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German Pages [306] Year 2011
Andreas Blühm / Anja Ebert (Hg.)
WELT – BILD – Museum Topographien der Kreativität
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bacon, Francis, Werke im Atelier. © The Estate of Francis Bacon/VG Bild-Kunst, 2011. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20729-8
Inhalt 7 Andreas Blühm Vorwort
Atelier 11 Hans-Joachim Raupp Das Image des Malers in niederländischen Atelierbildern und der Beitrag Rembrandts 25 Hans Dickel Medien der Macht – Macht der Medien. Edouard Manets Gemälde Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko (1869) im Spannungsfeld „Welt – Bild – Museum“ 39 Franz Zelger Das Atelier im Grand Hotel. Eine Künstlerwerkstatt zur Zeit des aufblühenden Tourismus 55 Peter Springer Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne. Zur Tradition translozierter Künstlerwerkstätten
Akademie 81 Volker Plagemann Die Künstlerreise nach Italien und die akademische Künstlerausbildungspraxis 101 Oskar Bätschmann Die Eitelkeit des Wettstreits Benedetto Varchis Umfrage (1547) und Publikation (1550) zum Paragone 121 Carl Goldstein Canon and Copy: The Canon Communicated
137 Rudolf Preimesberger Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten in Genua. Gattungsfragen 163 Karl Schütz Gemäldegalerie und Kunstakademie in Wien im 18. Jahrhundert 175 Roland Kanz Kunstakademie und Künstlerstreit. Nachrichten von Kollegenkonkurrenz und Kontroversen über sakrale Historienmalerei in Sachsen: Casanova, Schenau, Oeser
Museum 201 Dorothea und Peter Diemer Skulptur in den frühen Kunstkammern von Dresden, Ambras, München und Prag – eine Skizze 229 Krzysztof Pomian Lenoir, Wallraf, Correr 243 Peter Hecht Der Künstler im Museum: van Gogh als Vorbild 261 Verena Krieger Sterben im Museum – Spektakel oder kreativer Akt? 277 Peter J. Schneemann Anweisung, Beobachtung und Nachricht. Rollenspiele für eine neue Rezeptionsästhetik 291 Walter Grasskamp Die Welt als Museum? 301 Die Autoren 305 Abbildungsnachweise
Andreas Blühm
Vorwort Atelier, Akademie und Museum sind die Orte der Kunst, die in den Aufsätzen dieses Bandes reflektiert werden. Es mag außer diesen drei genannten noch mehr geben, zum Beispiel die privaten und öffentlichen Räume. Gleichwohl wird – nicht zu Unrecht – das Museum als die wichtigste und finale Bestimmung eines Kunstwerks angesehen. Und so ist es nur konsequent, dass dieser Band die Aufsätze eines Symposiums publiziert, das in einem Museum abgehalten wurde. Am 28. Januar 2009 trafen sich die Autoren im Stiftersaal des Wallraf-RichartzMuseums & Fondation Corboud in Köln. Der Anlass war die Würdigung von Professor Dr. Ekkehard Mai, der mit dem Symposium seinen Abschied von einer langjährigen Tätigkeit an diesem Hause nahm. Seine zahlreichen Ausstellungen, Publikationen, Gutachten und Lehrveranstaltungen haben ein großes nationales und internationales Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entstehen lassen. Das Symposium hat den Fachleuten und dem Publikum die Gelegenheit verschafft, viele erfahrene Kunsthistoriker aus Universität und Museum hören, kennen lernen und wiedersehen zu können. Es ist aber im Sinne des Geehrten, dass dies keine Festschrift geworden ist. Ekkehard Mai hat zwar das Thema vorgegeben und Vorschläge für die Teilnehmer gemacht, aber die Aufsätze zirkulieren nicht um die Person, sondern schweifen aus in bekannte und unbekannte Territorien der Kunstgeschichte. Hier werden in der Tat die Resultate von Feldforschung vorgestellt. Das Museum als Ort der Forschung ist naturgemäß dem Objekt näher als der reinen Theorie. Das erklärt auch, warum viele der Aufsätze einzelne oder mehrere Kunstwerke behandeln und auf klassische Weise zu deuten versuchen. Das mag ein gemeinsamer Nenner der Autoren sein, ohne dass damit eine andere Annäherung an das Fach Kunstgeschichte etwa als weniger legitim angesehen werden sollte. Wir freuen uns über die enge Zusammenarbeit von Museum und Universität. Ekkehard Mai vereinte sie als Kustos, Ausstellungsmacher und Dozent an der Kölner Fakultät in Personalunion. Die Universität Köln war daher auch ein logischer Mitveranstalter des Symposiums. Mein Dank gilt dem gesamten Lehrkörper und den Studierenden und stellvertretend für alle insbesondere den Professoren Stefan Grohé und Susanne Wittekind. Ein Symposium soll die Veteranen des Faches mit dem Nachwuchs ins Gespräch bringen. Diesem Nachwuchs entstammt Anja Ebert, die dem Museum als zuverlässige Praktikantin und durch ihre wissenschaftliche Projektmitarbeit bekannt war. Sie hat auch das Symposium und diesen Band auf gewissenhafte Weise betreut. Wer so etwas schon einmal geleistet hat, kann ermessen, welche zeit- und nervenaufreibende Tätigkeit das sein kann. Vorwort | 7
Die Fritz Thyssen Stiftung hat nicht nur das Symposium und den Aufsatzband finan ziell ermöglicht, sondern gereicht uns mit ihrem multidisziplinären Ansatz und ihren strengen Kriterien als Partner zur Ehre. Nicht nur für diesen Beitrag dankt das WallrafRichartz-Museum & Fondation Corboud der Fritz Thyssen Stiftung ganz herzlich. Unser Dank gilt nicht zuletzt dem Böhlau Verlag für sein Entgegenkommen und seine Unterstützung, insbesondere Elena Mohr und Julia Beenken, die die Publikation umsichtig und professionell betreut haben. Der Geehrte, Ekkehard Mai, wird uns erlauben, ihm auch von dieser Stelle aus alles Gute zu wünschen. Wir verbinden damit natürlich die Erwartung weiterer inspirierender Texte zur Geschichte der Kunst und ihrer Institute. Andreas Blühm
8 | Vorwort
Hans-Joachim Raupp
Das Image des Malers in niederländischen Atelierbildern und der Beitrag Rembrandts Nur in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts hat sich das Atelierbild zu einer eigenständigen Form der Künstlerdarstellung entwickelt, obwohl dieses Jahrhundert in ganz Westeuropa ein Goldenes Zeitalter der Malkunst war, sowohl ihren Leistungen wie ihrem theoretischen Rang nach. In Italien, Frankreich und dem Reich waren es viel eher Kunstallegorien, Apelles-Alexander-Darstellungen und Akademiebilder, die als Spiegel künstlerischer Selbstbehauptung und Selbstreflexion genutzt wurden.1 Nur in den Niederlanden, genauer gesagt in den Kunstzentren der Republik Leiden, Haarlem, Utrecht, Amsterdam und Rotterdam sowie in Antwerpen wurde die Darstellung des Malers vor der Staffelei zum eigenständigen Bildthema, und zwar gleichermaßen in porträthaften Darstellungen und Selbstdarstellungen namhafter Künstler wie in anonym genrehaften Bildern und in fiktional historisierenden oder allegorischen Bildern – am bekanntesten ist Jan Vermeers Ruhm der Malkunst im Kunsthistorischen Museum in Wien.2 Es gehört zu den Verdiensten der 2006 publizierten Berliner Dissertation von Katja Kleinert, nachdrücklich auf die Unterscheidung dieser verschiedenen Aufgaben der Künstlerdarstellung hingewiesen zu haben.3 Sie hat überzeugend darstellen können, dass die genrehaften Atelierbilder kein zuverlässig realistisches und vollständiges Bild der tatsächlichen Werkstattpraxis bieten, sondern im Sinne einer Besucherperspektive mit Hilfe verkürzter und typisierter Darstellung und unter Benutzung formelhafter Versatzstücke ein Image des Malers konstruieren und fixieren, das auf klischeehafte Erwartungshaltungen des Publikums berechnet ist. Die Spannweite dieser Erwartungshaltungen reicht von Mystifizierungen, die den Maler in eine Ecke mit Alchemisten und weltfremden Gelehrten stellen, bis zu spöttischen Vorurteilen über armseliges und unordentliches Lumpengesindel.4 Dazwischen steht die große Mehrzahl der Darstellungen des Malers als eines gebildeten Bürgers, der ein seriöses Metier ausübt. Charakteristisch für die Niederländer ist dabei, dass die Atelierbilder hauptsächlich von Genremalern produziert wurden, und dass diese ihre Maler vorzugsweise in dem Milieu situieren, das für ihre Genrebilder auch sonst charakteristisch ist: Die Leidener Feinmaler der Dou-Schule konstruieren das für sie und ihre Universitätsstadt typische Gelehrtenmilieu, die Amsterdamer Maler von bürgerlichen gezelschapjes entsprechend klein- und großbürgerliche Interieurs, die Haarlemer Bauernmaler ihre üblichen scheunenartigen Räume voller Gerümpel. Das Image des Malers | 11
Gerade darin erweist sich, dass die Atelierbilder weniger das persönliche Selbstverständnis ihrer Maler ausdrücken als vielmehr Publikumserwartungen bedienen: sowohl im allgemeinen Sinne der geläufigen Redewendung zoo de man zoo het werk,5 als auch im Sinne der Bekräftigung eines erfolgreich am Markt eingeführten „Markenprofils“. Ekkehard Mai hat in seinem schönen Beitrag zum Ausstellungskatalog Wettstreit der Künste 2002 einen noch sehr viel weiter reichenden Horizont für das Atelierbild als Topos der künstlerischen Selbstreflexion und Selbstdefinition eröffnet, der im Folgenden wieder angestrebt werden soll.6 Wir gehen davon aus, dass die Maler auf die verschiedenen Erwartungshaltungen, Klischeevorstellungen, Vorurteile und Mystifikationen des Publikums, der Sammler und der Käufer nicht bloß reagiert, sie nicht bloß bedient haben. Vielmehr ist das Image des Malerberufes im Positiven wie im Negativen von den Malern selbst erzeugt oder wenigstens modelliert worden. Dies geschah sowohl in bildlichen Darstellungen ihrer Person und Profession als auch in Festvorträgen, Traktaten und Biographien, die im 17. Jahrhundert noch weitgehend von Malern selbst verfasst wurden, man denke an Carel van Mander, Philips Angel, Samuel van Hoogstraten, Arnold Houbraken und Gerard de Lairesse. Ihre Aufgabe war es weniger, die gegebene Wirklichkeit zu beschreiben, als exempla zur Nachahmung oder zur Vermeidung zu liefern. Besucher eines niederländischen Malerateliers des 17. Jahrhunderts kamen nicht als Laufkundschaft in einen offenen Laden, sondern wurden in einen Arbeitsraum eingelassen, der aus Beleuchtungsgründen zumeist im Obergeschoss lag, und sie kamen als Käufer, Auftraggeber und/oder Porträtmodelle.7 Was die Atelierbilder bieten, ist eine entsprechende Besucherperspektive, die nur einen auf äußerlichen Eindruck gerichteten, quasi allgemeinverständlichen Einblick in technische Verfahren, Arbeitsteilung und Logistik geben will. Atelierbilder und Porträts arbeitender Maler verraten also keine Betriebsgeheimnisse, sondern sie wollen die Figur des Malers, seinen Arbeitsvorgang und die Beziehung zu seinem fertigen oder noch in der Entstehung begriffenen Produkt in ein ganz bestimmtes Licht rücken.8 In dieser Intention treffen sich die anonym-genrehaften Atelierbilder mit den Künstlerporträts, Selbstbildnissen und anderen Malerdarstellungen, und alle zusammen konstruieren das Image des Malers in seinen verschiedenen Facetten für die Außenwelt der Käufer, der Sammler und der Mäzene. Auch einen weiteren Kreis von Ansprechpartnern sollte man nicht außer Acht lassen: den potentiellen Malernachwuchs beziehungsweise dessen Eltern, die sich einerseits eine solide und einträgliche Berufslaufbahn für ihren Sprössling versprachen, möglicherweise sogar einen sozialen Aufstieg, die auf der anderen Seite aber auch eine mehrjährige und überdurchschnittlich kostspielige Ausbildung zu finanzieren hatten.9 Über diese Berufslaufbahn waren allerdings nicht nur positive Vorstellungen im Umlauf. Malerlehrlinge fanden im Haus ihres Lehrmeisters oft schlechte Vorbilder und einen 12 | Hans-Joachim Raupp
lockeren Lebenswandel, gerieten beim Aktstudium an zweifelhaften Frauenzimmern in Versuchung, mussten gefährliche Studienreisen ins feindliche und ketzerische Ausland unternehmen. In der vom Künstler selbst autorisierten Biographie des Adriaen van der Werff kann man nachlesen, wie mühsam der Junge die Eltern von seinem Berufswunsch überzeugen musste, denn der Vater hatte in van Manders Schilder-Boeck allzu viel Bedenkliches über das unmoralische Treiben der Maler gelesen,10 zweifellos auch das sprichwörtliche hoe schilder hoe wilder, dessen Bekanntheit als gängige Redensart von van Mander beklagt wird.11 Was hatte die Kunstmalerei als positive Motivationen zu bieten? Womit konnte sie gegenüber anderen weniger riskanten Berufszielen für sich einnehmen? Was konnte sie einem Jungen bieten, der sein Talent und seinen Drang zum Künstler bereits seit früher Kindheit in der üblichen Weise durch unermüdliches Zeichnen in Schreibheften, Buchseiten, auf getünchten Wänden und sandigen Böden unter Beweis gestellt hatte, wie so viele Biographien berichten?12 Rembrandts Schüler Samuel van Hoogstraten hat auf den Außenseiten seines Londoner Perspektiv-Guckkastens drei Hauptmotivationen des Malers verbildlicht, die auf den römischen Philosophen Seneca zurückgehen: das Streben nach Ruhm, das Streben nach Gewinn und die Liebe zur Kunst: gloria causa – lucri causa – amoris causa.13 Diese Liebe wird gern auch als erotisches Verhältnis von pictor und pictura oder als erotische Inspiration des Malers durch die Schönheitsgöttin Venus verbildlicht – wie schön, wenn sich die eigene Ehefrau als Modell empfiehlt wie bei Frans van Mieris d. Ä. oder bei Adriaen van der Werff.14 Auf Seiten des Künstlers wirkt diese Liebe als Schöpferdrang, als Hingabe an kreative Herausforderungen und an höhere Eingebungen, die sich zusätzlich noch durch Musizieren beflügeln und auffrischen lassen.15 Aus dem Liebesbund von pictor und pictura entspringt der Schöpfungsakt, die gottgleiche creatio ex nihilo, die aus dem Nichts, das heißt auf der unberührten Maltafel, eine eigene „kleine Welt“ entstehen lässt.16 Cornelis de Bie, bekannt als Autor des Gulden Cabinet (1661), des bedeutendsten Beitrages Antwerpens zur Kunst- und Künstlerliteratur des 17. Jahrhunderts, hat 1670 ein langes Lobgedicht auf die Malkunst veröffentlicht unter dem Titel/Motto ad omnia paratus – tot als bereydt und mit einer Bildvignette, die einen Maler schaffensbereit vor einer Staffelei mit leerer Maltafel zeigt (Abb. 1). Im Gedicht heißt es dazu: „Was Ihr wollt, er wird es malen und aus toten Farben holen gebt von Eurem Wunsch Bescheid, denn er ist zu allem bereit.“17
Das Image des Malers | 13
Zahlreiche Atelierbilder, aber auch Porträts und Selbstbildnisse zeigen den Maler oder Zeichner arbeitsbereit vor einer noch leeren Tafel oder Leinwand oder mit einem leeren Zeichenblatt.18 Unter solchen Voraussetzungen erhebt sich der Künstler in seinem Ranganspruch weit über die handwerklichen Zunftgenossen, aber auch über jene Malerkollegen, die sich mit der bloßen „Nachahmung“ von Naturgegenständen zufrieden geben. Unter diesen Vorzeichen möch te ich nun Rembrandts kleines Atelierbild in Boston von 1628/29 näher betrachten: Es dürfte das früheste und erste gemalte genrehafte und profane Atelierbild in den Niederlanden überhaupt sein (Abb. 2).19 Es hat in der Forschung durchaus die verdiente Aufmerksamkeit erfahren, als Künstlerdarstellung und mögliche Selbstdarstellung Rembrandts, als realistisch wir 1 Cornelis de Bie, Faems Weer-Galen […], Mecheln 1670, S. 95 kende Darstellung eines Malerateliers in einem Leidener Stadthaus und auch in seiner Bedeutung für das Entstehen des niederländischen Interieurbildes. Jüngst wurde herausgestellt, dass Rembrandts Atelier-Interieur in enger Beziehung zu den etwa gleichzeitig von ihm selbst und im Leidener Künstlerkreis gemalten Studentenstuben zu sehen ist, etwa zu dem traditionell an Pieter Codde und jüngst von Bernhard Schnackenburg überzeugend an Rembrandt zugeschriebenen Lustlosen Studenten in Lille oder zu Jan Davidsz de Heems nicht weniger missmutigem Studenten im Ashmolean Museum, Oxford.20 14 | Hans-Joachim Raupp
2 Rembrandt, Der Maler im Atelier, um 1628/29, Boston, Museum of Fine Arts
Hier ist spannend zu sehen, dass es in diesen Bildern nicht nur um gemeinsame malerische Probleme der Innenraumdarstellung in hellem Licht geht, sondern auch um ein gemeinsames Grundthema: Schwierigkeiten bei der Verwirklichung geistiger Aufgaben und Herausforderungen. Die Arbeit am Studiertisch oder an der Staffelei wird aufgegeben, unterbrochen oder muss überhaupt erst einmal in Gang kommen. Beim Bostoner Atelierbild fällt auf, dass der starke, sonnige Tageslichteinfall von links ganz regelwidrig und praxisfern gewählt ist: Er ist für die Tätigkeit des Malers viel zu grell und trifft auch noch die Staffelei in einem Winkel, der beim Malen äußerst störende Schlagschatten erzeugen und die Arbeit behindern muss. Rembrandt beschreibt die Wirkung dieses Lichts im Interieur und auf der Staffelei äußerst prägnant, das Licht spielt eine tragende, eine aktive Rolle in seiner Bildvorstellung. Dabei muss man bedenken, dass Rembrandt dieses Raum-Licht-Konzept eigentlich für religiöse Historienbilder erfunden hat, die im Tempel von Jerusalem spielen: Simeon im Tempel (um 1627/28, Hamburger Kunsthalle) und Der reuige Judas bringt die Silberlinge zurück (1629, englischer Privatbesitz).21 Die „Formel“ lautet: links eine starke unsichtbare Tageslichtquelle, rechts ein verschatteter Ausgang, dazwischen ein Motiv, das die Art des Gebäudes bezeichnet – für den Tempel steht ein dicker Rundpfeiler, für das Atelier das typische Mobiliar. Das Image des Malers | 15
Die „Tempelformel“ wurde merkwürdigerweise von Rembrandts Leidener Nachfolgern, an erster Stelle von Gerrit Dou, für Atelierbilder (aber auch für andere profa ne Interieurs) weiterverwendet, in eigentümlichen Varianten, aber doch immer erkennbar.22 Für die Deutung lassen sich daraus aber keine weiteren Schlüsse ziehen, weil Rembrandt selbst mit seinem Interieur mit Figuren, die „la maine chaude“ spielen, diese Übertragung der „Tempelformel“ aus dem biblischen Historienbild ins profane Genrebild initiiert hat.23 Zurück nach Boston: Rembrandts Atelier ist das früheste perspektivisch konstruierte Interieur in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, das eine gewöhnliche Stube darstellt und nicht etwa Phantasiearchitektur, Palast oder Kirche. Es ist in dieser Hinsicht auch eine einzigartige Ausnahme in Rembrandts eigenem Œuvre. Er hat so etwas nie wieder gemacht. Das Perspektivschema des Bostoner Atelierbildes entspricht weitgehend dem eines Musters von Hans Vredeman de Vries, 1604 in Leiden publiziert (Abb. 3).24 Dieses Muster-Interieur zeigt bereits Licht von links und einen verschatteten Ausgang rechts. Der Horizont liegt, wie später bei Rembrandt, in Augenhöhe der Hintergrundfigur. Ausgehend von Standardmaßen bei Türhöhe und Breite der Dielenbretter lässt sich für den gezeigten Raumausschnitt des Bostoner Ateliers eine ungefähre Breite von drei bis vier Metern und eine ungefähre Tiefe von drei bis dreieinhalb Metern errechnen. Die Perspektivkonstruktion 3 Hans Vredeman de Vries, Perspective, Leiden 1604 erzeugt eine sehr starke Verkürzung. Dies erklärt die knabenhaft scheinende Größe des Malers, der in Wirklichkeit ein ausgewachsener junger Mann von untersetzter Statur ist, was zu Rembrandt selbst passen würde. Er trägt einen Tabbard, der ihm zu groß ist. Das eigentlich für Gelehrte und Geistliche bestimmte talarartige Kleidungsstück wurde für den Ateliergebrauch vermutlich „second hand“ erworben,25 scheint aber dennoch die Erscheinung des Malers zu nobilitieren. Angesichts der Schlichtheit und Klarheit der Raumbildung aufgrund präziser Konstruktion muss es befremdlich erscheinen, dass die Staffelei sich dieser nicht einpasst, wie bereits L. D. Couprie in zwei Publikationen von 1992 und 1994 zeigen konnte.26 Diese Artikel wurden zwar fleißig bibliographiert, aber offenbar nicht mehr gelesen. 16 | Hans-Joachim Raupp
4 Rembrandt, Der Maler im Atelier, Perspektivskizze von L. D. Couprie, 1992
Coupries Konstruktionsskizze zeigt, dass die Fluchtlinien der Maltafel auf der Staffelei die Horizontlinie nicht treffen (Abb. 4). Die Grundriss-Skizze macht klar, dass die Beine der Staffelei in unmöglichen Positionen und Richtungen stehen und dass die Maltafel nicht mittig aufgestellt ist, sondern stark nach links überhängt (Abb. 5). Der Betrachter des Gemäldes selbst kann diese Fehler nicht erkennen, er vermerkt ledig5 Rembrandt, Der Maler im Atelier, Grundriss-Skizze von L. D. lich die ausgesprochen sperrige Couprie, 1992 Wirkung der massiv im Vordergrund aufragenden Staffelei. Eine im gegebenen Winkel von 45 Grad (zu Bildebene und Dielenbrettern) aufgestellte Staffelei in korrekter perspektivischer Ansicht wäre deutlich schmaler ausgefallen und hätte die von Rembrandt offensichtlich angestrebte imposante Wirkung verfehlt. Erst die perspektivisch falsche Stellung erzeugt den Eindruck, dass sich Maler und Staffelei gegenüberstehen wie zwei Kontrahenten in einem Duell. Das bedeutet: Hier erwartet eine noch unbemalte Tafel beziehungsweise ein angefangenes, noch unfertiges Bild einen Maler, der noch um seine Bilderfindung oder um Das Image des Malers | 17
die Lösung seiner Probleme ringt und mit gebanntem Blick in abwartender, ja beinahe lauernder Distanz verharrt. Der bis auf die notwendigsten Arbeitsmittel leere und kahle Raum enthält weder Zeichengerät noch Studienobjekte – ganz im Gegensatz zu den mit solchen Dingen geradezu voll gestopften Ateliers der Leidener Nachfolger. Ganz im Sinne von Rembrandts eigener Schaffensweise geht der Bostoner Maler nicht mit auf Papier vorbereiteten Entwürfen und erst recht nicht im Anblick von Naturobjekten ans Werk, sondern er schafft uyt den gheest, nach dem vor seinem inneren Auge, in seiner „Idee“ stehenden Bild. Ernst van de Wetering hat daraus geschlossen, dass Rembrandt hier eine Idealvorstellung seines bevorzugten kreativen Verfahrens schildert: Der Maler wartet ab, bis das innere Bild zur Vollkommenheit ausgereift ist, um dann erst zur malerischen Ausführung überzugehen, die in einem durchgehenden Zug erfolgen kann. Er erinnert an den von Samuel van Hoogstraten berichteten Wettstreit zwischen Jan van Goyen, Jan Porcellis und François Knibbergen, an einem einzigen Arbeitstag ein meisterliches Landschaftsbild zu malen, aus dem Porcellis mit dieser Schaffensweise als Sieger hervorgegangen sein soll.27 Falls dieser Wettstreit tatsächlich stattgefunden haben sollte, müsste dies um 1630 in Den Haag geschehen sein, also in so enger zeitlicher und räumlicher Nähe, dass die hier eingesetzten Modellvorstellungen auch Rembrandt in Leiden um 1628/29 inspiriert haben können. Allerdings berücksichtigt diese Deutung nicht die aktive Rolle des Lichts, dessen Helligkeit – praxiswidrig! – die Bildtafel trifft und „erleuchtet“, wie die Kante der Tafel zeigt, die in einer schmalen Linie das hellste Licht des ganzen Bildes aufstrahlen lässt. Es ist diese Maltafel auf der Staffelei, die sich – perspektivwidrig! – dem strahlenden Licht wie eine Barrikade in den Weg stellt. Das auf den Bretterboden fallende Licht in seiner subtilen Abstufung von sonnig-hell bis matt und von plastisch-pastoser Substantialität zu transluzider Lasur macht den Abstand – den räumlichen und mehr noch einen geistig-psychologischen Abstand – deutlich, in dem der Maler zum Ort und Objekt seines Einsatzes von Pinseln, Malstock und Palette verharrt. Diese Distanz beinhaltet eine Inversion, die uns vor die Frage stellt, wer hier eigentlich die Hauptfigur, das handelnde Subjekt ist: Der kleine, aber prächtig herausgeputzte Maler im diffus ausgeleuchteten Hintergrund oder die mächtig im Vordergrund mit starkem Hell-Dunkel-Kontrast aufragende Staffelei? Zwischen beiden findet eine Interaktion statt, deren Spannung Rembrandt mit den dramatisierenden Mitteln des Historienmalers erzeugt: die oben genannte „Duell-Situation“, deren Zeugen wir als Betrachter sind. Daher scheint mir die Vorstellung, der schöpferische Prozess finde ausschließlich im Geist des Malers statt und die Bildtafel sei nur das passive Objekt ihrer Materialisierung, der Inszenierung Rembrandts nicht gerecht zu werden. 18 | Hans-Joachim Raupp
Sie entspricht auch keineswegs Rembrandts eigener malerischer Praxis, die vielmehr als Einheit von Entwurf und Ausführung zu beschreiben ist: Denn die im Geist konzipierte Bildidee kann sich im Malvorgang verändern und weiterentwickeln. Der Maler nimmt sich die Freiheit, zu korrigieren und zu übermalen. Sichtbar stehen gebliebene beziehungsweise in die Erscheinung des vollendeten Gemäldes integrierte Korrekturen, ein plastischer, vor allem im Spätwerk offen und skizzenhaft wirkender Farbauftrag manifestieren in Rembrandts Gemälden das Prozesshafte des Schaffensvorgangs. Er wird nach Rembrandts eigenen Worten nicht dann abgeschlossen, wenn bestimmte Qualitätsnormen erfüllt sind, sondern „wenn der Meister sein Ziel erreicht hat“.28 Bildideen verwirklichen sich also in der fortschreitenden Auseinandersetzung zwischen den Absichten und Vorstellungen des Malers und der ständigen Herausforderung der noch leeren oder schon mit Farben und Formen sich füllenden Bildtafel. Dieser Schaffensweise bescheinigte Carel van Mander ihre kunsttheoretische Legitimität und ihre besondere Preiswürdigkeit. Im zwölften Kapitel Van wel schilderen/ oft Coloreren seines Lehrgedichts sind ihr drei Strophen gewidmet. Van Mander schreibt hier, das Malen ohne Vorzeichnungen und die Entwicklung und Vervollkommnung der Bildidee im Malprozess selbst sei nur wahren Meistern vorbehalten, ja sogar nur „Augusten“, das heißt Weltherrschern und Neuland-Eroberern im Reich der Kunst.29 Es steht außer Frage, dass Rembrandt sich selbst zu diesen herausragenden Meistern gezählt und mit solchen Rangansprüchen identifiziert hat. Alle Bildzeugnisse tätiger Maler – und auch die vom Aufsetzen der Füße abgenutzte Querlatte der Bostoner Staffelei – zeigen, dass das Malen stets im Sitzen dicht vor der Staffelei stattfand, und dass der Maler, wenn er einen distanzierten Überblick über das schon Gemalte benötigte oder auch nur eine erfrischende Unterbrechung für ein Pfeifchen, ein Bierchen oder ein Stückchen auf Laute oder Geige bloß hinter seinen Stuhl treten oder seinen Sitz etwas zurückschieben musste.30 Das Stehen von Rembrandts Bostoner Maler in größerem Abstand, sein „Fernblick“ quer durch den Raum auf die Staffelei würde daher besser zu einer Situation vor Aufnahme der eigentlichen Maltätigkeit passen als zu einer „schöpferischen Pause“ während des Malens. Das ist sicher richtig, aber ich möchte einwenden, dass die Vorstellung vom Übertragen einer fix-und-fertigen Bildidee ins Gemälde in einem Zug ihrerseits eine idealisierende Fiktion ist. Auch die drei Landschaftsmaler aus Hoogstratens Wettbewerb haben ihre Ölfarbengemälde nicht an einem einzigen Tag vor Einbrechen der Dunkelheit vollenden können, es sei denn, sie hätten die gesamte Malerei vom Grundieren über das doodverwen bis zum opmaken nass in nass aufgetragen. Dies wäre äußerst untypisch, handwerklich unsolide und, sofern technisch überhaupt machbar, gewiss nicht modelltauglich gewesen. Sehen wir uns daher die entscheidenden Strophen aus van Manders Lehrgedicht (cap. 12:4–6) an:31 Das Image des Malers | 19
„4. Ick en derf u niet prijsen noch versmaden/
Stracx eerst op
Det eenighe wel gheoeffent expeerdich/
penneel te stellen,
En vast in handelinghe cloeck beraden/
Meesters werck
(Niet licht’lijck verdolend’ in cromme paden/ Maer om hun Const zijn Meesters name weerdich) Gaen toe/ en uyt der handt teyckenen veerdich Op hun penneelen/ t’ghene nae behooren In hun Ide’ is gheschildert te vooren. 5. En vallender aen stracx/ sonder veel quellen/ Met pinceel en verw’/ en sinnen vrymoedich/ En dus schilderende dees werck-ghesellen/ Hun dinghen veerdich in doot-verwen stellen/ Herdootverwen oock te somtijden spoedich/
Verbeteren met
Om stellen beter: dus die overvloedich
herdootverwen
In’t inventeren zijn/ doen als de stoute/ En verbeteren hier en daer een foute. 6. Jae vorderen alsoo hun werck met luste/ Hun voornemen uytvoerende met eeren/ Dit mach wel voeghen de Schildersch’Augusten, Die in Consten toenemen sonder rusten/
Ten eersten schier
En in stout schilderen t’rijcke vermeeren:
sonder teyckenen
Doch al canmen dus vrymoedich leeren
schilderen, will hem
Met de verwe handelen sonder schricken/
met yeder nietschicken
Wilt het nochtans met yeder soo niet schicken.“
Das heißt: Auch die Übertragung einer im Geist konzipierten Idee ohne Umweg über Papierskizzen direkt ins Gemälde beinhaltet unterscheidbare Phasen der Unterzeichnung („teyckenen“, Pinselskizze auf dem Bildträger) und der Untermalung („doot-verwen“), und hier setzt ein Probieren und Verbessern und Korrigieren ein, das schließlich zum vollendeten Gemälde führt – ein Prozess, der angesichts des Schichtenaufbaus niederländischer Gemälde mit Zwischentrocknungsphasen eher Wochen als Tage dauerte, das heißt den Maler am Beginn jedes Arbeitstages neu mit seinem Werk konfrontierte. Auch wenn der Maler in der Praxis seine ganze Zeit des Malens, des Prüfens und des Verbesserns dicht vor seiner Staffelei sitzend oder stehend verbrachte: Rembrandts Sinn für Dramaturgie konnte sich damit ebenso wenig zufrieden geben wie mit der Perspektivkonstruktion. Er stellt den von seiner Idee ergriffenen Maler und das im Entstehen begriffene Bild als Kontrahenten einander gegenüber und lässt im Einstrahlen und Reflektieren 20 | Hans-Joachim Raupp
des hellen Lichts erkennen, dass der Schöpfungsakt sich weder bloß im Kopf des Malers noch bloß im Pinseln auf der Maltafel abspielt, sondern dazwischen – in der Interaktion und in der Auseinandersetzung von Idee und Ausführung. Fazit: Rembrandts Bostoner Atelierbild ist nicht nur das früheste seiner Art, sondern auch das in seinem Anspruch und seiner Konzeption originellste. Das Interieur ist ebenso wenig bloß realistisches Abbild von Rembrandts eigener Leidener Werkstatt wie selbstgenügsame und im Ergebnis inkonsequente Perspektiv-Etüde. Vielmehr dient dieser vom Licht erfüllte Raum der Überhöhung und Verherrlichung der Malkunst, des Malens, als einer schöpferischen Tätigkeit. Es ist Schaffen uyt den gheest und nicht nach Vorlagen und Vorbildern, aber es ist zugleich Schaffen in der Einheit von Erfindung und Ausführung: nichts für Anfänger und nichts für Künstler, die auf angelernte Regeln und säuberliches Handwerk angewiesen sind, sondern für die „Augusti“, die souveränen Herrscher und Eroberer im Reich der Kunst.
Anmerkungen 1 Vgl. dazu den Katalog der maßgeblich von Ekkehard Mai initiierten und realisierten Ausstellung Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. von Ekkehard Mai und Kurt Wettengl, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München; Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2002. Stellvertretend für die ältere Literatur sei genannt Georg W. Költzsch, Der Maler und sein Modell. Geschichte und Deutung eines Bildthemas, Köln 2000. 2 Hans-Joachim Raupp, Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich und New York 1984. 3 Katja Kleinert, Atelierdarstellungen in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts – realistisches Abbild oder glaubwürdiger Schein?, Petersberg 2006. 4 Prototypen dieser beiden Extreme bieten die Atelierbilder des Gerrit Dou und des Andries Both, s. Kleinert 2006 (wie Anm. 3), Nr. 13–15, 1. 5 Zur Tradition dieser Gleichsetzung von Kunststil und Künstlercharakter s. Wolfgang G. Müller, Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis in die Gegenwart, Darmstadt 1981; zum Verständnis niederländischer Genremalerei s. die leider nur in Photokopien kursierende Dissertation von Jan Muylle, Genus Gryllorum, Gryllorum Pictores. Legitimatie, evaluatie en interpretatie van genre-iconografie en van de biografieën van genreschilders in de Nederlandse kunstliteratuur (ca. 1550 – ca. 1750), Katholieke Universiteit Leuven 1986. 6 Ekkehard Mai, „Atelier und Bildnis. Künstler über sich selbst“, in: München/Köln 2002 (wie Anm. 1), S. 110–125. 7 Zur Situierung und Einrichtung der Atelierräume umfassend Kleinert 2006 (wie Anm. 3), bes. S. 30 ff. Im Katalog sind alle bekannten Darstellungen von Besuchern in Malerateliers verzeichnet und abgebildet. 8 Vgl. ibid., S. 133 ff. 9 Roland de Jager, „Meester, leerjongen, leertijd“, in: Oud Holland 104, 1990, S. 69–111. 10 Im um 1719/20 geschriebenen Manuskript, heute im Historisch Museum Rotterdam, heißt es: „want de vader, die het schilderboeck van Carel van Mander geleesen had en darin veele gevonden die los van leven waaren geweest, zeyde tegen Adriaan: ‚wat zalder van u ook anders Das Image des Malers | 21
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te wagten zijn’.“ Zit. nach Barbara Gaehtgens, Adriaen van der Werff 1659–1722, München 1987, S. 433 (= Dok. 1, fol. 2). Carel van Mander, „Den Grondt der Edel vry Schilder-const“, in: Het Schilder-Boeck, Haarlem 1604, fol. 1–57, hier fol. 3r, cap. 1.23: „Op dat […] in den afgrondt Stigis eens mochten dalen // Als van Schilder cranck-hooft/ en oock mocht falen // T’ghemeyn volcx Spreeckwoort/ hoe Schilder hoe wilder // En verkeerde in/ hoe Schilder hoe stilder […]“, dazu die Randglosse: „T’spreeckwoort moest wech […]“. Vgl. zu diesem Topos Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934. Vgl. Lucius Annaeus Seneca, De beneficiis II.33.2. In Samuel van Hoogstratens Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 345 findet sich folgende Reimparaphrase: „Drie driften prikkels zijn, waerom men konsten leert: // Uit liefde, om’t loon, en om by elk te zijn geëert.“ Vgl. Hans-Jörg Czech, Im Geleit der Musen. Studien zu Samuel van Hoogstratens Malereitraktat ‚Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt’ (Rotterdam 1678), Münster und New York 2002, S. 198 f., 362 ff., *136; zum Londoner Guckkasten vgl. Celeste Brusati, Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago und London 1995, S. 169 ff., bes. S. 213. Adriaen van der Werff, Selbstbildnis, das Porträt von Ehefrau und Tochter als Venus und Cupido präsentierend, 1699, Amsterdam, Rijksmuseum, Gaehtgens 1987 (wie Anm. 10), Kat. Nr. 109, Farbtafel VI; Frans van Mieris d. Ä., Bildnis der Gattin Cunera van der Cock als Pictura, 1661, Malibu, Getty Collection, Frans van Mieris 1635–1681, Ausst. Kat. Mauritshuis, Den Haag; National Gallery of Art Washington 2005/06, Nr. 27; zum Topos des Liebesverhältnisses zwischen dem Künstler und seiner Kunst vgl. Raupp 1984 (wie Anm. 2), S. 199 f.; id., „Allegorische Selbstporträts und Selbstdarstellungen in der Graphik um 1600“, in: Gunter Schweikhart (Hg.), Autobiographie und Selbstporträt in der Renaissance (= Atlas – Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung 2), Köln 1998, S. 177–190, hier S. 182 f. Vgl. Hans-Joachim Raupp, „Musik im Atelier. Darstellungen musizierender Künstler in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts“, in: Oud Holland 92, 1978, S. 106–129; zahlreiche weitere Beispiele bei Kleinert 2006 (wie Anm. 3). Die Auffassung des Bildes als eines Mikrokosmos („cleyn werelt“), den der Maler in Analogie zum von Gott erschaffenen Makrokosmos erschafft und regiert, liegt großen Teilen von van Manders Lehrgedicht zugrunde, vgl. Carel van Mander, Den grondt der edel vry schilder-const, hg., übers. und kommentiert von Hessel Miedema, 2 Bde., Utrecht 1973, ad indicem; Ernst H. Kantorowicz, „The sovereignity of the artist – a note on legal maxims and renaissance theories on art“, in: Millard Meiss (Hg.), De artibus opuscula XL, essays in honor of Erwin Panofsky, New York 1961, S. 276–279. „Wat ghy eyst hy sal’t u maelen / En uyt doode verwen haelen / Geeft van uwen will bescheet / Want hy sit tot als bereet“, Cornelis de Bie, Faems Weer-Galen der Nederduytsche Poesie, Mecheln 1670, S. 95, zit. nach Otto Naumann, Frans van Mieris the Elder (1635–1681), 2 Bde., Doornspijk 1981, hier Bd. 1, S. 131, Abb. 186; vgl. auch Raupp 1984 (wie Anm. 2), S. 249. Prominentes Beispiel ist Bartholomeus van der Helsts Porträt des Paulus Potter, 1654, Den Haag, Mauritshuis, vgl. ferner das Selbstporträt des Frans van Mieris d. Ä. von 1667 in Polesden Lacey, Naumann 1981 (wie Anm. 17), Kat. Nr. 66; Raupp 1984 (wie Anm. 2), S. 86 f.; Kleinert 2006 (wie Anm. 3), Nr. 24, 64: ein unbekannter flämischer Maler (um 1630/40) mit dem Palettmesser und Cornelis Saftleven (1629) mit dickem Borstenpinsel, d. h. jeweils im Anfangs- und Vorbereitungsstadium des Malens. Auf Holz, 25 x 32 cm, Boston, Museum of Fine Arts. Abraham Bredius, überarb. von Horst Gerson, Rembrandt. The Complete Edition of the Paintings, London 1969, Nr. 419; neuere Literatur: Josua Bruyn et al. (Hg.), A Corpus of Rembrandt Paintings, Bd. 1 ff., Den Haag, Boston und London [Bd. 4: Berlin] 1982 ff., hier Bd. 1, Nr. A 18; Ernst van de Wetering, Rembrandt. The Painter at Work,
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Amsterdam 1997, S. 81–89; Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, Ausst. Kat. Staatliche Museen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Schloss Wilhelmshöhe; Amsterdam, Museum het Rembrandthuis 2001/02, Nr. 61; Kleinert 2006 (wie Anm. 3), Nr. 58. Bernhard Schnackenburg, „‚Der lustlose Student’“, in: Rembrandt, Genie auf der Suche, Ausst. Kat. Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin 2006, S. 187–201; zum Leidener Künstlerkreis um 1626/28 vgl. id., „Knabe im Atelier und Bücherstillleben, zwei frühe Gemälde von Jan Lievens und ihr Leidener Kontext: Rembrandt, Jan Davidsz. de Heem, Pieter Codde“, in: Oud Holland 117, 2004, S. 33–47. Corpus 1982 ff. (wie Anm. 19), Nr. A 12, A 15; Kassel/Amsterdam 2001/02 (wie Anm. 19), Nr. 30, 33. Kleinert 2006 (wie Anm. 3), Nr. 15, 17–19 (Gerrit Dou und anonyme Nachfolger), 66 (Karel Slabbaert), 67–68, 70 (Jacob van Spreeuwen). Um 1628, Dublin, National Gallery of Ireland, Kassel/Amsterdam 2001/02 (wie Anm. 19), Nr. 62. Hans Vredeman de Vries, Perspective, Leiden 1604, T. 28. Zum Tabbard als Arbeitskleidung der Maler s. Kleinert 2006 (wie Anm. 3), S. 92 ff. L. D. Couprie, „Rembrandts zelfbeeld in de jaren 1628–1629. De schilder in zijn atelier“, in: Spiegel Historiael 27/2, 1992, S. 50–56; id., „De jonge Rembrandt in zijn atelier, 1629“, in: Jaarboekje voor geschiedenis en oudheidkunde van Leiden en omstreken 86, 1994, S. 69–96. Hoogstraten 1678 (wie Anm. 13), S. 237 f.; van de Wetering 1997 (wie Anm. 19), S. 81–87; eine deutsche Übersetzung mit Kommentar bei Hans-Joachim Raupp (Hg.), Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche Sammlung, Bd. 1 ff., Münster, Hamburg und London 1995 ff., hier Bd. 3: Landschaften und Seestücke, S. 14 f. „[…] dat een stuk voldaan is als de meester zyn voornemen daar in bereikt heeft.“ Arnold Houbraken, Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, 3 Bde., Amsterdam 2 1753, hier Bd. 1, S. 259; vgl. van de Wetering 1997 (wie Anm. 19), S. 164. Van Mander/Miedema (wie Anm. 16), cap. 12:4–6. Van de Wetering 1997 (wie Anm. 19), S. 87; Bildbeispiele bei Kleinert 2006 (wie Anm. 3), Nr. 1, 6, 7, 21, 24, 29, 30, 33, 55, 64, 65, 75, sowie Rembrandts eigene Zeichnung des Jan Lievens vor der Staffelei, Otto Benesch, The drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954–1957, Nr. 330; van de Wetering a. a. O., S. 177, Abb. 230; eine interessante Ausnahme ist ein Atelierbild des Jan van Spreeuwen, das den Maler weit abgerückt von der Staffelei sitzen lässt, die ihrerseits in Stellung und Beleuchtung ein Zitat nach dem Bostoner Atelier ist, Kleinert a. a. O., Nr. 67. „4. Ich darf Euch weder anpreisen noch tadeln, dass einige, wohl geübt und erfahren und stilsicher in der Ausführung, gut beraten – nicht leichthin sich verlaufend auf krumme Pfade sondern in ihrer Kunst des Meistertitels würdig – hingehen und aus der freien Hand kunstfertig auf ihre Maltafeln das zeichnen, was sie gehörig zuvor in ihrer Idee ausgebildet haben. 5. Und sie legen gleich los, ohne sich lange zu quälen, mit Pinsel und Farbe und freimütigem Sinn, und so im Malen legen diese Kunstgesellen ihre Dinge kunstfertig in der Untermalung an. Manchmal machen sie die Untermalung auch noch einmal neu, um die Komposition zu verbessern. Diejenigen, denen die Inventionen zuströmen, handeln kühn und verbessern hier und da einen Fehler. 6. So bringen sie ihr Werk mit Lust voran und führen ihre Absichten ehrenvoll aus. Dies mag wohl für die Auguste unter den Malern das rechte sein, die in der Kunst ohne zu rasten immer weiter kommen und im kühn Malen ihr Reich vergrößern. Aber auch wenn man solchermaßen freien Mutes lernen kann, mit den Farben furchtlos umzugehen, so eignet sich dies keineswegs für jeden.“ (Übers. d. Verf., ohne Randglossen).
