniel beschrieben wird (1. Viertel 15. Jh.; London, British Library, Royal MS 1 E IX, fol. 222r).
Doch die meisten Kartenzeichner verfolgten andere Absichten. Auch ihnen war daran gelegen, die Heilige Stadt so zu zeigen, wie sie zur Zeit der Kreuzfahrer aussah: mit der (neu erbauten) Grabeskirche und den anderen christlichen Gedenkstätten, dem sogenannten Davidsturm, der als erste königliche Residenz diente, dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee, die man für den Tempel Salomos hielt, aber auch mit Mauern, Toren, Wechselstuben und Märkten. Doch nicht nur die äußere Erscheinung, sondern auch das ideale Wesen der Heiligen Stadt sollte auf den Stadtplänen hervortreten. Schließlich spielte das irdische Jerusalem immer schon auf das himmlische an, galt als zeitliche Vorform dessen, was zeitlos kommen würde. Die idealste Form aber, die man einer Stadt zuschreiben konnte, war die Rundform, der Kreis, das Rad. Sie ist ein Bild der Vollkommenheit, ein Bild der Unendlichkeit und Allgegenwart Gottes, der als Mitte gedacht wird. Daher hat man die Umrisse Jerusalems, der „Stadt des Königs aller Könige ,21 ganz selten als schnödes Parallelogramm und nicht viel öfter als ebenmäßiges Quadrat, sondern am liebsten als vollkommenen Kreis wiedergegeben. Selbst dort, wo ausdrücklich die himmlische Stadt gezeigt wurde und folglich ein Kubus zur Darstellung hätte kommen müssen, zog man oft genug die Rundgestalt, das Mauerrund, vor.
Die Heilige Stadt
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Jerusalem liegt in der Mitte der Welt, idealerweise in Kreisform. So könnte man die Vorstellung des Mittelalters beschreiben. Doch die kartographischen Beispiele sind nicht zahlreich. Ohnehin wird es schwerfallen, vor dem 12. Jahrhundert auf Jerusalem zentrierte Weltkarten zu identifizieren. Die Oxforder Karte von 1100 /1110 mit dem Kreuz in der Mitte und dem das ganze Bild dominierenden Namen der Heiligen Stadt wirkt wie eine triumphale Reaktion auf die Eroberung durch die Kreuzfahrer. Auch die auf ihr zu sehende Ausdehnung Europas auf Kosten Afrikas und die „Auslagerung Konstantinopels nach Asien lassen sich mit den Erfahrungen des Ersten Kreuzzugs erklären. Die Lateiner machten sich breit, mit den Griechen bekamen sie immer öfter Probleme. Doch es sollte noch gut eineinhalb Jahrhunderte dauern, bis es nicht verbindlich, aber üblich wurde, Jerusalem in die exakte Mitte der Ökumene zu platzieren. Manchen Kartenmachern genügte der Name der Stadt. Andere verstärkten den Eintrag, indem sie eine Darstellung der Grabeskirche (Ranulf Higden, 1342 /43), eine Phantasiearchitektur mit dem Lamm Gottes (Evesham Map, um 1390), eine prachtvolle Stadtlandschaft (Weltkarte von Sainte-Geneviève, um 1370; Andreas Walsperger, 1448) oder auch nur ein schlichtes rotes Kreuz (Heinrich van Beeck, 1469 /72) hinzufügten, vom himmlischen Jerusalem (Ebstorfer Weltkarte, um 1300) ganz zu schweigen. Ähnliches, wenn nicht noch mehr bewirkte ein kreisrundes Stadtsymbol. Brachte es doch Unübertreffliches, nämlich Vollkommenheit zur Anschauung. Die kleine Londoner Psalterkarte mit ihrem dreifachen Rund gibt davon den besten Eindruck. Gerne wüsste man, wie ihre größere Vorlage aussah. Alle diese Karten entstanden nicht im Vollgefühl des Besitzes, sondern in Anbetracht des schwer empfundenen Verlusts der Heiligen Stadt. Wer Jerusalem in den Mittelpunkt seines Weltbildes stellte, der verlieh einer allgemeinen Sehnsucht Ausdruck und machte die nochmalige Eroberung zum Thema. Gerade weil der Besitz des Heiligen Landes in weite Ferne gerückt war, blieb Jerusalem der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Denkens. Seit dem 13. Jahrhundert leistete sich Europa eine geistige Mitte, die außerhalb seiner selbst lag. Vielleicht liegt darin eine der Wurzeln der europäischen Expansion in die außereuropäische Welt. Von der Kartographie wurde sie vorausschauend erdacht.
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II Die Mitte der Welt
1
Vgl. Borst, Bild der Geschichte, S. 4.
2
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4. Aufl., Bern 1963, S. 33.
3
Zit. Drews, Juden und Judentum, S. 13.
4
Flint, Honorius, S. 97.
5
Vgl. Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen (748 – 1280), München 1993, S. 119ff.
6
Flint, Honorius, S. 49: dispositio totius orbis in eo quasi in speculo conspiciatur.
7
Ebd., S. 49, 51.
8
Seneca, Ad Helviam matrem 8,1: doctissimus Romanorum.
9
Simek, Erde und Kosmos, S. 32ff.
10
Ebd., S. 44: rehte geschaffen alse ein bal (ebd., S. 42ff. die anderen Zeugnisse).
11
Gautier /Gossuin de Metz, Image du monde, zit. Ch.-V. Langlois, La connaissance de la nature et du monde au Moyen Age d’après quelques écrits français à l’usage des laïcs, Paris 1911, S. 78: S’il n’y avait pas d’obstacles, l’homme pourrait en faire le tour, comme une mouche circule autour d’une pomme. Si le globe était percé de part en part, suivant son axe, on verrait le ciel à travers.
12
C. W. R. D. Moseley (Hg.), The Travels of Sir John Mandeville, Harmondsworth 1983, S. 129.
13
Reudenbach, Londoner Psalterkarte, S. 177.
14
Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana (1095 – 1127), hg. von Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1913, S. 377: demergi autem quis in profundum eius nec de industria facile est.
15
Ebd., S. 377: elleboro amariorem.
16
Ebd., S. 376f.: adeo salsus est, ut nec bestia quaelibet neque volucris ex eo bibere queat.
17
Ebd., S. 597: tamquam aliud mare limpidum est et album. Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIII, XVII 2.
18
Zit. Baumgärtner, Das Heilige Land, S. 48: esperance e refui as tuz crestiens ki en la terre seinte vivent.
19
Petrus Venerabilis, In laudem sepulcri domini (MPL 189, Sp. 978): cor terrae; … nemo sibi vindicaret, ut proprium, quod erat absque ulla exceptione generaliter universorum.
20
Baldericus von Bourgueil, Historia Jerosolimitana, in: Recueil des Historiens des Croisades 4, Paris 1874, S. 100: haec civitas illius ad quam suspiramus forma est.
21
Siegel König Balduins IV.: civitas regis omnium regum (Vorholt, Herrschaft über Jerusalem, S. 226).
Die Wunder der Welt
III
W
as ist eigentlich ein Wunder? Eine bestechend einfache Erklärung gibt Gervasius von Tilbury seinen Lesern an die Hand: Weil der Mensch seiner Natur nach immer darauf erpicht ist, Neues zu hören und zu erfahren, muss auch das Älteste zu etwas Neuem, das Selbstverständliche zu etwas Wunderbarem und das, was für die meisten ganz gewöhnlich ist, zu etwas Außergewöhnlichem umgedeutet werden. Unserer Meinung nach gibt es vier Kriterien, um etwas als neu bewerten zu können: entweder ist es eben entstanden, erst jüngst geschehen, selten oder außergewöhnlich. So erfreut alles, was neu geschaffen wird, schon von Natur aus. Was sich gerade erst ereignet hat, erregt Staunen – weniger, wenn es häufig, mehr, wenn es selten geschieht. Und wenn wir von etwas Außergewöhnlichem hören, dann stürzen wir uns darauf: einmal, weil es uns in Erstaunen versetzt, wenn ein natürlicher Ablauf verkehrt wird; sodann, weil wir die Ursache nicht kennen, deren Wirken für uns unergründlich ist; schließlich auch, weil etwas von unserer gewohnten Wahrnehmung abweicht, ohne dass wir eine plausible Erklärung dafür hätten. Daraus erwächst zweierlei: Wunder [miracula] und Wunderbares [mirabilia]; beides aber ruft Verwunderung [admiratio] hervor. Als Wunder bezeichnen wir gewöhnlich Vorgänge, die wir als übernatürlich der göttlichen Allmacht zuschreiben: wenn zum Beispiel die Jungfrau gebiert, wenn Lazarus wiederaufersteht oder sieche Körperteile wieder heil werden. Wunderbar aber nennen wir das, was unser Fassungsvermögen übersteigt, auch wenn es natürlich ist; wunderbar wird etwas auch durch unser Unvermögen zu erklären, warum etwas so ist, wie es ist.1 Die Erklärung ist insofern bestechend, als sie einen komplexen Sachverhalt auf zwei Begriffe reduziert, die vom gleichen Grundwort abstammen, aber nicht das Gleiche meinen. Dadurch wird eine elegante Differenzierung ermöglicht, die mit dem sprachlichen Zusammenhang den sachlichen im Auge behält. Der Autor bezog sich auf die lateinischen Begriffe miraculum und mirabile. Man könnte es aber auch mit den aus diesen abgeleiteten französischen (miracle, merveille) und englischen (miracle, marvel) Begriffen sagen. Das Deutsche tut sich etwas schwerer.
Göttliche und natürliche Wunder Den Ausgangspunkt bildet ein problematischer Gedanke, dass nämlich alle Menschen von ihrer Natur her nach Neuem begehren. Hätte der Verfasser dafür den Begriff ‚Neugier‘ (lateinisch curiositas) gebraucht, wäre er vollends in schwieriges Fahrwasser gera-
Göttliche und natürliche Wunder
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1 Der Bamberger Schulmeister Hugo von Trimberg (um 1230 – um 1313) verfasste eine christliche Morallehre in Tausenden von Versen. Wegen ihrer zahlreichen Exkurse und Abschweifungen, wegen ihres Hin- und Herrennens also, wurde sie später als Der Renner tituliert. Zentrale Bedeutung besitzt ein umfassender Bericht über die Schöpfungsgeschichte. Ein Nürnberger Buchmaler gab um 1425 / 1431 die von Gott geschaffene Welt als idyllische Landschaft wieder: mit fetten Weiden, fischreichen Flüssen, beschaulichen Dörfern und wehrhaften Städten; Kultur und Natur sind durch einen Flechtzaun geschieden. Geistlichen Sinn gibt dem Bild das vielleicht populärste Wunder des Mittelalters: der Vogel Phönix, der sich angeblich alle 500 Jahre selbst verbrennt und neu aus den Flammen hervorgeht. Denn er galt als Sinnbild für den Tod und die Auferstehung Jesu Christi (Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. germ. 471, fol. 56v).
ten. Denn Neugier, zumal wenn sie theoretisch, also wissenschaftlich wurde, galt seit Augustinus als sündhafte Geisteshaltung, mit der man Gefahr lief, dem allmächtigen Schöpfer ins Handwerk zu pfuschen. Gervasius beeilte sich deshalb, sich von der Neugier der Menschen zu distanzieren und nur ein definiertes und dadurch eingeschränktes Spektrum von wirklich neuartigen Erscheinungen zu akzeptieren. Von diesen grenzt er die wirklichen Wunder, die miracula, von vornherein ab. Sie sind der göttlichen Allmacht geschuldet und bleiben natürlich tabu. An sie reicht menschliches Verständnis ohnehin nicht heran. Übrig bleiben die mirabilia, die staunenswerten Dinge, die es auf der Welt gibt. Auch ihnen gegenüber darf man sich wundern. Der Begriff der admiratio, des Anstarrens mit offenem Mund, verbindet die miracula und die mirabilia miteinander. Aber es sind natürliche Wunder, zu deren Verständnis das menschliche Fassungsvermögen (noch) nicht hinreicht. Wie der Magnetstein, der auf wundersame Weise Eisen anzieht, können sie beliebig oft registriert werden, ohne verstanden zu werden. Oder wie der rätselhafte Vogel Phönix, der sich alle 500 Jahre anzündet und aus den Flammen tatsächlich neugeboren hervorgeht, kommen sie so selten vor, dass sie gar nicht begriffen werden können. Oder sie sind an den fernen Rändern der Erde beheimatet, sodass sie sich unserer täglichen Erfahrung entziehen. Dennoch scheint nicht ausgeschlossen, dass eines fernen Tages die Erkenntnis sich einstellt und die anstaunende Verwunderung dem banalen Verständnis weicht. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Das gilt jedoch nur für die natürlichen, nicht für die göttlichen Wunder. Gervasius nennt die Jungfrauengeburt und die Wunder, die Jesus Christus gewirkt hat. Es sind die Glaubenswahrheiten, die er anspricht, aber nicht weiter ausführt. Sein Interesse galt vor allem den mirabilia. In ihnen gipfelte das Buch, das er schrieb.
Eine Karriere zwischen Universität und Kaiserhof Eigentlich ist über Gervasius von Tilbury nur wenig bekannt, und manche Vermutung, die sich an das Bekannte anschloss, erwies sich als voreilig. Muss man also im Einzelnen mit vielen Lücken zurechtkommen, so zeichnet sich trotzdem das Bild einer Laufbahn ab, die dadurch typisch war, dass sie von den Zeitverhältnissen profitierte. Sie begann an einer jener frühen Universitäten, die in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts damit anfingen, die soziale und kulturelle Landschaft Europas zu verändern; sie setzte sich fort im Dienst verschiedener großer Herren, denen Gervasius sein Wissen und seine Kenntnisse zur Verfügung stellte, und sie endete schließlich im Umfeld eines Kaisers, der ebenfalls aus dessen besonderen Fähigkeiten Nutzen ziehen wollte. Universitätsstudium und Fürstendienst: Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich die Biographie des
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III Die Wunder der Welt
Autors, und da die Verbindung von beidem seit dem 12. Jahrhundert allenthalben Karrierechancen eröffnete, war es nicht nur sein eigenes, sondern auch ein exemplarisches Leben, das er führte. Gervasius gehörte zu einer Schicht gelehrter Amtsträger, die eine wissenschaftliche, insbesondere juristische Ausbildung erhalten hatten, an verschiedenen Orten verschiedene Funktionen ausübten und es verstanden, sich überall unentbehrlich zu machen. Wann Gervasius von Tilbury geboren wurde? Wir wissen es nicht. Wo seine Wiege stand? Wahrscheinlich in Tilbury in der Grafschaft Essex in England. Welche ständische Qualität seine Eltern besaßen? Das ist umstritten. Sicher war er (Anglo-)Normanne und gehörte dem hohen oder (was wahrscheinlicher ist) dem niederen Adel seiner Heimat an. Auch was seine Schulbildung angeht, tappt man weitgehend im Dunkeln. Erst mit seinem Studium in Bologna gelangt man auf halbwegs sicheren Grund. Dort lehrte er schließlich als Magister kanonisches Recht. Als Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. 1177 in Venedig Frieden schlossen, war er dabei. In den 1180er-Jahren scheint er am Hof des Erzbischofs von Reims gelebt zu haben. Insofern als eine junge Frau dort seinen Verführungskünsten widerstand, sich in der anschließenden Untersuchung als Häretikerin erwies und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, soll er an der Aufdeckung ketzerischer Umtriebe beteiligt gewesen sein. Seine Karriere setzte Gervasius in Palermo am Hof König Wilhelms II. („des Guten ) von Sizilien fort. In Nola bei Neapel besaß er ein Haus, das ihm der König zur Verfügung gestellt hatte. Nach dessen Tod 1189 und den darauffolgenden sizilischen Wirren trat er in den Dienst des Erzbischofs Humbert von Arles, heiratete eine Verwandte seines Herrn und erhielt einen Stadtpalast als Mitgift. Mehrfach ist er als Richter in Arles und in der Provence belegt. Seine juristische Ausbildung qualifizierte ihn dazu. Er war in der Spitze der örtlichen Gesellschaft angelangt und konnte sogar königliche Gäste bei sich zu Hause bewirten. Nicht nur Tafelmusik und Tänzerinnen, sondern auch ein wundersam dressiertes Pferd bot er dafür auf. Nach Jahren eines unsteten Wanderlebens im Dienst verschiedener Herren hatte er es im Königreich Arelat (nach der Stadt Arles so genannt) zu Wohlstand und Ansehen gebracht und identifizierte sich dankbar mit dem Land und dessen Bewohnern. Sogar einen Kaiser lernte er kennen. 1209 traf er in Rom den Welfen Otto IV., Sohn Heinrichs des Löwen, der dort zum Kaiser gekrönt wurde. Otto hatte sich nach zehnjährigem Streit um den Thron glücklich gegen den Staufer Philipp von Schwaben durchgesetzt und wollte wie in Deutschland und in Italien auch im Arelat das staufische Erbe antreten. Er ernannte Gervasius zum „Marschall am kaiserlichen Hof im Königreich 2 und erhoffte sich wirkungsvolle Unterstützung von ihm. Allerdings stellte Otto zu hohe Forderungen an die Kurie, machte sich den Papst zum Feind und verlor schließlich am 27. Juli 1214, dem „Sonntag von Bouvines , nicht nur eine Schlacht gegen Frankreich, sondern auch allen Rückhalt und damit die Herrschaft im Reich. Seine hochfliegenden Pläne hatten ein abruptes Ende gefunden. Zwar führte er weiterhin den Titel eines Kaisers der Römer, musste sich aber auf die welfischen Hausgüter um Braunschweig zurückziehen und bis zu seinem Tod im Mai 1218 politisch untätig bleiben. Auch Gervasius von Tilbury gehörte zu den Verlierern und durfte als Anhänger Ottos das Amt eines kaiserlichen Marschalls nicht mehr ausüben. Immerhin konnte er in Arles bleiben und das Buch zu Ende schreiben, das er bald nach Ottos Krönung begonnen hatte. Vermutlich war es von Anfang an als Gabe an den Kaiser gedacht, als Ausdruck von persönlicher Verbundenheit und Dank, womöglich auch als Angebot künftiger Dienste. Es sollte dem Kaiser Abwechslung verschaffen und ihm dadurch die Last seiner Aufgaben
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erleichtern. Man kann sich gut vorstellen, wie sich Ottos Familie und das engste Gefolge in langen Winternächten nach dem Abendessen am Kamin versammelten, um sich die wundersamen Geschichten aus fernen Ländern vorlesen zu lassen. Gervasius selbst beschreibt eine solche Szene - beim hohen Adel sei das so üblich.3 Das Werk erhielt deshalb den Titel: Otia imperialia, was man am besten als „Kaiserliche Mußestunden übersetzt. Doch nach Ottos tiefem Fall konnte es auch anders gelesen werden. Wie sein Vater Heinrich der Löwe, der sich nach seinem Sturz zu später Stunde an alten Chroniken erfreute, wird auch der zur Untätigkeit verurteilte Sohn Unterhaltung und Zerstreuung gesucht haben. Das Werk des Gervasius schien dazu geeignet: Was als Ausgleich und Entspannung des Herrschers gedacht war, konnte genauso gut dessen melancholische Stimmungen vertreiben. Als „Trost des Kaisers (solacium imperatoris) wurde es denn auch in der handschriftlichen Überlieferung überschrieben.
Wunder allerorten Was war es nun, das dazu taugte, einem regierenden Kaiser sein Amt zu erleichtern und einem gestürzten die langen Abende zu verkürzen? Zunächst einmal kommen die Otia imperialia als „Beschreibung der ganzen Welt (totius orbis descriptio) daher. Das erste Buch handelt in 25 Kapiteln von der Erschaffung der Welt und der Ordnung des Kosmos, von Himmel und Erde, den Anfängen des Menschengeschlechts und seinen Schicksalen bis zum Auszug aus Noahs Arche. Kosmographie und biblische Geschichte greifen ineinander. Das zweite Buch gliedert die drei Erdteile, umreißt die wichtigsten Länder und listet Provinzen, Städte und Bistümer auf. Die Geschichtserzählung, also die Entstehung der Völker und Reiche, wird bis in die Gegenwart des Erzählers fortgeführt. Sie schließt mit dem Stammbaum der Könige von England, zu dem durch seine Mutter auch der Welfe Otto gehörte. Von all dem zu lesen, hatte gewiss seinen Reiz. Doch der Verfasser strebte in diesen beiden Teilen enzyklopädische Vollständigkeit an, und da sich sein Werk an ein höfisches Publikum: den Kaiser, seine Familie und sein Gefolge richtete, hat man es zu Recht als „höfische Enzyklopädie charakterisiert: umfassend und lehrreich, aber nicht unbedingt unterhaltsam. Konnte Otto sich daran – ob vor oder nach seinem Sturz – wirklich erfreuen? Bis hierhin lesen sich die Otia imperialia nicht aufregender als Isidors „Etymologien und die Imago mundi des Honorius Augustodunensis. Der Verfasser hat fleißig seine Quellen exzerpiert, fast hundert an der Zahl, darunter die beiden soeben genannten. Den Unterschied macht das dritte Buch aus. Es besteht aus 143 Geschichten von menschlichen, tierischen, pflanzlichen und anderen meist natürlichen Wundern, bunt zusammengewürfelt, in planloser Folge, ohne rechte Ordnung. Man erfährt von Äpfeln, die von außen verheißungsvoll aussehen, im Inneren aber nur Rauch und Asche enthalten (III 5), von Riesenschlangen, die ganze Rinder zu verspeisen pflegen (III 29), und von Delphinen, die menschliches Verhalten an den Tag legen und sich bei Bedarf sogar in einen Ritter verwandeln können (III 63). Überhaupt seien manche Tiere fast so klug wie die Menschen: Das Eichhörnchen nehme ein Stück Holz, um einen Fluss zu überqueren, und gebrauche dabei seinen buschigen Schwanz wie ein Segel (III 65). Wenn der Fuchs seine Flöhe loswerden möchte, taucht er bis zum Kopf in ein Gewässer und lässt nur sein Maul herausschauen, sodass alles Ungeziefer nach oben krabbeln muss; unterdessen hat er im Maul einen Klumpen Speichel gesammelt, auf dem die Flöhe kleben bleiben; damit kann er sie alle auf einmal ausspucken (III 68). Die Herstellung der Seide, des Fadens und der
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III Die Wunder der Welt
Stoffe, war zwar längst nicht mehr so rätselhaft wie in der Antike. Damals glaubte man, sie werde mit Wasser von Bäumen gekämmt, und als man von ihrem tierischen Ursprung gehört hatte, da hielt man die Raupe des Maulbeerspinners für einen Wurm mit Hörnern. Mittlerweile war die Herstellung der Seide nach Westen gewandert und über Byzanz nach Italien gekommen. Dennoch blieb es wundersam genug, wie die Raupe mit erstaunlicher Geschwindigkeit die ausgelegten Blätter des Maulbeerbaums auffrisst und sich in einen Kokon einspinnt, aus dem dann durch Auskochen der unendlich lange, reißfeste und leuchtend weiße Seidenfaden gewonnen wird. Nach Gervasius versuchen die Männchen nach so viel Anstrengung aufzufliegen und in die Freiheit der Lüfte (in aëris libertatem) zu entweichen; doch sofort werden sie von den Weibchen ergriffen und zur neuerlichen Begattung gezwungen. Wieder war es nichts mit der Freiheit des Mannes (III 56).
Dies alles und noch mehr ist eher assoziativ als planvoll aneinandergereiht. Sogar die göttlichen Wunder, nach Gervasius’ eigener Definition ein Gegenstand von besonderer Art, erscheinen über das ganze dritte Buch verstreut: das Kreuzesholz, das von der Königin von Saba erkannt, von Salomo verborgen wurde und mit der Passion Christi das größte von allen Wundern bewirkte (III 54), das Kreuz des guten Schächers, das in einer Kirche auf Zypern frei schwebend in der Luft hing (III 47), das Schweißtuch der Veronika mit dem wahren Bild (vera icon) des gemarterten Jesus Christus (III 25). Immerhin lassen sich einige Wundergeschichten als zusammengehörig identifizieren. Das hat mit ihrer räumlichen Herkunft und der Vita des Verfassers zu tun. Gervasius wertete nämlich nicht nur schriftliche Quellen aus, sondern trug an den Orten, an denen er sich länger aufhielt, auch mündliche Traditionen zusammen. Er schaute sozusagen dem Volk aufs Maul und förderte auf diesem Wege Geschichten zutage, die die anderen Gelehrten nicht kannten. Schon in seiner englischen Heimat ließ er sich von Dämonen, Sirenen und verwunschenen Schlössern berichten. Bei einem von ihnen, nahe Cambridge gelegen, könne man jede Nacht nach Herzenslust turnieren. Sobald man laut nach einem Gegner verlange, trete einer an. Vor nicht allzu langer Zeit habe ein Ritter die Probe aufs Exempel gemacht und nicht nur den Sieg, sondern auch eine ihn mit Stolz erfüllende, schwärende Wunde davongetragen. Doch das erbeutete Ross sei ihm beim ersten Hahnenschrei wieder entlaufen (III 59). In Süditalien wurde Gervasius mit dem Sagenkreis um den Zauberer Vergil bekannt gemacht. Zwar wusste man die Werke des römischen Dichters im ganzen Mittelalter zu schätzen, vor allem die Aeneïs. Aber gerade weil man ihn so hoch schätzte, wurden ihm auch prophetische und sogar magische Fähigkeiten angedichtet. Ausgehend von der neapolitanischen Volkssage, galt er bald in ganz Europa als ein Zauberer, der Wundertaten vollbracht hatte. Eine ganze Reihe davon wurde Gervasius gezeigt, erklärt und zum Teil sogar durch die eigene Erfahrung bestätigt. In einer Markthalle soll der zaubernde Dichter ein Stück Fleisch eingemauert haben, das dafür sorgte, dass kein anderes Fleisch dort verwesen konnte. Eine von ihm konstruierte bronzene Fliege soll alle anderen Fliegen von der Stadt ferngehalten haben. Unter dem Pflaster der Porta Dominica habe er alle Arten von Kriechtieren eingeschlossen, sodass Neapel stets schlangenfrei blieb. Wohl am selben Tor
2 Die Wunder von Neapel: ein Trompeter, der den Südwind umlenkt, ein Bohnenstrauch, der die Gefühle desjenigen, der von ihm pflückt, an denjenigen weitergibt, der von ihm isst, Skulpturen am Stadttor, die den Passanten die Zukunft bestimmen, der Tunnel durch den Berg Posilippo, die Bäder von Pozzuoli beim Vesuv u. a. m. (um 1460; New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 461, fol. 15v). All diese Wunder soll sich der Zauberer Vergil ausgedacht haben.
Wunder allerorten
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habe er zwei Porträtskulpturen aus Marmor anbringen lassen, rechts eine fröhlich lachende, links eine verdrießlich dreinschauende. Den Passanten zur Rechten werde alles gelingen, denen zur Linken alles schiefgehen. Am Montevergine habe der dichtende Zauberer einen Garten mit Pflanzen angelegt, bei deren Berührung blinde Schafe sehend würden. Die Felder und Fluren bei Neapel habe er vor der Asche des Vesuvs durch einen bronzenen Trompeter beschützt, der den heißen Südwind mit seiner Trompete auffing und umlenkte. Außerdem habe er die wundersam wirkenden Heilbäder von Pozzuoli anlegen und einen endlos langen Tunnel durch den Berg Posilippo bohren lassen (III 12 – 16). Diese und noch weitere, mechanische oder natürliche Wunder, von denen man in Neapel erzählte, hat Gervasius aufgesucht, registriert und überprüft. In Pozzuoli war er sich nicht sicher, ob alle Badeanlagen aus der Zeit Vergils stammten; aber grundsätzlich kam er zu dem Ergebnis: „Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten, wenn ich es nicht selbst ausprobiert hätte .4 Sogar Vergils Zauberbuch, das man in dessen Grab neben dem vollständig erhaltenen Leichnam gefunden haben will, habe er auszugsweise gelesen und durch Experimente überprüft (III 112). Gervasius glaubte an die Wirklichkeit der Wunder und sah sich vielfach in seinem Glauben bestätigt. Auch Vergils Zaubereien muss er zu den natürlichen, den menschengemachten Wundern gezählt haben, deren Wirkungsweise man noch nicht durchschaute. In der Gegend von Neapel schien die Überlieferung besonders dicht zu sein. Doch auch im Arelat, wo Gervasius so viele Jahre verbrachte, ließen sich mannigfache Beispiele ausmachen: ein Tümpel, der alles festhält, was man in ihn taucht (III 19), ein Turm, der keinen Wächter auf sich duldet (III 20), ein Felsen, den man mit dem kleinen Finger, nicht aber mit einem Ochsengespann fortbewegen kann (III 22), ein Kloster, in dem stürmische Winde die Wände zum Wackeln bringen, nicht aber die Flammen eines Leuchters bewegen (III 9), ein anderes, in dessen Refektorium die Fliegen nicht gefangen werden können (III 10), Wasser, das nicht gekocht werden kann (III 48), Läuse, aus denen man einen Farbstoff gewinnt (III 55), eine Quelle, mit der man Regen macht (III 89), Lawinen, die sich bei einem Husten lösen (III 122), Wasser, das im Sommer zu Salz gerinnt (III 2), usw. usf. – scheinbare und wirkliche Wunder in großer Zahl, fast alle an ihrem Ort und nur dort zu finden. Man kann sie als topographische Wunder, das ganze dritte Buch der Otia imperialia als eine Topographie des Wunders, als eine „Topographie des Staunens bezeichnen.5 Gervasius stand in der Tradition der antiken Paradoxographen und der mittelalterlichen Mirabiliensammler. Er wusste deshalb, dass die Merkwürdigkeiten und Seltsamkeiten, eben die Wunder der Welt, vor der eigenen Haustür vorkommen konnten, dass sie aber viel zahlreicher weit draußen, jenseits der persönlichen Erfahrung, an den Rändern Europas, an den Rändern der Welt, erwartet werden durften. Der hohe Norden und der äußerste Westen (Island und Irland), Indien und das subsaharische Afrika gehörten zu jenen Gegenden, die die meisten Wunder versprachen. Gervasius musste zugeben, dass er nichts davon aus eigener Anschauung kannte. Doch niemand konnte ihm einen Vorwurf daraus machen, wenn er stattdessen auf die schriftliche Überlieferung zurückgriff. Er kannte und benutzte die einschlägigen Werke, die von Afrika und Asien, von Äthiopien, Arabien und vor allem Indien erzählten. Mit dem Magnetstein hatte sich schließlich schon der Kirchenvater Augustinus beschäftigt. Die Geschichte von Riesenameisen, die indisches Gold hüteten und nur mithilfe einer List umgangen werden konnten, wurde zuerst von Herodot, dann auch von lateinischen Autoren kolportiert. Die fingierten Briefe, die Alexander der Große an seine Mutter, ein georgischer König Pharasmanes an Kaiser Hadrian geschickt haben sollen, schrieb Gervasius weitgehend ab.
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III Die Wunder der Welt
Diese und andere Texte erzählten in immer neuen Anläufen von den Wundern, die man im Osten, in Indien oder irgendwo in Afrika antreffen konnte: Genaue geographische Begriffe brauchte man dafür nicht. Vielmehr ging es darum, keinen eng begrenzten, sondern einen möglichst offenen Raum für die Wunder zu reservieren. Die meiste Aufmerksamkeit galt freilich nicht den merkwürdigen Tieren, nicht den wundertätigen Steinen, nicht den erstaunlichen Pflanzen und Naturerscheinungen, sondern jenen wundersamen Menschen, die dort angeblich lebten: hundsköpfige Kynokephalen, kopflose Akephalen oder Blemmyer, Schattenfüßler, Pygmäen und mundlose Astomen, Makrobier, Rückwärtsfüßler, Straußenfüßler, Großohrige, Großlippler, Nasenlose, Giganten, Zyklopen und andere mehr. Seit der griechischen Antike hat man sie in Europa gekannt, und die Kataloge, die seit dem älteren Plinius zusammengestellt wurden, lagen den mittelalterlichen Autoren in zahllosen Handschriften vor. Gerne hat man sie auch optisch in Form von höchst reizvollen Tableaus oder Bildfolgen präsentiert – exotische Panoptiken, die dem mittelalterlichen Leser oder Betrachter vor Augen gestellt wurden und dadurch fester Bestandteil seines Weltbildes waren. Man kann sich fragen, welche realen Anlässe es gab, so viele und gerade solche Spielarten der Schöpfung anzunehmen, ob etwa die Pygmäen und die Nasenlosen nichts weiter als südindische Draviden waren, ob das Bild des von seinem Fuß beschirmten Skiapoden die Haltung eines meditierenden Yogis wiedergibt und ob das Stereotyp der Hundsköpfigkeit sich ursprünglich auf den Eindruck einer fremden Sprache bezog, die anderen wie das Bellen eines Hundes vorkam. Auch das Mittelalter stellte gelegentlich solche Fragen. Sie waren ihm aber keine wichtige Fragen. Die Wundervölker galten als Teil der Welt, wie sie der Herr und Schöpfer so wundervoll eingerichtet hatte. Die Nachrichten von ihnen als fernes Echo einer unbekannten Wirklichkeit zu erklären, schien nicht sinnvoll. Es kam vielmehr darauf an, Gottes Absichten mit ihnen und den Zweck ihres Daseins zu ergründen. Wie also konnte man sie interpretieren? Hält man sich das Portal zur Basilika der ehemaligen Benediktinerabtei Vézelay in Burgund vor Augen, dann tritt eine geistliche Deutung geradezu plastisch hervor. Das Tympanon aus dem zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts zeigt die Aussendung der Apostel durch Jesus Christus und im Halbkreis ringsum eine bunte Schar von Völkern, die bereitwillig die Missionare erwarten. Vier Wundervölker befinden sich darunter: Nasenlose, Panotier mit übergroßen Ohren, Pygmäen, die zum Besteigen eines Pferdes eine Leiter brauchen, und Kynokephalen, die einander anbellen. Wie die anderen Randvölker galten sie als Vertreter des Menschengeschlechts, das eben viele, auch merkwürdige Spielarten kannte. Schon Augustinus hatte sich mit der Frage ihres Menschseins beschäftigt und verbindlich definiert, dass auch sie von Adam abstammten. Sie durften also an der Heilsgeschichte teilhaben und erhielten einen festen Platz in ihr. Die Allmacht Gottes und die Vielfalt der Schöpfung kamen mit ihnen zum Ausdruck. Nicht alle Menschenrassen schienen dafür gleichermaßen prädestiniert. Mit manchen tat man sich schwer. Nicht die milden Astomen oder die drolligen Skiapoden, sondern Hundsköpfige und Kopflose schienen doch allzu weit von menschlichem Aussehen entfernt, um die Botschaft Jesu Christi empfangen zu können. Die Legende vom Christusträger Cris-
3 Hartmann Schedels Tafel der Wundervölker zeigt von oben nach unten: Hundsköpfige, Einäugige, Kopflose, Rückwärtsfüßler, Hermaphroditen, Skiapoden, Astomen (Weltchronik, Nürnberg 1493, Bl. 12r).
Wunder allerorten
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4 Portal der Basilika Sainte-Madeleine in Vézelay: Das romanische Tympanon zeigt die Aussendung der Apostel bis an die Ränder der Welt. Auch den Wundervölkern sollen sie das Wort Gottes verkünden.
5 Spielerische Darstellung eines Äthiopiers und eines Skiapoden am Rand einer Handschrift des 13. Jahrhunderts (London, British Library, Additional MS 62925, fol. 87v).
tophorus besagt zwar, dass der spätere Heilige aus dem Volk der Kynokephalen stammte und zunächst keine menschliche, sondern nur die Sprache der Hunde verstand; doch in der weiteren Überlieferung verblassten die hundsköpfigen Züge und verschwanden dann vollends. Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, die verbreitetste Sammlung von Heiligenleben, verliert darüber kein Wort. Hundsköpfig konnte man offenbar kein populärer Heiliger werden. Denn mit der Kynokephalie verbanden sich Vorstellungen von Bestialität und Aggressivität, Anthropophagie und Idolatrie. Wie die Akephalen, die im Gefolge des Antichrist auftreten konnten, genossen sie einen zweifelhaften Ruf und konnten leicht mit den Feinden der Christenheit, mit Muslimen und Tataren, assoziiert werden. Bestenfalls erfüllten sie damit jene Aufgabe, die Monstren wörtlich zufiel: nämlich – von lateinisch monstrare: zeigen – ein Zeichen zu geben, was die Zukunft Furchtbares bringen würde. Als portenta (Vorzeichen) und prodigia (Vorhersagen) konnte man sie betrachten. Auch damit gehörten sie zum göttlichen Heilsplan. Doch es war kein gütiger, sondern der strafende Gott, der sich mit ihnen zeigte. Wie auch immer: ob mit Blick auf die Vielfalt der Schöpfung oder mit Blick auf die Schrecken der Endzeit – Kaiser Otto wird
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III Die Wunder der Welt
6 Die Wunder Afrikas: Troglodyten, Großohrige, Kopflose, Drachen, der Vögel Phönix u. a. m. (New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 461, fol. 26v).
7 Die Wunder Indiens: Astomen, Kentauren, Rückwärtsfüßler, der Elefant, das Einhorn, eine Witwenverbrennung u. a. m. (New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 461, fol. 41v).
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es gefreut haben, wenn er neben den Wundern der Welt auch von den Wundervölkern an deren Rändern etwas vorgelesen bekam. Manchmal wurden sie auch nur als putzige Erdbewohner behandelt, als gezeichnete Drolerien an den Rändern der Handschriften. Von ihnen zu hören und die dazu passenden Bilder zu betrachten, war immer erbauend, belehrend und vergnüglich, eben Entspannung nach des Tages Mühen. Sie gehörten zum christlichen Weltbild und hatten schon deshalb ihren Platz in einem Buch, das die ganze Welt im Spiegel ihrer Wunder in den Blick nahm.
Gervasius von Tilbury und die Ebstorfer Weltkarte Gervasius von Tilbury beschrieb die Welt und verortete alle ihm bekannten Wunder in ihr. Er kannte die üblichen Weltkarten und hatte vielleicht auch eine zur Hand. Doch er war nicht zufrieden mit ihnen. Die von Karte zu Karte unterschiedlichen Namensformen fand er irreführend. Wie ein Zeuge vor Gericht, der mit einer kleinen Unrichtigkeit seine Aussage wertlos macht, so könne ein Kartenmacher mit einem falschen Detail das ganze Bild verderben. Gervasius wollte deshalb seinem Werk eine neue, verbesserte Weltkarte beigeben. Ob er sein Vorhaben tatsächlich ausführte, wissen wir nicht. Entweder dachte er an eine Manuskriptkarte, überschaubar in der Größe, kompakt in der Darstellung. Doch in keiner der Handschriften ist eine solche erhalten, nicht einmal im Handexemplar des Autors. Oder er plante eine großformatige Weltkarte mit reichhaltigen Informationen, die separat aufbewahrt werden musste, zu anderen Zwecken als der Text verwendet werden und schließlich ihr eigenes Schicksal haben konnte. Die Überlieferungs- und Überlebenschancen einer solchen Karte wären von vornherein gering gewesen. Im täglichen Gebrauch (zu liturgischen Zwecken, als Andachtsbild, zu Studium und Unterricht) wäre sie verschlissen worden, separat aufbewahrt wäre sie weniger geschützt gewesen als zwischen zwei Buchdeckeln. Der Rigorismus der Reformatoren und die Verachtung der Aufklärer wären ihr wahrscheinlich nicht gut bekommen, und noch im 19. und 20. Jahrhundert drohte Vernichtung. Niemand weiß, wie viele Großkarten im Mittelalter hergestellt wurden. Doch die Verluste müssen erheblich gewesen sein. Die vollständig erhaltenen Stücke lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen: 1. Die älteste dieser Karten stammt aus dem frühen (?) 13. Jahrhundert und wurde vermutlich durch einen päpstlichen Legaten von England nach Vercelli in Oberitalien gebracht, wo sie bis heute im Archiv des Domkapitels aufbewahrt wird. Sie misst 84 × 70 – 72 cm und ist mit einer Vielzahl von kartographischen Signaturen, Symbolen und Inschriften bedeckt. Sogar den Meeren wurde wenig Raum gegeben. Freilich sieht man der Karte ihr hohes Alter an: Die Schrift ist verblasst, das Pergament eingerissen, im Norden und Süden fehlen ganze Stücke. Offensichtlich haben Feuchtigkeit und dauernder Gebrauch ihr geschadet. 2. Mehr als ein halbes Jahrhundert später: um 1290 entstand die sogenannte Hereford Map, benannt nach Hereford in Westengland und seiner Kathedrale, wo sich die Karte bis heute befindet – allen Gefährdungen durch Revolution, Krieg, Vernachlässigung und Finanzkrisen zum Trotz. Noch 1989 wäre sie beinahe verramscht worden. Doch mittlerweile sind ihr Wert und ihre Bedeutung erkannt. Um sie angemessen unterzubringen, wurde sogar ein neuer Bibliotheksbau errichtet. In einer der Inschriften am Rand der Karte nennt sich ihr Urheber mit Namen: Richard of Haldingham or Sleaford, Domherr in Lincoln und Inhaber verschiedener kirchlicher Ämter und Pfründen. Worin seine Urheberschaft bestand, ob sie finanzieller, ideeller, intellektueller oder künstlerischer Art war, erfährt man allerdings nicht. Als die Karte fertiggestellt wurde, war
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III Die Wunder der Welt
8 Hereford Map (um 1290; Hereford Cathedral).
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er wohl schon verstorben. Mit der Nennung seines Namens bittet er die Betrachter um deren Fürbitte. Das Werk, das er angestoßen hatte, besteht in einer Geschichtserzählung, angeleitet durch die Heilige Schrift und projiziert auf den geographischen Raum. Auf einem einzigen Stück Kalbspergament von 165 × 135 cm machen 1091 schriftliche Einträge mitsamt den dazugehörigen Bildern und Zeichen einander den Platz streitig. Es handelt sich um die größte hochmittelalterliche Weltkarte, die bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. 3. Ebstorf hat Hereford übertroffen. Die Weltkarte, die um 1830 in einer Rumpelkammer des niedersächsischen Damenstifts, früheren Benediktinerinnenklosters Ebstorf (bei Uelzen) gefunden wurde und seitdem die Forschung in Atem hält, maß 358 × 356 cm, also 12,74 m2. Dafür reichte nicht eine Tierhaut aus, sondern 30 Blätter aus Schafspergament mussten zusammengenäht werden. Dadurch entstand Raum für 2345 Text- und Bildeinträge sowie umfangreiche erläuternde Texte, ein wahrhaftes Weltgemälde, zusammengesetzt aus allem, was seinerzeit wissens- und bemerkenswert schien. Mit dieser Fülle konnte keine andere Karte dieser Art konkurrieren. Bis Oktober 1943 stellte die Ebstorfer Weltkarte die mit Abstand größte und detailreichste Mappamundi aus dem Mittelalter dar. Zur Restaurierung und Faksimilierung, aber auch aus Sicherheitsgründen wurde sie als Dauerleihgabe in die Obhut des Historischen Vereins für Niedersachsen gegeben und nacheinander an verschiedenen Orten, seit 1905 im Staatsarchiv Hannover deponiert. Dort schien sie am besten aufgehoben zu sein. Der Wunsch des Damenstifts, sein Eigentum zurückzuerhalten, wurde nicht rechtlich, aber faktisch zurückgewiesen. Der Kriegsausbruch 1939 verhinderte die geplante Überführung nach Göttingen. In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 schließlich wurden durch Spreng- und Brandbomben der Royal Air Force große Teile der Hannoveraner Innenstadt zerstört. Ein Flügel des Archivbaus brannte vollständig aus. 11 000 Urkunden, umfangreiche Aktenbestände, alle Handschriften und Kopialbücher sowie – als wertvollstes Einzelstück – die Ebstorfer Weltkarte fielen den Flammen zum Opfer. Die sichere Unterbringung an zentraler Stelle hatte sich als höchst unsicher erwiesen. Mithilfe der seit dem 19. Jahrhundert hergestellten Nachbildungen und Fotografien konnten nach Kriegsende vier Kopien in originaler Größe und Farbgebung angefertigt werden, die an verschiedenen Standorten zu besichtigen sind: in Ebstorf, in Lüneburg, auf der Plassenburg bei Kulmbach – über den Verbleib des vierten Exemplars wird spekuliert. Nach wie vor überwältigt der Anblick den Betrachter. Doch ein Original ist nie zu ersetzen. Forschung und Öffentlichkeit müssen seitdem mit den Nachbildungen auskommen. 4. Den beklagenswerten Verlusten stehen wenige Neufunde gegenüber. Zwei davon sind allerdings nur Fragmente von beschränkter Aussagekraft, kartographische Ruinen sozusagen (Duchy of Cornwall Map von 1260 /80, Aslake Map aus dem 14. Jahrhundert, beide in London). Erst in den 1990er-Jahren wurde eine weitere vollständige, großformatige Weltkarte entdeckt. Sie entstand um 1390 für die Abtei Evesham in Worcestershire und wurde zwei Jahrzehnte später noch einmal überarbeitet. Sie ist mit den Weltkarten von Hereford und Ebstorf in keiner Weise zu vergleichen, kommt aber in ihren Maßen (94 × 46 cm) dem Format der Vercelli-Karte nahe. Die relativ späte Entstehungszeit bewirkte einerseits, dass der Kartenmacher neuere Anregungen aufnehmen und ältere Traditionen übergehen konnte, andererseits, dass sein Werk schon nach wenigen Jahrzehnten ausgedient hatte und deshalb erstaunlich gut erhalten geblieben ist. Wiederum bestätigt sich: je geringer der praktische Nutzen, desto größer die Überlieferungschance. Eine Verbindung einer dieser Großkarten zu Gervasius von Tilbury lässt sich nicht nachweisen. Dennoch wird er seit vielen Jahrzehnten immer wieder als Autor der Ebstorfer Weltkarte in Stellung gebracht. Ein starkes Argument ist die mehrfache Erwähnung ei-
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III Die Wunder der Welt
9 Die Ebstorfer Weltkarte von ca. 1300 oder später stellt die größte bekannte mittelalterliche Weltkarte dar und bietet mit 2345 Text- und Bildeinträgen ein ebenso detailliertes wie umfassendes Bild der Welt.