Das Image des Malers | 23
Hans Dickel
Medien der Macht – Macht der Medien. Edouard Manets Gemälde Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko (1869) im Spannungsfeld „Welt – Bild – Museum“ Edouard Manets Gemälde zur Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko von 1869 gilt vielen als das wichtigste Historienbild des 19. Jahrhunderts. Sein Weg aus der Welt über die Bilder in das Museum ist daher gut erforscht, seine Genese als Kunstwerk, die der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Medien folgt, ist es nicht in gleichem Maße. Der 1832 geborene Erzherzog Maximilian war der jüngere Bruder Kaiser Franz Josephs von Österreich, also der Schwager von Kaiserin Elisabeth, bekannter als „Sissi“. Er musste seinen Thron außerhalb Wiens suchen und Ende des 19. Jahrhunderts war dies schwierig. Mit seiner Frau Charlotte, Tochter des Königs von Belgien, ließ er sich 1862 zunächst das Traumschloss Mira 1 Erzherzog Maximilian und seine Gattin Charlotte, 1857, Photographie mar bei Triest bauen. Maximilian war seit 1857 Marinekommandant und Generalgouverneur der Lombardei und Venetiens (Abb. 1), nach der Schlacht von Solferino (1859) musste Österreich die Lombardei an SardinienPiemont abtreten. Ein Leben als Operettenkönig am Mittelmeer reichte Maximilian dann offenbar nicht mehr aus. Auf Betreiben des französischen Kaisers ließ er sich zum Kaiser von Mexiko wählen und fuhr mit seiner Frau Charlotte und einem kleinen Hofstaat 1864 nach Veracruz. Napoleon III. hatte nach dem Befreiungskrieg Italiens Grund, Maximilian zu entschädigen, vor allem aber hatte er Interesse, ihn als Statthalter in Mexiko zu installieren. Er wollte die Schulden eintreiben, die General Miguel Miramón, von 1859 bis 1860 Präsident von Mexiko, in Europa gemacht hatte. Sein Halbbruder, der Duc de Morny, hatte über einen Schweizer Bankier persönliche Ansprüche an Mexiko, sie beide hatten Miramón gegen hochverzinsliche Wechsel auf den Staatsschatz Geld angeboten. Miramóns Nachfolger Medien der Macht – Macht der Medien | 25
und politischer Gegner, der gewählte Präsident der Republik Mexiko Benito Juárez, weigerte sich jedoch, diese auch von anderen Europäern als unseriös eingeschätzten französischen Forderungen zu begleichen, wie aus einer erst jetzt bekannt gewordenen zeitgenössischen Dokumentation hervorgeht.1 Trotz einer Verstärkung ihrer Militärpräsenz mussten die Franzosen nach dem Aufstand von Puebla am 5. Mai 1862 eine massive Niederlage hinnehmen. Die öffentliche Meinung in Paris schwankte – Rache oder Rückzug? Die Regierung Napoleons III. entschied jedoch, die Truppen zu halten, um die eigenen (pekuniären) Interessen zu wahren. Unterdessen hatte der Adel in Mexiko erneut die Oberhand gewonnen und auf einer Ständeversammlung fiel in Allianz mit Frankreich die Wahl auf Erzherzog Maximilian als künftigen Kaiser. Der Habsburger ließ sich auf diesen Posten aber erst ein, nachdem Napoleon III. ihm militärische Schutzgarantien gegeben hatte. Diese waren jedoch zahlenmäßig gering und die Verhandlungen mit London, Madrid und Wien, die Maximilians Gattin Charlotte zur Verstärkung der Truppen geführt hatte, blieben erfolglos, so dass es für das Paar ein durchaus riskantes Unterfangen war, nach Mexiko zu gehen und 1864 den Thron anzunehmen – anders als der Pomp der offiziellen Porträts es vermuten lässt. Bald nach seiner Ankunft änderte sich erneut die Machtkonstellation in Mexiko, denn nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 unterstützten nun auch die USA mit Abraham Lincoln an der Spitze die Republikaner um Benito Juárez. Nach England zog sich auch Frankreich aus Mexiko zurück, zumal der Duc de Morny inzwischen gestorben war. Der Truppenabzug begann 1866 und sollte bis zum Frühjahr 1867 abgeschlossen sein. Napoleon III. riet Maximilian zur Abdankung, als er merkte, dass sich Mexiko nicht mehr kolonialisieren ließ. Kaiser Maximilian war jedoch ein Romantiker auf dem Thron und blieb – allein. Als schwärmerischer Idealist glaubte er, vom mexikanischen Volk geliebt zu werden. Aus Stolz und Standesbewusstsein, vielleicht auch aus Starrsinn, blieb er „seinem“ Land treu. Die Situation wurde jedoch immer brisanter. Charlotte, die belgische Königstochter, hatte Mexiko schon 1866 verlassen. Die Machtverhältnisse verschoben sich so zu Ungunsten des Kaisers, dass seine Existenz im Lande nur noch eine Frage der Zeit war. Schließlich wurde er festgenommen, nach längerer Inhaftierung und einem ordentlichen Kriegsgerichtsverfahren zur Exekution eskortiert und am 19. Juni 1867 zusammen mit seinen beiden Generälen Miramón und Tomás Mejía in Querétaro, nördlich von Mexiko Stadt, erschossen.2 Die ersten Photographien vom Ort der Erschießung, die Maximilians Hofphotograph François Aubert anfertigen konnte, kamen erst einen Monat später in Europa an (Abb. 2), während Versionen und Gerüchte um den Verlauf der Exekution schon früher in Paris und Wien kursierten. Im Folgenden geht es um die mediale Nachgeschichte dieser Erschießung Kaiser Maximilians, die für Europa deshalb so bedeutsam war, weil sie das Ende der Vorherrschaft der Kolonialmächte, oder anders gesagt den Beginn der Befreiung der 26 | Hans Dickel
Kolonien markiert. Es lässt sich an diesem Beispiel aber noch mehr beobachten: das Ende der alten Medien der Macht und der Beginn der neuen Macht der Medien. Beides hat Manet als Künstler in seinem Gemälde reflektiert. Die Nachricht von Maximilians Tod wurde auf dem damals schnellsten Weg nach Wien geschickt, nämlich als Telegramm 2 François Aubert, Die drei Kreuze auf dem Cerro de las Campanas, durch das neu verlegte TransJuni 1867, Photographie, Brüssel, Musée Royal de l’Armée atlanktikkabel, eines der ersten Telegramme aus den USA überhaupt.3 Das Schreiben des österreichischen Geschäftsträgers beim mexikanischen Kaiserreich, Freiherr Eduard Lago, an den österreichischen Minister des Auswärtigen, Freiherrn Friedrich Ferdinand von Beust, vom 20. Juni 1867, traf schon am 29. Juni in Wien ein, von dort aus gelangte die Nachricht zuerst nach Brüssel, an Maximilians Gattin Charlotte. In Paris hielt Napoleon III. die parallel aus Washington am 1. Juli telegraphierte Nachricht wegen der gerade stattfindenden Festlichkeiten zur Weltausstellung zurück, da die Angelegenheit für Frankreich durchaus peinlich war, obwohl er Maximilian gewarnt hatte. Man wollte die Preisverleihung bei der Weltausstellung in Anwesenheit des europäischen Hochadels nicht stören. Die von Frankreich unabhängige belgische Presse brachte die Nachricht hingegen sofort, und so machte sie auch in Paris schnell die Runde. Nachdem die Zeitung mit dem bezeichnenden Namen L’Independence belge bereits am 1. Juli berichtet hatte, erschienen zwei Tage später im Courrier politique, in Le Mémorial diplomatique und im L’Etendard erstmals kurze Meldungen.4 Einzelheiten waren aus Mexiko jedoch nicht mitgeteilt worden, sie kamen erst später per Schiff in Europa an – angebliche Augenzeugenberichte, Übersetzungen angeblicher und später auch tatsächlicher Zeitungsartikel mit unterschiedlichen Versionen der Erschießung, schließlich auch zum Teil retuschierte und montierte Photographien vom Erschießungskommando und der Erschießung (Abb. 3). Die Bilder wurden strenger zensiert als die Textbeiträge, jeweils andere wurden in Triest, in Wien, in Paris (und in Mexiko) freigegeben. Unter Kontrolle bringen ließen sich die Nachrichten aber nicht mehr, da sowohl konkurrierende politische als auch ökonomische Interessen den neuen Medien langfristig zum Durchbruch verhalfen und damit auch den Status der alten Medien veränderten. Die Nachricht selbst und auch die Form ihrer medialen Aufbereitung setzten sich schließMedien der Macht – Macht der Medien | 27
lich durch – sowohl gegen die herkömmlichen Medien der Macht, die das Ereignis im Sinne der Habsburger beschönigt darstellten, als auch gegen die hartnäckigen Zensurmaßnahmen. Auf eine Meldung im Figaro vom 8. Juli 1867 reagierte Edouard Manet mit einer ersten Öl skizze, die ein großes Gemälde vorbereiten sollte, das er mit dem Anspruch auf Zeitgenossenschaft für den Pariser Herbst3 Adrien Cordiglia (Teile nach François Aubert), Gedenkbild der salon schaffen wollte (Abb. 4).5 Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, 1867, Bildkärtchen Man wusste allerdings zu dieim Visitformat, Washington, D. C., Library of Congress sem Zeitpunkt noch nichts Genaues über den Ablauf der Erschießung, und so malte Manet zuerst – ohne zu wissen, was genau geschehen war – eine Szene, wie man sie sich in Europa vorgestellt haben mag: eine aufgebrachte Menge Mexikaner mit Sombreros, Guerilleros, die wild drauflosschießen. Manet malte die angeblichen Turbulenzen zunächst im impressionistischen Stil der Zeit, beließ sie bewusst im Nebulösen. Der Pulverdampf suggeriert Augenzeugenschaft, als Betrachter scheint man unmittelbar dabei zu sein. Rechts herausgehoben steht der Unteroffizier für den Gnadenschuss. In den nächsten beiden Jahren änderte Manet sein Bildkonzept – in Auseinandersetzung mit dem sich rasch erweiternden Wissen um den Vorfall in Mexiko, aber auch in Konkurrenz mit den alten Medien der Macht und der neuen Macht der Medien. Erst zwei Jahre später, 1869, stellte er seine definitive Version fertig. Auch dieses Bild wurde zensiert und wegen seines für Frankreich so blamablen Sujets hängt es heute nicht im Musée d’Orsay, sondern in der Kunsthalle Mannheim (Abb. 10).6 Zunächst aber sollen hier die alten Medien der Macht betrachtet werden, die das Gedenken Kaiser Maximilians in Österreich und Italien zu prägen versuchten – die Denkmäler. Die Wiener Getreuen des 1832 in Schönbrunn geborenen Erzherzogs fanden sich bald zusammen, um ein Denkmal für den ermordeten Kaiser zu errichten. Denkmäler sind Sinnstiftungen der Überlebenden, sie sagen in der Regel mehr über die Auftraggeber aus als über die Dargestellten. Das von Johann Meixner gefertigte Denkmal in Hietzing, 1871 eingeweiht, zeigt den Kaiser als Stehfigur im Kontrapost auf einem Piedestal aus Carraramarmor (Abb. 5). Er trägt die Vizeadmiralsuniform und über die Schulter gelegt einen togaähnlichen Mantel, der auf den mexikanischen Kaisermantel anspielen soll. Sein Körper ist also doppelt bekleidet, gleichsam österreichisch 28 | Hans Dickel
4 Edouard Manet, Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, 1867, Boston, Museum of Fine Arts
und mexikanisch, um politische Bedeutung zu gewinnen. Aber auch die feierliche Inschrift kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Standort im heutigen dreizehnten Bezirk von Wien wenig prominent ist. Kaiser Franz Joseph hatte seinem Bruder militärische Unterstützung in Mexiko verweigert, musste also ein Interesse daran haben, die Erinnerung an dessen Erschießung zu verdrängen. Anders in Triest, der einstigen Residenz Maximilians. Das dortige Denkmal aus Bronze fertigte der renommierte Dresdner Bildhauer Johannes Schilling, nachdem sich bereits Anfang Juli 1867 ein Komitee aus Honoratioren der Stadt, begleitet von einer Kommission aus Wien, gebildet hatte.
5 Johann Meixner, Denkmal Erzherzog Maxi milian, Kaiser von Mexiko, 1871, Wien
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Die Statue stand zunächst am Hafen von Triest (Abb. 6). Wie ein Imperator schaut Maximilian über das Meer, denn er hatte von Triest aus die merkantilen und militärischen Interessen Österreichs zu vertreten gehabt. Das allegorisch höchst anspruchsvoll gestaltete Postament soll verbildlichen, was die Aufschriften behaupten, nämlich Maximilians überragende Bedeutung für die Handelsmarine und die Kriegsflotte Österreichs und damit auch für die Stadt Triest.7 Maximilian ist auch hier in der Uniform eines Vizeadmirals der kaiserlichen Flotte dargestellt. Die Geste seiner Rechten, dem Standbild Marc Aurels auf dem römischen Kapitol nachgebildet („felix dextra, qua 6 Johannes Schilling, Denkmal Erzherzog nihil est in orbe maius“) wirkt unfreiwillig koMaximilian, Kaiser von Mexiko, 1870–75, misch, da sie vor Ort vor allem auf sein MärchenTriest schloss Miramar verweist. Das Maximilian-Denkmal haben die kunstsinnigen Italiener nach 1918 nicht etwa durch Bildersturm entsorgt, sondern in den dortigen Schlosspark umgesetzt, allerdings um 90 Grad gedreht, so dass die allegorischen Bezüge auf die vier Himmelsrichtungen nicht mehr passen: Das Herrscherdenkmal war ebenso ein Auslaufmodell wie das Kaisertum. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Anekdote aus Lissabon: Napoleon III. hatte als Dank für Maximilians Statthalterschaft in Mexiko ein Bronzedenkmal für ihn anfertigen lassen, das über Portugal nach Veracruz verschifft werden sollte. Doch als es in Lissabon ankam und bekannt wurde, dass der Adressat, Kaiser Maximilian, gar nicht mehr lebte, blieb der französische Bronze-Maximilian in Lissabon und wurde dort angeblich als Denkmal für Don Pedro IV., König von Portugal und Kaiser von Brasilien, wiederverwendet.8 Es gibt zwar keine Beweise für die Umwidmung dieser Bronzefigur, aber es gibt auch keine Dokumente für eine Anfertigung eines Bronzedenkmals für Don Pedro IV. Diese Anekdote, die in Lissabon jedes Kind kennt, ist der beste Beweis für das Ende der alten Medien der Macht. Es beginnt nun die neue Macht der Medien. Die Erschießung eines Kaisers war ein derart beunruhigendes Ereignis, dass das Interesse an den genauen Umständen seines Todes nicht nachließ und die neuen Medien mit angeblich neuen Nachrichten noch für Monate die Neugier befriedigen konnten. In Paris kursierten Gerüchte, der Kaiser und die beiden Generäle Miramón und Mejía seien nackt erschossen worden, nachdem sie zuvor von Mexikanern vergewaltigt worden seien. In Triest und Paris wurden dagegen Lithographien veröffentlicht, die die Erschießung des Kaisers weniger schrecklich erscheinen lassen, als sie gewesen sein muss, denn die 30 | Hans Dickel
7 Der Tod Kaiser Maximilians von Mexiko und der Generäle Miramón und Mejía am 19. Juni 1867, Ansicht der Stadt Querétaro, August 1867, kolorierte Lithographie, Paris, Musée National des Arts et Traditions populaires
drei Todeskandidaten stehen hier nicht auf einem Erschießungsplatz, sondern vor einer Friedhofsmauer mit Kapelle beziehungsweise in würdevoller Aufmachung und mit kirchlichem Beistand zu ihrer letzten Stunde versammelt (Abb. 7).9 Das Erschießungskommando wird hingegen mehrfach als Guerillero-Bande dargestellt. Photographische Bildberichte wurden zensiert, nur gelegentlich sickerte etwas durch. Die Materialien aus Mexiko kamen über das Militär nach Europa, manches entging den Behörden. So gab es zum Beispiel ein Bildkärtchen nach François Auberts Aufnahme der mehrfach durchschossenen Weste des Kaisers, die verriet, dass Maximilian weder nackt noch sofort tot gewesen war. Im Format von Visitenkarten reproduziert, fanden Auberts Photographien großen Absatz, so dass er um seine Urheberrechte streiten musste. Seine Bilder vom mexikanischen Erschießungskommando waren in Paris verboten. Ob Manet sie gesehen hat, weiß man nicht, aber es ist wahrscheinlich, denn er hatte familiäre Kontakte zum hohen französischen Militär. Bereits in der zweiten Fassung seines Gemäldes, die später zerschnitten und auf Leinwand montiert wurde und sich heute in der National Gallery London befindet, ersetzte er die fiktiven Sombreros durch die Käppis der offiziellen mexikanischen Regierungsuniform (der Offiziere) beziehungsweise die Tschakos (der Soldaten) (Abb. 8).10 Medien der Macht – Macht der Medien | 31
8 Edouard Manet, Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, 1867/68, London, National Gallery
Einen Sombrero trägt dann in der dritten Fassung, einer Ölskizze, heute in Kopenhagen, nur noch der Kaiser, als habe Manet dessen romantische Volkstümlichkeit ins Lächerliche ziehen wollen. Das Klischee von der wilden Bande korrigierte er also durch die Darstellung eines regulären Erschießungskommandos mit makellos gebürsteten Uniformen und weißen Lackgürteln, das nach geltendem Recht auf Befehl der mexikanischen Regierung einen fremden Usurpator exekutiert. So hatte es auch Le Figaro am 11. August 1867 (übrigens schon mit Hinweis auf die Ähnlichkeit der Uniformen) gemeldet. L’Independence belge hatte bereits am 4. Juli berichtet, dass Maximilian selbst ein Dekret erlassen hatte, welches die sofortige Erschießung von angeblichen „Rebellen“ ohne Gerichtsverfahren zuließ. Mit dieser Information erschien die Bestrafung, also das Todesurteil, plausibler. Heute weiß man, dass Maximilians Dekret von 1865 in über 9000 Fällen angewendet wurde. Schon bald nach dem Vorfall in Mexiko wurde also auch in Europa die Meinung vertreten, dass es sich nicht um die barbarische Ermordung eines Kaisers, sondern um die rechtmäßige Bestrafung eines Tyrannen gehandelt habe. Schließlich hatte Benito Juárez nach dem Sieg von Puebla 1862 ein Staatssicherheitgesetz verabschieden lassen, nach welchem die bewaffnete Invasion in die Republik auf diese Weise bestraft werden konnte. 32 | Hans Dickel
9 Edouard Manet, Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, 1868, Lithographie, New York, The Metropolitan Museum of Art
Manet rückte in der Darstellung der Erschießung nun weiter vom Geschehen ab, er schuf eine Art gerahmter Bühne, so dass die Betrachter aus der Distanz auf das dargestellte Ereignis blicken. Die neue Fassung des Themas war in Form einer Lithographie auch für die Veröffentlichung bestimmt, sie wurde jedoch ebenfalls verboten (Abb. 9). In einer Besprechung des Blattes bemerkte Emile Zola die Ähnlichkeit der dargestellten mexikanischen Uniformen mit denen des französischen Militärs, obwohl die Soldaten keine Epauletten, wohl aber Gamaschen tragen: „En examinant une épreuve de la lithographie incriminée, j’ai remarqué que les soldats fusillant Maximilien portaient un uniforme presque identique à celui de nos troupes. Les artistes fantaisistes donnent aux Mexicains des costumes d’opera comique. Monsieur Manet qui aime d’amour la vérité, a dessiné les costumes vrais, qui rapellent beaucoup ceux des chasseurs de Vincennes. Vous comprenez l’effroi et le corroux de messieurs les censeurs. Eh quoi! Un artiste osait leur mettre sous les yeux une ironie si cruelle: la France fusillant Maximilien.“11 Während Zola die populistisch verharmlosenden Lithographien kritisierte, erkannte er Manets Versuch, die Mitverantwortung Frankreichs und Napoleons III. am Schicksal Maximilians mit künstlerischen Mitteln zu verdeutlichen. Dem entspricht auch die Medien der Macht – Macht der Medien | 33
10 Edouard Manet, Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko, 1868/69, Mannheim, Kunsthalle
Angleichung der Gesichtszüge des rechts für den Gnadenschuss bereitstehenden Unteroffiziers an jene Napoleons III., die in der endgültigen Mannheimer Fassung des Themas am deutlichsten wird (Abb. 10). Oskar Bätschmann hat diesen Zusammenhang gesehen.12 Manet gelangte zu dieser beinahe bühnenhaften Form einer protokollarisch streng geregelten Aufstellung der Soldaten, als er in den Pariser Zeitungen immer wieder neue angebliche Enthüllungen zur Erschießung des Kaisers lesen konnte, die mit immer neuen Details Aufmerksamkeit erregen wollten, aber nicht unbedingt zum Verständnis des Ereignisses beitrugen, sondern eher die Sensationsgier befriedigten. Gleichsam stellvertretend fügte er eine staunende Zuschauermenge in die Darstellung ein, bildparallel hinter einer rückwärtigen Mauer stehend.13 So konnte er die Betrachter seines Bildes mit dem vermeintlich ersten Blick auf das schaurige Ereignis konfrontieren, welchen zeitgenössische Illustrationen gerne vortäuschten. Gegen deren Suggestion von Augenzeugenschaft gibt sich Manets Bild als eine nachträgliche Konstruktion zu erkennen, die sich eher um ein politisches Verständnis des dargestellten Geschehens bemüht. Statt der Schaulust 34 | Hans Dickel
11 Francisco de Goya, Die Erschießung der Aufständischen (Der 3. Mai 1808 in Madrid), 1814, Madrid, Museo del Prado
Rechnung zu tragen, verweigert es die „Aktion“, ja selbst das Gesicht des Kaisers wirkt wie „ausgelöscht“. Die farbliche Homogenisierung ebenso wie die Dezentrierung der Figurenkomposition bewirken, wie Michael Lüthy in seiner Analyse gezeigt hat, eher eine Streuung des Blicks, die dem Betrachter seine Distanz zum Geschehen vergegenwärtigt.14 Im Laufe seiner Arbeit an diesem Historienbild konsultierte Manet offenbar auch Francisco de Goyas Gemälde Erschießung der Aufständischen von 1814 (Abb. 11), ein Bild, das ebenfalls an seine Betrachter die Frage nach ihrem Standort stellt.15 Es ist nicht bekannt, ob er das Bild bei seinem Madrid-Besuch im Prado im Original gesehen hat oder nur eine Reproduktion in der 1867 erschienenen Goya-Monographie von Charles Yriarte. Die Komposition ist so formverwandt, dass die Kunstkenner und Museumsbesucher in Manets Publikum die Anspielung erkennen konnten. Goyas Frage nach dem Standort des Betrachters, im wörtlichen wie im übertragenen politischen Sinn, also auf der Seite der Opfer oder auf der Seite der Täter, wird auch in Manets Bild aufgeworfen. Er artikuliert mit dieser Anspielung sein Anspruchsniveau – das Museum – offenbar bewusst, denn an eine Ausstellung des Bildes in Paris war damals nicht mehr zu denken. Die im Prozess der Arbeit an seinem Historienbild ohne Helden gefundene Form diente Manet zur Klärung seiner politischen Aussage: Es handele sich demnach nicht um einen barbarischen Mord, sondern um eine rechtmäßige Bestrafung. Über die meMedien der Macht – Macht der Medien | 35
dialen Sensationsberichte hinaus wollte er das Ereignis auch deuten beziehungsweise die Betrachter seines Bildes anregen, über den sichtbaren Akt der Erschießung hinaus auch die politischen Hintergründe zu bedenken. In der Forschung wurde lange Zeit angenommen, Manet habe seine Kritik an Napoleon III. zum Ausdruck bringen wollen, indem er die Uniformen der mexikanischen Söldner denen der französischen Truppen anglich, wie Zola erkannt hatte. Warum aber sollte er seine republikanische Gesinnung gegen Kaiser Napoleon III. ausgerechnet durch Sympathien für den reaktionären Erzherzog Maximilian artikuliert haben? In seiner republikanischen Haltung müsste Manet ein Gegner Kaiser Maximilians gewesen sein. Der Historiker Volker Sellin kam daher in seiner Analyse des Bildes zu folgender, weit plausibler erscheinenden Deutung: „Vielmehr sieht es ganz so aus, als sei das Ringen um die Bewältigung der Aufgabe, die Hinrichtung Maximilians eindeutig als Vollzug des Gesetzes und nicht als willkürlichen Gewaltakt erscheinen zu lassen, der Hauptgrund dafür gewesen, daß Manet sich so lange mit dem Bild beschäftigte und sich erst mit der dritten großformatigen Fassung, der Mannheimer, zufriedengab.“16 Gegen die Beschönigung des Geschehens in den alten Medien der Macht, wie sie in den Denkmälern für Maximilian noch einmal auflebte, und gegen das mit der neuen Macht der Medien inszenierte Spektakel des Grauens malte der Künstler einen Akt der Durchsetzung von Recht und Gesetz gegen fremde Herrschaft; in einem modernen Kunstwerk, das über das bloße Schauen und Betrachten auch zum Denken führen soll. In Kenntnis der Bilder in den neuen Medien veränderte Manet sein Gemälde, versuchte Aufklärung über die tatsächlichen Geschehnisse zu erlangen, musste dabei aber auch feststellen, dass die neuen Medien mit ihrem Anspruch auf authentische Berichterstattung eine Vormachtstellung errungen hatten, welche durch die Kunst befragt und gebrochen werden kann. Für diesen bildkritischen Prozess der Erfindung einer eigenen Form war das Museum in zweierlei Hinsicht relevant, zunächst vor allem durch die dort zu sehende historische Kunst, in diesem Fall Goyas Erschießung der Aufständischen. Goya erzielt Sympathien für die Leidenden mittels ihrer Pathosgesten, aber der Betrachter befindet sich perspektivisch auf der Seite des anonymen Erschießungskommandos, auf der auch das kalte Licht der Aufklärung steht. Der Aufstand der dumm und unkoordiniert revoltierenden Spanier wurde aufgeklärt und bestraft. Bei Manet wird gleichsam mit vertauschten Rollen die Besatzungsmacht erschossen. Diesen Akt als rechtmäßig zu erkennen, vermittelt Manets Gemälde erst nach gründlichem Studium, und für dieses Studium, das wird er gewusst haben, kann nur die institutionelle Autonomie des Museums die nötige Bedenkzeit bereitstellen.
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Anmerkungen 1 „Für’s erste ist dieser Contract von einer aufständischen Regierung geschlossen worden, und ich habe gegen denselben protestirt, als ihm deren Zustimmung gegeben wurde. Ich schulde nicht das Geld, welches man den Feinden der Republik geliehen hat. Sodann ist es ein Löwenvertrag und einigermaßen wucherhaft. Dennoch weil Frankreich ihn unter seinen Schutz nimmt, will ich ihm Rechnung tragen; aber ich will an Jecker nur die 750 000 Dollars, die er gezahlt hat, erstatten, aber nicht den Nominalwerth von 75 Millionen [Franken, Anm. d. Verf.] zahlen, der nie anders als in Jecker’s Phantasie existirt hat.“ Benito Juárez, zit. nach Clément Duvernois, Über die französische Intervention in Mexiko. Eine im Original unterdrückte Schrift in rechtmässiger Übersetzung, Stuttgart 1870, S. 100 f. 2 Primärquellen: Enthüllungen über die letzten Lebenstage und die Hinrichtung des Kaisers Maximilian I. von Mexico nebst den nach seiner Gefangennahme gefundenen geheimen, nicht handschriftlichen Papieren und Correspondenzen, London 1867; Duvernois 1870 (wie Anm. 1). Sekundärliteratur: John Haslip, Imperial Adventurer. Emperor Maximilian of Mexico, London 1971; Wladimir Aichelburg, Maximilian Erzherzog von Österreich. Kaiser von Mexiko, Wien 1987; Konrad Ratz, Maximilian in Querétaro. Bilddokumentation über den Untergang des zweiten Mexikanischen Kaiserreichs, Graz 1991. 3 Telegramm mit Begleitschreiben vom 20. Juli 1867: Freiherr Eduard Lago (österreichischer Geschäftsträger beim mexikanischen Kaiserreich) an Friedrich Ferdinand Freiherrn von Beust (österreichischer Minister des Auswärtigen und des kaiserlichen Hauses): „In Eile an die Herren k. k. Linienschiffscapitäne […] S. M. der Kaiser Maximilian wurde gestern früh 7 Uhr zu Queretaro füsiliert. Die Nachricht ist offiziell. Ich ersuche den Herren Commandanten S. M. Kriegsdampfers ‚Elisabeth’ sofort nach Empfang dieses Dienstschreibens mit seinem Schiff nach New Orleans abzugehen und auf der Reise die größtmögliche Beschleunigung eintreten zu lassen um einen etwa, zu gleichem Zwecke, dorthin abgehenden Dampfer einer anderen Nation zuvorzukommen. Dies ist für uns Pflicht und Ehrensache! In New Orleans angelangt, ersuche ich den Hn. Commandanten das nachstehende Telegramm ohne Verzug via New York u. per Cable transatlantique an die k. k. Regierung in Wien abfertigen u. eventuell das k. k. Gen. Consulat zu New York diesfalls zu höchster Beschleunigung auffordern zu wollen. ‚Telegramm. Baron Beust Vienna. Emperor Maximilian has been condemned and shut [sic] the 19th at Queretaro. All hope of getting the body. Lago’“, zit. nach Aichelburg 1987 (wie Anm. 2), S. 175. 4 Eine Zusammenstellung zeitgenössischer Zeitungsartikel von 1867 in Manet and the Execution of Maximilian, bearb. von John Elderfield, Ausst. Kat. The Museum of Modern Art, New York 2006, S. 182–191. 5 Öl auf Leinwand, 196 x 260 cm, Edouard Manet, bearb. von Françoise Cachin, Ausst. Kat. Grand Palais, Paris 1983; Manet. The Execution of Maximilian. Painting, Politics and Censorship, bearb. von Juliet Wilson-Bareau, Ausst. Kat. National Gallery London 1992; Manet. Augenblicke der Geschichte, hg. von Manfred Fath und Stefan Germer, Ausst. Kat. Kunsthalle Mannheim 1992; Oskar Bätschmann, Edouard Manet. Der Tod des Maximilian, Frankfurt/Main 1993; Volker Sellin, „Die Bestrafung des Usurpators“, in: Pantheon 54, 1996, S. 108–122; Michael Lüthy, Bild und Blick in Manets Malerei, Diss. Basel 2000, Berlin 2003; New York 2006 (wie Anm. 4); Kristine Ibsen, „Spectacle and Spectator in Edouard Manet’s Execution of Maximilian“, in: The Oxford Art Journal 29, 2006, S. 213–226. 6 Öl auf Leinwand, 252 x 302 cm, Literatur wie in Anm. 5. 7 A MASSIMILIANO D’AUSTRIA / IMPERATORE DEL MESSICO / MDCCCLXXV DELLA MARINA MERCANTILE PROTESSE LE SORTI DUCE DELL’ARMATA NAVALE NE CURÒ LO SPLENDORE CON ANIMO LIBERALE SOCCORSE I POVERELLI COLLA CREAZIONE DI MIRAMAR ABBELÌ TRIESTE SUA PATRIA D’ELEZIONE, zit. nach
Bärbel Stephan, Sächsische Bildhauerkunst. Johannes Schilling 1828–1870, Berlin 1996, S. 170.
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[gelesen am 19. Mai 2009]. 28 x 41 cm, gedruckt in Epinal/Paris. Öl auf Leinwand, 183 x 284 cm. Notiz von Emile Zola in La tribune de l’art, 4. Februar 1869, Nr. 35, zit. nach Emile Zola, Œuvres complètes, 15 Bde., Paris 1966–1969, hier Bd. 13, S. 222. Bätschmann 1993 (wie Anm. 5), S. 33. Für die räumliche Disposition des Erschießungskommandos und der im Hintergrund stehenden staunenden Zuschauer konnte Manet auf eine Darstellung der Erschießung im amerikanischen Magazin Harper’s Weekly vom 10. August 1867 zurückgreifen, das die nach mexikanischem Recht legale Erschießung des aus Europa entsandten Kaisers so darstellt, wie sie auch die republikanischen Vereinigten Staaten verstanden haben, nämlich als Bestrafung, vgl. Bätschmann 1993 (wie Anm. 5), S. 54. Lüthy 2003 (wie Anm. 5), S. 121–159. Öl auf Leinwand, 266 x 345 cm. Sellin 1996 (wie Anm. 5), S. 118.
38 | Hans Dickel
Franz Zelger
Das Atelier im Grand Hotel. Eine Künstlerwerkstatt zur Zeit des aufblühenden Tourismus Wenn im Zusammenhang mit der Verabschiedung eines angesehenen Museumsmanns und Honorarprofessors vom „Atelier im Grand Hotel“ die Rede ist, mag man wohl spontan an Edvard Munch und seinen Freund und Förderer, den damaligen Direktor des Zürcher Kunsthauses Wilhelm Wartmann, denken. Munch residierte 1923 im Grand Hotel Dolder und hat dort in seinem Zimmer unter anderem drei Porträts von Wartmann geschaffen. Doch heute soll dies bloß erwähnt sein. Ich habe mich für ein anderes Thema und eine andere Ebene entschieden, dabei allerdings lange gezögert, meine Recherchen hier vorzutragen. Handelt es sich doch beim Protagonisten um meinen Urgroßvater, den 1812 geborenen und 1885 verstorbenen Josef Zelger, und seine Bilder gehören nicht zum Bedeutendsten, was die Schweizer Malerei im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Dennoch finde ich das Thema lohnend. Dieses Atelier unter kulturgeschichtlichem Aspekt zu behandeln wirft einiges Licht auf eine Künstlerwerkstatt im Kontext des aufblühenden Tourismus. Ich werde dabei auch versuchen, Zelgers Arbeitsstätte in den übergeordneten Rahmen der Atelierthematik einzubinden. Darüber hinaus soll mein Beitrag als eine ganz persönliche Hommage an Ekkehard Mai verstanden werden. Schon im 18. Jahrhundert war Luzern, die verträumte Stadt am Vierwaldstättersee, eingefasst von einem spektakulären Alpenpanorama, ein beliebtes Ziel für Reisende. Wer bei der Grand Tour den sagenumwobenen Gotthard mit der Teufelsbrücke überquerte, wer den Spuren Albrecht von Hallers ins Berner Oberland mit dem durch Goethe berühmt gewordenen Staubbachfall folgte oder jenen von Jean-Jacques Rousseau an den Genfersee, machte in Luzern Station. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt zu einem Touristenzentrum par excellence. Neben der geschlossenen, auch als „Storchennest“ bezeichneten Altstadt entstand um die Jahrhundertmitte durch Uferaufschüttungen eine offene Quai-Anlage mit mondänen Hotels.1 Der 1844 errichtete Schweizerhof wurde zum touristischen WahrDas Atelier im Grand Hotel | 39
1 Rudolf Dikenmann, Luzern, Blick auf das Hotel Schweizerhof und den Pilatus, um 1860, Privatbesitz
zeichen Luzerns und gilt heute noch als eine der wertvollsten Hotelanlagen aus der Hochblüte des Schweizer Tourismus im 19. Jahrhundert (Abb. 1). Leo Tolstoi, der im Juli 1857 dort abgestiegen war, bemerkte in seinem sozialkritischen Reisebericht Luzern: „Das prunkvolle fünfstöckige Haus des ‚Schweizerhof ’ ist erst vor kurzem am Kai, unmittelbar am See, erbaut worden, und zwar an derselben Stelle, wo sich in alten Zeiten eine hölzerne, krumme, überdachte Brücke mit Kapellen an den Ecken und Heiligenbildern an den Pfeilern befand. Nun hat man dank dem ungeheuren Andrang der Engländer und aus Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, ihren Geschmack und ihr Geld die alte Brücke abgebrochen und an ihrer Stelle einen schnurgeraden Sockeldamm angelegt, auf dem Damm mehrere geradlinige viereckige, fünfstöckige Häuser erbaut, vor den Häusern aber zwei Reihen Linden gepflanzt und diese mit Pfählen gestützt. Zwischen den Linden hat man, wie es überall üblich ist, grün angestrichene Bänke verteilt. Das ist die Promenade; hier ergehen sich die Engländerinnen mit schweizerischen Strohhüten und die Engländer in ihren praktischen und bequemen Anzügen, und sie freuen sich alle ihrer Schöpfung.“2 Von dieser urbanen Aussichtsterrasse schwärmte auch ein 1855 erschienener Fremdenführer: „Keine Feder beschreibt, kein Pinsel malt die entzückende Aussicht, die man hier auf den Vierwaldstättersee und die majestätische Alpenkette genießt.“3
40 | Franz Zelger
2 Josef Zelger, Königin Victoria beim Abstieg vom Pilatus, 1868, Privatbesitz
Im Jahre 1858 bezog der Landschaftsmaler Josef Zelger in einem Nebengebäude des Schweizerhofs ein Atelier, das bald zu einem Mittelpunkt des luzernischen Fremdenverkehrs wurde. Dort zirkulierte die vornehme Gesellschaft, dort gingen Einheimische ein und aus, sei es aus bloßer Neugierde, sei es aus echtem Interesse. Alpenbegeisterte Franzosen, Russen, Deutsche und Engländer, Fürsten, Adelige und Großbürger erwarben, oft von der Staffelei weg, Zelgers Gemälde als Reiseandenken. Zu den illustren Gästen, die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts dieses Atelier besuchten – wobei sich nicht alle zu einem Bilderkauf entschließen konnten –, zählten Königin Victoria von England, Königin Marie von Hannover, König Ferdinand von Portugal, Wilhelm III., König der Niederlande, König Ludwig II. von Bayern, Königin-Mutter Pauline von Württemberg, Mustapha Pascha vom Hause des Vizekönigs von Ägypten, die Herzöge von Nemours, von Chartres und von Aumale und nicht zuletzt Napoleon III. und Kaiserin Eugénie.4 Königin Victoria von England weilte vom 7. August bis zum 9. September 1868 in Luzern. Sie wohnte nicht im Schweizerhof, sondern im Haus ihres Landsmannes Robert Wallis auf dem Gütsch. Victoria unternahm zahlreiche Ausflüge auf den Sonnenberg, nach Rothenburg, ins Pilatusgebiet (Abb. 2), ja sogar bis in die Nähe des Rhonegletschers.5 Zelger erhielt von der Königin den Auftrag, sechs Ölbilder zu malen, deren Sujets sie bis in die Details bestimmte. Die Gemälde hatten bis spätestens Mitte Dezember jenes Jahres in Windsor oder London einzutreffen, weil sie als Weihnachtsgeschenke vorgesehen waren. Auf einem der Werke mit der Rigi im Hintergrund hüllte der Maler den Berg teilDas Atelier im Grand Hotel | 41
3 Josef Zelger, Blick auf Luzern und die Rigi von der Pension Wallis aus, 1868, Privatbesitz
weise in Nebelschwaden. Dies wurde von der Königin, die sich über die anderen Bilder durchaus lobend äußerte, kritisiert: „Luzern ist mir noch in derart überaus angenehmer Erinnerung, dass ich es lieber beim vollsten Sonnenschein als mit düsteren Herbstnebeln vor mir sehe; lassen wir daher dieselben lieber in blauen, heiteren Duft aufgehen.“6 Unverzüglich änderte Zelger das Bild zur vollen Zufriedenheit der Queen ab (Abb. 3). Dass der Maler von Königin Victoria Aufträge erhielt, war für ihn nicht nur eine große Ehre, sondern gleichzeitig ausgezeichnete Werbung. Die Engländer, schon bisher die besten Kunden Zelgers, kauften seine Werke nun in noch größerer Anzahl. Allein nach London konnte er über fünfzig Bilder schicken. Wie beliebt seine Gemälde in England waren, dokumentieren zahlreiche Briefe, wie zum Beispiel derjenige von Edward Moore aus Kent vom 4. Januar 1869: „I like them very much, and wish I were rich enough to have some more.“7 In der Folge traten auch immer mehr Schülerinnen und Schüler in Zelgers Atelier ein, insgesamt waren es neunzig. Darunter befanden sich viele junge Damen, wie Florence Brandt, die Tochter des britischen Konsuls. Auch Amerikanerinnen nahmen an Zelgers Unterricht teil. Von überall her trafen Anfragen ein mit der Bitte um Aufnahme in sein Atelier. So schrieb zum Beispiel Viktoria Gervinus aus Heidelberg, die Gattin des deutschen Literatur- und Geschichtsprofessors und Journalisten Georg Gottfried Gervinus, sie habe gelesen, dass Zelger für die Königin von England Bilder male, und sie wäre sehr dankbar, wenn der Künstler ihrer Freundin Fräulein Bauer Zeichenstunden erteilen würde.8 42 | Franz Zelger
Es bleibt unbestritten, dass dank Königin Victoria das Interesse ihrer Landsleute für Bilder Zelgers geweckt worden war. Man muss aber auch wissen, dass der Maler zusammen mit den Brüdern Franz Xaver und Hermann Winterhalter, die er in Brüssel kennen lernte, 1849 eine Englandreise unternommen hatte. Durch deren weitreichendes Beziehungsnetz hatte er schon damals Zugang zu englischen Sammlern gefunden. Franz Xaver Winterhalter war es auch, der die Verbindung zum österreichischen Kaiserhaus herstellte, zu Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth, die er beide porträtiert hatte – Winterhalter schuf bekanntlich das wohl berühmteste Sissi-Bildnis. Zelgers Ruine von Habsburg (Abb. 4), die noch heute im Großen Salon der Kaiserin Elisabeth in der Wiener Hofburg hängt, stammt schon aus dem Besitz von Franz Josephs Vorgänger Kaiser Ferdinand. Oft suchte Richard Wagner, der von 1866 bis 1872 auf Tribschen weilte und ein großer Verehrer der schweizerischen Alpenwelt war, Zelgers Ate- 4 Großer Salon der Kaiserin Elisabeth mit dem Bild Die Ruine Habsburg von Josef Zelger, lier auf, in dessen unmittelbarer Nähe er während Wien, Hofburg seines Luzerner Aufenthaltes von 1859 gewohnt hatte, nämlich in einer Dependance des Schweizerhofs. Zelger schenkte dem Meister im Frühjahr 1868 ein Gemälde, auf dem dessen Wohnsitz Tribschen dargestellt ist (Abb. 5). In seinem Dankesbrief kündigte Wagner dem Spender an, dass er sich vorbehalte, „seinem Gefühl den entsprechenden Ausdruck zu geben“. Etwas später ließ Wagner dem Landschaftsmaler eine kostbare Bronzeuhr, Minnesänger darstellend, zukommen, die er von König Ludwig II. zu Weihnachten 1864 erhalten hatte. Auch seine von A. Brasch in Leipzig angefertigte Photographie widmete er dem Malerfreund (Abb. 6), ebenso wie ein in rotes Leder gebundenes Exemplar des Meistersinger-Textbuchs.9 Und am 7. August 1868 wurde Zelger zum Mittagessen nach Tribschen eingeladen.10 Manchmal hatte der Maler ein straffes Programm zu bewältigen, dann nämlich, wenn ein Kunde kurzfristig ganz bestimmte Ansichten von verschiedenen Landschaften wünschte. Nicht immer hatte Zelger gerade die entsprechenden Skizzen auf Lager. Graf Stürmer zum Beispiel, ein in Venedig ansässiger Wirklicher Geheimer Rat, schickte ihm eine detaillierte Wunschliste: „1) Urirotstock bei Brunnen mit dem Grütli – der letzte Moment des Sonnenuntergangs 2) Die Mythen mit der Insel Schwanau auf dem Lowerzersee, auf der Straße nach Goldau 3) Das Wetterhorn und den Roselaui-Gletscher, auf Das Atelier im Grand Hotel | 43
5 Josef Zelger, Vierwaldstättersee mit Tribschen und Pilatus, Privatbesitz
dem Weg nach dem Roselaui-Bad 4) Die Jungfrau bei Interlaken mit der Ruine von Unspunnen. Jedes dieser Bilder soll, ohne Rahmen, 4 Fuß, 3 Zoll weit und 3 Fuß, 3 Zoll hoch sein. Diese Bilder sollen in der Hälfte des Monats Mai in Venedig geliefert werden. Der Preis ist für jedes Bild auf 800 Fr., folglich für alle vier auf 3200 Fr. festgesetzt.“11 Das Beispiel zeigt auch, wie stark Zelger auf die Kunden einging, die nicht nur die Motive, sondern auch Maße und Preise bestimmten. Daneben gab es Bildbesteller, die die Wahl des Sujets ganz dem Künstler überließen. So schrieb Charles Scruton aus Durham an Zelger: „Je vous écris pour vous commander un tableau, comme je voudrais bien posséder un de vos ouvrages. Il m’en faut un, peint sur un chassis ayant environs deux pieds de longeur. Choisissez quelque jolie sujet, et quand vous n’auriez rien de mieux à faire, ayez la bonté de me le commencer.“12 Für die meisten Auftraggeber allerdings hatten Zelgers Gemälde Souvenircharakter. Unter den zahlreichen erhaltenen Dankesschreiben, welche dies bezeugen, sei dasjenige der Prinzessin Valérie zu Windisch-Grätz, datiert Stükna in Böhmen, den 20. Dezember 1871, herausgegriffen: „Ich denke so gern an die schöne Schweiz und den herrlichen Luzerner See, dessen Bild Sie uns so getreu auf Ihrer Aquarelle wiedergeben.“13 Nicht alle Kunden jedoch fanden zu Zelger ins Atelier. Seine Malexkursionen in die Alpenwelt, etwa ins Berner Oberland oder nach Graubünden, nutzte der gesellschaftlich 44 | Franz Zelger
gewandte Mann auch, um neue Beziehungen zu knüpfen, Proben seines Schaffens den in diesen Gegenden weilenden Touristen vorzuweisen und somit wieder neue Aufträge zu erhalten. Oft hat er seinen Kunden mehrere Zeichnungen zugestellt, nach denen sie ein Sujet auswählen konnten. Wenn immer möglich, ging er auf ihre Wünsche ein, ob sie nun eine besondere Stimmung bevorzugten oder ihr Gemälde mit einer Alphütte, einem Gletscher oder einem Wasserfall bereichert haben wollten. Dankend schrieb ihm Frau Rieter-Rothpletz aus Winterthur: „Der Empfang Ihres Bildes hat meinen Gatten und mich in große Freude versetzt, indem es ganz unseren Wünschen entspricht. Sie haben meine Andeutungen so sehr verstanden, dass ich wirklich nicht wüsste, was dem Gemälde fehlen sollte.“14 Der Zürcher Großkaufmann Heinrich Bodmer-Stockar wünschte in einem von ihm bestellten Werk zusätzlich einen „Bach, der von einem hohen Felsen herabstürzt“, wenn es auch nicht der Wirklichkeit 6 A. Brasch, Richard Wagner, Photographie mit entspreche, doch auf diese Weise würde das Bild Widmung an Josef Zelger, Privatbesitz lebendig, meinte er.15 Gute Kunden waren die Hoteliers, nicht nur in Luzern, sondern auch in anderen Fremdenkurorten. Gerne schmückten sie die großräumigen Hallen und Säle ihrer Häuser mit Alpenbildern. Diese sollten nicht zuletzt für die Schweiz werben und den Touristen bei schlechter Witterung die wirkliche Bergwelt ersetzen. Man fragt sich, wie wohl Zelgers Atelierräume ausgesehen haben mögen. Es ist weder ein Gemälde noch eine Photographie bekannt, die den Künstler in seinem Atelier in Gesellschaft seiner vornehmen Kunden zeigt. Wir wissen, dass er in einem Nebengebäude des Hotels Schweizerhof einige Räume gemietet hatte. Der eigentliche Arbeitsraum, wo die Staffelei stand, dürfte gegenüber dem Prunksalon eher bescheiden ausgestattet gewesen sein (Abb. 7). Ein kleinformatiges Bild seines Luzerner Zeitgenossen Xaver Schwegler zeigt Zelger im Salon in der Pose des Grandseigneurs, inmitten von Antiquitäten (Abb. 8). Vor einem neugotischen Cheminée sitzend, umgeben von Renaissancemöbeln, wertvollen Tapisserien und Stoffen, Pergamenturkunden, alten Handschriften, RokokoDamenschuhen, Gläsern, Handwaffen und einer Rüstung, prüft er gerade ein Stilett. Der Künstler betätigte sich nämlich neben seiner Malerei auch als Antiquitätenhändler. Das Atelier im Grand Hotel | 45
7 Grutter (?), Josef Zelger an der Staffelei, um 1840, Photographie, Privatbesitz
So war seine Arbeitsstätte mit allen möglichen Kunstobjekten reich ausgestattet – nicht allein aus Liebhaberei, sondern vielmehr mit kommerziellen Absichten. Dank seiner weitreichenden Beziehungen war es dem Maler auch möglich, Antiquitäten und Gemälde anderer Künstler ins Ausland zu verkaufen. Sein Netzwerk lässt sich bis zum Kustos des Leipziger Museums, Dr. von Zahn, rekonstruieren, dem er eine Gebirgslandschaft von Josef Anton Koch zum Verkauf vermittelte.16 Solche Allianzen waren schon damals üblich. Zelgers Salon lässt in zweifacher Hinsicht an das weitreichende Wirken Wilhelm von Bodes denken. Zum einen unterhielt von Bode ein dichtes Netz von Sammlern, Händlern und Museumsleuten, zum anderen entwickelte er das schulemachende Konzept, (Museums-)Räume gleichermaßen mit Gemälden, Skulpturen, Möbeln, Teppichen und originalen Architekturfragmenten der betreffenden Epoche auszustatten, um damit die Trennung der Kunstgattungen aufzuheben.
Es gilt nun, Zelgers Atelier in einem größeren kunst- und kulturhistorischen Kontext zu betrachten. Von einem abgeschiedenen Ort des einsamen Schaffens, wie ihn etwa Gottfried Keller im Kapitel Die Maler in seinem Roman Der Grüne Heinrich anschaulich schildert oder wie ihn manche Atelierbilder der Romantik zeigen, kann man hier wohl nicht sprechen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Georg Friedrich Kerstings Bild Caspar David Friedrich im Atelier von 1812, das sich heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin befindet. Der Künstler sitzt nicht mehr wie in der Hamburger Fassung von 1811 vor der Staffelei. Er ist aufgestanden und hinter den Stuhl getreten, um das Ergebnis seiner Arbeit intensiv zu betrachten. Dabei hat er den Tisch mit dem Farbkasten und den Flaschen ganz nah an die Bildgrenze herangeschoben: „als Barriere gegen die Außenwelt und als Schutz für den Maler, und zwar so, dass die Kanten des schräg gestellten Tisches einen Winkel bilden, dessen Scheitelpunkt sich gegen den Betrachter richtet. Das schräg […] vor dem Fenster stehende Gemälde isoliert den Maler noch mehr vom Betrachter, da diesem das Bildmotiv verborgen bleibt und er von dem ausgeschlossen wird, was Friedrich gefangen nimmt.“17 Wie anders zeigt sich da Zelgers Arbeitsstätte, ein Parkett, auf dem eine internationale Kundschaft ihre Souvenirs bestellte und kaufte und wo man auch Antiquitäten erwerben konnte. Zelgers Atelier war in dieser Hinsicht eine Art Vor46 | Franz Zelger
läufer der Luxussouvenirshops in heutigen Grand Hotels. Das Publikum interessierte sich damals für Künstlerateliers als Orte der Produktion der Werke. Bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts befriedigten in Frankreich illustrierte Zeitschriften die öffentliche Neugier bezüglich des Arbeitsbereichs des Künstlers durch eine Reihe von bebilderten Publikationen, die den Ateliers von Künstlern der Vergangenheit und der Gegenwart gewidmet waren. Oder man denke an Honoré Daumiers 1849 im Charivari publizierte Scènes d’Atelier.18 „Auch die einsamen Schaffensstätten der Künstler konnten temporär öffentlich werden, indem sie weiterhin wie im 18. Jahrhundert gelegentlich als Ausstellungs- und Empfangsräume fungierten. […] Das Ate- 8 Xaver Schwegler, Josef Zelger in seinem Atelier als Antiquitätenhändler, Privatbesitz lier als geheimnisreicher Ort der schöpferischen Arbeit und die Ausstellung als Präsentationsort entwickelten eine komplementäre Beziehung.“19 Dass Zelger von Königin Victoria und weiteren gekrönten Häuptern Europas in seinem Atelier aufgesucht wurde, weist zurück auf die Tradition der mythischen Auszeichnung des Künstlers durch den Herrscher, einen Topos, der auf den Besuch Alexanders des Großen bei Apelles zurückgeht und von Kaiser Maximilian in Dürers Werkstätte, von Karl V. bei Tizian, Napoleon bei Jacques-Louis David und König Ludwig I. von Bayern bei Bertel Thorvaldsen fortgeführt wurde. Ein Holzstich von Robert Fleury zeigt zum Beispiel, wie Kaiser Karl V. für Tizian den Pinsel vom Boden aufhebt.20 Auch im Atelier von Diego Velázquez war das spanische Königspaar anwesend. Philipp IV. und seine Frau schauten dem Künstler oft beim Malen zu. Das ist auch der Grund, weshalb die Monarchen im Spiegel des Meninas-Gemäldes erscheinen – ein Hinweis auf ihre Präsenz im Atelier. Im Jahre 1864 empfing Rosa Bonheur die Kaiserin Eugénie in ihrem Atelier in Das Atelier im Grand Hotel | 47
Fontainebleau, ein Ereignis, das Auguste Victor Deroys Holzstich auf der Titelseite von Le Monde illustré vom 25. Juni 1864 festhält (Abb. 9). Der Besuch soll eine Überraschung gewesen sein. Unmittelbar bevor Eugénie das Atelier betrat, zog sich die Künstlerin eine Jacke und einen Rock über Hosen und Kittel. Sie wollte sich nicht in männlicher Arbeitskleidung präsentieren, was die Kaiserin mit dem denkwürdigen Wort 9 Auguste Victor Deroy, Kaiserin Eugénie im Atelier von Rosa Bonheur, Titelblatt von Le Monde illustré, Nr. 8, 1864 quittierte: „Le génie n’a pas de sexe.“21 Nachdem Frankreich 1870 nach der Schlacht bei Sedan im Krieg gegen Preußen hatte kapitulieren müssen, floh Eugénie nach England, wo sie in der Folge eine enge Freundschaft mit Königin Victoria verband. Indem Zelger sich im Schweizerhof etablierte, folgte er in gewissem Sinne den Malerfürsten in München und Wien, die sich Stadthäuser und Villen bauten. Wenn diesen ihre Gemächer, insbesondere das Atelier, als festlicher Mittelpunkt zur Selbstinszenierung dienten, war für Zelger die Atmosphäre des Grand Hotels Ersatz dafür. Man denkt dabei an Goethes Verse im 8. Kapitel des 2. Buchs von Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Bildende Künstler müssen wohnen / wie Könige und Götter; / wie wollen sie sonst / für Könige und Götter bauen und verzieren.“ Wie auch immer, reich ist Josef Zelger trotz prunkvollem Ambiente und zahlreichen Aufträgen nie geworden. Als er einmal die Miete nicht bezahlte, überließ er nach mündlicher Überlieferung der Hotelierfamilie Hauser zwei großformatige Alpenbilder, die noch heute in der luxuriösen Eingangshalle die Touristen empfangen, wenn sie durch das Hauptportal von der baumbestandenen Quai-Anlage mit den grün gestrichenen Bänken her das Hotel betreten. Diese Halle gehört in ihrer Stimmigkeit von Architektur und Dekoration zu den qualitätvollsten und besterhaltenen Hotelinterieurs der Schweiz. Man kann dabei nicht umhin, auch an die immer wieder zitierte Formel „Hütte und Palast“ zu denken, die auf die Frühlingsode des Horaz zurückgeht. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch durchkreuzten sich zwei verschiedene Seiten der Künstlerexistenz, die Seite der grandeur und diejenige der misère, was etwa im Atelier Hans Makarts hier und in Carl Spitzwegs Dachkammer des armen Poeten dort nachvollzogen werden kann.22 48 | Franz Zelger
Das Zeitalter des Atelierkultes ging auch an einem anderen Schweizer Künstler, Arnold Böcklin, nicht ganz spurlos vorbei: So suchten ihn in seiner bescheidenen Zürcher Arbeitsstätte 1885 Johannes Brahms, begleitet vom Dirigenten Friedrich Hegar, und der Münchner Mäzen und Böcklin-Sammler Adolf Friedrich Graf von Schack auf. Hier empfing er auch seine Freunde, den Tiermaler Rudolf Koller, den Bildhauer Richard Kissling und immer wieder Gottfried Keller. Böcklin legte jedoch keinen Wert auf einen repräsentativen, eleganten Arbeitsplatz. Für ihn war ein Atelier nichts anderes als eine Werkstatt, die möglichst ideale Bedingungen für seine Arbeit bieten sollte. Über Künstlerateliers ist schon viel geschrieben worden. Es geht hier nicht darum, Bekanntes zu wiederholen, doch gibt es immer wieder Aspekte, die eine Untersuchung lohnen. So wissen wir zum Beispiel wenig über konkrete Begegnungen deutscher Künstler in Pariser Ateliers, über gegenseitige Atelierbesuche und bilaterale Projekte. „Das Atelier stellte einen privilegierten Ort des künstlerischen Austausches zwischen Malern und Bildhauern beider Nationen dar, nicht zuletzt deshalb, weil man sich dort außerhalb des institutionellen, akademischen und auch politischen Kontextes bewegte.“23 In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg berichtet Theodor Fontane auch von dem Aufenthalt des Orientmalers Wilhelm Gentz in Paris und lässt dabei den Künstler selbst ausführlich zu Wort kommen, der 1845/46 die Ateliers aller großen französischen Historienmaler besucht hatte, um dann schließlich in dasjenige von Paul Delaroche einzutreten.24 Gentz schreibt: „Delacroix hat sehr wenige Schüler ge bildet und besaß auch kein Schüleratelier. Das bedeutendste und am zahlreichsten besuchte Atelier hatte Delaroche, welches Gleyre übernommen hatte. Einige Jahre darauf besuchte ich auch das Couture-Atelier. Bei Gleyre glaubte ich mich in der Zeichnung festigen zu können; Couture war mehr Kolorist. Durch seine ‚Décadence des Romains’ hatte dieser einen bedeutenden Zufluss von Schülern erhalten, besonders von Deutschen.“25 Der Blick in ein Atelier sagt oft vieles aus über die Persönlichkeit eines Meisters, manches auch über den Zeitgeist. So erkennen wir zum Beispiel auf einem Gemälde von Louis-Mathieu Cochereau von 1814 im Louvre das Atelier Jacques-Louis Davids, in dem eine kleine Gruppe von Studenten konzentriert nach einem männlichen Aktmodell arbeitet.26 Das Ansehen Davids und die Seriosität seiner Lehre werden auf diese Weise anschaulich zum Ausdruck gebracht. Lockerer geht es in der mit Schülern, Tieren und Requisiten aller Art belebten Arbeitsstätte von Horace Vernet zu, wie sein Bild von 1820 in Privatbesitz belegt. Auch hier wird gearbeitet, doch ebenso wichtig ist die Pflege von Freundschaft und Kollegialität in ungezwungener Atmosphäre. Vernet, der lässig eine Zigarette raucht, ist beim Fechten mit seinem Schüler Ledieu zu sehen. Bei den beiden Männern mit Boxhandschuhen handelt es sich um Montfort und Lehoux. Ganz natürlich fügen sich die Tiere in die Gruppe ein. Neben einem Pferd und Hunden ist auch ein Affe zu sehen.27 Das Atelier im Grand Hotel | 49
Zelgers Atelier gehört nicht zu diesem Typus Künstlerwerkstätte. Vielmehr erinnert es in Bezug auf die Fülle der Ausstellungsgegenstände an dasjenige von Jean-Louis Ernest Meissonier, obwohl dieser die zahlreichen Requisiten für seine Malerei gebrauchte, während Zelgers Objekte für den Handel bestimmt waren. Lebenswelt und Verkaufsstrategie des Innerschweizer Malers lassen in mancher Hinsicht an Jakob Philipp Hackert denken, der vorwiegend in Italien lebte.28 Seit 1768 war er in Rom tätig, von 1786 bis 1799 arbeitete er für König Ferdinand IV. als Hofkünstler in Neapel. Hackert wohnte in einem Flügel des Palazzo Francavilla und malte, was sein König wünschte. Daneben erteilte er den Prinzessinnen Zeichenunterricht. Hackert stand seit den siebziger Jahren auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Italienreisende aus aller Welt suchten ihn auf, darunter englische, deutsche und russische Adelige, auch Fürsten wie die Zarin Katharina II. und der russische Thronfolger Pawel Petrowitsch, der gemeinsam mit seiner Frau Maria Fjodorowna (geborene Prinzessin Sophie Dorothee von Württemberg) bei Hackert eine Vielzahl von Landschaftsgemälden bestellte. Solche Aufträge steigerten den Bekanntheitsgrad des Malers und waren Anlass für die Verbreitung seiner Werke in ganz Europa.29 Goethe bemerkte in seiner HackertBiographie: „Indessen hatte sich der Ruf seiner Verdienste immer mehr ausgebreitet; alle bedeutenden Fremden, von jedem Rang und Stande, besuchten ihn; und ob gleich er, noch vor seiner Reise in die Lombardei [1778, Anm. d. Verf.], die Preise seiner Gemählde für die Zukunft um ein Drittel vermehrt hatte, so waren doch immer für Holland, England, Deutschland, Polen und Russland, öfter auf sechs bis sieben Jahre, Vorausbestellungen vorhanden, so dass mancher Liebhaber starb, ehe er noch zum Besitze seines gewünschten Gemähldes gelangen konnte.“30 Hackert verkörperte wie später Zelger den Typus des äußerst geschäftstüchtigen, an den Bedürfnissen des Marktes orientierten Künstlers. Dessen ungeachtet gerieten bei beiden Ansehen und Ruhm schon mit dem Tod in Vergessenheit. Wenn von Ateliers die Rede ist, denkt man unwillkürlich auch an Gustave Courbets berühmtes Werk von 1854/55 im Pariser Musée d’Orsay, das als Pendant zum Begräbnis in Ornans zu verstehen ist. Hier inszeniert Courbet, wie ich nachzuweisen versuchte, sein eigenes Begräbnis.31 Der Totenkopf weist wohl darauf hin, dass auf den Tod die Auferstehung folgt. Der Legende nach ist beim Sterben Christi der zum Vorschein gekommene Schädel Adams vom Blut des Gekreuzigten benetzt worden, so dass Adam und seine Nachkommen der Erlösung teilhaftig wurden. Im Atelier erscheint Courbet nach Baudelaires Interpretation in der Rolle des Erlösers, des „sauveur du monde“: der Maler als Mittelpunkt der Welt, der die Gesellschaft durch die Kunst versöhnt. Bei Zelger geht es nicht um Versöhnung der Gesellschaft durch die Kunst, sein Ziel war anderer Natur, er stellte sein Werk in den Dienst des Tourismus. So soll sein Schaffen nun noch im Kontext der zeitgenössischen schweizerischen Alpenmalerei gesehen werden. Die durch Albrecht von Haller, Jean-Jacques Rousseau und andere geweckte neue 50 | Franz Zelger
Beziehung zur Landschaft förderte in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts die Alpenbegeisterung. Das Gebirge wurde eines der beliebtesten Reiseziele Europas, der Gotthard, die Rigi, das Berner Oberland, Chamonix mit seinem Eismeer am Fuße des Montblanc. 1775 erstieg Goethe anlässlich seiner ersten Schweizreise die Rigi und die Passhöhe des Gotthard. 1787 eroberte der Genfer Geologe Horace-Bénédict de Saussure den Gipfel des Montblanc. Für die Reisenden gehörte die Rigi zu den obligatorischen Stationen ihrer Tour in die Alpen. Ein Aquarell von Franz Niklaus König vermittelt einen Eindruck von der Neugierde, die bei Sonnenaufgang herrschte, um das in allen Reiseführern angepriesene „Naturschauspiel“ zu erleben.32 Den Dichtern und Gelehrten folgten auf ihren Wanderungen und Expeditionen auch die Maler. Schweizer Kleinmeister wie Johann Ludwig Aberli, Sigmund Freudenberger, Balthasar Anton Dunker sowie Vater und Sohn Lory belieferten die Reisenden mit pittoresken Veduten. Ihr großes Vorbild war Hallers Dichtung Die Alpen von 1729, die das sittenstrenge Leben der Hirten gegenüber einer degenerierten städtischen Gesellschaft pries. Ebenfalls durch Haller angeregt, ist der einfallsreiche Caspar Wolf auf mühevollen Wanderungen in die menschenleeren Gebirge vorgedrungen. Er begnügte sich nicht damit, die Berge vom Tal aus zu malen. Wolf ist ein Pionier der Alpenmalerei und einer der bedeutendsten Schweizer Landschaftsmaler. Mit seinen Naturstudien war er der Zeit weit voraus. Diese sind nicht nur für Kunstwissenschaftler, sondern ebenso für Alpinisten, Geologen und Glaziologen von großem Interesse. Für den Berner Verleger und Alpinisten Abraham Wagner malte Wolf in den Jahren 1774 bis 1778 über 170 Hochgebirgs- und Voralpenlandschaften, die zum Teil als kolorierte Umrissstiche und farbige Aquatintablätter weite Verbreitung fanden, so in den verschiedenen Ausgaben der Vues remarquables des montagnes de la Suisse, die gleichermaßen als Souvenirs wie als Werbung für die Schweizer Alpen bestimmt waren. Nach Jacob Samuel Wyttenbach, Pfarrer und Naturhistoriker, der Wolf auf seinen Bergwanderungen mehrmals begleitete, malte der Künstler jeweils auf Karton kleinformatige Studien in Tempera. Danach entstanden im Atelier die bis ins Detail ausgearbeiteten Gemälde, die Wolf auf spätere Reisen in die entsprechenden Gegenden mitnahm, um vor der Natur die notwendigen Verbesserungen anzubringen und die Bilder zu vollenden. Eine eigentliche Schule für Alpenmalerei gründete der Genfer François Diday (Abb. 10) – mit Erfolg. Zahlreiche Schüler und eine internationale Kundschaft suchten sein Atelier auf. Die Aufträge häuften sich. Auf Bestellung malte er öfters dasselbe Sujet. Hier holte sich Zelger, ein Mitschüler des berühmten Alexandre Calame, sein Rüstzeug. Auch wenn er mit seinen hin und wieder kulissenhaft, manchmal auch spröde wirkenden Bildern den besten Werken von Diday und Calame nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte, so darf er doch als wichtiger Vertreter des Diday-Kreises bezeichnet werden. Er gehörte zu den Malern, die den Touristen und den bemittelten Landsleuten die Gebirgswelt in künstlerisch gepflegten Darstellungen zu vermitteln wussten. Das Atelier im Grand Hotel | 51
10 François Diday, Der Pissevache-Fall, 1852, Genf, Musée d’art et d’histoire
Dass damals auch der junge Ferdinand Hodler im Atelier seines Lehrers Ferdinand Sommer in Thun fließbandmäßig Fremdenbilder mit pittoresken Landschaftsmotiven herzustellen hatte, sei hier am Rande erwähnt. Mit dem aufkommenden Massentourismus im 20. Jahrhundert wurden auch Reisebilder zum Massenartikel, wobei Photographien und Postkarten zunehmend die Gemälde verdrängten. Das Bedürfnis, die „schönsten Tage des Jahres“, die in der Ferne verbracht werden, im Bilde festzuhalten, bringt alljährlich Millionen von Urlaubsphotographien hervor. Sie liefern ebenso wie die auf Bildpostkarten versandten Grüße in die Heimat den authentischen Nachweis, an einem lohnenden Ort gewesen zu sein. Mit diesen kurzen Ausführungen zum Thema „Atelier“ habe ich versucht, auf einen besonderen Typus der Künstlerwerkstatt ein Licht zu werfen, auf ein Atelier, das in der kleinen Stadt Luzern ganz im Dienst des aufblühenden Tourismus stand. Gewiss bewegte Zelger sich nicht auf jenem Höhenweg der Kunst, den der Museumsmann und Hochschullehrer Ekkehard Mai in unzähligen Ausstellungen, Katalogen und weiteren Publikationen während Jahrzehnten beschritten hat. Aber er wirkte gewissermaßen auf dem Höhenweg des schweizerischen Fremdenverkehrs. Und so hoffe ich, dass mein geschätzter Kollege im Ruhestand Zeit finden werde, diese Gegenden in natura aufzusuchen. 52 | Franz Zelger
Anmerkungen 1 Beat Wyss, „Luzern“, in: Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (Hg.), INSA, Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920, 11 Bde., Zürich 1982–2004, hier Bd. 6, S. 379. 2 L[ew] N[ikolajewitsch] Tolstoi, Luzern / Albert, deutsch von Alexander Eliasberg, Leipzig [1911–1914], S. 5; vgl. auch Franz Zelger, An der Schwelle des modernen Luzern, Luzern 1930, S. 42. 3 Zelger 1930 (wie Anm. 2), S. 41. 4 Vgl. Hotel Schweizerhof (Hg.), Einige Historische Daten zur Geschichte des Hotels Schweizerhof Luzern, Informationsblatt mit Gästeliste, Luzern o. J.; Franz Zelger, „Prominente Gäste im Luzern des 19./20. Jahrhunderts“, in: id., Historische gesammelte Studien, hg. von Anton Müller, Luzern 1963, S. 11–13. 5 Zelger 1963 (wie Anm. 4), S. 12. 6 Zit. nach „Kunstkritik“, in: Luzerner Tagblatt, 25. Januar 1901. 7 Korrespondenz mit dem Kunstmaler Josef Zelger, Familienarchiv Zelger im Staatsarchiv Luzern [im Folgenden zitiert als Korrespondenz], Nr. 304 (Kent, 4. Januar 1869). 8 Ibid., Nr. 307 (Heidelberg, 8. Februar 1869). 9 Vgl. Max Fehr, Richard Wagners Schweizer Zeit, 2 Bde., Aarau und Frankfurt/Main 1934–1954, hier Bd. 2, S. 273; Michael Riedler, Richard Wagner, seine Zeit in Luzern. Das Museum in Tribschen, Luzern 1983, S. 15. 10 Brief von Wagner an Zelger vom 7. August 1868: „Geehrtester Herr Professor! Unser gegenseitiger Freund, Herr Oberst Amrhyn, hat soeben auf meine Bitte mir zugesagt, diesen Sonntag bei mir auf Tribschen das Mittagsmahl einzunehmen. Recht sehr würden Sie mich beehren und erfreuen, wenn Sie die ergebene Einladung, welche ich hiermit an Sie und Ihre geehrte Frau Gemahlin ebenfalls zu richten mir erlaube, zur Gesellschaft unserer geehrten Freunde gütigst annehmen, und demnach Sonntag um 4 Uhr mir die Ehre Ihres beiderseitigen Besuches gewähren wollten. Sie entschuldigen gütigst diese etwas unvorbereitete Einladung, und genehmigen, wenn ich bitten darf, die Versicherung der ausgezeichnetsten Hochachtung Ihres ergebenen Richard Wagner“, zit. nach E. Wymann, „Ein Unterwaldner im Kreise Richard Wagners auf Tribschen“, in: Neue Zürcher Nachrichten, 14. Februar 1933. 11 Korrespondenz, Nr. 346 (Luzern, 24. September 1857). 12 Ibid., Nr. 254 (Durham, 29. April 1858). 13 Ibid., Nr. 347 (Stükna in Böhmen, 20. Dezember 1871). 14 Ibid., Nr. 194 (Winterthur, 19. Juli 1850). 15 Ibid., Nr. 95 (Zürich, 8. September 1846). 16 Vgl. Livre de vente, Familienarchiv Zelger im Staatsarchiv Luzern. 17 Werner Schnell, Georg Friedrich Kersting. Das zeichnerische und malerische Werk mit Œuvrekatalog, Berlin 1994, S. 26, s. dort für Abb. der beiden Bilder, Kat. Nr. A 29, A 48. 18 Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 94. 19 Ibid., S. 95. 20 Ibid., S. 80, Abb. 45. 21 Vgl. ibid., S. 96 f. 22 Vgl. Eduard Hüttinger, „Künstlerhaus und Künstlerkult“, in: id. (Hg.), Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, Zürich 1985, S. 39. 23 Martin Schieder, En visite. Deutsche Künstler in Pariser Ateliers, 1830–1870, Vortrag anlässlich des Kolloquiums Diffusion et appropriation de l’image du pays voisin, 9. bis 11. Oktober 2008, Centre Allemand d’Histoire de l’Art, Paris. 24 Ibid. Die vorhergehenden Ausführungen sind auch als Hinweis auf Ekkehard Mais Beschäftigung mit der Historienmalerei in einer viel beachteten Ausstellung, einem Kolloquium und einem
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opulenten Sammelband zu verstehen (Triumph und Tod des Helden. Europäische Historienmalerei von Rubens bis Manet, hg. von Ekkehard Mai, Ausst. Kat. Wallraf-Richartz-Museum, Köln; Kunsthaus Zürich; Musée des Beaux-Arts, Lyon 1987/88; Ekkehard Mai (Hg.), Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz 1990). Zit. nach Schieder 2008 (wie Anm. 23). Abb. in Catalogue sommaire illustré des peintures du musée du Louvre et du musée d’Orsay, 5 Bde., Paris 1979–1986, hier Bd. 3, S. 141. Abb. in Nina Maria Athanassoglou-Kallmyer, „Imago Belli: Horace Vernet’s L’Atelier as an Image of Radical Militarism under the Restoration“, in: The art bulletin 68, 1986, S. 268–280, Abb. 1. Freundlicher Hinweis von Verena Krieger, Wien. Vgl. Jakob Philipp Hackert. Europas Landschaftsmaler der Goethezeit, Ausst. Kat. Klassik Stiftung Weimar; Hamburger Kunsthalle 2008/09. Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Weimarer Sophienausgabe), 143 Bde., Weimar 1887–1919, hier Bd. 34 [= Abt. 1, Bd. 46]: Winckelmann / Philipp Hackert – Lesarten, S. 226 f. Franz Zelger, „Un enterrement à Ornans – une nouvelle approche“, in: Dario Cimorelli (Hg.), L iber veritatis. Mélanges en l’honneur du professeur Marcel G. Roethlisberger, Mailand 2007, S. 329– 335. Abb. in In den Alpen, Ausst. Kat. Kunsthaus Zürich 2006, S. 133.
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Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne. Zur Tradition translozierter Künstlerwerkstätten Einleitung: Pollocks Fußboden Vor gut zehn Jahren widmeten das Museum of Modern Art in New York und die Tate Gallery in London Jackson Pollock (1912–1956) eine große Retrospektive. Der monumentale Katalog zur Ausstellung besitzt einen denkwürdigen Auftakt: Nach dem Porträt des Malers, nach Titel und Inhalt, nach dem Vorwort und dem Dank an Mitarbeiter und Sponsoren findet sich dort eine ungewöhnliche Abbildung (Abb. 1). Wie ein zweites Frontispiz zeigt uns Kirk Varnedoe, der Kurator der Ausstellung und Autor des Katalogs, ganzseitig und in Farbe das Quadrat des Fußbodens 1 Ansicht des Fußbodens in Jackson Pollocks Atelier aus Pollocks legendärem Atelierschuppen in Long Island. Der Blick fällt senkrecht von oben auf den mit Farbspuren übersäten Holzfußboden, der – gleichsam hochgeklappt – wie ein Vermächtnis des Künstlers erscheint.1 Diesem ungewöhnlichen Auftakt entspricht der Textanfang, denn seine suggestiven Worte zwingen den Betrachter und Leser geradezu körperlich an einen magischen Ort, eine Bühne, deren Akteure jedoch nur noch die Imagination herbeizurufen vermag: „Start with physical experience: It’s disorienting to stand where Jackson Pollock stood. […In t]he studio […] the old floor was uncovered. Now one can stand again on the boards that Pollock trod, and see, by the tatters of blue or beige or aluminium paint, the Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 55
ghost edges of paintings he poured out on this surface. Stand, see – and have a profound shock of disjunction. Anyone familiar with Hans Namuth’s photos of the artist at work must think they know this spot.“2 Erkennbar wird, dass sich die bildhafte Aufsicht des Atelier-Fußbodens am Vorbild von „Namuth’s overhead shots“ orientiert. Varnedoe erwartet nun eine Entsprechung von Werk und Ort und ist erstaunt über deren Disparität.3 Der inzwischen wie ein Kunstwerk aufwendig restaurierte Fußboden steht seit 1994 unter Denkmalschutz. Machen wir uns bewusst, was hier eigentlich passiert: Ausstellung und Katalog beginnen mit dem ultimativ letzten Werk und exponieren mit ihm zugleich das Atelier als Ort seiner Entstehung.