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nes Propstes Gervasius von Ebstorf zwischen 1223 und 1234. Daraus wurde gefolgert, dass Gervasius von Tilbury und Gervasius von Ebstorf ein und dieselbe Person seien, dass der Autor der Otia imperialia von seinem kaiserlichen Gönner als Propst des Frauenklosters eingesetzt worden sei und seinen Lebensabend in Norddeutschland verbracht habe. Die Weltkarte wäre dann sein Alterswerk, nicht ein Mitbringsel aus Frankreich gewesen. Diese Kombination verschiedener Gesichtspunkte hat viel für sich und scheinbar „zwingenden Charme .6 Es zeigt sich allerdings, dass die Lebensdaten des einen Gervasius nicht leicht mit denen des anderen in Einklang zu bringen sind und auch die zeitliche Einordnung der Weltkarte Schwierigkeiten bereitet. Deren Datierung erwies sich als der springende Punkt der Debatte. Denn mit ihr steht und fällt die (hier nur ganz grob) skizzierte Argumentation. Gerade darüber aber gehen die Meinungen weit auseinander. Von 1208 /18 (Hans Martin Schaller, Bernd-Ulrich Hucker) über 1239 (Armin Wolf) und 1320 /30 (Horst Appuhn) bis 1371 /73 (Werner Ohnsorge) reichen die Vorschläge. Historiker, Kunsthistoriker, Wissenschaftshistoriker, Literaturwissenschaftler und Paläographen bestreiten die Debatte. Im Augenblick neigt sich die Waagschale auf die Seite einer späten Datierung. Um 1300 oder später – so lautet ein sich abzeichnender Konsens (Jürgen Wilke, Hartmut Kugler). Ob ein Kompromissvorschlag: Entstehung 1214 /15, Überarbeitung 1223 /44, Kopie um 1300 (Armin Wolf) sich durchsetzen kann, wird sich zeigen. Doch ungeachtet der Autorfrage gibt es durchaus ein inneres Band zwischen den Otia imperialia und der Karte in Ebstorf. Beide Werke zeigen sich denselben Grundgedanken verpflichtet und folgen den Vorgaben eines christlichen Weltbilds: Kosmos und irdisches Leben ruhen in Jesus Christus, die Vielfalt der Schöpfung bezeugt die Allmacht des Schöpfers, und sich davon ein Bild zu machen, als Betrachter oder Leser, weckte Ehrfurcht und Vergnügen. Allerdings richteten sie sich an ganz verschiedene Adressaten: Hatte der Verfasser des Buchs den Kaiser und sein Hofgefolge, also einen weltlichen Leserkreis vor Augen, so sprach die Karte primär, wenn nicht ausschließlich, die frommen Frauen im Kloster Ebstorf an. Karten können immer mehrere Funktionen, manchmal sogar gleichzeitig, übernehmen, aber in Ebstorf kamen von den vielen möglichen nur zwei infrage: als enzyklopädisches Unterrichtsmittel zur Unterrichtung der Nonnen oder als Andachtsbild zur gemeinsamen oder persönlichen Verehrung des Herrn. Im ersten Fall stand ihnen ein umfangreiches Text- und Bildmaterial zur biblischen und Heilsgeschichte mitsamt ihrer kartographischen Lokalisierung zur Verfügung, im zweiten konnten sie sich in Gottes Schöpfung vertiefen und die Orte vergegenwärtigen, an denen sich der Herr offenbart hatte. Diese selbst aufzusuchen, war Nonnen so gut wie unmöglich. Anders als die Mönche konnten sie nicht auf Pilgerfahrt gehen. Was ihnen blieb, war die sogenannte geistliche Pilgerfahrt, ein Reisen im Geiste unter Anleitung eines entsprechenden Texts oder eben einer Karte. So genutzt, wurde sie zum Medium eines spirituellen Erlebnisses, das eine geographische Grundlage besaß.
Spirituelle Kartographie Wir wissen, dass die Hereford-Karte in ein Altarretabel eingepasst wurde und zusammen mit zwei Bildtafeln ein ungewöhnliches Triptychon bildete: rechts die Jungfrau Maria, links der Engel der Verkündigung, in der Mitte die zu erlösende Welt. Der Rahmen aus Eichenholz blieb erhalten, die Seitenflügel gingen verloren. Das Kartenbild selbst wird von den Buchstaben MORS (= Tod) umgeben und durch eine Darstellung des Jüngsten Gerichts überhöht. Die Verdammten werden durch den Teufel und seine Gesellen zur Hölle abgeführt, die Erretteten geleitet ein Engel zur offenen Himmelspforte, wo „immerwährende
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Freude (ioie pardurable) sie erwartet.7 Irdischer Tod und ewiges Leben korrespondieren miteinander. Ein elaboriertes theologisches Konzept lag der gesamten Komposition zugrunde, die Karte hatte eine auf den ersten Blick erkennbare gottesdienstliche Aufgabe. In Ebstorf mag die Karte anders ausgestellt und anders genutzt worden sein. Aber auch hier schloss der Gesamteindruck jede andere als eine geistliche Deutung aus. Man könnte meinen, nicht die Welt werde dargestellt, sondern Jesus Christus, dessen Gliedmaßen sie im Westen, Süden und Norden, unten und an den Seiten, umgeben. Wahrscheinlich hat niemand daran gedacht, den Globus mit dem Körper des Herrn zu identifizieren. Damit hätte man sich in gefährliche Nähe zu häretischen Vorstellungen begeben. Vielmehr wurde der gemarterte, fragmentierte Leib des Gottessohns in Szene gesetzt und damit auf das Martyrium Christi verwiesen. Alle Geschichte geschah im Zeichen der Passion. Das Haupt des Erlösers ist zuoberst, in den äußersten Osten, platziert und erscheint als das A(lpha) und O(mega) der Geschichte. Seine Darstellung vereinigt den Bildtypus der maiestas domini mit dem der vera icon, des wahren Bilds Jesu Christi, das man durch das Schweißtuch der Veronika zu kennen glaubte. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das irdische Paradies, von dem die menschliche Geschichte mit dem Sündenfall ausging. Seine Lage beim Sonnenaufgang ist nicht nur geographisch begründet, sondern hat auch theologischen Sinn. Denn Sündenfall und Passion, Schuld und Erlösung stehen in ursächlichem Verhältnis zueinander. Doch das Ende der Geschichte wird in der Mitte stattfinden. Die Ebstorfer Weltkarte folgt – wie auch die in Hereford – nur grosso modo dem klassischen TO-Schema. Der T-Balken ist so weit nach Westen, nach unten, verschoben, dass er einem überdimensionierten, nicht seiner irdischen Größe, sondern seiner geistlichen Bedeutung entsprechenden Jerusalem Raum gibt. Die Heilige Stadt wird allerdings nicht wie früher und andernorts kreisrund markiert, sondern zeigt sich – dem Text der Johannes-Apokalypse folgend – in quadratischer Gestalt, von goldenen Mauern mit zwölf Toren umgeben. Den Innenraum füllt das Heilige Grab mit dem auferstandenen, über den Tod triumphierenden Jesus Christus. Der Betrachter bekommt das himmlische Jerusalem der Endzeit vor Augen und gleichzeitig die Erreichbarkeit des irdischen in Aussicht gestellt. Die dazugehörige Bildlegende verortet die Heilige Stadt mit exakten Entfernungsangaben in Palästina und lobt den „frommen Eifer , mit dem „der ganze Erdkreis das Grab des Herrn aufzusuchen verlangt .8 Jeder Pilger, der im Mittelalter nach Jerusalem kam, konnte ja – wir erinnern uns – mit etwas gutem Willen im irdischen Jerusalem seiner Gegenwart einen Abglanz vom himmlischen Jerusalem der Endzeit erkennen. Dessen war man sich in Ebstorf bewusst, auch wenn die Nonnen des Klosters nur auf dem Weg der geistlichen Pilgerfahrt daran teilhaben konnten. Hatte sich der Betrachter der Karte an den Rändern und in der Mitte Orientierung im Grundsätzlichen verschafft, konnte er den Blick in die Zwischenräume schweifen lassen und weitere Orte der biblischen und Heilsgeschichte identifizieren: den Berg Ararat, bei dem Noahs Arche landete und die Wiederbesiedlung der drei Kontinente durch Sem, Ham und Japhet begann, den Turm Babel, wo die Menschen sich voller Hochmut übernahmen, den Durchgang des Volkes Israel durch das Rote Meer, den Berg Sinai, wo sich Gott offenbarte und Moses die Gesetzestafeln überließ, die Stätte der Geburt Christi in Bethlehem, die Gräber der Apostel, die das Christentum in die Welt trugen (hier nur Matthäus, Philippus, Thomas und Bartholomäus, Jakobus Maior mit der Kathedrale in Santiago, Petrus und Paulus mit ihren Kirchen in Rom), schließlich und besonders augenfällig das Land der menschenfressenden Stämme Gog und Magog, die einst im Gefolge des Antichrist über die Welt kommen und die Apokalypse einleiten werden. Es ist genauso markant her-
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10 „Jerusalem, die hochheilige Hauptstadt Judäas, … ist für die ganze Welt die Hauptstadt aller Städte, weil hier die Rettung des Menschengeschlechts durch Tod und Auferstehung des Herrn vollbracht worden ist“: Das himmlische Jerusalem über dem Grab des auferstandenen Jesus Christus bildet die bedeutungsvolle Mitte der Ebstorfer Weltkarte.
11 „Hier hat Alexander die beiden unreinen Völker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Sie essen Menschenfleisch und trinken Blut.“ Deren Berggefängnis wird durch eine Verbindung von Landschaft und Mauerwerk wiedergegeben (Ausschnitt aus dem nordöstlichen Quadranten der Ebstorfer Weltkarte).
vorgehoben wie das Paradies und das Grab des auferstandenen Jesus Christus, der vielleicht deshalb, wegen der Gefahr aus dem Norden Asiens, in deren Richtung blickt. Anfang (Paradies), Krise (Gog und Magog) und Abschluss (Jerusalem) der Heilsgeschichte können mit zwei Augensprüngen erfasst werden. Wie auf der Karte aus Sawley und der Psalter-Karte in London erscheinen die geistlich wichtigen Orte auf einer „Heilsachse angeordnet. Was dort zwischen zwei Buchdeckel gebannt ist, wirkt hier übergroß und machtvoll auf den Betrachter. Alles Heilsgeschehen hat eine geographische Komponente. Es geschieht auf dieser Erde, holt gleichsam den Himmel auf sie und privilegiert einige Orte vor anderen, Jerusalem vor allem. Doch auch der Rest der bewohnten Erde ist Bühne und Schauplatz von Gottes Handeln, besonders wenn es sich in unerklärlichen, merkwürdigen und wundersamen Er-
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scheinungen äußert. Kaum etwas davon ist in Europa zu sehen, nichts in England, nichts im Arelat, nichts in Süditalien, so gut wie gar nichts auf Sizilien. Neapel wird nicht einmal mit Namen genannt. Auch das spricht gegen die Autorschaft des Gervasius von Tilbury. Europa erscheint als dicht besiedelte Städtelandschaft, aus der zwei Orte herausragen: erstens Rom wegen seiner geistlichen Bedeutung und als mögliches Ziel einer spirituellen Pilgerfahrt, zweitens Braunschweig mit Lüneburg, weil im Umfeld der Welfen die Karte entstand. In Afrika und Asien dagegen wimmelt es von tierischen und menschlichen Wundern. Am Nil werden Krokodile von den Einheimischen geritten, während der Pelikan seinen Nachwuchs mit dem Blut seiner Brust nährt. Daneben teilen sich Natter, Basilisk und Drache den Raum. In Arabien erneuert der Phönix sein Leben, eine mesopotamische Riesenameise hütet goldenen Sand. Einhorn und Papagei stehen für Indien, streitbare Greifen für Asiens Norden. Afrikanischer Elefant, syrisches Kamel und persischer Tiger machten dem Zeichner das Leben schwer. Die Wundervölker erscheinen über die Kontinente verteilt. Um das südliche Afrika rankt sich eine doppelte Galerie von Troglodyten, Hundsköpfigen, Mundlosen, Satyrn, Affenmenschen und Riesen, von Menschen mit großen Lippen (mit denen sie sich gegen die afrikanische Sonne schützen konnten) und Menschen mit vier Augen (mit denen sie beim Bogenschießen hervorragend zu zielen vermochten). In Asien sieht man die monströsen Gestalten über den ganzen Kontinent verteilt: weise Gymnosophisten und aggressive Kynokephalen im Südosten, gerechte Serer, seltsame Fischesser, gegen Kraniche kämpfende Pygmäen und harmlose Apfelriecher (Astomen) im Osten, pferdefüßige Anthropophagen, elternmordende Massageten, großohrige Panotier und wehrhafte Amazonen im Norden. Auch diese hat man gern zu den wundersamen Völkern gezählt. Auch sie wurden als ein farbiger Stein im bunten Mosaik der göttlichen Schöpfung angesehen. Wahrscheinlich kann Gervasius von Tilbury nicht als Autor der Ebstorfer Weltkarte gelten, wohl auch nicht als ihr Urheber in einem weiteren Sinn. Doch so wie die Otia imperialia ein weltliches Publikum an den geistlichen Sinn der irdischen Erscheinungen erinnern konnten, so führte die Weltkarte einem Nonnenkonvent den irdischen Rahmen der Heilsgeschichte vor Augen. Das eine war ein Buch der Wunder, das deren Topographie in sich schloss, das andere die Veranschaulichung eines christlichen Weltbildes, in dem alles Irdische den ihm von Gott bestimmten Platz fand. Darüber konnten die Ebstorfer Nonnen nachdenken, wenn sie andächtig die Karte besahen. Sie mag außerhalb des Klosters wenig Wirkung entfaltet haben; aber nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch wegen ihres umfassenden und vielschichtigen Inhalts muss sie als Höhepunkt einer spirituellen Kartographie gelten, der es nach wie vor weniger auf geographische Fakten als auf deren Sinngebung ankam. 1
Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 558f.; Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden, S. 308f.
2
Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 824: in regno Arelatensi imperialis aule mariscallus.
3
Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 670; dt. Übersetzung: S. 371 (III 59).
4
Gervase of Tilbury, Otia imperialia, S. 584: nec hiis fidem dedissem si non ipse probassem; dt. Übersetzung: S. 324 (III 14).
5
Daston /Park, Wunder, S. 25.
6
Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte, Bd. 2, S. 69.
7
Westrem, The Hereford Map, S. 5.
8
Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte, Bd. 1, S. 92 A 1, 2: sepulchrum Dominicum, quod pia aviditate querere desiderat totus orbis.
Spirituelle Kartographie
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Die Welt der Mongolen B
is in die Mitte des 13. Jahrhunderts blieb die Weltkenntnis der Europäer weitgehend stabil und in Grenzen befangen. Sie deckte sich nicht einmal mit den Grenzen Europas. An den Randzonen im Norden, Westen, Osten und Südosten blieben viele Fragen offen, verlief das Wissen der Gelehrten im Sand. Wo wie im Nahen Osten, also infolge der Kreuzzüge, neue Erfahrungen gemacht wurden, trugen sie kaum zur Erweiterung des geographischen Horizonts bei, weil man sich gerade hier nicht in der Fremde, sondern auf heimischem, weil angestammtem Boden wähnte. Für eine deutliche, fast sprunghafte Erweiterung des europäischen Weltwissens sorgten Geschehnisse, die in Zentralasien ihren Ursprung hatten, die politischen, sozialen und rechtlichen Verhältnisse in den benachbarten Reichen grundstürzend veränderten und sich bis ins ferne Europa auswirkten. Im Begriff der mongolischen Reichsbildung fassen wir sie zusammen.
Dschingis Khans Erben Bis dahin hatte es nur flüchtige Ansätze zu einem Zusammenschluss der Stämme und Sippen in der zentralasiatischen Steppe gegeben. Ein erstes mongolisches Reich war rasch wieder zerfallen. „Wildbachleute , „Edle oder „Wildentenleute , Kerait, Naiman, Tatar, Mongkhol und andere „Gemeinschaften ließen sich nur noch auf Zweckbündnisse ein, die bei Bedarf wieder aufgegeben werden konnten. Die politischen Verhältnisse waren daher instabil und äußerst fluid. Dass trotzdem um 1200 aus einer Vielzahl von Klanen das mongolische Volk entstand, dessen Herrscher in kürzester Zeit ein Großreich von ungekannten Ausmaßen zusammenrafften, ist untrennbar mit der Person Temüdschins (Temüjin) verbunden. Als er 1206 von einer Heeresversammlung zum Khan ausgerufen wurde und den Namen Dschingis (Cˇinggis), d. i. wahrscheinlich „ozeanisch , annahm, waren völlig neue Verhältnisse geschaffen. Bis heute wird Dschingis Khan in der Mongolei als Schöpfer der ethnischen Einheit und Begründer des ersten Staatswesens verehrt. Im Ausland dagegen steht sein Name für Terror, Eroberung und gewaltsame Expansion. Denn schon mit der Wahl des Namens war der Anspruch auf umfassende Herrschaft und bedingungslose Unterwerfung, der Anspruch auf die Weltherrschaft verbunden. Vom Aufstieg Temüdschins aus schwierigen Anfängen erzählt ein merkwürdiger Text, wenige Jahrzehnte nach dessen Tod verfasst. Wegen seiner Überlieferung in mongolischer
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IV Die Welt der Mongolen
Sprache, aber in chinesischen Schriftzeichen wird er als die „Geheime Geschichte der Mongolen bezeichnet. Fast alles, was wir von der frühen mongolischen Geschichte wissen, wissen wir durch sie. Sie handelt von Temüdschins Jugend und seinen Eltern, vom „Knochen (Klan) der Mongkhol, aus dem er stammte, von der Überwältigung der Nachbarstämme, schließlich auch von den Eroberungen in ganz Asien. Es ist ein mitreißendes Epos von Beute, Raub und Vergeltung, von Flucht, Verschwörung und Verrat, von Gewalt, Tod und Vernichtung. „Es ist die Geschichte einer rapiden, unwiderstehlichen Macht, … sichtbar an den Bewegungen von Pferden und Pfeilen .1
1 Dschingis Khans Tod 1227 (um 1400; Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 2810, fol. 27r).
Indem sie sich gegen die anderen Stämme durchsetzten, gewannen die Monghkol Ansehen bei ihren Nachbarn. Vor allem dass sie die reichen Tatar (im Nordosten der heutigen Inneren Mongolei) überwanden, verschaffte ihnen Respekt. Sie ließen sich fortan auch als Tataren bezeichnen und machten sich so deren Prestige zueigen. Bis in die benachbarten Reiche reichte nun Temüdschins Einfluss, und aus den Kriegen gegen die Stämme ergaben sich Feldzüge gegen jene Herrscher, bei denen die besiegten Feinde Zuflucht gefunden hatten. 1207 wurden Kirgisen und Oiraten, 1209 die Tanguten in Xixia unterworfen. 1210 legte sich Dschingis mit der Jin-Dynastie in Nordchina, danach mit Kiptschak (Qipcˇaq) und Karakitai im westlichen Zentralasien an. 1219 schließlich begann der Westfeldzug gegen Chwarezmien zu beiden Seiten des Amu Darja (Oxus). Er dauerte sechs Jahre und endete mit der völligen Vernichtung des Gegners. Eine asiatische Großmacht war aus dem Weg geräumt. Reiche Städte wie Buchara und Samarkand fielen den Kriegern aus der Steppe in die Hand. Einzelne Verbände gelangten in den Kaukasus und nach Südrussland, wo sie ein vereinigtes Heer von Kiptschak und der Rus’ aus dem Feld schlugen. Dschingis Khan starb zwar etwa 60-jährig an den Folgen eines Reitunfalls – für einen Welteroberer ein prosaischer Tod. Doch seine Nachfolger, die sich alle Großkhane nannten: Ögödei (1229 – 1241), Güyük (1246 – 1248), Möngke (1251 – 1259), setzten die Beute- und Eroberungszüge in alle Himmelsrichtungen fort. Im Osten wurde Korea, im Süden Nordchina, in Zentralasien Tibet, weiter westlich Iran und Irak unterworfen. Das prunkvolle Bagdad, Sitz der Kalifen, wurde 1258 dem Erdboden gleichgemacht. Erst die überlegene Tapferkeit der syrischen Mamluken brachte – in der Schlacht bei Ain Ja-lu- t 1260 – den Vor-
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2 Belagerung und Zerstörung Bagdads durch die Mongolen (1258) in der Vorstellung eines persischen Buchmalers (15. Jh., Paris, Bibl. Nationale, Suppl. Persan 1113, fol. 180 v /18 1r).
marsch der mongolischen Heere zum Stehen. Ein zweiter Westfeldzug führte über den Kaukasus und Russland nach Ostmittel- und Südosteuropa. Ein schlesisches Aufgebot wurde bei Liegnitz, ein ungarisches am Fluss Sajó vernichtend geschlagen. Die Städte Buda und Pest wurden völlig zerstört (1241). Als Ögödei überraschend verstarb, zog das mongolische Heer ab und kehrte nicht mehr zurück, aus welchen Gründen auch immer. Doch Russland blieb für mehr als zwei Jahrhunderte dem „tatarischen Joch unterworfen. Als schließlich Möngkes Nachfolger Khubilai (Qubilai, 1260 – 1294) Südchina erobert (1279), Pagan in Burma zerstört (1287) und Hanoi in Annam zeitweilig besetzt hatte, reichte der mongolische Herrschaftsbereich von Nowgorod in Russland bis zum Südchinesischen Meer, vom Kaukasus bis Korea und schloss den Süden Sibiriens, das tibetische Hochland und die Wüsten Persiens mit ein. Nur Indien, Java, Japan und mit Mühe auch Annam konnten sich wehren. Zwar machten sich bald schon zentrifugale Tendenzen bemerkbar, Teilreiche in Zentralasien (Tschaghatai), Iran (Il-Khanat) und Russland (Khanat der Goldenen Horde) bildeten sich heraus. Doch theoretisch unterstanden sie alle dem Großkhan, der zunächst in Karakorum (Qaraqorum), dann in Daidu (Dadu) beim heutigen Beijing residierte. Vorher und nachher gab es kein größeres Reich in der Geschichte. Was die Reiterkrieger antrieb und was sie dazu befähigte, immense Entfernungen zu überwinden und scheinbar mühelos alle Gegner aus dem Feld zu schlagen, war für die zeitge-
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nössischen sowieso, aber auch für die späteren Beobachter ein Rätsel. Der Anspruch auf die Weltherrschaft spielte eine Rolle, die Aussicht auf Beute desgleichen. Zumal die Reichtümer Chinas zogen die Begehrlichkeiten der Steppenvölker von jeher auf sich. Nach Westen gab es kein Halten, weil die Besiegten sich schleunig zurückzogen und die Sieger ihnen nachsetzten. Dschingis hatte verfügt, dass die erbeuteten Besitztümer zunächst dem Khan anheimfielen und dann erst unter die Krieger verteilt wurden. Bei den Beutestücken (oder auch „Fundsachen ) haltzumachen, um sie sich anzueignen, wurde untersagt, die militärische Disziplin hatte Vorrang. Individuelle Vorteile wurden den strategischen Zielen der (Beute-)Gemeinschaft untergeordnet. Das sicherte geschlossenes Handeln, bedeutete aber auch, dass jeder erfolgreiche Krieg neue Feldzüge generierte. Denn Loyalität wurde mit fremdem Gut belohnt, und nur mit weiteren Erfolgen, also neuerlichem Beutemachen, wurde das Heer bei Laune gehalten. Krieg ergab sich aus Krieg. Bei der militärischen Auseinandersetzung mit ihren Feinden hatten die Mongolen strategische, taktische und waffentechnische Vorteile auf ihrer Seite. Dschingis Khan hatte aus locker gefügten, immer beutegierigen Klanverbänden ein straff geführtes Heer geformt, das nach dem Dezimalsystem, also in Zehnerschaften, Hundertschaften und Tausendschaften, organisiert war. Hinzu kam die Leibwache des Khans, die schon 1206 aus 10 000 Mann bestanden haben soll. Die Anführer hatten unbedingte Kommandogewalt, aber sonst keinen Vorrang, auch nicht bei der Verteilung der Beute. Dadurch wurde das Gefälle zu den einfachen Kriegern flach, deren Motivation hoch gehalten. Auch blieb viel Spielraum für eine variable und bewegliche Kriegführung. Die kleinen und wendigen, dabei äußerst genügsamen Pferde erlaubten es, überfallartige Feldzüge tief in Feindesland zu unternehmen und in offener Feldschlacht den Gegner durch überraschende Finten (Scheinflucht, von den Mongolen „Kampf der Hunde genannt) in sein Verderben zu locken. Notfalls standen sie sogar als Nahrungsmittelreserve zur Verfügung. Der Tross, bestehend aus Ochsenwagen, wohnlichen Zelten und mobilem Hausrat, kam hinterher. Leichte Bewaffnung und Rüstung unterstrichen, dass es vor allem anderen auf Geschwindigkeit ankam. Lamellenpanzer und seidene Westen boten genügend Schutz, ohne Ballast zu sein. Der Reflexbogen, aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt und gegen die natürliche Krümmung gespannt, verband spektakuläre Durchschlagskraft mit großer Treffsicherheit. Hindernisse, die den Vormarsch aufhielten (befestigte Städte vor allem), ließ man fürs Erste links liegen, um später zu ihnen zurückzukehren und dann das Eroberungswerk zu vollenden. Hinzu kam (und war vielleicht entscheidend) eine Art psychologischer Kriegführung: Wer sich ergab, durfte Milde erwarten; wer es wagte, Widerstand zu leisten, wurde erbarmungslos niedergemacht. Ganze Städte verschwanden von der Bildfläche. Frauen und Kinder wurden deportiert, Handwerker und andere Experten, die man gebrauchen konnte, in die Mongolei verschleppt. Unterworfene Völker wurden in die Armee integriert, aber in die vorderste Linie gestellt. Eines der Gesetze, die Dschingis seinem Volk gegeben hatte, legte ein für alle Mal fest: „Die Mongolen müssen sich die ganze Erde unterwerfen und dürfen mit keinem Volk Frieden haben, bis es vernichtet ist, außer es unterstellt sich ihnen. 2 Mit Strafexpeditionen, Massenhinrichtungen und Schädelpyramiden verbreiteten die mongolischen Heere Angst und Schrecken und ließen jeden Widerstand als aussichtslos erscheinen. Der Terror hatte Erfolg. Vor allem die islamischen Länder Zentral- und Westasiens sowie Russland hatten unter den Kriegen zu leiden. Bis heute wird dort die Mongolenherrschaft als katastrophaler Einschnitt empfunden. Nur Ausläufer davon erreichten Europa. Bei Liegnitz kämpfte nur ein kleiner Teil des mongolischen Heeres, und auch Ungarn, schwer getroffen, entging mit
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3 Schlacht bei Liegnitz und Tod Herzog Heinrichs II. von Schlesien 1241. Die Tataren sind an den exotischen Kopfbedeckungen zu erkennen (J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Ms. Ludwig XI/7, fol. 11v).
Glück der systematischen Verödung. Dennoch waren die Niederlagen schockierend. Im östlichen Europa machte sich Entsetzen breit, und aus Ungarn wurden Dinge berichtet, die an die Endzeit denken ließen. Apokalyptische Landschaften wurden beschrieben, „damit die Lesenden erkennen und die Erkennenden glauben, die Glaubenden aber begreifen, dass die Tage des Verderbens nahe sind und die Zeiten sich dem Ende zuneigen :3 Auf Feldern und Wegen lagen die Leichen von zahlreichen Gefallenen, hier enthauptet, dort verstreut in Dörfern und in Kirchen eingeäschert, wohin sie vergebens geflohen waren. Diese schrecklichen Leichenhaufen bedeckten die Straßen über eine Entfernung von zwei Tagesreisen, die Erde war dort ganz von Blut gerötet und die Leichen lagen so zahlreich am Boden, wie sich Rinder, Schafe und Schweine an Weidestellen in der Wüste und Steine zu Hauf in Steinbrüchen sammeln. Das Wasser barg die Leichen der Ertrunkenen. Sie dienten Fischen, Würmern und Wasservögeln zum Fraß. Die Erde wurde zum Eigentum der Leiber, die durch vergiftete Lanzen, Schwerter und Pfeile gefällt worden waren; blutgierige Vögel und gefräßige Bestien, ob Haustiere oder wilde, verschlangen die Leichen bis auf die Knochen. Das Feuer verzehrte jene Toten, die in
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Da die Mongolen von Nordasien her in Europa eindrangen, wurden sie mit den degenerierten Judenstämmen Gog und Magog gleichgesetzt, die am Ende der Geschichte aus ihrem Gefängnis hinter dem Kaukasus ausbrechen sollten (Uffenbachsches Wappenbuch, Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 90 B in scrin., fol. 51r).
Kirchen und Dörfern verbrannten. … Der Luft, die als viertes Element bezeichnet wird, überließen die anderen drei Elemente den Leichengeruch. Die Luft wurde durch den Gestank so vergiftet und verunreinigt, dass die Menschen, die auf Feldern, Wegen und Wäldern an ihren Wunden halbtot daniederlagen und vielleicht noch hätten überleben können, an der Vergiftung der Atemluft starben. So war selbst die Luft nicht frei von diesem grauenhaften Sterben (Rogerius von Torre Maggiore).4
Die unreinen Stämme Gog und Magog schienen ihrem Berggefängnis entronnen zu sein, um als Vorboten des Antichrist das Volk der Christen zu überfallen. Da niemand jemals etwas von den Mongolen gehört hatte, blieb nur der Rückgriff auf biblisches Wissen. Im Namen des Großkhans Güyük glaubte man Gog, in dem seines Nachfolgers Möngke dann Magog erkennen zu können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwann einer feststellte, diese wilden, grausamen Reiter hießen gar nicht Mongolen, Mongoli, sondern Magogoli sei ihr wirklicher Name. Da Gog und Magog als degenerierte Judenstämme galten, hielt man die Mongolen für Omnivoren, die alles Unreine, ja sogar Menschenfleisch verzehrten, und man meinte sie als Zöglinge von Pharisäern und Sadduzäern, ihre Schrift als hebräisch identifizieren zu können. In Trier wurde gemunkelt, die Juden würden schon frohlocken; denn ihre Befreiung stehe bevor. Andere ließen sich eher von der Bezeichnung „Tataren beeindrucken, hörten ein „r heraus und setzten den Ort ihrer Herkunft mit dem Tartaros, der griechischen Unterwelt, gleich. Die Hölle habe Dämonen ausgespien und auf die Menschheit losgelassen. Die Könige von Böhmen und Ungarn schickten verzweifelte Botschaften an Kaiser und Papst und baten flehentlich um Hilfe. Auch die Nachbarfürsten spürten die Bedrohung und schlugen Alarm. Bis nach England, an den Hof Heinrichs III., gelangten die Hilferufe der Opfer. Am ehesten hätte man vom Kaiser erwarten können, einen gemeinsamen Abwehrkrieg, vielleicht sogar einen Kreuzzug gegen die Tataren zu organisieren. Der Schutz der christianitas galt von jeher als eine seiner vorrangigen Aufgaben. Friedrich II. verschickte
5 „Die ruchlosen Tartaren oder Tataren, die sich von menschlichem Fleisch ernähren“: Matthaeus Parisiensis, Chronica maiora (Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 16, fol 166r). Die eigenhändige Zeichnung illustriert einen Bericht, den Matthaeus von den Gräueln der Mongolen in Ungarn erhalten hatte. Um die Tataren als identisch mit Gog und Magog, also als Juden zu kennzeichnen, versah er die mongolischen Krieger mit grotesk gekrümmten Nasen.
Dschingis Khans Erben
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denn auch mehrere hochtrabende Schreiben voller Pathos und dröhnender Rhetorik, um gemeinsames Handeln in Aussicht zu stellen. Von Barbarei, Wildheit und Grausamkeit der Mongolen, von deren Unmenschlichkeit und Gottferne ist dort die Rede, schließlich auch von der „Ausrottung der tatarischen Niedertracht 5 als gemeinsamem Ziel. Doch den großen Worten folgten keine Taten. Der Streit mit der Kurie, der sogenannte Endkampf, hatte Vorrang. Papst Innocenz IV. war der Einzige, der konkrete Maßnahmen ergriff.
Spion des Papstes Innocenz IV. wurde im Sommer 1243, nach fast zweijähriger Sedisvakanz, im überhaupt ersten Konklave zum Papst gewählt und dann auf den Stuhl Petri erhoben. Sein Vorgänger, Gregor IX., wusste von den Massakern im Osten, schickte aber nur einige Briefe, die zur Demut aufforderten und das Wüten der Tataren als Strafe Gottes für die sündige Menschheit einstuften. Zwei Jahre später schien das Schlimmste vorüber, doch der neue Papst war ein welterfahrener Mann und traute dem Frieden nicht. Es kam darauf an, Näheres über den geheimnisvollen Feind in Erfahrung zu bringen, dessen Absichten zu ergründen und wenn möglich darauf Einfluss zu nehmen. Man musste also direkte Verbindung aufnehmen und, da die Tataren dazu keine Anstalten unternahmen, einen oder mehrere Boten zu ihnen ausschicken. Sie hatten sowohl diplomatische als auch „nachrichtendienstliche Aufgaben, waren Emissäre und Spione im Auftrag des Papstes. Da es sich um eine heikle, anspruchsvolle und auch nicht ungefährliche Mission handelte, musste man sich nach ebenso zuverlässigem wie geschultem und ergebenem Personal umsehen. Nur die Bettelorden mit ihrer rückhaltlosen Bindung an das Papsttum kamen infrage. Zwei Gruppen von Boten machten sich auf den Weg. Eine, bestehend aus mehreren Dominikanern, versuchte, über eine südliche Route, über Kleinasien und den Kaukasus, Kontakt mit den Mongolen in Zentralasien aufzunehmen. Doch die Gesandtschaft kam nicht ans Ziel und erreichte nicht viel, teils wegen der schwierigen äußeren Umstände, teils wegen der Unfähigkeit der Gesandten. Nicht bereit, diplomatisch auf die Wünsche und Ansichten ihrer Gesprächspartner einzugehen, legten sie sich selbst nur Steine in den Weg und wären fast den Tod von Märtyrern gestorben. Immerhin konnte einer der Mönche, Simon von Saint-Quentin, schriftlich über den Misserfolg berichten. Anders gestaltete sich die Kontaktaufnahme auf der nördlichen Route, die über Polen, Russland und Südsibirien führte. Auch das lag – nur eben umgekehrt – vor allem an der Person des Gesandten. Papst Innocenz hatte eine gute Wahl getroffen. Der Franziskaner Johannes von Plano Carpini (Giovanni di Pian di Carpine) hatte zwar schon das 60. Lebensjahr überschritten und schien auch wegen seiner Leibesfülle für eine solche Reise nicht gerade prädestiniert. Doch seiner schwierigen Aufgabe zeigte er sich – nicht zuletzt dank seiner Lebenserfahrung – gewachsen. Johannes stammte aus Umbrien und gehörte zu den frühen Gefährten des Ordensgründers Franziskus von Assisi. Er beteiligte sich an der Ausbreitung der Franziskaner nördlich der Alpen und wurde 1228 zum Provinzialminister in Deutschland, 1230 in Spanien, 1232 in Sachsen berufen. Ein Ordensbruder nannte ihn „umgänglich, geistreich, gebildet, einen begnadeten Redner und in vielem erfahren .6 Er war ein würdiger geistlicher Herr, der sich in verschiedenen Stellungen bewährt hatte und gut gerüstet schien für das, was auf ihn zukam. Außerdem erhielt er Unterstützung und vielfachen Rat. Der König von Böhmen, den Johannes gut kannte, riet ihm und seinen Gefährten, den Weg über Polen und Russland zu
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nehmen. Er gab ihnen sicheres Geleit, Unterkunft und Verpflegung in seinen Städten, sein Neffe, Herzog Bołeslaw II. von Schlesien, desgleichen. In Krakau lernte Johannes den russischen Fürsten Vasil’ko von Vladimir-Volynsk kennen, der ihm einiges über die Tataren sagen konnte. Wichtig war der Hinweis, dass man ihnen reiche Geschenke mitbringen müsse. Sonst würden sie den Gesandten nicht achten. Der Herzog und die Herzogin von Masowien gaben ihm deshalb eine Anzahl von Fellen. In Kiew, wohin ihn ein Diener Vasil’kos geführt hatte, erfuhr Johannes, dass für das Klima der Steppe die eigenen Pferde nicht taugten. Von einem mongolischen (?) Truppenführer erhielt er neue und außerdem Geleit bis zum ersten Posten der Tataren. Mehrfach drohte Gefahr. Doch wenn sich Johannes und seine Leute als Gesandte des Papstes ausgaben, wurden sie in Ruhe gelassen und weiter nach Osten geführt. Zum Problem wurden die Geschenke. Da man auf Geleit und Hilfe angewiesen war und bei jedem lokalen Potentaten etwas abgeben musste, gingen sie allmählich zur Neige. Je weiter man nach Osten vordrang, umso bedeutender waren die Herren, bei denen man vorsprechen musste, und umso dürftiger fielen die Gaben aus, die man mitbrachte. Mit dem Anliegen der Gesandten und erst recht mit dem päpstlichen Schreiben konnte keiner etwas anfangen. Sie wurden also immer weiter nach Osten durchgereicht und in das Zentrum der tatarischen Macht geschickt. Ein Alane Micheas, „voller Bosheit und Gemeinheit ,7 brachte sie zum ersten Lager der Mongolen. Von dort kamen sie zu dem Dschingisiden Kuremsa /Qurumši, der mit 6000 Mann das Land nördlich des Dnjepr kontrollierte. Mit dessen Geleit passierten sie Kumanien, ließen das Herrschaftsgebiet Mochis, eines anderen Dschingisiden, am anderen Ufer des Dnjepr rechts liegen und gelangten schließlich zu Batu, dem Khan der Goldenen Horde, von seinen Leuten verehrt, von seinen Feinden gefürchtet. Am Unterlauf der Wolga, kurz vor deren Mündung in das Kaspische Meer, befand sich Sarai, seine Hauptstadt, wohl weiter östlich sein Zelt, seine „Horde . Von der Pracht seiner Hofhaltung zeigte sich die Gesandtschaft beeindruckt. Der des Großkhans stehe sie in nichts nach. Zum Glück hatte Johannes noch 40 Biber- und 80 Dachsfelle, die er dem hohen Herrn schenken konnte. Doch obwohl die päpstliche Botschaft mittlerweile übersetzt vorlag, wurde die Gesandtschaft an den Großkhan verwiesen. Sie durchreiste Westsibirien, wo Orda, der älteste lebende Nachfahre Dschingis Khans, regierte, und gelangte schließlich zum Stammland der Mongolen. Dort, in der Sommerresidenz Syra Orda („Gelber Palast ), erlebte Johannes die Wahl und Erhebung Güyüks zum Großkhan und konnte Gespräche mit dem neuen Herrscher führen. Geschenke standen ihm da allerdings nicht mehr zur Verfügung. Johannes von Plano Carpini war 2½ Jahre, von Ostern 1245 bis November 1247, unterwegs und legte dabei mehr als 20 000 km zurück. Seine Reise führte quer durch Nordasien, einen Teil der Erde, der Europäern bis dahin völlig unbekannt war. Auch über die klimatischen Verhältnisse wusste niemand Bescheid. Glühende Hitze, eiskalte Winde, gewaltige Stürme, tödliche Gewitter, extreme Trockenheit und plötzlicher Hagel, durch den zahlreiche Menschen ertranken – das alles hat Johannes persönlich erlebt. Die Witterung in der Mongolei fand er „erstaunlich unregelmäßig .8 Zur Heimreise brach er zu früh auf und musste sich durch Schneetreiben durchschlagen. Mehr als einmal ging den Reisenden die Orientierung verloren. Nur ungefähr wussten sie, dass das Schwarze Meer, der Bosporus und Konstantinopel von Kumanien nicht weit entfernt lagen oder man sich im Süden Jerusalem, Bagdad und das ganze Land der „Sarazenen (d. i. der Muslime) denken müsse. Doch waren sie da schon ziemlich weit nach Osten gekommen. Den Alaköl-See hielten sie für ein Meer. Der viel größere Balkaschsee
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entging ihnen. Johannes lernte die Namen unbekannter Flüsse und Städte und sah Landschaften, die vor ihm noch kein Europäer gesehen hatte: Wüsten voller Sand und Schotter, kaum passierbare Windspalten, endlose Ebenen, kaum Wälder. Nachdem er einmal als Botschafter des Papstes anerkannt worden war, durfte er das höchst effiziente mongolische Botenwesen in Anspruch nehmen und täglich mehrere Pferde verbrauchen. „In scharfem Ritt ging es durch die Steppe.9 Trotzdem war die Gesandtschaft Wochen und Monate unterwegs. Die Weite des Raumes, die Maßlosigkeit der innerasiatischen Geographie, wurde ihr dadurch bewusst. Die Namen der vielen Völker, von denen Johannes hörte, dienten ihm dazu, den Raum zu strukturieren und die eigenen Erlebnisse in ihm zu verorten. Im Süden lebten „Sarazenen , im Südwesten die Uiguren. Im Westen siedelten die Turkvölker der Kanghli, Naiman und Karakitai, durch deren Länder die Gesandten gereist waren, um zu den Mongolen zu gelangen. Im Nordwesten finde man Mordwinen und Samojeden, dicht dabei die Parossiten (Permiak), deren Beschreibung an die fabelhaften Astomen erinnert, die nur einen kleinen Mund haben und sich deshalb vom Geruch von Speisen ernähren, schließlich auch die noch fabelhafteren Hundsköpfigen (Kynokephalen), mit deren tierischer Wildheit nicht einmal die Tataren fertig wurden. Hier berührten sich die Geschichten, die man Johannes von Plano Carpini erzählte, mit den Vorstellungen von den Wundervölkern, die das Wissen der Europäer von Asien bestimmten. Auch von schnellfüßigen Zyklopeden wurde dem Gesandten berichtet, und er rief sich die entsprechenden Passagen bei Isidor von Sevilla in Erinnerung. Mitgebrachtes Wissen und die Erzählungen der Einheimischen schienen einander zu entsprechen. Auch das verschaffte so etwas wie Orientierung. Im äußersten Osten, jenseits der Mongolei, lebten die Solangen, ein Volk von Mandschuren, und schließlich die Kitai – damit meinte man die Chinesen. Zwar klingt vieles von dem, was Johannes über sie hörte, nach Spekulation, Missverständnis und wildem Gerücht: Verehrung des einen Gottes, Jesu Christi und einiger Heiliger, Wertschätzung der Heiligen Schrift und der Viten der Väter, Besitz kirchenähnlicher Gebäude, einer eigenen Sprache und einer eigenen Schrift, Bartlosigkeit und „mongolische Gesichtszüge, hohe Qualität des Handwerks, Reichtum an Wein, Getreide, Gold, Seide u. a. m. Doch die Darstellung des päpstlichen Gesandten stellt das erste halbwegs authentische Zeugnis dar, das ein europäischer Autor über China und die Chinesen verfasste. War die Gesandtschaft zum Großkhan erfolgreich? Wie erinnerlich, sollte sie die Tataren zum Frieden ermahnen und gleichzeitig Informationen über deren Potenziale und Absichten beschaffen, sie also ausspionieren. Nur mit dem zweiten Auftrag hatte sie Erfolg. Das Schreiben des Papstes fasste Güyük als Unterwerfung auf und verlangte von allen europäischen Herrschern, in eigener Person und ohne Ausnahme zu ihm in die Mongolei zu kommen, um seine Befehle entgegenzunehmen. Die Aufforderung, endlich das Morden zu beenden und Gottes Zorn zu fürchten, wies er brüsk zurück. Johannes von Plano Carpini reiste unverrichteter Dinge von Syra Orda zurück. Doch auf der Hinreise, bei der Heimreise und während seines Aufenthalts bei Güyük trug er so viele Informationen zusammen, dass er aus ihnen ein umfangreiches Buch über das Leben und die Geschichte der Mongolen gestalten konnte. Es besteht aus acht unterschiedlich großen Kapiteln und behandelt nacheinander: • das Land der Tataren, dessen Lage, Beschaffenheit und Klima; • die Bewohner: wie sie aussehen, wie und wie oft sie heiraten, wie sie sich kleiden, wie sie wohnen und was sie besitzen; • die religiösen Bräuche: den Gottesbegriff der Tataren, ihr Verständnis von Sünde und die Rituale der Reinigung zu verschiedenen Anlässen;
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• den Charakter der Tataren: ihre guten und schlechten Eigenschaften, Nahrung, Gewohnheiten und Gesetze; • das Reich der Mongolen: seine Gründung durch Dschingis Khan, die Kriege gegen alle Nachbarn und deren Fortsetzung durch Dschingis Khans Erben, die Regierung des Großkhans und die jüngsten militärischen Erfolge, zum Beispiel in Europa; • die Kriegführung der Tataren: Heeresorganisation, Bewaffnung, Kriegslisten, Belagerungstechniken, zuletzt ihre Grausamkeit gegen die Verlierer; • das Schicksal der unterworfenen Länder, aber auch das Beispiel derer, die erfolgreich Widerstand leisten konnten; • die Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen und den Tataren Paroli zu bieten: im Krieg, in der Schlacht und bei der Verteidigung befestigter Plätze. Das Buch unterrichtete detailliert und ausführlich über alle Aspekte des täglichen und gesellschaftlichen Lebens bei den Mongolen, soweit sie mit dem Eroberungsdrang dieses rätselhaften Volkes in Verbindung standen; und das galt für sehr vieles. Wer es las, wurde gründlich informiert und schien für die Herausforderungen der Zukunft besser gerüstet. Als Diplomat war Johannes von Plano Carpini völlig gescheitert, doch als Spion des Papstes hatte er sich glänzend bewährt.
Ein Spiegel des Wissens Johannes nannte sein fertiges Werk eine Historia Mongalorum, eine „Kunde von den Mongolen . Eine erste Fassung schrieb er auf der Heimreise, um sie Papst Innocenz nach Erledigung seines Auftrags übergeben zu können. Doch das Interesse war allgemein. Das Manuskript wurde dem Verfasser buchstäblich aus den Händen gerissen und unfertig, wie es war, in Umlauf gebracht. Dem Autor selbst blieb nur mehr eine fehlerhafte Kopie. Sie diente ihm als Grundlage einer zweiten, nun aber ausführlicheren Fassung, die seinen offiziellen, endgültigen Bericht darstellte. Immer wieder aber wurde er genötigt, darüber hinaus auch mündlich zu berichten, sein Werk zu erläutern und vorzuzeigen, was er sonst noch aus Innerasien mitgebracht hatte. Seine Erzählungen müssen ausgesprochen unterhaltsam gewesen sein. Die „Kunde von den Mongolen ist in 21 Handschriften überliefert und wurde für mittelalterliche Verhältnisse ein recht erfolgreiches Buch. Doch in das allgemeine Bewusstsein und den Kanon des Wissens ging ihr Inhalt dadurch ein, dass sie einem gelehrten Kompilator in die Hände fiel, der sie im Rahmen einer viel gelesenen Enzyklopädie dem allgemeinen Publikum zugänglich machte. Er hieß Vincenz, lebte bis 1246 als Mönch im Dominikanerkonvent zu Beauvais (nördlich von Paris), dann als ‚Leihgabe‘ bei den Zisterziensern im nahen Royaumont und war von seinen Vorgesetzten ermuntert worden, eine Summe allen verfügbaren Wissens zu erstellen. Denn der Predigerorden brauchte ein solches Nachschlagewerk, um seiner selbst gewählten Aufgabe: der Bekämpfung der Ketzer durch die Verbreitung des Gottesworts nachkommen zu können. Verteidigung der Glaubenslehre, moralische Unterrichtung, Ansporn zu tätiger Nächstenliebe und Auslegung der Heiligen Schrift – das waren für Vincenz die Felder, auf denen sich die Mitglieder seines Ordens zu betätigen hatten. Doch der Prediger musste die Welt kennen, wenn er von ihr sprechen und in ihr wirken wollte. Dazu brauchte er eine Blütenlese aus allen Bereichen des Wissens, sinnvoll gegliedert, handhabbar aufbereitet und gut zugänglich in schriftlicher Form. Denn „die Menge der Bücher, die Kürze der Zeit und auch die Schwäche des Gedächtnisses 10 standen seinen Bemühungen immer im Weg. Vincenz schien für
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6 Vincenz von Beauvais, gelehrter Dominikaner und Enzyklopädist (vor 1200 – 1264) (London, British Library, Royal MS, 14 E I, fol. 3r).
ein solches Werk besonders geeignet, da er als junger Mönch in Paris studiert hatte und schon „seit langer Zeit beständig große Büchermengen wälzte und eifrig in ihnen las .11 Er hatte schon eine kleine Weltkunde, eine Imago mundi, verfasst und schrieb Traktate zu verschiedenen, auch weltlichen Themen. Ein Fürstenspiegel (De morali principis institutione) war für die Könige von Navarra und Frankreich, eine Abhandlung über die Erziehung adliger Söhne (De eruditione filiorum nobilium) für die Familie des Letzteren bestimmt. So weit reichte sein Ruf. Von Ludwig IX. (dem Heiligen) wurde er geschätzt und dauernd gefördert, ideell und finanziell. Vincenz dankte es ihm, indem er eine frühe Fassung der Enzyklopädie seinem Gönner dedizierte.
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Selbst einem heiligen König wurde damit Ehre zuteil. Mit diesem Werk sicherte sich Vincenz einen prominenten Platz in der Geschichte der Gelehrsamkeit und Bildung bis weit in die Neuzeit hinein. Es war nicht nur das mit Abstand bedeutendste Werk des Verfassers, sondern wurde auch zur maßgeblichen, wichtigsten und am meisten gebrauchte Enzyklopädie des späten Mittelalters. An Umfang und Wirkung übertraf sie alle Vorgänger bei Weitem, auch Isidors „Etymologien , die sie als Referenz- und Nachschlagewerk ablöste. Vincenz nannte sie den „größeren Spiegel (Speculum maius), größer im Vergleich mit seiner Imago mundi, die er ebenfalls als „Spiegel bezeichnet, aber nur als „kleines Büchlein (parvus libellus) herausgebracht hatte. Seit Augustinus war es üblich, Bücher, die einen Themenbereich abdeckten, als „Spiegel zu bezeichnen, sei es, dass sie dem Leser einen Spiegel der Selbsterkenntnis vorhielten und ihn zu einem besseren Leben oder auch Sterben anhielten, sei es, dass sie wichtige ältere Werke in Auszügen wiedergaben oder mehrere Texte zu einem einzigen zusammenfügten, sei es, dass sie Ausschnitte der Schöpfung, der Heilsgeschichte oder gleich die ganze Welt vollständig abbildeten, also „spiegelten . Das Speculum maius gehört zur letzten Kategorie. Der Autor selbst ließ an seinen Zielen keinen Zweifel: „alles, was der ‚Spiegelung‘, d. h. der Bewunderung und Nachahmung wert sei, habe er „aus zahllosen Büchern zusammengetragen, „aus der sichtbaren wie der unsichtbaren Welt, sei es, dass es … geschehen ist oder gesagt wurde oder künftig noch geschehen wird .12 Das Werk besteht aus drei, angeblich sogar vier Teilen. Doch der vierte, ein Speculum morale, entstand erst im 14. Jahrhundert und wurde dem mittlerweile berühmten Verfasser nachträglich zugeschrieben. Die anderen drei Teile wurden von Vincenz mehr oder weniger gleichzeitig, also nebeneinander, bearbeitet. Eine große Zahl von Hilfskräften unterstützte ihn dabei. Ihnen oblag es, Texte zu kopieren und Exzerpte anzufertigen. Vincenz beaufsichtigte deren Arbeiten, wählte die jeweils passenden Quellenschriften aus, bestimmte die zu exzerpierenden Passagen, ordnete Kürzungen an und brachte dies alles in ein Verhältnis zueinander, stiftete also Ordnung in der Vielfalt des Materials. Er hat sich selbst einmal als Kompilator bezeichnet, aber gleichzeitig die Rolle eines Koordinators beansprucht. Man kann ihn als Herausgeber betrachten. Auf diese Weise entstand der „größere Spiegel , der aus drei kleineren, aber umfassend konzipierten „Spiegeln besteht. In späteren Drucken füllt jeder von ihnen einen mächtigen Band. Das Speculum naturale geht breit auf die Geschichte des Menschen und der Natur ein, handelt von Gott, von der Schöpfung und von den Engeln, von den Elementen, den Steinen, den Pflanzen, den Tieren, schließlich auch und vor allem vom Menschen, kurz: von allem, was auf, über oder in der Erde ist. Das Speculum doctrinale ist den einzelnen Wissenschaften, ihren Lehrsätzen und Doktrinen, gewidmet. Geistes- und technische Wissenschaften (artes liberales, artes mechanicae) kommen ebenso zur Sprache wie Ökonomie, Politik, Rechtswissenschaften, Medizin, Physik und Mathematik, schließlich und endlich – als Krone und Ziel aller Wissenschaften – die Theologie. Das Speculum historiale befasst sich mit der Geschichte des Menschengeschlechts von seinen unschuldigen, dann sündhaften Anfängen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, mit den großen Reichen und Herrschern, mit Entstehung, Verfolgung und Triumph des Christentums, mit Dichtern, Gelehrten, heiligen Männern und heiligen Frauen. Von diesen drei Teilen lag Vincenz das Speculum historiale ganz besonders am Herzen. Denn für die Geschichte hatte er ein Faible. Auch in ihr, nicht nur in der Schöpfung, erkannte er das Wirken Gottes, im Werden und Vergehen sah er die „Schönheit der Zeit .13 Mit dem Speculum historiale räumte er ihr einen Platz neben (wenn nicht vor) den anderen Wissenschaften ein. Mit dem Speculum doctrinale tat er sich schwer. Es fiel knapper aus,
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7 Mongolen in der Kunst des 14. Jahrhunderts: Unter den Soldaten, die um den Rock des gekreuzigten Christus würfeln, erscheint auch ein Mongole (Subiaco, Sacro Speco, Oberkirche).
8 Eines der Säulenkapitelle am Dogenpalast in Venedig schmückt das Porträt eines mongolischen Reiters.
weil seine Kräfte erlahmten. 1264 verstarb Vincenz von Beauvais. Doch vom Speculum historiale lag schon 1244 /46 eine erste Fassung vor. Wenig später kehrte Johannes von Plano Carpini von den Mongolen zurück und brachte völlig neue, im Wortsinn merkwürdige Nachrichten mit. Sie betrafen ein Volk, von dessen Herkunft und Geschichte man bis dahin nichts wusste, dessen kriegerische Fähigkeiten jedoch unübertrefflich schienen. Es gab genügend Gründe, sich für die Historia Mongalorum des Johannes von Plano Carpini zu interessieren. Vincenz entnahm ihr jene Passagen, die ihm wesentlich schienen, fügte Auszüge aus dem Gesandtschaftsbericht des Simon von Saint-Quentin hinzu und stellte seinen Lesern ein knappes, aber faszinierendes Bild des mongolischen Volkes und seiner Geschichte vor Augen. Mehr noch als die vollständige Historia Mongalorum wurden die Exzerpte in den Handschriften, Übersetzungen und später auch Drucken des Speculum historiale verbreitet. Das Wissen von den Mongolen wurde allgemein. Es gab verschiedene Wege, das neue Wissen zu dokumentieren. Die Texte lebten in ihrer Überlieferung fort. Manche wurden mehr oder weniger erfindungsreich illustriert. Auch in der monumentalen kirchlichen oder weltlichen Kunst, auf Altartafeln, Wandbildern oder in plastischer Form, schlugen sich Vorstellungen und Anschauungen von ‚den‘ Tataren nieder. Selten beruhten sie auf Anschauung. Aber auch das kam vor. Nachdem Johannes von Plano Carpini einen Anfang gemacht, gelangten hin und wieder Gesandtschaften von mongolischen Khanen nach Europa. Die des Il-Khans Arghun 1287 /88, angeführt durch den uigurischen Nestorianer Rabban Sauma, stellt das bekannteste Beispiel dar. An den optischen Eindrücken konnten sich Maler und Bildhauer orientieren, wenn sie „tatarische Gesichtszüge oder Kleidungsstücke zur Anschauung bringen wollten. Da aber mit der Frage nach der mongolischen Geschichte immer das Rätsel ihrer räumlichen Herkunft verbunden war, mussten sich auch die Kartographen Gedanken machen, wie sie das neue Wissen mit dem bisher vorherrschenden Weltbild in Einklang bringen sollten.
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Wie so oft hielten sie sich lange zurück. Denn die Kartographie war grundsätzlich eine sehr konservative Form der Wissensvermittlung. Da dem Bild (der pictura) mehr Eindringlichkeit und Wirkkraft als dem Wort (der scriptura) zugesprochen wurde, sah sich der Kartograph in besonderer Verantwortung gegenüber dem Benutzer. Die Verfälschung des Kartenbilds war unbedingt zu vermeiden. Wie wir durch Paulinus Minorita, einen Venezianer Kartographen und Historiographen, wissen, wurde darüber um 1300 angestrengt nachgedacht.14 Wahrscheinlich hat das mit der rapiden Vermehrung des Weltwissens im 13. Jahrhundert zu tun. Wer ihr im Kartenbild Rechnung tragen wollte, musste genau überlegen, was er tat. Von den großen Radkarten des ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, von den Weltkarten in Ebstorf und Hereford, darf man noch nichts erwarten. Aber allmählich eroberte sich die Tartarei (Tartaria, mit r, selten Mongolia o. Ä.) ihren Platz im kartographischen Weltbild der Europäer: in Südrussland, in Zentralasien oder – wie deutlich später bei Henricus Martellus Germanus – als Tartaria per totum. Das konnte dadurch geschehen, dass entweder nur der Name des Landes oder die Gestalt eines Khans eingetragen wurde, am besten vor seinem offenen Zelt, Schwert und Szepter in den Händen. Denn dadurch wurde herrscherliche Präsenz in Wüste oder Steppe demonstriert. Andrea Bianco reihte gleich drei Herrscher mit Hofstaat und Zelten in west-östlicher Abfolge hintereinander auf (1436). Damit waren die verschiedenen Tatarenreiche gemeint, in die das Großreich allmählich zerfiel. Aufschlussreich und eindrucksvoll war es aber auch, wenn – wie auf der kreisrunden Modeneser Weltkarte von 1450 /60 – ein paar mongolische Reiter durch das Kartenbild ritten. Denn hiermit, mit ihren genügsamen Pferden und überraschenden Streifzügen, hatten sie Europa in Angst und Schrecken versetzt. Bis in die physiognomischen Details wird das Geschehen von damals evoziert. Die in Niello-Technik gravierte, etwas ältere Velletri- oder Borgia-Karte zeigt sogar ein ganzes Zeltlager mit Karren und Zugtieren, eine Schlacht von Tataren und Russen sowie eine Szene, die etwas vom täglichen Leben in der Steppe veranschaulichen soll.
9 Mongolen in der Kartographie: Der Großkhan Güyük vor seinem Zelt in Karakorum. Der erläuternde Text ist der Historia Mongalorum des päpstlichen Gesandten Johannes von Plano Carpini entnommen (Martin Waldseemüller, Carta marina navigatoria, Straßburg 1516).
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Von all diesen Dingen hatte Johannes von Plano Carpini einen lebendigen Eindruck erhalten und als Erster ausführlich berichtet. Vincenz von Beauvais hatte Auszüge davon in seine Enzyklopädie aufgenommen und einen Anfang gemacht, das Weltbild der Europäer um den Lebensraum der Tataren zu erweitern. Damit war eine gewisse Normalisierung verbunden. Doch das Entsetzen, das die Reiter aus der Steppe bei ihrem ersten Auftauchen verbreitet hatten, hallte noch lange Zeit und bis in die spätmittelalterliche Kartographie hinein nach.
10 Auf der Modeneser Weltkarte von 1450/60 sind in der zentralasiatischen Steppe zwei mongolische Reiter auf den Kopf gestellt zu erkennen (Modena, Bibl. Estense e Universitaria, C.G.A.I.).
11 Auf der Velletri- oder Borgia-Karte nehmen Szenen aus Kriegführung und Alltag der Tataren den Raum nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer ein (1. Hälfte 15. Jh.; Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Borgiano XVI).
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Wilhelm von Rubruk Wenige Jahre nach Johannes von Plano Carpini reiste ein anderer Franziskaner zum Großkhan. Er hieß Bruder Wilhelm, stammte aus Rubruk in Flandern und erlebte Ähnliches wie sein Vorgänger. Er begann seine Reise in Konstantinopel, schwenkte aber bald auf denselben Strang der Seidenstraße(n) ein, den auch Johannes benutzt hatte. Auch er wurde von einem Khan an den nächsten verwiesen und durchreiste die gleichen Landschaften. Indem er den Großkhan, Güyüks Nachfolger Möngke, nicht in seiner Sommerresidenz, sondern in der Hauptstadt Karakorum erreichte, kam er sogar noch ein Stück weiter nach Osten. 10 000 bis 15 000 Menschen lebten damals in der angeblich von Dschingis Khan, aber wahrscheinlich erst von Ögödei erbauten und ummauerten Stadt. Wilhelm hatte schon größere Städte gesehen. Sogar der Marktflecken Saint-Denis schien ihm größer, von Paris ganz zu schweigen. Doch nach neunmonatiger Reise voller Entbehrungen und Beschwernisse musste er froh sein, endlich eine feste Schlafstatt zu besitzen. Schwierigkeiten bereiteten auch ihm die äußeren Umstände der Reise. Obwohl er den Bericht seines Ordensbruders gekannt haben muss, sah er sich vor dieselben Orientierungsprobleme wie dieser gestellt. „Wir sahen nichts als Himmel und Erde , heißt es einmal in seinem Bericht.15 Mehrere Tage konnte man unterwegs sein, ohne eine Menschenseele zu erblicken, und wenn die Reisenden endlich einen namenlosen Ort erreichten, freuten sie sich „wie Schiffbrüchige, die einen Hafen erreichen .16 Endlich am Ziel angekommen, wunderten sie sich, wie weit sie nach Osten ‚abgetrieben‘ worden waren und scheinbar sogar Indien, das äußerste Ende des tradierten Weltbilds, hinter sich gelassen hatten. Noch mehr hatte Wilhelm von Rubruk unter den klimatischen Bedingungen zu leiden, da er sich völlig unzureichend vorbereitet hatte. Das lag auch an der zweideutigen Rolle, in der er sich fand. Er gehörte zum Gefolge Ludwigs des Heiligen und unterstützte dessen Pläne im Nahen Osten. Er hatte ein Schreiben des französischen Königs bei sich, mit dem eine politisch-strategische Verbindung zu den Mongolen hergestellt und ein gemeinsames Vorgehen gegen die Muslime vorbereitet werden sollte. Er wies es aber stets von sich, als Gesandter betrachtet zu werden, sondern bestand darauf, nur geistliche Ziele zu verfolgen, entweder als Missionar unter den Heiden oder als Seelsorger bei den in die Steppe verschleppten oder verschlagenen Christen. Er trat als einfacher, schlecht gekleideter Bettelmönch auf, litt jämmerlich unter der Kälte und hatte natürlich auch nicht die nötigen Geschenke dabei, um seine Gastgeber zu beeindrucken. Johannes von Plano Carpini hatte sich geschickter angestellt. Doch am Ende brachte Wilhelm Möngkes Antwortschreiben zu Ludwig und erstattete dem König schriftlich Bericht. Er ließ sich nolens volens in eine Rolle hineindrängen, die er weder ausfüllen konnte noch mochte. Dass er dabei vieles falsch gemacht hatte, war ihm durchaus bewusst. So viel zu Wilhelms Schwächen und Fehlern. Seine Stärken lagen in seiner Bildung, seiner Beobachtungsgabe und seiner Fähigkeit, sich einfühlsam auf seine zeitweilige, ihm höchst fremdartige Umgebung einzulassen. Seine Bildung half ihm, sich in der Weite des durchmessenen Raums nicht ganz zu verlieren. Sie gab ihm jene Orientierung, die ihm die Landschaft nicht bot. Wilhelm hatte wahrscheinlich in Paris studiert und wollte auch unterwegs auf Bücher und Buchwissen nicht verzichten. Isidors „Etymologien standen ihm allerorten vor Augen. In Osteuropa wusste er sich nahe bei den Mäotischen Sümpfen und dem Pontischen Meer, den Don begriff er als Asiens Grenze. Das Kaspische Meer kannte er ebenfalls durch Isidor von Sevilla, der die antike Vorstellung eines Meerbusens an das Mittelalter weitergereicht hatte. Aber indem er die Erfahrungen eines anderen königlichen Boten (Andreas von Longjumeau) und die eigenen miteinander kombinierte, wurde
Wilhelm von Rubruk
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Wilhelm klar, dass er ein Binnenmeer passiert hatte. Auch hatte sich dessen Name geändert: Das „Meer von Shirva¯n (mare Sircan) werde es jetzt geheißen.17 Weiter östlich versagte das kanonische Wissen weitgehend. Berge, die er passierte, betrachtete Wilhelm als Ausläufer des Kaukasus, und die Völkerschaften, denen er begegnete, konnte er allenfalls aus Plano Carpinis Reisebericht kennen. Die Existenz von Wundervölkern, nach denen er fragte, wollte ihm niemand bestätigen. Nur einmal noch ließen sich altes Wissen und die eigenen Beobachtungen miteinander verknüpfen: In Karakorum, das durch zwei sich kreuzende Hauptstraßen in vier Viertel geteilt wurde, gab es einen Stadtteil, in dem chinesische Handwerker, Ärzte und andere gefragte Spezialisten aus dem Reich der Mitte lebten. Wilhelm scheint sie öfter aufgesucht zu haben. Er sah, dass sie eine eigene, aus Bildzeichen (Piktogrammen) zusammengesetzte Schrift schrieben, er hörte, dass sie eine besondere, leicht nasal klingende Sprache sprachen, und er lernte, dass sich die chinesischen Ärzte besonders auf Kräuterheilkunde und die Beobachtung des Pulsschlags verstanden. Doch von der Urinschau, auf die die europäischen Ärzte großen Wert legten, wüssten sie nichts. Wilhelm hörte von einer prächtigen Stadt mit silbernen Mauern und goldenen Vorwerken und identifizierte die Chinesen mit den Serern (den „Seidenleuten ) der mittelalterlichen Weltkunden und Karten. Ganz falsch lag er damit nicht. Mit den Tataren tat er sich zunächst sehr schwer. Schon bei der ersten Begegnung mit ihnen wusste er, dass er im Begriff war, in eine „andere Welt einzutauchen.18 Er empfand sie als abstoßend und gemein, als Strafe für die Christen, die das Gesetz Gottes nicht achten. Ein Bibelvers ging ihm durch den Sinn: „Durch ein Volk, das kein Volk ist, durch ein dummes Volk reize ich sie [die Gläubigen] zum Zorn (5. Mose 32,21).19 Alle Gespräche waren schwierig, der Dolmetscher taugte nicht viel. Doch mit der Zeit gewöhnte sich Wilhelm an die scheinbaren Zumutungen und beobachtete mit wachsender Empathie seine Umgebung. Gerade weil er als einfacher Mönch auftrat, konnte er am Alltag der Mongolen teilnehmen und immer besser verstehen, warum sie so lebten, wie sie lebten. Von Wohnverhältnissen, Geschlechterbeziehungen und religiösem Brauchtum machte er sich ein Bild, und sogar den Speisegewohnheiten einer ganz auf Vieh- und Weidewirtschaft basierenden Zivilisation schloss er sich auf. Am Ende seines Aufenthalts hätte er, wenn er die Wahl gehabt hätte, mongolische Blutwürste den heimischen Schweinswürsten, vergorene Stutenmilch jedem Rotwein vorgezogen. Auch den Menschen, mit denen er zu tun hatte, kam Wilhelm näher: Bei Coca, der Frau Möngkes, nahm er Sprachunterricht, sodass er wenigstens merkte, wann sein Dolmetscher wieder einmal falsch übersetzte. Zu seinem mongolischen Führer entwickelte sich nach schwierigen Anfängen ein persönliches Verhältnis, und selbst mit dem Großkhan hatte Wilhelm beinahe vertrauten Umgang. Auch auf diesen machte seine integere Persönlichkeit Eindruck. In einer abschließenden Audienz kam es zu einem nachdenklichen Austausch von Meinungen in einer entspannten Atmosphäre. Von allen Reisenden des späten Mittelalters gehört Wilhelm von Rubruk zu den menschlich wärmsten und bis heute sympathischsten Erscheinungen. Von all dem erzählte er in einem Buch. Anders als Johannes von Plano Carpini verfasste er kein Dossier, sondern ein Itinerar, nicht den Bericht eines Spions, sondern eine Beschreibung seiner Reise. Sie ist nicht systematisch angeordnet, sondern folgt den Erlebnissen des Autors. Dessen Beobachtungen und Erfahrungen stehen im Zentrum des Werks. In seinem persönlichen Zuschnitt wirkt es geradezu modern. Doch für die Zeitgenossen kam es ein paar Jahre zu spät. Die Historia Mongalorum beherrschte das Feld und bestimmte über das Speculum maius als Medium das allgemeine Bild von den Mongolen.
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IV Die Welt der Mongolen
Wilhelm von Rubruk kümmerte sich auch nicht um den Erfolg seines Buchs. Es blieb vorerst bei Ludwig dem Heiligen, kam dann nach Frankreich und ist nur in fünf mittelalterlichen Handschriften erhalten, von denen die meisten sich in englischen Bibliotheken befinden. Immerhin zog es das Interesse eines großen Gelehrten auf sich. Der englische Philosoph und Theologe Roger Bacon (um 1219 – um 1292), etwa so alt wie Wilhelm und wie dieser Mitglied des Franziskanerordens, stellte in den 60er-Jahren des 13. Jahrhunderts für Papst Clemens IV. ein Kompendium der Naturwissenschaften zusammen. Dessen vierter Teil behandelt – ohne das Wort zu gebrauchen – die Geographie, von den allgemeinen Begriffen über die sieben Klimata bis hin zu einer Beschreibung der drei Erdteile. Asien wird ausführlicher als Afrika, Europa nur in groben Zügen dargestellt. Denn von dort, von den Ländern Europas, sei alles allen bekannt. Dabei stützte sich Bacon auf die bekannten Autoritäten: Aristoteles, Ptolemäus, Plinius, Seneca, Hieronymus, Isidor, Orosius, Aethicus Ister, Alfraganus, Albumasar, auf antike, mittelalterliche und arabische Autoren. Da er aber zu jenen gehörte, die an den Autoritäten zu zweifeln begannen und – Aristoteles folgend – die Erfahrung (experientia) dem bloßen Gerücht (rumor) vorzogen, hielt er sich für den ganzen nord- und nordostasiatischen Raum vor allem an Wilhelm von Rubruk. Denn dieser hatte nachweislich alles bereist und erfahren, wovon er schrieb. Roger Bacon kannte auch die Historia Mongalorum, zitierte aber ausgiebig aus Wilhelms Itinerar und hob so dessen Bedeutung hervor. Er studierte das Buch mit großer Sorgfalt und diskutierte mit dem Autor darüber. Er machte sich dessen Kenntnisse zueigen und verfügte so über den gleichen geographischen Horizont wie dieser: von Schwarzem und Kaspischem Meer über die Mongolei und Karakorum bis nach China und Tibet, darüber hinaus sogar bis zur Koreanischen Halbinsel. Er zeichnete auch eine Weltkarte, in die er alle Orte eintrug, die er glaubte genau lokalisieren zu können. Denn er wusste, dass Bilder die Wirkung der Texte verstärken. Leider ging die Karte verloren. Doch auch Roger Bacons Schriften erreichten das breite Publikum nicht. Der Autor galt in seinem Orden als problematisch, wurde unter Häresieverdacht gestellt und war wohl im Zusammenhang mit dem Pariser Aristotelesverbot von 1277 eine Zeit lang inhaftiert. Seine Werke wurden zensiert. Wilhelms geographische Einsichten wurden auch durch ihn nicht verbreitet, sondern blieben einem kleinen, erlesenen Kreis von Wissenschaftlern und Philosophen vorbehalten. Das Schicksal seines Werks ist ein weiterer Beleg dafür, dass sachliche Bedeutung und öffentliche Wirkung eines Buchs oftmals in reziprokem Verhältnis zueinander stehen.
1
Elias Canetti, zit. n. Heissig, Geheime Geschichte, S. 279f.
2
Weiers, Die Mongolen, S. 85.
3
Göckenjan /Sweeney, Der Mongolensturm, S. 140.
4
Ebd., S. 165 f.
5
Ludwig Weiland (Hg.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 2 (MGH Const. 2), Hannover 1896, S. 324: exterminium Tartarice pravitatis.
6
Salimbene de Adam, Cronica, hg. von Oswald Holder-Egger (MGH SS 32), Hannover – Leipzig 1905 – 1932, S. 206: familiaris homo et spiritualis et litteratus et magnus prolocutor et in multis expertus.
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7
Sinica Franciscana 1, S. 104: omni malitia et nequitia erat plenus.
17
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Ebd., S. 31: aër … mirabiliter inordinatus.
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9
Ebd., S. 116: fortissime equitando.
19
Von den Brincken, Geschichtsbetrachtung, S. 465: multitudo librorum, et temporis brevitas, memorie quoque labilitas. Ebd., S. 465: plurimorum libros assidue ex longo tempore revolventi ac studiose legenti. Ebd., S. 468: … quicquid fere speculatione, id est admiratione vel imitatione dignum est ex hiis, que in mundo visibili et invisibili … facta vel dicta sunt, sive etiam adhuc futura sunt, ex innumerabilibus fere libris colligere potui. Ebd., S. 447. Von den Brincken, „… ut describeretur“, S. 260f. Sinica Franciscana 1, S. 195: nichil videntes nisi celum et terram. Ebd., S. 198: tamquam naufragi venientes ad portum. Ebd., S. 210: mare Sircan. Ebd., S. 171, 187: aliud seculum. Ebd., S. 220.
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ie mongolische Reichsbildung stellte eine feste, dauerhafte Verbindung zwischen Europa und Zentralasien her. Häufige Reisen waren damit verbunden und vertieften die geographischen Kenntnisse der daran beteiligten Personen, der Reisenden selbst wie auch ihrer Auftraggeber. Jede weitere Ausdehnung des mongolischen Herrschaftsbereichs, ob sie gelang oder nur versucht wurde, war daher geeignet, auch das geographische Weltbild der Europäer zu erweitern. Erste Nachrichten über China, Korea, Burma (Pagan), Japan, Vietnam (Annam und Champa) gelangten auf diese Weise, infolge mongolischer Kriegszüge, in den Westen.
Reisen zum Großkhan Die Reisen eines Johannes von Plano Carpini oder Wilhelm von Rubruk hatten in die Mongolei nach Karakorum, zum Sitz des jeweiligen Großkhans, geführt. Doch mit der sukzessiven Eroberung Chinas verschob sich das politische und wirtschaftliche Zentrum des Großreichs nach Süden, in die fruchtbaren und dicht besiedelten Ebenen zu beiden Seiten des Gelben Flusses und darüber hinaus. Möngkes Bruder und Nachfolger Khubilai hatte schon als dessen bevollmächtigter Regent in Nordchina die Vorzüge der chinesischen Zivilisation kennengelernt und wollte sie sich zunutze machen, ohne die mongolische Herrschaft zu gefährden. Dass man mit einer Streitmacht ein Reich erobern, nicht aber regieren könne, stand ihm vor Augen. Er brachte daher eine Reihe von Reformen auf den Weg, die der einheimischen Bevölkerung das Regiment der Eroberer erträglich machen sollten. Behörden wurden geschaffen, die an ältere bürokratische Vorbilder anknüpften. Chinesische Beamte rückten in die mittleren und niederen Postionen ein. Später, nach Khubilai, wurden sogar die konfuzianischen Beamtenprüfungen wieder eingeführt. Der Großkhan selbst umgab sich nicht nur mit mongolischen Großen und ausländischen Verwaltungsexperten, sondern auch mit chinesischen Beratern, Literaten und Gelehrten. Zwar musste er während seiner langen Regierungszeit auch manche Enttäuschung erleben und immer mit Aufständen – der chinesischen Mehrheit oder einer traditionsbewussten mongolischen Opposition – rechnen. Doch auf lange Sicht führte an einer Annäherung der Bevölkerungsgruppen und damit einer Milderung der Fremdherrschaft kein Weg vorbei. 1271 ließ Khubilai die neue dynastische Devise Da Yuan („Großer Ur-Anfang ) proklamieren und bezog sich damit auf eine Passage im „Buch der Wandlungen (Yi Jing), ei-
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V Die chinesische Welt
nem konfuzianischen Klassiker aus der chinesischen Frühzeit. Der Großkhan der Mongolen war seitdem immer auch ein Kaiser von China. Man kann von einer partiellen Selbstsinisierung der mongolischen Herrschaft unter Khubilai sprechen. Auch räumlich kam der Großkhan der chinesischen Zivilisation näher. 1267, sieben Jahre nach seiner Inthronisierung, verlegte Khubilai seine Hauptstadt in die Gegend des heutigen Beijing, also in altes chinesisches Siedlungsgebiet südlich der Großen Mauer, und nannte sie Dadu (mongolisch Daidu), „Große Hauptstadt . Die frühere Residenz Kaipingfu, jetzt Shangdu („Obere Hauptstadt ) geheißen, hatte noch jenseits der Mauer am Rand der Steppe gelegen. Sie diente nur noch als Sommerfrische, geeignet zu Erholung und Jagd. Denn dort war das Klima angenehmer, der Wildbestand reichlich. Khubilai hielt sich gern und auch lange dort auf. Doch das mongolische Kernland war nun zum Hinterland geworden. Beide Städte, Dadu und Shangdu, wurden nach dem Vorbild früherer chinesischer Hauptstädte gestaltet. Drei Quadrate waren ineinander verschachtelt: Äußere Stadt, kaiserliche Stadt und verbotene Stadt folgten aufeinander. Im Zentrum befand sich hier wie dort die eigentliche Palaststadt, die nur der Kaiser und seine Familie, Konkubinen, Eunuchen und offizielle Gäste betreten durften. Hier lag die Mitte der Stadt, die Mitte des Reiches, in chinesischem Verständnis sogar die Mitte der Welt. In rechtem Winkel sich schneidende Straßen stellten die Verbindung zur Außenwelt her. Unumstößliche, kosmische Ordnung wurde durch die streng geometrische, ihr Zentrum betonende Anlage symbolisiert. Die städtische Architektur brachte die gewollte Sinisierung des Hoflebens zum Ausdruck, doch gleichzeitig hielt sie fest, bei wem die Macht lag: In Dadu wurde Khubilais Schlafzimmer als mongolische Jurte gestaltet, in den inneren Höfen ließ er Zelte aufstellen und Grassoden aus der Steppe verlegen. In Shangdu wurde bei Anwesenheit des Herrschers eine riesige Bambusjurte aufgeschlagen, in die der ganze Hofstaat hineinpasste. Dadurch wurden die Mongolen an ihre Wurzeln und die Chinesen an die Herkunft ihrer fremden Herren erinnert. Die Selbstsinisierung sollte keineswegs so weit gehen, dass Herren oder Untertanen den Ursprung und Charakter der bestehenden Verhältnisse vergaßen.
1 Die Jagd des Großkhans (2. Hälfte 14. Jh.; Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Urb. lat. 1013, fol. 24r).
Wenn europäische Reisende das mongolische China erreichten, begaben sie sich an den Hof des Großkhans in Dadu, das sie Khanbaliq, „die Stadt des Khans , nannten. Diplomaten suchten den Kontakt mit dem Herrscher, Kaufleute wollten an dem Handel mit Luxusgütern teilhaben, mit denen der Hof versorgt wurde. Missionare bemühten sich, die Hofgesellschaft von den Vorzügen des Christentums zu überzeugen und durch deren Beispiel auch die übrige Bevölkerung zu gewinnen. Manche von ihnen lernten auch Shangdu, die Sommerresidenz, kennen. Wenn sie Gelegenheit hatten, nach der Heimkehr von ihren Erlebnissen zu berichten, nahmen Prunk und Pracht des hauptstädtischen Lebens und der herrscherlichen Hofhaltung breiten Raum in ihren Erzählungen ein. Am meisten und genauesten konnte Marco Polo berichten. Schließlich hatte er 17 Jahre am Hof des Großkhans verbracht und die dortigen Verhältnisse nicht nur von außen, sondern auch im Innern kennengelernt. In Forschung und Öffentlichkeit wird er oft als veneziani-
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2 Das ist der edel Ritter Marcho Polo von Venedig, der grost landtfarer, der uns beschreibt die grossen wunder der welt, die er selber gesehenn hat. Von dem auffgang pis zu dem nydergang der sunnen, der gleychen vor nicht meer gehort seyn: Phantasieporträt Marco Polos im Nürnberger Druck von 1477.
scher Kaufmann bezeichnet. Dabei trifft aber nur zu, dass er sich mit Waren, Preisen und dergleichen auskannte, weil sein Vater, sein Onkel und überhaupt die Familie Polo im Orienthandel aktiv waren. Er selbst hat sich nie, weder in China noch in Venedig oder sonstwo, für längere Zeit als Kaufmann betätigt. Vielmehr verstand er sich als Gefolgsmann des Großkhans und hat in dessen Auftrag verschiedene Funktionen ausgefüllt. Welche Ämter er ausübte, welchen Rang er bekleidete und vor allem wie hoch er gestellt war, wissen wir nicht. Doch er gehörte zu jener Schicht ausländischer Experten für besondere Aufgaben (semuren), die in Khubilais Reich gleich hinter den mongolischen Herren und damit vor den Chinesen rangierten. Die meiste Zeit dürfte er in der Umgebung des Kaisers, in Dadu und Shangdu, verbracht haben. Er lebte unter Mongolen, sprach deren Sprache und machte sich das Weltbild und die Werte der Steppenkrieger zueigen. Man kann Marco Polo als assimilierten oder enkulturierten Mongolen bezeichnen. Wahrscheinlich nahm er am Feldzug gegen Südchina 1274 – 1276 teil und durfte schließlich China verlassen, als eine Gesandtschaft Khubilais nach Persien reiste. Nach seiner Heimkehr lebte er als vermögender Mann nahe der Rialto-Brücke im Zentrum Venedigs und schrieb ein bedeutendes Buch, um dessen Verbreitung er sich kümmerte. Es handelte von der mongolischen Herrschaft in China und dem Herrscher, der sie seinerzeit repräsentierte. Man kann Khubilai als den eigentlichen Helden des Buchs betrachten. In französischen Handschriften ist es als „Erzählung vom Großkhan (rommans du grant Kaan) überschrieben. Als Marco Polo schließlich 1324 im Alter von 70 Jahren verstarb, hinterließ er u. a. den Gürtel eines mongolischen Reiters und eine goldene Tafel mit dem Namen Khubilais, die ihm in fast ganz Asien sicheres Geleit garantierte. Mit diesen und anderen Erinnerungsstücken mag er seinen Lebensabend verbracht haben. Doch Genaues wissen wir nicht. Marco Polo stellt den Fall eines besonders kundigen Berichterstatters dar, der aus eigenem Erleben über die Person des mongolischen Großkhans in China, die Hauptstädte Dadu und Shangdu und das Funktionieren der Fremdherrschaft erzählen konnte. Cathay (Nordchina) und Manzi (Südchina), von manchen als „Oberindien (India superior) bezeichnet, wurden dadurch vertraute geographische Begriffe, und auch über Japan, dessen wirklichen Namen: „Land der aufgehenden Sonne (Nihon /Nippon) Marco Polo nach chinesisch ri-ben-guo als Zipangu wiedergibt, erfuhr man Genaues. Doch auch andere Reisende aus Europa hielten ihre Eindrücke in schriftlicher Form fest. Die Missionare Johannes von Montecorvino und Odorico da Pordenone sowie der päpstliche Gesandte Giovanni de’ Marignolli sind vor allem zu nennen. Der eine schrieb Briefe, mit denen er über seine Erfolge und Misserfolge berichtete, der andere eine Reisebeschreibung voller Anekdoten und Episoden, der Dritte ein Geschichtsbuch, in das er seine eigenen Erlebnisse hineinschrieb. Sie alle trugen dazu bei, dass ihre Leser in Europa voller Bewunderung nach Ostasien schauten und im Großkhan der Mongolen geradezu den idealen Herrscher zu erkennen glaubten. Vier Merkmale seiner Regierungsweise schienen besonders rühmenswert zu sein: die glanzvolle Hofhaltung, Fürsorge für die Untertanen, Kontrolle des Territoriums, der Reichtum des Kaisers. Überfluss und Fülle sollen an der Tafel des Großkhans geherrscht haben. An Festtagen waren Tausende von Gästen geladen, die von Abertausenden bedient wurden. Der Wert ihrer Roben wie des
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3 Die reich gedeckte Tafel des Großkhans (um 1400; Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 2810, fol. 39r).
Geschirrs auf den Tischen war unermesslich. Ein Löwe machte Zeichen der Verehrung, Gaukler und Magier führten Kunststückchen auf, der Wein floss in Strömen. Aus einem goldenen Behälter konnte sich jeder der Gäste bedienen. Doch wenn der Gastgeber trank, hatten alle zu schweigen. Auch das Zeremoniell war also beeindruckend. Den Kaiser umgaben nicht nur die kaiserliche Familie und ein vielköpfiger Hofstaat, sondern auch eine Leibgarde von 12 000 Mann sowie ein Heer von Konkubinen, deren Unberührtheit die Hofdamen sorgfältig geprüft hatten. Zog er nach Shangdu zum Jagen, wurde er außerdem von Jägern, Wächtern und Falknern begleitet. Großwild wurde ihm zum Abschuss zugetrieben, der Falkenjagd sah er liegend vom Bette aus zu. Er musste bei der Jagd kaum einen Finger rühren. Auch dies, das Nichtstun, galt als Ausweis überragender Macht und kaiserlicher Würde. Auf der Borgia-Karte aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist deshalb ein vorbildlich „fauler König zu sehen.1 Vor allem Marco Polo beteuerte, wie sehr dem Großkhan am Wohlergehen seiner Untertanen gelegen sei. Im ganzen Land lasse er nachfragen, ob es Gewitterschäden, Heuschreckenschwärme oder Seuchen gegeben habe und wie die Ernte ausgefallen sei. Notfalls würden die Steuern erlassen. In den staatlichen Getreidespeichern würden große Mengen an Gerste, Hirse, Weizen und Reis eingelagert, um in Krisenzeiten die Preise stabil halten zu können. Wer dennoch in Not gerate, könne mit der Hilfe des Herrschers rechnen. 30 000 Bedürftige würden täglich in der Hauptstadt mit Getreide versorgt. „Denn die Güte des Herrschers und sein Mitleid mit den Armen sind grenzenlos .2 Wer Marco Polos Darstellung las, musste den Eindruck gewinnen, dass der Großkhan mehr für seine Untertanen sorgte als alle christlichen Herrscher Europas. Er schien dazu auch eher in der Lage zu sein, weil er besser Bescheid wusste, was in seinem Reich geschah. In der Tat unterhielten die Mongolen ein effizientes Postwesen, mit dem Nachrichten und Meldungen in kürzester Frist über weite Entfernungen zugestellt werden konnten. Laufende und berittene Boten, die an eigens dafür eingerichteten Stationen einander abwechseln oder die Pferde tauschen konnten, sorgten dafür. Ein europäischer Beobachter schloss daraus, dass im Reich des Großkhans nichts geschehen könne, „wovon
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4 Reiter- und Läuferpost, durch die der Großkhan über alle Geschehnisse in seinem Reich informiert wird (Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 2810, fol. 46v).
er nicht sofort oder doch sehr rasch und unverkürzt erfährt .3 Marco Polo dachte vor allem an Aufstände und lokale Revolten, die unverzüglich in die Hauptstadt gemeldet würden. In Europa war dergleichen nicht denkbar; Briefe waren Wochen und Monate unterwegs. Dort erzählte man sich, dass der sagenhafte Priesterkönig Johannes, eine christliche Erfindung des 12. Jahrhunderts, einen riesigen, auf einem Podest von 125 Stufen aufgestellten Spiegel besitze, mit dem er in jeden Winkel seines Reichs hineinsehen könne. Jede Verschwörung werde sofort unterdrückt. Der magische Spiegel galt als Merkmal einer vorbildlichen Herrschaft, und so wie dem Priesterkönig Johannes wurde auch dem Großkhan Allwissenheit unterstellt. Dass er auch über unendliche Reichtümer verfügte, glaubte jeder sehen zu können, der eines der höfischen Feste, eine der kaiserlichen Jagden oder eine Armenspeisung in der
5 Tausch von Münzgeld in Papiergeld vor dem Großkhan und seinen Beamten (Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 2810, fol. 45r).
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Hauptstadt erlebte. Allen Berichterstattern war das ein Thema. Sie staunten über die Höhe der Steuern, die Erträge aus Monopolen und am meisten über das Geld, mit dem man bezahlte. Jeder ausländische Kaufmann, der nach Ostasien kam, musste seine Gold- und Silbermünzen in Papiergeld umtauschen, musste wertvolles Edelmetall gegen unscheinbare, abgegriffene, aus der Rinde des Maulbeerbaums hergestellte Geldscheine einwechseln. Zwar wusste man, dass sie das einzige, von jedermann zu akzeptierende Zahlungsmittel darstellten, dass beschädigte Scheine gegen neue umgetauscht werden konnten und dass deren Fälschung schwer bestraft wurde. Doch deren Sinn und Zweck hat kein europäischer Besucher wirklich verstanden. Selbst für Marco Polo war die Ausgabe von Papiergeld nur ein Trick, um an die Edelmetalle zu kommen: „Nun versteht ihr, warum in keinem Schatzhaus der Welt solch ein Reichtum anwachsen kann wie im Tatarenreich. 4 Der Großkhan ließ Geld drucken, und im Gegenzug gelangte „unendlicher Reichtum in seine Hände.5 Als ein allwissender Herrscher schien er auch „die letzten Geheimnisse der Alchimie zu beherrschen.6 Im späten Mittelalter wurde der Großkhan der Mongolen zu den „Reichen Drei gezählt, neben dem Kaiser von Konstantinopel, dem nur in ferner Vergangenheit ein solcher Rang zukam, und dem Priesterkönig Johannes, den es nicht gab. Ein englischer Autor nannte ihn „den größten Herrn unserer Zeit , ein französischer „den größten, mächtigsten, reichsten und vornehmsten Herrscher der Welt .7 Ein anonymer italienischer Missionar schrieb ein eigenes Werk über ihn, das zunächst ins Lateinische, dann ins Französische übersetzt wurde (De statu, conditione ac regimine magni Canis, um 1330 bzw. vor 1346). Trotzdem war das Reich des Großkhans nicht von dieser Welt, sondern eine Projektionsfläche für die Wünsche der Europäer, wie eine gute Regierung auszusehen habe. Irgendwo musste es dergleichen ja geben, der äußerste Osten bot sich als ferner und immer schon idealisierter Ort geradezu an. Das mongolische China wurde von Europa aus als politische Utopie angesehen, der Großkhan als Herrschergestalt von geradezu mythischer Qualität. Als die Mongolen aus China vertrieben wurden und die chinesische Ming- die Yuan-Dynastie ersetzte, sollte sich daran nichts ändern. Denn Mythen sind zeitlos und werden von den Wechselfällen der Geschichte nicht berührt.
Begegnungen mit China 1274 /75 drangen Khubilais Heere unter dem Kommando des bewährten Feldherrn Bayan Tschingsan (Cˇ ingsan) gegen Südchina vor. Seit 1127 gehörten der Norden und der Süden verschiedenen Reichsteilen an. Im Norden regierten verschiedene Barbarendynastien, im Süden die chinesischen Song. Nun sollten beide Hälften des Chinesischen Reichs unter mongolischer Herrschaft wiedervereinigt werden. 1276 kapitulierte Hangzhou, die Hauptstadt der Song. Bis 1279 kam der letzte Widerstand zum Erliegen. Die Bevölkerung wurde als „neue Untertanen (xin furen) auf der untersten Stufe in die ethnische Hierarchie des mongolischen Reichs integriert. Mit dem erfolgreichen Abschluss seines wohl wichtigsten Feldzugs hatte Khubilai nicht nur das von ihm beherrschte Territorium beträchtlich erweitert, sondern auch Zugang zu den Reichtümern des Südens erhalten. Der Traum, den Dschingis Khan gehegt hatte, war wirklich geworden. Südlich des Yangzi, wo früher die „südlichen Barbaren gehaust hatten, befand sich mittlerweile das Herz der chinesischen Zivilisation. Hier wurden Porzellan und die feinsten Seiden hergestellt, hier florierte der Handel mit Gewürzen, wurden neue Techniken des Nassreisbaus entwickelt und eine „urbane Revolution (G. William
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6 Viele Erscheinungen des chinesischen Alltags wurden vom europäischen Betrachter kaum oder nur als Wunder begriffen. Erst recht bildlich ließen sie sich schwer darstellen. Die obere Abbildung zeigt die berauschende Wirkung von Reiswein (der als Rotwein wiedergegeben ist), die untere die wundersame Verwendung von Steinkohle in China (Anfang 16. Jh.; Paris, Bibl. de l’Arsenal, Ms. 5219, fol. 79v).
Skinner) in die Wege geleitet. Eine Stadt reihte sich an die nächste. 2000 sollen es insgesamt gewesen sein. Hangzhou, das die Kaiser der Song-Dynastie immer als ihre „vorläufige (weil viel zu unregelmäßige, quirlige und kommerziell orientierte) Hauptstadt (Xingzai) bezeichneten, war damals mit ungefähr einer Million Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der Welt. Auch die Europäer, die es hierher verschlug, waren über die Maßen beeindruckt. Marco Polo, der zu den Eroberern gehörte, nannte Hangzhou fälschlich „Himmelsstadt (cité dou ciel),8 meinte aber den himmlischen Luxus, den er dort vorfand. Lang und breit beschrieb er Kanäle und Brücken, Märkte und Werkstätten, Bäder, Paläste und Gelage, Werktag, Reichtum und Ordnung; er schwärmte von Handel, Gewerbe und den hohen Steuereinnahmen, auch von den Frauen, die ihm „zart und engelgleich schienen.9 Der Blick des Mongolen, der sich auf die Beute richtete, ließ ihn dies alles wahrnehmen und manches andere übersehen. Vor Wohlstand und Fertigkeiten der Chinesen hatte er jenen Respekt, der sich aus kultureller Unterlegenheit ergibt. Doch er verachtete sie, weil sie ihre Frei-
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heit verloren und sich nach seiner Meinung zu wenig dagegen gewehrt hatten. Er hielt sie für Feiglinge. Das war ein mongolischer Standpunkt. Einiges an ihrem Lebensstil mochte er, Reiswein z. B., mit dem man sich schnell betrinken könne. Auch das war mongolisch gedacht. Anderes hielt er für merkwürdig und vieles verstand er überhaupt nicht. Dadurch erklären sich die oft monierten Lücken in seinem Text, gerade was den chinesischen Alltag betrifft: Schriftzeichen, Tee, Essstäbchen, um nur die wichtigsten Dinge zu nennen. Das alles interessierte ihn nicht. Er orientierte sich an den Lebens- und Denkweisen der mongolischen Herren und nicht an denen der chinesischen Untertanen. Diese blieben ihm fremd, ja exotisch, und nur bei gelegentlichen Begegnungen erfuhr er das eine oder andere von ihnen. Den katholischen Missionaren erging es nicht anders. Auch sie konzentrierten ihre Aktivitäten auf den Großkhan und die Mongolen. Die erste Gemeinde entstand in der Hauptstadt, nahe beim Kaiserpalast. Daraus entstand ein Erzbistum, das ungefähr ein Jahrhundert bestand. Der erste Amtsträger, Johannes von Montecorvino, lernte Mongolisch, um in der dort üblichen Sprache predigen zu können. Die Bilder in seiner Kirche wurden auf Latein, Persisch und Mongolisch (vermutlich in uigurischer Schrift) erläutert, nicht auf Chinesisch. Auch als ein Suffraganbistum in Zaitun (Quanzhou) in Südostchina entstand, taten sich die Missionare nach wie vor schwer. Einer von ihnen klagte über die eigene Unfähigkeit, die chinesische Sprache zu erlernen, ein anderer über die Unbelehrbarkeit der Chinesen. Man fühlte sich – wieder einmal – wie „in einer anderen Welt .10 Der Erfolg der Mission blieb begrenzt, Einblicke in das Leben der Einheimischen waren kaum möglich. Eine gewisse Ausnahme machte Odorico aus Pordenone in Friaul, Franziskaner wie alle anderen Missionare im Fernen Osten, fast 15 Jahre in Asien unterwegs. Zweierlei kam ihm zugute: Erstens gelangte er auf dem Seeweg nach China, er lernte also zuerst den chinesischen Süden und dann den Hof des Großkhans im Norden kennen. Zweitens war er offenbar von einer unstillbaren Neugierde erfüllt, eine Eigenschaft, die nicht unbedingt einen Missionar auszeichnete, aber sich für das Verständnis ungewohnter Lebensverhältnisse als unabdingbar erwies. Das eine verhalf ihm zu einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber der chinesischen Zivilisation, das andere brachte ihn dazu, genauer hinzusehen, Fragen zu stellen und sich in Situationen zu begeben, in denen er „etwas Neues sehen und erleben konnte.11 Dabei scheint er sowohl mit einfachen als auch mit vornehmen und wohlhabenden Leuten Umgang gehabt zu haben. Beispielsweise ließ er sich in der Provinz Fujian erklären, wie man mithilfe von Kormoranen auf Fischfang gehen konnte. In Yangzhou am Yangzi staunte er über die große Zahl professioneller Speisegaststätten; denn so etwas gab es in Europa noch nicht. Und in Kanton (Guangzhou) erfuhr er, dass ein Schlangengericht als besonders wertvoll, ja als unverzichtbar bei jedem Festmahl angesehen wurde. Bis heute wird den Kantonesen nachgesagt, alles zu verspeisen, was vier Beine hat, mit Ausnahme der Tische, und alles, was fliegen kann, mit Ausnahme der Flugzeuge. In Hangzhou wurde
7 Odorico da Pordenone bei der Predigt: unter seinen Zuhörern sind nicht nur Aussätzige und Gebrechliche, sondern auch mongolische Reiter zu erkennen. Das Buch, das er in der Hand hält, ist wahrscheinlich nicht die Heilige Schrift, sondern der Bericht von seinen Reisen in Asien. Das Grabmal stammt aus der Werkstatt des venezianischen Bildhauers Filippo de’ Santi (Udine, S. Maria del Carmine, 1332).