1. Drei aktuelle Beispiele Mondrians Atelier Zwei Ateliers sind es, die als „Keimzellen des Neuen“ untrennbar mit dem Werk Piet Mondrians (1872–1944) verbunden sind. Das eine ist sein Atelier im fünften Stock der Pariser Rue du Départ 26, in dem Mondrian von 1919 bis 1936 – also gut sechzehn Jahre – gelebt und gearbeitet hat.4 Das andere ist sein Atelier in New York, East 59th Street Nr. 15, Ecke Fifth Avenue, in dem er die letzten fünf Monate vor seinem Tod am 1. Februar 1944 zubrachte, jedoch kein einziges Werk mehr vollenden konnte (Abb. 2).5 Beide Ateliers sind durch Berichte von Augenzeugen und durch Photographien recht gut dokumentiert, die Mondrian teilweise selbst bei Paul Delbo in Auftrag gab, um mit ihrer Hilfe die Intentionen der Stijl-Bildkunst publik zu machen.6 Außerdem drehten Harry Holzmann und Fritz Glarner unmittelbar nach Mondrians Tod einen Film über sein letztes Atelier in New York. Beide Ateliers wurden wiederholt rekonstruiert, und zwar nicht nur als tabletop models, sondern auch als originalgroße dreidimensionale Nachbildungen, wie sie vor allem Frans Postma für diverse Museen und Ausstellungen errichtete.7 In dieser Form, als Rekonstruktion, ging Mondrians Atelier – gleichsam als Ort und Nährgrund seiner Kunst – auch auf Ausstellungsreisen.8 Erst 2007 war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „Man hat im Kölner Museum Ludwig für ein paar Reliquien aus der Werkstatt des Meisters jenen utopischen Ort aus Spanholz nachgebaut, um dessen längst legendäres Innendekor aus farbigen oder weißen Flächen, aus dazwischen platzierten Spiegeln, bemalten Leinwänden und messerscharfen schwarzen Linien zu rekonstruieren: Den Resonanzraum für die mystische Sphärenmusik des Tonsetzers Mondrian, der aus diesem erhabenen Reigen von geraden Linien und rechten Winkeln, aus den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau und den Nichtfarben Schwarz und Weiß eine bessere Welt, das Paradies auf Erden kreieren wollte – eine neue Welt- und Lebensanschauung. [… Die Ausstellung präsentiert mit ihren] zahlreichen Inkunabeln der abstrakten Kunst, Kult- und Andachtsbildern der 56 | Peter Springer
Moderne […den] von Mondrian gebahnte[n] Königsweg des 20. Jahrhunderts. – Dass dieser letztlich nicht geradewegs zum irdischen Paradies, sondern nur zu einer spröden Künstlerklause führte, bleibt die erlösende Pointe der ganzen Geschichte […].“9 Andere Kritiker sprachen von Mondrians karger „Zelle“ oder von seinem sterilen „Labor“, in dem das environment 2 Piet Mondrians letztes Atelier in New York, East 59th Street Nr. 15 der Zukunft erforscht werde.10 Mondrians legendäre Ateliers in Paris und in New York waren freilich – wie Herbert Henkels betont hat – weniger Modelle für eine Architektur der Zukunft oder Illustra tionen für Mondrians Theorien. Vielmehr hatten diese Ateliers eine entscheidende Funktion im kreativen Prozess, der – jenseits des Staffeleibildes – letztlich auf eine harmonische Verschmelzung von Kunst und Leben zielte.11 Mondrian selbst bezeichnete sein Atelier in der Rue du Départ einmal als „ein richtiges kleines Heiligtum“.12 Freilich reduzierten Nachahmer wie beispielsweise César Domela (1900–1992) nicht selten den rigiden gestalterischen Anspruch ihres Vorbildes, da man – wie Domela nicht ganz zu Unrecht betonte – mit einer Familie schließlich nicht in einem Gemälde leben könne.13
Brancusis Atelier In seinem Atelier in der Impasse Ronsin am Montparnasse hat Constantin Brancusi (1876–1957) genau drei Jahrzehnte lang bis zu seinem Tode gelebt und gearbeitet. Und hier fand er in der Photographie, in die ihn Man Ray eingewiesen hatte, das zweidimensionale Äquivalent zur räumlichen Inszenierung seiner Skulpturen (Abb. 3). Wenn je für einen Künstler sein Atelier eine Art Weltersatz war, dann für Brancusi. Die ausgetüftelte Anordnung seiner Werke im Atelier war ihm denn auch Anlass, jedem Besucher die Möglichkeiten optimaler Präsentation geradezu „ritualisiert“ vorzuführen. Dazu schuf der Meister seine Formen bei jeder Enthüllung gleichsam neu: Eigens eingerichtete Beleuchtungsanlagen sorgten für eine vorteilhafte Lichtregie; Elektromotoren ließen die Sockel kreisen und genau festgelegte Betrachterstandpunkte sollten optimale Ansichten garantieren. All dies war ganz offensichtlich das Ergebnis langen Erprobens, Abwägens und Gruppierens. Dadurch wurde das Atelier nicht nur zu einer Art Treibhaus skulpturaler Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 57
Ideen, ja zum plastischen Gedächtnis, in dem sich das Leben der Formen studieren ließ.14 In ihrer Summe betonen die 137 Werke zusammen mit den Ausstattungsstücken im Raum noch heute den Charakter des Ateliers als Gesamtkunstwerk.15 Pontus Hulten nannte es gar Brancusis Hauptwerk.16 Um es zu erhalten, vermachte es der Bildhauer testamentarisch dem Staat. Brancusis Atelier-Gebäude am ursprünglichen Ort fiel einer Sanierung zum Opfer. Angesichts des Dilemmas, den Gesamteindruck zu bewahren und das Ensemble dennoch der Öffentlichkeit zu erschließen, waren gegenüber einer gleichsam eingefrorenen Präsentation kompromisshafte Abstriche unumgänglich. So musste man in dem musealen „Faksimile“ nicht 3 Constantin Brancusis Atelier, Paris, 8 Impasse Ronsin, Ansicht nur auf den pittoresken Charme um 1925 abblätternder Wandfarbe, auf Atelierstaub als Indikator von Arbeit und Zeit verzichten, sondern auch auf die karge Gemütlichkeit des Wohn-Ateliers. Vor allem aber war man gezwungen, es in einen ganz neuen Kontext zu translozieren. Seit 1962 präsentierte man Brancusis Atelier zunächst provisorisch im Pariser Musée National d’Art Moderne im Palais de Tokyo. 1977 wurde es dann in einem kleinen separaten Gebäude unmittelbar vor dem Centre Pompidou rekonstruiert, doch erwies sich der Bau schon bald als unzweckmäßig. Schließlich baute Renzo Piano an gleicher Stelle ein intimes separates Museum, das 1997 eröffnet wurde.17 Die museale Zurschaustellung der vom Bildhauer geschaffenen Inszenierung durch den Architekten praktiziert einen Kompromiss zwischen eindringender Präsenz und schaufensterhafter Distanzierung des Betrachters (Abb. 4). Entsprechend ist jeder Rundgang eine Gratwanderung: Stets begleitet einen die Frage, wie präzise die derzeitige Ansicht das ursprüngliche Aussehen von 58 | Peter Springer
Brancusis Atelier wiedergibt oder wie weit sie interpolierend nur ein „Mehr-oder-Weniger“ des ursprünglichen Zustandes vermittelt. Aber ist das nicht letztlich das Dilemma aller ausgestellten Ateliers?
Bacons Atelier Als die Tate Britain in London 2008 Francis Bacon (1909–1992) die Ehre einer dritten Retrospektive in ihren Hallen zuteil werden ließ, inszenierte sie die Ausstellung so, dass sich die fünfundsechzig Leinwände um einen Raum im Zentrum gruppierten, der dadurch als „Schlüssel zu Bacons Schaffensprozess“ erkennbar war: „Besagter Raum mit dem Titel ‚Archiv’ bietet eine Kostprobe des über Jahrzehnte gesammelten Materials aus Bacons Londoner Atelier, 4 Constantin Brancusis Atelier, Ansicht der musealen Rekonstruktion von 1997 das nach seinem Tod wie ein Fertighaus in seine Geburtsstadt Dublin verlegt wurde. Dort werden die Zeitungsausschnitte, die Photographien, aus Büchern ausgerissene Seiten und andere Quellen, die in wüstem Durcheinander Schicht auf Schicht den Boden polstern, ausgewertet wie archäologische Funde.“18 Im Gegensatz zu Bacons angrenzenden Wohnräumen glich sein Atelier mit den Jahren nämlich mehr und mehr einem Abfallraum und wurde als solcher gewissermaßen zu einer Verkörperung des kreativen Chaos: „The studio had become so messy and chaotic that he couldn’t move around to paint properly […].“19 (Abb. 5) – „For some of those close to Bacon in his lifetime, the studio was an heroic statement, a work of art in its own right, created over many years to distil and give form to his aesthetic intentions. Now […] we are invited to take a privileged look around his private space, to become intimate witnesses to the amazing conditions in which he lived and worked, to gain unrivalled insight into how, why and what he painted.“20 Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 59
5 Francis Bacons Atelier, London, 7 Reece Mews, South Kensington
Beim Tode Bacons hatte sein Atelier „den Rang eines historischen Denkmals“, das man unbedingt erhalten wollte.21 Deshalb stiftete der Alleinerbe, John Edwards, 1998 Bacons ehemaliges Atelier mit allen Ausstattungsstücken und sämtlichen Gegenständen – einschließlich Decken, Fußböden, Wänden und Türen – der Hugh Lane Municipal Gallery of Modern Art in Dublin, Bacons Geburtsstadt, nachdem die Tate Gallery in London die Schenkung abgelehnt hatte. Noch im gleichen Jahr wurde der gesamte Inhalt der Räume, über 7500 Relikte unterschiedlichster Art und Bedeutung, teilweise krudeste Materialien in schlechter Erhaltung – wie Abfall eben – nach Dublin transferiert. Dort sollten das Atelier und sein Inhalt in einem leichter zugänglichen Kontext so getreu wie möglich rekonstruiert werden. Am 23. Mai 2001 konnte schließlich Bacons Atelier in einem Bau von David Chipperfield eröffnet werden. Typisch für das Phänomen, um das es hier geht, ist die Spannung zwischen der konservierenden Erhaltung und musealen Präsentation des ursprünglichen Zustandes mit seinem im nur allzu wörtlichen Sinne atemberaubenden Bodensatz – „an unbelievable mess“ nannte es John Edwards – auf der einen und der Auswertung dieser Relikte als Dokumente auf der anderen Seite. Ein Team aus Restauratoren und Archäologen behandelte diese Relikte wie „Ablagerungsschichten“, die Stück für Stück erfasst und akribisch dokumentiert wurden (Abb. 6). Dazu bediente man sich neben der Photographie und Zeichnung auch „Vermessungsskizzen“ und „Merkmalsbögen“ sowie einer elektronischen Datenbank. „Auf diese Weise entstand [nach zwei Jahren Arbeit] das 60 | Peter Springer
wohl vollständigste und umfassendste Dokumentationsarchiv, das je über einen […] Künstler […] angelegt wurde.“22 Wichtige Aufschlüsse über Bacons Arbeitsweise waren nur eines der Ergebnisse. Indem man mit einem kaum mehr zu überbietenden Aufwand alle Relikte separierte, nummerierte, restaurierte, verpackte, verschickte und schließlich akribisch wieder zusammenfügte, konservierte man nämlich nicht nur Spuren seines Lebens und Arbeitens, sondern gleichsam auch Bacons Image als chaotisches Genie, das sich in seinem „legendär unordentlichen Atelier“ materialisierte.23 Vor allem aber konservierte und translozierte man – nicht nur in diesem Extrembeispiel – mit dem Atelier auch einen Ort.
6 Konservierungsarbeiten am Tisch F 7 aus Francis Bacons Atelier in Dublin
Das Atelier als Dauerexponat Die drei genannten Fälle sind nämlich nur die prominentesten Beispiele für die Praxis, Künstlerateliers wie Gesamtkunstwerke als Dauerexponate auszustellen. Einige weitere Beispiele seien wenigstens kurz erwähnt, um das Spektrum des Phänomens anzudeuten. Der Anspruch auf Vollständigkeit soll damit nicht verbunden werden, dürfte tatsächlich ihre Zahl doch wesentlich größer sein: n Seit 1999 befindet sich in der Dean Gallery der Scottish National Gallery of Modern Art in Edinburgh, der Geburtsstadt von Eduardo Paolozzi (1924–2005) eine Rekonstruktion seines Ateliers. Auch ein Hauptteil seiner Werke und seiner Bibliothek wurden dorthin transferiert. n Das ambitionierte Projekt des kalifornischen Künstlers Paul McCarthy (Jahrgang 1945) besteht äußerlich aus einer großen Raumkapsel, einem hölzernen Raum-Container. Es ist im Kontext einer Werkreihe zu sehen, die seit den sechziger Jahren um das Thema des Ateliers als Kunstwerk kreist. Das bisher spektakulärste Resultat seiner eigenwilligen Experimente ist The Box von 1999. Dazu photographierte McCarthy den gesamten Inhalt seines mit Werkzeugen, Hausrat und Gerümpel aus zwei Jahrzehnten vollgestopften Ateliers, bevor er alles verpackte und nach St. Gallen transportieren ließ. Im Rahmen einer Ausstellung baute er dort dann den gesamten Inhalt seines Ateliers im Innern der genannten riesigen Holzkiste wieder auf, deren Abmessungen sowie Tür- und Fensteröffnungen denen seines Ateliers genau entsprechen. Allerdings kippte er – als wolle er den zurückAusgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 61
gelegten Weg durch die Kippung, die etwa einer Vierteldrehung der Erde um ihre Achse entspricht, veranschaulichen – den Raum samt Inhalt um 90 Grad, „so dass der Boden zur Wand, die Wand zur Decke, die Decke zur Wand und die Wand zum Boden wird.“24 Durch ein Fenster blickt der Betrachter in ein verkehrtes Atelier, in dem die Gesetze der Schwerkraft überwunden scheinen. n Vier Jahrzehnte lang, von 1922 bis zu seinem Tode, lebte und arbeitete André Breton (1896–1966) in seinem Atelier in der Pariser Rue Fontaine. Ende 1999 rekonstruierte man sein legendäres Studiolo, von dem Werner Spies sagte: „Es ist ein historisches, scheinbar überlebtes Prinzip von Neugierde, Erkennen, eines Sehens, das hier als Modell genommen worden ist: Die Wirkung, die das Atelier ausübt, zeigt, dass dieses Prinzip nur scheinbar überholt ist.“25 Man integrierte diese moderne Wunderkammer (teilweise) in das Musée d’Art Moderne im Pariser Centre Pompidou: Es gelang, „diese raumgreifende Ikonostasis aus über 200 Idolen und Gebrauchsobjekten, Reliquien, Bildern und Skulpturen an zentraler Stelle [des Museums] so aufzubauen, dass die ‚Kunst- und Wunderkammer’ im musealen Ambiente Fremdkörper bleibt und doch alle umliegenden Säle auf sich zieht.“26 n Kurt Schwitters (1887–1948) arbeitete von 1923 bis zu seiner Emigration nach Norwegen 1937 in Hannover an seinem Merzbau, der sich – ständig wachsend und wandelnd – mehr und mehr ausbreitete: „Mein Merzbau war praktisch nicht ein einzelner Raum, sondern über das ganze Haus verteilt. Teile des Merzbaues waren im Nebenraum, auf dem Balkon, in zwei Räumen des Kellers, in der 2. Etage, auf dem Boden.“27 Das Zentrum dieses wuchernden Gesamtkunstwerks bildete das ehemalige Atelier des Künstlers. 1943 wurde das Ensemble bei einem Bombenangriff zerstört. Auf Anregung von Harald Szeemann rekonstruierte Peter Bissegger 1979 den 3,93 Meter hohen, 5,80 Meter breiten und 4,60 Meter tiefen Kern der Anlage für die Ausstellung Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Heute ist Schwitters Merzbau im Sprengel Museum Hannover zu sehen.
2. Medien der Vermittlung Bedeutung der Photographie für die Translozierung Nicht nur für den Nachbau von Schwitters Merzbau waren Photographien entscheidende Voraussetzungen. Wie hier sind es meist Photographien – noch vor den Zeitgenossen und Augenzeugen – die die wichtigsten Anhaltspunkte für die Translozierung und Rekonstruktion von Ateliers liefern. Ansichten von Künstlern im Atelier haben nicht nur einen ganz eigenen Typus von Bildbänden hervorgebracht. In einigen Fällen ist die Photographie als das entscheidende dokumentarische Medium gewissermaßen Protokoll und Kronzeuge. In dieser Funktion überbrücken Photographien die zeitliche und räumliche Distanz und verbinden den ursprünglichen mit dem musealen Ort und Zustand. 62 | Peter Springer
Bereits im Falle von Pollocks Atelier ist die bildmäßige Erscheinung und Präsentation des Atelierfußbodens mit den Farbspuren Ergebnis seiner photographischen Inszenierung, denn erst durch den Blick, der sich dem gewöhnlichen Besucher wohl so nie bieten dürfte – gleichsam aus der Perspektive einer Stubenfliege von hoch oben –, erst durch diesen uneigentlichen Blick wird die These nachvollziehbar. Mondrians diverse Ateliers lassen sich nicht nur durch die Berichte zahlreicher Augenzeugen, Besucher und Freunde relativ leicht rekonstruieren. Mondrian selbst war von ihrem Modellcharakter überzeugt und beauftragte deshalb Photographen, um in zahlreichen Photographien die Inszenierung seines Ateliers zu dokumentieren. Heute sind diese Photographien unverzichtbare Zeugnisse für die Charakterisierung und Bewertung der Ateliers als Bühne der Selbstinszenierung des Künstlers und seiner Werke. Brancusi hinterließ rund 1600 Photographien (560 Negative und 1250 eigenhändige Abzüge), die – obwohl vielfach unscharf, fleckig und verkratzt, über- oder unterbelichtet und verschmutzt – für ihn offenbar „das kritische Kontrollorgan fürs exakte Arrangement im Atelier war[en]“.28 Schon für den vorletzten Zustand seiner Translozierung galt: „Das Atelier ist so eingerichtet, wie es an seinem Todestag aussah, man stützte sich auf das Zeugnis von Alexander Istrati und Natalia Dumitresco, die ihren Landsmann in den letzten Lebensjahren betreuten, und auf Brancusis eigene Aufnahmen.“29 Auch für die Transferierung von Bacons Atelier samt seiner „Füllung“ und Ausstattung bediente man sich der Photographie. Mehr als anderthalb tausend Überreste wie archäologische Relikte zu sichten, zu erfassen, zu dokumentieren, zu bewerten, zu transferieren und schließlich wieder wie an ihrem ursprünglichen Ort in ihrer ursprünglichen Lage zu rekonstruieren – dazu war die Hilfe der Photographie unerlässlich. Eine Rekonstruktion „wie an ihrem ursprünglichen Ort“ heißt aber, dass im Grunde ein aus vielen Komponenten zusammengesetzter Ort in seiner Gesamtheit wie ein einziges Werk oder wie ein Gesamtkunstwerk transloziert wird. Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei der Faktor Zeit.
Das Atelier als Exponat auf Zeit Nun gibt es neben dem genannten Typus des translozierten Ateliers als Dauerexponat auch Ateliers, die nur für eine begrenzte Zeit – etwa im Kontext einer Wechselausstellung – gezeigt wurden. In gewisser Hinsicht vermitteln und verbreiten sie die Idee, Ateliers als zum Kunstwerk überhöhte Orte zu translozieren. Wie die Dauerexponate, so weisen auch sie Verbindungen zu anderen Ausstellungstypen auf. Auch dafür nur einige wenige Beispiele: n Im Rahmen der Berliner Zeitgeist-Ausstellung 1982/83 richtete Joseph Beuys (1921–1986) sein „Atelier“ im Lichthof des Gropius-Baus ein und installierte dort sein monumentales Werk Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch.30 Auch um die Bühne zu beAusgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 63
spielen und die Institutionen Atelier und Ausstellung einander anzunähern, hielt sich der Künstler wiederholt dort auf und arbeitete an seinem Werk. Die Kritikerin Petra Kipphoff nannte ihn damals, auf die zentrale Bedeutung von Lehm in diesem Werk anspielend, „Beuys, de[n] unermüdliche[n] Schamane[n] inmitten seiner Gottvaterwerkstatt […].“31 Andere, wie Heinz Ohff, sprachen von einer „Werkstatt“, in der aus Material Kunst werde.32 n Offenbar ohne sich der Parallelen bewusst zu sein, verlegte 2002 zur Documenta XI in Kassel der kroatische Künstler Ivan Kozaric (Jahrgang 1921) sein Atelier in die Ausstellung und arbeitete gleichfalls vor Ort. In einem Raum einer ehemaligen (Binding-) Brauerei war damals „sein derzeitiges Atelier in aller Detailfreude zu betrachten. Unter institutionskritischer Perspektive könnte man ein derartiges Verfahren auf den Nenner bringen: An den Produktionsbedingungen arbeiten und sie gleichzeitig darstellen. Ivan Kozaric aber geht es um mehr. Zum einen will er die klassischen Parameter der modernen Plastik hinterfragen, zum anderen die Trennung zwischen Kunst und Publikum aufheben. Das ‚Atelier Kozaric’ von Ivan Kozaric ist so gleichzeitig Performance, Installation und Kritik der Retrospektive.“33 n 2007/08 veranstaltete die Neue Galerie in New York eine Ausstellung zu Gustav Klimt (1862–1918). Aus diesem Anlass wurde Klimts Atelier – „samt Skelett in der Ecke, Jugendstil-Fenstern und supereleganten Wiener-Werkstätte-Möbeln“, wie die Kritik bemerkte – nachgebaut.34 n Das Werk des japanisch-französischen Malers Tsuguharu Léonard Fujita (1886– 1968) ist charakterisiert durch seine Verschmelzung traditioneller japanischer und zeitgenössischer europäischer Komponenten. Fujita kam 1913 nach Paris, wo er schon bald in Kontakt mit führenden Künstlern der Ecole de Paris (Pablo Picasso, Amedeo Modigliani, Juan Gris, Henri Matisse, Chaïm Soutine, Fernand Léger, Man Ray und anderen) kam und große Erfolge feiern konnte. 1955 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an und konvertierte 1959 zum Katholizismus. Die von ihm ausgemalte Chapelle Foujita (Notre Dame de la Paix) in Reims ist seine letzte Ruhestätte, das letzte Atelier des Künstlers befindet sich in Villiers-le-Bâcle im Department Essonne. Als 2008/09 das Ueno-no Mori Museum in Tokio eine Auswahl seiner Werke präsentierte, war dort auch eine repräsentative Ansicht seines Ateliers rekonstruiert, darunter die von der Stirnwand des Ateliers abgenommenen religiösen Malereien sowie zahlreiche Requisiten, zu denen neben Staffelei, Leinwänden, Pinseln, Paletten und Farben auch ein mittelalterlicher Kruzifixus gehörte.35 n Eng verwandt mit ausgestellten Ateliers ist die öffentliche Präsentation von Werkstätten, in denen unter den Augen der Besucher prominente Werke restauriert werden: Die Besucher des Basler Museum Tinguely konnten 2008 die Restaurierung von Max Ernsts (1891–1976) surrealistischem Wandgemälde Im Garten der Nymphe Ancolie aus dem Kunsthaus Zürich miterleben. Für diese „Live-Restaurierung“ integrierte man in 64 | Peter Springer
eine Ausstellung von 150 Werken des Künstlers eine kleine Werkstatt. Einsehbar, doch durch raumhohe Glaswände abgetrennt, war sie gewissermaßen Fortsetzung der Ausstellung mit anderen Mitteln. In diesem „Schauatelier“/„show workshop“ beziehungsweise in dieser „gläsernen Werkstatt“ arbeiteten zwei Restauratorinnen vor den Augen des Publikums an der Wiederherstellung des 22 Quadratmeter großen Gemäl7 Schau-Restaurierung von Raffaels Sposalizio, 2008, Mailand, Brera des, das Max Ernst 1934 als Auftragsarbeit für die Mascotte-Bar im Zürcher Corso-Theater geschaffen hatte.36 Die Ausstellungswerbung wies – wohl unbewusst – auf einen Vorgang hin, der diesen Raum auch in der Wahl der Worte mit einem Atelier verbindet: „Vor Ort können die Ausstellungsbesucher die Verwandlung des Bildes […] verfolgen und somit die Geburt und Entdeckung eines verborgenen Meisterwerks.“37 Ver-Wandlung, Geburt und Ent-Deckung aber verweisen auf pseudosakrale oder mythische Sachverhalte. n Große Ähnlichkeit besitzt diese Inszenierung einer Gemälde-Restaurierung als einsehbare Quasi-Künstlerwerkstatt für den Museumsbesucher mit der Restaurierung von Raffaels berühmtem Sposalizio in der Mailänder Brera, ebenfalls 2008 (Abb. 7).
3. Voraussetzungen und Kontinuitäten Die Tradition translozierter Architektur Die Frage, seit wann es denn eigentlich üblich ist, ganze Ateliers zu translozieren und wie ein einziges Kunstwerk auszustellen ist zwar naheliegend, aber gar nicht so einfach zu beantworten. Offensichtlich handelt es sich um ein relativ junges Phäno men – doch eines mit zum Teil langen Wurzeln, wenn man etwa an Spolien denkt. Einen ersten Fall dieser Art zu benennen, fällt gleichwohl schwer. Wichtige Voraus setzungen für ein solches Vorgehen dürften in den Environments der sechziger und siebziger Jahre (zum Beispiel Roxys von Edward Kienholz) zu suchen sein. Allerdings fehlt ihnen mit der besonderen Bedeutung des Ortes eine wichtige Komponente. Heißt doch die häufig „magische“ Aufladung des architektonisch definierten Ortes mit BedeuAusgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 65
tung und Erinnerung nicht zwangsläufig auch, dass er lokalfixiert sein muss. Vielmehr verweist die Möglichkeit seiner Translozierung auf historische Voraussetzungen, und zwar sowohl auf museale als auch auf sehr viel ältere sakrale Praktiken. Hier einige Beispiele: Fenway Court, die 1903 eröffnete Residenz von Isabella Stewart Gardner in Boston, ein Stück gotisches Venedig an der amerikanischen Ostküste, hat eine Voraussetzung in John Ruskins Stones of Venice.38 Dieses Museum ist das Monument einer Bewegung, die etwa seit der Jahrhundertwende den sogenannten „Elginismus“ pflegte. Er führte dazu, dass man halbe Kirchen und Klöster in die Neue Welt verfrachtete. Der Bildhauer George Grey Barnard gilt als der Erfinder der Cloisters, die seit den späten zwanziger Jahren in diversen amerikanischen Museen eingerichtet wurden. Diese stimmungsvollen Rekonstruktionen kompletter romanischer oder gotischer Kreuzgänge, Kapitelsäle und Kapellen haben heute nicht selten etwas Kulissenhaftes. Die berühmteste Pflanzstätte solch translozierter Architektur ist sicherlich The Cloisters in New York. Als Dependance des Metropolitan Museums of Art liegt sie im Norden Manhattans gleich einer Arche des Mittelalters über dem Hudson River. Allerdings strebt dieses 1938 eröffnete, eklektische Ensemble keine Kopie historischer Gebäude an. Vielmehr will das pasticciohafte Architektur-Konglomerat mittelalterliche Kunstwerke in einer optimalen, atmosphärisch stimmigen Umgebung erlebbar machen. Nicht zufällig, darauf hat Willibald Sauerländer hingewiesen, nicht zufällig entstanden Disneyland und die Cloisters in der gleichen Ära des New Deal.39
Künstlerhäuser und Personalmuseen In Berlin wurden jüngst nicht weniger als zehn Ausstellungen – gleichzeitig! – gezeigt, die sich dem „Kult des Künstlers“ widmeten.40 Die im Kontext dieses Ausstellungszyklus zentralen Leitformeln wie „Tempel der Kunst“, „Ästhetische Kirche“ oder „Künstlerdenkmal“ umkreisen eigentlich nicht allein den Künstler und die Institution des Museums, sie schließen mehr oder weniger auch das Künstlerhaus und das Atelier mit ein.41 Alle drei mit dem Künstler verknüpften Orte – Atelier, Haus und (Personal-)Museum42 – haben ihre eigene Geschichte (und können auch deshalb hier nur erwähnt werden), eine Geschichte freilich, die durch ihre enge Verwandtschaft und ihre fließenden Übergänge charakterisiert ist.
Künstler als Erben religiöser Sakralität Spätestens aber mit dem Kult des Künstlers und seinen sakralen Implikationen kündet sich der im Titel angedeutete Zusammenhang an: Bisher habe ich nur wenige Argumente genannt, die zur Erklärung dieses merkwürdigen Titels beitragen. Das will ich nun nach66 | Peter Springer
tragen: Die Bedeutung des Ateliers resultiert nämlich nicht aus seiner Funktion als mehr oder weniger handwerklicher Produktionsstätte (denn wer käme sonst auf die Idee, einen solchen Raum voller Abfälle auszustellen?). Sie resultiert vielmehr aus seiner Überhöhung als Ort, an dem sich das Mysterium der Transsubstantiation, der geheimnisvollen Verwandlung von Materie und Idee, Farbe und Stein, Leinwand und Lehm in Kunst vollzieht. Dabei hat die Überhöhung des Ortes ihre Voraussetzung in der Überhöhung der hier geschaffenen Werke wie diese in der Überhöhung ihres Schöpfers. Ob der aber nun als Schöpfer oder Virtuose, Priester oder „Pinselquäler“, Magier oder Schamane körperlich, oder ob er nur noch imaginär präsent ist – Zentrum dieses Ortes und des dort vollzogenen Mysteriums ist stets der Künstler. Charakteristisch für sein Wirken ist, dass es in den Dingen – also in den Kunstwerken, die seine Hand berührt hat, und allem, was zu ihnen gehört – weiterwirkt. Midasgleich, sind seiner Fähigkeit Dinge zu verwandeln, keine Grenzen gesetzt, es sei denn die seines eigenen Ablebens. Und genau das ist der Punkt, der uns hier beschäftigt. Der Zeitpunkt nämlich, an dem das Atelier nach dem Tod des Künstlers, mit Erinnerung aufgeladen, zu einem translozierten und ausgestellten Kunstwerk wird. Man muss kein Feind moderner Kunst sein – zumal der Zusammenhang ja nicht nur für moderne Kunst gilt –, um die Entsprechungen im Reliquienwesen des Mittelalters zu erkennen. Gab es doch neben den Primärreliquien der Märtyrer und Heiligen (zum Beispiel ihre Gebeine) bekanntlich auch Kontakt- oder Berührungsreliquien. Sie sind qua Berührung gewissermaßen mit den heilbringenden Energien derer aufgeladen, die von Gläubigen als Märtyrer und Heilige verehrt werden. Theoretisch kann jeder Gegenstand diese Funktion übernehmen – also nicht nur Kleidungsstücke, Dornenkronen oder Schuhe und Partikel davon, sondern zum Beispiel auch Architektur und Teile von Architekturen. Auch Ateliers sind in der Regel architektonische Gebilde. Kaum verwunderlich ist deshalb, dass auffallend häufig – wie bei Bacon, so auch bei anderen Künstlern – die geradezu körperlich spürbare Gegenwart des Künstlers in seinem Atelier beschworen wird: „[…] seine Präsenz in diesem Raum war noch immer deutlich zu spüren. […E]s [war] alles andere als ein leeres Gehäuse; es war immer noch von einer faszinierenden Energie erfüllt.“43 Wie bei Beuys, so haben Kritiker die Inszenierung der Werke in Brancusis Atelier durch den Künstler mit „Enthüllungen der Formen wie am ersten Schöpfungstag [verglichen]. Vom Künstlergott selbst durfte man sich [jedoch] kein Bild machen.“44 Der Praxis des Alter Deus steht hier der Kontrollverlust durch fremde photographische Interpretationen gegenüber. Dies betont nicht nur einmal mehr die Bedeutung der Photographie für Brancusis Arbeiten, dies betont vor allem auch die Rolle des Künstlers als Schöpfer autonomer Kunst. Das Bild des Künstlers kennt viele Formen der Überhöhung, das heißt der Selbst- und Fremdstilisierung durch die Aura des Auserwählten oder Leidenden. Seit dem späten Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 67
Mittelalter zeigen Selbstbildnisse nicht selten den Künstler als Märtyrer, Heiligen oder gar als Christus: Rogier van der Weyden leiht dem Heiligen Lukas seine Züge, Michelangelo schlüpft in die Haut des Heiligen Bartholomäus, Albrecht Dürer stellt sich wiederholt christusähnlich dar, ihnen folgten Gustave Courbet, Paul Gauguin, James Ensor und viele andere.45 Joseph Beuys war ein Meister christomorpher Selbststilisierung und -inszenierung. Das von ihm gepflegte Image des Schamanen, des hypersensiblen Sehers mit besten Beziehungen zum Unterbewussten und Irrationalen, das Image des Heilers und Handauflegers stand noch ganz in dieser Tradition. Nur konsequent will deshalb erscheinen, dass nach seinem Tode die Suggestion seiner Werke Einbußen hinnehmen musste. Eigentlich hätte man deshalb erwarten können, dass man dem Ort seiner Schöpfungen, seinem Atelier – sei es durch eine Rekonstruktion, sei es durch eine Translozierung in sein Museum in Schloss Moyland, besondere Aufmerksamkeit hätte zukommen lassen. Allerdings ließ die Kontroverse um die Handhabung des sogenannten Beuys-Blocks im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt die Bedeutung des vom Künstler selbst geprägten Ortes bis an die Schmerzgrenze deutlich werden. Unter dem Vorzeichen testamentarisch verbriefter Unveränderbarkeit erhielten Raum, Inhalt und Ausstattung den Charakter denkmalhafter Unverrückbarkeit.
Das Beispiel der Sancta Casa in Loreto Im wörtlichen Sinne Mittelpunkt der etwa zwölftausend Einwohner zählenden Stadt Loreto südlich von Ancona ist die Sancta Casa, eines der bedeutendsten christlichen Heiligtümer und Pilgerzentren in Italien.46 Die Überreste des kleinen Hauses sind heute mit einer zweifachen schützenden Hülle umgeben: einerseits von der Basilika des 15. und 16. Jahrhunderts, die mit den Namen Bramante und Sansovino, Giuliano und Antonio da Sangallo und Giovanni Boccalini verbunden ist, und andererseits in ihrem Innern von einer überaus aufwendigen Marmorverkleidung mit bedeutenden Reliefs und Figuren von Andrea Sansovino, Baccio Bandinelli, Aurelio Lombardo und anderen. Secondo la tradizione handelt es sich bei dem Heiligtum um das Haus, in dem die Jungfrau Maria geboren wurde, wo sie lebte und wo ihr der Engel verkündete, sie werde einen Sohn namens Jesus gebären. Die drei ursprünglichen Wände besitzen keine Fundamente und wurden auf einer alten Straße errichtet. Angeblich sind die Ziegel und der Mörtel der originalen Bausubstanz in Italien Fremdkörper, die allerdings engste Entsprechungen mit der typischen Bauweise alter Architektur in Nazareth aufweisen. Bevor die Kreuzfahrer endgültig aus Palästina vertrieben und Nazareth von den Sarazenen eingenommen wurde, sollen im Jahre 1292 Engel das kleine, 8,50 mal 3,80 mal 4,10 Meter messende Häuschen der Sancta Casa von Palästina durch die Luft zunächst nach Tersatto (beziehungsweise Trsat) in Dalmatien getragen haben. In der Nacht vom 9. auf 68 | Peter Springer
den 10. Dezember 1294 trugen es dann die Engel erneut an einen anderen Ort, dieses Mal über die Adria in einen Wald bei Recanati. Später wechselte es nochmals seinen Platz und zwar „auf den Hügel der zwei Brüder“. Als diese sich aber um die Pilgergaben stritten, wurde die Sancta Casa schließlich am 7. Dezember 1295 mitten auf eine Straße in Loreto an ihren heutigen Ort versetzt.47 Jüngere archäologische und historische Forschungen haben die legendäre Überlieferung von der vierfachen Luftreise der Sancta Casa untersucht und auf ihren faktischen Kern zu reduzieren versucht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Ziegel der Sancta Casa angeblich durch eine adelige Familie namens Angeli (also Engel) beziehungsweise durch zurückkehrende Kreuzfahrer 8 Französisch, 16. Jahrhundert, Die Sancta Casa per Schiff nach Loreto gebracht wurden. von Engeln transloziert, Holzschnitt Die wundersame Translozierung der Sancta Casa ist wiederholt als Gemälde, Graphik (Abb. 8) und Relief dargestellt worden. Die älteste erhaltene Darstellung dieses Motivs ist nach Erwin Panofsky eine etwa 1325 entstandene französische Miniatur von Jean Pucelle.48 Am prominentesten dürften jedoch die Variationen des Themas von Giambattista Tiepolo (1696–1770) sein. Erhalten haben sich zwei Bozzetti zu seinem zwischen 1743 und 1745 gemalten Deckengemälde der Traslatione della S. Casa für die Kirche S. Maria di Nazareth (Gli Scalzi) in Venedig, unmittelbar neben dem Bahnhof am Canale Grande (Abb. 9).49 Eine ebenso betrübliche wie merkwürdige Pointe der Geschichte ist nämlich, dass dieses Fresko am 28. Oktober 1915 ausgerechnet durch eine aus einem österreichischen Flugzeug abgeworfene Brandbombe zerstört wurde – worauf übrigens Karl Kraus in seiner Tragödie Die letzten Tage der Menschheit und in seiner Zeitschrift Die Fackel wiederholt anspielt.50 Die Madonna von Loreto, deren Haus – auf Wolken von Engeln getragen – wiederholt durch die Luft reiste, ist seit 1920 die Schutzheilige der aviatori, also der Flugreisenden, Flieger und Piloten. Ein kleines Museum am Corso Boccalini, der Hauptstraße von Loreto, die auf die Kathedrale zuführt, widmet sich heute den nicht nur kunstgeschichtlich interessanten Zusammenhängen zwischen der Madonna di Loreto, der Sancta Casa und der Luftfahrt (Abb. 10).51 Albert Ottenbacher überschrieb seine Abhandlung über die Zerstörung des TiepoloFreskos deshalb ganz in diesem Sinne mit dem doppeldeutigen Titel Ende einer Luftfahrt. In diesem Zusammenhang bemerkt er zum dargestellten Motiv der Legende: „Die Überführung des Heiligen Hauses, die Himmelfahrt einer Immobilie, schafft vielerlei Ausgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 69
Vorteile: Pilgerfahrten können fortan in Europa abgewickelt werden, Spenden bleiben im Lande. Den Wallfahrern bleibt der gefährliche Weg in das Gelobte Land erspart. Ungläubige können nicht mehr die heilige Stätte bedrohen. Die Erdkunde des Heilsgeschehens wird enger auf den römischen Mittelpunkt bezogen.“52
Die Tradition der Loca sancta Wie andere durch das biblische Geschehen ausgezeichnete und geheiligte Orte, etwa der Geburtsstall in Bethlehem, die Kreuzigungsstätte auf Golgatha, die Grablege Christi und andere, so war auch das Haus Mariens in Nazareth als Ort der Verkündigung schon früh ein Ort besonderer Verehrung und ein Ziel für Pilger. Die große Entfernung von den Zentren der 9 Giambattista Tiepolo, Die Translozierung der Sancta Casa, Bozzetto für die Kirche S. Maria di Nazareth in Venedig, 1743, christlichen Welt, der ungeheuVenedig, Gallerie dell’Accademia re Aufwand und die vielfältigen Gefahren, die mit der Reise zu diesen Pilgerstätten verbunden waren, haben in der Tat schon früh nach Mitteln und Wegen suchen lassen, diese Ziele für möglichst viele Gläubige erreichbarer zu machen. Vor allem Kopien und Translationen boten sich als Auswege an, so dass diese Praxis heute untrennbar mit der Tradition der Loca sancta verbunden ist. Um die relevanten Zusammenhänge zu skizzieren, stütze ich mich vor allem auf die Ausführungen von Bruno Reudenbach zur materiellen Übertragung heiliger Stätten.53 Der materielle Transfer von verehrten Pilgerstätten, sei es in Form von Erdproben, Steinen, Staub, Pflanzen, Holzstücken und dergleichen, war vor allem bedeutsam, wenn es sich um Mitbringsel aus dem Heiligen Land handelte. In diesem Kontext betrachtet ist die Sancta Casa von Loreto ein Sonderfall, geht es doch nicht um die Überführung von Partikeln oder Proben, sondern um die Translozierung eines ganzen Hauses. 70 | Peter Springer
Die andere Form der Übertragung von Orten ist die Kopie heiliger Stätten, die zum Beispiel zu zahlreichen Heiligen Gräbern führte. Es geht also nicht nur um die architektonische Markierung und Besetzung eines geheiligten und durch Bedeutung aufgeladenen Ortes. Die Vorstellung, dass Heils- und Segenskräfte an einen bestimmten Ort gebunden sein können, ist jedenfalls uralt und reicht weit über die Tradition der christlichen Stätten in Palästina und über die Antike hinaus letztlich bis in magische Bereiche zurück.54 Das Phänomen der Loca sancta im Mittelalter ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit der Praxis der materiellen Übertragung heiliger Stätten beziehungsweise des Transfers eines Ortes. Für Verkündigung und Geburt, Tod und Auferstehung Christi besitzt der Zusammenhang von Ort und Erinnerung nachhaltige Bedeutung. In diesem Kontext hat man den Begriff des Mnemotop geprägt.55 „Den Orten eigne eine Kraft der erinnern- 10 Loreto, Museo Storico Aeronautico, 2008 den Vergegenwärtigung, eine vis admonitionis.“56 Diese besondere Wirkkraft resultiert aus der direkten konfrontativen Augenzeugenschaft, aus der Möglichkeit, den Ort und seine Ausstattung unmittelbar sehen und möglichst auch berühren zu können. „Der Wunsch, sich mit eigenen Augen des Ortes zu vergewissern […] war […jedenfalls] gewaltig.“57 Die „Aneignung des Ortes“ blieb jedoch durchaus nicht nur „auf die visuelle Begegnung und den physischen Kontakt beschränkt; es wurde üblich, sich seiner ganz buchstäblich zu bemächtigen und Materie der loca sancta zu entnehmen.“58 Man nennt sie Heiligland-Reliquien; die wirksamsten waren natürlich die Kontaktreliquien und unter diesen wiederum die Heiligkreuz-Partikel. „Im Pilgerbericht der Egeria aus dem 4. Jahrhundert findet sich die bekannte Schilderung, dass beim Küssen des Heiligen Holzes ‚irgendwann einmal jemand zugebissen und einen Splitter vom Kreuz gestohlen haben soll; deshalb wird es nun von den Diakonen […] so bewacht, dass keiner, der herantritt, wagt, so etwas wieder zu tun.’“59 Den Bedarf an Erinnerungsstücken und Mitbringseln vom Besuch der modernen Loca sancta, gewissermaßen den modernen „Segensandenken“ (eulogiai/Eulogien), stillt heutzutage der Museumsshop. Sein Angebot an Derivaten, Devotionalien und Designobjekten aller Geschmacks- und Preisklassen setzt letztlich die alte Tradition fort: Im Grunde sind sie – als mit der virtus des besuchten Museums aufgeladene Souvenirobjekte – entAusgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 71
11 Michael Elmgreen & Ingar Dragset, Prada Marfa, 2005, Valentine, Texas
fernte Nachfahren der Berührungsreliquien.60 In diesem Sinne sind sie nicht nur Reliquien von Künstlern, sondern „Reliquien von Orten“.61 „Ortsreliquien“ aber haben prinzipiell den gleichen Stellenwert wie Körperreliquien.62 Der Wunsch nach materieller Präsenz und die imaginative Fähigkeit, sich einen nie zuvor gesehenen Ort zu vergegenwärtigen, sind auch heute noch starke Wirkkräfte, selbst dort, wo diese Orte nur noch bedingte Ähnlichkeit mit Ateliers haben.