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Odorico von seinem Hauswirt gefragt, ob er eine Spezialität der Gegend sehen wolle. Odorico ließ sich nicht lange bitten, besuchte den „Tempel der Seelenzuflucht (Lingyin Si) am Westsee und sah der Speisung von Tieren zu, die als reinkarnierte menschliche Existenzen angesehen wurden. Eine Einführung in die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung erhielt er obendrein. Irgendwo im Süden schließlich erhielt er Einblick in den Alltag eines reichen Mannes, der täglich von 50 Jungfrauen mit einer Vielzahl von Speisen versorgt würde, ohne seine Hände gebrauchen zu müssen. Selbst wenn er es wollte, sei er dazu nicht in der Lage. Denn er betrachte es als Zeichen seines vornehmen Stands, so lange Fingernägel zu besitzen, dass er keinen Gegenstand ergreifen könne. Die Schönheit der Frauen aber bestehe darin, „kleine Füße zu haben; daher haben die Mütter die Gewohnheit, ihren Töchtern nach der Geburt die Füße einzubinden, die sie ihnen dann nicht mehr wachsen lassen .12 Odorico erwähnt hier als erster Europäer das gewaltsame Schnüren weiblicher Füße, das seit dem 10. Jahrhundert zuerst in der chinesischen Oberschicht, dann in weiten Kreisen der Bevölkerung praktiziert und erst im Laufe des 20. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Sie wurden als „Goldlilien oder „Goldlotus (jin lian) bezeichnet und von Außenstehenden immer als besonders seltsame Erscheinung einer ehrwürdig alten oder merkwürdig überalterten Zivilisation angesehen. Odorico hat nicht nur die Prozedur des Bandagierens und dessen schmerzliche Folgen beschreiben können, sondern – bei aller mentalen Distanz – auch den sozialen Sinn des Füßebindens begriffen. Marco Polo hatte von all dem nur ganz oberflächlich und völlig uneinsichtig gesprochen. Odorico da Pordenone war vielleicht 20 Jahre jünger als Marco Polo und lebte nicht so lange wie dieser in China. 1330, sechs Jahre nach Marco Polos Tod, kehrte er nach Italien zurück. Auf Geheiß seiner Oberen diktierte er ein Buch, das ähnliche Gegenstände wie das seines venezianischen Landsmanns behandelt, allerdings aus ganz anderem Blickwinkel und auch in anderer Weise, weniger systematisch als anekdotisch. Es wurde nicht so oft abgeschrieben wie dieses, konnte aber mithalten. Während Marco Polos Buch in annähernd 150 (frankoitalienischen, italienischen, venezianischen, lateinischen, französischen, deutschen, spanischen, irischen, tschechischen) Abschriften erhalten ist, blieb Odoricos Bericht in ca. 110 mittelalterlichen (lateinischen, italienischen, deutschen, französischen) Kopien erhalten. Einflussreich wurde es außerdem dadurch, dass die viel gelesenen, aber fingierten „Reisen eines gewissen Johann von Mandeville (ca. 300 Handschriften in verschiedenen Sprachen; die Identität des Verfassers ist nach wie vor nicht geklärt) in ihren ostasiatischen Partien fast ganz auf Odorico basieren. Alle drei Autoren – Marco Polo, Odorico da Pordenone, Johann von Mandeville – sorgten dafür, dass das europäische Weltbild innerhalb weniger Jahrzehnte signifikant, nämlich um den gesamten ostasiatischen Raum, erweitert wurde. Wie so oft ließen sich die Kartographen lange Zeit. Literaten und Geschichtsschreiber durften weniger verantwortlich mit den Neuigkeiten umgehen. Doch nach und nach drangen Namen und Orte aus dem mongolischen China in das Kartenbild ein. An Cathay und Khanbaliq, Quinsai und Oberindien führte auch kartographisch kein Weg mehr vorbei. Welche Möglichkeiten und Probleme sich daraus ergaben, geht anschaulich aus einer großformatigen Karte hervor, die den neuen Erkenntnissen Rechnung trug und gleichzeitig den Versuch unternahm, das alte mit dem aktuellen Wissen zu versöhnen. Die Katalanische Weltkarte von ca. 1375 gilt als herausragendes, wenn nicht als das glanzvollste Beispiel der katalanisch-mallorquinischen Kartographie, üppig in Anlage und Gestaltung, exakt in der Ausführung, prächtig in der Farbgebung, die Inschriften und Zeichen ebenso gehaltvoll wie dekorativ. Früher wurde sie dem in Palma de Mallorca le-
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8 Ostasien auf der Katalanischen Weltkarte von 1375 (Paris, Bibl. Nationale, Ms. espagnol 30). Die Menge der Städte und Verkehrswege soll den fabelhaften Reichtum des Chinesischen Kaiserreichs und seines Herrschers erklären.
benden Karten- und Kompassmacher Cresques Abraham und seinem Sohn Jefuda zugeschrieben. Mittlerweile hält sich die Forschung mit der Nennung eines Autors zurück. Sicher ist, dass das Stück um 1380 in die Bibliothek der Könige von Frankreich gelangte, bei deren Nachfolgerin, der Bibliothèque Nationale in Paris, es bis heute verblieb. Es besteht aus sechs Doppeltafeln aus Holz, auf die zehn Pergamentblätter aufgezogen wurden. Nacheinander betrachtet könnte man sie – avant la lettre – als Atlas verstehen. Doch nebeneinander gelegt erhält man – einschließlich einer Kosmographie, eines immerwährenden Kalenders und anderer nützlicher Verzeichnisse – ein rechteckiges Panorama von 300 × 65 cm. Gezeigt wird die Alte Welt zwischen den Kanarischen Inseln und Sumatra. Am kundigsten war der Kartenmacher im äußersten Westen, am meisten Mühe gab er sich im Fernen
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Osten. Er schlachtete Marco Polo aus, ließ aber gleichzeitig die herkömmlichen Vorstellungen zu ihrem Recht kommen. Den Nordosten Asiens nimmt wie fast immer das Berggefängnis der Völker Gog und Magog ein. Der Antichrist verteilt Geschenke und nimmt als apokalyptischer Führer die Huldigung seiner Anhänger entgegen. Davon deutlich getrennt sieht man im Süden Cathay (Catayo), hier stellvertretend für ganz China. Auf der Grenze thront der Großkhan Holubeim (d. i. Khubilai), den Norden bewachend, über den Süden gebietend. Die Hauptstadt Khanbaliq /Dadu (Chanbalech) wird durch ein doppeltes Stadtsymbol hervorgehoben. Weitere 26 Städte (von angeblich 2000) schließen sich an. Die Namen der Orte kannte man durch Marco Polo, sie können leicht als real identifiziert werden. Aufgesteckte Fahnen bezeichnen die Herrschaft des Großkhans. Große Ströme durchziehen das Land. Das Reich des Großkhans war für den Verfasser wie für den Betrachter der Karte ein Land des Handels, des Verkehrs und einer dichten urbanen Besiedlung. Wohlstand und Reichtum kamen dadurch zum Ausdruck. Das erregte ebenso viel Staunen wie die Wunder des Ostens, die auf der Katalanischen Weltkarte das Reich des Großkhans umgeben: Westlich von China kämpfen Pygmäen mit Kranichen (schon Homer hatte davon gesprochen), dahinter werden Edelsteine mithilfe von Fleischstücken gesammelt, die Geier aus einem Tal mit giftigen Schlangen hervorholen (ein Motiv aus Tausendundeiner Nacht). Im Süden und Osten tummeln sich Fischesser und Sirenen in einem Meer mit 7448 Inseln. Die Zahl stammt von Marco Polo. Doch der Kartenmacher konnte nur einen Bruchteil davon im Kartenbild unterbringen. Auf Sumatra, am äußersten Ende der Ökumene, finde man schwarze, vernunftlose Riesen, die bevorzugt weiße Menschen aufessen. Der Ferne Osten war zwar durch die Berichte der Asienreisenden näher an den Westen gerückt, er blieb aber ein Raum voller Mythen und Wunder.
Moralisierte Geographie Dass Europa seinen geographischen Horizont deutlich nach Osten verschoben hatte und eine bis dahin völlig fremde Lebenswelt in den Blick nehmen konnte, kam in den verschiedensten Zusammenhängen zum Tragen. Literaten und Poeten ließen ihre Phantasie in ferne Weltgegenden schweifen. Maler und Bildhauer verfügten jetzt über mehr exotisches Personal, um alte Themen neu illustrieren zu können, oder sie ließen lehrreiche Geschichten an östlichen Schauplätzen spielen. Die Geschichtsschreibung bezog die Entstehung und Ausdehnung des mongolischen Herrschaftsbereichs in ihren Gegenstand ein und musste sich fragen, wie viel davon zur Heilsgeschichte gehörte. Die Kartographie stellte also nicht das einzige, wohl aber das dichteste und dadurch ausdrucksstärkste Medium zur Vermittlung des neuen geographischen Wissens dar. Am ausführlichsten aber mussten sich die Enzyklopädien dazu äußern. Denn Vollständigkeit war ihr grundsätzliches Anliegen, und gerade die mittelalterlichen Enzyklopädien hatten immer die Aufgabe, zwischen Weltbeschreibung und Weltdeutung zu unterscheiden. Sie mussten also auf mindestens zwei Ebenen argumentieren. Es lag nahe, sich an die Verfahren zur Auslegung der Heiligen Schrift anzulehnen. Denn hier wie dort ging es um die Schöpfung, und dieser wurde immer ein verborgener, aber eigentlicher Sinn unterstellt. Die Exegeten der Bibel halfen sich, indem sie systematisch zwei, drei oder vier Schriftsinne voneinander unterschieden. Den literalen oder historischen Sinn (sensus litteralis oder historicus) erschließt das wörtliche Verständnis eines Textes. Davon ist sein geistlicher Sinn (sensus spiritualis) zu unterscheiden: Entweder weist
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er – als allegorischer Sinn (sensus allegoricus) – auf die Glaubenstatsachen, letztlich auf die Heilsgeschichte, hin, oder er gibt – als moralischer Schriftsinn (sensus moralis oder tropologicus) – Handlungsanweisungen für rechtes Verhalten. Hinzu kommt (allerdings nicht bei allen Autoren) der anagogische Sinn (sensus anagogicus oder eschatologicus), der den Blick auf die Zukunft richten lässt. Littera gesta docet; quid credas, allegoria; moralis, quid agas; quid speres, anagogia – „der Buchstabe lehrt, was geschehen; was du glauben sollst, die Allegorie; der moralische Sinn, was du tun sollst; was du hoffen sollst, die Anagogie .13 So lautete die Formel, die noch Martin Luther gelernt hat (deren Gegenstand er aber später als „lauter Dreck bezeichnete14). Damit ließ sich die Bibel variabel interpretieren und als Richtschnur für geistliche und weltliche Zwecke vielfältig nutzen. Doch das Verfahren blieb nicht auf die Gegenstände der Heiligen Schrift beschränkt. Isidors von Sevilla eher nüchterne Etymologien wurden schon durch Hrabanus Maurus um die Allegorese ergänzt, Ovids Metamorphosen boten sich für eine moralische Auslegung geradezu an, und Bestiarien wie der Physiologus zeigten, dass jede Tierart eine bestimmte Bedeutung im göttlichen Heilsplan besitze. Die großen voraristotelischen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts (Bartholomäus Anglicus, Thomas von Cantimpré) legten es ausdrücklich nahe, die sichtbaren Erscheinungen der Welt nach ihrem verborgenen Sinn und spirituellen Nutzen zu befragen. Das dabei angewandte Verfahren bezeichnete man als „Moralisierung (moralizatio), und so wie die Bibel moralisiert wurde, so entstanden auch moralisierte Kompendien und Enzyklopädien. Sogar Dantes „Göttliche Komödie sollte nach dem ausdrücklichen Wunsch des Verfassers nach den Regeln des vierfachen Schriftsinns gelesen und interpretiert werden. Den konsequentesten Versuch, die gesamte Schöpfung zu „moralisieren , unternahm ein einzelner Kleriker, der eine bewundernswerte Fleißleistung vollbrachte. Pierre Bersuire (latinisiert: Petrus Berchorius) stammte eigenen Angaben zufolge aus dem Poitou, lebte aber mehr als ein Vierteljahrhundert lang, von 1320 /25 bis um 1350, als „Hausgenosse (familiaris domesticus) des Kurienkardinals Pierre des Prés am Hof der Päpste in Avignon. Die dortigen Bibliotheken, die intellektuelle Atmosphäre und auch zahlreiche persönliche Begegnungen benutzte er dazu, ein wahrhaft enzyklopädisches Werk in Angriff zu nehmen, das in drei einander ergänzenden und erschließenden Teilen nicht weniger als die gesamte sichtbare und unsichtbare Welt beschreiben und erklären sollte. Deren erster, das Reductorium morale, das 1345 in einer ersten Redaktion abgeschlossen vorlag, enthält auf 16 Bücher verteilt eine an Bartholomäus Anglicus angelehnte Klassifizierung der Schöpfung, ihrer Eigenschaften und Erscheinungen. Sie beginnt mit Gott und den Engeln und behandelt ausführlich den Menschen und seine Lebensverhältnisse, Kosmos, Zeitrechnung und die Elemente, schließlich auch die Erde, ihre Oberfläche, Bewohner und Fruchtbarkeit. Drei Bücher über die Wunder der Natur, die (noch) nicht zu durchschauen seien, über die antike Mythologie und die Lehren der Heiligen Schrift schließen sich an. Der Titel umreißt die Absicht des Autors, nämlich die Rückführung (die „Reduzierung ) der Dinge auf ihre geistliche Bedeutung. Der zweite Teil des Kompendiums, ein Repertorium morale, enthält eine Sammlung von mehreren Tausend Begriffen und Vokabeln, die in alphabetischer Folge unter theologisch-moralischen Aspekten gedeutet sind. Einen dritten Teil hat Bersuire angekündigt, aber wahrscheinlich nicht abschließen können. In Anlehnung an Matthäus 13,33 verglich er die drei Teile des Werkes mit drei Scheffeln Mehl, die den Heißhunger der Christenheit stillen sollten, und auch der Prolog unterstreicht, dass der Autor nur den Nutzen der Gläubigen vor Augen und im Sinn gehabt habe. Nicht weniger sei beabsichtigt, als die na-
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türlichen Erscheinungen auf ihren moralischen Kern zu reduzieren und anhand geeigneter Beispiele in den Glaubens- und Lebensfragen einen Wegweiser bereitzustellen. Das Gesamtwerk hatte einen konkreten pragmatischen Zweck. Es sollte unmittelbar dem Prediger und mittelbar dem Laien den literalen, allegorischen oder moralischen Sinn der Worte und Sachen vor Augen stellen und ihnen auf diese Weise nicht nur zum besseren Verständnis der Überlieferung, sondern auch der eigenen Zeit verhelfen. Immer wieder wendet sich der Verfasser direkt an den Leser und bietet ihm verschiedene Optionen der Auslegung an: „wenn du willst, mache dagegen Folgendes geltend – „dies lässt sich auch noch anfügen – „oder sag’ das . Eine Deutung schloss sich an die andere an. Auch geographische Gegenstände schienen dafür zu taugen. Ganze Kontinente und Länder wurden allegorisiert: Europa stehe – wegen seines kühlen Klimas – für Kirche und Religion, Buße und Gottesfurcht. Die Menschen seien zu guten Werken befähigt. Afrika dagegen werde durch die dort herrschende Hitze für Habsucht und weltliche Begierden entflammt. Duftstoffe und Gewürze aus Arabien symbolisierten religiöse Tugenden (Myrrhe: Buße; Weihrauch: Gebet; Zimt: fromme Gesinnung). Die vielen Vögel, vor allem den Phönix, müsse man christlich interpretieren; aber die wilden Tiere, die dort die Menschen bedrohten, stünden für Häretiker und böse Philosophen. Bersuire nannte ihn nicht, dachte aber sicher an Mohammed. Die Fruchtbarkeit der Kanarischen Inseln verweise auf die
9 Opicinus de Canistris: anthropomorphe Darstellung der Kontinente Afrika und Europa (um 1337; Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Vat. Lat. 6435, fol. 77r). Der Verfasser betrachtete sich selbst als den auferstandenen Jesus Christus.
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Glückseligkeit im Paradies, das Eis Islands dagegen auf die Brüchigkeit der menschlichen Existenz. Das Meer, die Eisbären und die Fische bedeuteten „die materielle Blüte der irdischen Welt , „die Dämonen, die das Eis des Lebens durch den Tod zerbrechen und „die Wollüstigen holen, um sie in der Hölle zu fressen .15 So oder ähnlich, z. T. detaillierter werden Länder wie Frankreich, Irland, Deutschland, Spanien oder Ägypten abgehandelt. Hätte man dies alles oder auch nur einen Teil davon auf eine Karte übertragen, so wäre eine „moralisierte Weltkarte entstanden. Auch das war in Avignon möglich: Ein italienischer Geistlicher namens Opicinus de Canistris zeichnete zur gleichen Zeit und am selben Ort zahlreiche Karten, auf denen er den Erdteilen und verschiedenen Orten eine tiefere Bedeutung unterlegte. Afrika und Europa sind als Mann und Frau wiedergegeben, in ihrem Verhältnis zueinander spiegele sich die Sündhaftigkeit der Epoche. Venedig sei die vulva Europae, aber auch eine Pforte des Glaubens. Den Fluss Po hielt Opicinus für einen zweiten Jordan, in dem die Sünden Italiens abgewaschen werden könnten. Sogar den eigenen Körper brachte er ins allegorische Spiel, als er ihn mit Europa, seine Bauchhaare als lombardische Weinstöcke identifizierte. Pierre Bersuire kannte den Verfasser und hat auch selbst eine „Kosmographie oder Weltkarte angefertigt.16 Vielleicht war sie ebenfalls „moralisiert . Doch sie ging verloren, und niemand weiß, wie sie aussah.
Schöner Frauen kleine Füße Vor allem das 14. Buch des Reductorium morale geht auf geographische und ethnographische Sachverhalte ein. Es ist nach Ländern gegliedert und behandelt die Wunder der Natur, die in jedem einzelnen von ihnen anzutreffen seien. Ein eigener Prolog erklärt den Sinn und Nutzen des Verfahrens: Da der Mensch von Natur aus neugierig sei, lasse er sich durch die Kunde von unerhörten Dingen geistig beunruhigen und bei entsprechender Unterweisung durch den Prediger zum Lobpreis Gottes bewegen. Unerhörte Dinge aber waren vor allem in jenen fernen Weltgegenden zu finden, von denen erst vor Kurzem so viele Neuigkeiten nach Europa gedrungen waren: in Indien, zu dem der Süden Chinas gerechnet wurde, und in Skythien, das Pierre Bersuire mit dem Reich des Großkhans identifizierte. Beide Kapitel sind ihm am längsten geraten. Die Quellen, auf die sich Pierre Bersuire dabei berufen konnte, waren die in den mittelalterlichen Enzyklopädien auch sonst gebräuchlichen (Plinius, Solin, Orosius, Isidor von Sevilla, Gervasius von Tilbury u. a.). Hinzu kamen einige mündliche Auskünfte, die hier und da das Wissen der Bücher ergänzten. Denn in Avignon, wo seit 1309 die Päpste residierten, kamen Informanten und Informationen aus aller Welt zusammen. Gesandte der alanischen Christen in Khanbaliq erzählten zum Beispiel von Palmwein, Sago und Kerzenwachs in Südostasien, ein Bischof von Täbris berichtete von den vielen Vorzügen der Kokosnuss. Der Verfasser einer Weltkunde konnte von all dem profitieren. Außerdem berief er sich immer wieder auf das Itinerar des Franziskaners Odorico da Pordenone, der ein paar Jahre vorher von seiner langjährigen Asienreise zurückgekehrt war. Das Buch, das dieser kurz vor seinem Ableben diktiert hatte, lag nachweislich in Avignon vor und hatte über Indien und China aufregend Neues zu berichten. Pierre Bersuire war einer seiner frühesten, aber auch eigenwilligsten Benutzer. Wenn etwa Odorico von den Formen der Idolatrie in Indien erzählte, deutete sein Interpret dies als ein Menetekel gegen die Schmeicheleien der Höflinge, die ihre Herren in
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10 Bis weit ins 20. Jh. hinein wurden in China aus sozialen und erotischen Gründen die Füße von Mädchen bandagiert und verstümmelt (Photographie aus den 1930er Jahren).
den Himmel erheben. Den vielfältigen Nutzen der Kokosnuss nahm er als Symbol für die Segnungen der katholischen Kirche, die indische Witwenverbrennung (Europäern schon immer ein Rätsel) ließ ihn an das Fegefeuer oder an vorbildliche Gattenliebe denken, und die Altentötung in Tibet verstand er als eindringliche Mahnung an Erbschleicher und eine respektlose Jugend. Odoricos Bericht von Seidenhühnern in Südostchina (sog. Silkies oder galli lanati) wollte Bersuire entweder als Exempel für fromme, uneitle Kleriker verstanden wissen oder aber als Warnung vor schönen Frauen, an denen man sich leicht die Finger und mehr verbrennen könne. Vollends die Erzählungen von Frauen in Mesopotamien, die ihre Männer arbeiten ließen, um sich auszuruhen, von anderen, die Wein konsumierten, und schließlich jenen, die aufgeputzten Männern nachstellten, nahm der Geistliche zum Anlass, über die angebliche Verkehrung der Geschlechterrollen in Europa vom Leder zu ziehen und die Verderbtheit der eigenen Zeit an den Pranger zu stellen. Besonders hat ihn beschäftigt, was Odorico da Pordenone von den Sitten der Chinesen berichtet hatte: dass es die Männer als ihre höchste Ehre betrachteten, möglichst lange Fingernägel zu besitzen, und dass es als Frauenschönheit gelte, möglichst kleine Füße zu besitzen. Beides erfährt durch Pierre Bersuire eine Deutung, die den Sinn des ursprünglichen Textes überraschend wendet und dem christlichen Leser Belehrung und Erbauung verspricht, zumal was die Rollen der Geschlechter betrifft. Denn das eine wie das andere habe Hintersinn, der über den Wortlaut von Odoricos Zeugnis weit hinausgeht: Die Nägel an den Fingern, mithin die Enden der Gliedmaßen, stünden für das „Ausharren bis zum Ende , während der menschliche Fuß die „fleischliche Begierde zum Ausdruck bringe.17 Was die Fingernägel mit der von Augustinus in seiner antipelagianischen Schrift über „das
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Geschenk der Beharrlichkeit (De dono perseverantiae) maßgeblich erörterten, von Bersuire aber offenkundig in einem allgemeineren Sinne verstandenen Standhaftigkeit zu schaffen haben, wird an anderer Stelle des Reductorium morale deutlicher: Dort, im Kapitel über die Krallen (De ungulis) heißt es unter Berufung auf Constantinus Africanus, dass die Gesinnung vom Herzen in die Finger steige und sich daher nicht nur in den Taten, sondern auch im Aussehen der Nägel erweise. So wie die Raubtiere ihre Krallen schonen, so müsse auch der Mensch auf seine Nägel, d. h. auf den Ausgang des Lebens, seiner Werke und Geschäfte achten, um nicht der Sünde zu verfallen. Bersuires Urteil über das Füßebinden basiert auf den Auffassungen der Heiligen Schrift und der Kirchenväter. Denn in der Sprache des Alten Testaments stehen die Füße für die Geschlechtsorgane; Erdverbundenheit und Straßenschmutz werden mit Sinnlichkeit und Sünde assoziiert. Der Philosoph und Theologe Origenes zog daraus den Schluss, dass das Wirken Christi einer Reinigung der Füße gleichkomme, und Augustinus verband das Bild von der Fußwaschung als Sündentilgung mit der Lehre von den Affekten, wie sie von der antiken Gelehrsamkeit formuliert und im frühen Christentum für die eigenen Zwecke umgestaltet worden war. Pierre Bersuire berief sich auf den Kirchenvater und bekräftigte noch den metaphorischen Zusammenhang von Fleischlichkeit und Füßen: Schlechte Menschen seien gewissermaßen seelische Vierbeiner und überließen sich den vier Leidenschaften Hoffnung, Freude, Furcht und Schmerz; die guten dagegen, dem Geistigen verbunden, wandelten aufrecht wie die Vögel und begnügten sich mit zwei Affekten: mit Gottesliebe und Nächstenliebe. Daraus ergab sich für Pierre Bersuire: Wenn es den Geistlichen bzw. den vollkommeneren Menschen (perfectiores) zukomme, lange Nägel zu besitzen, d. h. im Guten auszuhalten, so gehöre es sich für die Frauen bzw. überhaupt für Untergebene (subditi) und die einfachen Leute (simplices), kleine Füße zu haben oder mit anderen Worten: ihre Gelüste zu zügeln und wenig zu begehren; darum sei es nützlich, ihnen – zumal in jungen Jahren – mittels der göttlichen Gebote und geistlichen Statuten die „Füße der Leidenschaften 18 eng zu schnüren, damit sie nicht über das Maß hinauswüchsen. Stehe denn nicht auch geschrieben, dass der Prophet Hagabos aus Jerusalem sich mit dem Gürtel des Apostels Paulus die Füße (und Hände) gebunden habe (Apg. 21,11). Darunter sei aber nichts anderes zu verstehen als eben jene Gebote Christi oder eines geistlichen Vorgesetzten, mit denen die schmutzigen „Füße der Leidenschaften daran zu hindern seien, über Gebühr in die Welt zu schweifen. Doch mit einer bloß allegorischen Deutung von „Goldlilien und Fingernägeln ließ Bersuire es nicht bewenden. Auch hier ließ sich die Allegorese fernab gelegener Dinge mit der Klage über den allgemeinen Sittenverfall verbinden. Seine Sicht ist die einer konservativen Moralkritik, und das Verhalten der Geschlechter, namentlich des weiblichen, war ihm stets ein Problem. Bersuires Frauenbild geht dezidiert von der Unterordnung der Frau unter den Mann aus und fordert Demut (humilitas), Treue (fidelitas), Reinheit (puritas) von ihr. Der belesene Mönch rechnet aber auch mit weiblichen Schwächen wie Weichlichkeit (mollities), Unvollkommenheit (imperfectio) und Unbeständigkeit (inconstantia) sowie den Untugenden Unkeuschheit (luxuria), Habgier (avaritia), Zügellosigkeit (lascivia), Hochmut (superbia), und er ist ausgesprochen pessimistisch, was die Frauen seiner eigenen Zeit angeht. Auch seine Bemerkungen zum Füßebinden der Chinesinnen gehen darauf ein: „Oder sag , heißt es in direkter Ansprache an den Prediger, „dass es die Männer heutzutage für vornehm halten, lange Nägel zu besitzen, d. h. große Raffgier an den Tag zu legen; die Frauen aber finden enges Schuhwerk für besonders feine Kleidung .19 Mit
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anderen Worten: Der Geistliche soll seiner Gemeinde das chinesische Beispiel vor Augen führen und in Analogie dazu auf die modischen Torheiten und moralischen Missstände der Gegenwart hinweisen. Mit der Apostrophierung der Exotik und ihrer Auslegung soll er Einfluss nehmen auf Lebenswandel und sittliche Haltung der Gläubigen, zumal in einer Zeit, die der Predigt bedürfe. Der Nutzen der Geschichten aus dem Orient für die seelsorgliche Praxis war für Pierre Bersuire hier mit Händen zu greifen. Bersuires Gedankensprüngen ist nicht immer leicht zu folgen. Selten hat man den Eindruck einer schlüssigen Argumentation. Auch dort, wo die textlichen Vorlagen ermittelt werden können, bleiben sie doch stets ein krauses Gemisch aus Zitat, Assoziation und pastoraler Ermahnung – der „Wust der Allegorese , wie einmal gesagt wurde.20 Hinzu kommt eine manifeste, durch nichts gezügelte Frauenfeindlichkeit, die zumindest den heutigen Leser irritiert. „Unbeständigkeit , „haltlose Gesinnung und „schwachen Verstand attestierte er dem weiblichen Geschlecht ganz offen.21 Dennoch hat der Text seine Bedeutung – als weitschweifiges Zeugnis spätmittelalterlicher Geistigkeit, als Quelle für gesellschaftspolitische Anschauungen an der Kurie in Avignon, als Beleg auch für den Umgang mit den Nachrichten aus der Ferne. Die Welt war größer geworden, der Gesichtskreis der Europäer reichte nunmehr bis ans Chinesische Meer. Nicht nur Kosmographie und Geographie, sondern auch Theologie, Morallehre und Zeitkritik konnten damit etwas anfangen. Der Ertrag der heidnischen Geschichten lag eben nicht nur in der Verschiebung geographischer, ethnographischer oder historiographischer Horizonte, sondern auch in den vielfältigen Anknüpfungspunkten, die sie den Selbstdeutungen der Europäer boten. Erst dadurch wurden sie Teil ihres Weltbilds.
1
Harley /Woodward, History of Cartography 1, S. 332: hic dominatur rex piger.
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Marco Polo, c. 95 (ed. Benedetto, S. 100; Übersetzung Guignard, S. 165): et ce est bien grant bonté dou seignor que a peitié de sez povres peuples.
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3
Odorico da Pordenone, c. XXVII 2 (Sinica Franciscana 1, S. 478; Übersetzung Reichert, S. 104): … quin statim vel multum cito penitus et ipse sciat.
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14
Marco Polo, c. 97 (ed. Benedetto, S. 93, 91; Übersetzung Guignard, S. 156, 154): Or vos ai contés la mainere et la raison por coi le grant sire doit avoir et ha plus tresor que nuls homes de ceste monde.
15
Odorico da Pordenone, c. XXX 2 (Sinica Franciscana 1, S. 482; Übersetzung Reichert, S. 110): infinitus thesaurus.
16
6
Marco Polo, c. 97 (ed. Benedetto, S. 91; Übersetzung Guignard, S. 154): … que le grant [kaan] ait l’a[r]quimie perfetement.
7
„Reichen Drei“: Hans Rosenplüt, Weinsegen; „den größten Herrn unserer Zeit“: anonymes Gedichtfragment; „den größten, mächtigsten, reichsten und vornehmsten Herrscher der Welt“: Jean d’Outremeuse, Ly mireur des histors. Vgl. dazu Reichert, Begegnungen, S. 201.
8
Marco Polo, c. CLIII (ed. Benedetto, S. 143; Übersetzung Guignard, S. 245).
9
Marco Polo, c. CLIII (ed. Benedetto, S. 146; Übersetzung Guignard, S. 246): moult deliés et angelique chouse.
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Sinica Franciscana 1, S. 365: in alio mundo constitutus.
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18 19
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21
Odorico da Pordenone, c. XXIII 5 (Sinica Franciscana 1, S. 466): aliquid novum. Odorico da Pordenone, c. XXXIV 2 (Sinica Franciscana 1, S. 488; Übersetzung Reichert, S. 117): … parvos habere pedes, unde hanc consuetudinem habent matres illarum mulierum, nam quando eis nascuntur alique puelle, sibi ligant pedes quos nunquam crescere dimittunt eis. LexMA 2, Sp. 48 (nach Augustin von Dänemark). Martin Luthers Werke: Tischreden, Bd. 5, Weimar 1919, S. 45, Nr. 5285. Bersuire, Opera omnia 1, S. 926: mundi prosperitas … daemones glaciem vitae per mortem frangunt, & inde de aqua delitiarum pisces, hoc est, voluptuosos extrahunt, quos devorant in inferno. J. Engels, The World Map by Petrus Berchorius (14th Century), in: Imago Mundi 20 (1966), S. 86: cosmographiam seu mundi mappam. Bersuire, Opera omnia 1, S. 925: perseverantia finalis, concupiscentia carnalis. Ebd., S. 925: pedes affectionum. Ebd., S. 925: Vel dic, quod hodie nobilitas hominum est, quando habent magnos ungues, i. magnam rapacitatem; mulieres vero nobilem putant strictam pedum calciaturam. Raymond Klibansky /Erwin Panofsky /Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1990, S. 264. Bersuire, Opera omnia 1, S. 667: sexus fragilitas, sensus debilitas, mentis labilitas.
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xakte Kartographie wird dem Mittelalter nicht zugetraut. Denn jede Form der Raumdarstellung scheint hier von theologischen Konzepten überwuchert. Für das frühe Mittelalter ist der Zweifel wohl nicht zu entkräften. Seit dem 12. Jahrhundert jedoch, erst recht im späten Mittelalter mehren sich die Beispiele, auf denen – schon aus lebens- und alltagspraktischen Gründen – das Bemühen um kartographische Genauigkeit dominiert und die Merkmale einer christlich geprägten Bedeutungskartographie allmählich, wenn auch nicht völlig in den Hintergrund treten.
Was der Augenschein lehrt Exakte Kartographie bedeutet immer: • bewusste, wenn auch nicht unbedingt konsequente Reduktion und Projektion der dreidimensionalen Wirklichkeit auf eine zweidimensionale Fläche; • Anlehnung an die natürlichen Verhältnisse bei gleichzeitigem Verzicht auf deren vollständige Erfassung; • Annäherung an eine maßstäbliche Darstellung, erzielt durch die Verwendung technischer Hilfsmittel. Sie war in ihren Anfängen regelmäßig mit praktischen Zwecken verbunden und nicht auf großräumige, nur zu imaginierende geographische Einheiten, sondern auf den lokalen, überschaubaren Raum bezogen. Diese kleinen, vergleichsweise unspektakulären Formen der Raumerfassung wurden von der Forschung lange vernachlässigt. Erst allmählich wird ihr bewusst, wie reich die Überlieferung, auch die mittelalterliche, ist. In England reicht sie bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts, in Norditalien und den Niederlanden ins ausgehende 13. und frühe 14. Jahrhundert zurück. In allen drei Ländern zusammen wurden mehr als 60 lokale und regionale Plankarten aus der Zeit vor 1500 ausfindig gemacht. Im Reich setzt die Überlieferung später ein, wird aber auch hier während des 15. Jahrhunderts dicht. Der Stand der ökonomischen und rechtlichen Entwicklung, der Bedarf an schriftlichen Unterlagen, dürfte jeweils eine Rolle gespielt haben. Anregungen aus Norditalien mit seinen römischrechtlichen Traditionen (Bologna als europäisches Zentrum der juristischen Ausbildung) sind wahrscheinlich. Denn in fast allen Fällen ging es um Fragen der Verwaltung und Bewirtschaftung, um Land-, Hafen-, Weide-, Jagd-, Forst- oder Fische-
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1 Grenze zwischen dem Königreich Frankreich und dem Herzogtum Burgund (1460). Die Karte sollte durch genaue Verzeichnung der örtlichen Gegebenheiten (Dörfer, Wälder, Straßen, Flussläufe) dazu beitragen, einen lange schwelenden Grenzstreit zu regeln (Dijon, Archives Départementales de la Côte d’Or, B 263).
reirechte, um Besitzrechte, Grenzen und deren Überschreitung. Auch Stadtpläne wurden manchmal nur zu dem Zweck gezeichnet, um Herrschaft zu sichern und deren Reichweite zu demonstrieren. Es gab also vielfachen Regelungsbedarf, und die Karten trugen dazu bei, die jeweils richtigen Entscheidungen zu treffen. Gerade die prominentesten und interessantesten Fälle machen das deutlich. Soweit man weiß, wurde erstmals 1356 /58 in einem Gerichtsverfahren an der Pariser Universität eine Regionalkarte zur Rechtsfindung verwendet. Infrage stand die landsmannschaftliche Zugehörigkeit eines Baccalaureus aus der Grafschaft Holland. Sowohl die „Nation der Engländer als auch die der Pikarden erhoben Anspruch auf ihn. Letztere wurden durch den berühmten Philosophen Johannes Buridanus vertreten. Der Betroffene selbst konnte sich nicht entscheiden, verhielt sich also wie Buridans Esel. Es wurde vorgeschlagen, die Maas zur Grenze zwischen den beiden „Nationen zu bestimmen. Doch die Entscheidung wurde dadurch erschwert, dass sich der Strom vor ca. 80 Jahren in zwei Arme, antiquus Mosa und novus Mosa, geteilt hatte. Als schließlich, nach langwierigen Disputen, eine salomonische Lösung gefunden worden war, ging man gemeinsam im Quartier Latin einen trinken. Die Karte, die der Entscheidung als Unterlage gedient hatte, zeigt die Grafschaften Flandern, Seeland und Holland, zahlreiche Ortschaften und die Flussläufe, die für so viel Verwirrung gesorgt hatten.
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Um viel mehr ging es bei Streitigkeiten an den Rändern des jungen burgundischen Staates, nämlich um den Umgang mit einer werdenden Großmacht. Deren dynamisches Wachstum im 14. und 15. Jahrhundert mussten die Nachbarn ertragen. Vor allem mit Frankreich, aber auch mit Savoyen kam es zu Konflikten um die Reichweite von Rechten und die Behandlung von Enklaven, letztlich um die Grenzen des burgundischen Territoriums. Sie wurden beigelegt, indem feste Grenzen vereinbart und kartographisch dokumentiert wurden. Auffällig ist die große Genauigkeit, mit der die Kartenmacher vorgingen: Siedlungen, Wälder, das Gelände wurden berücksichtigt, und sogar Zeichen zur Markierung von Entfernungen ließ man sich einfallen. Die erste deutsche Karte, die aus einem Verfahren am Reichskammergericht hervorging, entstand 1496, also gleich nach dessen Einrichtung ein Jahr zuvor. Die Bewohner des Ortes Pfuhl (heute in Neu-Ulm) hatten die Auen einer nahen Donauinsel als Pferdeweide genutzt und waren deshalb mit Untertanen der Ulmer Patrizierfamilie Neithart aneinandergeraten. Sie beriefen sich auf ihr gewohntes Recht, das dadurch entstanden war, dass die Donau ihr Bett verlagert und das Gelände, das nun zur Insel geworden war, von der Ulmer Gemarkung abgeschnitten hatte. Die Familie Neithart dagegen bestand auf ihrem Eigentum nach dem Buchstaben des Römischen Rechts. Damit setzte sie sich vor dem Reichskammergericht durch. Das Kartenbild (eher ein Bild als eine Karte) zeigt, dass das zuerst in Frankfurt ansässige, also ortsunkundige Gericht einer detailgenauen Anschauung der lokalen Verhältnisse bedurfte, um den Fall entscheiden zu können. Im 16. Jahrhundert nahm die Zahl der bei Gericht verwendeten Karten sprunghaft zu. Man vermutet, dass die meisten der in Deutschland handgezeichneten Karten des 16. und 17. Jahrhunderts „in rechtlichen Auseinandersetzungen als Beweismittel entstanden, also zur sogenannten forensischen Kartographie gehören.1 Die Zeitgenossen sprachen von
2 Mithilfe sogenannter Augenscheinkarten wurden seit dem 14. Jh. Besitzstreitigkeiten entschieden. In diesem, 1496 verhandelten Fall ging es um Weiderechte auf einer Donauinsel bei Ulm (Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, C 3 Bü 3336).
Was der Augenschein lehrt
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„Augenscheinkarten und hatten dabei deren Anschaulichkeit und Authentizität im Sinn. Solche Karten beruhten oft auf den Aussagen älterer, rechtskundiger Leute, immer auf einer Begehung durch den Kartenmacher und wurden vor Gericht als wertvolle Zeugnisse behandelt. Der Begriff tauchte 1454 zum ersten Mal auf, hatte aber eine Vorgeschichte, die viel weiter zurückreicht. Die theoretische Grundlage lieferte der Rechtsgelehrte Bartolo da Sassoferrato (Bartolus de Saxoferrato) aus Perugia, dem schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufgefallen war, welche Rechtsfolgen das Mäandrieren des Tibers haben konnte. Eine exakte Vermessung der Landschaft und des Flusslaufs sei also erforderlich. Bartolos Vorschläge wurden auch außerhalb Italiens beachtet. In Frankreich bezeichnete man Augenscheinkarten daher als Tyberiaden. Die oben vorgestellten Beispiele sind auch deshalb charakteristisch, weil bei ihnen die Veränderung von Flussläufen (der Maas, der Donau) ebenfalls eine entscheidende Rolle spielte. Die frühen topographischen Karten konnten sehr einfach ausfallen und nur die für wichtig angesehenen Informationen enthalten. Sie konnten aber auch ausgedehnte Panoramen entfalten, üppige Texte integrieren und verschiedene Perspektiven (Aufrisse neben Vogelperspektive) berücksichtigen, um die örtliche Situation deutlicher hervortreten zu lassen. Gerade wenn eine gerichtliche Klärung angestrebt wurde, hatte die Karte naturgetreu, informativ, objektiv und unmissverständlich zu sein. Später wurde dem Maler sogar ein Eid auferlegt, mit dem er sich zur Neutralität verpflichtete. Der persönliche, körperliche Augenschein wurde in einer Augenscheinkarte wiedergegeben und diese sollte dem Gericht einen Lokaltermin ersparen, also das genaue Bild einer kleinen, eben überschaubaren Welt wiedergeben. Die Sorgfalt, mit der Kartographen an der Rechtsfindung teilnahmen, gehört zu den Grundlagen einer naturwissenschaftlich-exakten Geographie in Europa.
Ans Ziel kommen Den praktischsten Nutzen hat eine Karte, wenn sie von einem Ort zum anderen führt und die dafür nötigen Informationen bereitstellt. Es gibt Alternativen: Man kann sich durchfragen, einen Führer engagieren oder sich mit den Angaben und Ratschlägen einer Wegebeschreibung in Buch- oder Heftform begnügen. Solche Itinerarien, also Straßen-, Wege- und Ortsbeschreibungen, gibt es seit der Antike und wurden auch im Mittelalter angefertigt. Doch nicht unbedingt war damit die Herstellung von Karten verbunden. Und wenn welche entstanden, die detailliert genug waren, um sie auf Reisen gebrauchen zu können, dann hatten sie keine guten Chancen, ihren Zweck zu überdauern. Sie wurden unterwegs benutzt, verbraucht und schließlich entsorgt. Erst von den gedruckten Routenkarten des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts sind einige Exemplare erhalten geblieben. Erhard Etzlaubs „Romweg-Karte von ca. 1500 ist ihr prominentestes Beispiel. Sie zeigen, wie ihre Vorläufer ausgesehen haben könnten, welche Eigenschaften sie haben mussten und welche Reiseziele vorrangig bedient wurden. Von vornherein hatten Wegekarten andere Aufgaben als Weltkarten. Ihre Zielstrebigkeit äußerte sich schon darin, dass sie auf einen Ort fokussiert waren, den der Benutzer ständig vor Augen haben wollte. Selbst dann, wenn die Route in einen weiteren, sogar in einen europäischen Rahmen eingebettet wurde, drängten die von ihr berührten Landschaften alle anderen an den Rand. Eine Karte, die vielleicht die Romfahrt des Geschichtsschreibers Girald von Wales wiedergibt, zeigt zwar auch Spanien, Sizilien, Sachsen und den Balkan, aber eben nur marginal. Hindernisse, die sich dem englischen Pilger in den Weg
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3 Erhard Etzlaub, Das ist der Rom weg von meylen zu meylen mit puncten verzeychnet von eyner stat zu der andern durch deutzsche landt (um 1500). Etzlaubs Romweg-Karte macht deutlich, wie alle Wege nach Rom führten. Durch die gepunktete Darstellung der Routen (je Punkt eine deutsche Meile) machte sie deutlich, welche Entfernungen jeweils zu bewältigen waren.
stellten (der Ärmelkanal und die Alpen), waren für den Autor wie für den Betrachter der Karte interessanter. Im typischsten Fall lässt sich eine Straßenkarte weder auf das Rechts noch auf das Links ein, sondern registriert nur den Ausgangspunkt, den Zielort und die Stationen unterwegs, diese allerdings in möglichst dichter Folge, in den der Realität entsprechenden Abständen und vielleicht sogar unter Berücksichtigung der Windungen des Weges. Letzteres wurde von Matthaeus Parisiensis vernachlässigt, als er den Weg von England nach Apulien ganz schematisch in immer gerader Richtung zeichnete, aber die Entfernungen zwischen den
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4 Matthaeus Parisiensis: Itinerarkarte für die Reise von England nach Apulien, hier die Teilstrecke zwischen London und Beauvais (London, British Library, Royal MS, 14 C VII, fol. 2r).
einzelnen Orten in Tagesreisen angab. Erhard Etzlaub dagegen gab die Routen gepunktet wieder. Jeder Punkt bedeutete eine deutsche Meile. Auf diese Weise wurde der Betrachter der Karte über alle Wegstrecken exakt informiert, ganz gleich, ob er sie unterwegs oder ausschließlich zu Hause benutzte. Nicht für jede Reise brauchte man eine Karte. Bei den nahen Zielen kannte man sich ohnehin aus, und für die mittleren Entfernungen kam man mit sprachlichen Mitteln ganz gut zurecht. Bedarf hatten die Fernreisenden, zumal diejenigen Pilger, die in zunehmender Zahl zu den großen Pilgerzielen: Rom, Jerusalem, Santiago de Compostela unterwegs waren.
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Alle Wege führten nach Rom und manche noch weiter. Der durchschnittlich gebildete Mittel- oder Westeuropäer stieß jedoch jenseits der Alpen schon sprachlich an seine Grenzen. Karten, wie sie Matthaeus Parisiensis und Erhard Etzlaub zeichneten, stellten wenigstens geographische Orientierung her. Auf der Überfahrt zum Heiligen Land musste man sich darum nicht kümmern. Denn das war Sache der Seeleute. In Palästina, am Ziel der Wallfahrt, lag es nahe, sich nicht nur über die heiligen Stätten, sondern auch um die Wege zu ihnen Gedanken zu machen. Beide Gesichtspunkte konnten miteinander verschmelzen. Nach Jerusalem führte die Straße steil bergan und war für alle Pilger beschwerlich. Ein Kartenbild von 1475 verbindet deren reale Erfahrung mit der biblischen Geschichte, den Stammbaum Jesu mit der Topographie. Am Ende des Weges, hoch über Jaffa, Ramla und Emmaus, lag die Heilige Stadt mit dem Heiligen Grab, auch hier wieder in idealer Rundform gezeichnet. Selbst detailliertere Darstellungen Jerusalems und seines Umlands neigten immer dazu, die Lokalität mit geistlichem Sinn zu erfüllen. Gerade im Heiligen Land schloss geographische Genauigkeit eine religiöse Weltsicht nie aus. Wie die Seeleute ihren Weg zum Heiligen Land fanden, steht auf einem anderen Blatt. Mit der im Mittelmeer üblichen Küstenschifffahrt konnte man viele Ziele erreichen. Doch die Überfahrt von Apulien nach Griechenland, von Zypern nach Palästina, von Sizilien nach Tunis oder Ägypten, vom Festland zu den Inseln im Tyrrhenischen Meer musste über das offene Meer gehen. Man war immer nur wenige Tage unterwegs; um aber sicher navigieren zu können, führte so gut wie jedes hochseetaugliche Schiff eine oder mehrere Seekarten mit sich. Die Zeitgenossen hoben denn auch deren Nutzen für den Seemann hervor und nannten sie „Karten zum Navigieren (ital. charte da navichare, katalan. cartes de navegar, lat. cartae pro navigando) oder „Karten des Meeres (cartae maris). Die moderne Forschung dagegen spricht von Portulanen; denn ihr auffälligstes Merkmal ist die Vielzahl von Häfen (lat. portus, ital. porto). Deren Namen wurden stets senkrecht zur Küste eingetragen, sodass sich ein breites Band von Ortsnamen durch das Kartenbild zieht und damit die Küstenlinie markiert. Diese selbst tritt eher zurück. Eine typische Portulankarte enthält allenfalls noch Hinweise auf Kaps oder Riffe und die Namen von Inseln, sonst aber keine Art der Beschriftung. So wie die Itinerarkarte u. U. eine Landschaft auf Straßen und Stationen reduzierte, so war die Portulankarte in ihrer ursprünglichen Gestalt ein großes Stück Pergament, also Tierhaut, das kein Hinterland und kein Territorium zeigte, sondern nur dem einen Zweck diente, von einem Hafen zum anderen zu führen. Die älteste erhaltene Portulankarte stammt aus der Zeit um 1300 und wurde bis ins 19. Jahrhundert in Pisa aufbewahrt. Doch der Schein trügt. Der Ursprung der Portulankartographie reicht weiter zurück. Ihre praktische Verwendung ist für den Kreuzzug Ludwigs des Heiligen nach Tunis bezeugt (1270), und neuere Forschungen haben ergeben, dass Seekarten dieser Art schon um 1200 hergestellt und gebraucht worden sein müssen. Nicht zufällig wird um die gleiche Zeit erstmals der Kompass in Europa erwähnt. Denn
5 Der Weg der Heiliglandpilger von Jaffa über Ramla und Emmaus hinauf nach Jerusalem, das auch hier kreisrund dargestellt ist (Rudimentum noviciorum, Lübeck 1475). Eingerahmt wird die Pilgerstraße durch den Stammbaum Jesu Christi.
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6 Ein Beispiel von vielen: Bis ins späte 17. Jh. wurden Portulankarten wie die, die Jacopo Russo aus Messina 1533 anfertigte, von den Seeleuten im Mittelmeer gebraucht (Nationalarchiv der Niederlande, Den Haag, Inventar-Nr. 3803).
Kompass und Karte wurden miteinander benutzt. Jede Portulankarte wird von einem Netz von Linien (sogenannten Rumben) überzogen. Dieses setzt sich aus (in der Regel) 16 Knotenpunkten zusammen, von denen je 16 Linien ausgehen. Es entsteht der Eindruck eines Gewebes, das denn auch von den Zeitgenossen als marteloio: „Gewebe des Meeres bezeichnet wurde. Wichtig war sein praktischer Nutzen: Der Seemann konnte mithilfe der genordeten Karte seinen Standort bestimmen und dann die exakte Richtung ausmachen, in der er sein Ziel erreichen würde. Der Kompass half ihm, den richtigen Kurs zu halten. Hinzu kam ein Segelhandbuch, das Angaben zu Orten und Entfernungen enthielt. In der Praxis der Seeleute wurden die Karten erheblichen Belastungen ausgesetzt. Viele wurden verschlissen und gingen verloren. Umso bemerkenswerter ist die Zahl von etwa 180 Portulankarten und -atlanten, die zunächst ihre intensive Benutzung und dann ihre durch modernere Navigationsmethoden bewirkte Nutzlosigkeit überleben konnten. Die Portulankartographie war im Mittelmeerraum erdacht worden und entsprach den Bedürfnissen der italienischen und spanischen Seeleute. Sie erfasste die Küsten des Mittelmeers sowie die des Schwarzen und Asowschen Meers. Denn genuesische und ve-
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nezianische Kaufleute hatten dort Interessen. Man hat einmal die Küstenlinien auf den wichtigsten Portulankarten übereinander projiziert und mit den heutigen Verhältnissen verglichen. Dadurch wurde die erstaunliche Genauigkeit der alten Karten dokumentiert, gewonnen aus Erfahrung und Berechnung. Doch gilt das nur für Südeuropa. Der sogenannte mediterrane Atlantik, also die Gewässer jenseits der Meerenge von Gibraltar, an deren Erkundung italienische Seeleute mitwirkten, wurde noch präzise erfasst. Nach Norden dagegen verebbte das Wissen der Kartographen, und das Kartenbild lief ihnen geradezu aus dem Ruder. Die Zentren der Fertigung lagen in Pisa, dann in Genua, Barcelona und auf Mallorca, schließlich auch in Venedig und seinen levantinischen Besitzungen. Das Geschäft mit den Karten florierte, die Käufer ließen sich Qualität etwas kosten. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts stockte die Nachfrage, kam das Geschäft zum Erliegen. Alle Portulankarten gleichen einander, was ihre Genauigkeit in Südeuropa betrifft, und sie ähneln sich in Struktur und Layout. Unterschiede ergaben sich bei der Ausführung. Zumal die katalanischen Kartenmacher fügten manches hinzu, was sich die Italiener ersparten: Flüsse, Berge, Schiffe, Flaggen, Zelte und andere dekorative Elemente. Nicht nur die Küste, sondern auch ihr Hinterland wurde kartographiert und in mehr oder weniger ausführlichen Inschriften benannt und beschrieben. Zwar beherrschten auch die Italiener den katalanischen Stil, doch grundsätzlich gilt: Italienische „Nüchternheit unterschied sich von katalanischem „Bombast .2 Zudem griffen die Kartenzeichner in Barcelona oder Palma de Mallorca räumlich weiter aus, nach Persien, Indien und sogar nach Fernost. Nautisch war damit nichts mehr anzufangen, aber das dekorative Rumbennetz machte das Bild der Welt attraktiver. Der praktische Nutzen trat gegenüber dem ästhetischen Moment zurück. Aufwendig hergestellte und überreich ausgestattete Großkarten wie die Katalanische von 1375 oder auch die Modeneser Karte von 1450 /60 taugten als repräsentative Geschenke, die dem vornehmen Empfänger weniger den vermessenen Raum des Mittelmeers als die Reize der übrigen Welt vor Augen führen sollten.
Inselwelten Die Entstehung der Portulankartographie lässt sich nicht mit den Absichten und Leistungen einzelner Kartographen, ja nicht einmal mit einem prominenten Namen verbinden. Kein Autor der frühesten Karten ist bekannt. Anders verhält es sich mit einer besonderen Art der Raumerfassung, die sich ausschließlich mit Inseln befasste. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Erfolg der Portulankartographie und wollte so exakt sein wie diese. Sie geht aber auf die Ambitionen eines Einzelnen, des Florentiner Humanisten Cristoforo Buondelmonti, zurück. Er führte ein Leben im Dienst der klassischen Studien, kam auf diesem Weg zur Geographie und war bemerkenswert erfolgreich damit. Buondelmonti entstammte einer namhaften Familie und hatte eine Schulbildung erhalten, die ihn zur Übernahme eines kirchlichen Amtes befähigte. Sein Latein war solide, Griechisch lernte er obendrein. Bis an sein Lebensende stand er in enger Verbindung mit Niccolò Niccoli, der in Florenz einen Kreis bedeutender Humanisten inspirierte und durch Einladung weiterer Koryphäen ergänzte. Dessen Ziel, die Kenntnis der antiken, zumal der griechischen, Autoren durch das Sammeln und Kopieren von Handschriften zu befördern, teilte er voll und ganz. „Allwissend nannte er ihn einmal.3 Einige der Bücher in Niccolis umfangreicher Bibliothek wurden wahrscheinlich durch Buondelmonti beschafft. Deshalb, aber auch um die Orte kennenzulernen, von denen er bei den antiken Geschichtsschreibern und Dichtern gelesen hatte, zog er nach Griechenland um und blieb
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dort mehr als 15 Jahre. Auf der Insel Rhodos, wo seit 1306 der Johanniterorden regierte, schlug er sein Hauptquartier auf und bereiste von da aus systematisch die Inseln zwischen Ägäischem und Ionischem Meer, zuweilen unter lebensbedrohlichen Umständen. Er kaufte griechische Handschriften ein, zeichnete Karten und schrieb Inschriften ab. Auf Kreta entdeckte er ein bedeutendes, unversehrtes Mosaik und besuchte das sogenannte Labyrinth in Gortyn, auf Delos versuchte er vergeblich eine monumentale Apollo-Statue aufrichten zu lassen und in Konstantinopel vermaß er Hippodrom und Hagia Sophia. Als er schließlich um das Jahr 1430 verstarb, wurde in der Stadt Rhodos ein Grab- oder Gedenkstein mit vier lateinischen Sinnsprüchen aufgestellt: • Facile contemnit omnia, qui semper se cogitat esse moriturum: „Leichten Herzens verzichtet auf alles, wer immer daran denkt, dass er sterben wird – eine Passage aus einem Brief des Kirchenlehrers Hieronymus (Epistolae 53,10). • Nichil tam mobile quam feminarum voluntas: „Nichts ist so wechselhaft wie der Wille der Frauen – ein Zitat aus einem moralphilosophischen Dialog, der im Mittelalter Seneca zugeschrieben und beispielsweise von Francesco Petrarca sehr geschätzt wurde (De remediis fortuitorum 16,4). • Audi multum, loquere pauca: „Höre vieles, sprich wenig - ein antikes Sprichwort, das keinem bestimmten Autor zugeschrieben werden kann. • Cognosce te ipsum: „Erkenne dich selbst – ein ursprünglich griechischer Orakelspruch am Apollo-Tempel in Delphi, der von Cicero in seinen „Gesprächen in Tusculum (I 52) auf Latein wiedergegeben wurde.4 Vielleicht waren diese Devisen und Motti für Buondelmonti besonders wichtig gewesen. In jedem Fall bezeugen sie seine humanistische Gesinnung bis in den Tod. Cristoforo Buondelmonti hinterließ ein Hauptwerk, eine Art Vorstudie dazu und ein Werkchen, das man im Orkus der Geschichte verschwinden lassen kann. Die Vorstudie hatte einen klar definierten Gegenstand: Kreta, die größte der griechischen Inseln, damals (und noch lange) in venezianischem Besitz. Hundert Städte soll es laut Homer (Ilias 2, 649) dort gegeben haben. Buondelmonti suchte sie und identifizierte 60 von ihnen. Mehrere Wochen war er mit griechischen Seeleuten, einheimischen Führern und einem gleichgestimmten Freund, von Kap Sidero im Osten bis zur Gramvousa-Halbinsel im Westen, an der Südküste, der Nordküste und im Inneren der Insel unterwegs. Natürlich galt sein Hauptaugenmerk den Antiken, den Säulen, Statuen und anderen Bildwerken, überhaupt jenen Orten, an denen sich die historischen und mythischen Geschichten lokalisieren ließen. Sogar das angebliche Grab des Göttervaters Zeus mitsamt Inschrift hat man ihm gezeigt.5 Dafür nahm er Mühen, Gefahren und einige heikle Situationen auf sich. Denn das Verhältnis zwischen der griechischen Bevölkerung und den venezianischen Herren, zwischen orthodoxen und katholischen Christen, war seit Langem gespannt. Die Einheimischen sehnten sich nach der Rückkehr der byzantinischen Kaiser und hielten die Erinnerung an die nur ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Aufstände des kretischen Adels wach. Buondelmonti musste mit den Konflikten zurechtkommen, die sich aus den politischen und konfessionellen Verhältnissen auf der Insel ergaben. Auch das gehörte zu einer Erkundung des Landes. Das Muster einer Landesbeschreibung mit den Komponenten: Darstellung der Geographie aufgrund eigener Anschauung, Identifizierung der antiken Stätten, Bezug zur aktuellen Situation, ließ sich auf die anderen Inseln übertragen. Buondelmonti erstellte für jede einzelne, die er besuchte, ein solches „Profil und formte daraus sein Hauptwerk, das „Buch der Inseln im (griechischen) Archipel (Liber insularum archipelagi). Indem er es mehrfach überarbeitete, kürzte und ergänzte, sollte es sein Lebenswerk werden. Es besteht aus 82
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(in manchen Handschriften mehr, in anderen weniger) Kapiteln, deren Anfangsbuchstaben in der Art eines Akrostichons die Namen des Verfassers und seines Gönners und Mäzens, des Kardinals Giordano Orsini, ergeben. Denn diesen sollte das Buch erbauen, wenn ihn Müdigkeit überkam. Erzählungen von den Taten der antiken Helden und die Beschreibung reizvoller Landschaften wurden dem Leser in Aussicht gestellt. Er erfuhr also von der Heimkehr des Odysseus nach Ithaka wie von Salz und Metallen auf Zakynthos, von der Entführung der schönen Helena von Kythera wie von Mastixwäldern auf Chios, vom Haus des Hippokrates auf Kos wie von wilden Weintrauben und erfrischenden Äpfeln auf Tenedos, von der Versetzung der Dioskuren Kastor und Pollux in den Sternenhimmel über Mytilene wie von der aktuellen Türkengefahr in den Gewässern um Andros – um nur einige Beispiele zu nennen. Buondelmontis Text ist sehr dicht geschrieben und geht konsequent seinem Ziel nach. Nur zweimal ist nicht von Inseln, sondern von etwas Vergleichbarem die Rede. Der Heilige Berg Athos, eigentlich eine Halbinsel, konnte wegen seiner Abgeschiedenheit als Insel behandelt werden. Außerdem scheint das asketische Leben der Mönche, ihre unerschütterliche Sittsamkeit und „königliche Enthaltsamkeit , den Verfasser ganz besonders beeindruckt zu haben.6 Auch die Stadt Konstantinopel war keine Insel. Aber sowohl ihre geographische Lage zwischen Bosporus, Goldenem Horn und der Theodosianischen Landmauer als auch ihre aktuelle politische Situation, umzingelt durch einen schier übermächtigen Feind, konnte den Eindruck eines Inseldaseins erwecken. Außerdem ging in einer Beschreibung der Levante kein Weg an der alten Metropole vorbei. Ionische Inseln, Kykladen, Dodekanes, Sporaden, nördliche Ägäis und Marmara-Meer – systematisch erfasst der Liber insularum archipelagi die Welt der griechischen Inseln. Um die Größenverhältnisse deutlich zu machen, wird bei jeder einzelnen die Länge der Küste in italienischen Meilen angegeben. Hinzu kommen detaillierte topographische Karten, die die Buchten, Berge, Vorgebirge und die Arten der Vegetation wiedergeben, Wasserläufe, Häfen und Ortschaften verzeichnen, die Monumente und historischen Stätten identifizieren und gegebenenfalls weitere Erläuterungen anbringen. In den verschiedenen Handschriften konnte das Kartenbild unterschiedlich ausfallen, hier sehr fein und artistisch, dort etwas gröber. Auch wurden alle Zeichnungen nach und nach aktualisiert und ergänzt. Doch von Anfang an galt: eine Insel – eine Karte. Auf diese Weise wurde das Buch zu einem „Atlas (der Begriff wird erst später erfunden), bezogen auf eine einzige, aber für Weltbild und Selbstverständnis des 15. Jahrhunderts eminent wichtige Region.
7 Cristoforo Buondelmonti: Konstantinopel. Die Vedute gibt eine topographisch genaue Ansicht von Konstantinopel vor der Eroberung durch die osmanischen Türken 1453. Man erkennt u. a. die Theodosianische Landmauer und die Seemauern, den Blachernenpalast, die Hagia Sophia, das Hippodrom sowie Pera auf der anderen Seite des Goldenen Horns (Liber insularum Archipelagi, Bibliothèque Nationale, Paris).
Der Liber insularum archipelagi hatte Erfolg und zwar in doppelter Hinsicht. Als Buch wurde er erfolgreich durch die Menge der Abschriften (ca. 70 an der Zahl) sowie durch Übersetzungen in die italienische und griechische, später (1642) auch in die englische Sprache. Noch populärer aber wurde das Werk, indem es ein Muster für ebenso viel gelesene Nachfolger abgab. Aus dem „Buch der Inseln sollte ein „Inselbuch (lat. insularium, ital. isolario) werden, ein literarisches Genre, das dem Leser nicht mehr nur die griechische Inselwelt nahebringen wollte, sondern ihn mit der Darstellung der Raumform Insel, ihrer Vorzüge und Eigenheiten, zu erfreuen versuchte. Denn daran hatte schon immer Interesse bestanden.
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Isidor von Sevilla hatte Inseln als Gebilde bezeichnet, die „auf hoher See, d. h. im Meere, liegen .7 Damit war ihr Faszinosum, im Guten wie im Bösen, benannt. Denn das Meer, bis ins 18. Jahrhundert kein freundliches Element, umgab nicht, es umschloss eine Lebenswelt, die man – ganz wörtlich – als ‚Ausnahme‘ verstand: Insulaner führten ihr eigenes ‚Inseldasein‘, herausgenommen aus der übrigen Welt. Es konnte verlockend erscheinen, überschaubar, still und geborgen, von äußeren Einflüssen unberührt. In der Antike wurden ideale Welten deshalb immer auf Inseln angesiedelt: Platons Atlantis, Theopomps Meropís, Euhemeros’ Panchaia und die „Sonneninseln des Nabatäers Iambulos, und auch die Sozialutopien der frühen Neuzeit lagen irgendwo in den Weltmeeren: Thomas Morus’ „Utopia , Tommaso Campanellas „Sonnenstaat , Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg . Das Mittelalter hatte nur das irdische Paradies, doch auch dieses wurde gerne als ein vollständig von Wassern umgebener und deshalb unzugänglicher Ort gezeigt. Dass Inseln als schwimmend gedacht wurden und deshalb nur schwer wieder aufzufinden waren (das 18. Jahrhundert sprach von „Flyaway Islands ), unterstrich noch den utopischen Charakter dieser Raumform. Man kannte eine ganze Menge von ihnen, die als äußerst merkwürdig galten, obwohl sie von kaum jemandem je betreten worden waren. Auch für das Mittelalter kann man von einer wahren „Insel-Manie sprechen,8 ohne deren Kehrseite zu übersehen: Das Inseldasein, zumal ein unfreiwilliges, konnte als öde, langweilig, gar als Gefangenschaft erscheinen. Auf eine einsame Insel verschlagen zu werden, wurde auch im Mittelalter als schlimmes Schicksal empfunden. In jedem Fall war es reizvoll, vom Fluch oder Segen einer insularen Lebensweise zu lesen und sich darüber belehren zu lassen, wo in aller Welt es die interessantesten Beispiele gab. „Inselbücher , Insularien hatten daher gute Aussichten, den Geschmack des Publikums zu treffen. Bis zum 17. Jahrhundert entstanden ungefähr 30 Werke, die der Gattung zugerechnet werden können. Sie knüpften an Buondelmontis Beispiel an und ehrten den Verfasser, indem sie hemmungslos bei ihm abschrieben. Autoren wie Benedetto Bordone (Libro de tutte l’isole del mondo, 1528), Alonso de Santa Cruz (Islario general de todas las islas del mundo, 1540 – 1560) oder André Thevet (Grand insulaire, um 1586) gingen aber insofern eigene Wege, als sie weit über die griechischen Inseln hinausschauten: auf westliches Mittelmeer und nördlichen Atlantik, auf Kanaren, Azoren und die Karibik, auch auf die östlichen Meere mit den mythischen Inseln Taprobane und Zipangu. Es war dann auch nicht mehr damit getan, genaue topographische Karten zu erstellen, sondern eine Weltkarte musste hinzukommen, auf der die vielen Eilande auch dann einen besonderen Platz erhielten, wenn man kaum etwas von ihnen wusste. Autopsie konnte niemand verlangen. Wie die Portulankarten ging die Kartographie der Inseln dazu über, die lokale zu einer globalen Perspektive auszudehnen. Und wie diese nahm sie mit der zunehmenden Entfernung ihres Gegenstands einen entsprechenden Verlust an Genauigkeit in Kauf.
Wie modern war die ptolemäische Geographie? Wenige Jahre vor dem Ende des 14. Jahrhunderts gelangte eine Abschrift der „Geographie des Klaudios Ptolemaios (Ptolemäus) nach Italien. Das Ereignis hatte so weitreichende Folgen für die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften in Europa, dass es als epochal gelten kann. Schon wenige Jahrzehnte später war umstritten, wer den meisten Anteil daran hatte. Es spricht jedoch alles dafür, dass Jacopo Angeli (Jacobus Angelus) aus dem Apenninenstädtchen Scarperia den entscheidenden Anstoß gegeben hatte und auch sonst sich die größten Verdienste erwarb. Gefördert durch den florentinischen Staatskanzler Coluccio Salutati war er nach Konstantinopel gereist, um seine Griechischkennt-
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nisse zu verbessern. Dort wurde er Schüler des byzantinischen Gelehrten Manuel Chrysoloras, dem er eine Einladung an die junge Florentiner Universität vermittelte. Denn in Florenz war man brennend daran interessiert, die griechischen Studien zu etablieren. Als Chrysoloras im Februar 1397 an seiner neuen Wirkungsstätte eintraf, wurde er wie ein Heilsbringer gefeiert. Auch sein Name Manuel /Emmanuel, d. i. „Gott mit uns , trug dazu bei. Jacopo Angeli begleitete seinen Lehrer und brachte auftragsgemäß einige griechische Handschriften mit, darunter wahrscheinlich die „Geographie des Ptolemäus. Chrysoloras lehrte nur wenige Jahre in Florenz, hinterließ aber bei seinem Weggang nach Pavia nicht nur eine Elementargrammatik des Griechischen als Frucht seines Wirkens, sondern auch eine unvollständige lateinische Übersetzung der „Geographie . Jacopo Angeli sprang ein, überarbeitete das Werk seines Lehrers und brachte es in langjähriger Arbeit – neben einer Tätigkeit an der römischen Kurie – zum Abschluss. Den Wert des Buches sah er darin, dass es eine maßstäbliche Vorstellung der Erdteile vermittle, dass es alle Orte exakt nach ihrer geographischen Länge und Breite verzeichne, dass es dazu anhalte, Welt- und Regionalkarten in ein proportionales Verhältnis zueinander zu bringen, und dass es eine Anleitung enthalte, wie man die Erdkugel auf eine Fläche projizieren könne. Er hob also die naturwissenschaftliche Genauigkeit der ptolemäischen Geographie hervor und sah den Verfasser als Mathematiker an. Allerdings ließ er dem Buch nicht seinen originalen Titel, sondern nannte es eine „Kosmographie . Die Erde stand auch für ihn noch im Zeichen der Gestirne. Klaudios Ptolemaios war dem lateinischen Mittelalter nicht unbekannt geblieben. Seit dem 6. Jahrhundert wird sein Name hier und da erwähnt, und durch die astrologischen Traktate des 13. Jahrhunderts konnte man erfahren, was von der „Geographie erwartet werden durfte. Doch erst mit Angelis Übersetzung stand ihr Text der gelehrten Welt voll und ganz zur Verfügung. Die Übersetzung der Karten erfolgte wenig später und wurde wahrscheinlich durch Niccolò Niccoli angeregt, der die antiken Autoren besser verstehen wollte und dazu ein geographisches Hilfsmittel brauchte. Damit begann jener Prozess, der als „Rezeption oder „Wiederentdeckung der ptolemäischen Geographie, als „ptolemäische Renaissance , als Übergang von der christlich geprägten Symbolkartographie des Mittelalters zu einem modernen „gradnetzorientierten Verortungssystem o. ä. bezeichnet wird.9 Man kann ihn als lang anhaltende Erfolgsgeschichte beschreiben. Die Rezeption folgte der Übersetzung auf den Fuß. Den Humanisten war das Werk nützlich, weil es ihre historischen und philologischen Studien ergänzte. Literaten schlachteten die Listen von Ortsnamen aus, um ihre Dichtungen an authentischen Schauplätzen spielen zu lassen. Sich auf Ptolemäus berufen zu können, machte nämlich auch beim breiten Publikum Eindruck. So viel zählte sein Name. In Frankreich, wo schon bald die ersten Handschriften auftauchten, entstanden gelehrte Debatten um die ptolemäische Geographie. In deren Mittelpunkt stand zum einen die Frage nach der Bewohnbarkeit aller Klimazonen, zum anderen der Vergleich des antiken Weltbilds mit dem der mittelalterlichen Weltkarten: Inwieweit war das eine mit dem anderen kompatibel? Auf welcher Seite und an welcher Stelle waren Korrekturen und Ergänzungen notwendig? Und bei allem Respekt: War die alte, neue Weltsicht wirklich so schlüssig und vollständig, wie sie vorgab? Nach Deutschland kam die ptolemäische Geographie etwas später, genauer: im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts. Sie erregte zunächst auch nicht flächendeckend Aufsehen, wurde aber an einem ausstrahlenden Zentrum, der sogenannten Wien-Klosterneuburger Schule, studiert. Dabei spielten die mathematisch-technischen Aspekte: Koordinaten, Entfernungen, Projektion eine größere Rolle als in Italien und Frankreich.
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8 Weltkarte der Ulmer Ptolemäus-Ausgabe von 1482.
Deutsche Kartographen waren schließlich auch maßgeblich an der Druckgeschichte des Werkes beteiligt. Hatte bis dahin eine wachsende Zahl von Handschriften für dessen Verbreitung gesorgt, so schwuren seit 1477 zahlreiche gedruckte Ausgaben das Publikum auf das Weltbild des Ptolemäus ein. Die Erstausgabe erschien in Bologna, basierte aber auf einem Exemplar, das Nicolaus Germanus, ein damals in Florenz ansässiger Deutscher, angefertigt hatte. Maßstäbe setzten die beiden Ulmer Ausgaben von 1482 und 1486, dann die römischen von 1507 und 1508, die Johannes Ruysch aus Köln mit einer neuen Weltkarte ausgestattet hatte, sowie die Neuausgaben von Straßburg 1513 und Basel 1540, die von Martin Waldseemüller respektive Sebastian Münster betreut wurden. Danach ging das Interesse allmählich zurück. Gerhard Mercator brachte noch einmal den „Klassiker 10 in aktualisierter Form heraus (1578), ging aber sonst seine eigenen Wege. Dass ihn sein Freund und Kollege Abraham Ortelius als den „Ptolemäus unserer Zeit bezeichnete,11 zeigt die epochale Bedeutung der „Geographie und die lang anhaltende Wertschätzung ihres Autors. Doch der Prozess der Rezeption verlief nicht so geradlinig, wie es der Flug über zwei Jahrhunderte erscheinen lässt. Es gab Verzögerungen, Einwände und auch Kritik an Ptolemäus oder dem Übersetzer. Schließlich war es das Weltbild der Antike, das die „Geographie
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vermittelte – bewunderungswürdig zwar, aber womöglich doch veraltet. Wer sich weniger für die griechisch-römische Vergangenheit als für die Gegenwart interessierte, fand in dem Buch nicht alles, was er suchte. Kardinal Guillaume Fillastre, einer der frühesten Anhänger des neuen Weltbilds, vermisste die Darstellung des europäischen Nordens. Er fügte deshalb seinem Exemplar eine Karte hinzu, die den Raum zwischen Grönland, Irland, Schottland und Skandinavien, also die Ostsee und den nördlichen Atlantik, erfasste. Spätere Editoren taten das Gleiche, indem sie jede Ausgabe mit einer wachsenden Anzahl neuer Regionalkarten (sogenannter tabulae modernae) anreicherten. Damit wurde das Weltbild des Ptolemäus sukzessive auf den Wissensstand des 15. und 16. Jahrhunderts gebracht. Das war eine Möglichkeit, mit den Unzulänglichkeiten und Lücken der ptolemäischen Geographie umzugehen. Fra Mauro, Laienbruder des Kamaldulenserkonvents San Michele auf Murano bei Venedig, schlug einen anderen Weg ein, nämlich den der Synthese. Schon bei den Zeitgenossen galt er als chosmographus incomparabilis, als „unvergleichlicher Kosmograph .12 Zwar lässt sich sein Lebenswerk nicht gut rekonstruieren, da er die von ihm verantworteten Karten nicht unterzeichnet hat. Aber als Leiter einer weit über Venedig hinaus bekannten kartographischen Werkstatt wurde er um 1450 von der portugiesischen Krone beauftragt, ein Bild der Welt nach dem aktuellen Stand des geographischen Wissens zu zeichnen. Dafür erhielt er auch Unterlagen aus Portugal, die ihn die Schifffahrten entlang der westafrikanischen Küste verfolgen ließen. Aber das Meiste erfuhr er aus Büchern, die ihm in Venedig und in seinem Kloster zur Verfügung standen, sowie in Gesprächen mit erfahrenen Seeleuten und weit gereisten Kaufleuten. Die „Geographie des Ptolemäus gehörte genauso dazu wie die Bibel und die kirchlichen Autoritäten, Portulankarten, Marco Polos Asienbeschreibung und andere Zeugnisse neueren Datums. Auftragsgemäß lieferte er die Weltkarte (vielleicht auch nur die Kopie einer bereits bestehenden) nach Lissabon, wo sie irgendwann verloren ging, möglicherweise im großen Erdbeben von 1755. Zum Glück blieb ein Exemplar in Venedig, das die Stürme der Jahrhunderte überstand und sich seit 1811 in der Biblioteca Nazionale Marciana befindet. Fra Mauros Weltkarte misst 196 x 193 cm, gehört also zu den größten Karten des Mittelalters, von denen wir wissen. Auch ihre kreisrunde Form, eingepasst in einen quadratischen Rahmen, stellt sie in die mittelalterliche Tradition. Allerdings ist sie nicht geostet, sondern gesüdet. Das entsprach arabischem Herkommen, kam aber im 15. Jahrhundert gelegentlich vor. Fra Mauro versuchte also, christliche und arabische Traditionen, die Genauigkeit der Portulane, das antike Weltbild und die Berichte von Seefahrern und Fernreisenden miteinander zu verbinden und aus all dem ein komplettes Weltbild zu gestalten. Den üppigen Raum nutzte der Verfasser nicht nur, um ihn mit Namen, Bildern und Symbolen auszufüllen, sondern auch um zu begründen, weshalb er sich für diese oder jene Darstellung entschied. Gerade die ptolemäische Geographie stand manchmal quer zu dem, was man aus anderen Quellen wusste. Nicht nur die Namen unterschieden sich völlig, sondern auch grundlegende Sachverhalte passten nicht zueinander. Alle ptolemäisch inspirierten Welt- und Asienkarten gaben den Indischen Ozean als geschlossenes Bassin, als Binnenmeer wieder. Asien und Afrika schienen durch eine Landbrücke verbunden. Doch die portugiesischen Seefahrer nahmen an, dass man von Süden her, also um Afrika herum, nach Indien fahren könne. Fra Mauro gab ihnen recht und zeichnete ein offenes Meer. Denn er vertraute den Praktikern und setzte im Zweifelsfall auf Augenzeugenschaft und Erfahrung (experientia). Ptolemäus selbst habe ja eingeräumt, dass sein Werk mit der Zeit veralte und
Wie modern war die ptolemäische Geographie?
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9 China auf Fra Mauros Weltkarte (Venedig, Bibl. Nazionale Marciana): Die von Marco Polo beschriebene Brücke wölbt sich über den Fluss Polisanchin, füllt scheinbar zur Hälfte Nordchina (Chataio) und lenkt den Blick des Betrachters auf Khanbaliq, die Hauptstadt des Großkhans.
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verbessert werden könne. Deshalb habe er, Fra Mauro, sich über Jahre bemüht, durch eigene Nachforschungen das Wissen der Alten zu überprüfen. Dabei ergab sich, dass deren Kenntnisse lückenhaft waren. Im Osten reichte die antike Weltkenntnis nur bis zu den zentralasiatischen Wüsten und der Hauptstadt der Serer. Der ganze Raum nördlich und östlich des Sererlands war für Ptolemäus eine Terra incognita geblieben. Fra Mauro schloss die Lücke auf seine Weise: Jenseits einer Linie, die durch ptolemäische Ortsnamen gebildet wird, sind Städte, Flüsse und Gegenden eingetragen, die größtenteils bei Marco Polo zu finden waren. Spektakuläre Höhepunkte stellten die Städte Chambalech (Khanbaliq /Dadu), Chansay (Quinsay /Hangzhou), Zaiton (Quanzhou) dar sowie eine weit gespannte, „wunderbare Brücke (ponte mirabile) mit angeblich 300 Bögen und 6000 Löwenfiguren auf ebenso vielen Säulen. Als sogenannte Marco-Polo-Brücke sollte sie in der Geschichte des 20. Jahrhunderts noch einmal – 1937 – eine Rolle spielen. In Wirklichkeit heißt sie Lugou Qiao, wurde gegen Ende des 12. Jahrhunderts errichtet und stellt bis heute ein Wunderwerk chinesischer Brückenbautechnik dar. Fra Mauro setzte sie in die Mitte einer Weltgegend, die Ptolemäus nicht kannte und die man trotzdem ins Kartenbild auf-
nehmen musste. Er tat das, indem er Marco Polos China gleich hinter das ptolemäische Asien platzierte, das eine zu dem anderen addierte. Asien erschien dadurch noch größer, als es ohnehin war. Ptolemäus wurde im 15. Jahrhundert als wissenschaftlicher Riese angesehen, und auch Fra Mauro schätzte sein Werk so hoch, dass er sich gern an ihm rieb und die Auseinandersetzung mit ihm suchte. Nur mit ihm lohnte der Streit. Aber man sah weiter, wenn man quasi auf seinen Schultern Platz nahm und das geographische Wissen der Antike um die Erkenntnisse des späten Mittelalters ergänzte. Die ptolemäische Geographie war modern in Anlage und Absicht, wurde jedoch in der Weite des Horizonts durch Weltreisende wie Marco Polo übertroffen.
Henricus Martellus Germanus alias Arrigho di Federigho Martello Fra Mauros Weltkarte gilt als „typisches Produkt der Übergangskartographie zwischen Mittelalter und Neuzeit.13 Sie steht eher am Ende als in der Mitte oder gar am Anfang einer Entwicklung. Doch das Verfahren, Marco Polo und Ptolemäus aufzuaddieren, schien auch anderen Kartenmachern einleuchtend. Wenige Jahrzehnte nach Fra Mauro (†1459), zwischen 1480 und 1496, war in Florenz ein Kartograph tätig, den die Forschung lange Zeit nur als Henricus Martellus kannte. Sein Beiname „Germanus ließ darauf schließen, dass er aus Deutschland stammte. Folglich glaubte man, die lateinische Namensform als „Heinrich Hammer ins Deutsche zurückübersetzen zu können. Ansonsten blieben seine Lebensumstände fast völlig im Dunkeln. Erst vor Kurzem konnten neue Quellenbestände erschlossen werden, die etwas mehr Licht auf die bemerkenswerte Karriere eines deutschen Migranten im Florenz der Hochrenaissance werfen. Henricus Martellus stammte aus Oberdeutschland, genauer: aus Nürnberg, nicht unbedingt aus der Reichsstadt selbst; auch ein Ort aus deren Umland kommt als seine Heimat infrage. Doch um seine Herkunft machte er zeitlebens ein Geheimnis, aus welchen Gründen auch immer. Er lebte 48 Jahre lang, von 1448 bis 1496, in Florenz und nannte sich zunächst ganz schlicht: Arrigho Federighi de Norimbergha de Alamania – „Heinrich, Sohn des Friedrich, aus Nürnberg in Deutschland (o. Ä.). Er gehörte als Bediensteter zum Haushalt der bedeutenden Patrizierfamilie Martelli, die bis 1478 zu den führenden Geschlechtern in der Stadt zählten. Deutsche Hausangestellte waren keine Seltenheit in Florenz, weil sie als fleißig und zuverlässig galten. Sie waren vielfältig einsetzbar und konnten auch anspruchsvolle Aufgaben übernehmen. So ähnlich scheint es Arrigo ergangen zu sein. Er bewährte sich im Dienst seiner Herren, konnte nebenher eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und unterhielt Kontakte zu humanistisch gebildeten Kreisen. Als er sein Testament schrieb, bedankte er sich rückblickend für „Wohltaten und Hilfen bei den Martelli.14 Gleichzeitig genoss er einiges Ansehen in der deutschen Gemeinde. Er fungierte als Urkundenzeuge, Bürge und Vertreter in Rechtssachen, so etwa für den oben erwähnten Nicolaus Germanus. 1470 /72 erhielt er den Auftrag, Giovanni Boccaccios Decamerone erstmals ins Deutsche übersetzen. Das Buch erschien 1476 /77 bei Lienhart Holl in Ulm. Doch Arrigo blieb nicht bei der schönen Literatur. Als nach der Verschwörung der Pazzi 1478 auch die Martelli von den siegreichen Medici abgestraft und in den Hintergrund gedrängt wurden, hielt er seinem Herrn die Treue. Und als dieser anfing, sich für Ptolemäus und die Kartographie zu interessieren, konnte Arrigo auch auf diesem Gebiet etwas leisten. Seine enge Beziehung zu Nicolaus Germanus zahlte sich nach dessen Tod aus. Er nannte sich von nun an Henricus Martellus und trat mit drei bedeutenden Kartenwerken hervor, die alle um 1490 fertiggestellt wurden:
Henricus Martellus Germanus alias Arrigho di Federigho Martello
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10 Auf der Weltkarte, die Henricus Martellus Germanus um 1489 / 90 seinem Insularium illustratum hinzufügte, sind die portugiesischen Entdeckungen entlang der afrikanischen Küste schon verzeichnet. Die Darstellung Asiens folgt einerseits der ptolemäischen Geographie, andererseits dem Bericht Marco Polos. Es ist das Weltbild, wie es Christoph Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas vor Augen stand (London, British Library, Additional MS 15760, fol. 68v – 69r).
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VI Die Vermessung der Welt
• Zu einer großformatigen Abschrift der „Geographie des Ptolemäus steuerte er die Bildtafeln bei. Vor allem die zwölf tabulae modernae enthalten viel Innovatives. Einige Länder wurden erstmals mit einer Regionalkarte bedacht. Besondere Mühe gab er sich mit der Darstellung Deutschlands. Man hat den Eindruck, dass sich seine Nürnberger Herkunft in der Sorgfalt niederschlug, mit der er den fränkischen Raum wiedergab. Die Weltkarte dagegen folgt dem ptolemäischen Muster und enthält nur wenig Originelles. Hier sah sich der Autor fast ganz der Tradition verpflichtet. • Auf der Grundlage von Cristoforo Buondelmontis Liber insularum archipelagi stellte Henricus Martellus ein neues Inselbuch mit Kartenbildern, ein Insularium illustratum, zusammen. Er folgte seinem Vorgänger, gehörte jedoch zu den Ersten, die sich nicht auf die griechischen Inseln beschränkten. Genaue Karten von Korsika, Sardinien, England, Irland u. a. m. kamen hinzu. In den meisten Fällen übernahm er die entsprechenden Bilder aus einer früheren oder der eigenen Ptolemäus-Ausgabe. Nur die Darstellung Zipangus als hinterindische Gewürzinsel voller Ebenholz- und Muskatnusswälder bleibt rätselhaft. Zumindest lässt sich kein kartographisches Vorbild erkennen. Die zugehörige Weltkarte ist insofern bemerkenswert, als sie das ptolemäische Weltbild geradezu aufbrach, die Umschiffbarkeit Afrikas konstatierte und – genau wie vorher Fra Mauro – den Osten Asiens um das China Marco Polos erweiterte.
• Noch einen Schritt weiter ging Henricus Martellus, als er um dieselbe Zeit eine großformatige Weltkarte als Wandkarte (180 x 120 cm) auf mehrere verschieden große Papierblätter aufmalte. In herzförmiger Projektion bezeugt sie die gleiche geographische Vorstellung wie die Weltkarte im Insularium illustratum, füllt aber den östlichen Ozean mit unzähligen Inseln. Es sind die 7448 Eilande, von denen Marco Polo erzählt hatte, mit Zipangu /Japan als größtem am äußersten Rand. Da die Karte mit Markierungen für die Längen- und Breitengrade umgeben ist und sie die Erdkugel darstellen sollte, konnte sich jeder Betrachter ausrechnen, dass es von Europa in westlicher Richtung bis in den Osten Asiens nicht mehr weit war. Henricus Martellus wollte ein genaues und vollständiges Bild der Welt präsentieren. Er bediente sich der kartographischen Darstellungsweisen, die ihm dafür am geeignetsten erschienen: Die ptolemäische Geographie stand für Verortung durch Koordinaten, Maßstäblichkeit und eine mathematisch exakte Projektion, die Inselkartographie für genaue topographische Ansichten. Das Format der Wandkarte erlaubte die Wiedergabe der Erdoberfläche als Panorama und im Detail. Dass sich daraus Widersprüche ergeben konnten, etwa weil die Traditionen der ptolemäischen Geographie zu berücksichtigen waren, nahm der Autor in Kauf. Ohnehin war er um ständige Verbesserung und Aktualisierung bemüht. Man hat sein kartographisches Œuvre als „work in progress bezeichnet.15 Insgesamt repräsentiert es den Stand des geographischen Wissens um 1490, also kurz vor der Entdeckung der Neuen Welt. Fast gleichzeitig entstand in Nürnberg der älteste erhaltene Erdglobus, gestützt auf die Angaben und Anweisungen des Kaufmanns, Seefahrers und Kosmographen Martin Behaim. Noch deutlicher als aus der Großkarte des Henricus Martellus geht aus dem „Erdapfel die Möglichkeit einer Westfahrt nach Ostasien hervor. Überhaupt fallen zahlreiche Übereinstimmungen auf. Man weiß, dass Henricus Martellus am Verkauf eines Erd- und eines Himmelsglobus aus dem Nachlass des Nicolaus Germanus mitwirkte. Gerne wüsste man, was auf dem Erdglobus stand. Ob aber eine Verbindung zur alten Heimat Nürnberg bestand und das kartographische Werk des Henricus Martellus bei der Herstellung des Behaim-Globus eine Rolle spielte, liegt völlig im Dunkeln. Auch das gehört zu den vielen Rätseln um seine Person. In jedem Fall zählte er zu denjenigen, die die Westfahrt über den Atlantik nicht als ein heilloses Unterfangen, sondern als realistische Alternative zur Afrika- und Indienfahrt der Portugiesen ansahen. Wenig später setzte Christoph Kolumbus in die Tat um, was die Berechnungen der Geo- und Kosmographen ihm nahegelegt hatten. Wie dieser wähnten auch Martin Behaim und Henricus Martellus den Osten Asiens in erreichbarer Nähe. Dass alles ganz anders kam und ein völlig unbekannter Kontinent – Amerika – im Weg lag, konnte keiner von ihnen wissen.
1
Taddey, Augenschein, S. 397.
2
Tony Campbell in: Harley /Woodward, History of Cartography 1, S. 392.
3
Buondelmonti, Descriptio, S. 177: tu qui cuncta noscis.
4
Reichert, Das Land der Griechen, S. 59ff.
5
Buondelmonti, Descriptio, S. 154.
6
Agostino Pertusi, Monasteri e monaci italiani all’Athos nell’alto Medioevo, in: Le Millénaire du Mont Athos 963 – 1963, Chevetogne 1963, Bd. 1, S. 250: regina sobrietas.
9
10
11 12 13
7
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV 6,1: … quod in salo sint, id est in mari.
14
8
Gillis, Islands, S. 23ff.: „medieval islomania“.
15
P. Gautier Dalché in: History of Cartography 3, S. 285ff., 299; Lelio Pagani in: Ptolemäus, Cosmographia, S. VII; Martina Stercken in: Wilhelm Dilich, Landtafeln hessischer Ämter zwischen Rhein und Weser 1607 – 1625, hg. von Ingrid Baumgärtner, M. Stercken und Axel Halle, Kassel 2011, S. 41f. Thomas Horst, Die Welt als Buch. Gerhard Mercator (1512 – 1594) und der erste Weltatlas, Gütersloh 2012, S. 90. Bagrow /Skelton, Meister der Kartographie, S. 106. Baumgärtner, Kartographie, S. 168. Ebd., S. 192. Böninger, Die deutsche Einwanderung, S. 323: benefitia et commoda. Böninger, Die deutsche Einwanderung, S. 348.
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VII
Die Erfahrung der Welt W
eltbilder beruhen auf kanonischen Texten, werden im Kartenbild festgehalten und gegebenenfalls durch die Erfahrung von Reisenden korrigiert. So sah der typische Fall aus, wie ihn etwa Fra Mauro sich vorstellte. Doch es ging auch anders. Arnold von Harff hat keine Karte hergestellt und – soweit man weiß – auch keine beeinflusst. Gleichwohl besaß er ein rekonstruierbares Weltbild. Die Zentren der christlichen Welt kannte er aus eigener Anschauung, den Rest durch Lektüre. Wie viele andere war er als Pilger unterwegs und teilte deren Erfahrung. Er legte diese Rolle aber extensiv aus und ließ es nicht mit einem oder zwei Pilgerzielen bewenden. Seine Erlebnisse waren daher repräsentativ und spektakulär zugleich. Darin liegt ihre Bedeutung. Da er nach seiner Heimkehr einen genauen Reisebericht verfasste, kann man seine Reise Schritt für Schritt, Pilgerziel für Pilgerziel verfolgen.
Vom Niederrhein in die Welt Bis vor wenigen Jahrzehnten konnte man Schloss Harff bei Bedburg an der Erft noch an der Stelle sehen, wo es um die Mitte des 14. Jahrhunderts erbaut worden war. Mehrfach ausgebaut, umgebaut und erweitert, wurde es 1972 gesprengt. Denn der Braunkohletagebau hatte damals unbedingt Vorrang. Auf Schloss Harff wurde 1471 Arnold als zweiter Sohn Adams von Harff und seiner Ehefrau Rikarda geboren. Die Familie gehörte zu den bedeutenden Adelsgeschlechtern im Herzogtum Jülich und verfügte über reichen Grundbesitz als Lehen oder Eigen. Auch ein Stadthaus im nahen Köln gehörte dazu. Im Dienst der Herzöge machte sie sich verdient. Arnolds Vater zum Beispiel war Landdrost, fürstlicher Rat und Amtmann zu Kaster. Er selbst erhielt eine standesgemäße Ausbildung und schrieb sich mit zwölf Jahren an der Kölner Universität ein. Er studierte in der Artistenfakultät die artes liberales (eine Art Propädeutikum), scheint aber keinen Abschluss angestrebt zu haben. Der Adel hatte dergleichen nie nötig. Immerhin beherrschte Arnold Latein und Französisch und verfügte auch sonst über eine gewisse Bildung. Im späteren Leben, auf Reisen und bei der Abfassung seines Reiseberichts war ihm das hilfreich. Zwar stand ihm als zweitgeborenem Sohn nur der geringere Teil des väterlichen Erbes zu. Doch die erhaltenen Urkunden lassen erkennen, wie vermögend er war. Er gehörte zum Gefolge der Herzöge von Jülich und Berg und füllte in deren Auftrag zunächst die Funktion eines Burgmanns aus. Seine gesellschaftliche Stellung geht auch aus einem Schreiben hervor, mit dem er zu einem scheißspill (will sagen: Schießspiel, Schützenfest) zu sich einlud.1
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Der Pilger Arnold von Harff empfiehlt sich dem Schutz der Heiligen Drei Könige in Köln (um 1500; Handschrift 268 der Abtei Maria Laach).