Prada Marfa – ein befremdlicher Ort Zum Schluss möchte ich deshalb kurz ein Kunstwerk vorstellen, das viele der bisher genannten Komponenten mit einschließt, obwohl es kein Atelier ist. Es besitzt aber formale Übereinstimmungen, die es ins Spielerische oder Ironische wendet. Vor allem aber hebt es die Bedeutung des Ortes und seiner Translozierung ins Bewusstsein: Die Installation des skandinavischen Künstlerduos Michael Elmgreen (Jahrgang 1961) & Ingar Dragset (Jahrgang 1969) Prada Marfa oder Desert Prada aus dem Jahr 2005 liegt in der texanischen Chihuahua Wüste am Highway 90, der von Valentine nach Marfa führt (Abb. 11). Sie besteht aus einem kleinen, kastenförmigen Gebäude, das einen Prada-Laden mit einem gläsernen Eingang und zwei beleuchteten Schaufenstern samt entsprechenden Auslagen (Schuhe und Handtaschen) umfasst. In dem menschenleeren Niemandsland seiner Umgebung springt das kleine Gebäude als Fremdkörper jedem Vorbeifahrenden sofort ins Auge. Wirkt es an diesem Ort doch wie „von einem anderen Stern“ oder – wenn man so will – wie von Engeln in dieser unwirtlichen Gegend abgesetzt. „Nutzlos wie Pfennigabsätze in der Wüste, sollte der Laden nie wirklich eröffnet werden. Tatsächlich wurde Prada Marfa kurz nach seiner Einweihung mutwillig zerstört, die Schuhe und Taschen gestohlen. Er72 | Peter Springer
freulicherweise stiftete Frau Prada neue Ware für die Ausstellung.“63 Man hat durchaus zu Recht betont, dass in Prada Marfa gleichsam das Ausstellen ausgestellt werde.64 Die bewusste Dissonanz zwischen Objekt und Kontext als künstlerische Strategie, auf der die Wirkung von Prada Marfa beruht, zitiert letztlich das Vorgehen Marcel Duchamps, der Objekte des Alltags ihres ursprünglichen und eigentlichen Zusammenhangs beraubte, um sie neu zu kontextualisieren. Diese Praxis wurde seitdem auch von zahlreichen anderen Künstlern angewendet – und zwar mit teilweise auffallend ähnlichen Requisiten und Effekten. So erfahren wir beispielsweise über eine Installation von Michael Sailstorfer (Jahrgang 1979): „Mit der Sorgfalt eines Ethnologen löst Sailstorfer Dinge aus ihrer [angestammten] Umgebung und transportiert sie in eine neue. In Bayern rüstete er die alten Wartehäuschen entlang einer Buslinie mit Herd, Tisch, Bett, Stuhl und Toilette aus – sie warteten, geheimnisvoll unberührt, zwei Wochen auf dem Lande. Jetzt stehen die Bretterbuden in der [Frankfurter] Schirn, elefantengrau, sperrig, gefurcht. Überleben können sie nur noch im Museum, als Versatzstücke einer improvisierten Alltagsästhetik, die es auch in der Provinz kaum noch gibt.“65 Die Erwartungshaltung und Ähnlichkeit mit dem Vorbild wird noch dadurch unterstrichen, dass die Rezensentin – geradezu enttäuscht – ausdrücklich betonte: „Es wurde nicht einmal randaliert.“ Schließlich muss nicht betont werden, dass all diese Translozierungs-Strategien – wie schon in Loreto, so auch in Marfa – auch mit ökonomischen Überlegungen verbunden sind: hier in Erwartung von Pilgerströmen, dort in Erwartung von Kunstreisenden und Ausstellungsbesuchern. So kann man Desert Prada auch als eine exemplarische Maßnahme verstehen, Marfa auf der Weltkarte der Kunstorte als must see, als einen Locus sanctus der Post-Moderne zu etablieren.
Anmerkungen 1 Jackson Pollock, hg. von Kirk Varnedoe und Pepe Karmel, Ausst. Kat. The Museum of Modern Art, New York 1998/99; vgl. auch die Sektion zu „Jackson Pollock’s Studio Floor: Uncovering the Secrets“ in: IFAR Journal – International Foundation of Art Research 4, Nr. 4 / 5, Nr. 1, 2001/02 mit den Beiträgen von Helen A. Harrison, „Pollock’s Studio and Evolution“, S. 34–40; Francis V. O’Connor, „The Scholarly Potential of Jackson Pollock’s Studio Floor“, S. 41–43; „Jackson Pollock’s Studio Floor. Audience Questions“, S. 45–47. 2 Kirk Varnedoe, „Comet: Jackson Pollock’s Life and Work“, in: New York 1998/99 (wie Anm. 1), S. 15–85, hier S. 15, Farbtafel S. 14. 3 Varnedoe 1998/99 (wie Anm. 2), S. 16: „[I]n Pollock’s studio […] one simply cannot get the mind to reconcile the meager room with the transporting expansiveness of the paintings that were made there.“ 4 Vgl. Ankie de Jongh-Vermeulen et al., Mondrian Montparnasse. Jubileumbundel, hg. vom Mondriaanhuis Museum voor Constructieve en Concrete Kunst, Amersfoort 2005; vgl. auch Anm. 9. 5 Mondrian hatte in Paris diverse und in New York zwei Ateliers. Wir beschränken uns auf die
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beiden für unser Thema bedeutsamsten, vgl. u. a. James M. Postma, 26, Rue du Départ. Mondrians Studio, 1921–1936, hg. von Cees Boekraad, Berlin 1995; Yve-Alain Bois et al., Piet Mondrian 1872–1944, Bern 1994. Carsten-Peter Warncke, Das Ideal als Kunst. De Stijl 1917–1931, Köln 1990, S. 172. Vgl. Postma/Boekraad 1995 (wie Anm. 5). Vgl. auch Interieur/Exterieur. Wohnen in der Kunst. Vom Interieurbild der Romantik zum Wohndesign der Zukunft, Ausst. Kat. Kunstmuseum Wolfsburg 2009. Manfred Schwarz, „Der lange Weg zur geraden Linie. Das Gemeentemuseum Den Haag gastiert in Köln im Museum Ludwig mit einer großartigen Werkschau des Malers Piet Mondrian“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 291, 18. Dezember 2007, S. 15; vgl. auch den Katalog der dort bespro chenen Ausstellung Mondrian. Vom Abbild zum Bild [dt. Version des Sammlungskataloges der Werke von Piet Mondrian im Gemeentemuseum Den Haag], bearb. von Hans Janssen, Ausst. Kat. Museum Ludwig, Köln 2007, mit zahlreichen Abb.; vgl. auch Nancy J. Troy, The De Stijl Environment, Cambridge, Mass., und London 1983, S. 161–168, bes. S. 164. Herbert Henkels, „Mondrian in his Studio“, in: Mondrian. From figuration to abstraction, Ausst. Kat. The Seibu Museum of Art, Tokio, u. a. japanische Museen; Gemeentemuseum, Den Haag 1987/88, S. 165–191, hier S. 184, 187 sowie bes. Anm. 85, 91 zur Bedeutung von Mondrians diversen Ateliers; vgl. auch Nancy J. Troy, „Piet Mondrian’s Atelier“, in: Art Magazine, Dezember 1978, S. 82–88. Vgl. Henkels 1987/88 (wie Anm. 10), S. 166, 185, 188. Maaike van Domselaer-Middelkoop, „Herinneringen aan Piet Mondriaan“, in: Maatstaf 7, 1959, S. 290, zit. nach Köln 2007 (wie Anm. 9), S. 233. Troy 1983 (wie Anm. 9), S. 164; Henkels 1987/88 (wie Anm. 10), S. 188: „[I]n New York […] vis-à-vis the completed paintings the studio continued to serve as a large testing-ground, a space in which all possibilities are in essence contained. The endproduct, the painting, represents the top of a pyramid of creativity, which always has the studio as its base. – So apart from serving as a visiting-card of the modern painter’s intentions, the studio has a very basic function in the creative process as a whole.“ Nach Günther Metken, „Treibhaus plastischer Ideen. Das Atelier des Bildhauers ist im Pariser Centre Pompidou rekonstruiert“, in: Die Zeit, Nr. 16, 14. April 1978, S. 59. Vgl. Uwe M. Schneede, „Im Atelierkosmos. Constantin Brancusis Plastiken und Fotos“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 43, 20. Februar 1988, o. Pag. (Wochenendbeilage); vgl. auch Friedrich Teja Bach, Constantin Brancusi. Metamorphosen plastischer Form, Köln 1987. Vgl. Schneede 1988 (wie Anm. 15), o. Pag., mit Bezug auf Pontus Hulten: Nathalie Dumitresco und Alexandre Istrati, Constantin Brancusi, Stuttgart 1986. Vgl. u. a. Peter Kropmanns, „Abgeschminkter Putzteufel. Blick hinter die Kulissen: Die Restaurierung des Brancusi-Ateliers in Paris“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 197, 24. August 1996, S. 29; L’atelier Brancusi, bearb. von Marielle Tabart, hg. vom Centre Georges Pompidou, Paris 1997. Gina Thomas, „Das Bildgedächtnis des Francis Bacon. In der Tate Britain zeigt eine Ausstellung, wie tief das Werk die Geschichte auslotet“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 216, 15. September 2008, S. 33; vgl. auch Rachel Tant, „Archive“, in: Bacon, hg. von Matthew Gale und Chris Stephens, Ausst. Kat. Tate Britain, London et al. 2008/09, S. 164–179. John Edwards (Vorwort) und Perry Ogden (Photos), 7 Reece Mews. Francis Bacon’s Studio, London 2001, S. 10; vgl. auch Margarita Cappock, Francis Bacon. Spuren im Atelier des Künstlers, München 2005. Aus dem Klappentext zur Dokumentation von Edwards/Ogden 2001 (wie Anm. 19). Cappock 2005 (wie Anm. 19), S. 15. Ibid., S. 21. Alexander Menden: „Gemartertes Fleisch“, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. September 2008.
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In seinem Atelier im Londoner Stadtteil South Kensington, 7 Reece Mews, lebte und arbeitete Bacon von 1961 bis zu seinem Tode. Der Text folgt Peter Springer, Das verkehrte Bild. Inversion als bildnerische Strategie, Delmenhorst und Berlin 2004, S. 302. Werner Spies, „In der Herzkammer des Surrealismus […]“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 142, 22. Juni 2002, S. 49. Werner Hofmann, „Alles reimt sich. Die neue Gestaltung des Musée d’Art Moderne im Centre Pompidou gibt Paris seine intellektuelle Tradition zurück“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 30. März 2000, S. 53. Kurt Schwitters aus dem englischen Exil, zit. nach Joachim Büchner, Kurt Schwitters. Texte und Anmerkungen zum MERZBAU, Didaktische Information 1.10, Sprengel Museum, Hannover 1984, S. 2; vgl. auch Dietmar Elger, „Der Merzbau“, in: Kurt Schwitters 1887–1948. Ausstellung zum 99. Geburtstag, Ausst. Kat. Sprengel Museum, Hannover 1986, S. 248–254; Harald Szeemann, „Die Geschichte der Rekonstruktion des MERZbaus (1980–1983)“, in: ibid., S. 256–258; Kurt Schwitters. Catalogue raisonné, 3 Bde., bearb. von Karin Orchard und Isabel Schulz, hg. vom Sprengel Museum Hannover, Ostfildern-Ruit 2003, hier Bd. 2: 1923–1936, Kat. Nr. 1199. Uwe M. Schneede, „Im Atelierkosmos. Constantin Brancusis Plastiken und Fotos“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 43, 20. Februar 1988, o. Pag. (Wochenendbeilage). Metken 1978 (wie Anm. 14). Zeitgeist, hg. von Christos M. Joachimides und Norman Rosenthal, Ausst. Kat. Martin-GropiusBau, Berlin 1982/83; vgl. u. a. auch Johannes Stüttgen, „Hirschdenkmäler“, in: id., Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Sieben Vorträge im Todesjahr von Joseph Beuys, Stuttgart 1988, S. 148–186. Petra Kipphoff, „Der Salon an der Mauer“, in: Die Zeit, Nr. 43, 22. Oktober 1982, S. 47. Heinz Ohff, „Der Herren eigener Geist. Die große ‚Zeitgeist’-Ausstellung im Martin-GropiusBau […]“, in: Der Tagesspiegel, Nr. 11 267, 17. Oktober 1982, S. 4. Thomas Wulffen (Text) und Dieter Schwerdtle/Werner Maschmann (Photos), „Documenta 11 – Der Rundgang“, in: Kunstforum international 161, 2002, S. 234–237, hier S. 236. Gustav Klimt: The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky Collections, hg. von Renée Price, Ausst. Kat. Neue Galerie. Museum for German and Austrian Art, New York 2007/08; vgl. darin auch den Beitrag von Ernst Ploil, „The Ateliers of Gustav Klimt. A Synthesis of the Arts“, S. 94–103; das Zitat stammt aus Jörg Häntzschel, „Adele und ihre Schwestern. Sammler-Trophäen: Die Neue Galerie in New York zeigt Gustav Klimt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 243, 22. Oktober 2007, S. 11. Vgl. u. a. [gelesen am 9. Januar 2009]. Till Briegleb, „Lust und Schrecken im Tanzlokal. Das Tinguely-Museum in Basel taucht tief in Max Ernsts Phantasiewelt ein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 2, 3. Januar 2008, S. 11. Guido Magnaguagno, „Max Ernst. Im Garten der Nymphe Ancolie“, in: Artinside. Ausstellungen in der Region Basel, Herbst 2007, S. 7–11, hier S. 8; vgl. u. a. auch [Anonym], „Die Neuentdeckung eines zentralen Werks“, in: Museen Basel Magazin, Nr. 3, Oktober 2007 bis Januar 2008, S. 5, Abb. S. 4; Kunstforum international 188, 2007, S. 9; Kerstin Mürer, „Ein Wandbild mit bemerkenswerter Geschichte. Zur Restaurierung von Pétales et Jardin de la nymphe Ancolie“, in: Max Ernst. Im Garten der Nymphe Ancolie, hg. von Werner Spies und Annja Müller-Alsbach, Ausst. Kat. Museum Tinguely, Basel 2007/08, S. 46–50. Vgl. Hilliard T. Goldfarb, The Isabella Stewart Gardner Museum. A Companion Guide and History, New Haven und London 1995. Willibald Sauerländer, „Mediaevalia americana“, in: Kunstchronik 49/7, 1996, S. 281–289, hier S. 286; vgl. auch Medieval Art in America. Patterns of Collecting 1800–1940, hg. von Elizabeth Brad-
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ford Smith, Ausst. Kat. Palmer Museum of Art, The Pennsylvania State University, University Park, Pennsylvania 1996. S. die alle 2008 erschienenen Ausstellungskataloge Unsterblich! Der Kult des Künstlers, hg. von Jörg Völlnagel und Moritz Wullen, Ausst. Kat. Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin 2008; Das Universum Klee, hg. von Dieter Scholz und Christina Thompson, Ausst. Kat. Neue Nationalgale rie, Staatliche Museen zu Berlin 2008; Beuys. Die Revolution sind wir, hg. von Eugen Blume und Catherine Nichols, Ausst. Kat. Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Staatliche Museen zu Berlin 2008; Giacometti, der Ägypter, bearb. von Christian Klemm und Dietrich Wildung, Ausst. Kat. Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; Celebrities. Andy Warhol und die Stars, bearb. von Anette Hüsch und Joachim Jäger, Ausst. Kat. Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; Im Tempel der Kunst. Die Künstlermythen der Deutschen, hg. von Bernhard Maaz, Ausst. Kat. Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; „Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden“. Dekonstruktionen des Künstlermythos, hg. von Melanie Franke und Gabriele Knapstein, Ausst. Kat. Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; Hans von Marées. Sehnsucht nach Gemeinschaft, hg. von Angelika Wesenberg, Ausst. Kat. Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; Jeff Koons. Celebration, hg. von Anette Hüsch, Ausst. Kat. Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09; Karl Friedrich Schinkel und Clemens Brentano. Wettstreit der Künstlerfreunde, hg. von Birgit Verwiebe, Ausst. Kat. Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin 2008/09. Zum Künstlerhaus vgl. Rainer Kahsnitz, „Museum und Denkmal. Überlegungen zu Gräbern, historischen Freskenzyklen und Ehrenhallen in Museen“, in: Bernward Deneke und Rainer Kahsnitz (Hg.), Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert. Vorträge des Symposions im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts 39), München 1977, S. 152–175; Gerhard Bott, „Museumsbauten als Stifter denkmäler“, in: Justus Müller Hofstede und Werner Spies (Hg.), Festschrift für Eduard Trier zum 60. Geburtstag, Berlin 1981, S. 343–358; Peter Springer, „Künstler als Mäzene. Zwei Beispiele privaten Stiftertums zwischen Vergangenheitspflege und Zukunftssicherung“, in: Ekkehard Mai und Peter Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museum. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1993, S. 295–319 (mit Literatur zum Themenkreis Künstlerhaus und Künstlermuseum). Vgl. Franz Rudolf Zankl, „Das Personalmuseum. Untersuchungen zu einem Museumstypus“, in: Museumskunde 41, 1972 (13. Bd. der 3. Folge, Heft 1/2), S. 1–132. Vgl. z. B. Cappock 2005 (wie Anm. 19), S. 15. Metken 1978 (wie Anm. 14). Vgl. u. a. Das Bild des Künstlers, hg. von Siegmar Holsten, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle 1978, S. 86, Abb. 163. Vgl. u. a. Giuseppe Santarelli, Loreto. Führer durch Kunst und Geschichte, Ancona 1996; id., La Santa Casa di Loreto. Tradizione e ipotesi, Loreto 2006. Eine ähnliche Legende rankt sich um die Errichtung der Kapelle in Walsingham, Großbritannien, die angeblich genau die Sancta Casa von Nazareth kopiert. Vgl. Santarelli 1996 (wie Anm. 46), S. 14, Abb. 8. Bozzetti in Venedig, Gallerie dell’Accademia und in Malibu, The J. Paul Getty Museum, vgl. u. a. Massimo Gemin und Filippo Pedrocco, Giambattista Tiepolo. Leben und Werk, München 1995, S. 242 f., bes. Nr. 346, 346a, 346b; Giambattista Tiepolo, hg. von Keith Christiansen, Ausst. Kat. Museo del Settecento Veneziano, Venedig; The Metropolitan Museum of Art, New York 1996/97, S. 295–301, Nr. 48 a/b; Filippo Pedrocco, Giambattista Tiepolo, Köln 2003, S. 267–269 (Kat. Nr. 186/1). Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, München 21957, II. Akt, 30. Szene, S. 305 (Kraus
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schrieb das Buch zwischen 1915 und 1917); Die Fackel, Nr. 431, August 1916, S. 78, Nr. 437, November 1916, S. 107, Nr. 668, Dezember 1924, S. 32, Nr. 691, Juli 1925, S. 2; vgl. auch Felix Philipp Ingold, Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927, Frankfurt/Main 1980, S. 263 f. Museo Storico Aeronautico di Loreto, Corso Boccalini 36/38; vgl. auch die dort ausgestellte bizarre Loreto-Madonna Alfredo Ambrosis von 1932, eine Leihgabe des Museo Aeronautico Caproni di Taledo. Albert Ottenbacher, Ende einer Luftfahrt, zit. nach [gelesen am 15. September 2008]. Ottenbacher erwähnt nicht das Echo der Bombe im Werk von Karl Kraus. Bruno Reudenbach, „Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten“, in: id. (Hg.), Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt (= Vestigia Bibliae, Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs, Hamburg 28), Bern et al. 2008, S. 9–32; Gia Toussaint, „Jerusalem – Imagination und Transfer eines Ortes“, in: ibid., S. 33–60. Reudenbach 2008 (wie Anm. 53), S. 13. Ibid., S. 14; Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis (Paris 1941), hg. und übers. von Stephan Egger (= édition discours 21), Konstanz 2003. Bruno Reudenbach, „Reliquien von Orten. Ein frühchristliches Reliquiar als Gedächtnisort“, in: Bruno Reudenbach und Gia Toussaint (Hg.), Reliquiare im Mittelalter (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005, S. 21–41, hier S. 27, s. auch S. 35; vgl. auch Reudenbach 2008 (wie Anm. 53), S. 14. Toussaint 2008 (wie Anm. 53), S. 36, vgl. auch S. 37. Reudenbach 2008 (wie Anm. 53), S. 17; vgl. auch Ulrich Bock, „Kontaktreliquien, Wachssakramentalien und Phylakterien“, in: Reliquien. Verehrung und Verklärung, hg. von Anton Legner, Ausst. Kat. Museum Schnütgen, Köln 1989, S. 154–160, hier S. 155. Reudenbach 2005 (wie Anm. 56), S. 29; id. 2008 (wie Anm. 51), S. 17. Bezüglich der 3436 von Andy Warhol gesammelten und 1988 bei Sotheby’s in New York versteigerten Objekte aus seinem Nachlass sprach Rose-Maria Gropp expressis verbis von „Berührungsreliquien“, Rose-Maria Gropp, „Als wär’s ein Stück von Andy“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 298, 20. Dezember 2008, S. Z 3. Vgl. Reudenbach 2005 (wie Anm. 56). Reudenbach 2008 (wie Anm. 53), S. 30. Philip Jodidio, Architecture now!, Bd. 5, Köln et al. 2007, S. 202, Abb. S. 23, 203–205. Vgl. Julie Ault und Martin Beck, „Das Ausstellen ausstellen. Ausstellungen sind Struktur, Display und Inhalt, Netzwerk und Widerspruch“, in: Kunstwerk international 186, Juni/Juli 2007 [Themenheft Das neue Ausstellen], S. 148–159. Julia Voss, „Weiß gestrichen oder schmerzhafte Grenzerfahrung? Nachrichten von zwei Welten: Die Schirn Kunsthalle Frankfurt zeigt Michael Sailstorfer und Terence Koh“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 122, 28. Mai 2008, S. 35.
Nachbemerkung Der vorliegende Essai ist als Skizze und Ausschnitt eigentlich nur ein Ausblick auf eine sehr viel weiter ausgreifende Thematik, die eine eingehendere Untersuchung verdient hätte, als sie hier geleistet werden konnte. Dazu gehört vor allem das so riesige wie fasAusgestellte Ateliers – Loca Sancta der Moderne | 77
zinierende Gebiet der architektonischen Rekonstruktion, das jüngst Winfried Nerdinger mit der Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ umfassend dargelegt hat. Und vergessen wir nicht: Die Geschichte geht weiter. Es handelt sich keinesfalls um ein abgeschlossenes Kapitel weder der Architekturgeschichte und Denkmalpflege noch der Kunst- und Museumsgeschichte. Einige aktuelle Beispiele nur: Emil Schumachers Atelier wurde im neuen Museum in Hagen dauerhaft rekonstruiert. Alberto Giacomettis und – einmal mehr – Piet Mondrians Pariser Atelier wurden 2011 für Ausstellungen in Wolfsburg und Salzburg beziehungsweise im Centre Pompidou in Paris rekonstruiert. Und … und … und.
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Die Künstlerreise nach Italien und die akademische Künstlerausbildungspraxis Viele deutsche künstlermonographische Texte und Ausstellungen, die auf die Künstlerreise nach Italien eingehen, stehen unter dem Eindruck von Johann Friedrich Overbecks Italia und Germania (Abb. 1). Sie reduzieren das Phänomen auf eine deutsche „Sehnsucht nach Italien“ der Romantik. Die immerwährende Überhöhung von Goethes Italienischer Reise im deutschen Bewusstsein hat diese nationale Reduktion noch verstärkt. Die Künstlerreise nach Italien und auch die Grand Tour der Aristokraten, Gelehr- 1 Johann Friedrich Overbeck, Italia und Germania, 1811–21, München, Neue Pinakothek ten und schließlich Bürger kann aber erst in allen Dimensionen erkannt werden, wenn man sie als gesamteuropäisches Phänomen nimmt, das später auch Nordamerika mit einbezogen hat. Besonders wichtig ist für die Frühzeit vor allem die zentrale Rolle, die die inneritalienischen Künstlerbewegungen nach Rom seit frühhumanistischer Zeit gespielt haben. Bevor das frühhumanistische Motiv der Orientierung auf die heidnische Literatur und Kunst der Antike und die später darauf aufbauende Akademisierung der Kunst in den Vordergrund gestellt wird, muss aber erst einmal das voraufgehende christliche Motiv der Pilgerfahrt nach Palästina und später nach Rom in seiner auratisierenden Funktion erkannt werden.1 Die Reisen ins sogenannte „Heilige Land“, die Kreuzfahrten, für die der sogenannte „Plenarablass“ – die Reinigung von allen Sünden – zuerst versprochen wurde, bewegten nicht nur die Pilger und Kreuzfahrer, sondern erstmals auch sie begleitende Kunsthandwerker im hohen Mittelalter. Die frühesten Zeugnisse von Künstlerreisen von Frankreich nach Palästina haben wir von 1020 und 1280.2 Die Künstlerreise nach Italien | 81
Die Päpste verstanden es dann aber, den Plenarablass seit 1300, dem ersten sogenannten „Heiligen Jahr“, auch für die viel einfachere Rompilgerfahrt zu versprechen und schufen damit das Motiv für die Pilgerfahrt nach Rom, die von nun an auch von Kunsthandwerkern und Künstlern bis hin zu den Nazarenern und noch darüber hinaus wahrgenommen wurde. Die Rompilgerfahrt, verbunden mit dem Plenarablass, schwebt als Urmotiv über allen Bewegungen von Kunsthandwerkern und Künstlern nach Italien und verschaffte der späteren Akademisierung der Italienreise eine tief sitzende christliche Wurzel.3 Meister Bertrams Äußerung in seinem Wallfahrtstestament von 1390, „Ik […] hebbe willen to wanderne to Rome to troste miner zele“, nennt das Pilgermotiv ausdrücklich.4 Über Gusmin, den 2 Rogier van der Weyden, Lukas malt die Madonna, um 1450, Boston, Museum of Fine Arts Goldschmied, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus Köln nach Italien gekommen war, erfahren wir von Lorenzo Ghiberti, dass er ins Kloster gegangen sei.5 Aus dem Text der Seligsprechung des Jacopo di Alemannia, eines Glasmalers aus Ulm, in den Acta Sanctorum wissen wir von dessen Pilgerfahrt um 1435 nach Rom und von seinem Gang ins Dominikanerkloster zu Bologna.6 Weniger ausdrücklich, aber dennoch deutlich, sind religiöse Motive bei den vielen Vertretern verschiedener Kunsthandwerke mit Beinamen wie „Tedesco“, „Teutonico“ oder „D’Allemagna“, die im 14. und 15. Jahrhundert auf dem Weg nach Rom Aufträge ausführten und dabei öfter auch in Italien blieben. Über diese Pilger muss auch vermittelt worden sein, dass es Aufträge oder Arbeitsmöglichkeiten entlang des Pilgerwegs nach Rom gab, etwa an der Baustelle des Mailänder Domes oder in den Zentren von Venedig und Padua. Von renommierten Meistern kennen wir deren Rompilgerfahrten im Einzelnen. Jean Fouquet porträtierte – wie Filarete berichtet – bereits 1445 als Fünfundzwanzigjähriger den Papst, der bedeutendste Auftrag für einen Pilgerkünstler, wie ihn später auch Jan van Scorel 1522 oder Diego Velázquez 1650 erhielten.7 Rogier van der Weyden war im Heiligen Jahr 1450 in Rom.8 Selbst wenn sich im Werk Fouquets Renaissance-Einflüsse zeigen oder wenn van der Weyden – wie Bartholomaeus Facius berichtet – Gentile da Fabbriano bewundert haben soll, das Staunen über die Antikenbegegnung ist im Quattrocento bei diesen Pilgerkünstlern noch nicht deutlich (Abb. 2). Dann aber wurde die Pilgerkünstlerfahrt – vor allem bei den Romanisten – durch die Legende von Lukas, der die Madonna malt, überhöht.9 Zuerst erscheint das Thema 82 | Volker Plagemann
unter den Italienreisenden bei van der Weyden, vermutlich für die Malerkapelle in St. Gudula in Brüssel, ohne dass bislang in der Forschung der Zusammenhang mit der Pilgerfahrt bemerkt worden wäre. 1507 setzte Hans Burgkmair die Legende dann aus Anlass seiner Italienreise ein (Abb. 3): Lukas, der auf Burgkmairs Holzschnitt vor der Madonna unter einer Renaissancearchitektur in italienischer Landschaft an der Staffelei sitzt, ist Burgkmair selbst.10 Auch Jan Gossaert porträtierte sich selbst kurz nach seiner Italienreise 1509 in einem Renaissanceraum die Madonna zeichnend (Abb. 4).11 Bei ihm ist der Maler ausdrücklich als „Gossaert“ bezeichnet. Und dann ging es so weiter bei Maarten van Heemskerck 1532 (Abb. 5), Lancelot Blondeel 1545, Frans Floris 1556, Marten 3 Hans Burgkmair, Lukas malt die Madonna, 1507, Holzschnitt de Vos 1602 und Abraham Janssens 1605 (Abb. 6).12 Spätestens van Heemskerck stellte sich selbst dar, wie er einem „antiken“ Lukas über die Schulter blickt, welcher eine „antike“ Madonna malt. Am Ende der Reihe, bei Abraham Janssens, der als letzter Romanist bezeichnet worden ist, lässt sich dieser, in einem RenaissanceRaum mit Palladio-Motiv sitzend, von einem antiken Lukas Belehrungen geben. Doch das religiöse Motiv für die Fahrt nach Rom verschwand nicht – auch wenn die reformierten bentveughels es eine Zeit lang verhöhnt haben. Fahrten in Heiligen Jahren sind über Jahrhunderte besonders häufig geblieben, Velázquez etwa legte seinen zweiten Rombesuch in das Heilige Jahr 1650. Im Mittelpunkt der Italienreisen von Aristokraten, Gelehrten und Künstlern standen in allen folgenden Jahrhunderten die christlichen Ziele und deren Besuch in Rom. Deutlich stellten noch die Nazarener den Lukasbund und ihr Leben im Kloster S. Isidoro in den Vordergrund. Die Konversion beim Rombesuch Die Künstlerreise nach Italien | 83
4 Jan Gossaert, Lukas malt die Madonna, um 1520, Prag, Národní Galerie
wurde für protestantische Künstler bis ins 20. Jahrhundert zu einem Ritual. Die Künstlerpilgerreise nach Rom, die als Reise zum Ort des Malerheiligen Lukas uminterpretiert wurde, gehörte im 14. und 15. Jahrhundert auch in den Zusammenhang der mittelalterlichen Ausbildungspraxis: Auf die lange, drei- bis sechsjährige Lehrzeit in einer Werkstatt folgte zunächst die Wanderschaft innerhalb der Regionen der eigenen Dialekte. Daran schloss sich eine die Sprachgrenzen überschreitende Pilgerreise an, zugleich eine Reise zum Malerheiligen Lukas, die eine letzte Vervollkommnung verhieß. Diese sollte, angesichts der mirabilia in Rom, ursprünglich religiöser Natur sein, wurde aufgrund des wachsenden Bewusstseins von der antiken Vergangenheit Roms dann aber zu einer Vervollkommnung durch einen antiken Malerheiligen, der in die Geheimnisse der Antike einweihte.