Nachdem er sich durch den Verkauf einer Erbrente und die Verpfändung von Ackerland das nötige Bargeld verschafft hatte, brach Arnold am 7. November 1496 von Köln zu seiner Reise auf. Eine pylgrymmacie, eine Pilgerfahrt, sollte sie werden. Er wollte also bei den Heiligen sein, an deren Reliquien beten, mit eigens zu diesem Zweck hergestellten Ringlein die geweihten Schreine berühren und dadurch etwas von deren Heil für sich gewinnen. Wenn es nur darum gegangen wäre, hätte er freilich auch in Köln bleiben können. Denn der Dreikönigsschrein im Chor des Doms war selbst Ziel einer weithin ausstrahlenden Wallfahrt. Mit Sicherheit hat auch Arnold als Erstes den Segen der Heiligen Könige erbeten und deshalb seine Pilgerfahrt in Köln angetreten. Doch er wollte in jedem Fall mehr und hätte sich auch nicht mit Aachen, wo doch überaus wertvolle Herren-, also Christusreliquien, aufbewahrt werden, Canterbury, Einsiedeln, Wilsnack oder anderen mehr oder weniger bedeutenden Wallfahrtszielen begnügt. Denn mit jeder Wallfahrt war die Gewährung von Ablässen, also der Er- oder Nachlass von zeitlichen Sündenstrafen, verbunden, und davon konnte man gar nicht genug haben. Die meisten Ablässe aber erhielt man, wenn man eine der drei großen Wallfahrten, der peregrinationes maiores, absolvierte: eine Wallfahrt nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela. Die wenigsten Pilger hatten Gelegenheit, alle drei heiligen Orte zu besuchen, und nur von einem weiß man, dass er das in einem Zug, auf einer einzigen Reise tat: Arnold von Harff. Neben den geistlichen spielten sicher auch weltliche Motive eine Rolle. Arnold war 25 Jahre alt, und Adlige seines Alters nutzten die Zeit vor Familiengründung und Amtsverpflichtungen, um das Abenteuer in der Ferne zu suchen. Weniger in Rom, aber auf den Straßen in Spanien und erst recht im Heiligen Land gab es so viele Bewährungsproben zu bestehen, dass man Ruhm und Ehre auf Reisen gewann. Gerade der ritterliche Adel legte Wert auf öffentliche Anerkennung und soziales Kapital. Schon dem jungen Adligen wurde nahegelegt, in die Fremde zu ziehen und als ein chevalier errant literarischen Vorbildern zu folgen. Das war ein Teil seiner Ausbildung. Denn für ihn galt: Qui plus fait, mieux vault - „wer mehr tut, ist mehr wert . Eine Fernpilgerfahrt zählte vielleicht nicht ganz so viel wie ein Kriegszug gegen die Heiden, aber ganz gewiss mehr als eine Hofesreise oder die Teilnahme an einem Turnier. Man konnte sich schützen, indem man die Reise nicht alleine, sondern in einer Gruppe unternahm. Auch Arnold hatte sich mit anderen Adligen verabredet. Doch die ließen ihn im Stich. Er konnte daher froh sein, sich bis Venedig zwei Kaufleuten anschließen zu dürfen. Überhaupt konnte er nur empfehlen, mit Kaufleuten zu reisen: „Sie kennen Sprachen und Wege; sie nehmen Geleit aus dem einen Land in das andere und sie gewähren einem sehr gute Gesellschaft. 2 Vielleicht kam schon dabei das Geistliche zu kurz. Aber Arnold hatte keine Probleme damit, trotz des Pilgerstatus, den er grundsätzlich beanspruchte, auch sehr weltliche Ziele zu verfolgen. In fast allen Sprachen, die er brauchte, lernte er den Satz: „Jungfrau, willst du mit mir schlafen? Man hat ihn deshalb einmal als „rheinischen Lebemann bezeichnet.3 Er selbst hätte wahrscheinlich darauf bestanden, dass geistliches Anliegen und weltliche Existenz einander nicht völlig widersprechen müssen, zumal nicht auf einer so abenteuerlichen Reise, wie er sie unternahm.
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Roma caput mundi Kein Deutscher hätte Italien als fernes, unbekanntes Land bezeichnen können. Zu vielfältig waren seit Langem die Kontakte, zu häufig die wechselseitigen Besuche. Man kannte die Wege und die räumlichen Dimensionen. Hätte Arnold noch ein paar Jahre gewartet, hätte er Erhard Etzlaubs „Romwegkarte benutzen können. Er hätte sich von den Alpenpässen den geeignetsten aussuchen können und wäre exakt informiert gewesen, wie weit der Weg war. Dass die Karte gedruckt und danach mehrfach aufgelegt wurde, zeigt an, wie oft sie gebraucht wurde. Denn auf ihr, im Selbstverständnis der Rompilger und in der Praxis der katholischen Kirche führten alle Wege nach Rom. Und doch gab es eine reale und mentale Schranke, symbolisiert durch die Alpen. Kein Italiener überquerte sie gerne. Die Steilheit der Anstiege, die Enge der Täler, die Schroffheit der Landschaft – das alles wurde als bedrohlich empfunden. Und dahinter lebten jene „Barbaren , vor denen die antiken Autoren Angst hatten und noch Petrarca sich sorgte: „Gut hat’s die Natur für uns ersonnen, / als sie Alpenketten / zwischen uns und deutschen Grimm gebaut .4 Deutsche Reisende gingen von anderen Voraussetzungen aus. Aber auch ihnen stellte sich die Überquerung eines Alpenpasses als unkalkulierbares Wagnis dar, vor allem wenn man vom Niederrhein kam. Arnold Heymerick aus Kleve, nur wenige Jahrzehnte früher nach Italien unterwegs, hätte seinem Namensvetter erzählen können, unter welch abenteuerlichen Umständen er den Großen St. Bernhard überquerte. Hatte man glücklich das Gebirge überwunden, war man in „Welschland und musste mit den „Welschen zurechtkommen. Ab Trient wurde Italienisch gesprochen, für die meisten deutschen Reisenden ein Problem. Ob Arnold von Harff seine Lateinkenntnisse etwas nützten, wissen wir nicht. Es war auch nicht unbedingt nötig; denn seine Begleitung, die sprachkundigen Kaufleute, konnten notfalls aushelfen. Außerdem konnte man allenthalben auf örtliche Unterstützung zurückgreifen: Kaufleute in Venedig, Handwerker in Florenz, Geistliche in Rom – überall gab es Landsleute, die Unterkünfte vermittelten, Führungen organisierten und hilfreiche Informationen bereithielten. Sie alle sorgten dafür, dass den deutschen Reisenden die Erfahrung der Fremde nicht erspart, aber eingegrenzt wurde. Was blieb, war das Staunen. Arnold von Harff lernte Italien kennen, als es sich auf einem Höhepunkt seiner kulturellen Bedeutung befand. Das 19. Jahrhundert erfand dafür den Begriff der Renaissance. Denn der Anschluss an die verehrte Antike war das erklärte Ziel von Literaten, Künstlern, Baumeistern und überhaupt allen, die über Vergangenheit und Gegenwart räsonierten. Arnold machte keinen Unterschied zwischen antiken, mittelalterlichen und modernen Bauwerken. Die Arena in Verona und die Markuskirche in Venedig ließen ihn ebenso staunen wie der Marmorfußboden im Dom zu Siena, der Palast des Stadtherrn von Bologna, der Tiergarten der Herzöge von Urbino oder Verrocchios Reiterstandbild des Condottiere Bartolomeo Colleoni in Venedig. Es wird ihn nicht gestört haben, dass in jeder größeren Stadt eine andere Herrschaft regierte. Dafür gab es auch in Deutschland genügend Beispiele. Aber dass sich jede Signoria als kulturelles Zentrum präsentierte, machte ihm Eindruck. Am meisten galt das für die Signoria des Papstes, am meisten galt das für Rom. Es gab mehrere gute Gründe, die Stadt Rom zu besuchen. Grundlage ihrer Bedeutung im christlichen Mittelalter war das Wirken der Apostel Petrus und Paulus bis zu ihrem Märtyrertod. Kein anderes der frühen Patriarchate konnte dergleichen vorweisen. Vor Kon-
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stantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem stand Rom in der sogenannten Pentarchie der alten Kirche daher stets ein Ehrenvorrang zu. Die Wallfahrt zu den Gräbern der beiden Apostel (ad limina apostolorum) setzte in der Spätantike ein und wurde durch den Erwerb weiterer Reliquien und die Gewährung von Ablassprivilegien an die römischen Kirchen kontinuierlich attraktiver. Als schließlich das erste Heilige Jahr ausgerufen und der Abstand zwischen den Jubiläen immer weiter verkürzt wurde, kamen so viele Pilger nach Rom, dass auf der Engelsbrücke erstmals eine Verkehrsregelung (zugunsten des Rechtsverkehrs) erlassen werden musste. Unfälle ließen sich trotzdem nicht immer vermeiden. 200 Menschen sollen allein am 19. Dezember 1450 erdrückt worden oder in den Fluten des Tibers ertrunken sein. Vor allem in Heiligen, aber auch in normalen Jahren drängten sich die Pilger bei den sieben Hauptkirchen, beteten bei den Reliquien der Heiligen und strichen die ihnen verheißenen Ablässe ein. Auch Arnold von Harff berichtet davon und macht glaubhaft, wie sehr ihm an den Heilsmitteln der römischen Kirche gelegen war. Erst im Nachhinein kamen ihm Zweifel: Nachdem ihm die Grabstätten von Sankt Matthias und Sankt Hieronymus nicht nur in Rom, sondern auch in Padua bzw. Bethlehem gezeigt worden waren, wurde er unsicher. Auch eine Tafel, mit der Moses auf dem Berg Horeb die Zehn Gebote empfangen haben soll, schien ihm verdächtig. Doch wollte er sich kein Urteil anmaßen. Gott selbst solle über die „Irrtümer der Pfaffen entscheiden.5 Die gleiche Mischung aus Kirchenfrömmigkeit und verhaltener Kritik legte Arnold angesichts der Zustände an der römischen Kurie an den Tag. Er erlebte das Rom Alexanders VI. aus der Familie Borgia (Borja), dessen Name bis heute wie kein anderer für das verweltlichte Papsttum der Renaissance steht. Arnold hörte von den skandalösen Verhältnissen in der Familie des Papstes: vom Kardinalat des ältesten Sohnes Cesare, vom Mord an dessen Bruder Juan und den ungeklärten Umständen dabei, von Alexanders einziger Tochter Lukrezia, der inzestuöse Beziehungen zum eigenen Vater nachgesagt wurden. Von anderem schwieg er, weil es „christlichen Leuten nicht bekannt sein sollte . In Rom habe er „viele unsägliche Dinge gesehen, die „wider den christlichen Glauben waren .6 Trotzdem blieb er der Kirche und dem Papsttum in Treue verbunden. Über sein eigentliches Romerlebnis konnte er sich ohnehin nicht beklagen. Er hatte das Glück, die Karwoche (die Settimana Santa) in der Heiligen Stadt zu verbringen, und genoss – dank guter Beziehungen – das Privileg, die kirchlichen Feiern aus nächster Nähe zu erleben. Er durfte dem Papst den rechten Fuß küssen und wurde bei der Messe am Ostersonntag in die vorderste Reihe geschoben. Als angemessene Mischung aus Prunk und Demut empfand er die kirchlichen Rituale. Auch der Ausritt des Papstes mit seinem bewaffneten Gefolge gab ihm nicht Anlass zu kritischer Distanz, sondern zu andächtigem Staunen. „Alles war sehr ordentlich , wie er meinte.7 Arnold von Harff erlebte Rom als die kirchliche Mitte der Welt. Roma caput mundi regit orbis frena rotundi: „Rom, das Haupt der Welt, hält die Zügel des Erdkreises straff in der Hand – so hieß es seit 1033 in eingängigem Versmaß auf den kaiserlichen Bullen, und die alte Vorstellung vom Weltnabel auf dem Forum Romanum wurde durch den Zentralismus des spätmittelalterlichen Papsttums erneuert. Dorthin schauten alle Christen, und jedermann, der etwas von der Kurie wollte: ein Privileg oder eine Pfründe, eine Dispens oder eine gerichtliche Entscheidung, musste dorthin. Auch das war ein guter Grund, Rom aufzusuchen. Arnold brauchte eine Genehmigung, um ins Heilige Land fahren zu können. Denn dieses befand sich in muslimischer Hand, die Reise dorthin war verboten. Er erhielt die Erlaubnis und konnte sein nächstes Pilgerziel ansteuern.
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Der Sinai, Tor zu einer weiteren Welt In aller Regel führte der Weg nach Jerusalem über Venedig. Häfen wie Marseille, Genua oder Brindisi kamen viel seltener, der Landweg so gut wie gar nicht mehr infrage. Nur Venedig verfügte sowohl über die Erfahrung als auch über die erforderliche Infrastruktur, um Jahr für Jahr große Mengen von Pilgern aufzunehmen, mit allem Nötigen auszustatten und heil über das östliche Mittelmeer zu befördern. Sie konnten sich aussuchen, ob sie mit einem geräumigen, aber schwerfälligen „Transporter (galea grossa) oder lieber mit einem wendigen, dafür teureren „Schnellboot (galea subtilis) reisen wollten, schlossen mit einem von der Kommune lizenzierten Patron einen Vertrag und fanden auf den Märkten der Stadt all das, was sie unterwegs brauchten: frische und haltbare Lebensmittel, lebende Hühner und einen Korb dazu, Töpfe und Tiegel, Gewürze und Wein, Malvasier vor allem; eine Matte aus Stroh und eine Decke aus Baumwolle, Seife, Medikamente und Schweißtücher, Quecksilber und Öl gegen die Läuse; eine Truhe für alle Habseligkeiten, einen Schnappsack für den Proviant, einen Kübel mit Deckel, der bei Seegang als Brechkübel, ansonsten als Nachtstuhl dienen konnte. Sogar Toilettenpapier (babyr zu ars wüsch) gab es zu kaufen.8 Die Überfahrt dauerte vier bis sechs Wochen und war – von einigen neuralgischen Punkten und gleichbleibenden Problemen abgesehen – relativ sicher. Die Route führte zunächst an der dalmatinischen Küste entlang zur Peloponnes, in einer Art „island-hopping nach Kreta, Rhodos und Zypern, von dort dann zum Heiligen Land. Es waren ausgetretene Pfade, vielfach befahren, vielfach erprobt. Dass Arnold es dagegen vorzog, von Rhodos aus über Alexandria zuerst den Sinai aufzusuchen, ist ungewöhnlich, vielleicht sogar merkwürdig. Doch wir müssen es ihm glauben. Immerhin handelte es sich um ein Pilgerziel von überragender Bedeutung. Denn es erinnerte an die frühe biblische Geschichte, an die Flucht des Volkes Israel aus Ägypten, seine wunderbare Errettung vor den Verfolgern und seine 40-jährige Wanderung kreuz und quer durch die Wüste, schließlich und vor allem an den Bund, den Gott mit dem Gottesvolk schloss, als er die Zehn Gebote an Moses übergab. Zuvor hatte er sich diesem in Gestalt eines brennenden Dornbuschs offenbart. Dessen Überreste wurden im Mittelalter als Gottesreliquie verehrt. Während die Wallfahrt nach Jerusalem an das Leben und Leiden Jesu Christi, des Gottessohns, erinnerte, war die Wallfahrt zum Sinai eine Wallfahrt zu Gott. Darin lagen ihr besonderer Reiz, ihre Bedeutung und ihr Kern. Der Sinai galt als der Ort, „wo die Herrlichkeit Gottes niedergestiegen ist (2. Mose 24,16), und war deshalb im Weltbild des Mittelalters immer präsent. Kein Kartenmacher wollte auf das Rot des Roten Meeres verzichten, und die Darstellung des gehörnten Moses, wie er die Gesetzestafeln erhielt (so zum Beispiel auf der Hereford-Karte), erinnerte den Betrachter an die Wurzeln des christlichen Glaubens. Es erinnerte ihn aber auch daran, wie viel davon auf dem Judentum aufbaute. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich eine zweite, ausschließlich christliche Tradition an den Sinai knüpfte: Der unversehrte Leichnam der heiligen Katharina von Alexandria soll (nachdem sie in einer der römischen Christenverfolgungen die Freuden des Martyriums erlitten hatte) von einem Engel dorthin gebracht und auf einem anderen Gipfel des zentralen Gebirgsstocks niedergelegt worden sein. So stand es in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine, und Katharina sollte zu einer der populärsten Heiligengestalten des Mittelalters werden, zur Schutzpatronin der Philosophen, Advokaten, Studenten, Wagner und Scherenschleifer, der Waffenschmiede, Töpfer und Näherinnen, der Ehefrauen, Nonnen und heiratslustigen jungen Mädchen, schließlich auch der Universität in Paris. Auch auf den Karten schob sie sich in den Vordergrund und ließ niemand anderen neben sich gelten. Selbst Moses hatte auf Dauer keine Chance gegen sie.
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Die Wallfahrt auf den Sinai hatte also gleich mehrere Höhepunkte zu bieten, und wenigstens insofern war auch Arnolds Pilgererlebnis ganz typisch. Am besten nahm man im Kloster der heiligen Katharina am Fuß des Mosesbergs Quartier. Denn dort befanden sich seit dem 10. oder 11. Jahrhundert die Gebeine der heiligen Jungfrau. Das Kloster wurde um 550 von Kaiser Justinian gegründet und überstand sogar die Eroberung Ägyptens durch die Muslime. Der Prophet Mohammed soll ihm eigenhändig einen Schutzbrief ausgestellt haben. Wahrscheinlich handelte es sich um eine fromme Fälschung, die dem Kloster seine Existenz garantierte. Griechische Mönche kümmerten sich um die Reliquien, betreuten die Pilger und pflegten die angeblichen Reste des brennenden Dornbuschs in einer eigenen Kapelle. Zu Arnolds Zeit war er schon eingegangen. Dennoch betrat man den Ort so barfüßig, wie Gott es von Moses verlangt hatte (2. Mose 3,5). Die Gebeine der heiligen Katharina durfte man mit Gegenständen berühren. Sie rochen vorzüglich. Von dort führten laut Arnold 1200, in Wirklichkeit viel mehr aus dem Granit herausgehauene Stufen auf den Mosesberg, den biblischen Horeb. Fromme Legenden rankten sich um die heiligen Stätten, die den Weg in großer Zahl säumten. Nach einem mühsamen Abstieg und einem neuerlichen Anstieg, der sich über fünf Stunden hinzog, gelangte man zum Gipfel des Katharinenbergs, wo der Engel den Leichnam der Heiligen abgelegt hatte. Eine frauengroße Vertiefung erinnerte daran. Hier erhielt jeder Pilger „vollkommenen Ablass von Strafe und Schuld .9 All das war mit vielen Mühen und Leiden verbunden. Die Steinwüste, in der Knochenhaufen die Karawanenroute markierten, hat ein niederrheinischer Landsmann Arnolds das „Elend von Sinai genannt; denn „auf diesem Gebirge wächst weder Laub noch Gras, und es hat eine Farbe wie ein verbrannter Berg .10 Im Katharinenkloster musste man mit den griechischen Mönchen auskommen; die aber waren vielen Pilgern als orthodoxe Schismatiker verhasst. Und den Aufstieg zu Mosesberg und Katharinenberg fanden die meisten so beschwerlich wie der Ulmer Dominikaner Felix Fabri, der eine rohe Skizze davon zeichnete. Gefühlte Steilheit kommt auf ihr zum Ausdruck.
2 Arnolds Pilgerfahrt zum Sinai: Mosesberg und Katharinenberg auf der Katalanischen Weltkarte (1375; Paris, Bibl. Nationale, Ms. espagnol 30).
3 Mosesberg und Katharinenberg in Felix Fabris Evagatorium (um 1488; Ulm, Stadtbibliothek, Ms. 19555 [2], fol. 51v).
Doch die Mühen wurden doppelt und dreifach belohnt: • Reichlich Ablass bedeutete geistlichen Lohn. Die Reliquien gaben etwas von ihrer heilsamen Kraft ab. Und wer sich in die Kuhle auf dem Katharinenberg legte, wusste sich der Heiligen ganz nah. • Die adligen Pilger (wie Arnold von Harff) hatten eine Probe ihres Rittertums gegeben und trugen Ehre und Ansehen davon. Sie durften sich als Ritter der heiligen Katharina bezeichnen und die Zeichen ihres Martyriums, Rad und Schwert, ihrem Wappen hinzufügen. Einige ritzten ihren Namen oder Wappenschild in das spätantike Holzportal der Klosterkirche oder in die Wände des Speisesaals ein.
Der Sinai, Tor zu einer weiteren Welt
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• Vom Katharinenberg aus sah man weit in die Ferne, „fünf, sechs Tagereisen weit .11 So klar ist dort die Luft. Arnold sah den Hafen al-Tu¯r, wo sogar Schiffe mit Gewürzen aus Indien anlegten, und er wusste, dass dahinter Arabien lag, Mekka, Saba und noch entlegenere Orte. Er nutzte die Gelegenheit, die Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen, und erzählte von einer weiteren Pilgerreise, die er aber nie absolvierte. Die Weltkenntnisse, die er dabei ausbreitete, hatte er sich allein durch das Studium von Büchern und Karten angeeignet. Er war ein belesener Mann.
Vom Thomasgrab in Indien zu den Quellen des Nils
4 Arnolds angebliche Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Thomas in Indien: Der Apostel hält sein Zeichen, das Winkelmaß des Architekten, in der Hand (Handschrift 268 der Abtei Maria Laach).
Ziel dieser angeblichen Reise sei das Grab des Apostels Thomas in Südindien gewesen. Tatsächlich wird bis heute im indischen Bundesstaat Tamil Nadu im Stadtteil Mylapore (Mailapur) der Hauptstadt Madras das Grab des Heiligen mit einem Teil seiner Reliquien verehrt. Die Legende besagt, er sei von Jesus Christus nach Indien geschickt worden, um dort den christlichen Glauben zu verbreiten. Als er sich weigerte, habe ihn der Herr an einen König der Inder Gundaphoros (Gondophares) verkauft, der einen Baumeister suchte. Thomas habe aber nicht den gewünschten Palast errichtet, sondern alles Geld an die Armen verteilt und für deren jenseitiges Leben gesorgt, indem er sie zum christlichen Glauben bekehrte. Nach einigem Hin und Her habe der König den Nutzen eines solchen unsichtbaren Palasts eingesehen und sich gleichfalls taufen lassen. Später sei der Apostel nach Südindien gegangen und habe dort das Martyrium erlitten. Die Legende war auch in Europa bekannt. Auf Altarbildern wurde Thomas gerne mit dem Winkelmaß des Architekten gezeigt. Kaufleute, Missionare oder andere Reisende, die nach Südindien kamen, suchten daher das Grab des Heiligen auf und beteten an ihm. Marco Polo nahm sogar etwas rote Erde von dort mit; denn mit Wasser verrührt, helfe sie „bei allen Krankheiten .12 Ihm wie auch anderen Besuchern erschienen die „Thomaschristen als ein exotischer Farbtupfer am fernen Rand der Ökumene, der die Omnipräsenz des Christentums unter Beweis stellte. Nur wenigen war bewusst, dass die südindischen Christengemeinden seit dem 4. Jahrhundert zur Ostsyrischen, im lateinischen wie im orthodoxen Europa als „nestorianisch verketzerten Kirche gehörten. Wer wie Odorico da Pordenone davon einen Begriff hatte und als Geistlicher auf die Unterschiede Wert legte, nannte die Kirche des heiligen Thomas „voll von Götzenbildern , erbaut von „nichtsnutzigsten Häretikern .13 Arnold ließ sich von dergleichen nicht anfechten, sondern habe die Kirche überaus prächtig gefunden, das „mit Edelsteinen und Perlen verzierte Grab des Apostels bewundert und dem Heiligen seine Reverenz erwiesen.14 Allerdings habe der (fiktive) Priester Johannes einen Teil der Reliquien nach Edessa entführt. Arnolds – nennen wir die Dinge beim Namen – fingierte Reise zum Grab des heiligen Thomas führte von einem geographischen Mythos zum nächsten. Einen ersten Höhepunkt hatte sie in Mekka, wo ihm – angeblich – der Sarg des Propheten „über der Erde gezeigt wurde.15 Mohammed wurde zwar nicht in Mekka, sondern in Medina bestattet. Aber in Europa glaubte man fest daran, dass sich sein Sarg, durch Magneten auf magische Weise in der Schwebe gehalten, in der den Muslimen heiligen, Christen verbotenen Stadt Mekka befinde. Arnold von Harff wäre der erste Christ dort gewesen; aber seine Erzählung zeigt, dass er über keinerlei eigene Ortskenntnis verfügte, sondern nur ein europäisches Stereotyp
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5 Mekka auf der Arabischen Halbinsel mit der angeblichen Grabstätte Mohammeds und dessen auf magische Weise durch Magneten in der Schwebe gehaltenen Sarg (Atlas Miller, um 1519; Paris, Bibl. Nationale, Cartes et Plans, Rés Ge DD 683, fol. 2r [Ausschnitt Arabien]).
kolportierte. Über Saba und Aden gelangte er – angeblich – nach Sokotra im Indischen Ozean, wo man ihm von einer Insel der Frauen und einer anderen, wo nur Männer lebten, erzählte. Arnold brachte damit den Amazonenmythos in Verbindung, wusste, dass man den Frauen eine Brust abschnitt, damit sie besser mit Pfeil und Bogen hantieren konnten, und will auch zwei von ihnen zu Gesicht bekommen haben. Bei der Überfahrt über den Indik sah er einen „Meerdrachen („Leviathan genannt) mit einem Walfisch kämpfen und schrammte hart an Magnetbergen vorbei. In Indien konnte man nicht nur die „Götzendiener beim „Götzendienst beobachten, sondern auch weiße Löwen, weiße Elefanten, weiße Meerkatzen und anderes fremdartiges Getier in Augenschein nehmen. Taprobane (Ceylon) wurde seit der Antike und so auch von Arnold in seinem Umfang maßlos überschätzt.16
Vom Thomasgrab in Indien zu den Quellen des Nils
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Nicht weniger spektakulär sollte die Rückreise ausfallen. Denn Arnold von Harff ließ es sich nicht nehmen, eine andere Route als bei der Hinreise einzuschlagen und auf diese Weise noch weiteren Wundern und Merkwürdigkeiten zu begegnen. Auf einer indischen Insel fand man Menschen mit Hundsköpfen, im Ozean kämpften „Meerochse und „Meerkuh miteinander, auf Madagaskar ging Arnold den Geheimnissen des Pfefferanbaus und der Pfefferernte auf den Grund.17 Schließlich war das ein Thema, für das man sich in Europa schon immer interessierte. In Ostafrika schließlich wollte er auch noch erkunden, wo der Nil seinen Ursprung hatte. Schon die antiken Geographen hatten sich darüber den Kopf zerbrochen, eine Expedition unter Kaiser Nero war gescheitert. Im Mittelalter galt der Nil als einer von vier Paradiesflüssen. Arnold glaubte einen Begriff davon zu haben, wo die anderen drei flossen, und setzte sich mit den Vorstellungen der mittelalterlichen Kosmographen auseinander. Die Entstehung des Stroms erklärte er sich mit den starken Regenfällen in den sogenannten Mondbergen, die er durchwandert haben will. Die vielen „lieblichen Quellen, die er dort angeblich fand, identifizierte er mit den „richtigen Quellen des Nils .18 Zweifler beschied er mit der entschiedenen, aber unverfrorenen Versicherung, dass er alle Quellbäche abgeschritten habe. Das hat er sicher nicht getan; doch seine Erklärungen basierten auf einem Weltbild, das nicht leicht widerlegt werden konnte. Nur war es nicht seines, und es stellt sich die Frage, woher er es hatte. Nilabwärts, über Äthiopien, Meroë und Syene (Assuan), kam Arnold wieder nach Ägypten. In Kairo endete seine Rundreise durch halb Asien und Afrika. Dass sie fingiert war, wurde der Forschung klar, sobald sie sich mit dem Reisebericht intensiver befasste. Erst recht als man die Quellen identifizierte, auf die der Verfasser sich stützte, geriet seine Glaubwürdigkeit ins Wanken. Vieles stammte von Marco Polo, dessen Buch seit 1477 nicht mehr nur handschriftlich, sondern auch gedruckt vorlag. Über Sankt Thomas konnte man sich in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine informieren. In Afrika half Ptolemäus. Was das Buch über Mohammed, die Amazonen oder den Priester Johannes enthält, konnte der Verfasser dem populären Volksglauben entnehmen und musste er nirgendwo abschreiben. Wahrscheinlich besaß er auch eine Karte des Henricus Martellus, auf der die Gegend um die Mondberge detailliert dargestellt war. Sie ging aber verloren, und man kann nur vermuten, wie sie aussah – ein weiteres Rätsel um einen rätselhaften Kartographen. Reisende lügen: Auch Arnold von Harff scheint die Richtigkeit eines alten Urteils zu belegen. Doch der Satz trifft nur teilweise zu. Wie in vielen anderen Fällen von Reiseliteratur dienten die erfundenen Partien vor allem dazu, den Text farbiger werden zu lassen und das Panorama zu komplettieren. Der weitaus größere Teil basierte auf eigener Erfahrung. Außerdem hat die Fiktion ihren eigenen Reiz. Gerade jener Abschnitt gibt zu erkennen, was der Autor von der weiten Welt jenseits des eigenen Erlebens wusste und dachte.
Ferne Mitte Jerusalem In Kairo schloss sich Arnold von Harff einer Mamlukentruppe an und erreichte endlich Jerusalem, sein – wenn wir ihm glauben können – eigentliches Ziel. Jedenfalls war es das wichtigste Pilgerziel, das er sich vornehmen konnte. Jahr für Jahr trafen Hunderte von christlichen Pilgern im Heiligen Land ein, um an den heiligen Stätten in Jerusalem und seiner Umgebung zu beten. Sind die bloßen Zahlen schon bemerkenswert genug, so tritt die Bedeutung der Vorgänge noch deutlicher hervor, wenn man die persönlichen Beschwernisse, zeitlichen Einbußen, finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken für die
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6 Zwanzig Jahre nach seiner Heiliglandreise (1521) ließ Ottheinrich von Pfalz-Neuburg zwei monumentale Wandteppiche anfertigen. Sie sollten die abenteuerlichen Geschehnisse dokumentieren und so der fürstlichen Repräsentation dienen. Das in München aufbewahrte Stück zeigt im Vordergrund die Zeremonie des Ritterschlags am Heiligen Grab, dahinter die christlichen Gedenkstätten in Jerusalem und im Heiligen Land (München, Bayerisches Nationalmuseum). Das Gegenstück in Neuburg a. d. Donau behandelt den Konflikt bei der Abreise des jungen Pfalzgrafen von Jaffa.
Teilnehmer bedenkt. Die Wallfahrt nach Jerusalem stellt ein herausragendes und zudem üppig dokumentiertes Beispiel organisierter Mobilität im späten Mittelalter dar. Ihre beste Zeit lag im 14. und mehr noch im 15. Jahrhundert. Dass sie so lange und weitgehend ungestört funktionieren konnte, lag einerseits an den traditionell guten Beziehungen Venedigs zum Nahen Osten, andererseits an der pragmatischen Toleranz des Mamlukensultanats in Ägypten. Als es unter den Schlägen osmanischer Glaubenskrieger zusammenbrach (1517) und gleichzeitig die reformatorische Theologie den Sinn des Wallfahrtswesens untergrub, waren den organisierten Heiliglandfahrten die Grundlagen entzogen. Der Verlauf war eigentlich immer der gleiche: Venezianische Schiffe brachten die Pilger nach Jaffa an der Küste von Palästina. Dort wurden sie vom Guardian des Franziskanerklosters auf dem Berg Zion in Jerusalem empfangen und über alles Weitere, vor allem über die Herausforderungen des Alltags, Grundregeln des Verhaltens und mögliche Probleme, informiert. Den Transport nach Jerusalem besorgten muslimische Eseltreiber, mit denen sich die Pilger mehr oder weniger gut stellten. Für ihre Sicherheit garantierten die mamlukischen Behörden, die ein Geleitkommando abstellten. Trotzdem kam es schon auf dem Weg nach Jerusalem, dann in der Heiligen Stadt selbst und schließlich besonders heftig kurz vor der Abreise im Hafen von Jaffa immer wieder zu Konflikten mit den Muslimen. Schläge, Schimpfworte, Spottrufe und Sachbeschädigungen waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Daran konnten auch die Franziskaner nichts ändern, die die Pilger führten, betreuten und für deren Unterbringung sorgten. Höhepunkt ihres Aufenthalts war zweifellos der dreimalige Besuch der Grabeskirche, der den Adligen den Ritterschlag am Heiligen Grab und die Würde eines Grabesritters
Ferne Mitte Jerusalem
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7 Arnolds Pilgerfahrt nach Jerusalem: Die Stadtansicht von 1486 zeigt die heiligen Stätten, die alle Jerusalempilger besuchten: Grabeskirche, Kalvarienberg, Via Dolorosa, Felsendom, den Garten Gethsemane, das Haus des Pilatus, das Haus des Hannas u. a. m. (Karlsruhe, Bad. Landesbibl., St. Peter pap. 32, fol. 35v – 36r).
eintrug. Aber auch die anderen heiligen Stätten (wie etwa das „Haus des Pilatus und der Palast des Herodes, das Mariengrab und der Garten Gethsemane, der Ort des Letzten Abendmahls und die Stätte, wo die Jünger an Pfingsten den Heiligen Geist empfingen) wurden voller Inbrunst und mit der steten Aussicht auf Ablass besucht. Der Rundgang führte regelmäßig über die Via Dolorosa zum Stephanstor, von dort durch das Tal Josaphat zum Ölberg, dann am Teich Siloah und am Friedhof Hakeldamah vorbei zum Berg Zion zurück. Ausflüge nach Bethphage, Bethanien, natürlich Bethlehem und an den Jordan wurden ebenfalls organisiert. Allerdings galt das Bad an der Stelle, wo Jesus getauft worden war, als gefährlich, nicht nur wegen der trüben Fluten des Jordans, in denen der eine oder andere Pilger ertrank, sondern mehr noch wegen der Araber, die sich dort herumtrieben. Manchmal wurde der Ausflug gestrichen. Insgesamt blieb man selten länger als eine Woche in der Heiligen Stadt. Man kann sich vorstellen, wie dicht gedrängt das Programm ausfiel. Alles in allem stellte sich das Wallfahrtserlebnis den christlichen Pilgern als intensive, strapaziöse und auch teure Erfahrung dar. Eine Redewendung besagte, dass jeder Jerusalemfahrer drei Säcke mitbringen müsse, „einen gefüllt mit Glauben, einen voll mit Geld, einen dritten gefüllt mit Geduld .19 Von diesem üblichen Muster unterschied sich Arnolds Pilgerfahrt in mancherlei Hinsicht. Denn er kam nicht von Jaffa, sondern von Kairo nach Jerusalem und hatte schon
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einige Erfahrungen im Umgang mit den Einheimischen gemacht. Er gehörte deshalb auch nicht zu einer Gruppe von Pilgern, sondern scheint nur von seinem Dolmetscher, einem Mamluken, und einem Mönch aus St. Truiden begleitet worden zu sein, als er die zahllosen heiligen Stätten besuchte. Der eine erklärte ihm die Bedeutung der Orte, der andere ermöglichte ihm den Zugang auch zu jenen Gedenkstätten, die den meisten anderen Christen verschlossen blieben: die Annenkirche, die vor langer Zeit in eine Koranschule umgewandelt worden war, die al-Aqsa-Moschee, die Arnold mit Marias Schule gleichsetzte, das Goldene Tor (Porta Aurea), von dem er viele Holz- und Kupferstücke abschnitt, und der Felsendom, den er besonders eindringlich inspizierte. Auch Geld, Trinkgeld, Bakschisch, spielte eine Rolle. Indem er allein bzw. in Begleitung eines Einheimischen auftrat, hatte Arnold von Harff bessere Möglichkeiten als jeder Gruppentourist, die Heilige Stadt zu erkunden. Man hat den Eindruck, dass er sich mit den Muslimen nicht schlecht verstand, vielleicht besser, als er offen zugeben konnte. Keinen Unterschied gab es zwischen Arnolds Glaubenserlebnis und dem jedes anderen frommen Besuchers der Heiligen Stadt. Schließlich nahmen alle Pilger die beschriebenen Strapazen in Kauf, um auf den Spuren Jesu Christi zu wandeln, Gutschriften für ihr künftiges Seelenheil zu verbuchen und ein paar Devotionalien oder sogar Kontaktreliquien mit nach Hause zu bringen. Nichts anderes tat Arnold von Harff, als er in Bethlehem die Geburtskirche, in Jerusalem die Golgathakapelle besuchte und auf der Höhe des Ölbergs noch die beiden Fußabdrücke von Christi Himmelfahrt ansehen konnte (der linke kam später in die al-Aqsa-Moschee). Indem er die Entfernungen zwischen den einzelnen Gedenkstätten Schritt für Schritt ausmaß, machte er sich ein genaues Bild vom Schauplatz der Passion. Überall gab es Ablass, und wenn es (wie beim Haus des reichen Mannes) einmal keinen gab, dann war er enttäuscht. Auch er nahm Reliquien mit, doch ob und wie er das viele Holz und Kupfer, das er vom Goldenen Tor abschnitt, sicher nach Hause brachte, wissen wir nicht. Den Ritterschlag ließ er sich gerne erteilen. Auch Arnold stand unter der Vierung im griechischen Katholikón der Grabeskirche und wusste sich in der Mitte der Welt.20 Nur befand sie sich nicht mehr in christlichem Besitz, sondern war in weite Ferne gerückt. Gerade in Jerusalem musste der lateinische Christ hinnehmen, seine Ansprüche nicht nur mit Muslimen und Juden, sondern auch mit den anderen christlichen Konfessionen, mit Griechen, Georgiern, Jakobiten, Kopten, Melkiten und Armeniern zu teilen. Wer die Heilige Stadt nicht nur zum Beten besuchte, für den war die Welt sowohl weiter als auch komplizierter geworden.
Am Ende der Welt Arnolds großzügig angelegte Fernreise von Pilgerziel zu Pilgerziel setzte sich fort. Von Jerusalem zog er zum Berg Tabor (dem Berg der Verklärung), nach Nazareth und Damaskus, wo Saulus zu Paulus bekehrt worden war. Ein Bad im Jordan, um Christi Taufe zu imitieren, nahm er unterwegs mit. In Beirut hielt er sich die (in der Legenda aurea breit ausgeführte) Legende von Sankt Georg vor Augen, also desjenigen Heiligen, in dessen Namen er am Heiligen Grab zum Ritter geschlagen worden war, weil dieser als Schutzpatron namentlich der Kreuzfahrer galt. Auch dort gab es Ablass, nicht dagegen in Konstantinopel /Istanbul, wo sich Arnold mehrere Wochen aufhielt. Denn dort fand man nur noch zerstörte christliche Kirchen oder solche, die von den osmanischen Eroberern zu Moscheen umgewidmet worden waren. Der große Reichtum an Reliquien, den etwa noch Wilhelm von Boldensele um 1335 hatte bestaunen können, war längst in alle Himmelsrichtungen verstreut.
Am Ende der Welt
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In Venedig schließlich entschloss sich Arnold, nach Spanien, zum Jakobusgrab in Santiago de Compostela, weiterzuziehen. Auch diese Reise lohnte sich doppelt, nämlich geistlich wie weltlich. In Mailand konnte man die Überreste des heiligen Kirchenvaters Ambrosius, in Saint-Antoine (en-Viennois) die Gebeine des ersten Einsiedlers Antonius sehen (anders als in Arles, wo die falschen gezeigt wurden). Seit deren Überführung im 11. Jahrhundert und dank des segensreichen Wirkens des Antoniterordens im Kampf gegen das sogenannte Antoniusfeuer (eine gangränöse Erkrankung der Gliedmaßen aufgrund einer Mutterkornvergiftung) hatte sich dort ein attraktives Wallfahrtszentrum entwickelt. Am Ziel in Santiago entschädigte der „unversehrte Leichnam , das corpus integrum, des älteren Jakobus für die Mühen und Strapazen, die die weite Reise in den äußersten Nordwesten Spaniens mit sich brachte. Diese wiederum wurden zu den weltlichen Verdiensten gerechnet, die den jungen Adligen als Ritter qualifizierten. Die Wallfahrt nach Santiago war bei Weitem nicht so traditionsreich und auch theologisch nicht so bedeutsam wie die nach Rom oder Jerusalem. Sie basierte auf der „Entdeckung der heiligen Gebeine im damaligen Königreich Asturien nahe der galicischen Küste, wohin es sie nach dem Tod des Apostels verschlagen haben soll. Zunächst blieb die Wirkung des Kults auf die Iberische Halbinsel beschränkt. Die Reconquista wurde im Namen Santiagos des „Maurentöters (matamoros) vorangetrieben. Doch schon um 930 ist der erste Besucher von jenseits der Pyrenäen belegt, und binnen weiterer 200 Jahre wurde die Wallfahrt zum Jakobusgrab ein Phänomen von europäischer Bedeutung. 1078 wurde mit dem Neubau der Kathedrale begonnen, und wenige Jahrzehnte später entstand mit dem Liber Sancti Jacobi ein erster Pilgerführer, der konkrete Wegbeschreibungen und Ratschläge mit Ausführungen zur Kultgeschichte vereinigt. Seitdem stand die Wallfahrt nach Santiago in mehr oder weniger offener Konkurrenz zu den beiden anderen peregrinationes maiores. Von der römischen unterschied sie sich dadurch, dass sie schwieriger, also verdienstreicher war, und anders als die zum Heiligen Land konnte sie notfalls auch zu Fuß, also von fast jedermann absolviert werden. Sie galt als Wallfahrt der armen Leute. Manche Pilger bestritten sogar durch Betteln ihren täglichen Aufwand. Der „Jakobsbettler wurde notorisch und gehörte zu den problematischen Begleiterscheinungen der Wallfahrt. Aber auch in den zahlreichen Herbergen und Hospizen, die das immer dichter werdende Netz der Jakobswege säumten, konnte man betrogen und bestohlen, auf den Straßen überfallen und ausgeraubt werden. Zumal im Spätmittelalter, als die Wallfahrt besonders florierte, waren die Wege nach Santiago alles andere als sicher. Arnold von Harff fiel bei Burgos unter die Räuber. Ganz Spanien nannte er ein böses Land, schlimmer als die Türkei.21 Die Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus sei „wie geschaffen für Gesindel, das bei uns zu Lande gestohlen, Totschlag verübt, seine Herren ruiniert oder verraten hat .22 Auch mit dem Pilgerbetrieb am Ziel seiner Reise konnte sich Arnold nicht anfreunden. Wie Hieronymus Münzer aus Nürnberg, der wenige Jahre vor ihm dort war, stellte sich ihm die Frage nach der Echtheit der Reliquien. Denn schon in Toulouse hatte man ihm das Grab des älteren Jakobus gezeigt. Welches war nun das richtige? Wo war der „wahre Jakob zu finden? Die Antwort, die er in Santiago erhielt (wer zweifle, müsse „verrückt werden wie ein tollwütiger Hund ),23 half ihm nicht weiter. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, seine Wallfahrt durch einen Ausflug nach Kap Finisterre (galicisch: Cabo Fisterra) zu komplettieren und vielleicht sogar deren Sinn neu zu definieren. Denn dort – acht spanische Meilen westlich von Santiago – konnte man nicht nur die Steinplatte bestaunen, die den Leichnam des heiligen Jakobus nach Spanien gebracht haben soll, und einen 9 Meter langen Monolith bewegen, mit dem die Jungfrau Maria ihm nachgefolgt sei, um den glücklosen Apostel zu trösten; dort ließ sich außerdem die Endlichkeit des mensch-
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8 Regelmäßig wurde die Wallfahrt nach Santiago de Compostela mit einem Ausflug nach Kap Finisterre beschlossen. Sebastian Ilsungs illustrierter Bericht von 1446 beschreibt den Blick auf das „große wilde Meer“ am „Ende des Erdreichs“ und das steinerne Schiff der Jungfrau Maria, „das größte Wunder, das ich auf der Reise gesehen habe“ (London, British Library, Additional MS 14326).
lichen Daseins erfahren. Weiter führte kein Weg mehr, da gab es „nichts außer Himmel und Wasser .24 Die Trockenheit und Ödnis im Hinterland, auch die Erzählungen von wilden, unbekannten Tieren verstärkten noch den Eindruck des Endes. Man hörte von der unsäglichen Hitze auf dem Ozean und wusste, dass menschliches Wissen begrenzt blieb. Arnold gebrauchte zwar die verballhornte Namensform, wie sie sich bei deutschen Pilgern festgesetzt hatte, und sprach vom „Finsteren Stern . Doch als lateinkundiger Pilger wusste er sicher, was finis terrae bedeutet: „das Ende der Welt .
Heimkehr und Gedächtnis Wenn eine Reise gelingt, endet sie in der Heimat. Dann kann der Reisende Bilanz ziehen, vielleicht ein Buch schreiben und den Daheimgebliebenen seine neu erworbene Weltsicht erklären. Von Spanien aus reiste Arnold zügig nach Norden. Auf dem Mont-Saint-Michel legte er einen kürzeren, in Paris einen längeren Aufenthalt ein. Dort gedachte er des Kampfes, den Sankt Michael mit Luzifer ausfocht, hier, in Sainte-Chapelle und Saint-Denis, gab es erneut viel Heiltum zu sehen. Einiges davon (ein Dorn von der Dornenkrone, der Schwamm, mit dem Jesus am Kreuz getränkt worden war, etwas von der Rute des Moses, Partikel vom Heiligen Kreuz u. a. m.) wird ihn an seine Aufenthalte in Jerusalem und auf dem Sinai erinnert haben. Gerne hätte er auch das Purgatorium des heiligen Patrick in Irland besucht. Doch diese Pilgerfahrt musste er auf später verschieben. Nach zweijähriger Abwesenheit traf er wieder am Dreikönigsschrein in Köln ein. Danach führte er ein standesgemäßes, eher sesshaftes Leben und widmete sich der Verwaltung seiner Güter. Er wohnte auf Gut Nierhoven bei Lövenich und gebrauchte den Titel eines Erbkämmerers im Herzogtum Geldern. Gleichwohl blieb er dem Herzogshaus Jülich-Berg eng verbunden. Das geht vor allem aus der Vorrede seines Pilgerbuchs hervor, das er Herzog Wilhelm IV. und seiner Ehefrau Sibylla dedizierte. Ihnen zuerst hat er erläutert, was er von der Welt gesehen hatte, was er von ihr wusste. Man kann von einem Weltbild in schriftlicher Form sprechen. Das Buch enthält eine Unzahl geographischer Namen, und indem der Verfasser fast immer die Entfernungen zwischen den Orten in Meilen oder Tagesreisen angab, erhielt der Leser einen Eindruck von den Dimensionen der beschriebenen Reise. Selbst dort, wo er schwindelte und ganze Wegstrecken erfand, wollte Arnold exakt sein. Durchweg nannte er sich einen Pilger, der von Pilgerziel zu Pilgerziel wallte. An
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jedem von ihnen konnte man heilige Stätten besichtigen, die Überreste heiliger Männer oder Frauen berühren und etwas für sein Seelenheil tun. Die Apostelgräber in Rom, das Heilige Grab in Jerusalem, Thomas in Indien, Katharina auf dem Sinai, Jakobus in Santiago, Antonius in Saint-Antoine, Matthias in Rom oder Padua: Die ganze Welt schien von einem Netz christlicher Grabstätten und Wallfahrtsorte überzogen, und jeder fromme Pilger konnte von deren Heilsversprechen etwas abhaben. Arnold hatte die Zentren der Christenheit (Rom, Jerusalem, Konstantinopel) kennengelernt und (zum Teil) auch ihre Ränder: Sinai, Mylapore, Santiago /Finisterre. Die christliche Ökumene bildete den Rahmen, an dem sich sein Weltbild orientierte.