Eine neue Bewegung, das Bestreben, die Kunst zur Wissenschaft zu erheben, war anfangs allein Sache der Italiener. In Cennino Cenninis Traktat von 1390 und später auch in Ghibertis Commentarii um 1450 tauchten Geometrie, Perspektive und Proportionen als Ge5 Maarten van Heemskerck, Lukas malt die Madonna, 1532, Haarlem, Frans Hals Museum genstände auf für den Künstler, der nach Wissenschaftlichkeit strebte. Über Filippo Brunelleschi wird von seinem frühen Biographen Antonio Manetti um 1485 berichtet – und später von Vasari wiederholt –, dass er sich schon um 1400 mit Perspektive und Geometrie beschäftigt habe und darin der Lehrer von QuattrocentoKünstlern wie Masaccio geworden sei.13 Von dort drangen diese Inhalte ein in die ersten neueren Kunsttraktate von Piero della Francesca und Luca Pacioli bis hin zu den Materialien, die von Leonardo und seiner Umgebung für dessen projektierte Traktate 84 | Volker Plagemann
festgehalten wurden und leider nur unvollständig überliefert sind. Diese Inhalte, die Perspektive, die Geometrie und die Proportionen, müssen auch die ersten literarischen und gelehrten Zirkel, die sich accademia nannten, beschäftigt haben, vor allem den ersten bekannt gewordenen auf Kunst gerichteten Diskussionszirkel, dem Leonardo in seiner Mailänder Zeit vorgesessen haben soll, die Academia Leonardo Vinci (Abb. 7).14 Hier nun müssen wir eine erste Berührung zwischen der italienischen Rom-Orientierung und den nordeuropäischen Italienbesuchern vermuten. Willibald Pirckheimer, dessen Vater schon in Italien promoviert worden war, studierte nach 6 Abraham Janssens, Lukas malt die Madonna, einer ersten Studienzeit in Padua weiter in Pavia, 1605, Mecheln, St. Rombouts wobei er sich auch in Mailand aufhielt und dort Kontakte hatte. Nach seiner Rückkehr nach Nürnberg gründete er mit seiner Herrentrinkstube einen den italienischen Akademien sehr ähnlichen Zirkel, an dem, neben Dürer, weitere Italien-Gereiste und Studierte teilnahmen, darunter Lorenz Beheim, der während seines zweiundzwanzigjährigen Romaufenthaltes als Geistlicher und als Festungsbaumeister des Papstes auch mit Leonardo während dessen dortiger Festungsbaumeisterzeit zusammengekommen war. Pirckheimer kannte sicher Leonardos Aktivitäten und Bestrebungen in Mailand. Ob Pirckheimer länger mit Dürer in Italien herumreiste, als wir heute für sicher halten, wie schon Hans Rupprich 1930 angenommen hat,15 und ob Dürer von ihm mehr über Leonardos Academia und über deren Diskussionsinhalte erfuhr, bleibt im Ungewissen. Zu- 7 Nach Leonardo da Vinci, Academia Leonardo Vinci, um 1490 mindest kopierte beziehungsweise variierte Dürer Versionen der aus dem Umkreis Leonardos stammenden Academia Leonardo Vinci-Entwürfe.16 Bei seinem zweiten Italienbesuch forschte Dürer nach Wissenden und Wissen in Geometrie, Perspektive und Proportionen, den Inhalten, die Leonardo, sein Kreis und Luca Pacioli als Grundlagen der Kunsttheorie betrachteten und die von dort als solche in die Kunsttraktate Sebastiano Serlios und seiner CinquecenDie Künstlerreise nach Italien | 85
to-Nachfolger gedrungen sind. Mit ihnen hat sich Dürer in seinen eigenen theoretischen Schriften dann an seinem Lebensende noch einmal intensiv beschäftigt. Hier deuten sich erste Berührungen zwischen den gelehrten Interessen der italienischen Künstler und der nordalpinen Italienreisenden an, wenn wir für sie auch auf Vermutungen angewiesen sind. Nikolaus Pevsner hat Wert darauf gelegt, jene Academia Leonardo Vinci, als einen Diskussionszirkel, deutlich von dem zu unterscheiden, was später zur Praxis der Kunstakademien wurde.17 Aber er hat auch darauf hingewiesen, dass in der gleichen Zeit erste Zirkel entstanden, die sich – anders als die hergebrachten Werkstätten mit ihrem Lehrbetrieb – gemeinsam mit Kunst beschäftigten. Dabei ist unbedacht geblieben, dass nun wieder über Brunelleschi von seinem Biographen Manetti, vermutlich auch in einer mündlichen Überlieferung des Quattrocento, später von Vasari verstärkt, berichtet wurde, dass er – allem Anschein nach – als erster nach Rom gezogen sei, um dort Antiken zu studieren, auszugraben, zu untersuchen und zu vermessen.18 Den etwa fünfundzwanzig Jahre alten Architekten habe der etwa fünfzehnjährige Bildhauer Donatello begleitet, beide hätten, bescheiden lebend, über lange Jahre nichts anderes als das Antikenstudium betrieben. Beide Autoren der Künstlervita Brunelleschis geben sich Mühe, ausführlichst zu beschreiben, wie die beiden, der Architekt und der Bildhauer, bei diesen Antikenuntersuchungen vorgingen. In der Vita keines anderen Künstlers wird das so eingehend dargestellt. Offenbar waren sich die Verfasser darüber im Klaren, dass sie eine für Jahrhunderte bedeutsame neue Form der Künstlerausbildung beschrieben, die von nun an für alle Romreisenden Künstler bestimmend werden sollte. Der Beginn künstlerischer Studien vor den Werken der Antike ist um 1400 anzusetzen. Erst nach den Künstlern kamen die Gelehrten und wandten sich über antike Texte, insbesondere Vitruv, hinaus ebenfalls den architektonischen und künstlerischen Relikten Roms zu. Leon Battista Alberti begann nach seinem ersten Rombesuch 1432 mit den Vorarbeiten zu seiner Descriptio urbis Romae und den Kunst- und Architekturtraktaten nach dem Vorbild der Antike.19 Das Studium der Überreste der antiken Kunstwerke in Rom als eine neue Form der künstlerischen Bildung führte von nun an fast alle italienischen Künstler und Architekten im Laufe des Quattrocento und des Cinquecento nach Rom. Dort befanden sich die antiken Ruinen, dort entstanden die Antikensammlungen des Papstes und vieler Kardinäle, dort wurden die geistlichen und weltlichen Herren von Antikenkundigen wie Alberti geführt. Gelehrte, Künstler, Gebildete und zukünftige Auftraggeber von Kunst beschäftigten sich neben den religiösen Verbeugungen an den christlichen Stätten mit den Werken der heidnischen Antike. Es mag sein, dass nun auch pilgernde Kunsthandwerker aufmerkten und ahnten, was da bei den Geistlichen, Gelehrten und Künstlern des Landes Italien im Zentrum der christlichen Religion vor sich ging. Mit Dürer, den niederländischen Romanisten und den Franzosen unter den Vitruv-Forschern, Guillaume Philandrier etwa,20 setzte zu Be86 | Volker Plagemann
8 Agostino Veneziano nach Baccio Bandinelli, Die Academia des Baccio Bandinelli in Rom, 1531, Kupferstich
ginn des 16. Jahrhunderts auch unter Pilgern und reisenden Künstlern von jenseits der Alpen ein neues Bewusstsein von dem ein, was ihre italienischen Kollegen schon seit längerem beschäftigte und zu deren Romreisen veranlasste: antike Schriften, darunter vor allem Vitruv, und die Lehren, die im Hinblick auf Architektur und Kunst daraus zu ziehen waren, wissenschaftliche Grundlagen der Kunst wie Geometrie, Perspektive oder Proportionslehre, antike Architektur, Skulptur und Malerei, antike heidnische Themen als neue Inhalte der Kunst. Das Beispiel Brunelleschis und Donatellos, dem die nach Rom reisenden italienischen Künstler folgten, überlagerte bei den Künstlern von jenseits der Alpen nun das Motiv der Pilgerfahrt und des Besuches bei dem Malerheiligen Lukas. Nicht nur die religiöse Vervollkommnung, sondern auch die Vervollkommnung durch das Studium der Antiken sowie durch das Vorbild der Italiener bestimmte mehr und mehr die Italienreisen. Die Künstlerreise nach Italien | 87
Pevsner hat auf zwei Darstellungen aufmerksam gemacht, die ältere und jüngere Künstler in Innenräumen bei gemeinsamer Beschäftigung mit vorbildhaften Kunstobjekten, bei Diskussion und künstlerischer Übung zeigen. Er ließ diese als Vorstufen kunstakademischer Schulung erscheinen. Der frühere, 1531 datierte Stich von Agostino Veneziano ist sogar mit einer Inschrift eindeutig bezeichnet: „Academia di Bacchio Brandin in Roma in luogo detto Belvedere“ (Abb. 8). Im Zusammenhang mit dem Zentrum der päpstlichen Antikensammlungen, dem Belvedere, gab es also einen von Kerzen erleuchteten Innenraum, in dem sich Künstler mit Statuetten von nackten Männern und Frauen beschäftigten. Über die anfänglich formlose Beschäftigung mit antiken Architekturen und Skulpturen im Freien, die Brunelleschi und Donatello in Rom betrieben, und über die Quattrocento-Praxis in ihrer Nachfolge hinaus hatte der Besuch der größten Antikensammlung und die dortige Beschäftigung mit Vorlagen für die künstlerische Praxis in dafür bestimmten Räumen inzwischen offenbar selbstverständliche und anscheinend fast institutionalisierte Formen angenommen. Sogar der Name Academia wurde dafür verwendet und ein verantwortlicher Künstler, Baccio Bandinelli, genannt. Interessant, aber nicht zu beantworten, ist die Frage, ob die anwesenden Künstler ausschließlich Italiener waren oder ob sich ihnen bereits Italien bereisende Künstler zugesellen konnten. Auf jeden Fall konnten Zugereiste diese Praxis der Italiener beobachten. Ein etwas später, um 1550 entstandener Stich von Enea Vico zeigt einen von Kerzen erleuchteten und von einem Kamin geheizten, also auch abends und im Winter zu nutzenden Raum mit Künstlern bei ähnlichen Beschäftigungen (Abb. 9). Baccio Bandinelli hatte inzwischen – unter dem
9 Enea Vico, Accademia in Florenz, um 1550, Kupferstich
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Druck der Florentiner Kunstpolitik – seine Academia nach Florenz verlegt. Auch hier ist nicht zu beantworten, ob Fremde Zutritt hatten. Wir wissen aber, dass Vasari bereits vor seiner Vitenausgabe von 1550 in Italien umher reisenden Künstlern begegnet war, allen voran seinem Lehrer Guillaume de Marcillat und nach 1532 auch Maarten van Heemskerck. Vasari hat in seinen Schriften seine einfache theoretische Position – die erste niedergelegte Interpretation der Italienreisen fremder Künstler – wiederholt, nach der die Italienreisenden gekommen seien, um die maniera italiana zu erlernen. Ihm wurde dabei durchaus offenbar, dass viele dafür nur für eine bestimmte Zeit nach Ita10 Jan Gossaert, Dornauszieher, 1509, Zeichnung, Leiden, Universität, lien kamen. Prentenkabinet, Sammlung Welcker Aus den Hinterlassenschaften mancher Reisender wissen wir, was sie in Rom gemacht haben. Schon Gossaert hatte 1509 – ähnlich wie Brunelleschi und Donatello hundert Jahre zuvor – antike Bauten wie das Kolosseum und antike Skulpturen wie den Dornauszieher, den er als lebende Figur gab, gezeichnet (Abb. 10).21 Jan van Scorel hatte sich 1523 nach Raffaels Vorbild zum commissario delle antichità des niederländischen Papstes Hadrian VI. mit Sitz im Belvedere einsetzen lassen, wo er den fiamminghi Möglichkeiten des Antikenstudiums einräumen konnte. Am umfangreichsten können wir Maarten van Heemskercks Beschäftigung mit Antiken in Rom nach seinen zahlreichen Zeichnungen in Berlin nachvollziehen (Abb. 11).22 Es wirkt fast, als habe es zu dieser Zeit längst ein Programm dafür gegeben, was zu zeichnen war. Jean Boulogne (Giovanni Bologna, gen. Giambologna) schließlich, der im Heiligen Jahr 1550 in Rom angekommen war, erzählte gern die bei Filippo Baldinucci 1688 erwähnte Künstleranekdote, nach der er als junger Zugereister dem großen Michelangelo eine sorgfältig ausgeführte Wachsstatuette zur Korrektur gezeigt und dieser sie zerknautscht und neu aufgebaut habe; Wahrheit oder nicht, dies zeigt, Die Künstlerreise nach Italien | 89
11 Maarten van Heemskerck, Forum Romanum, 1535, Zeichnung, Berlin, Kupferstichkabinett
dass die Zugereisten eine Korrektur durch italienische Meister anstrebten. Spätestens mit den beiden frühen Italienreisen Dürers 1494 und 1506 sowie denen der Romanisten ab 1509 muss das Antikenstudium als Methode der Vervollkommnung unter der Anleitung von italienischen Meistern für die reisenden Künstler von jenseits der Alpen erstrebenswert geworden sein. Diese Entwicklung fand also bereits vor der frühen, 1531 datierten Darstellung der Bandinelli-Academia im Belvedere statt. Pevsner verwies darauf, dass die offizielle Gründung der Accademia del Disegno 1563 in Florenz, ausdrücklich unter dem Patronat von Cosimo de’ Medici, ebenfalls eine Folge der florentinischen, durch Vasari umgesetzten Kunstpolitik war.23 Zwar erhielt die neue Einrichtung eine Kapelle mit gemeinsamem Begräbnisplatz in SS. Annunziata. Im Vordergrund aber stand die Auflösung der verschiedenen mittelalterlichen Zünfte und Bruderschaften unter dem Patronat des Lukas mit ihren Lehrverhältnissen und die Neubildung einer elitären Vereinigung von 36 nach Rang ausgewählten Künstlern, deren Patrone Cosimo und der in Rom lebende Michelangelo sein sollten. Wir kennen diese Auslese aus der zweiten Ausgabe der Künstlerviten Vasaris von 1568. Hier wird offenbar, dass nun auch offiziell fiamminghi unter den Auserwählten waren. Zugleich teilte Vasari in der zweiten Ausgabe nicht nur mit, dass er den Zugereisten gelegentlich in Italien begegnet sei, sondern widmete ihnen ein eigenes Kapitel, De diversi, in dem die fiamminghi überwiegen, angeregt durch Lodovico Guicciardini, der 1567, ein Jahr vorher, über die 90 | Volker Plagemann
Niederlande und deren Künstler geschrieben hatte. Vasari erwähnte darin, mit geringen Kenntnissen von den älteren niederländischen Künstlern, wer von ihnen nach Italien gereist sei. Er offenbarte dabei zugleich, dass er sein Wissen von Gewährsleuten hatte, die ebenfalls zu den Zugereisten gehörten und meist in Vasaris unmittelbarer Nähe tätig waren. Die Zugereisten wurden inzwischen seit etwa einer Generation in größerer Zahl und genauer wahrgenommen. Sie beteiligten sich an der informellen Ausbildung vor den Antiken und waren in Werkstätten oder bei Aufträgen als Gehilfen der Italiener tätig, vor allem auch Vasaris selbst. Einige Auserwählte unter ihnen rückten bereits in die Elite der Maler und Bildhauer der Accademia del Disegno auf. Von „Federigo di Lamberti d’Amsterdam fiammingo“ wird hervorgehoben, dass er nicht nur der Sohn eines fiammingo sei, sondern der Schwiegersohn eines Paduaner Künstlers namens Cartaro, also durch Verehelichung italianisiert, und dass er Florenz zu seiner Heimat erwählt zu haben scheine. Von „Giovanni della Strada fiammingo“ (Jan van der Straet, auch gen. Johannes Stradanus) wird betont, dass er zehn Jahre unter Vasari bei der Ausstattung mediceischer Palazzi gearbeitet habe und ihm wird ausdrücklich attestiert, er habe „bene appreso la maniera italiana“. Von „Giovan Bologna da Douay, scultore fiammingo“ (Jean Boulogne), wird mitgeteilt, dass er „molto in grazia de’ nostri principi“ sei und Vasari prophezeit ihm bereits, dass er Großes und Bedeutendes im Dienste der Fürsten leisten werde. In einer Situation, in der es den Florentinern kaum gelang, bedeutende Künstler daran zu hindern, nach Rom zu gehen, wurden in die Accademia del Disegno also einerseits große Namen unter den auswärts lebenden Italienern, aber nun auch eingewanderte fiamminghi aufgenommen, sofern sie dem Herzog oder Vasari zu Diensten und im Sinne der maniera italiana tätig waren. Der Name der neuen Accademia verbreitete sich schnell, vor allem 1564 infolge der von ihr durchgeführten Überführung des Leichnams von Michelangelo, dessen großer Begräbnisfeier in der Medici-Kirche S. Lorenzo und Beisetzung in S. Croce, so dass schon 1567 Philipp II. von Spanien die Accademia besichtigte, weil er etwas Ähnliches für den Escorial plante.24 Pevsner hob jedoch hervor, dass die Accademia die angestrebte neue Ausbildung für ihre Mitglieder, unterteilt in capi und giovani, versäumt habe. 1570 fielen zum Beispiel die Sonntagskurse des Pier Antonio Cataldi in Geometrie und Perspektive aus. Federico Zuccari monierte dies in einem nach 1575 in Florenz verfassten Brief, wo er sich anlässlich der Ausmalung der Domkuppel aufhielt. Von Zuccari wissen wir, dass er seine Casa Zuccari in Rom später ultramontanen Künstlern vermachen wollte, deshalb müssen wir unterstellen, dass auch er die Zugereisten in die Ausbildung der Accademia einbezogen haben wollte. In Rom hatte sich im Cinquecento über die Kunsthandwerkerzünfte und Bruderschaften hinaus 1543 die Gesellschaft der Virtuosi del Pantheon gebildet, ähnlich wie die Accademia del Disegno mit einer Kapelle, nun allerdings im Pantheon, in der fortgesetzt werden sollte, Die Künstlerreise nach Italien | 91
was mit dem Begräbnis Raffaels 1520 begonnen worden war. Die führenden in Rom arbeitenden Künstler gehörten dieser Gesellschaft an. Aber im Laufe der Zeit wurden auch Nichtitaliener wie Velázquez, Claude Lorrain, Paul Bril, Pieter van Laer (gen. Bamboccio), van Lint oder Gaspar van Wittel Mitglieder. Aktivitäten einer Akademie betrieben diese Virtuosi nicht, im 17. Jahrhundert initiierten sie aber Ausstellungen im Portikus des Pantheon.25 Die Gründung einer Accademia di San Luca in Rom ist sicherlich von der Florentiner Accademia inspiriert worden. Dahinter steckten offenbar Künstlerinteressen. Offiziell steht am Anfang aber ein Breve Papst Gregors XIII. von 1565, in dem dieser beschloss, „Academiam unam artium praedictarum in ea Urbe erigere“. Daraus wurde eine „con gregazione, sotto l’invocazione di S. Luca“ abgeleitet,26 die in einer Kirche zu gründen sei, mit einer nahen Herberge für fremde Künstler, die noch nicht in einer römischen Werkstatt angestellt waren. Deutlicher geht es nicht: Mit dieser Herberge sollten die nach Rom reisenden Künstler bei der Gründung der Accademia di San Luca offiziell einbezogen werden. Dabei wurde einerseits die Pilgerherberge von der Rompilgerfahrt, andererseits das Patronat des Lukas für die Pilgerfahrt als Modell bei der Gründung der Accademia di San Luca zu Grunde gelegt. Die Motivation war eine gegenreformatorische, die sich sowohl auf Italiener wie auch auf Fremde richtete, welche als pilgernde Künstler aufgefasst wurden und unter die Beaufsichtigung durch den Klerus genommen werden sollten. 1577 wurde die Künstlervereinigung gegründet. Aber auch nach einem zweiten Breve von Sixtus V. 1588, in dem dieser die Kirche S. Martina beim Forum Romanum als Ort vorschlug und diese, nun SS. Luca e Martina, der Accademia schenkte, gab es noch keinen Akademiebetrieb. Erst eine Initiative des Kardinals Federico Borromeo und des Malers Federico Zuccari hatte zur Folge, dass 1593 die Accademia di San Luca bei der Kirche SS. Luca e Martina ihre Arbeit aufnahm, an einem Ort in der Nähe von Kapitol und Forum Romanum, der von jedem italienischen oder fremden Künstler aufgesucht wurde, der nach Rom kam. Nach Italien reisende Künstler konnten seit dem Cinquecento also damit rechnen, neben individuellem Antikenstudium in den Ruinen und Sammlungen Roms auch von italienischen Künstlern als Gehilfen beschäftigt zu werden, in der Florentiner Accademia del Disegno und in der römischen Accademia di San Luca am Ausbildungsbetrieb teilzunehmen, ja sogar unter die virtuosi aufgenommen zu werden. Am 14. November 1593 wurde die Accademia di San Luca mit einem feierlichen Gottesdienst in S. Martina eröffnet. Die Regeln von 1596 versprechen ein breites Programm, doch ist unsicher, was von den Lehrplanungen tatsächlich ausgeführt wurde. Die zwölf überwachenden Professoren hatten zu entscheiden, wer Handzeichnungen, Kartons, Reliefs, Köpfe, Füße oder Hände zu machen, wer während der Woche Antiken oder Fassaden darzustellen, wer Landschaften, Häuser, Tiere zu malen, wer Skizzen aus Ton oder Wachs zu modellieren, wer Architektur und wer Perspektiven zu zeichnen hatte.27 Dass 92 | Volker Plagemann
davon einiges realisiert wurde, deutet ein Verbot von 1596 an, das Studenten ähnliche Arbeit in privaten Gruppen untersagte. Dies lässt aber auch ahnen, dass es nach wie vor solche privaten Zirkel gab, die, wie bei Bandinelli, ähnliche künstlerische Übungen machten. Im frühen 17. Jahrhundert müssen Fremde an dieser Arbeit beteiligt gewesen sein, denn 1621 heißt es in einer päpstlichen Verlautbarung erneut, dass bei der Accademia eine Herberge eingerichtet werde für Mitglieder, die krank werden und für arme fremde Künstler, „pittori e scultori, che vengono in Roma, afinche abbiano sufficiente recapito“.28 Immer wurden also zugewanderte 12 Pietro da Cortona, SS. Luca e Martina, 1634–50, Rom Künstler – ähnlich zugewanderten Pilgern – berücksichtigt. Aus römischer, päpstlicher Sicht unterschied man nicht zwischen norditalienischen Zuwanderern und denen von nördlich der Alpen oder jenseits des Mittelmeeres; ohne Ansehen der Nationen wurden solche reisenden Künstler als Pilger behandelt, die die Kirche des heiligen Lukas aufsuchen wollten. Als Pietro da Cortona 1634 principe der Accademia wurde, erhielt der Kirchenbau eine von ihm entworfene, neue Oberkirche, die sich seit ihrer Vollendung 1650 direkt neben dem Bogen des Septimius Severus auf dem Forum Romanum erhebt (Abb. 12). Das Gebäude der Akademie wurde allerdings in den Jahren 1931 bis 1933 abgerissen. In der Zeit der Vorbereitung der römischen Accademia, von 1573 bis 1577, war Karel van Mander in Rom. Dort hatte er Kontakt zu Bartholomäus Spranger, der als päpstlicher Maler im Belvedere des Vatikans wohnte und arbeitete. Dass beide Zuccari zum Vorbild nahmen, kommt in dessen Biographie bei van Mander zum Ausdruck. Im Van verscheyden Italiaense schilders die in meyne Teydt te Rome waeren überschriebenen Kapitel seines Schilder-Boecks von 1604 nannte van Mander außerdem Girolamo Muziano, an den Papst Gregor XIII. sein Breve zur Gründung der Accademia gerichtet hatte. Die Vorbereitungen Die Künstlerreise nach Italien | 93
der Akademie, die er direkt miterleben konnte, beeindruckten van Mander so, dass er 1583 gemeinsam mit Cornelis Cornelisz und Hendrick Goltzius – letzterer war ebenfalls in Italien gewesen – in Haarlem eine Art private Akademie gründete, in der Aktzeichnen praktiziert wurde. Van Mander war übrigens der erste, der 1604 in seinem dem SchilderBoeck vorangestellten Lehrgedicht Den Grondt der Edel vry Schilder-const den „Anfängern in der Malerei“ eine Romreise empfahl. Die italienischen Nachfolger der Künstlerviten Vasaris führten dessen schlichte Interpretation der Italienreisen – Übernahme der maniera italiana – zunächst nicht weiter aus, aber die Einbeziehung von Zugereisten in die Künstlerauswahl wurde fortgesetzt: Giovanni Baglione nahm 1642 unter anderem Paul Bril, Adam Elsheimer und Rubens sowie unter den Kupferstechern Hendrick Goltzius und Egidius Sadeler auf. Giovanni Battista Passeri nannte 1673 François Duquesnoy, Louis Cousin (gen. Luigi Gentile) und Nicolas Poussin, aber auch Pieter van Laer (gen. Bamboccio). Giovanni Pietro Bellori behandelte Duquesnoy, van Dyck, Poussin und Rubens. Ähnlich wie bei Vasari wurden meist diejenigen Künstler ausgewählt, die sich länger in Rom oder an anderen italienischen Orten aufgehalten hatten. Erst Filippo Baldinucci integrierte am Ende des 17. Jahrhunderts Biographien von Künstlern auch außerhalb Italiens, versuchte den Italozentrismus Vasaris zu überwinden und legte damit eine dauerhafte Grundlage für die Akzeptanz nichtitalienischer Künstler, die Italien nur zeitweilig bereist hatten und hier eine Art Fortsetzung ihrer akademischen Studien in der Heimat suchten, oder – wie etwa Rembrandt – gar nicht in Italien gewesen waren. Pevsner spitzte zu, dass der Hauptgrund für Cosimos und Vasaris Accademia del Disegno die „formation of a representational centre of artists“ gewesen sei und im Laufe des Seicento aufgegeben wurde. Vasaris zweiter Grund und Zuccaris erster, „a reform of art teaching“ sei dann die „essence of art academy“ geworden.29 Er lässt dabei die gegenreformatorische Motivation der Kirche nicht außer Acht. Die anfänglichen durchdachten Ausbildungsprogramme – so betont er – hätten sich allerdings mehr und mehr auf Kurse im Aktzeichnen konzentriert. Neben den offiziellen Akademien wurden private Zirkel zahlreicher, die sich ebenfalls Akademien nannten. Eine der wichtigsten war bekanntermaßen die Accademia degli Incamminati der Carracci in Bologna. Bernini erwähnte außerdem eine Akademie, die sich vor 1606 in Rom im Haus des Paolo Giordano unter Annibale Carracci traf. Im Seicento entwickelten sich solche Zirkel dann offenbar von der gemeinsamen Künstlerbeschäftigung unter Bandinelli immer mehr zu Aktzeichenkursen. Diese fanden in den Palazzi von Gönnern oder in privaten Ateliers unter der Leitung von Künstlern statt. Es ist anzunehmen, dass deren zahlende Teilnehmer aus der Gruppe der nach Italien gereisten europäischen Künstler kamen. Passeri schrieb über Poussins Studien in Rom um 1630, dass er beschäftigt sei „nello studio delle Accademie, che si costumano l’inverno in diverse case“.30 94 | Volker Plagemann
Unter den Zugereisten, die – von den Medici und Vasari gestützt – in Florenz Station gemacht hatten, gelang es Jean Boulogne (Giovanni Bologna, gen. Giambologna), ohne dass Vasari die Verwirklichung seiner prophetischen Äußerungen über ihn noch erlebt hätte, sich zu einem Bildhauer zu entwickeln, der mit seinen Mitarbeitern die europäischen Fürstenhäuser mit Reiterskulpturen belieferte und für die Zeitgenossen die Legende Vasaris von Michelangelo als dem Höhepunkt der Entwicklung in Gefahr brachte. Unter den von Passeri behandelten Zugereisten, die lange Zeit in Rom blieben, erreichte Louis Cousin (Luigi Gentile), der neunundzwanzig Jahre in Rom lebte, im Hinblick auf die akademische Karriere einen noch größeren Erfolg. 1633 kam der in Brüssel Geborene über Paris nach Rom, tauchte 1638 erstmals in den Akten der Accademia auf, hatte seit 1645 Akademieämter inne und wurde als erster Ausländer 1651 bis 1652 principe der Akademie. Er verdankte diese Karriere offenbar auch der Gunst der Päpste und des spanischen Adels, denn von 1546 bis 1552 erhielt er Zahlungen aus der päpstlichen Hauptkasse. Nach Brüssel zurückgekehrt, malte er den spanischen Statthalter der Niederlande. Noch 1667, im Jahr seines Todes, porträtierte er während seines zweiten Besuchs in Rom den neuen Papst Clemens IX.31 Für Passeri und Bellori gehörte auch Poussin zu den Großen unter den in Rom lebenden Zugereisten. Poussin erreichte es, dass 1658 bei ihm angefragt wurde, ob nicht auch er principe der Accademia di San Luca werden wolle. Das Haus des Zuccari, die Bibliotheca Hertziana, und der Palazzo Berninis lagen in der Nähe der Piazza di Spagna. Auch Poussin und nahebei Claude Lorrain bezogen in der späteren Via del Babuino Wohnungen. Velázquez wohnte 1650 in der Villa Medici unweit SS. Trinità dei Monti. Das Viertel um die Piazza di Spagna war offenbar bereits seit längerem – unabhängig von der Lage der Kirche SS. Luca e Martina und der Akademie beim Forum – zum Viertel der einheimischen und zugereisten Künstler geworden. Joachim von Sandrart, der uns eine wohl als beispielhaft gedachte Beschreibung seiner Italienreise von 1628 bis 1635 hinterlassen hat, schildert darin die Kontakte der Künstler verschiedener Nationen untereinander. Er selbst wohnte im Palazzo des Marchese Vincenzo Giustiniani, unweit des Pantheon, von dessen Sammlung er einen Katalog verfasste. Zu seiner „Willkomms-Mahlzeit“ „auf niederländische Manier“ lud er alle „fürnehme Künstlere (deren Anzahl damals auf 40 erstrecket)“, Italiener, Franzosen, Niederländer und Deutsche in ihrer Landessprache schriftlich ein, um „mit allen denen, die in der Mahlerey und Bildhauerey fürtrefflich waren, eine recht vertrauliche Kundschaft zu machen“.32 Dabei gab es ein beziehungsreiches Schauspiel und ein die ganze Nacht dauerndes Festgelage. Von da an konnte er die Bekanntschaft aller Künstler nutzen, berichtete von zwölf Bildern, die Velázquez 1630 bei einer Auswahl von internationalen Künstlern bestellt habe, von Freundschaften und gemeinsamen Studien mit Pieter van Laer und Claude Lorrain und zeichnete das Bild einer zu dieser Zeit übersichtlichen Die Künstlerreise nach Italien | 95
Gemeinschaft unter den vierzig Künstlern. Van Manders Bemerkungen und Sandrarts Schilderung lassen darauf schließen, dass es ähnliche gemeinsame Unternehmungen mit den zugereisten wie mit den italienischen Künstlern seit längerem gegeben haben muss. Auch Sandrart war von der römischen Akademie wie von den privaten italienischen Zirkeln so beeindruckt, dass er – wie van Mander in Haarlem – nach seiner Rückkehr nach Nürnberg dort eine private Akademie eröffnete. Bedeutungsvoller aber ist, dass Sandrart 1675 in Nürnberg sein schriftliches Werk unter dem Titel Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Malerei-Künste: Darin enthalten ein gründlicher Unterricht von dieser dreyer Künste Eigenschaft, Lehr-Sätzen und Geheimnissen herausgab. Es ist der deutsche Beitrag zur überregionalen Geschichte der Akademie und zur Verbreitung des Akademiegedankens in dieser Zeit. Der wichtigste und die weitere Entwicklung bestimmende Beitrag dazu kam allerdings bekanntermaßen aus Frankreich.33 Die Kunstpolitik des französischen Hofes erreichte mit der Gründung einer Kunstakademie als Institution der Künstlerrepräsentation und der Künstlerausbildung mit absolutistischer und merkantilistischer Zielsetzung eine neue Qualität. Sie hatte 1495 mit der Einladung 22 italienischer Künstler nach Frankreich durch Karl VIII. begonnen. Ludwig XII. erklärte 1506 Leonardo zum Hofkünstler, 1515 folgte ihm darin Franz I. Danach gelang Franz I. weder die versuchte Anwerbung Raffaels noch die Michelangelos, aber Rosso Fiorentino, Francesco Primaticcio und Sebastiano Serlio konnten nach Frankreich geholt werden, und auch Benvenuto Cellini kam für eine gewisse Zeit. Der französische Hof setzte seit Ende des 15. Jahrhunderts auf die Anwerbung italienischer Künstler und förderte andererseits die Schulung französischer Künstler in Italien. Hintergrund für diese Kunstpolitik waren Reisen und Studien des französischen Adels in Italien. In Paris begann die Entwicklung hin zu einer Akademiegründung noch unter Jules Mazarin 1648 mit einem Memorandum an den König. Dahinter stand Charles Le Brun, seit 1638 peintre du roi, der 1642 mit Poussin nach Rom gegangen und 1646 zurückgekehrt war. 1656 bezog die neue Institution Räume im Louvre, in denen bisher Hofkünstler gearbeitet hatten. Le Brun, 1660 von Mazarin bei Hofe eingeführt, wurde Kanzler der Akademie. Protektor war anfangs Mazarin, nach dessen Tod 1661 Jean-Baptiste Colbert, auf den die 1664 beschlossene Organisation der Akademie zurückgeht. Colbert war ein erfahrener Italienreisender. Ludwig Schudt schreibt beeindruckt: „Wie vollständig eine der gebildetsten und kultiviertesten Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts im Banne dieser Anschauungen [der Reisetheorien des 17. Jahrhunderts, Anm. d. Verf.] stand, mögen die Anweisungen zeigen die der Finanzminister Ludwigs XIV., Colbert, seinem Sohne, dem Marquis de Seignelay, für dessen Besuch Italiens im Jahre 1671 gab. Sie sind so klar abgefasst und geben, glänzend in der literarischen Formulierung, einen so ausgezeichneten Eindruck in das Denken der Zeit“, dass Schudt sie seitenlang wörtlich 96 | Volker Plagemann
zitiert.34 Colbert kannte in Italien jede Stadt und gab dem Sohn Hinweise, wie lange dieser für deren Besuche jeweils brauche. Er gab ihm darüber hinaus die Ratschläge, Bernini zu besuchen und sich mit dem späteren Akademiedirektor Charles Errard zu beraten. Im Zusammenhang der Italienreisen von Künstlern ist die bereits in Colberts Planungen von 1664 als Abteilung der Pariser Akademie vorgesehene Académie de France in Rom grundlegend, die 1666 eröffnet wurde. Es mag sein, dass ihre Einrichtung auf Hinweise des aus dem päpstlichen Klerus kommenden Italieners Mazarin zurückgeht. Aber der Italienreisende Colbert war selbst ihr entschiedener Befürworter. Frankreich institutionalisierte damit seine seit langem auf Italien orientierte Kunstpolitik und festigte deren Vorbildhaftigkeit für alle anderen Staaten. Schon seit 1664 war Poussin als erster Direktor dieser Académie de France in Rom vorgesehen. Der Brief Colberts an Poussin, der alle Absichten für die neue Institution erläutert, ist erhalten, wurde aber nie abgeschickt, weil Poussin starb, bevor sie realisiert wurde. Wenige junge Künstler sollten demnach frei von finanziellen Sorgen in der Akademie leben, unter der Direktion eines exzellenten Meisters, der ihre Übungen beaufsichtigen sollte, „qui leur donnat le bon gout et la manière des anciens“.35 Gleichzeitig sollten sie aber auch Kopien der wichtigsten Werke in Rom liefern. Charles Errard, Sohn eines Hofarchitekten, der bereits als Einundzwanzigjähriger mit dem Vater in Rom gewesen war und beim zweiten Romaufenthalt im Atelier Poussins arbeitete, hatte 1646, unterstützt von Noël Coypel, unter Mazarin das Palais Royal des jungen Ludwig XIV. ausgemalt und bekam anschließend die Oberaufsicht über alle Dekorationen des Louvre und der Tuilerien übertragen. Auch bei der Gründung der Pariser Akademie war er dabei. Er nun wurde 1666 der erste Direktor der Académie de France in Rom. Darüber hinaus ernannte man ihn 1672 zum principe der Accademia di San Luca, nach Cousin (gen. Gentile) der zweite Ausländer. Noël Coypel, Errards französischer Schüler, wurde in dieser Zeit Interimsdirektor der französischen Akademie. Dann aber kam es 1676 unter Errard zeitweise zu einer Art Verschmelzung der französischen und der römischen Akademie, die im Laufe des 18. Jahrhunderts mehrfach eine Wiederholung fand. Pevsner hat das als Symbol gesehen für „the newly acquired French ascendency over Italy in matters of art“.36 Ich nehme es als Konsequenz der auf Italien ausgerichteten französischen Kunstpolitik. Tatsächlich war es mit der Gründung der Académie de France in Rom so, dass es für die an der Pariser Akademie Ausgebildeten nach dem Studium eine Reihe von Preisen gab, der höchste davon war scheinbar der Grand Prix. Aber über diesem rangierte noch der Prix de Rome. Wer diese allerhöchste Auszeichnung erhielt, hatte das Glück, auf Staatskosten für vier Jahre an der Académie de France in Rom leben zu können. Die Reise nach Rom wurde damit als das erstrebenswerte höchste Ziel der Vervollkommnung eines Die Künstlerreise nach Italien | 97
Künstlers institutionalisiert. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein haben fast alle nach dem französischen Vorbild gegründeten Akademien anderer Staaten, die sich eine eigene Außenstelle in Rom nicht leisten konnten, immerhin solche Stipendien vergeben. Für die Deutschen wurde, wie wir wissen, sogar noch im 20. Jahrhundert eine Art Akademie in Rom, die Villa Massimo, mit solchen Stipendien geschaffen. Interessant ist aber, dass die Studien der nach Italien reisenden Künstler – nach anfänglicher Beteiligung von Ausländern in Italien – nach dem Modell der französischen Akademie immer mehr der Leitung von Ausländern in Italien anvertraut wurden, denjenigen nämlich, die die Adaption italienischer Kunst in ihrer eigenen Entwicklung erlebt und verinnerlicht hatten.
Anmerkungen 1 Paolo Caucci von Saucken, Pilgerziele der Christenheit, Stuttgart 1999; Klaus Herbers et al., Pilgerwege im Mittelalter, Darmstadt 2005; Gioia und Fernando Lanzi, Heilige Orte, Wallfahrten und Pilgerziele von Jerusalem bis Fatima, Petersberg 2005. 2 Adémar de Chabannes (988–1034) bzw. Bilderzyklus zum Credo des Jean de Joinville (um 1280), s. Robert W. Scheller, Exemplum. Model-Book Drawings and the Practice of artistic Transmission in the Middle Ages, Amsterdam 1995, S. 109–117, 195–200. 3 Volker Plagemann, „Tod in Bologna. Hans Cranachs Reise 1537. Zur Frühgeschichte der Künstlerreisen nach Italien“, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 41, 2002, S. 37–155; id., „Von der Pilgerfahrt bis zur ‚Reise ins Licht’. Künstlerreisen nach Italien“, in: Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen, Ausst. Kat. LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster 2008/09, S. 36–44. 4 Volker Plagemann, Versunkene Kunstgeschichte. Die Kirchen und Künstler des Mittelalters in Hamburg, Hamburg 1999, S. 203–212, bes. S. 206. 5 Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart 2002, S. 321 f. 6 J. L. Fischer, Art. „Griesinger, Jakob“, in: Ulrich Thieme und Felix Becker (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 15, Leipzig 1922, S. 23 f. 7 Für Fouquet s. Claude Schaefer, Jean Fouquet, Dresden 1994, S. 21–38. 8 Dirk de Vos, Rogier van der Weyden, München 1999, S. 60 f., 63 f., 200–206. 9 Jochen Sander, „Gott als Künstler, der Künstler als Heiliger Lukas. Künstlerische Selbstreflexion und Künstlerselbstbildnis im Kontext christlicher Ikonographie“, in: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. von Ekkehard Mai und Kurt Wettengl, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München; Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2002, S. 71–82, stellt das Thema „Lukas malt die Madonna“ in einen größeren Zusammenhang: „Gleichgültig, ob mit dem Zeichenstift oder mit dem Pinsel tätig, die Darstellung des die Madonna porträtierenden Schutzpatrons der Maler bot stets Gelegenheit zur Selbstdarstellung des Künstlers und seiner Tätigkeit“ (S. 77) und „Die Darstellung des malenden Lukas stand fortan im Dienste der Emanzipation und Selbstdarstellung der Künstler, was an ihrer teilweisen oder vollständigen Identifikation mit dem malenden Heiligen ablesbar ist“ (S. 76). Dass sie bei Niederländern und Deutschen auch in den Zusammenhang mit der Künstlerpilgerreise nach Rom gestellt wurde, bemerkt er jedoch nicht, jedenfalls äußert er sich nicht zu diesem Thema. 10 Tilman Falk, Hans Burgkmair, München 1968, S. 61–64.
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11 Jan Gossaert genaamd Mabuse, Jean Gossaert dit Mabuse (nl. und franz. Ausgabe), Ausst. Kat. Museum Boijmans Van Beuningen Rotterdam; Musée Communal des Beaux-Arts, Brügge 1965, S. 86–90. 12 Zu Heemskerck s. Rainald Grosshans, Maerten van Heemskerck, Berlin 1980, S. 20–22, 109–116; zu Janssens s. Justus Müller Hofstede, „Abraham Janssens. Zur Problematik des flämischen Caravaggismus“, in: Jahrbuch der Berliner Museen 13, 1971, S. 208–303, bes. S. 235–239; für Abb. der anderen genannten Werke s. Max J. Friedländer, Early Netherlandish Painting, 15 Bde., Leiden 1967–1976, hier Bd. 11: Adriaen Ysenbrant, Taf. 188 (Blondeel); Carl van de Velde, Frans Floris (1519/20–1570). Leven en Werken, 2 Bde., Brüssel 1975, hier Bd. 2, Abb. 140; Armin Zweite, Marten de Vos als Maler. Ein Beitrag zur Geschichte der Antwerpener Malerei in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1980, Abb. 132–134. 13 Antonio di Tuccio Manetti, The Life of Brunelleschi, hg. von Howard Saalman, University Park, Pennsylvania 1970, S. 42–46; Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori. Nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi, 6 Bde., Florenz 1966–1987, hier Bd. 2, S. 142–144. 14 Nikolaus Pevsner, Academies of Art, Past and Present, New York 1973, S. 25–66. 15 Hans Rupprich, Willibald Pirckheimer und die erste Reise Dürers nach Italien, Wien 1930. 16 Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, hg. von Ulrich Großmann, 3 Bde., München 2001–2004, hier Bd. 2: Holzschnitte und Holzschnittfolgen, S. 145–157, 163. 17 Pevsner 1973 (wie Anm. 14), S. 25–37. 18 Manetti 1970 (wie Anm. 13), S. 50–54; Vasari 1966–1987 (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 147–150. 19 Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, München 1986, S. 44–54. 20 Der 1544 veröffentlichte Vitruv-Kommentar von Guillaume Philandrier war das einzige Ergebnis der vitruvianischen Akademie, die sich 1542 in Rom konstituierte, Kruft 1986 (wie Anm. 19), S. 76. 21 Rotterdam/Brügge 1965 (wie Anm. 11), Kat. Nr. 45–48. 22 Christian Hülsen und Hermann Egger (Hg.), Die römischen Skizzen von Marten van Heemskerck, 2 Textbde., 2 Abb.bde., Berlin 1913. 23 Pevsner 1973 (wie Anm. 14), S. 42–55. 24 Ibid., S. 49. 25 Venanzo Crocetti (Hg.), L’Accademia nazionale di San Luca, Rom 1974, S. 8. 26 Beide Zitate nach Pevsner 1973 (wie Anm. 14), S. 57 f. 27 Ibid., S. 61. 28 Zit. nach ibid., S. 64. 29 Ibid., S. 80. 30 Zit. nach ibid., S. 72. 31 B. C. Kreplin, Art. „Gentile, Luigi“, in: Ulrich Thieme und Felix Becker (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 13, Leipzig 1920, S. 407 f. 32 Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste […], Anhang: Lebenslauf und Kunst-Werke des Woledlen und Gestrengen Herrn Joachims von Sandrart […], Nürnberg und Frankfurt 1675, S. 9. 33 Pevsner 1973 (wie Anm. 14), S. 82–139. 34 Ludwig Schudt, Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Wien 1959, S. 141–143. 35 Zit. nach Pevsner 1973 (wie Anm. 14), S. 99. 36 Ibid., S. 102.
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Oskar Bätschmann
Die Eitelkeit des Wettstreits Benedetto Varchis Umfrage (1547) und Publikation (1550) zum Paragone Due Lezzioni Benedetto Varchi, prominentes Mitglied der Accademia fiorentina, veranstaltete zu Beginn des Jahres 1547 die erste Umfrage unter Künstlern, wobei er sich auf wenige Maler und Bildhauer in Florenz beschränkte, die er einlud, die Schwierigkeiten von Skulptur und Malerei gegeneinander abzuwägen und sich zum Problem des Vorrangs der beiden Künste zu äußern.1 Die alte Frage des Paragone und Varchis Ansehen motivierten Giorgio Vasari, Agnolo Bronzino, Jacopo Pontormo, Battista del Tasso, Francesco da Sangallo, Niccolò Tribolo und Benvenuto Cellini, auf das ungewöhnliche Anliegen einzugehen.2 Diese Befragung rief eine gewisse Aufregung in Florenz hervor, und die Antwort des Intarsisten Battista del Tasso lässt vermuten, dass die Teilnahme unter moralischem Druck erfolgte.3 Einige Datierungen zeigen, dass die Antworten der Künstler im Januar und Februar 1547 verfasst wurden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Datierungen nach stile fiorentino erfolgten, mit Ausnahme derjenigen von Giorgio Vasari, der zwar vom Herbst 1546 bis zum Herbst 1547 hauptsächlich in Florenz war, aber als Aretiner offenbar die gewöhnliche Datierung beibehielt. Korrigiert nach stile commune finden sich die folgenden Datierungen in den Antworten: Cellini antwortete am 28. Januar 1547, Vasari am 12. Februar, Tribolo am 15. Februar, del Tasso am 16. Februar und Pontormo am 18. Februar desselben Jahres. Am 6. und 13. März 1547, jeweils ein Sonntag, hielt Varchi zwei öffentliche Vorlesungen – Lezzioni – in S. Maria Novella nach der Vesper. In der ersten Lezzione interpretierte er Michelangelos Sonett Non ha l’ottimo artista alcun concetto (Der beste Künstler kennt keinen Vorsatz), in der zweiten behandelte er in drei Darlegungen (Dispute) die Einordnung der Künste in ein System von Wissenschaften und Künsten, ferner das Problem der maggioranza, des Vorrangs von Skulptur und Malerei, und zuletzt den Vergleich von Poeten und Malern.4 In der ersten Darlegung wird unter Beizug aller einschlägigen Literatur seit der Antike die Seele in einen spekulativen und einen praktischen Geist aufgeteilt und die Hierarchie der Wissenschaften und Künste mit der Zuordnung zu den unterschiedlichen Seelenvermögen begründet. Im zweiten Disput werden die den Künstlern vorgelegten Fragen nach dem Rang und den Schwierigkeiten von Bildhauerei Die Eitelkeit des Wettstreits | 101
und Malerei erörtert.5 In der dritten Darlegung werden Ähnlichkeit und Differenz von Dichtern und Malern diskutiert. Über seine Umfrage schrieb Varchi in der zweiten Disputa: „Weil ich nichts anderes wünsche als die reine Wahrheit zu entdecken, und im Wissen, dass ein jeder an seine Kunst glauben muss, habe ich an fast alle der hervorragendsten Bildhauer und Maler geschrieben, die sich zur Zeit in Florenz befinden, und von ihnen die Meinungen und Beurteilungen erhalten; und wenn die Kürze der Zeit es mir gestattet hätte, hätte ich noch an alle anderen geschrieben, die ich außerhalb kenne.“6 Meist wird angenommen, dass auch Michelangelo in Rom in diese Umfrage einbezogen war, doch ist dies ein seit langem zementierter Irrtum, der durch eine präzisere Lektüre zu korrigieren ist. Vasari schrieb in seiner Antwort an Varchi vom 12. Februar 1547, zwei Höflinge des Kardinals Far1 Benedetto Varchi, Due Lezzioni, Florenz 1549 nese hätten in dieser Frage gewettet und ihn zum [recte 1550], Titelseite, Florenz, Kunsthisto Schiedsrichter aufgerufen, worauf er zu Michelrisches Institut (Max-Planck-Institut) angelo gegangen sei und dieser ihm unter Grinsen Folgendes geantwortet habe: „Die Bildhauerei und die Malerei haben denselben Zweck (fine), der von der einen wie der anderen Seite mit Schwierigkeit (difficilmente) verfolgt wird.“7 Vasaris Besuch bei Michelangelo in Rom muss vor dem Herbst 1546, vor seinem einjährigen Aufenthalt in Florenz, stattgefunden haben. Vasaris Antwort an Varchi ist ein Indiz, dass Michelangelo nicht in die Umfrage einbezogen war. Zudem antwortete Michelangelos Schreiben an Varchi, das nicht datiert ist und im Januar 1550 in den Due Lezzioni abgedruckt wurde, nicht auf die Umfrage, sondern auf das ihm übersandte libretto, was nichts anderes sein kann als das Manuskript der Due Lezzioni.8 Kurz nachdem er seine beiden Vorlesungen im März 1547 gehalten hatte, schickte Varchi eine von Luca Martini verfertigte Abschrift an Michelangelo nach Rom in der Hoffnung auf eine Stellungnahme.9 Im Eingang zur Erörterung über den Vorrang von Skulptur oder Malerei schrieb nämlich Varchi zu seiner Absicherung: „Ich nehme auch nicht an, dass einer mich für so arrogant und anmaßend halten könnte, dass ich es wagen würde, diesen Zweifel zu lösen und diese Streitfrage zu entscheiden, da ich die geringste Kenntnis von der einen und der andern habe; aber ich denke doch, dass mir als Philosophen wie auch als Liebhaber des Wahren gestattet sei, frei das Wenige zu sagen, was ich davon verstehe, mich im gesamten und für alles dem Urteil desjenigen unterwerfend, der 102 | Oskar Bätschmann
vollkommen ist sowohl in der einen wie der andern Kunst, das heißt des Michelangelo.“10 Das Schreiben Michelangelos an Varchi über den Empfang des libretto ist eine Bestätigung, dass er eine Abschrift der Lezzioni erhalten hatte. Zum Problem des Paragone nahm Michelangelo kurz, ironisch und unwirsch Stellung.11 Anscheinend wollte Varchi die beiden Lezzioni nicht ohne eine Äußerung der überragenden Autorität Michelangelo drucken und nahm dafür die Verzögerung der Drucklegung in Kauf. Diese beklagte Lorenzo Torrentino in seiner eigenen Widmung von Varchis Publikation an Bartolomeo Bettini ausdrücklich und begründete sie mit den Mühen, die Texte zu beschaffen.12 Die Due Lezzioni erschienen mit der vom 12. Januar 1549 datierten Widmung von Torrentino in Florenz, auf der Titelseite ist das Jahr MDXLIX nach stile fiorentino vermerkt (Abb. 1), wonach das 2 Tobias Stimmer, Bildnis Cosimo I., in P. Giovio, Elogia Virorum […], Basel 1575, Florenz, Kunsthistorisches Institut (Max-Planck-Institut) neue Jahr am 25. März begann, dem Tag von Mariä Empfängnis. Nach dem stile commune und gemäß heutiger Zählung erschien Varchis Buch Due Lezzioni im Januar 1550. Lorenzo Torrentino (Laurens Leenaertsz van der Beke), Drucker und Verleger flämischer Herkunft, war von Herzog Cosimo I. (Abb. 2) 1547 für fünfhundert Scudi aus Bologna nach Florenz zum impressor ducale berufen worden, um Anton Francesco Doni abzulösen, der innerhalb von kurzer Zeit an der Aufgabe gescheitert war.13 Die Produktion der Offizin Torrentino ist bis zum Tod Lorenzos 1563 außerordentlich umfangreich und besonders um 1550 von großem Interesse. Torrentino publizierte 1550 unter andeDie Eitelkeit des Wettstreits | 103
rem auch Leon Battista Albertis Architettura in der Übersetzung von Cosimo Bartoli mit einer Titelillustration von Giorgio Vasari, im März 1550 erschien die Erstausgabe der Vite von Vasari in zwei Bänden.14 1549 war bei Torrentino der Folio-Band Illustrium virorum vitae von Paolo Giovio erschienen – eines der Modelle von Vasaris Vite. Im gleichen Jahr, 1549, hatte Torrentino die Rhetorik und die Poetik von Aristoteles nach den italienischen Übersetzungen von Bernardo Segni, Mitglied der Accademia fiorentina, gedruckt, und 1550 folgte die Ethik des Aristoteles in italienischer Sprache nach dem gleichen Übersetzer.15 Benedetto Varchi sagte in der Vorlesung Della poesia vom Dezember 1553, er habe vor einigen Jahren die 3 Bildnis Benedetto Varchi, verschollene Photographie nach einer verschollenen Zeichnung Poetik von Aristoteles übersetzt und kommentiert, aber in der Drucklegung ist ihm offenbar der akademische Kollege zuvorgekommen.16 Schon 1548 hatte Francisco Robortello bei Lorenzo Torrentino den Folio-Band der zwei Kommentare zur Poetik von Aristoteles und zur Ars poetica von Horaz herausgegeben.17
Benedetto Varchi (1503–1565), Accademico fiorentino 1543 war der Gelehrte Benedetto Varchi (Abb. 3), angelockt von einem großzügigen Angebot des Herzogs Cosimo I. de’ Medici, in seine Heimatstadt Florenz zurückgekehrt.18 Damit endete eine seit 1537 dauernde Verbannung des Gegners der Medici und zeitweiligen Anhängers ihres entschiedensten Feindes, Piero Strozzi. Der in Pisa ausgebildete Varchi hatte nach dem Tod des Vaters 1524 in Florenz ohne Begeisterung eine juristische und notarielle Tätigkeit aufgenommen, sich aber mehr philologischen 104 | Oskar Bätschmann
und philosophischen Studien zugewandt. Das keineswegs beträchtliche Erbe musste er mit den Geschwistern teilen. Um 1525 wurde Varchi als Päderast fast umgebracht von Alessandro de’ Pazzi. Aus Geldmangel nahm Varchi 1528 eine Beschäftigung bei Monsignore Giovanni Gaddi an, einem Mitglied des päpstlichen Hofes. Er begleitete den Monsignore nach Orvieto, wohin sich Papst Clemens VII. (Giulio de’ Medici) nach dem Sacco di Roma zurückgezogen hatte. Die nächsten Stationen waren Viterbo und Rom. Im Frühjahr 1529 verließ Varchi Rom, trat in Florenz der Miliz bei und begab sich im Januar 1530 mit den Gesandten, die mit Clemens VII. verhandeln sollten, nach Bologna. Anschließend kehrte er zu Giovanni Gaddi zurück, nahm auch Dienst bei einem reichen Prälaten, Jacopo Ponzetta, in Neapel, und wieder bei Giovanni Gaddi. Im August 1530 wurde Florenz durch die verbündeten kaiserlichen und päpstlichen Truppen erobert. Varchi kehrte 1532 nach Florenz zurück, das erneut unter mediceischer Herrschaft (Alessandro de’ Medici) stand, und studierte Philosophie bei Francesco da Vieri und Griechisch bei Pier Vettori. 1535 nahm Varchi die Korrespondenz mit Pietro Bembo auf und begab sich im darauffolgenden Jahr zu ihm nach Padua. Am 6. Januar 1537 wurde Herzog Alessandro de’ Medici von seinem Cousin Lorenzo (Lorenzaccio) ermordet. Der Senat erkannte daraufhin am 9. Januar Cosimo de’ Medici, der von 1519 bis 1574 lebte, Sohn des Giovanni delle Bande Nere, als neues legitimes Oberhaupt (capo) der florentinischen Republik an. Varchi, der Lorenzaccio als Tyrannenmörder und neuen Brutus gepriesen hatte, floh wie andere Medici-Gegner nach Bologna. Dort traf er Piero Strozzi, wurde Erzieher des Sohnes Ruberto, aber bald wegen Gerüchten über Pädophilie entlassen und nach einem Streit um Bezahlung auf Befehl von Strozzi in Padua öffentlich verprügelt.19 1540 trat Varchi in Padua der von Leone Orsini am 6. Juni gegründeten Accademia degli Infiammati bei, zu der unter anderem auch Giovanni Cornaro, Galeazzo Gonzaga, Alessandro Piccolomini und Sperone Speroni gehörten. Varchi hielt Vorlesungen über Grammatik, Philosophie und Literatur. Nach dem Vorbild der Paduaner Accademia degli Infiammati, über die Varchi an Piero Vettori berichtet hatte, wurde am 1. November 1540 in Florenz die Accademia degli Umidi gegründet. 1542 erfolgte die Umbenennung der Accademia degli Umidi in Accademia fiorentina, die damit zu einer von Cosimo I. unterstützten und kontrollierten Institution wurde.20 Im gleichen Jahr sanierte Cosimo I. die Universität von Pisa und bemühte sich mit Hilfe von Luca Martini, die ausgewanderten Florentiner zurückzuholen und Talente wie Giorgio Vasari oder Paolo Giovio anzuziehen. Damit begannen die öffentlichen Vorlesungen der Mitglieder der Accademia fiorentina am Sonntagnachmittag nach der Vesper in einem Saal von S. Maria Novella. Ein Jahr nach der Rückkehr fiel Varchi, der Cosimo I. verlassen und sich in den Dienst von Girolamo Sauli, Erzbischof von Bari, begeben wollte, in Ungnade und wurde zudem im Zusammenhang mit einer Anschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen im Februar 1545 im Bargello eingekerkert. Nach der Freilassung im April Die Eitelkeit des Wettstreits | 105
1545 erfolgte seine Ernennung zum console der Accademia fiorentina durch Cosimo I. Im Jahr 1546 oder zu Beginn des Jahres 1547 erhielt Varchi von Cosimo I. den Auftrag zur Storia fiorentina und eine Gehaltserhöhung.21
Paragone Zu diesem Zeitpunkt griff Varchi, der sich bisher vorwiegend mit philosophischen und literarischen Themen beschäftigt hatte, das Problem des Paragone auf. In ihrem Buch Renaissance Rivals von 2002 hat Rona Goffen die beständige Konkurrenz und ihre Auswirkung unter den Größten der italienischen Renaissance aufgezeigt.22 John Shearman hat darauf aufmerksam gemacht, dass Vasaris Vite von der Vorstellung von Konkurrenz durchdrungen sind und jene mit Verachtung gestraft werden, die sich dem Wettstreit entziehen wollten.23 Der von Ekkehard Mai und Kurt Wettengl zur Ausstellung 2002 in Köln und München herausgegebene Katalog Wettstreit der Künste breitet alle Facetten des Paragone von Malerei und Skulptur vom 15. bis zum 19. Jahrhundert aus.24 Der kompetitive Habitus wird mit vorzüglichen Beiträgen im Band Im Agon der Künste von 2007 dargelegt.25 Für die Wiederaufnahme des Paragone auf der Basis des allgemeinen kompetitiven Verhaltens, das von Cosimo I. kräftig gefördert wurde, kann die Publikation von Leon Battista Albertis De Pictura 1540 in Basel und die italienische Übersetzung von Lodovico Domenichi 1547 in Venedig als Auslöser angenommen werden.26 Albertis Folgerungen aus dem Lob der Malkunst sind provokativ. Auf Vitruv, der alle Künste dem Urteil des Architekten unterstellte, antwortete Alberti, ob nicht die Malerei als Lehrerin aller Künste, „omnium artium magistra“, oder zumindest als ihr herausragender Schmuck, „praecipuum ornamentum“, zu gelten habe: „Ma che piu, non è ella la pittura o maestra di tutte l’arti, o almeno principale ornamento?“27 In De Pictura, 26, behauptet Alberti, der Architekt habe alle schmückenden Gebäudeteile dem Maler abgeschaut und die Malerei könne als Richtmaß für die plastischen und alle würdigen handwerklichen Künste gelten: „Finalmente non si ritroverà quasi nessuna arte anchora che in tutto vilissima, laquale non risguardi à la pittura: di maniera che io ardirei dire, che tutto l’ornamento, che è ne le cose, sia stato tolto da la pittura.“28 Im Architekturtraktat De re aedificatoria, der 1452 in einer ersten Fassung vorlag und 1485 erstmals publiziert wurde, relativierte Alberti diese Beurteilung durch die Bemerkung, alle Künste würden dazu tendieren, die anderen hintanzusetzen.29 In Kapitel 26 von De Pictura wird erneut der höchste Rang für die Malerei beansprucht mit der botanischen Metapher, sie sei die Blüte aller Künste, „fiore d’ogni arte“ – „omnium artium flos pictura“, womit die Brücke zur neuen Erfindung von Narziss als dem inventor picturae, dem Entdecker des Bildes, und somit zur Malkunst geschlagen war.30 106 | Oskar Bätschmann
Es ist anzunehmen, dass einige der ausgreifenden Argumente Leonardo da Vincis – verkürzt und verkleinert – mündlich weitergegeben wurden.31 Reflexe davon fand man im ersten Buch von Baldassare Castigliones Il libro del cortegiano von 1528.32 Der Mailänder Arzt, Mathematiker und Philosoph Hieronymus Cardanus kam in seinem großen und gründlichen Werk De subtilitate, das 1550 erstmals gedruckt wurde, auf den Paragone zu sprechen und setzte wie Leonardo, den er namentlich erwähnte, die Malerei an die oberste Stelle.33 Paola Barocchi schrieb zu ihrer Ausgabe der Vorlesung Varchis von 1998, Varchis Text sei vielleicht angeregt von den vorangehenden Argumenten von Alberti, Castiglione und Leonardo, die alle der Malerei den Vorzug gaben: „suggerito probabilmente dalle precendenti riflessioni di Alberti, Castiglione, Leonardo, tutti favorevoli alla pittura.“34 In der zweiten Disputa referierte Varchi die Argumente aus dem Cortegiano von Baldassare Castiglione und dem Malereitraktat von Alberti, hingegen hatte er offenbar keine Kenntnis von den eingehenden Erörterungen Leonardos, dessen Name in der Lezzione nicht fällt.35 Leatrice Mendelsohn sah eine andere Motivation für die Wiederaufnahme des Paragone der Künste.36 Sie machte darauf aufmerksam, dass die bei Leonardo und Castiglione wichtige Frage des sozialen Aufstiegs für diejenigen Künstler, die auf Varchis Umfrage von 1547 antworteten, keine Rolle mehr spielte. Die vorgebrachten Argumente seien überwiegend „gegen den platonischen Vorwurf der lügnerischen Darstellung“ und damit indirekt gegen den Vorwurf der Idolatrie, der von der ikonoklastischen Kritik aus dem Norden erhoben wurde, gerichtet. Die Strategie der Debatte, die Varchi bezüglich des Rangstreits zwischen Skulptur und Malerei auf ein Unentschieden führe, sei darauf ausgerichtet, beide Künste in einem gegenüber der Wirklichkeit höheren Bereich anzusiedeln. Diese kunstpolitische Strategie hätte zu einer Position geführt, die sowohl für das Sakrale wie für das Profane haltbar gewesen sei. Daher sei die Konsequenz: „Versteht man die CinquecentoDebatten als Reaktion auf den Ikonoklasmus, müssen sie als theologisch-politische Auseinandersetzungen und nicht nur als ästhetische Fingerübung verstanden werden.“37 Es ist nicht einfach, dieser Interpretation zu folgen. In der außerordentlich langen Disputa prima ordnet Varchi mit aristotelischen und platonischen Argumenten alle Künste dem praktischen Intellekt zu und bezeichnet Skulptur und Malerei als „arti fattive“, die körperlichen Einsatz verlangen. Mit der Bewertung der Funktion werden sie weit unter Medizin und Architektur positioniert und fast ununterscheidbar von den handwerklichen Künsten. Im zweiten Disput scheint Varchi der Malerei eine von den Malern behauptete außerordentliche Schwierigkeit zuzugestehen: „et in somma dicono che fanno parere quello che non è“ – „kurz, sie sagen, dass sie erscheinen machen was nicht ist“ – was eine mit Mühe und Kunstfertigkeit verbundene täuschende Herstellung von Präsenz meint.38 Zum Schluss dieses zweiten Disputs scheint Varchi der Skulptur den Vorrang über die Malerei einzuräumen, da dieser die Akzidentien (und die Täuschung) zuzuordnen sind, jene aber die Substanz für sich in Anspruch nehmen kann.39 Selbst wenn man für 1547 und Die Eitelkeit des Wettstreits | 107
1550 eine Argumentation gegen den Ikonoklasmus des Nordens annehmen wollte, müsste man sehen, dass diese Intention bei der erneuten Wiederbelebung des Vorrangstreits anlässlich der Trauerfeier für Michelangelo in Florenz 1564 völlig durch den örtlichen Streit zunichte gemacht worden wäre.40 Bei der Suche nach der Motivation Varchis, den Paragone aufzugreifen, ist nicht zu übersehen, dass der Disput über den Rang der Künste in der zweiten Hälfte der 1540er Jahre selbst zum Anlass einer ernsthaften Konkurrenz unter verschiedenen Autoren wie Giorgio Vasari, Cosimo Bartoli, Anton Francesco Doni, Paolo Pino, Francesco d’Olanda, Hieronymus Cardanus und Michel Angelo Biondo sowie den Publikationsorten Florenz, Venedig, Nürnberg und Basel wurde.41 Ein Beispiel für einen Paragone zwischen Kunstliteratur und Skulptur liefert Anton Francesco Doni. Er publizierte 1547 einen Brief an den befreundeten Bildhauer Gio vannAgnolo Montorsoli, den er mit einer scherzhaften Konkurrenz eröffnet, die er dem Freund machen möchte („farvi concorrenza“), und dann Bezug nimmt auf Montorsolis Pietà und schreibt: „Wisset Ihr, worin ich mich zwingen möchte, Euch zum Vergleich herauszufordern? In jener Gottesmutter, die den toten Christus in Armen hält, und wo Ihr, wie mir scheint, Euch an Eurer Geschicklichkeit, Zeichnung und Fleiß erfreut habt. Also habe ich einen derartigen Neid, dass ich berste, weil ich nicht mit Euch wetteifern kann.“42 In der kurzen Eingangspassage von Donis Brief ist das ganze Spektrum versammelt: der Wille zum Wettbewerb, die Anstrengung zum „paragonare“, der Neid, der einen platzen lässt, weil man den Paragone nicht aufnehmen, das heißt die Gleichheit nicht herstellen kann. Dann glaubt er, etwas gefunden zu haben, mit dem er den Freund besiegen („vincere“) kann, nämlich mit dem Disegno. Doni meint seine kunsttheoretische Schrift diesen Titels, die zwei Jahre später, 1549, erscheinen wird, spielt zugleich aber auch auf die Zeichnung an, ohne die kein Künstler auskommen kann. Sie erhält das Primat, das er wiederum auf sein Buch lenkt, weshalb er den Brief beschließt mit dem Ausruf: „E viva il mio disegno.“ In dieser Schrift verwendete Doni wiederholt den Begriff „paragone“.43 Er erwähnt einen Paragone von Malerei und Skulptur, mit dem der Grad an Exzellenz bestimmt werden soll (fol. 13v), oder den Vergleich von Stuck und Fresko (fol. 21v). Den Wettstreit unter Künstlern, von Plinius als „certamen“ bezeichnet, übersetzte Doni mit „gara“, wie im Fall des Apelles, der mit anderen Künstlern ein Pferd um die Wette malt und die Entscheidung durch einen Vergleich mit der Natur – „un naturalissimo paragone“ – holt, indem er die Pferde selbst das Urteil fällen lässt.44 Schließlich sagt einer der Gesprächspartner zum anderen: „Und deshalb ist es Eure Absicht gewesen, gemäß dem, was ich durch die Lektüre Eurer Erörterungen habe verstehen können, mehr über den Vergleich und die Natur von Skulptur und Malerei zu sprechen als von den Namen und den Späßen der Meister […].“45 Paolo Pino berichtete 1548 vom legendären Sieg Giorgione di Castelfrancos über venezianische Bildhauer, die den höheren Rang beansprucht hatten, weil ihre Kunst viele 108 | Oskar Bätschmann
4 Giovanni Girolamo Savoldo, Selbstbildnis (früher Bildnis des Gaston de Foix), um 1527/30, Paris, Louvre
verschiedene Ansichten einer Figur zeigen könne, während die Malerei auf eine einzige beschränkt sei. Daraufhin malte der erzürnte Giorgione einen Heiligen Georg in Rüstung, dazu in einem Spiegel die Rückenansicht, in einer Quelle die Vorderansicht und mittels Spiegeln die Seiten.46 Mit diesem Gemälde, das simultan fünf Ansichten zeigte, besiegte er die Bildhauer. Giorgiones Gemälde ist verloren, erhalten blieb die Nachahmung seiner Erfindung durch Giovanni Girolamo Savoldo um 1530 (Abb. 4).47 Im Fall von Savoldo handelt es sich um ein Selbstbildnis des gerüsteten und mit einem Schwert ausgestatteten Malers. Alessandro Nova und Stefan Morét haben gezeigt, dass um und nach 1550 Künstler mit einer ganzen Reihe von Plastiken und Gemälden auf den Rangstreit reagierten.48 Daniele da Volterra fertigte für Monsignore Giovanni della Casa aus Florenz zwei Beiträge zum Paragone nach Michelangelo – einen plastischen in gebranntem Ton, der verloren ist, und einen gemalten, den Kampf zwischen David und Goliath in zwei unterschiedlichen Ansichten und mehrfachem Bezug auf den Paragone: ikonographisch, denn ein solcher Kampf ist nach Ariosto ein „Paragon de l’arme“, materiell, denn der Bildträger Schiefer könnte fast für eine Pietra da Paragone durchgehen, und künstlerisch als Konkurrenz von Skulptur und Malerei (Abb. 5).49 In Daniele da Volterras Beitrag zum Paragone geht es um die Anzahl von Ansichten, die Malerei und Skulptur bieten können, also um eines der Argumente in der Rangdiskussion. Der große Sockel, auf dem die Schiefertafel drehbar montiert ist, entstand im 18. Jahrhundert, als Nicolò del Giudice die Tafel Die Eitelkeit des Wettstreits | 109
1715 Louis XIV. zum Geschenk machte. Vermutlich bestand schon zuvor eine Vorrichtung zum Drehen der Tafel, damit die beiden gemalten Ansichten des Kampfes nacheinander gezeigt werden konnten. Das Paragone-Thema blieb für die Künstler und die Kunsttheorie bis ins 19. Jahrhundert von einer gewissen Attraktion, wie die verschiedenen Beiträge im Katalog Wettstreit der Künste zeigen. Der kompetitive Vergleich von Malerei und Skulptur untereinander und mit Dichtung und Musik wird erst „Paragone“ genannt, seitdem Guglielmo Manzi den Begriff 1817 für Leonardos Libro Primo des Codex 1270 verwendet und Irma Richter 1949 den Titel für ihre Ausgabe von Leonardos Prima Parte übernommen hat.50 Es handelt sich um einen Ana5 Daniele da Volterra, Der Kampf von David gegen Goliath, chronismus, wenn auch einen um 1553/54, Paris, Louvre lässlichen, denn „Paragone“ als Buchtitel ist nicht vor 1554 festzustellen: In diesem Jahr erschien bei Lorenzo Torrentino der Traktat von Erasmus von Rotterdam Paragone della Vergine et del Martire, übersetzt aus dem Lateinischen von Torrentinos Korrektor, Lodovico Domenichi. Dieser übertrug den Titel des Traktats von Erasmus Virginis et martyris comparatio korrekt mit dem italienischen Äquivalent „paragone“ für „comparatio“.51
Michelangelo und Vasari Auf Varchis Sendung mit den Abschriften der zwei Vorlesungen und den Antworten der Künstler auf die Umfrage schrieb Michelangelo vermutlich erst nach über zwei Jahren eine Entgegnung. Skulptur und Malerei kämen von der gleichen (künstlerischen) Intelli110 | Oskar Bätschmann
genz her, könnten untereinander einen guten Frieden halten, und im Übrigen solle man solche Dispute, die von der produktiven Arbeit abhalten, besser unterlassen.52 Auf diesen Vorschlag zum Frieden folgte sofort eine Beleidigung: „Wenn derjenige, der schrieb, die Malerei sei edler als die Bildhauerei, die anderen Dinge, die er geschrieben hat, ebenso gut verstanden hätte, dann hätte sie besser meine Magd verfasst.“53 Diese ironische Geringschätzung könnte sich nach geläufiger Meinung, die von Vincenzio Borghini erstmals vorgebracht wurde, auf Baldassare Castiglione beziehen, der im Cortegiano von 1528 seinen Freund Raffael über alles gepriesen hatte, allerdings ohne die „eccellenzia“ Michelangelos zu missachten. Dann wäre der unmittelbare Anlass dadurch gegeben, dass Varchi im zweiten Disput den „dottissimo e giudiziosissimo“ Baldassare Castiglione als erste Autorität zitiert hat.54 Doch warum sollte Michelangelo um 1549 den schon 1529 verstorbenen Freund des längst verstorbenen Konkurrenten Raffael beleidigen wollen? Gegenüber Varchi war Michelangelo überaus höflich und gab vor, durch ihn zu einer anderen Auffassung bekehrt worden zu sein. Ein Ärger über den großen Konkurrenten Leonardo, der mehr als dreißig Jahre über dessen Tod hinaus bestanden hätte, ist nicht anzunehmen, zumal die Kenntnis seiner Schriften über den Mailänder Umkreis hinaus eine große Unbekannte darstellt. Näher liegt, einen Hieb auf Vasari anzunehmen, dessen Stellungnahme für den Vorrang der Malerei Michelangelo in Varchis Libretto ersehen konnte. Vasari gebrauchte zwar nicht die Worte, die Michelangelo verwendete, hatte aber doch deutlich die Überlegenheit seiner eigenen Kunst in Bezug auf die unbeschränkte Nachahmung, die Vielfalt der Techniken und die Herstellung von täuschender Lebendigkeit herausgestellt.55 In der Antwort an Benedetto Varchi brachte Michelangelo als erstes seine ursprüngliche Auffassung vor, dass nämlich die Malerei für umso besser gehalten werde, je mehr sie sich dem Relief annähere, dieses aber für umso schlechter, je näher es der Malerei komme. Michelangelo sah zwischen Skulptur und Malerei einen Unterschied wie zwischen Sonne und Mond: „Und deswegen schien mir bisher, dass die Bildhauerei die Leuchte der Malerei und zwischen der einen und der anderen ein Unterschied sei wie zwischen Sonne und Mond.“56 Dann scheint Michelangelo das aristotelische Argument von Varchi aufzugreifen, dass beide Künste nur eine einzige Kunst seien, da sie die gleiche Zielsetzung hätten, was Paola Barocchi als „Kulminationspunkt der Abhandlung Varchis“ – „punto culminante della dissertazione varchiana“ – bezeichnete.57 Also schrieb Michelangelo, dieses Argument Varchis habe ihn zu der Meinung bekehrt, dass Skulptur und Malerei ein- und dieselbe Sache wären, wenn nicht das dafür notwendige bessere Urteilsvermögen, die höhere Schwierigkeit, die größeren Hindernisse und die stärkere Anstrengung eine höhere Stellung der Skulptur begründen würden.58 Wären die beiden Künste ein- und dieselbe, müssten Maler und Bildhauer in beiden Künsten gleichermaßen fähig sein, was offensichtlich nur für wenige – wie etwa Michelangelo selbst – zutreffen könne. Dann bringt Michelangelo eine Unterscheidung vor, die auch Alberti in De Statua Die Eitelkeit des Wettstreits | 111
6 Bildnis Giorgio Vasari, verschollene Zeichnung
7 Giorgio Vasari, Le Vite, Florenz 1550, Titel seite, Sion, Mediathek
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benutzt hatte: Unter Skulptur ist die plastische Arbeit zu verstehen, durch die Material weggenommen wird, nicht aber die Modellierung, bei der Material hinzugefügt wird. Wegen des Hinzufügens von Material ist die Modellierung der Malerei ähnlich. Nach Rudolf Preimesberger stellte Michelangelo damit im Gegensatz zu Varchi „die medialen Grundbedingungen von Skulptur und Malerei einander antithetisch gegenüber.“59 In der Antwort auf Varchis Umfrage von 1547 schmeichelte Vasari (Abb. 6) mit einer gewundenen captatio benevolentiae dem gelehrten Mitglied der Accademia fiorentina, indem er dessen Urteil über das der Künstler hinaushob, aber gleich darauf der von Varchi nicht beachteten Architektur den obersten Rang zuerkannte, ohne näher auf Skulptur und Malerei einzugehen. Darauf folgt ein als Scherz angekündigter Paragone-Test: „Nehmt eine Kugel Tonerde und formt eigenhändig daraus ein Gesicht, ein Tier oder irgendetwas anderes. Darin werdet Ihr weder Farbe noch Licht und Schatten zu suchen haben. Dies vollendet, nehmt ein Blatt Papier und zeichnet darauf das Gleiche. Wenn Ihr mit dem Griffel, der Feder, dem Stift oder dem Pinsel die ersten Linien umrissen habt, beginnt Ihr mit der Schattierung. Dies wird sich in Eurem Werk so darstellen, dass Ihr die Leichtigkeit (facilità) und den Wert (bontà) sowohl der einen wie der anderen werdet beurteilen können. Diejenige, die Euch leichter auszuüben fallen wird, werdet Ihr weniger vollkommen finden.“60 Dann zählt Vasari die Schwierigkeiten der Malerei auf und ihre Fähigkeit, alles was die Natur macht, lebendig mit Farben zu imitieren, weiter die Techniken, das Porträt, um schließlich eine ungewöhnliche Formulierung für ein altes Argument einzubringen: „il disegno è madre [sic] di ognuno di queste arti“ – „die Zeichnung ist die Mutter einer jeder dieser Künste“.
Im Proemio di tutta l’opera in der Erstausgabe der Vite von Giorgio Vasari von 1550 (Abb. 7) wird versucht, der disputa um Rang und Adel von Malerei oder Skulptur, die angeblich „ohne Anlass“ entfacht und von vielen ausgetragen worden sei, ein Ende zu setzen, indem die Argumente wie bei Varchi einander gegenüber gestellt werden und der Disegno als Vater aller drei Künste, Architektur, Malerei und Skulptur, proklamiert wird.61 Im Proemio streift der Disegno die Mutterrolle ab und wird zum gebärenden Vater zweier Künste: „Dico adunque che la scultura e la pittura per il vero sono sorelle, nate di un padre, che è il disegno, in un sol parto et ad un tempo […].“ – „Und so sage ich, dass Skulptur und Malerei in Wahrheit Schwestern sind, die von einem Vater – dem disegno – abstammen und aus einer Geburt zugleich hervorgegangen sind.“62 Hier überblendet eine Vorstellung ähnlich der mythologischen von Zeus als zweifach gebärendem Vater die anthropologische Wahrscheinlichkeit. Der Zweck dieser Behauptung liegt darin, Malerei und Skulptur als gleichwertige und voneinander unabhängige Schwesternkünste von gleichzeitigem Ursprung und gleichem Rang darzustellen. Der Unterschied zwischen dem Brief Vasaris an Varchi und dem Proemio di tutta l’opera könnte die These stützen, dass Vasari nicht der Autor der Paragone-Diskussion in seinen Vite war. Thomas Frangenberg hat vor kurzem auf die mangelnde Kohärenz in Vasaris Brief und die sorgfältige Argumentation im Proemio di tutta l’opera der Vite aufmerksam gemacht. Als Autor der Paragone-Debatte in den Vite, wie auch als Co-Autor mit Pier Francesco Giambullari für den Proemio delle vite, wurde von ihm vor allem Cosimo Bartoli vorgeschlagen (Abb. 8), eben der Übersetzer von Albertis De re aedificatoria.63 In der Schlussvignette der Vite von 1550 sitzen die drei Künste des Disegno einträchtig neben-
8 Bildnis Cosimo Bartoli, Holzschnitt in C. Bartoli, Discorsi Historici, Venedig 1569, Zürich, Zentralbibliothek
9 Giorgio Vasari, Die drei Künste des Disegno und die Fama, Holzschnitt in G. Vasari, Le Vite, Florenz 1550
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einander – Skulptur und Malerei je zu Seiten der Architektur – auf einer Wolkenbank über den Menschen, bestrahlt von einem himmlischen Licht unter der Fackel und dem Schall der Fama, des Ruhmes (Abb. 9). Sie halten einen guten Frieden, wie es Michelangelo wünschte. Nach seinem Tod, bei der Vorbereitung der Trauerfeier in Florenz, brach ein handfester Streit um Positionen aus, nicht nur ein Wettstreit unter Malern und Bildhauern.64
Anmerkungen 1 B enedetto Varchi, Due lezzioni, Florenz 1549 [recte 1550]; id., Lezzioni, lette da lui publicamente nell’ Accademia Fiorentina, sopra diverse materie, poetiche e filosofiche, raccolte nuovamente, e la maggior parte non più date in luce, Florenz 1590; id. und Vincenzio Borghini, Pittura e scultura nel Cinquecento, hg. von Paola Barocchi, Livorno 1998 [im Folgenden zitiert als Varchi/Borghini 1998]. Tristan Weddigen und der Verf. bereiten eine kommentierte Ausgabe der Paragone-Vorlesung Varchis mit der ersten deutschen Übersetzung vor, die in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erscheinen wird. Die hier wiedergegebenen Übersetzungen stammen aus diesem work in progress. Die Publikationen zur Frage des kompetitiven Vergleichs der Künste im 16. Jahrhundert in Italien sind überaus zahlreich und teilweise redundant, sodass für die vorliegende Arbeit eine Selektion nicht zu umgehen war. Über die in den Anmerkungen angegebene Literatur hinaus ist weitere neuere Literatur zum Paragone im 16. Jahrhundert und zu Varchi in der Auswahlbibliographie aufgeführt. 2 Zu der ersten Umfrage unter Künstlern vgl. Julius Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 200–204; Erwin Panofsky, Galileo Galilei as a Critic of the Arts, Den Haag 1954, S. 3. 3 Varchi/Borghini 1998, S. 72 f. Agnolo Bronzinos Brief wurde nie fertiggestellt, vgl. ibid., S. 66–69. 4 Varchi 1550 (wie Anm. 1), S. 56–155; Varchi/Borghini 1998, S. 7–84; David Summers, Michelangelo and the Language of Art, Princeton, 1981, S. 203–233; Leatrice Mendelsohn, Paragoni. Benedetto Varchi’s „Due Lezzioni“ and Cinquecento Art Theory, Ann Arbor 1982; François Quiviger, „Benedetto Varchi and the Visual Arts“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50, 1987, S. 219–224; Barocchi in Varchi/Borghini 1998, S. vii–xvi; Paola Barocchi, „Der Wettstreit zwischen Malerei und Skulptur. Benedetto Varchi und Vincenzio Borghini“, in: Ars et scriptura. Festschrift für Rudolf Preimesberger zum 65. Geburtstag (= Berliner Schriften zur Kunst 15), Berlin 2001, S. 93–106; vgl. auch Christiane J. Hessler, „Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts“, in: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. von Ekkehard Mai und Kurt Wettengl, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München; Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2002, S. 83–97; Ulrich Pfisterer, Art. „Paragone“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Darmstadt 2006, Sp. 528–546; Hannah Baader, Art. „Paragone“, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart und Weimar 2003, S. 261–265; Hannah Baader et al. (Hg.), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München 2007. 5 Varchi 1550 (wie Anm. 1), S. 89–111; Varchi/Borghini 1998, S. 33–51. 6 Varchi/Borghini 1998, S. 33: „E perché io non desidero altro che trovare puramente la verità, e sappiendo che a ciascuno si debba credere nell’arte sua, ho scritto et avuto i pareri e giudizii di quasi tutti gli scultori e pittori più eccellenti che oggi in Firenze si ritruovino; e se la brevità del tempo lo mi avesse conceduto, arei scritto ancora a tutti gli altri che io conosco fuora di qui.“
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7 Ibid., S. 61: „La scoltura e pittura hanno un fine medesimo, difficilmente operato da una parte e dall’altra.“ 8 In der Literatur zum Paragone und zu Varchi wird der Brief Michelangelos an Varchi durchgehend als Antwort auf die Umfrage verstanden, weil weder das Schreiben an Luca Martini noch die zweite Darlegung von Varchi gelesen wird, vgl. z. B. John White, „Paragone: Aspects of the Relationship between Sculpture and Painting“, in: Charles S. Singleton (Hg.), Art, Science and History in the Renaissance, Baltimore 1967, S. 43–108, hier S. 43; Ulrike Müller Hofstede, „Emotion und Agon, Modell und Zeichnung. Zu Benvenuto Cellini und Baccio Bandinelli“, in: Baader et al. 2007 (wie Anm. 4), S. 195–230, mit vielen anderen. 9 Varchi/Borghini 1998, S. 9, Brief Varchis an Luca Martini vom 14. März 1547, am Tag nach der zweiten Vorlesung. 10 Ibid., S. 33: „Né penso ancora che alcuno mi creda tanto arrogante e presuntuoso che io osassi di muovere questa dubitazione e disputa per diciderla e risolverla, avendo pochissima cognizione dell’una e manco dell’altra; ma bene penso che come a filosofo, cioè a amatore del vero, mi sia lecito dire liberamente quel poco ch’ io n’intendo, rimettendomi in tutto e per tutto al giudizio di chi è perfetto nell’una e nell’altra, cioè a Michelagnolo.“ 11 Ibid., S. 84; Summers 1981 (wie Anm. 4), S. 269–278; Rudolf Preimesberger, „Rilievo und Michelangelo: ‚…benché ignorantemente’“, in: Ulrich Pfisterer und Max Seidel (Hg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München und Berlin 2003, S. 303–316. 12 Varchi 1550 (wie Anm. 1), S. 3 f. 13 Das Porträt Cosimos I. von Tobias Stimmer stammt aus Paolo Giovio, Elogia Virorum Bellica Virtute illustrium, Basel 1575, S. 390. 14 Leon Battista Alberti, L’architettura, tradotta in lingua fiorentina da Cosimo Bartoli, Florenz 1550; Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani da Cimabue a’ tempi nostri, Florenz 1550; zur Tätigkeit von Lorenzo Torrentino (Laurens Leenaertz van der Beke) und seiner Offizin in Florenz 1547 bis 1572 s. Fernanda Ascarelli und Marco Menato, La tipografia del ’500 in Italia, Florenz 1989. 15 Paolo Giovio, Illustrium virorum vitae, Florenz 1549; Aristoteles, Rettorica et poetica, übers. von Bernardo Segni, Florenz 1549, die Poetik S. 276–355 ist ausführlich kommentiert; Aristoteles, L’Ethica, übers. von Bernardo Segni, Florenz 1550. 16 Varchi 1590 (wie Anm. 1), S. 599. 17 Francesco Robortello, In librum Aristotelis de „Arte Poetica“ explicationes, Florenz 1548; id., Paraphrasis in librum Horatii, qui vulgo de „Arte Poetica“ ad Pisones inscribitur […], Florenz 1548 (gemeinsamer Nachdruck beider Bücher München 1968); s. Domenico Moreni, Annali della tipografia fiorentina. Lorenzo Tormentino, impressore ducale, Florenz 21 819, S. 13–16. 18 Umberto Pirotti, Benedetto Varchi e la cultura del suo tempo, Florenz 1971, S. 20. 19 Vgl. Benedetto Varchi, Storia fiorentina, hg. von Lelio Arbib, 3 Bde., Florenz 1838–1841, hier Bd. 3, S. 234–241. 20 Michel Plaisance, L’Accademia e il suo principe – L’académie et le prince. Culture et politique à Florence au temps de Côme Ier et de François de Médicis, Manziana 2004, S. 123–234. 21 Mario Pozzi, „La Storia fiorentina di Benedetto Varchi“, in: Jean-Jacques Marchand und JeanClaude Zancarini (Hg.), Storiografia repubblicana fiorentina (1494–1570), Florenz 2003, S. 117–140. 22 Rona Goffen, Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven und London 2002. 23 John Shearman, „Giorgio Vasari and the Paragons of Art“, in: Philip Jacks (Hg.), Vasari’s Florence. Artists and literati at the Medicean Court, Cambridge 1998, S. 13–22. 24 München/Köln 2002 (wie Anm. 4). 25 Baader et al. 2007 (wie Anm. 4).
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26 Leon Battista Alberti, De Pictura libri tres absolutissimi, hg. von Thomas Venatorius, Basel 1540; id., La Pittura, übers. von Lodovico Domenichi, Venedig 1547 (Nachdruck Sala Bolognese 1988); vgl. die Widmung in id., De Statua, De Pictura, Elementa Picturae – Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, lat.-dt., hg., eingel., übers. und kommentiert von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, unter Mitarbeit von Kristine Patz, Darmstadt 2000, Dok. 9, S. 377–379; Angela Piscini, Art. „Domenichi, Ludovico“, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 40, Rom 1991, S. 595–600. 27 Vitruv, De Architectura libri decem – Zehn Bücher über Architektur, lat.-dt., hg. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, 21984, I, 1, S. 32 f.; Alberti 2000 (wie Anm. 26), S. 236 f. (De Pictura, 26); id., Della Pittura – Über die Malkunst, ital.-dt., hg., eingel., übers. und kommentiert von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, 22007, S. 102 f.; Alberti 1547 (wie Anm. 26), fol. 19r. 28 Alberti 1547 (wie Anm. 26), fol. 19r; vgl. id. 2000 (wie Anm. 26), S. 236–239; id. 2002 (wie Anm. 27), S. 102–105; Alina A. Payne, „Alberti and the Origins of the paragone between Architecture and the Figural Arts“, in: Arturo Calzona (Hg.), Leon Battista Alberti. Teorico delle arti e gli impegni civili del „De re aedificatoria“ (= Ingenium / Centro di Studi Leon Battista Alberti 9), Florenz 2007, S. 347–368. 29 Leon Battista Alberti, L’architettura – De Re Aedificatoria, hg. von Giovanni Orlandi, 2 Bde., Mailand 1966, hier Bd. 1, S. 6 f.; Payne 2007 (wie Anm. 28). 30 Alberti 2002 (wie Anm. 27), S. 102 f.; Alberti 2000 (wie Anm. 26), S. 236 f.; vgl. Oskar Bätschmann, Giovanni Bellini, London 2008. 31 Mendelsohn 1982 (wie Anm. 4), S. 118; Varchi/Borghini 1998, S. 33. 32 Baldassare Castiglione, Il libro del cortegiano, hg. von Walter Barberis, Turin 1998, lib. 1, S. 45–54. Kaum von Bedeutung ist Mario Equicolas kleine Schrift, die postum 1541 in Mailand unter einem hochtrabenden Titel erschien: Institutioni di Mario Equicola al comporre in ogni sorte di rima della lingua volgare, con uno eruditissimo discorso della pittura & con molte segrete allegorie circa le Muse & la Poesia. Von den insgesamt 52 Seiten sind zwei der Unterstellung von „Pittura, Plastice & la Scultura“ unter die Poesie gewidmet (fol. B viii verso – fol. C i recto). 33 Hieronymus Cardanus, De subtilitate libri XXI. Nunc demum recogniti atque perfecti, Basel 1554, S. 448: Randglosse: „Artes quae subtilitate iuuantur. Pictura omnium mechanicarum subtilissima“ – „Pictura non solum iuuatur, sed etiam illustratur. Est enim pictura mechanicarum omnium subtilissima, eadem uero & nobilissima. Nam quicquid plastices aut sculptura conatur, mirabilius pictura fingit, addit umbras & colores, & opticen sibi iungit, nouis etiam additis quibisdam inuentionibus: nam pictorem omnium necesse est scire, quoniam omnia imitatur. Est philosophus pictor, architectus, & dissectionis artifex. Argumento est praeclara illa totius humani corporis imitatio, iam pluribus ante annis inchoata a Leonardo Vincio Florentino, & pene absoluta: sed deerat operi tantus artifex ac rerum naturae indagator, quantus est Vessalius. Itaque ut de artis praeceptis tum plastices aliquid dicam, illud commune ambabus primo assumendum est, tum etiam caelandi ac sculpendi, difficilius esse utranque partrem faciei fingere quam unam tantum. Tripliciter enim contingit faciem exprimere, mediam, totam, & sesquidimidium. In facie sumptum est exemplum, quia homines belluis, ut belluae plantis, & plantae regionibus earumque partibus difficilius finguntur. Facies autem ex hominis partibus & ex modis illius tota difficillime exprimitur. Primum quidem, quia generaliter duplus est labor: inde comparatione, si quid artifex delituit in magnitudine, numero, forma, colore, lituris, rugis, cauitatibus, alijsque innumeris quae in unius medietatis figura latebant, manifesta facta operis turpitudinem declarant. Qui igitur finger aliquid uolunt, formam eius primum uisam mente quasi memoria concipere debent, inde typum quendam seorsum delineare subtilius, post presente eo quod fingis singula animaduertendo ad a musim perficere: latet enim in unoquoque partium quaedam symmetria, quam si non mente conceperis, oculorum uero praesidio tantum innixus tentes exprimere, operam luseris […]“.