9 Grabstein Arnolds von Harff in der katholischen Pfarrkirche zu Lövenich (1505).
Gleichzeitig konnte er von der Vielfalt der Völker berichten. Griechen, Kroaten, Türken, Araber, Basken, Gascogner, Albaner, Bretonen – sie alle unterschieden sich in Sprache und Schrift, Sitten und Unsitten, Verhalten und Aussehen. Arnold gab nicht nur Eindrücke von seinen unterschiedlichen Gastgebern wieder, sondern versah den Text seines Buchs auch mit Sprach- und Schriftproben, die die Situation des Reisenden illustrieren. Bei den sieben Alphabeten konnte er sich auf Vorlagen stützen. Doch die neun Sprachproben (Kroatisch, Albanisch, Griechisch, Arabisch, Hebräisch, Türkisch, Ungarisch, Baskisch, Bretonisch) sind originell. Auch bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als belastbare Belege geographischer Erfahrung. Sie spannen einen räumlichen Horizont auf, der von Spanien im Westen, und der Bretagne im Norden bis Ägypten im Süden, im Osten bis Palästina und Kleinasien reichte. Nur von seiner fingierten Reise nach Indien konnte er keine Sprachprobe bieten. Doch als er einmal seine Erinnerungen an fremde Frauen rekapitulierte, bezog er auch diese Weltgegend mit ein: In Mailand habe er die schönste, in Venedig die prächtigste, in Köln die stolzeste, aber in Indien an der Koromandelküste die „allerschwärzeste gesehen.25 Sogar auf diesem Feld war er kundig, zumindest interessiert. Im sechsten Jahr nach seiner Heimkehr, 1504, segelte Arnold von Harff in den Hafen der Ehe. Margaretha von dem Bongart war eine gute Partie. Doch schon wenig später, am 21. Januar 1505, starb der Ehemann. Die Geburt seiner Tochter erlebte er nicht mehr. Wahrscheinlich wurde er in Lövenich bei Erkelenz begraben. Doch das ist nicht sicher. Nicht das Grab, nur der Grabstein blieb erhalten. Er zeigt die halbplastische Gestalt des Verstorbenen in ritterlicher Rüstung, unter den Füßen einen Hund als Zeichen adliger Treue, der aber leicht für einen Löwen gehalten werden kann. Den Kopf umgibt ein Spruchband mit Arnolds Namen und dem Jahr seines Todes. Ringsum sind 32 Ahnenwappen mit (nur zum Teil erhaltenen) Beischriften angeordnet, die die verwandtschaftlichen Verbindungen des Toten dokumentieren. Auf zwei rechteckigen Feldern rechts und links des Kopfes sind acht ritterliche Zeichen untergebracht, die an Arnolds große Reise erinnern. Vom Betrachter aus rechts stehen die westlichen, links die östlichen Pilgerziele. Die gekreuzten Petersschlüssel mit der Papstkrone darüber stehen für die römische Wallfahrt, und der Pilgerstab mit Flasche verweist
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auf Santiago. Darunter sind der Kampf des Erzengels Michael mit Luzifer (Mont-SaintMichel) und die Glocke der Antoniter unter dem Taukreuz (Saint-Antoine) zu sehen. Bei den östlichen Zeichen fehlt überraschenderweise das fünffache Jerusalemkreuz, das die fünf Wunden Christi symbolisiert. Mehr schlecht als recht wird es durch ein Patriarchenkreuz ersetzt, das sich vielleicht auf Arnolds Aufenthalt in Konstantinopel bezieht. Rad und Schwert standen ihm als Sinaipilger und Katharinenritter zu. Auch andere adlige und patrizische Wallfahrer legten darauf besonderen Wert. Der unförmige Klumpen daneben meint den Drachen, den St. Georg bei Beirut erstach. Auch das Winkelmaß des Apostels Thomas durfte nicht fehlen. Schließlich steht es für das weiteste und exotischste Ziel, also für den vielleicht abenteuerlichsten und ruhmreichsten Teil von Arnolds Reise. Über den Tod hinaus wurde sein angeblicher Aufenthalt in Indien betont. Das anspruchsvolle Grabmal geht vielleicht auf letzte Wünsche des Toten zurück. Wahrscheinlich aber wurde es von den Erben konzipiert, die alles für bare Münze nahmen, was in seinem Pilgerbuch steht. Das Grabmal zeigt einen Ritter, der durch seine Reisen, die tatsächlichen wie die fingierten, geistliche Verdienste und weltliche Ehre erworben hatte. Es zeigt einen weit gereisten, einen welterfahrenen Mann.
1
Heinz-Gerd Schmitz, St. Sebastianus-Schützenbruderschaft Königshoven 1496 – 1996, Dormagen 1996, S. 11.
2
Groote, S. 4; Brall-Tuchel /Reichert, S. 37.
3
Klaus Herbers /Robert Plötz, Nach Santiago, S. 210.
4
Petrarca, Briefe, Schriften, hg. von Hanns Wilhelm Eppelsheimer, Frankfurt a. M. 1980, S. 54.
5
Groote, S. 17; Brall-Tuchel /Reichert, S. 49: der paffen eirronge.
6
Groote, S. 36f.; Brall-Tuchel /Reichert, S. 66f.
7
Groote, S. 33: allet seer ordentlich.
8
Hans Stockars Jerusalemfahrt 1519 und Chronik 1520 – 1529, hg. von Karl Schib, Basel 1949, S. 61.
9
Groote, S. 227; Brall-Tuchel /Reichert, S. 150.
10
Hans von der Grubens Reise- und Pilgerbuch 1435 – 1467, hg. von Max von Diesbach, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 14 (1896), S. 97 – 151, hier S. 144.
11
Groote, S. 227; Brall-Tuchel /Reichert, S. 150.
12
Marco Polo, ed. Barbieri, c. 109, S. 346; Übers. Guignard, S. 326: omnibus egris potantibus illam terram.
13
Odorico da Pordenone, c. X 6 (Sinica Franciscana 1, S. 442; Übers. Reichert, S. 55): ecclesia … plena ydolis multis, nequissimi haeretici.
14
Groote, S. 141; Brall-Tuchel /Reichert, S. 163.
15
Groote, S. 134: boeuen der erden; Brall-Tuchel /Reichert, S. 156.
16
Groote, S. 135ff., 143f., 139f.; Brall-Tuchel /Reichert, S. 157ff., 164ff., 161.
17
Groote, S. 144ff.; Brall-Tuchel /Reichert, S. 166ff.
18
Groote, S. 150: rechte oirsprunge van deme Nijl; Brall-Tuchel / Reichert, S. 171.
19
Anna Paoletti (Hg.), Viaggio a Gerusalemme di Pietro Casola, Alessandria 2001, S. 171f.: uno saco di patie[n]tia, uno saco de dinari e uno saco de fede.
20
Groote, S. 174: mitz in der werlt; Brall-Tuchel /Reichert, S. 194.
21
Groote, S. 230; Brall-Tuchel /Reichert, S. 230.
22
Groote, S. 234; Brall-Tuchel /Reichert, S. 249.
23
Groote, S. 233: vnsynnich werden wie eyn raesen hunt; BrallTuchel /Reichert, S. 248.
24
Johann Andreas Schmeller (Hg.), Des böhmischen Herrn Leo’s von Rozˇmital Ritter-, Hof- und Pilger-Reise durch die Abendlande 1465 – 1467. Beschrieben von zweien seiner Begleiter, Stuttgart 1844, S. 177.
25
Groote, S. 217f.: aller swartzte; Brall-Tuchel /Reichert, S. 232.
Heimkehr und Gedächtnis
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VIII
Neue Welten in Übersee B
is 1995, kurz vor Einführung des Euro, war Sebastian Münster einer der prominentesten Deutschen. Sein Porträt zierte den Hundertmarkschein und ging so durch nahezu jedermanns Hände. Auch wer nicht den Namen des Porträtierten wusste, kannte doch zumindest das Gesicht. Zu sehen war ein würdiger Herr mit ernsthaftem Ausdruck, Falten auf der Stirn und grauen Haaren unter der Kopfbedeckung, ein Mann in fortgeschrittenem Alter, aber auf dem Höhepunkt seiner Geltung. Dazu passt seine Kleidung: ein schwarzes Barett, ein weißes Hemd mit fein gefälteltem Kragen sowie ein schwarzer Überrock mit Pelzbesatz. Das Original in der Gemäldegalerie der Berliner Staatlichen Museen nennt den Namen des Porträtierten, sein Alter: 65 Jahre und wann das Bild entstand: Anno 1552, nicht aber den Künstler. Erst aus einem Inventar von 1616 geht dessen Name hervor: Christoph Amberger (um 1505 – 1562) gehörte zu den angesehensten deutschen Porträtisten seiner Zeit und führte in Augsburg das künstlerische Wirken seiner Vorgänger Hans Holbein d. Ä., Ulrich Apt d. Ä. und Leonhard Beck kongenial fort. Vor allem die Wünsche führender Augsburger Bürger wurden von ihm bedient. Doch auch sonst war ihm Wertschätzung sicher. Ein Bildnis Kaiser Karls V. trug ihm nicht nur materiellen Lohn, sondern außerdem das kaiserliche Lob ein, dass selbst Tizian es nicht besser gekonnt hätte.
Vom Bauernjungen zum Professor Das alles zusammen: der Rang des Künstlers, die Qualität des Porträts und dessen Wirkung bis in die Geldgeschichte der Bundesrepublik Deutschland unterstreichen die Bedeutung Sebastian Münsters in seiner Zeit und darüber hinaus. Das war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Münster kam nicht aus ganz einfachen, aber doch aus kleinen Verhältnissen. Der Vater, Andreas Münster, war Wein- und Obstbauer in Ingelheim am Rhein, und der kleine Sebastian, 1488 geboren, erlernte die Techniken des Weinbaus, des Maischens, Kelterns und Gärens, zu Hause im elterlichen Betrieb. Damit kannte er sich lebenslang aus. Noch Jahrzehnte später – da war er schon Professor in Basel – konnte er sich und seine Familie mit selbstgezogenem Wein versorgen. Von der Mutter wissen wir nicht einmal den Namen, und auch die Zahl der Geschwister ist nicht bekannt. Nur ein Bruder Hans wird von Münster erwähnt. Doch es ist ganz unwahrscheinlich, dass es keine weiteren Kinder gab. Die Eltern konnten sich Nachwuchs leisten. Denn Weinbau bedeutete einen gewissen Wohlstand. Wer einen Weinberg besaß, konnte am Weinhandel teil-
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1 Christoph Amberger, Sebastian Münster (1552; Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie).
nehmen. Wein aber war ein beständig nachgefragtes Gut, als Messwein wie zum Konsum. Konjunkturelle Krisen kannte der Weinhandel nicht, und natürliche Einbrüche machten die Ware noch teurer. Münsters Eltern konnten deshalb über den Tag hinausdenken und die Erziehung ihrer Kinder befördern. Der Vater selbst muss eine gewisse Bildung besessen haben. Nebenher amtierte er als Spitalmeister in Ingelheim, und dazu brauchte man ausreichende Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch mit Sebastian hatten die Eltern mehr vor. Er wurde in jungen Jahren beim Ortspfarrer zur Schule geschickt und lernte Latein. Mit den antiken Autoren machte er frühe, für sein ganzes Leben nützliche Bekanntschaft. Seine spätere Laufbahn als Hochschullehrer, Wissenschaftler und Autor basierte auf den Grundlagen, die in Ingelheim gelegt wurden. Dankbar setzte er seiner Vaterstadt ein Denkmal, indem er sie in seinem Hauptwerk, der „Kosmographie , über den grünen Klee lobte und dem „Flecken Ingelheim – mit seiner immerhin reichen Geschichte, aber wenig rühmlichen Gegenwart – mehr Raum zugestand als den Städten Koblenz, Trier oder Metz. Mit 17 Jahren verließ Münster die vertraute Umgebung, um ein Universitätsstudium aufzunehmen. Damit begann eine akademische Wanderschaft, eine peregrinatio academica, die ihn zunächst nach Heidelberg, dann nach Löwen, von da nach Freiburg im Breisgau und
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schließlich nach Rufach (Rouffach) im Elsass, in das dortige Franziskanerkloster führen sollte. Schon in Heidelberg war er in den Franziskanerorden eingetreten, um materielle Sicherheit und ausreichend Muße für seine Studien zu finden. Nach Rufach wurde er geschickt, um diese zum Abschluss zu bringen. Hatte er sich zunächst mit den Sieben Freien Künsten und von diesen vor allem mit dem sogenannten Quadrivium, bestehend aus Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, beschäftigt und danach seine Sprachkenntnisse um Griechisch und Hebräisch erweitert, so wandte er sich schließlich immer entschiedener der Geographie zu. Seine Lehrer in Freiburg und Rufach, der gelehrte Kartäuser Gregor Reisch, Verfasser der ersten gedruckten Enzyklopädie in Deutschland (Margarita philosophica 1503), und der Hebraist Konrad Pellikan, Münsters eigentlicher Mentor, hatten ihm dazu die entscheidenden Anstöße gegeben. Außerdem wusste er, dass im nahen Saint-Dié in den Vogesen ein Kreis von Humanisten und gelehrten Kartographen, gefördert durch Herzog René II. von Lothringen, sich vorgenommen hatte, alle verfügbaren Nachrichten aus fernen Ländern zusammenzutragen und ein neues Bild der Welt zu entwerfen. Münster las gierig die Berichte der Seefahrer und lernte eifrig die hebräische Sprache. „Ungewöhnlichen Eifer und Fleiß bescheinigte Pellikan seinem Schüler.1 Doch auch in Rufach blieb Münster nicht lange. Über Pforzheim und Tübingen, wo er erstmals selbst unterrichtete und gleichzeitig kosmographische Vorlesungen bei Johannes Stöffler besuchte, sowie ein erstes Basler Intermezzo gelangte er schließlich nach Heidelberg auf einen Lehrstuhl für Hebräisch. Ein Holzschnitt in einem von ihm verfassten Kalendarium Hebraicum mit der immerhin ältesten Ansicht der Stadt sowie heute der Sebastian-Münster-Brunnen auf dem Karlsplatz erinnern daran. Doch nur wenige Jahre später, 1529, verließ Münster Heidelberg und folgte einem Ruf an die Universität Basel. Im selben Jahr war dort die Reformation eingeführt worden, und auch Münster sympathisierte mit dem neuen Glauben. Am Oberrhein meinte er, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen finden zu können. Sein Heidelberger Kollege, der Gräzist Simon Grynaeus, war schon vorher nach Basel gezogen und hatte ein Beispiel gegeben. Die Universität brauchte beide, einen Gräzisten und einen Hebraisten, weil die Heilige Schrift nur noch im Original studiert werden sollte. Münster trat also aus dem Franziskanerorden aus und tat das, was auch die Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon (den er aus Tübingen kannte) getan hatten: Er heiratete und gründete eine Familie. Das Gehalt, das er mit dem Basler Rat ausgehandelt hatte, lag deutlich über den Heidelberger Einkünften und reichte für ihn und die Seinen vollkommen aus. Seine Lehrverpflichtungen hielten sich in Grenzen, beschränkten sich auf den Sprach- und Grammatikunterricht und ließen ihm viel Freiraum. Auch der Lehrstuhl für alttestamentliche Theologie, den er 1542 zusätzlich übernahm, scheint ihn nicht über die Maßen belastet zu haben. Stets fand er Zeit und Muße für seine wissenschaftlichen Studien und Publikationen. Als er im Jahr 1552 wahrscheinlich an der Pest starb, hinterließ er ein umfangreiches literarisches Werk, das seinen Namen weit über die Grenzen des Alten Reichs hinaus bekannt gemacht hatte. Münsters Profession waren die hebräischen Studien. Ein Großteil seiner Werke war diesem Gegenstand gewidmet. Er schrieb hebräische Grammatiken und Wörterbücher, kommentierte Teile des Alten Testaments und gab Schriften jüdischer Gelehrter heraus. Mit all dem wurde er seinen Verpflichtungen als Professor für Hebräisch gerecht. Doch seine Passion, seine Leidenschaft galt zeitlebens der Geographie und deren Veranschaulichung, der Kartographie. Einmal bezeichnete er die Geographie als eine „lustige Kunst ,2 und er meinte damit die Lust, die er selbst an ihr hatte. Insgesamt sind 187 Orts-, Regional- und Weltkarten von seiner Hand erhalten geblieben. Während des Studiums war sein Interesse geweckt worden, in Rufach lebte er nahe bei einem Zentrum der geographischen For-
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schung, und aus der Tübinger Zeit blieb sein Kollegienbuch erhalten, in das er Karten von Erhard Etzlaub, Martin Waldseemüller und aus dem Ulmer Ptolemäus von 1482 akkurat kopierte. Als Professor in Heidelberg veröffentlichte er die ersten eigenen Karten, darunter eine Darstellung des „Heydelberger becircks auff sechss meilen beschriben , in der er Augenzeugenschaft mit topographischer Genauigkeit verband. In Basel sollten weitere, nun deutlich anspruchsvoller konzipierte Vorhaben folgen. Außerdem durfte er dort seine Kennerschaft in ein Großprojekt einbringen, das die ganze Welt in den Blick nahm.
Typus Cosmographicus Universalis Kartographie stellt eine besonders kompakte und in hohem Maße abstrakte Form der Weltbeschreibung dar. Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine möglichst große Zahl von Reiseberichten zusammenzutragen, aus deren Summe sich ein mehr oder weniger lückenloses Bild der Welt ergibt. Ansätze dazu gab es schon im späten Mittelalter, nachdem eine verstärkte Reisetätigkeit den geographischen Horizont der Europäer deutlich erweitert hatte. Erst recht im sogenannten Entdeckungszeitalter, als ständig neue Nachrichten über ferne Länder nach Europa gelangten, drängte sich der Gedanke geradezu auf, die sprunghaft vermehrten Weltkenntnisse durch die Sammlung von Reiseberichten zu dokumentieren und die Dokumentation nicht nur dem gelehrten, sondern auch dem allgemeinen Publikum im Druck zur Verfügung zu stellen. Geographische Texte galten immer schon als unterhaltsame Lektüre, und im 16. Jahrhundert kam ihnen zunehmend auch wissenschaftliche Bedeutung zu. Die Geographie avancierte geradezu zur Leitwissenschaft der Epoche. Den Anfang machten die seefahrenden Nationen. Dort bestand das meiste Interesse an geographischen Informationen. In Portugal erschien eine knappe, in Italien eine erste umfangreiche Sammlung von Reiseberichten (Fracanzano da Montalboddos Paesi novamente retrovati von 1507), die mehrfach übersetzt wurde und das Muster für alle späteren Sammlungen abgeben sollte. Mit Giovanni Battista Ramusios Navigationi et viaggi, seit 1550 publiziert in Venedig, erreichte die Gattung ihren ersten Höhepunkt. England und Frankreich zogen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach und dominierten dann den Markt weitgehend. Es überrascht, dass in Spanien keine große Reisesammlung entstand, und überraschend ist auch der hohe Anteil deutscher Ausgaben. Wirtschaftliche oder koloniale Interessen spielten dabei offenkundig keine Rolle. Nur die literarisch-wissenschaftliche Nachfrage wurde befriedigt. Die zweite große Reisesammlung, die im deutschen Sprachraum publiziert wurde, entstand in Basel, und an ihr war Sebastian Münster beteiligt. Es handelte sich um ein Gemeinschaftsunternehmen. Als Herausgeber fungierte Johann Huttich, ein Kanoniker am Straßburger Münster, der in der Vorrede als „ein gelehrter und des Altertums wunderbar begieriger Mann bezeichnet wird.3 Simon Grynaeus, schon in Heidelberg Münsters Kollege, verfasste die Vorrede und gab wohl zahlreiche Anregungen. Münster selbst steuerte eine doppelseitige Weltkarte bei, deren Inhalt er ausführlich erklärte. Ob dazu noch ein weiterer, anonymer Kartenmacher herangezogen wurde, ist umstritten. Zumindest der kunstvolle Rahmen der Karte stammte sicher nicht von Münster, sondern wird aufgrund stilistischer Kriterien Hans Holbein d. J. zugeschrieben, der seit 1528 wieder in Basel lebte und auch sonst gelegentlich mit Münster zusammenarbeitete. Die Sammlung enthält Texte aus dem 13.-16. Jahrhundert, behandelt vor allem Asien und Amerika, aber auch das Heilige Land, Osteuropa und Preußen und kam als Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum 1532 auf den Markt. Alle Texte wurden in Latein präsentiert und sollten den humanistisch gebildeten Leser ansprechen. Da aber
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2 Typus cosmographicus universalis: Die Karte wurde als Bestandteil der Reisesammlung Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum 1532 publiziert. Das Kartenbild geht auf Sebastian Münster, der Rahmen auf Hans Holbein d. J. zurück. Die dargestellten Szenen und Gestalten lassen sich den vier bis dahin bekannten Kontinenten zuordnen.
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auch sonst großes Interesse an Reise- und Entdeckungsberichten, am Zuwachs von Weltwissen und Welterfahrung bestand, kam schon zwei Jahre nach der lateinischen Ausgabe eine deutsche Übersetzung heraus. Sie trug den Titel: „Die New welt, der landschaften unnd Insulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern unbekant, Jungst aber von den Portugalesern unnd Hispaniern im Nidergenglichen Meer herfunden . Sie erhob also den Anspruch, viel Neues und Unerhörtes zu bieten. Insgesamt sind sechs, jeweils erweiterte Ausgaben und zwei Übersetzungen des Novus orbis erschienen. Er war ein Erfolg auf dem Buchmarkt und wurde bis ins 17. Jahrhundert vorrätig gehalten. Die Weltkarte, von Münster als „kosmographisches Bild der Welt (Typus cosmographicus universalis) überschrieben, sollte ein besseres Verständnis der Reiseberichte ermöglichen. Denn nur wer das Ganze verstehe, könne auch die Einzelheiten begreifen, zumal in den neu entdeckten, also unbekannten Erdteilen. Europa wird zwar nach wie vor überdimensioniert wiedergegeben, steht aber nicht im Mittelpunkt des Interesses. Allenfalls seine östlichen Ränder finden Beachtung. Der Novus orbis enthält auch Texte über Polen (Matthias von Miechow) und Russland (Paolo Giovio). Deshalb erscheinen Sarmatien und Moskowien auf der Karte. Ansonsten verschwendete der Kartograph keinen besonderen Ehrgeiz auf die Darstellung Nord- und Osteuropas, und auch das eigentliche Europa war nur der Ausgangspunkt der Reisen, von denen die Berichte im Novus orbis erzählen. Es ging um Außereuropa, um Übersee, also um die neu entdeckten Welten, die man in aller Regel von Europa aus nur mit dem Schiff erreichen konnte. Damit verbanden sich nach wie
vor phantastische Vorstellungen und der Reiz des Fremden, das mirabile wie das terribile, Verlockung und Schrecken gleichermaßen. Hans Holbein wurde herangezogen, um dem einen wie dem anderen künstlerischen Ausdruck zu geben. Der Leser sollte von vornherein, schon beim Betrachten der Karte, wissen, was auf ihn zukam. Der Rahmen, den Holbein um sie zeichnete, lässt sich in vier randscharf geschiedene Sektoren zerlegen und den Erdteilen zuordnen. Der rechte obere Teil gehört zu Nordasien, zu Skythien nach Münsters Terminologie. Der untere bezieht sich auf Südasien, das immer noch durch die verschiedenen Teile Indiens eingenommen wird. Die Darstellung links unten illustriert die Neue Welt Amerika, von der fast nur der Süden, kaum etwas vom Norden bekannt ist. Für Afrika blieb nur der linke obere Rand übrig. Letzteres erscheint künstlich. Doch die klare Gliederung des Kartenbilds und die Zuordnung charakteristischer Szenen und Bilder brachten die Geographie auf den Punkt. Beides machte sichtbar, worum es in den gesammelten Reiseberichten eigentlich ging: um die Entdeckung, dann Eroberung der Welt, die von Europa ausging.
Unbekanntes Afrika Von Afrika waren Münster und seinen Zeitgenossen nur die Umrisse bekannt. Dass man sie so genau kannte, hatte man den portugiesischen Seefahrern zu verdanken. Seit dem frühen 15. Jahrhundert expandierte das bis dahin eher bedeutungslose Königreich Portugal, Produkt der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel, in den südlichen Atlantik hinein und erwarb Stützpunkt um Stützpunkt an der afrikanischen Küste. Dabei ging es keineswegs so systematisch und zielstrebig zu, wie die Legenden um Heinrich den Seefahrer behaupten. Lange Zeit begnügte man sich damit, landlosen Adligen ein Betätigungsfeld zu eröffnen, der wachsenden Bevölkerung des Königreichs Nahrungsmittel zu beschaffen und den Zugang zu den Gold-, Elfenbein- und Sklavenmärkten in Westafrika zu erzwingen. Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts schälte sich Indien als das finale Ziel der Expansion, die Suche nach dem Seeweg dorthin als ihr eigentliches Anliegen heraus. Dass sie Erfolg haben könne, schien keineswegs sicher. Denn alle Karten, die der ptolemäischen Geographie folgten, zeigten den Indischen Ozean als Binnenmeer, in das keine Schiffe vordringen konnten. Man konnte dem widersprechen, aber ohne Augenzeugenschaft das Gegenteil nicht beweisen. Es kam also auf den Versuch an. Die portugiesischen Schiffe arbeiteten sich von Vorgebirge zu Vorgebirge, von Flussmündung zu Flussmündung nach Süden voran und fanden immer neue Abschnitte einer Küste, die kein Ende nehmen wollte. Erst nach Jahrzehnten des Suchens und der Enttäuschungen stellte sich der Erfolg ein. Dann aber ging alles sehr schnell. Auf Münsters Weltkarte von 1532 lässt sich das langsame Vordringen der Portugiesen verfolgen. Ausgangspunkt war die Stadt Cëuta in der Berberei (Barbaria), die 1415 spektakulär erobert worden war. Im Atlantik wurden die Azoren, Porto Santo (Portus Sanctus), Madeira (Medera) und Teile der Kanarischen Inseln (Münster: Insulae Canariae) in Besitz genommen. 1434 umfuhr Gil Eanes Kap Bojador an der mauretanischen Küste, das man für unbezwingbar gehalten hatte, und wenige Jahre später wurden Cabo Branco, das Weiße Kap (Caput album), und die Bucht von Arguim (Dargin) erreicht. In dessen Hinterland lag die Wüstenstadt Oudâne (Hodeni), wo mehrere Karawanenrouten zusammentrafen und Handel mit Silber, Gold und „Paradieskörnern (Guineapfeffer) getrieben wurde. 1444 segelte Dinis Dias bis Kap Verde, dem Grünen Kap (Caput viride); die vorgelagerten Inseln, z. B. Bõa Vista (Insula boni visus), wurden wenig später besetzt.
Unbekanntes Afrika
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3 Sebastian Münster: Afrika (aus: Geographia universalis, vetus et nova, complectens Claudii Ptolemaei Alexandrini enarrationis libros VIII, Basel 1540). Der Text in der Kartusche erklärt, wie die Portugiesen den Seeweg an der afrikanischen Küste entlang nach Indien fanden. Das Kartenbild selbst macht deutlich, wie wenig man noch vom Inneren des Kontinents wusste.
An der Mündung des Senegal-Flusses (Sange fluvius) glaubte man, eine Verbindung zum Nil gefunden zu haben. Doch die Versuche, ins Innere des Kontinents vorzudringen, schlugen fehl. Auch die Hoffnungen, nicht mehr nach Süden fahren zu müssen, sondern endlich nach Osten, in Richtung Indien, segeln zu können, wurden erst erfüllt, nachdem man Gambia, die Bissagós-Inseln und Conakry (Gambra regnum, Besigne, Sagres) passiert und den Golf von Guinea (Ginega) erreicht hatte. Doch schon hinter der Mündung des Niger, dort wo Münster nicht ganz richtig das Königreich Mali (Regnum Melli) ansiedelt, wand sich die Küste wieder nach Süden. Zeitweilig wurde in Lissabon erwogen, die Suche aufzugeben und eine ganz andere Route nach Indien einzuschlagen. Doch Diogo Cão und Bartolomeu Dias konnten in den 1480er-Jahren zügig die südwestafrikanische Küste erkunden. Dias gelang es schließlich, unter heftigen Stürmen das südlichste Vorgebirge zu umrunden. Zuerst sollte es „Kap der Stürme heißen, doch König João II. persönlich ließ es in „Kap der Guten Hoffnung (Caput bonae spei) umtaufen. Weil die Mannschaft von den Strapazen genug hatte, musste Dias umkehren, und als er einige Jahre später spurlos im Atlantik verschwand, sollte er zum Urbild des Fliegenden Holländers werden. Doch Vasco da Gama trat an seine Stelle und schaffte über Malindi im heutigen Kenia (Regnum Melindae) mit etwas Glück die Überfahrt über den Indik. Die geradezu epische Geschichte der portugiesischen Indienfahrten war zu einem ersten Abschluss gekommen und hatte nicht nur Portugal die Vorherrschaft im europäischen Handel mit Asien eingetragen, sondern auch vor aller Augen die wahre Gestalt Afrikas hervortreten lassen. Kosmographen und Kartographen wie Sebastian Münster profitierten davon. Ganz anders sah es mit dem Inneren des Kontinents aus. Darüber wurde nur wenig bekannt, und die Kartographen mussten ihre Lücken mit ein paar Daten und Namen aus der ptolemäischen Geographie zustopfen: Meroë, der Nil, die Garamanten in der Libyschen Wüste, Troglodyten am Horn von Afrika, die Mondberge und die Quellen des Nils – das waren geographische Sachverhalte, deren Richtigkeit niemand bestreiten wollte oder
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konnte, auch wenn sie schon lange verschwunden waren oder nie existiert hatten. Denn authentische Berichte aus Innerafrika standen nicht zur Verfügung, oder deren Auswertung brauchte Zeit, weil sie nur im Manuskript zirkulierten (wie die „Beschreibung Afrikas des Leo Africanus, der eigentlich al-Hasan al-Wazzan hieß und aus Fes in Marokko stammte). Gerade in der Darstellung Afrikas blieb das antike Wissen lange lebendig. Hinzu kamen die Mutmaßungen des Mittelalters über exotische Tiere und Menschen, die sich wirklich oder angeblich in Afrika tummelten. Auf Münsters Weltkarte sind sie in Holbeins Rahmen verbannt: geflügelte Schlangen, die andere Tiere verschlingen, zwei schlank gewachsene Vertreter des Volks der Großlippler, ein Elefant, wehrhaft, doch von Menschen gejagt. Schon immer wollte man wissen, wie die scheinbar übermächtigen Tiere gefangen werden konnten. Die abenteuerlichsten Gerüchte waren im Umlauf. Wenn dann ein Exemplar nach Europa gelangte, dann kannte die Begeisterung keine Grenzen. Zuletzt hatte König Manuel von Portugal dem Papst in Rom einen Elefanten geschickt und damit unendliches Aufsehen erregt (das allerdings unversehens endete, als das Tier einging). Zwischen afrikanischen und indischen Elefanten wurde dabei noch nicht unterschieden. Doch wenn man die Species kartographisch verorten wollte, kam dafür eher das wilde, unbekannte Afrika als das zivilisierte, städtereiche Indien infrage. Als Sebastian Münster wenige Jahre später – ohne kunstvollen Rahmen und ohne Holbeins Hilfe – für die Neuausgabe der ptolemäischen Geographie eine separate Afrika-Karte erstellte, platzierte er an die Niger-Mündung einen einäugigen Zyklopen (es hätte auch einer der kopflosen Blemmyer sein können, die sein Kollege Lorenz Fries dort vermutete) und an die Südspitze des Kontinents einen Elefanten. Beides sollte das Innere Afrikas charakterisieren, von dem man nach wie vor nur Vagheiten wusste.
Christen und Gewürze Auch über Asien wurde viel Seltsames erzählt. Doch da Asien als der reichste Kontinent, der Ursprung der Sprachen und die Quelle des Lichts galt, gelangten immer neue Informationen über den Osten in den Westen. Ein dichtes Gewebe mehr oder weniger zutreffender Kenntnisse entstand. Vor allem auf Indien (oder was man dafür hielt) richtete sich das Augenmerk, zuerst der Griechen, dann der Römer und überhaupt der Europäer. Im Grunde wurde Asien /Indien dreimal „entdeckt : in der Antike durch Alexander den Großen, im 13. und 14. Jahrhundert infolge der mongolischen Reichsbildung, im 16. Jahrhundert durch die Portugiesen. Entsprechend komplex war das Bild, das man sich in Europa von Asien machte. Es hatte daher gute Gründe, wenn Sebastian Münster nicht nur in seinem die Weltkarte begleitenden Kommentar, sondern auch in zwei den Indischen Ozean ausfüllenden Kartuschen den Stand des Wissens über Skythien (Nordasien) und Indien (Südasien) skizzierte: was man darunter zu verstehen habe, wie die Natur der Länder beschaffen sei, über welche Produkte sie verfügten und welche Völker dort auf welche Weise lebten. Er griff dafür auf die kanonischen Autoren zurück: Plinius, Isidor, Vincenz von Beauvais. Deren Wissen diente immer noch dazu, die Grundbegriffe und wichtigsten Sachverhalte zu definieren. Weiter ging Hans Holbein bei der Gestaltung des Rahmens unter Rückgriff auf Münsters Vorgaben: Den Norden bevölkerten streitbare Tataren, erkennbar an Fellmütze und Reflexbogen. Nach wie vor glaubte man an die Existenz eines Königreichs Cathay mit seiner Hauptstadt Khanbaliq (hier: Cambalu). Das wusste man von Marco Polo. Dessen Buch galt mittlerweile als kanonisch und nahm auch im Novus orbis einen herausgehobenen Platz
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4 Typus cosmographicus universalis: Ausschnitt mit Ludovico de Varthema, dessen 1510 veröffentlichtes Buch über seine Reisen in Asien ein Bestseller der europäischen Reiseliteratur geworden war.
ein. Dass die Mongolen schon lange aus China verjagt worden waren und die rein chinesische Ming-Dynastie die Hauptstadt zunächst nach Nanjing, dann nach Beijing verlegt hatte, blieb den westlichen Mächten und erst recht den Kartographen lange verborgen. Weiter östlich, am äußersten Rand der (in Europa) bekannten Welt, wuchsen nach Münster und Holbein die Gewürze: Pfeffer, Muskatnuss und Gewürznelken. Echten Pfeffer gab es damals nur an der indischen Westküste, Muskatnuss und Gewürznelken auf den Molukken (die man deshalb auch die „Gewürzinseln nennt). Doch es kam nicht darauf an, sie genau zu verorten. Jahrhundertelang wurden auf den europäischen Märkten Phantasiepreise bezahlt, um sie zu Medizinaldrogen zu verarbeiten, Speisen zu überwürzen und die Weine schmackhaft zu machen. Ihr Konsum entwickelte sich zu einem Statussymbol für die Reichen. Den Weg dorthin zu finden, wo die exotischen Gewürze herkamen, war eine der wesentlichen Antriebskräfte der portugiesischen Seefahrer. Die Gewürzinseln können als ein Sehnsuchtsort der europäischen Kulturgeschichte gelten. Ein kartographischer Eintrag der verschwindend kleinen Inselchen wäre ihrer tatsächlichen Bedeutung nicht gerecht geworden. Es machte viel größeren Eindruck, die Gewürze selbst in den Rahmen und damit an den Rand des Kartenbildes zu setzen. Derjenige, dem man die Kenntnis des Weges dorthin zu verdanken glaubte, wird im unteren Abschnitt des Rahmens, Indien gegenüber, im Bild gezeigt und mit Namen genannt: Vartomannus. Es handelt sich um den einzigen Personennamen auf Münsters Weltkarte. Auch darin zeigt sich die Bedeutung des Mannes, der hier als rastloser Wanderer dargestellt ist: Ludovico de Varthema stammte aus Bologna und wahrscheinlich nicht aus Deutschland, wie – in Anbetracht seines ungewöhnlichen Namens – schon einmal vorgeschlagen wurde. Vieles an seinem Leben wirkt rätselhaft. Wahrscheinlich verdingte er
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sich als Söldner an das Mamlukensultanat in Ägypten und konnte auf diese Weise unerkannt die heiligen Stätten des Islams in Mekka und Medina besuchen. Unterwegs wurde er angeblich von Fernweh gepackt und reiste über Aden und Persien nach Indien, wo er in portugiesische Dienste eintrat. Doch auch hier will er nicht lange geblieben sein. Angeblich schloss er sich christlichen Kaufleuten an, mit deren Hilfe er über Burma, Java, Sumatra und Borneo bis zu den Gewürzinseln gekommen sein will. Nach Indien zurückgekehrt, nahm er an einer Seeschlacht gegen die vereinigte Armada der südindischen Fürstentümer teil und wurde für seine Verdienste vom portugiesischen Vizekönig zum Ritter geschlagen. Über das Kap der Guten Hoffnung fuhr er schließlich nach Europa zurück. Dort schrieb er über seine abenteuerlichen Reisen ein Buch, das auf Anhieb zum Bestseller wurde und mit insgesamt 31 Auflagen und Ausgaben in verschiedenen Sprachen die unterschiedlichsten Leserkreise erreichte. Nicht nur Sebastian Münster glaubte ihm aufs Wort, was er erzählte. Zum Erfolg des Buches trugen sicher die zahlreichen amourösen Anekdoten bei, mit denen er seine landes- und völkerkundlichen Beschreibungen würzte. Eine davon wurde von Hans Holbein ausgewählt und ins Kartenbild umgesetzt: In Aden sei Ludovico de Varthema als Christ erkannt und ins Gefängnis geworfen worden. Daraufhin habe er beschlossen, sich verrückt zu stellen und öffentlich den Narren zu geben. Dadurch habe er nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern sogar die Liebe der Sultanin gewonnen, da sie weiße Haut liebte. Als er einem Hammel aus Spaß alle Beine brach, habe sie begeistert vom Palast aus zugesehen. Schließlich habe sie ihn in die Freiheit entlassen, und Ludovico, dem die Sache unheimlich wurde, sei fröhlich entkommen. Ludovico de Varthemas abenteuerlicher Reisebericht wurde im Novus orbis regionum erneut abgedruckt, die Erzählung von der Tötung des Hammels unter den Augen der Sultanin ging in die Rahmenzeichnung ein, und auch die Gestaltung des Kartenbilds wurde von Ludovicos Angaben beeinflusst. Kein anderer Autor war für die Herausgeber und Mitarbeiter der Sammlung so wichtig. Allerdings weiß man heute, dass gerade die Anekdoten fingiert sind, dass Ludovico nicht über Indien hinauskam und die Angaben über Südostasien und die Inseln zwar auf guten Informationen, nicht aber auf Augenzeugenschaft beruhten. Auf den Gewürzinseln ist Ludovico de Varthema niemals gewesen. Er gehört zu den zahlreichen „travel liars , die in der Geschichte des Reisens auftraten. Seine Kenntnisse basierten auf dem Vordringen Portugals im Indischen Ozean, und weil er es verstand, sie geschickt zu vermarkten, steht sein Name für die Erweiterung des europäischen Horizonts in diesem Weltteil. Münster stellte ihn neben Marco Polo und empfahl die Lektüre beider Bücher.4 Aber die tatsächliche Entdeckung und Erkundung Süd- und Südostasiens war langwieriger und komplizierter. Vasco da Gama hatte mit seinen drei Karavellen nur deshalb den Indischen Ozean überqueren können, weil ihm ein muslimischer Lotse den Weg zeigte, auf dem man im Frühjahr den Südwestmonsun nutzen konnte. Das Geschwader landete schließlich in Calicut an der indischen Malabarküste. Mit dem dortigen Herrscher, der sich einen „Herrn der Meere (Samudri Raja, verballhornt: Zamorin) nannte, bestand zunächst Einvernehmen. Aber als sich das Verhältnis zur einheimischen und arabischen Konkurrenz zuspitzte, entstanden massive militärische Konflikte. Mit exzessiver Gewalt und gezieltem, planmäßigem Terror setzte sich Portugal durch und gründete befestigte Niederlassungen rund um den Indischen Ozean: Kilwa 1502, Quilon 1503, Mombasa 1505, Moçambique, Ormuz und Muscat 1507, Goa 1510, Aden und Calicut 1513, Colombo 1518, Bombay 1534 (um nur einige wenige zu nennen). Es entstand der Estado da Índia, eigentlich kein Staat, sondern ein
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5 Die südindische Stadt Calicut (das heutige Kozhikode im Bundesstaat Kerala) hatte große Bedeutung als Export- und Umschlaghafen, war das Ziel der ersten portugiesischen Indienfahrten und wurde dadurch überall in Europa bekannt (aus: Georg Braun / Franz Hogenberg, Civitates orbis terrarum, Köln 1593).
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Netz von Stützpunkten, das einem auf Zeit bestellten Vizekönig unterstand. Sein Zweck war nicht die Beherrschung eines Raums, sondern die Kontrolle des Handels mit Luxusgütern und dessen Umleitung über die von Portugal beherrschte afrikanische Route. Mit einer begrenzten Menge von Ressourcen und Personal gelang dies in erstaunlichem Maße. Als Vasco da Gama mit seinen Schiffen im Mai 1498 in Calicut eintraf, wurden sie von aufgebrachten arabischen Kaufleuten gefragt: „Hol euch der Teufel! Wer hat euch hierher gebracht? Die Antwort lautete: „Wir kommen, um Christen und Gewürze zu suchen .5 Dass in Indien christliche Reiche und damit potenzielle Bündnispartner gegen die Muslime zu finden seien, hatte man im Mittelalter immer geglaubt. In völliger Verkennung der wirklichen Verhältnisse spürten die Portugiesen tatsächlich „Glaubensbrüder in Calicut auf. Denn man verwechselte Götzenbilder mit Heiligenbildern, setzte Brahmanen mit Kanonikern gleich und sah die Schnur, die diese um die Schulter tragen, als Stola eines Diakons an. Dass jeder der „Heiligen vier oder mehr Arme hatte, hat offenbar niemanden irritiert. Vasco da Gama betete in einem Tempel der Hindus. Auch die ersehnten Gewürze fand man auf den Märkten von Calicut in großen Mengen. Calicut bzw. Kozhikode ist heute eine mittelgroße Provinzstadt im Bundesstaat Kerala, war aber damals ein Emporium für den gesamten indischen Handel. Sogar arabische und chinesische Besucher (Ibn Battuta, Ma Huan) zeigten sich beeindruckt. Doch bald stellte sich heraus, dass man hier zwar gut einkaufen konnte und auch die Pfefferpflanzungen nicht weit entfernt lagen, dass aber alle anderen Gewürze von anderswo herkamen. Man erfuhr, dass auf Ceylon der beste Zimt wuchs, und hörte, dass von Malakka auf der Malaiischen Halbinsel die Gewürznelken kämen. Schon 1506 erhielt der Vizekönig Francisco de Almeida den Auftrag, beide Plätze für Portugal zu gewinnen. Aber erst sein Nachfolger, Affonso de Albuquerque, der eigentliche Begründer des portugiesischen Kolonialreichs, konnte den Auftrag teilweise ausführen und fünf Jahre später Malakka einnehmen. Die Eroberung Ceylons dauerte noch länger. Zwar waren die Portugiesen auch in Malakka nicht am Ziel, sondern nur an einem weiteren (wenn auch dem bedeutendsten) Umschlaghafen angelangt. Doch eine von Albuquerque sofort ausgesandte Expedition hatte endlich Erfolg und erreichte nach einigen Mühen und nicht geringen Verlusten die Gewürzinseln, wo die begehrten Gewürznelken nach Aussage eines Kolonialbeamten nichts kosteten.6 Seit 1514 trafen Jahr für Jahr portugiesische Schiffe dort ein. Man war bei den Erzeugern angelangt und brauchte die Zwischenhändler nicht mehr.
Mit Malakka hatte Portugal die wohl reichste Handelsstadt Südasiens erworben und saß nun an der Drehscheibe des Handels zwischen Indischem und Chinesischem Meer. Zwar blieb der Schwerpunkt des Estado da Índia im südasiatischen Raum. Doch gleichzeitig streckte Portugal seine Fühler zu den ostasiatischen Großreichen aus. Der Golf von Siam wurde erkundet, eine Gesandtschaft reiste an den Kaiserhof nach Beijing, und einigen Abenteurern, Schmugglern und Missionaren, gelang sogar die Überfahrt nach Japan. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Die Reise nach Beijing wurde ein Desaster. Denn anders als in Süd- und Südostasien hatte man es nicht mit zahllosen, miteinander rivalisierenden Sultanaten und Fürstentümern zu tun, sondern mit mächtigen Reichen, die die portugiesischen Wünsche mühelos abwimmeln konnten. Die Kenntnisse, die die portugiesischen Seefahrer auf den östlichen Meeren erwarben, fielen dennoch ins Gewicht. Denn alle Unternehmungen der Portugiesen, zwischen Cëuta und Nagasaki, brachten nicht nur kaufmännischen Nutzen, sondern auch einen erheblichen Zuwachs an Wissen mit sich: Der Indische Ozean konnte nicht mehr als Binnenraum gelten (auch wenn Portugal ihn gegenüber allen möglichen Konkurrenten als mare clausum behandeln wollte). Die endlose Ausdehnung Asiens wurde jetzt erst richtig sichtbar. Die wirklichen Umrisse des indischen Subkontinents und die Vielfalt Südostasiens wurden den Europäern endlich bewusst. Dafür wurde der Umfang Ceylons deutlich reduziert. Die seit der Antike übliche Bezeichnung Taprobane schien nicht mehr recht zu passen und wurde – zeitweilig – auf Sumatra übertragen. Die Namen einiger Städte, Malakkas und Calicuts vor allem, erhielten einen besonderen Klang und wurden fast jedermann in Europa ein Begriff. Die Bezeichnung für Kattunstoffe: Kaliko ging in die europäischen Sprachen ein. Sogar die südchinesische Küste, nicht gerade der Kern der portugiesischen Erfahrung, stellte sich auf See- und Regionalkarten als dichte Folge fremdartiger Ortsnamen dar. Es erhob sich die Frage, wo die eigene Empirie endete und das China Marco Polos begann. Der Vergleich überlieferten Wissens mit den jüngst erworbenen Erkenntnissen wurde zur Aufgabe. Die Krone in Lissabon hätte dies alles gerne für sich behalten und erklärte die Geographie zur Verschlusssache. Aber auf Dauer ließ sich die Öffentlichkeit nicht ausschließen. Die Geschehnisse waren so spektakulär, dass sich Gelehrte wie Sebastian Münster für sie interessierten und die sich aus den portugiesischen Indienfahrten ergebenden Einsichten wenigstens in groben Zügen der Allgemeinheit erklärten.
Neue Welt Amerika Auf Münsters Weltkarte von 1532 nimmt ein fragmentarisches Amerika den westlichen Ozean ein. Die südliche Spitze wirkt merkwürdig schmal und wie verkümmert, der Norden fehlt völlig. Nord und Süd hängen nicht zusammen, sondern werden durch eine Meeresstraße getrennt. Von den Karibischen Inseln sind Spagnola (Haïti), Isabella und die Antillen mit Namen genannt. Mittelamerika wird durch eine ganz isolierte Insel Terra Cortesia (Land des Cortés, also Mexiko) vertreten. Kuba dagegen scheint auf dem Festland zu liegen. Westlich davon schwimmt ein Eiland Zipangri im Meer. Damit war unzweifelhaft Japan gemeint. Holbein ergänzte das Kartenbild durch eine Rahmenzeichnung, die das Zerlegen, Kochen und Grillen menschlicher Leichen zum Gegenstand hat. Rechts davon wird frische Nahrung gebracht. Links sieht man zum Trocknen aufgehängte Körperteile über einem Zelt aus Ästen und Blättern. Dass man es hier mit Kannibalen zu tun hat, wird durch die Inschrift auf einem Schriftband bestätigt.
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Was es mit all dem auf sich hat, geht aus der komplexen amerikanischen Entdeckungsgeschichte hervor. Bekanntlich hatte Christoph Kolumbus nie die Absicht, eine Neue Welt, schon gar nicht mit Namen Amerika, aufzufinden. Vielmehr suchte er im Westen den Osten, jenseits des Atlantiks das Reich des Großkhans und dort, in nicht allzu großer Entfernung von Spanien, die Reichtümer Ostasiens (Indiens, wie man damals sagte). Er bereitete sich gründlich und intensiv vor, las vor allem Marco Polo und hatte einen Brief an den Großkhan im Gepäck. Am Ende fand er, was er suchte: Von Muscheln schloss er auf Perlen, von Blattgold auf Goldminen, von Wohlgerüchen auf Gewürze. Agavesträucher sahen aus wie Aloë, amerikanischer Chili schmeckte scharf wie indischer Pfeffer. Die Zunahme wohlhabender Siedlungen betrachtete Kolumbus als Indiz dafür, dass das Reich des Großkhans nicht mehr fern sei. Auch einige Ortsnamen schienen dafür zu sprechen. Für die Zukunft rechnete er mit regem Handel zwischen den neu entdeckten, nunmehr spanischen Inseln und China. Als die Mannschaft des Kolumbus erstmals Bekanntschaft mit den kriegerischen Kariben machte, kam er über deren Absichten ins Grübeln. Man erzählte ihm von den Raubzügen der carib (der „Starken , wie sie sich selbst nannten) und dass sie ihre Gefangenen verspeisten. Da er sich im Osten Asiens wähnte, verstand er ihren Namen als canib und deutete diesen als „Leute des Großkhans .7 Er setzte damit ein kurioses Missverständnis in die Welt, das gleichwohl Bestand haben sollte. Schon immer hatte man Anthropophagen (Menschenfresser) in Zentral-, Ost- oder Südasien vermutet. Gerne wurden sie bei der Vorbereitung ihrer Mahlzeiten an der Schlachtbank gezeigt. Holbeins Darstellung entspricht dem herkömmlichen Muster. Nun aber wurde die Vorstellung auf die Neue Welt übertragen und dafür ein Name: „Kannibalen kreiert, der von seinem Erfinder, Christoph Kolumbus, ganz anders, nämlich ausgesprochen positiv, gemeint war. Besondere Aufmerksamkeit galt den geographischen Verhältnissen. Kolumbus muss eine Karte benutzt haben, auf der Schwärme von Inseln vor der ostasiatischen Küste zu sehen waren. Marco Polo hatte 7448 davon „gezählt , und Kolumbus kannte die Zahl. Auch deshalb glaubte er sich in der Karibik am Ziel. Eine dieser „indischen Inseln schien ihm wichtiger als alle anderen: Zipangu, d. i. Japan. Auch dort erwartete er Gold und Gewürze in großen Mengen, und gleichzeitig sollte sie ihm als Versorgungsstation und Ruhelager, aber auch zur Orientierung dienen. War man auf Zipangu, war man fast schon beim Großkhan von China. Kolumbus zeigte sich daher sehr erfreut, als ihm auf Haïti von Goldvorkommen und einer Gegend namens Cibao erzählt wurde. Doch die Hoffnungen zerschlugen sich, und auch später, als er Zipangu eher mit Kuba identifizieren wollte, verfehlte Kolumbus sein Ziel. Dennoch ging man lange davon aus, dass Zipangu ganz in der Nähe Amerikas liegen müsse, sei es in der Karibik, also östlich vom Festland, sei es im Westen vor der Pazifischen Küste. Die Insel wurde zum „Zankapfel der Kartographen , an der die Geister sich schieden.8 Kolumbus war ein versierter Kartenmacher und hat eine rohe Skizze von Haïti hinterlassen. Aber das Weltbild, das er sich auf seinen vier amerikanischen Reisen anhand literarischer Quellen und der eigenen Erfahrung zurechtlegte, geht am anschaulichsten aus drei Kärtchen hervor, die nach seinem Tod gezeichnet wurden, aber auf seinen und seines Bruders geographischen Vorstellungen basieren. Sie zeigen, wie gering ihm die Entfernung zwischen Europa und Amerika schien. Für die Fahrt über den Indischen Ozean rechnete er mit weit größeren Distanzen. Dort glaubte er sich an der ptolemäischen Geographie orientieren zu können. Orte, die er selbst besucht und mit spanischen Namen bedacht hatte, lägen nicht weit von Landschaften und Städten entfernt, über die man schon im antiken
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Das Weltbild des Christoph Kolumbus geht aus drei Kärtchen hervor, die nach seinem Tod unter Mitwirkung seines Bruders Bartolomeo entstanden: Ostasien geht in Süd- und Mittelamerika über, die Entfernung zu Europa scheint über den Atlantik gering (Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Banco Rari 234, olim Magliab. XIII 81, fol. 57r).
Afrika, Asien und die Neue Welt (Mondo Novo) in der Sicht der Brüder Kolumbus (Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Banco Rari 234, olim Magliab. XIII 81, fol. 60v).
Alexandria nachgedacht hatte. Hinter dem Cabo de Luna und dem Río de Pinos befänden sich die Serici montes, die „Berge der Serer , hinter der Moskitoküste (Cariay) betrete man das Land der Chinesen, den Sinarum situs, und dem Puerto del Retrete (Puerto Escribanos) an der Ostseite der mittelamerikanischen Landenge entspreche an der Westseite Kattigara, der östlichste Punkt der ptolemäischen Geographie. An der Küste Südamerikas gibt es nur Namen, die auf Kolumbus zurückgehen oder von ihm in Erfahrung gebracht wurden. Ptolemäus hatte dazu gar nichts zu sagen. Hier den Begriff der Neuen Welt (Mondo Novo) zu gebrauchen, war so gesehen konsequent. Dass er von Kolumbus stammte, ist nicht wahrscheinlich. Nach seiner dritten Reise, die an die Mündung des Orinoco führte, sprach er von einer „anderen Welt (otro mundo) und meinte damit die völlig andersartige Lebensweise kriegerischer indianischer Stämme. An zwei Stellen der Karte sind deshalb die Siedlungen von Kannibalen eingetragen. Für Kolumbus waren alle entdeckten Inseln und Landstriche mit dem Osten Asiens identisch. Man musste nur das bisherige Wissen mit dem neuen abgleichen und beides zu einem plausiblen Gesamtbild verarbeiten. Westindien ging in Ostindien auf. Damit stand er keineswegs alleine. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die Theorie vom Zusammenhang der Kontinente prominente Anhänger, zumal unter den Kartographen. Zwi-
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8 Sebastian Münster: Die neuwen Inseln, so hinder Hispanien gegen Orient bey dem land India ligen (aus: S. Münster, Cosmographia, Basel 1550). Das Bild der Neuen Welt setzt sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts aus altem und neuem Wissen, Mythen und Erfahrungswerten zusammen. Immer noch wurde sie als Teil des Ostens betrachtet und in Verbindung mit Indien gebracht.
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schen ihnen und den Vertretern einer insularen Darstellung der Neuen Welt entwickelte sich eine regelrechte Debatte, ausgetragen durch die Herstellung und Verbreitung einer großen Zahl von Welt- und Regionalkarten. Es konnte sogar vorkommen, dass ein einzelner Kartograph zwischen den beiden Modellen schwankte. Martin Waldseemüller, der als Professor für Kosmographie am Gymnasium Vosagense in Saint-Dié wirkte und 1507 eine großformatige, gedruckte Weltkarte herausbrachte, entschied sich zunächst für die insulare Variante und zeichnete einen eigenständigen, mit Asien nicht verbundenen Kontinent, dessen Ausdehnung nach Norden nicht bekannt war, der aber weit in die südliche Hemisphäre hinab reichte. Er folgte dabei vor allem dem florentinischen Kaufmann und spanischen piloto mayor Amerigo Vespucci. In Wort und Bild (unter und über der Karte) hob er ihn als seinen - neben Ptolemäus - wichtigsten Gewährsmann hervor. Vespucci war zweifellos ein erfahrener Seemann, der die südamerikanische Küste eine Strecke weit abgefahren war. Vor allem aber war er ein genialer „Marketing-Stratege , der seine Erlebnisse (die wirklichen wie die angeblichen) in zwei reißerisch aufgemachten Schriften publizierte. Die Wildheit der Indianer, ihre Nacktheit und der von ihnen vermeintlich prak-
tizierte Kannibalismus, war ihm ein besonders wichtiges Thema, das er auch noch durch höchst wirkungsvolle Holzschnitte illustrierte. Die Leistungen des Kolumbus verschwanden in Vespuccis Schatten, und dieser galt nun als der eigentliche Entdecker einer Welt, die er die Neue genannt hatte. Matthias Ringmann, Kollege Waldseemüllers am Gymnasium Vosagense, schlug kurzerhand vor, den ganzen Kontinent nach Amerigo Vespucci zu benennen, und der Kartograph machte sich den Vorschlag des Philologen zueigen. Beides zusammen, die Weltkarte und die Erläuterungsschrift, gilt als der „Taufschein der Neuen Welt, die seitdem Amerika heißt. Dass Waldseemüller nach Ringmanns Tod seine Meinung änderte, den Namen Amerika wieder fallen ließ, die Verdienste des Kolumbus deutlicher hervorhob und 1516 eine weitere großformatige Weltkarte publizierte, auf der Kuba als Teil Asiens erscheint und der Zusammenhang der Kontinente zumindest nicht mehr ausgeschlossen wird, dass also Waldseemüller seine frühere Ansicht geradezu widerrief, hat die Öffentlichkeit bis heute nicht interessiert. Sebastian Münster verhielt sich nicht anders. Er folgte Waldseemüllers Weltkarte von 1507 und hielt an der insularen Darstellung der Neuen Welt fest. Allerdings fügte er etwas hinzu, was Waldseemüller noch nicht kannte. 1521 hatte Hernán Cortés das Reich der Azteken erobert und zerschlagen. Münster wusste davon, trug aber das „Land des Cortés (Terra Cortesia) viel zu weit östlich und im Ozean ein, weil er es mit der Terra de Cortereal, portugiesischen Entdeckungen an der nordamerikanischen Ostküste, verwechselte. 1540, als er eine neue Karte der Neuen Welt herstellte, korrigierte er seinen Fehler, unterschied deutlich zwischen einer Insel Cortereal und dem spanischen Kolonialreich auf dem Festland, hier vertreten durch die aztekische Hauptstadt Tenochtitlán (Temistitan) und die Region Tamacho (Chamaho) am Río Pánuco. Überhaupt waren einige Aktualisierungen fällig geworden. Fernando de Magellan(es) hatte 1520 die Durchfahrt zwischen Feuerland und Patagonien (das Fretum Magaliani, die nach ihm benannte Magellan-Straße) gefunden und die südamerikanische Westküste ein Stück weit erkundet. Vasco Nuñez de Balboa hatte 1513 beim Isthmus von Panama den Zugang zum Pazifik gefunden, während Juan Ponce de León auf Florida vergeblich nach der Quelle der ewigen Jugend suchte. Yucatán wurde seit 1527 von den Spaniern erobert und gleichzeitig erforscht, galt aber noch lange als Halbinsel. 1534 erschien Jacques Cartier mit zwei Schiffen an der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und nahm die ganze Gegend in Besitz. Eines Tages sollte Neufrankreich, Keimzelle des heutigen Kanada, daraus werden. Sebastian Münster nahm dies alles zur Kenntnis und arbeitete die Karte von Amerika entsprechend um. Gleichzeitig wusste er sich den kartographischen Traditionen verpflichtet. Auch für ihn blieb die Nähe zu Asien ein Fakt. Nach wie vor liegt Zipangri /Japan vor der mexikanischen Küste, umgeben von 7448 „indischen Inseln. Mit dem geheimnisumwitterten Hafen Kattigara blieb sogar ein Element der ptolemäischen Geographie an Amerika hängen, die Wundervölker ohnehin: Anthropophagen, jetzt Kannibalen geheißen, Giganten in Patagonien, bald auch Amazonen am Amazonas und Kopflose in Guyana. Eine Flut neuer Einsichten stürzte im sogenannten Entdeckungszeitalter auf den Beobachter ein. Doch es kam darauf an, tradierte Wissensbestände und neue Empirien in einer sinnvollen Balance miteinander zu verbinden. Mehr denn je war das die Aufgabe des Kosmographen.
9 Zur Hochzeit Herzog Johann Friedrichs von Württemberg mit Barbara Sophie von Brandenburg wurde im November 1609 in Stuttgart ein großes Hoffest gefeiert. Im Festzug ritten auch maskierte Vertreter exotischer Völker, darunter einige Reiter aus dem Volk der Kopflosen, dessen Wohngebiete man seit der Antike in Indien, nun aber in Südamerika vermutete (Stuttgart, Staatsgalerie, Graphische Sammlungen).
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Cosmographia, das ist: Beschreibung der gantzen Welt Münsters geographisches Hauptwerk war nicht sein Beitrag zum Novus orbis regionum, nicht die Edition zweier Klassiker von 1538 (Solinus und Pomponius Mela) und auch nicht seine große Ptolemäus-Ausgabe zwei Jahre später. Sein geographisches Hauptwerk war zweifellos die „Kosmographie , zu Deutsch: die „Beschreibung der Welt , erschienen und gedruckt in Basel bei Münsters Schwiegersohn Heinrich Petri 1544. Dafür sprechen der jahrzehntelange Aufwand, den er damit trieb, der reiche Inhalt des Buchs, sein Erfolg auf dem Buchmarkt und seine lang anhaltende Wirkung. Bis in Münsters Heidelberger Jahre reichten die Anfänge des Unternehmens zurück. Allerdings war zunächst keine Weltbeschreibung, sondern nur eine Beschreibung Deutschlands beabsichtigt. Nicht nur wissenschaftlicher Ehrgeiz, sondern auch Vaterlandsliebe spricht aus den Worten, mit denen der Verfasser seine Freunde, Kollegen und überhaupt alle „frommen Deutschen um topographische Informationen und genaue lokale Beschreibungen bat.9 Doch das Vorhaben wuchs sich aus. Vom Deutschen Reich schwenkte der Blick des Betrachters zu den Nachbarländern, von dort nach Osteuropa und auf den Balkan. Dort hatten die osmanischen Türken ein Großreich geschaffen, zu dem auch Teile Asiens und Afrikas gehörten. Die Beschreibung Europas geht daher konsequent und fast bruchlos in die Beschreibung der beiden anderen Kontinente über. Dass die neuen Entdeckungen in Übersee berücksichtigt werden mussten, stand bald außer Frage. Hatte Münster in die Behandlung Mitteleuropas so oft wie möglich eigene Ortskenntnisse oder die Auskünfte seiner Gewährsleute einfließen lassen, so musste er für die weit entfernten Länder und Erdteile auf das publizierte Schrifttum zurückgreifen. In seiner Vorrede verteidigte er das Verfahren und stellte sich auf den Standpunkt, dass ein belesener und verständiger Mensch mehr über ein Land wissen könne als ein Grobian, der blind und achtlos in der Welt herumreist. Es ist der Vorrang des Wissenschaftlers vor dem bloßen Augenzeugen, auf dem Münster besteht. Allerdings kam es darauf an, welche Unterlagen man hatte. Für manche Länder (Griechenland oder Vorderasien zum Beispiel) glaubte er, auf die antiken Quellen vertrauen zu können. Aber die Grenzen der ptolemäischen Geographie kannte er wie kein zweiter. Nicht umsonst hatte er die 28 Karten seiner Ptolemäus-Ausgabe durch 20 aktuelle ergänzt. Um die Neuen Welten jenseits des Horizonts der Antike behandeln zu können, hielt er sich deshalb an die Entdeckungsberichte der Spanier, Portugiesen und Italiener. Im Novus orbis regionum, an dessen Publikation er selbst mitgewirkt hatte, standen sie ihm griffbereit zur Verfügung. Was schließlich herauskam, war ein ebenso „merkwürdiges wie „bahnbrechendes Buch .10 Es verband wissenschaftliche Methodik mit sprunghafter Erzählfreude, enthielt nicht nur geographische, sondern auch historische und ethnographische Informationen und nahm den ganzen Globus in den Blick. Die ersten Auflagen hatten Schwächen, aber die vierte, noch von Münster bearbeitete schlug alle Konkurrenten aus dem Feld. Zwischen 1544 und 1628 konnten 35 vollständige Ausgaben in fünf Sprachen (Deutsch, Latein, Französisch, Italienisch, Tschechisch) erscheinen. Dass der Verfasser seinen Text mit zahlreichen Anekdoten und Wundergeschichten auflockerte und für eine üppige Ausstattung mit Holzschnitten sorgte, hat der „Kosmographie nicht geschadet, sondern ihr den Weg zu den Lesern geebnet. Sie wurde das erfolgreichste wissenschaftliche Werk des 16. Jahrhunderts und blieb wirkungsvoll bis weit ins 17. Jahrhundert hinein.
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10 Sebastian Münster, Cosmographia universalis, Titelholzschnitt der Ausgabe Basel 1550.
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Ihr Erfolg basierte auch darauf, dass sie fast beliebig ergänzt, erweitert und aktualisiert werden konnte. Münster selbst hatte damit begonnen. Nach seinem Tod wurde sowohl von ihm hinterlassenes als auch völlig neues Material eingearbeitet. Auf diese Weise kamen beispielsweise ganze und ausführliche Kapitel über Siam, Japan und Peru hinzu. Am Ende, als die letzte Auflage erschien, hatte sich der Umfang der „Kosmographie mehr als verdoppelt. Im Zentrum standen nach wie vor Deutschland und Europa. Die „Kosmographie blieb ein durch und durch eurozentrisches Buch. Doch auch die Partien, die die überseeischen Entdeckungen behandelten, wuchsen kräftig mit und gewannen an Gewicht. Das Titelblatt der vierten Auflage von 1550 führt die Teile zu einem Ganzen zusammen: Ausgangspunkt ist das Heilige Römische Reich mit seinen weltlichen und geistlichen Fürsten. Den Titel flankieren vier exotische Herrschergestalten mit ihren Waffen und (fiktiven) Wappen: der Großtürke am Bosporus, der Tatarenkhan in der Steppe, der Shah der Safawiden in Persien und der Sultan der Mamluken in Kairo. Das Bild wird abgerundet durch ein Landschaftspanorama mit (seitenverkehrt wiedergegebenen) Motiven aus Holbeins Rahmenzeichnung zur Weltkarte von 1532: Gewürzstauden, ein Tatar mit Reflexbogen, ein grimmig dreinschauender Elefant, der wiederum für Afrika steht. Nur die amerikanischen Kannibalen sind durch einen einzelnen, ebenfalls nackten Wilden ersetzt, der unter einer am Baum aufgehängten (freilich falsch gedeuteten und wiedergegebenen) Hängematte sitzt. Bei Amerigo Vespucci (nachgedruckt im Novus orbis regionum) konnte man mehr dazu lesen. Das Wenigste davon kannte Münster persönlich. Non omnia possumus omnes – „wir können nicht alle alles , war mit Vergil seine Devise.11 Er verzichtete auf das methodische Prinzip der Autopsie und besorgte sich seine Informationen aus schriftlichen Quellen, soweit sie ihm glaubwürdig schienen. Damit befriedigte er den Bedarf an einer globalen Perspektive, der durch die Entdeckungsfahrten des 15. und 16. Jahrhunderts und die sprunghafte Erweiterung des geographischen Wissens entstanden war. Der Erfolg gab ihm recht. Er hatte ein Buch geschrieben, wie es das Publikum wünschte und der Epoche entsprach. Vergleicht man jedoch die Karten der „Kosmographie , auch die der späteren Ausgaben, mit den Atlanten eines Gerhard Mercator, eines Abraham Ortelius oder gar der Familie Blaeu, dann wird deutlich, dass sie Traditionen bewahrte und Erreichtes verwaltete, nicht aber in die Zukunft hinein wirkte, dass sie also allmählich in Rückstand geriet. Sie basierte auf den wiederbelebten Errungenschaften der Antike und schleppte noch Elemente des mittelalterlichen Weltbildes mit. Die großen Atlanten dagegen bemühten sich um größtmögliche Genauigkeit im Detail, mussten immer weniger „weiße Flecken mit erläuternden Legenden ausfüllen und bevorzugten entschieden die Gegenwart vor der Geschichte, von Gott ganz zu schweigen. Mit dem Weltbild des Mittelalters hatten sie nichts mehr zu tun.
1
Burmeister, Sebastian Münster, S. 21: homo studiosissimus et laboriosus..
6
Giovanni Battista Ramusio, Navigazioni e viaggi, hg. von Marica Milanesi, Bd. 2, Turin 1979, S. 691 (Duarte Barbosa).
2
Ebd., S. 113.
7
Colón, Textos, S. 78: la gente del Gran Can.
3
Simon Grynaeus, Epistola nuncupatoria, in: Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum, Basel 1532: vir doctus, & antiquitatis mire studiosus.
8
Wroth, Lawrence C.: The Early Cartography of the Pacific, in: Papers of the Bibliographical Society of America 38, 2 (1944), S. 87 – 268, hier S. 115.
4
Sebastian Münster, Typi cosmographici et declaratio et usus, in: ebd.
9
Zit. Wessel, Von einem, der …, S. 143.
5
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Schmitt, Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 2, S. 136.
10
Wilhelm Heinrich Riehl, Freie Vorträge 1, Stuttgart 1873, S. 136f.
11
Karl Heinz Burmeister in: Sebastian Münster, Ingelheim 1988, S. 57.
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Abbildungsnachweis
Register Kursive Zahlen beziehen sich auf die Abbildungen. Bf. = Bischof; Ebf. = Erzbischof; Hg. = Herzog; Hl. = Heilige(r); Kg. = König; Ks. = Kaiser
Personen Abaelard(us), Petrus 29 Adam 35, 39, 49 Adam von Harff 114 Aethicus Ister 77 Agenor 18 Albertus Magnus 26 Albumasar 77 Albuquerque, Affonso de 140 Alexander der Große 11, 13, 17, 25, 35 f., 48, 137 Alexander III., Papst 45 Alexander VI., Papst 117 Alfraganus 77 Almeida, Francisco de 140 Amberger, Christoph 130, 131 Ambrosius, Hl. 126 Andreas von Longjumeau 75 Angeli, Jacopo 106 f. Anselm von Canterbury 27 Antichrist 50, 57, 65, 88 Antonius, Hl. 32, 126, 128 Apt, Ulrich d. Ä. 130 Arghun, Il-Khan 72 Aristarchos von Samothrake 15 Aristophanes von Byzantion 15 Aristoteles 9, 77 Arnold von Harff 114 ff., 115, 119, 124, 128 Asia 18 Augustinus, Aurelius, Hl. 44, 48, 49, 71, 92, 93 Augustus, Ks. 23 Balboa, Vasco Nuñez de 145 Balduin I., Kg. von Jerusalem 37 Barbara Sophie von Brandenburg 145 Bartholomäus, Hl. 57 Bartholomäus Anglicus 89 Bartolo da Sassoferrato 98 Batu, Khan der Goldenen Horde 67 Bayan Tschingsan 83 Beck, Leonhard 130 Beeck, Heinrich van 42 Behaim, Martin 113 Bersuire, Pierre 89 ff. Berthold von Regensburg 30, 31 Bianco, Andrea 73 Boccaccio, Giovanni 111 Boëthius, Anicius Manlius Severinus 27 Bołeslaw II., Hg. von Schlesien 67 Bordone, Benedetto 106 Borgia, Cesare 117 Borgia, Lukrezia 117 Borja, Juan 117 Buondelmonti, Cristoforo 103 ff., 105, 112
Campanella, Tommaso 106 Cão, Diogo 136 Cartier, Jacques 145 Chandragupta, Ks. in Indien 13 Christophorus, Hl. 49 f. Chrysoloras, Manuel 107 Cicero, M. Tullius 104 Clemens IV., Papst 77 Coca, Frau des Großkhans Möngke 76 Colleoni, Bartolomeo 116 Colombo, Bartolomeo 143 Colombo, Cristoforo s. Kolumbus Constantinus Africanus 93 Cortés, Hernán 141, 145 Cotton, Robert Bruce 33 Cresques, Abraham 87 Cresques, Jefuda 87 Dante Alighieri 26, 89
Dias, Bartolomeu 136 Dias, Dinis 135 Dschingis Khan 60 – 66, 61, 69, 75, 83 Eanes, Gil 135 Elias 35 Eratosthenes 14 Etzlaub, Erhard 98, 99, 100 f., 116, 133 Euhemeros von Messene 106 Europa 18 Eva 35, 39 Fabri, Felix 119
Fillastre, Guillaume 109 Florentina, Schwester Isidors von Sevilla 9 Fra Mauro 109 ff., 110, 112, 114 Franziskus von Assisi, Hl. 66 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 45 Friedrich II., Ks. 65 Fries, Lorenz 137 Fulcher von Chartres 37
Gama, Vasco da 136, 139
Gautier/Gossuin de Metz 28 Georg, Hl. 125, 129 Gerbert von Reims 30 Gervasius, Propst von Ebstorf 56 Gervasius von Tilbury 43 ff., 52 – 56, 59, 91 Giovanni de’ Marignolli 80 Giovio, Paolo 134 Girald von Wales 98 Girardus von Antwerpen 21 Gratian 26 Gregor IX., Papst 66 Grynaeus, Simon 132, 133 Gundaphoros, Kg. in Indien 120 Güyük, Großkhan 61, 65, 67, 68, 73, 75 Hadrian, Ks. 48 Hagabos 93 Ham 19, 20, 57 Hanno 13 Heinrich V., Ks. 27 Heinrich III., Kg. von England 65 Heinrich der Löwe, Hg. von Bayern und Sachsen 45 f.
Heinrich II., Hg. von Schlesien 64 Heinrich der Seefahrer 135 Heinrich von Mainz 31, 32 Helena 105 Helena, Hl. 39 Henoch 35 Herkules 12 Hermann von Reichenau 30 Herodes, Kg. der Juden 124 Herodot 12, 13, 48 Hesekiel 39 Heymerick, Arnold 116 Hieronymus, Hl. 39, 77, 104, 117 Higden, Ranulf 42 Hildegard von Bingen, Hl. 29 Hippokrates 105 Holbein, Hans d. Ä. 130 Holbein, Hans d. J. 133, 134, 135, 137 ff., 141 f. Holl, Lienhart 111 Homer 12, 13, 88, 104 Honorius Augustodunensis 27 ff., 31, 46 Hrabanus Maurus 89 Hugo von Trimberg 44 Hugo von St. Viktor 25 Humbert, Ebf. von Arles 45 Huttich, Johann 133 Iambulos 106 Ibn Battuta 140 Ilsung, Sebastian 127 Innocenz IV., Papst 66, 69 Isidor von Sevilla, Hl. 9 – 11, 18 ff., 19, 20, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 37, 46, 68, 71, 75, 77, 89, 91, 106, 137 Jacobus de Voragine 50, 118, 122 Jacopo d’Acqui 28 Jakobus Maior, Hl. 32, 126, 128 Japhet 19, 20, 57 Jesus Christus 23, 24, 25, 34 f., 35, 36, 39, 44, 47, 49, 56, 57, 58, 68, 72, 90, 100, 101, 118, 120, 124, 125, 127, 129 João II., Kg. von Portugal 136 Johann Friedrich, Hg. von Württemberg 145 Johann von Mandeville 30 f., 86 Johannes, Hl. 39, 57 Johannes, Priesterkönig 82, 83, 120, 122 Johannes Buridanus 96 Johannes von Montecorvino 80, 85 Johannes von Plano Carpini (Giovanni di Pian di Carpine) 66 ff., 73, 74, 75, 76, 78 Johannes Scotus Eriugena 29, 30 Johannes von Würzburg 37 Juba, Kg. von Mauretanien 12 Justinian, Ks. 10, 119 Kain 31 Kallimachos 14 Karl V., Ks. 130 Kastor und Pollux 105 Katharina von Alexandria, Hl. 118 f., 128, 129
Register
157
Khubilai, Großkhan 62, 78 ff., 83, 88 Kolumbus, Christoph 112, 113, 142 f., 143 Konstantin, Ks. 10, 39 Kosmas Indikopleustes 17, 17 f. Ktesias von Knidos 13 Kuremsa / Qurumši 67 Kyrillos von Jerusalem 39 Lambert von St. Omer 22, 22
Leander, Bf. von Sevilla 9, 10 Leo Africanus 137 Leovigild, Kg. der Westgoten 10 Libya 18 Ludwig IX., der Heilige, Kg. von Frankreich 70, 75, 77, 101 Luther, Martin 89, 132 Luzifer 127, 129
Ma Huan 140 Maës Titianos 14 Magellan(es), Fernando de 145 Manuel I., Kg. von Portugal 137 Margaretha von dem Bongart 128 Maria, Hl. 56, 124, 125, 126, 127 Marinos von Tyros 15 Mark Aurel, Ks. 13 Marmion, Simon 20 Martellus, Henricus 73, 111 – 113, 112, 122 Matthäus, Hl. 57 Matthaeus Parisiensis 38, 65, 99, 100, 101 Matthias, Hl. 117, 128 Matthias von Miechow 134 Megasthenes 13 Melanchthon, Philipp 132 Mercator, Gerhard 108, 148 Michael, Hl. 127, 129 Möngke, Großkhan 61, 62, 65, 75, 76, 78 Mohammed 90, 119, 120, 121, 122 Mommsen, Theodor 26 Montalboddo, Fracanzano da 133 Morus, Thomas 106 Moses 57, 117, 118 f., 127 Münster, Andreas 130 Münster, Sebastian 108, 130 ff., 131, 133 ff., 134, 135 ff., 137 ff., 141 ff., 144, 146 ff., 147 Münzer, Hieronymus 126 Nebukadnezar 41
Nero, Ks. 12, 122 Niccoli, Niccolò 103, 107 Nicolaus Germanus 108, 111, 113 Noah 19, 20, 25, 46, 57
Odorico da Pordenone 80, 85 f.,
91, 120 Odysseus 105 Ögödei, Großkhan 61, 62, 75 Okeanos 18 Opicinus de Canistris 90, 91 Origenes 93 Orosius, Paulus 18, 77, 91 Orsini, Giordano 105 Ortelius, Abraham 108, 148 Ottheinrich von Pfalz-Neuburg 123 Otto IV., Ks. 45, 46, 50 Ovidius Naso, P. 89
158
Register
Patrick, Hl. 127 Paulinus Minorita 73 Paulus, Hl. 57, 93, 116, 125 Pellikan, Konrad 132 Petrarca, Francesco 104, 116 Petri, Heinrich 146 Petrus, Hl. 57, 116 Peutinger, Konrad 16 Pharasmanes 48 Philipp von Schwaben, röm. Kg. 44 Philippus, Hl. 57 Pierre d’Ailly 28 Pierre des Prés 90 Pilatus 124 Platon 9, 106 Plinius Secundus, C., d. Ä. 11, 13, 14, 18, 31, 49, 77, 91, 137 Plutarch 12 Polo, Marco 79 ff., 80, 84, 86, 88, 109, 110 f., 112, 113, 120, 122, 137, 139, 141, 142 Pomponius Mela 146 Ponce de León, Juan 145 133, 144, 146 Pytheas von Massalia 12 Ramusio, Giovanni Battista 133 Reccared, Kg. der Westgoten 10 Reisch, Gregor 132 Remigius von Auxerre 29 René II., Herzog von Lothringen 132 Richard of Haldingham or Sleaford 52 Rikarda von Harff 114 Ringmann, Matthias 145 Roger Bacon 77 Rorgo Fretellus von Nazareth 37 Russo, Jacopo 102 Ruysch, Johannes 108 Salomo 41, 47
Salutati, Coluccio 106 Santa Cruz, Alonso de 106 Sauma, Rabban 72 Schnabel, Johann Gottfried 106 Sem 19, 20, 57 Seneca, L. Annaeus 28, 77, 104 Sibylla, Herzogin von Jülich und Berg 127 Simon von Saint-Quentin 66, 72 Sisebut, Kg. der Westgoten 11 Skylax von Karyanda 13 Solinus, C. Iulius 18, 91, 146 Stöffler, Johannes 132 Strabo 13
Tacitus, P. Cornelius 12
Temüdschin 60 f. Theodulf von Orléans 30 Theopomp(os) von Chios 106 Thetys 18 Thevet, André 106 Thomas, Hl. 57, 120 – 122, 128, 129 Thomas von Aquin, Hl. 26 Thomas von Cantimpré 89 Tizian 130
Varro, M. Terentius 28 Varthema, Ludovico de 138 f.
Vasil’ko, Fürst von Vladimir-Volynsk 67 Vegetius Renatus, P. 17 Vergilius Maro, P. 12, 47 f., 148 Veronika, Hl. 47, 57 Verrocchio, Andrea 116 Vespucci, Amerigo 144 f., 148 Vincenz von Beauvais 69 ff., 70, 137 Waldseemüller, Martin 108, 133, 144 f. Walsperger, Andreas 42 Wilhelm II., der Gute, Kg. von Sizilien 45 Wilhelm IV., Herzog von Jülich und Berg 127 Wilhelm von Boldensele 125 Wilhelm von Rubruk 75 – 77, 78 Xenophon 13 Zeus 18, 104
Orte Aachen 115 Aden 121, 139 Ägypten 12 f., 19, 31, 36, 91, 101, 119, 123, 128, 139 Äthiopien 122 Ain Ja¯lu¯t 61 Akkon 37 ff., 38 Alexandria 14, 117, 118, 143 Alpen 99, 101, 116 Al-Tu¯r 120 Andros 105 Annam 62, 78 Antiochia 32, 117 Antillen 141 Apulien 99, 100, 101 Arabien 17, 48, 59, 90, 120 Ararat 57 Arelat 45, 48, 59 Argyre 14 Arles 45, 126 Armenien 35 Athen 23 Athos 105 Atlas 12 Augsburg 27, 130 Autun 27 Avignon 89, 91 Axum 17 Azoren 106, 135 Babel 32, 57 Babylon 25 Bagdad 61, 62, 67 Barcelona 10, 103 Basel 108, 130, 132, 133, 146 Beauvais 69, 100 Bedburg 114 Beijing 62, 79, 138, 141 Beirut 125, 129 Bethanien 124 Bethlehem 25, 32, 57, 117, 124, 125 Bethphage 124 Bissagós-Inseln 136 Bõa Vista 135 Böhmen 65, 66 Bologna 45, 95, 108, 116, 138
Borneo 139 Bouvines 45 Braunschweig 45, 59 Bretagne 128 Brindisi 118 Britannien 12 Buchara 61 Buda 62 Burgos 126 Burgund 96, 97 Burma 62, 78, 139 Byzanz 15, 47 Calicut 139 f., 140, 141 Cambridge 31, 47 Canterbury 115 Cartagena 9 Cathay 80, 86, 88, 110, 137 Cëuta 135, 141 Ceylon 14, 140, 141 Champa 78 China 14, 17, 61, 62, 63, 68, 77, 78 ff., 83-88, 91, 92, 112, 138, 141, 142 Chios 105 Chrysé 14 Chwarezmien 61 Conakry 136 Dadu 62, 79, 80, 88, 110 Damaskus 125 Delos 32, 104 Delphi 104 Derbent 35 Dnjepr 67 Don (Tanais) 14, 19, 75 Donau 12, 97, 98 Durham 31 Ebstorf 52 – 56, 55, 57, 59, 73 Edessa 120 Einsiedeln 115 Emmaus 101 England 26, 27, 30, 31, 33, 45, 47, 52, 59, 65, 95, 99, 100, 112, 133 Euphrat 18, 31 Evesham 54 Finisterre 126, 127, 128 Florenz 107, 116 Frankfurt 97 Frankreich 31, 45, 56, 70, 77, 87, 91, 96, 97, 98, 107, 133 Freiburg im Breisgau 131 f. Galiläa 19 Gambia 136 Ganges 13, 31, 35 Geldern 127 Genua 103, 118 Germanien 12, 19 Gewürzinseln s. Molukken Gibraltar 12, 19, 103 Gihon 18, 31 Gilead 32 Gortyn 104 Göttingen 54 Griechenland 101, 103 ff., 112, 146 Grönland 109 Guinea 136 Haïti 141, 142 Hangzhou 83 f., 85, 86, 110
Hannover 54 Hanoi 62 Harff 114 Heidelberg 131 f., 133, 146 Heilige Stadt s. Jerusalem Heiliges Land s. Palästina Henoch 31 Hereford 52, 53, 54, 56, 57, 73 Horeb 117, 119 Indien 11, 13, 16, 17, 30, 48 f., 51, 59, 62, 75, 87, 91, 103, 109, 113, 120 – 122, 128, 135 ff., 137 ff., 142, 145 Indischer Ozean 16, 109, 121, 135, 136, 137, 139, 141 Indus 13 Ingelheim 130 f. Iran 13, 61, 62 Irland 26, 27, 48, 91, 109, 112, 127 Island 48, 91 Istanbul 125 Italien 12, 19, 45, 47, 52, 59, 86, 91, 95, 98, 106, 107, 116, 133 Ithaka 105 Jaffa 101, 123, 124 Japan 62, 78, 80, 113, 141, 142, 145, 148 Java 62, 139 Jericho 32, 36 Jerusalem 16, 32, 33, 36, 37, 38, 39-42, 40, 57, 58, 67, 93, 100, 101, 115, 117, 118, 122-125, 124, 126, 127, 128, 129 Jordan 32, 36, 91, 124, 125 Judäa 19 Jülich 114, 127 Kaipingfu 79 Kairo 122, 124, 148 Kaiseraugst 27 Kanarische Inseln 12, 16, 87, 90, 106, 135 Kanton (Guangzhou) 85 Kap Bojador 135 Kap der Guten Hoffnung 136, 139 Kap Verde 135 Kapernaum 25 Karakorum 62, 73, 75, 76, 77, 78 Karibik 106, 141, 142 Karrhae 23 Karthago 23 Kaspisches Meer 18, 67, 74, 75, 77 Kaster 114 Katharinenberg 119, 120 Kattigara 16, 143 Kaukasus 25, 35, 61, 62, 65, 76 Khanbaliq 79, 86, 88, 91, 110, 137 Kiew 67 Kiptschak 61 Kleve 16 Klosterneuburg 107 Koblenz 131 Köln 31, 108, 114, 115, 127, 128 Konstantinopel 10, 32, 40, 42, 67, 75, 83, 104, 105, 106, 116 f., 125, 128, 129 Korea 61, 62, 77, 78 Korsika 112 Kos 105 Kottonara 31
Krakau 67 Kreta 18, 104, 118 Kuba 141, 142, 145 Kulmbach 54 Kykladen 32, 105 Kythera 105 Lamb7ach 27 Libanon 32 Liegnitz 62, 63, 64 Lincoln 52 Lissabon 109, 136, 141 Lövenich 127, 128 Löwen 131 London 33, 38, 54, 58, 100 Lüneburg 54, 59 Luoyang 13 Maas 96, 98 Madaba 36, 37 Madagaskar 122 Madeira 135 Madras 120 Mäotische Sümpfe 14, 19, 75 Mailand 126, 128 Malakka 140 Mali 136 Malindi 136 Mallorca 103 Manzi 80 Marseille (Massalia) 12, 118 Mauretanien 12 Medina 120, 139 Mekka 120, 121, 139 Meroë 31, 122, 136 Mesopotamien 13, 59, 92 Metz 131 Mexiko 141 Mittelmeer 19, 32, 118 Molukken (Gewürzinseln) 138 f., 140 Mondberge 13, 122, 136 Mongolei 60, 63, 67, 68, 77, 78 Mont-Saint-Michel 127, 129 Mosesberg 119 Murano 109 Mylapore 120, 128 Mytilene 105 Nagasaki 141 Nanjing 138 Narbonne 10 Nazareth 125 Neapel 45, 47 f., 59 Niger 136, 137 Nil 12 f., 19, 31, 36, 59, 120 – 122, 137 Nola 45 Norwegen 30 Nowgorod 62 Nürnberg 112, 113, 126 Orinoco 143 Oudâne 135 Oxford 33, 42 Padua 117 Pagan 62, 78 Palästina (Heiliges Land) 19, 36 – 39, 57, 101, 115, 117, 118, 122 ff., 126, 128 Palermo 45 Palma de Mallorca 86, 103
Register
159
Paradies 18, 31 f., 33, 35, 57, 58, 91, 106, 122 Paris 31, 69, 70, 75, 77, 87, 96, 118, 127 Pataliputra 13 Pavia 107 Peloponnes 118 Persepolis 13 Persien 13, 62, 80, 103, 139, 148 Peru 148 Perugia 98 Pest 62 Pforzheim 132 Pfuhl (Neu-Ulm) 97 Phison 18, 31, 35 Pisa 101, 103 Po 91 Polen 66, 134 Porto Santo 135 Portugal 109, 133, 135 ff., 139 ff. Pozzuoli 47, 48 Provence 45 Quinsai s. Hangzhou Ramla 101 Regensburg 16, 27 Reims 45 Rhein 12 Rhodos 104, 118 Rom 16, 17, 23, 32, 40, 45, 57, 59, 98, 99, 100, 101, 115, 116 f., 126, 128, 137 Rotes Meer 18, 24, 25, 32, 35, 37, 57, 118 Royaumont 69 Rubruk 75 Rufach (Rouffach) 132 Russland 61 f., 63, 66, 73, 134 Saba 47, 120, 121 Säulen des Herkules 12, 19 Sahara 12 Saint Albans 38 Saint-Antoine (en-Viennois) 126, 128, 129 Saint-Denis 75, 127 Saint-Dié 132 Salzburg 16 Samaria 19 Samarkand 61 Sankt Gallen 22 Santiago de Compostela 57, 100, 115, 126, 127, 128, 129 Sarai 67 Sardinien 112 Savoyen 97 Sawley 31 ff., 32, 36, 58 Scarperia 106 Schottland 109 Senegal 136 Sevilla 9 Shangdu 79, 80, 81 Siam 141, 148 Siegburg 27 Siena 16 Sinai 16, 25, 32, 36, 57, 118 – 120, 119, 127, 128, 129 Sizilien 45, 59, 98, 101 Skythien 19, 91, 135, 137 Sokotra 17, 121 Spanien 10, 19, 32, 66, 91, 98, 115, 126, 127, 128, 133, 142
160
Register
Straßburg 108, 133 Stuttgart 145 Sumatra 87, 88, 139, 141 Syene 122 Syra Orda 67, 68 Tabor 125 Täbris 91 Tamacho 145 Taprobane 14, 16, 17, 33, 106, 121, 141 Tartarei 73 Tartaros 65 Tenedos 105 Tenochtitlán 145 Thule 12 Tiber 98, 117 Tibet 61, 77, 92 Tigris 18, 31 Tilbury 45 Toledo 10 Totes Meer 36, 37 Toulouse 10, 126 Trient 16 Trier 65, 131 Tschaghatai 62 Tübingen 132 f. Tunis 101 Turkestan 14 Tyrus 25 Ulm 97, 108, 133 Ungarn 63 ff., 65 Urbino 116 Venedig 45, 72, 80, 91, 103, 109, 115, 116, 118, 126, 128, 133 Vercelli 52, 54 Verona 16 Vézelay 49, 50 Vietnam 78 Westminster 33 Wien 107 Wilsnack 115 Wolga 67 Yangzi 83, 85 Yangzhou 85 Yucatán 145 Zaitun (Quanzhou) 85, 110 Zakynthos 105 Zipangu 80, 106, 112, 113, 141, 142, 145 Zypern 47, 101, 118
Karten Aslake Map 54 Behaim, Martin: Erdglobus 113 Bianco, Andrea: Mappamondo 73 Buondelmonti, Cristoforo: Athos 105 – Konstantinopel 105 Cottoniana 33 Cresques, Abraham und Jefuda: Katalanische Weltkarte (Paris) 87 f., 87, 119 Duchy of Cornwall Map 54 Ebstorfer Weltkarte 42, 52 ff., 55, 57 ff., 58, 73 Etzlaub, Erhard: Romwegkarte 98 f., 99, 101, 116
Evesham Map 42, 54 Fra Mauro: Mappamondo 6, 109 ff., 110 Girald von Wales: Europakarte 98 f. Hereford Map 52 ff., 53, 56 f., 73 Higden, Ranulf: Weltkarte 42 Katalanische Weltkarte (Modena) 73 f., 74 Kolumbus, Christoph: Küste von Haïti 142 Kosmas Indikopleustes: Weltkarte der Christlichen Topographie 17 f., 17 Lambert von Saint-Omer: Weltkarte im Liber floridus 22 Madaba-Mosaikkarte 36 f., 37 Martellus, Henricus: Insularium illustratum 73, 112 – Ptolemäus-Karten 112 – Yale World Map 113 Matthaeus Parisiensis: Das Heilige Land und Akkon 38 – Itinerarkarte 99 ff., 100 Münchener Isidor-Karte 23 ff., 24 – Münster, Sebastian: Afrika 136 f., 136 – Die neuwen Inseln 144 f., 144 – Heydelberger becirck 133 – Typus cosmographicus universalis 133-135, 134, 137 f., 138, 141, 145, 148 Opicinus de Canistris: Afrika und Europa 90 f., 90 Oxforder Weltkarte 33, 42 Pisaner Portulan 101 Portulankarten 101 ff. Psalterkarte 33 ff., 34, 35, 42, 58 Ptolemäus: Drucke 108 – Regionalkarten 14 ff. – Tabulae modernae 109, 112 – Weltkarte 14 ff., 15, 108 Rudimentum noviciorum: Der Weg von Jaffa nach Jerusalem 101 Russo, Jacopo: Portulan 102 Sankt Galler Isidor-Karte 22 Sawley Map 31 ff., 32, 58 Situs Jerusalem 40 f., 40 Strozzi, Alessandro/Colombo, Bartolomeo: Asien, Afrika und die Neue Welt 142 f., 143 Tabula Peutingeriana 16 f., 16 Ulmer Augenscheinkarte 97 Velletri- oder Borgia-Karte 73 f., 74 Vercelli-Weltkarte 52, 54 Waldseemüller, Martin: Carta marina navigatoria 73, 145 – Universalis cosmographia 144 f. Walsperger, Andreas: Weltkarte 42 Weltkarte von Sainte-Geneviève 42