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34 Paola Barocchi in Varchi/Borghini 1998, S. vii. 35 Varchi/Borghini 1998, S. 33 f. 36 Leatrice Mendelsohn, „Simultaneität und der Paragone: Die Rechtfertigung der Kunst im Auge des Betrachters“, in: Baader et al. 2007 (wie Anm. 4), S. 294–334, bes. S. 294–300. 37 Ibid., S. 298–300. 38 Varchi/Borghini 1998, S. 37 f.; vgl. Summers 1981 (wie Anm. 4), S. 41–55. 39 Varchi/Borghini 1998, S. 50. 40 The Divine Michelangelo. The Florentine Academy’s Homage on his Death in 1564. A facsimile Edition of „Esequie de divino Michelangelo Buonarroti“ Florence 1564, eingel., übers. und kommentiert von Rudolf und Margot Wittkower, London 1964, S. 19 f. 41 Vgl. die Texte in Paola Barocchi (Hg.), Scritti d’arte del cinquecento (= La letteratura italiana. Storia e testi 32), 3 Bde., Mailand und Neapel 1971–1977, hier Bd. 1, und die Kommentare von Paola Barocchi, S. 223–234, 465–474; Mendelsohn 1982 (wie Anm. 4); Francis Ames-Lewis, The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist, New Haven und London 2000, S. 141–161; Claire F. Farago, Leonardo da Vinci’s Paragone. A Critical Interpretation with a New Edition of the Text in the Codex Urbinas, Leiden et al. 1992; Hessler 2002 (wie Anm. 4); Pfisterer 2006 (wie Anm. 4); zur bevorzugten literarischen Form des kompetitiven Dialogs vgl. Valeska von Rosen, „Multiperspektivität und Pluralität der Meinungen im Dialog: zu einer vernachlässigten kunsttheoretischen Gattung“, in: ead., Klaus Krüger und Rudolf Preimesberger, Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der frühen Neuzeit, Berlin 2003, S. 317–336. 42 Anton Francesco Doni, „Il Disegno“ (1547), in: Barocchi 1971–1977 (wie Anm. 41), Bd. 2, S. 1905– 1910, hier S. 1906: „Sapete voi dove io mi sforzerei di paragonarvi? in quella Nostra Donna che ha il Cristo morto in braccio, dove e’ mi pare che voi vi siate compiaciuto di diligenza, di disegno e d’industria. Infine io v’ho una invidia, che io crepo a non vi potere far paragone.“ 43 Anton Francesco Doni, Disegno, partito in piu ragionamenti, ne quali si tratta della scoltura et pittura […], Venedig 1549, (Faksimile, eingel. und kommentiert von Mario Pepe, Mailand 1970), fol. 13v, 21v, 25r, 30v, 33v, 35v, 40v–41r, auf fol. 58v in einem Brief „comparatione“ in gleicher Bedeutung wie „paragone“. 44 Doni 1549 (wie Anm. 43), fol. 37r, „gara“ zwischen Zeuxis und Parrhasios, Plinius nat.hist. 35, 81–83; fol. 40v, vgl. Plinius, nat.hist. 35,95. 45 Doni 1549 (wie Anm. 43), fol. 41r: „Et perche l’intention vostra è stata per quel che io ho potuto comprendere nel leggere delle vostre dispute di parlar piu del paragone & natura dell’opere di Scoltura & Pittura, che di nomi & di facetie di maestri […].“ 46 Paolo Pino, „Dialogo di pittura, nuovamente dato in luce“ (Venedig 1548), in: Paola Barocchi (Hg.), Trattati d’arte del cinquecento fra manierismo e controriforma, 3 Bde., Bari 1960–1962, hier Bd. 1, S. 131. 47 Andrew John Martin, Savoldos sogenanntes „Bildnis des Gaston de Foix“. Zum Problem des Paragone in der Kunst und Kunsttheorie der italienischen Renaissance, Sigmaringen 1995; vgl. Elena Lucchesi Ragni, in: Giovanni Gerolamo Savoldo und die Renaissance zwischen Lombardei und Venedig, hg. von Sybille Ebert-Schifferer, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main 1990, S. 152–155. 48 Alessandro Nova, „‚Paragone’-Debatte und gemalte Theorie in der Zeit Cellinis“, in: id. und Anna Schreurs (Hg.), Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2003, S. 183–202; Stefan Morét, „Der paragone im Spiegel der Plastik“, in: ibid., S. 203–215. 49 Öl auf Schiefer, 133 x 72 cm. Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori. Nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi, 6 Bde., Florenz 1966–1987, hier Bd. 5, S. 545: „Avendo monsignor messer Giovanni della Casa, fiorentino et uomo dottissimo (come le sue leggiadrissime e dotte opere, così latine come volgari, ne dimostrano), cominciato a scrivere un trattato delle cose di pittura, e volendo chiarirsi d’alcune minuzie e particolari dagl’uomini della professione, fece fare a Daniello, con tutta quella diligenza che fu
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possibile, il modello d’un David di terra finito; e dopo gli fece dipingere overe ritrarre in un quadro il medesimo Davit, che è bellissimo, da tutte due le bande, cioè il dinanzi et il didietro, che fu cosa capricciosa: il qual quadro è oggi appresso messer Annibale Rucellai.“; Roberto Paolo Ciardi und Benedetta Moreschini, Daniele Ricciarelli. Da Volterra a Roma, Mailand 2004, Nr. 21, S. 224–229. Leonardo da Vinci, Trattato della Pittura, tratto da un codice della Biblioteca Vaticana e dedicato alla Maestà di Luigi XVIII, Re di Francia e di Navarra, hg. von Guglielmo Manzi, Rom 1817; id., Paragone. A Comparison of the Arts, hg., eingel. und übers. von Irma A. Richter, London 1949; Farago 1992 (wie Anm. 41). Erasmus von Rotterdam, Il Paragone della Vergine, et del Martire, e una Orazione a Giesu Christo, übers. von Lodovico Domenichi, Florenz 1554. Übersetzt wurde damit die Publikation von Erasmus von Rotterdam „Virginis et martyris comparatio“, die zusammen mit „Concio de puero Iesu“, in einem Band unter dem Titel De immensa Dei misericordia 1524 bei Johann Froben in Basel erschienen war. Michelangelo in Varchi/Borghini 1998, S. 84; vgl. zum Brief Michelangelos v. a. Summers 1981 (wie Anm. 4), S. 269–278; Preimesberger 2003 (wie Anm. 11). Michelangelo in Varchi/Borghini 1998, S. 84: „Colui che scrisse che la pittura era più nobile della scultura, se gli avessi così bene intese l’altre cose che ha scritte, l’arebbe meglio scritte la mia fante.“ Ibid., S. 84; Baldassare Castiglione, Il libro del Cortegiano, Venedig, 1528, lib. 1, 52: „Per questo parmi la pittura più nobile e più capace d’artificio che la marmoraria […]“; vgl. den Kommentar zu Michelangelos Brief von Borghini in Summers 1981 (wie Anm. 4), S. 269–278; Varchi/Borghini 1998, S. 93–95. Varchi/Borghini 1998, S. 61–66. Ibid., S. 84: „E però a me soleva parere che la scultura fussi la lanterna della pittura, e che da l’una a l’altra fussi quella differenza che è dal sole alla luna.“ Paola Barocchi in ibid., S. 43, Anm. 99. Michelangelo in ibid., S. 84: „Ora, poi che io ho letto nel vostro libretto dove dite che, parlando filosoficamente, quelle cose che hanno un medesimo fine sono una medesima cosa, io mi son mutato d’oppennione e dico che, se maggiore giudizio e dificultà, impedimento e fatica non fa maggiore nobiltà, che la pittura e scultura è una medesima cosa, e perché la fussi tenuta così, non doverebbe ogni pittore far manco di scultura che di pittura, e ‘l simile lo scultore di pittura che di scultura.“ Preimesberger 2003 (wie Anm. 11), S. 305. Vasari in Varchi/Borghini 1998, S. 62: „Pigliate una palla di terra e formate un viso, uno animale di man vostra o d’altro incerto, nella quale, mentre che ciò farete, non arete a cercare né del colore, né de’ lumi o dell’ombre; e finito questo, pigliate una carta e disegniatevi su il medesimo, e quando dintornato avete le prime linee, voi con lo stile, o penna o matita o pennello, cominciate a ombrarla. E [con] questo vi si renderanno nell’opera vostra tali, che voi giudicarete la facilità e bontà dell’una e dell’altra; e quella che vi sarà più facile a esercitarla troverete manco perfetta.“ Vasari 1550 (wie Anm. 14); id., Le vite de’più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani, da Cimabue a’ tempi nostri (1550), hg. von Luciano Bellosi und Aldo Rossi, Turin 1986, S. 7–17; vgl. Giorgio Vasari, Kunsttheorie und Kunstgeschichte, übers. von Victoria Lorini, hg. von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin 2004, S. 27–42; Wolfgang Kemp, „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“ (1974), in: Kilian Heck und Cornelia Jöchner (Hg.), Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, München und Berlin 2006, S. 145–173. Vasari 1966–1987 (wie Anm. 49), Bd. 1, S. 26; Vasari 2004 (wie Anm. 61), S. 39. Thomas Frangenberg, „Bartoli, Giambullari and the Prefaces to Vasari’s Lives (1550)“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 65, 2002, S. 244–258, bes. S. 252–255. Rudolf und Margot Wittkower 1964 (wie Anm. 40), S. 19 f. Der Holzschnitt (Abb. 9) stammt aus Vasari 1550 (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 1034.
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Auswahlbibliographie Karen-edis Barzman, The Florentine Academy and the Early Modern State. The Discipline of Disegno, Cambridge 2000. Michael Baxandall, „Bartholomaeus Facius on Painting. A Fifteenth-Century Manuscript of the ‚De Viris Illustribus’“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 27, 1964, S. 90–107. Clifford M. Brown und Anna Maria Lorenzoni, Isabella d’Este and Lorenzo da Pavia: documents for the history of art and culture in Renaissance Mantua (= Travaux d’Humanisme et de Renaissance 189), Genf 1982. Piero Calamandrei, „Sulle relazioni tra Giorgio Vasari e Benvenuto Cellini“, in: Studi Vasariani. Atti del Convegno Internazionale per il IV Centenario della prima edizione delle „Vite“ del Vasari, Florenz 1952, S. 195–214. Alessandro Cecchi, „Il Bronzino, Benedetto Varchi e l’Accademia fiorentina: ritratti di poeti, letterati e personaggi illustri della corta medicea“, in: Antichità viva 30, 1991, S. 17–28. Benvenuto Cellini, La Vita, hg. von Lorenzo Bellotto, Fondazione Pietro Bembo, Parma 1996. Eric Cochrane, Florence in the Forgotten Centuries 1527–1800. A History of Florence and the Florentines in the Age of the Grand Dukes, Chicago und London 1973. Michael Cole, Cellini and the Principles of Sculpture, Cambridge 2002. Lodovico Dolce, Aretino oder Dialog über Malerei, übers. von Cajetan Cerri, hg. von Rudolf Eitelberger von Edelberg, Wien 1871. Karl Frey (Hg.), Der literarische Nachlass Giorgio Vasaris (Il carteggio di Giorgio Vasari), 2 Bde., München 1923–1930. Gargano Gargani, Della sepoltura di Messer Benedetto Varchi nella Chiesa de’ Monaci di S. Maria degli Angioli in Firenze, Florenz 1870. Giovan Battista Gelli, Tutte le lettioni, lette da lui nella Accademia Fiorentina, Florenz 1551. Paolo Giovio, Elogia Virorum literis illustrium, Basel 1577. Id., Discorso sulla pittura, London 1776. Ernst Guhl (Hg.), Künstler-Briefe, 2 Bde., Berlin 1853. Id. und Adolf Rosenberg, Künstlerbriefe, 2 Bde., Berlin 21880. Robert Klein, „‚Giudizio’ et ‚Gusto’ dans la théorie de l’art au cinquecento“ (1961), in: id., La forme et l’intelligible. Ecrits sur la Renaissance et l’art moderne, hg. von André Chastel, Paris 1970, S. 341–352. Hans Körner, „Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste“, in: von Rosen/Krüger/Preimesberger 2003 (wie Anm. 41), S. 221–241. Marco Lafranchi, „‚La maggioranza delle arti’ di Benedetto Varchi (1546)“, in: Luisa Secchi Tarugi (Hg.), Lettere e arti nel Rinascimento. Atti del X convegno internazionale Cianciano-Pienza 1998, Florenz 2000, S. 647–658. Die Eitelkeit des Wettstreits | 119
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Carl Goldstein
Canon and Copy: The Canon Communicated I concluded an essay on printmaking and theory published in a recent number of the Zeitschrift für Kunstgeschichte by citing a remark of Roger de Piles in his Abrégé de la vie des peintres published in 1699 about how prints are, in his words, „depositories of all that is fine and curious in the world.“ „By means of prints,“ he wrote, „one may easily see the works of several masters on a table, one may form an idea of them, judge by comparing them with one another, know which to choose, and by practicing it often, contract a habit of good taste.“1 These print „depositories“ would be what André Malraux later called Le musée imaginaire, a book of photographic reproductions of works of art produced all over the world.2 The taste in question in de Piles’ remark is, by contrast, only that to 1 Marcantonio Raimondi (after Raphael), Galatea, c. 1515/16, e ngraving which the seventeenth-century Académie Royale de Peinture et de Sculpture subscribed, in other words, the canon of the academy. As is clear from its history, as of the Rubéniste de Piles’ place in that history, the canon was not static or passive but dynamic and regularly re-examined and re-shaped through comparing works with one another. Such comparisons made by means of prints would have had many pitfalls, however, not all of which de Piles may have been aware. With this in mind, I would like to pursue his observation on the present occasion. Canon and Copy: The Canon Communicated | 121
2 Agostino Carracci (after Tintoretto), The Madonna Appearing to Saint Jerome, 1588, engraving
3 Gérard Edelinck (after Raphael), The Holy Family of François Ier, engraving
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To be sure, de Piles’ observation was not in itself new, for the upsurge of interest in printmaking after an uncertain beginning was due to its reproductive capacity, particularly that of copper-plate engraving.3 The way had been shown by Marc antonio Raimondi, who developed a technique mimicking the appearance of sculptural form and used this technique to reproduce classical sculptures and drawings and paintings by Raphael, among them, the canonical Massacre of the Innocents, Judgement of Paris and the Galatea (fig. 1). It was through such prints—rather than the original paintings and frescoes in Rome—that Raphael’s inventions were spread around Europe. The prints also disseminated a new engraving technique that was imitated by generations of reproductive engravers. It is surely significant that one of the earliest volumes to include photographs of artworks illustrated not original paintings but Marcantonio’s reproductive engravings of them. What was begun by Marcantonio was continued by Agostino Veneziano, Giorgio Ghisi, and Marco Dente, among others. Later in the century, Agostino Carracci alone produced a vast corpus of reproductions of Renaissance paintings, most notably by Titian, Veronese, and Tintoretto (fig. 2), matched by a deluge of engraved reproductions of Italian and Northern paintings by Philip Galle, Cornelis Cort, Hendrick Goltzius, and others. De Piles had no doubt been impressed by further improvements in printmaking technology in France during the second half of the seventeenth century, perhaps as demonstrated in the collection of extraordinary engravings after the Raphaels, Poussins, and other masterpieces in the royal collection produced under the supervision of the graveur du cabinet du roi, Gérard Edelinck (figs. 3, 4). But in fact, as I have noted, such „depositories“ had existed for more than a century.
They could, literally, have been used to form a visual history of Renaissance art illustrating Vasari’s verbal history. As is well known, Vasari felt the need for tangible evidence of the achievements of the artists of his Vite and to this end created a book, his Libro, gathering together drawings by them.4 But such a book could be enjoyed only by him and a small circle of friends, which is to say that it consisted of one-of-a-kind images on the order of a scribal manuscript; it could be—though was not—copied by hand and even then would have had a strictly limited circulation. Mass produced engravings, by contrast, could be run off in hundreds or even thousands of more or less identical impressions, the same number as printed copies of the Vite, which they would thereby have supplemented. This may have been the idea of that champion of Northern engravers, Domenicus Lampsonius, who wrote to Vasari, implying 4 Gilles Rousellet (after Raphael), St. Michael, engraving that prints are indispensable in disseminating visual paradigms.5 And Vasari did, indeed, appreciate the value of reproductive engravings, as he showed by including a biography of Marcantonio in the 1568 edition of the Vite, in which he repeatedly refers to prints.6 But he was too completely committed to the humanist practice of verbal ekphrasis ever to have imagined a new kind of publication integrating pictures and text beyond the woodcut „portraits“ of the artists introducing their biographies. Not to be overlooked, too, is the additional cost of a series of engravings, each of which would have had to be printed separately, on a special rolling bed press, whereas the woodcut Canon and Copy: The Canon Communicated | 123
„portraits“ could be set together with the metal type in a screw press. And, of course, all reproductions would have had to be restricted to black and white.7 Not least of all is the question of the mesh of ekphrases and engravings. Lampsonius, for one, thought the Italian engravers of works by Michelangelo and the other Renaissance masters undermined the visual images conveyed by Vasari’s text. „These ignorant three-penny engravers who enrage me are born for vituperation not only by those excellent masters whose works they so cruelly spoil and maim, but by all Italy.“ Only Flemish engravers, he claimed, are up to the task of visual canon formation.8 Be that as it may, reproductive engraving remained the stepchild of humanist art history. Single-sheet reproductive prints nevertheless played a central role in the lives of connoisseurs such as de Piles, as we have seen, and also and more fundamentally in the lives of artists. For if it was useful for collectors and connoisseurs to study and compare otherwise inaccessible works of art, it was imperative for artists to do so. Artistic practice in the Renaissance tradition was grounded, after all, in faith in the efficacy of a canon or repertory of paintings and sculptures that was the legacy of the past and guarantor of the future. These works, however, were either hidden away in princely collections or collections distant from many important centers of art production. How, then, were artists to engage in the process of sorting and selecting, directed towards assimilating the works of the canon? Put in this way, the obvious answer is through reproductions, casts of ancient sculptures for one, but even more so single-sheet reproductive prints of ancient sculptures and also paintings and other compositions by Raphael, Poussin, Rubens, and others.9 The idea, it must be stressed, was not to interpret these works, as was the habit of Rembrandt, Rubens, and some others, but rather to copy them exactly and thereby lay a foundation for further work within the tradition. The first or prints of ancient sculptures were of such works as the Farnese Hercules, the Laocoön, the Venus de’ Medici, and the Borghese Warrior (or Gladiator). Among the principal engravings representing Raphael were Marcantonio’s above-mentioned Judgement of Paris and Massacre of the Innocents. „The combination of an encyclopedia of imagery dominated by Raphael and the beginning of academic artistic culture,“ Patricia Emison recently observed, „placed Raphael in a dominant position for hundreds of years, and engravings supported that role.“10 That said, a caveat must be entered. For Raphael as filtered through the engravings is not the same as the artist known from the paintings and frescoes. As William M. Ivins, Jr. some time ago observed: „When it came to copying a picture, that is making a visual statement about a visual statement, the copyist felt under no obligation to be faithful to either the particular forms or the visual syntax [that is, visual code or set of conventions; author’s note] of the earlier draughtsman he was copying.“ Even within engraving as such, he notes that as „painstakingly and carefully as Dürer might copy a real rabbit or a violet in his own syntax, when it came to copying a print by Mantegna he refused to 124 | Carl Goldstein
follow Mantegna’s syntax, and retold the story, as he thought, in his own syntax. I doubt if it ever occurred to him that in changing the syntax he completely changed both the facts and the story.“11 The changes in „syntax“ are that much greater in Marcantonio’s translations not of other engravings but of drawings and paintings in the prints that were largely responsible for Raphael’s dominant position in the encyclopedia cited by Emison. Rather than conduct still another survey of these engravings or of engravings with their models, I would like to turn to another and less well known side of the story that is in keeping with Ivins’ remark and that has been a recent focus of attention of print specialists, namely, about how not all reproductive prints transmit the same information about the identical painting or sculpture reproduced. A widespread assumption, in other words, is that any reproductive print is definitive, whereas in fact a print once in circulation often was copied or re-engraved by another printmaker, that copy in turn copied, in an openended series in which not every print was the equal of every other, with far-reaching consequences of which connoisseurs and artists are not likely to have been fully aware. To be sure, printmakers themselves were so aware. And I would like to devote the remainder of this essay to a text by one such printmaker who specifically addressed this problem. The printmaker is Abraham Bosse, who, despite his fame, needs an introduction.12 Born in Tours in 1602 or 1604, Bosse produced his first prints in 1622 and went on to become a leading printmaker in Paris, specializing in scenes of everyday life. A consummate print professional, he was not only a printmaker but also an author, printer, publisher, and print- and bookseller. In 1645, he published a treatise on etching and engraving that was the first of its kind, that went through two further French editions, was translated into English and several European languages and that effectively revolutionized printmaking during his and the following centuries. Still earlier, in 1643, he had authored the first of what became a series of books applying the discoveries of the mathematician Girard Desargues to practices in a variety of crafts and in the art of painting, culminating in a treatise on perspective published in 1648. In the same year, he was invited to teach perspective in the newly established Académie Royale de Peinture et de Sculpture with the title membre honoraire, since the academy did not grant full membership to lowly artisans such as those working in the print professions. This association proved disastrous for both parties, with Bosse formally expelled in 1661—an act that has been misinterpreted and that has received and continues to receive an inordinate amount of attention in Bosse studies.13 That year marked the beginning of his most intense and sustained activity as author, printer, publisher and bookseller, particularly of further books on painting, perspective, and architecture, that only ended with his death in 1676. The publication in question here appeared in 1649, pre-dated his difficulties in the academy and was dedicated to its members: Sentimens sur la distinction des diverses manières de peinture, dessein et graveure, et des originaux d’avec leurs copies.14 Canon and Copy: The Canon Communicated | 125
The inclusiveness of this treatise, to begin with, covering printmaking together with drawing and painting, was in itself groundbreaking.15 For engraving was widely regarded as a strictly mechanical practice and as such inferior to drawing and painting. To Bosse’s mind, however, the various pictorial disciplines are essentially interrelated and he conceived of his treatise as a handbook aiming to teach criteria for distinguishing good (bon) from bad taste (mauvais goût) in all these disciplines, engraving together with the others. This discussion is grounded in the recent history of art, though he begins with an ancient painting, the so-called Aldobrandini Wedding, as copied by Pietro da Cortona and engraved by Bernardino Capitelli. As for his „history,“ it is of the kind underpinning the classic-idealist theory of the later Académie Royale and, published in 1649, the first such statement to appear in France. This said, Bosse’s remarks are at times strangely at odds with the paradigmatic statements of this theory. A review of the theory, beginning with Bosse’s version of it, is therefore in order.16 There have been many painters, Bosse states, who, while highly reputed in their times, can be seen in fact to have produced very bad stuff indeed, particularly those affecting mannerisms in their lines, contours, poses, and proportions, for no other purpose than to create new and strange effects, their figures all twisted, cramped, and rigid. The culprits: Bartholomäus Spranger, Hendrick Goltzius, and Jacques Bellange. Others, while not guilty of such crimes, went to the opposite extreme, having decided to draw live models as precisely and accurately as possible, without considering the possibility of their vulgarity or inappropriateness to the subject being represented. No artist is mentioned by name but the obvious candidate is Caravaggio. A third type of artist who has excited viewers, he continues, will nevertheless be found wanting by knowledgeable art lovers. While these artists are not to be despised, their shortcomings are obvious. Titian is one of these. Superior to Titian is Annibale Carracci, though Annibale is not an artist of the highest perfection. That distinction is reserved for Raphael, in whose style good taste and the antique coalesce into incomparable perfection. The greatest of Renaissance artists, Raphael dominated his own age and should serve as a beacon to artists of this—Bosse’s—time, to all equipped to recognize this perfect instrument of pictorial expression. The components of this perfection are then enumerated: marvelous compositions and arrangements of figures, admirable in their poses and for expressions completely in keeping with the subjects and occasions, in brief, works of such an extraordinary power and unity that they cannot be improved upon. Those particularly singled out as such masterpieces: his last works and engravings after his compositions by Marcantonio, Cornelis Cort, and others. This eminence, however, need not be Raphael’s alone. Our own age and nation have produced artists so knowledgeable in these matters, Bosse continues, as to raise hopes of seeing many Raphaels. The particular focus of this promise is the rare Nicolas Poussin, 126 | Carl Goldstein
whose works, especially his latest—presumably of the 1640s—have reached the same high summit as Raphael’s. Those who choose Poussin as their model and guide can be assured of having the most beautiful and remarkable works to emulate, whether of histories or landscapes, works by so universal a painter that even his more light-hearted works occupy the first rank. So far so good. With relatively minor adjustments, these, as I stated, are the essential elements of later classic-idealist theory. Also in basic agreement with this theory is his association of Jusepe de Ribera, Orazio Gentileschi, and Valentin with Caravaggio. But he does the same with other, leading idealists, in other parts of his discussion. Consider the following passage: „Then there were the Carracci, principally Annibale, then Baroccio, Caravaggio, Ribera, Reni, Valentin and others, all working in different styles and all highly appreciated, their paintings direct, free, and pleasing to the eye.“17 Annibale, the bright light of painting in Italian idealist theory, is here simply a painter in early seventeenthcentury Rome together with Caravaggio and his followers—as in that other passage he is ranked superior only to Titian. I remind you of the canonical statement of idealist theory published by Giovanni Pietro Bellori in 1672: „Painting is now greatly admired and seems as though descended from heaven, when the divine Raphael by his supreme drawing has raised its beauty to the summit of art, restoring it to all the graces of its ancient majesty and enriching it by the attributes that had once rendered it glorious among the Greeks and Romans. But since things here on earth never remain in the same state, and those that have attained the summit perhaps then turn to fall again in a perpetual succession, art, which from the time of Cimabue and Giotto progressed gradually for two hundred and fifty years, was soon to decline, and from a queen, became humble and vulgar […I]n this long period of agitation art was contested by two opposing extremes, one entirely subject to the natural, the other to the imagination; the exponents in Rome were Michel Angelo da Caravaggio and Giuseppe d’Arpino; the former simply copied bodies, as they appear to the eyes, indiscriminately; the latter did not consider the natural at all, following the freedom of instinct […] So that when painting was going towards its end, it pleased God that in the city of Bologna […] a most elevated genius should appear […] he was Annibale Carracci […].”18 To cite Annibale simply as one of many praiseworthy artists, as in the passage by Bosse cited above, is, therefore, to begin to dismantle the entire framework of Italian idealist theory to which he otherwise subscribed. Why and on what basis did he do so, on what basis did Bosse arrive at his judgements? The answer is not in doubt: it was by means of engravings. He neither had been to Italy, nor had access to major collections in Paris. While he may conceivably have seen paintings by Poussin, reproductive engravings as what de Piles later called „depositories“ of the history of art had to have been his primary sources for the other artists of his discussion. Indeed, when discussing a work of art he typically refers to an etched or engraved Canon and Copy: The Canon Communicated | 127
copy of it, the Aldobrandini Wedding mentioned earlier, engraved by Bernardino Capitelli, or engraved copies of works by Annibale or Raphael. To be sure, engravings are not the same as paintings and may mask stylistic differences between artists, to the point that Caravaggio may not seem all that different from Annibale or Guido Reni. For a history of painting, as distinct from printmaking, in other words, the evidence of engravings is insufficient and potentially misleading. Judgements formed on this basis alone can only be tentative, as Bosse well knew. For he says so in so many words. The discussion in question appears in another part of the same book, in which Bosse stages encounters between what he calls originals and copies, both of paintings and of prints.19 The first or painting is on the whole framed in the abstract and often abstruse Neoplatonic language that constituted the philosophical underpinnings of the theory and criticism of painting in the later Renaissance tradition. An „original“ painting strictly speaking, Bosse says, originates with the imagination or invention of its author. It is a personal statement of something sought in vain in nature, for to work directly from nature is only to make a „copy“ of that which is seen; it is a „copy“ of that representation peculiar to itself that is the „original“ of that thing. Such „originals,“ he explains, „will be of figures and other bodies, so conceived and disposed as never before to have been seen,“ inventions of the kinds associated with philosophy and literature, their learned authors assuming their rightful places alongside the historians and poets for whom works of art had always been understood as the products of deeply imaginative visions.20 The distinction is indeed, as I noted, literary and philosophical. It is not helpful in determining whether an actual painting is an original or a copy in practical terms. The same distinction made in Bosse’s discussion of prints, is, by contrast, straightforward and altogether pragmatic. The difficulty here, he states, is of recognizing a good copy of an absent original or a copy of an original that one has never seen or, specifically with regard to printmaking, of different impressions of the same print, all pulled from different copper plates.21 In question are problems posed by the multiplication of originals, the very purpose of the print professions, these impressions having the status of „original copies,“ however, and not to be confused with unauthorized and inferior „copies“ pulled by other hands from new plates on which the original design had been re-engraved. If the first or „original copy“ would be difficult to recognize in only a single such example, the second, again in the absence of the „original“ with which it might be compared would be difficult to identify as a „pretender.“ If this distinction has a familiar ring, it is for bringing to mind the more recent review of reproduction by Walter Benjamin, whose analysis can usefully be compared with Bosse’s.22 Benjamin’s argument turns on the question of the status of „the original“ when that original is not unique. His analysis is not of printmaking as such but rather the analogous art forms of photography and film, which he understands, however, as only the latest 128 | Carl Goldstein
developments in an historical process tracing its origins back to the woodcut, engraving, and etching. The conceptual focus of his discussion and the idea that has become something of a scholarly cliché is that of a loss of „aura“ that results from multiple reproduction. „Even the most perfect reproduction of a work of art,“ Benjamin writes, „is lacking in one element: its presence in time and space, its unique existence at the place where it happens to be […] The technique of reproduction detaches the reproduced object from the domain of tradition, by making many reproductions it substitutes a plurality of copies for a unique existence.“23 The motivation behind all such diffusion: commercial gain, pure and simple. Needless to say, this was not the basis of the distinction made nearly three centuries earlier by Bosse, for whom the „original copy,“ while only one among many, belongs nevertheless to a whole different category from the „pretend original.“ Bosse’s is not the conventional, present day understanding of „original“ as either the directly experienced or of the original work of art in the Benjaminian sense. Neither is it one of the terms in the usual binary opposition of original/good, copy/bad, since the whole point of the print profession is the production of multiple images or copies. Bosse’s point is that all such seeming impressions or copies of one and the same original are not equal. Copies in this sense are what we would call replicas, at times fakes, or forgeries. Bound to be hard and dry, such copies will also tend to be darker than the original prints, he states, particularly when many hatchings are involved. Bosse is referring to what was in fact a common, if to us baffling, practice within reproductive printmaking, tracing its origins back as early as Marcantonio and his circle, in which a Marco Dente would re-engrave a print by Marcantonio, who would re-engrave a print by Agostino Veneziano, who would return the favor by re-engraving a print by Marco Dente.24 Evidently, Marcantonio’s foundational images and technique, far from being accepted as stable and authoritative, were regarded as infinitely mutable—and the same holds for Marcantonio’s followers. Consider, for example, engravings by Marcantonio and Domenico Veneziano after Raphael’s Three Marys Lamenting the Dead Christ (figs. 5, 6), one a copy or replica of the other—which came first is open to question—one version only subtly different from the other. Still more dramatic are the differences between two other, later prints, the first an engraving by Hendrik Goudt reproducing a painting by Adam Elsheimer (fig. 7)—admittedly not an artist of the canon but useful for this argument—and the second an etching copying the engraving by Goudt by Weneslaus Hollar reversing the direction of the engraving (fig. 8). Even while using a different intaglio technique from Goudt, namely etching rather than engraving, Hollar follows his engraved model very closely, replicating series of parallel lines and cross-hatchings, which nevertheless and inevitably are darker than in the engraving to the point that whole nets and series of lines are virtually obliterated. Not only could it not pass as a Goudt but it is as though the original were a different version of the subject by Elsheimer himself.25 Canon and Copy: The Canon Communicated | 129
In their study of Renaissance printmaking, David Landau and Peter Parshall address the issue of such copies of copies in a discussion of Marcantonio and his school.26 The repetitions are not always of the same type, they note. In some cases, one and the same engraver made two prints of the same composition; others would be straightforward copies by a second engraver; and finally, copies as forgeries. „In each of these cases,“ they note, „the only way to distinguish one from the other is to look at the two versions side by side, something more possible nowadays in the print rooms of the world than would have been true in the studiolo of a Roman connoisseur of the second half of the sixteenth century.“27 Such are 5 Marcantonio Raimondi (after Raphael), Three Marys Lamenting the the difficulties facing the print Dead Christ, engraving connoisseur. So far as an understanding of the canon is concerned, however, the inability to make such distinctions could lead to a serious misapprehension of the nature and quality of paintings thus variously and perhaps misleadingly reproduced. Within his discussion of original and copy in painting, Bosse had introduced technical terms used specifically to describe the application of paint to the surface, arguing that carefully executed, highly finished works are easier to imitate than freer, more spontaneous ones, „where a single stroke of the brush creates what is hard to replicate in a hundred.“28 The same applies to printmaking, in which the print connoisseur, alert to the touch of the individual engraver or etcher, is able to distinguish such „original copies“ from among many virtually identical images. Only such attention to the artist’s hand will make it possible to distinguish „original copies“ from inferior copies or replicas of them and to understand, too, the lesser market value of the latter. To be sure, the last would have been a principal concern, since the print market was filled with what we would call pirated 130 | Carl Goldstein
images. In the final analysis, to say it again, it is the touch of the individual printmaker as discerned by the print connoisseur that guarantees the authenticity and greater market value of an „original copy.“ Christopher Wood has recently written about the unexpectedness of this distinction. „The reliability of mechanical copying,“ he observes, „paradoxically allowed the conception of the unique, non-interchangeable style to take hold […T]he authored, event-like artwork could now define itself clearly against the background of the print. The concept of the original comes into focus only through the lens of its opposite, the perfect replica.“29 The paradox, then, is twofold: first, that multiple production resulted in a new appreciation of the unique work of art and, second, that it called attention to the hand of 6 Domenico Veneziano (after Raphael), Three Marys Lamenting the Dead Christ, engraving the artist. Where, then, did this leave the engraver or etcher? As a creative talent, he or she was an artist like any other, Bosse such a printmaker/artist whose original prints were frequently copied or plagiarized by Dutch and Flemish engravers. A reproductive print is more problematical and ultimately, it would follow, as a copy of an original painting, conceivably further removed from the original by copies or copies of copies of the primary engraving, suspect and to be relegated to the realm of the unknowable. Not long after the publication of Bosse’s book, in 1667, the Académie Royale turned away from reproductions, for the first time in the history of academies teaching from original paintings in its famous series of Conférences open to artists and connoisseurs alike.30 The Canon and Copy: The Canon Communicated | 131
paintings were those in the Cabinet du Roi, originals by Raphael, Poussin, Veronese, Titian, and others, brought out to be studied, explicated, and discussed. Some of the observations are as one might have expected and, it would seem, could just as well have been made from engravings. The focus of the discussion of Raphael’s St. Michael, for example, is drawing and expression, which are stressed as well in the Conférence on Raphael’s Holy Family of François Ier.31 Remarks about Titian’s Entombment of Christ call attention, however, to what was agreed to be his strength and to which prints were, so to speak, blind: color. „What is most to be admired in this work,“ it is argued, is the „artifice of color, and its agreeable harmony.“32 Nor were 7 Hendrik Goudt (after Adam Elsheimer), The Mocking of Ceres, such remarks restricted to the 1610, engraving Venetians. Poussin’s Israelites Gathering Manna in the Wilderness is discussed in terms of drawing and expression, and also light and shade and color.33 The last, to say it again, was beyond the capacity of engraving, which, as Bosse had taught, may in any given case distort and misrepresent light and shade and, indeed, drawing itself. As though heeding Bosse’s advice, the Conférences, privileging the originals, radically transformed the context in which copies were henceforth to be viewed. What was begun in 1667 was continued in the academy during the following years with further series of Conférences and also, increasingly, with large-scale public exhibitions of paintings by the masters.34 With the opening of the Louvre as the national museum of France in 1793, the artists of the academy had prolonged access to original paintings, which they copied directly from that time on, despite the renaissance of reproductive engraving described in detail by Stephen Bann.35 Advanced students were sent to copy from the originals, that is to say, while the instruction of beginners continued to revolve 132 | Carl Goldstein
around engravings.36 Here we have circled back to the question of the role of reproductive engraving in the academic tradition, which, in light of the above, may need some clarification. That this was a central role is not in doubt. From the beginning of the academic tradition— as, indeed, before the creation of academies of art—copying reproductive engravings was an essential part of the training of artists; having acquired the habit of copying, artists continued to consult and work from engravings throughout their careers. To be sure, it was understood in the academy that such engravings were not the same as the original paintings and sculptures of the canon and so promising students were sent to Rome to experience ancient 8 Weneslaus Hollar (after Hendrik Goudt, after Adam Elsheimer), The Mocking of Ceres, 1646, etching sculptures and the monumental paintings of the great masters, Raphael above all, an experience, it is to be stressed, considered essential to the development of artists into whose hands the artistic patrimony of the nation was to be entrusted. As a printmaker, Abraham Bosse was acutely aware of the differences between such originals and the engravings copying them—and further engravings copying that first reproductive engraving—differences that he was the first to discuss in print, focusing attention on what was in fact an evident weakness in academic instruction. Within the academy itself, attempts were made soon thereafter to close the gap between original and copy, exposing students to, and teaching from, originals whenever possible, culminating in the partial displacement of academic instruction to the ultimate site of canon formation: the museum.
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Notes 1 Carl Goldstein, „Printmaking and Theory,“ in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 3, 2008, pp. 377–388. 2 André Malraux, Le musée imaginaire (La psychologie de l’art), Geneva 1947. 3 See especially, Norberto Gramaccini and Hans Jakob Meier, Die Kunst der Interpretation: Italienische Reproduktionsgraphik, 1485–1600, Munich and Berlin 2009; Paper Museums: The Reproductive Print in Europe, 1500–1800, essays by Rebecca Zorach and Elizabeth Rodini, exh. cat. David and Alfred Smart Museum of Art, The University of Chicago 2005; Lisa Pon, Raphael, Dürer, and Marcantonio Raimondi: Copying and the Italian Renaissance Print, New Haven and London 2004; David Landau and Peter Parshall, The Renaissance Print, 1470–1550, New Haven and London 1994, pp. 103–168. 4 Wolfram Prinz, „Vasaris Sammlung von Künstlerbildnissen,“ in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 12, 1966, pp. 5–158. 5 Walter Melion, „Hendrick Goltzius’s Project of Reproductive Engraving,“ in: Art History 13, 1990, pp. 458–487; id., „Theory and Practice: Reproductive Engravings in the Sixteenth-Century Netherlands,“ in: Graven Images: The Rise of Professional Printmakers in Antwerp and Haarlem, 1540–1640, exh. cat. Mary and Leigh Block Gallery, Northwestern University; Ackland Art Museum, University of North Carolina, Chapel Hill 1993, pp. 47–69. 6 See David Landau, „Vasari, Prints and Prejudice,“ in: Oxford Art Journal 6, 1983, pp. 3–10. 7 See Karen L. Bowen and Dirck Imhof, Christopher Plantin and Engraved Book Illustration in Sixteenth-Century Europe, Cambridge and New York 2008. 8 Melion 1993 (note 5), pp. 56 f.; id., Shaping the Netherlandish Canon, Chicago and London 1991, p. 152. 9 See Carl Goldstein, „Le musée imaginaire de l’Académie aux XVIIe et XVIIIe siècles,“ in: Les musées en Europe à la veille de l’ouverture du Louvre (Actes du colloque organisé par le Service culturel du Musée du Louvre), Paris 1993, pp. 39–53; id., Teaching Art: Academies and Schools from Vasari to Albers, Cambridge and New York 1996, pp. 115–158. 10 Patricia Emison, „Raphael’s Multiples,“ in: Marcia B. Hall, ed., The Cambridge Companion to Raphael, Cambridge and New York 2005, pp. 186–206. 11 William M. Ivins, Jr., Prints and Visual Communication, Cambridge 1969, p. 61. 12 See most recently, Marianne Le Blanc, D’acide et d’encre: Abraham Bosse (1604?–1676) et son siècle en perspective, Paris 2004; Abraham Bosse, savant graveur: Tours, vers 1604–1676, ed. by Sophie JoinLambert and Maxime Préaud, exh. cat. Paris, Bibliothèque Nationale de France; Musée des Beaux Arts de Tours 2004. 13 The literature is extensive. For an overview, see Le Blanc 2004 (note 12), pp. 143–166; Paris/Tours 2004 (note 12), pp. 64–70. 14 All references will be to Abraham Bosse, Le peintre converty aux règles de son art, Sentiments sur la distinction des diverses manières de peinture, dessin et gravure, et des originaux d’avec leurs copies, ed. by Roger-Armand Weigert, Paris 1964. 15 See Goldstein 2008 (note 1), pp. 379–386. 16 For the following, see Bosse/Weigert (note 14), pp. 134–140; cf. Carl Goldstein, „French Identity in the Realm of Raphael,“ in: Hall 2005 (note 10), pp. 237–260. 17 Bosse/Weigert (note 14), p. 149. 18 Giovanni Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori ed architetti moderni, Rome 1672, trans. Erwin Panofsky, Idea: A Concept in Art Theory, New York 1968, pp. 172–176. 19 Bosse/Weigert (note 14), pp. 153–159. 20 Ibid., pp. 120 f.: „Il tient donc qu’à toute rigueur l’on ne peut donner le titre d’original qu’à une chose de laquelle on ne puisse trouver la semblable dans la nature, ainsi qu’un tableau représentant divers corps et dont la forme ne soit connue qu’à celui qui la fait, car de faire la représentation ou
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portrait d’une chose connue quoique naturelle, elle ne peut prendre que le nom de copie d’après cette naturelle. Mais lorsqu’on fera une copie dudit tableau, il se peut nommer l’original d’icelui.“ Ibid., pp. 166–169. Walter Benjamin, „The Work of Art in the Age of Mechanical Production,“ in: Hannah Arendt, ed., Illuminations, New York 1968, pp. 217–251. Ibid., p. 220. See Landau/Parshall 1994 (note 3), pp. 131–146. Rebecca Zorach and Elizabeth Rodini, „On Imitation and Invention: An Introduction to the Reproductive Print,“ in: Chicago 2005 (note 3), pp. 7–9. Bosse’s example is equally clear-cut, a small Descent from the Cross etched by Annibale Carracci on so irregular a copper plate as to be impossible to replicate, see Bosse/Weigert (note 14), pp. 167 f. Landau/Parshall 1994 (note 3), pp. 134–142. Ibid., p. 141. Bosse/Weigert (note 14), pp. 154 f. Christopher Wood, Forgery, Replica, Fiction: Temporalities of German Renaissance Art, Chicago 2008, pp. 16 f.; see also Donald Posner, „Concerning the ‘Mechanical’ Parts of Painting and the Artistic Culture of Seventeenth-Century France,“ in: The Art Bulletin 75, 1993, pp. 583–598, here pp. 590–594. André Félibien, ed., Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture pendant l’année 1667, Paris 1668. Ibid., pp. 41–62. Ibid., p. 16. Ibid., pp. 76–101. Alain Mérot, ed., Les Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture au XVII e siècle, Paris 1996; Goldstein 1993 (note 9), pp. 43 f. Stephen Bann, Parallel Lines: Printmakers, Painters and Photographers in Nineteenth-Century France, New Haven and London 2001. Goldstein 1996 (note 9), pp. 119 f.
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Rudolf Preimesberger
Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten in Genua. Gattungsfragen I. Ende Januar des Jahres 1646 – es mag zwischen dem 29. und 31. gewesen sein – nähert sich ein Besucher der Stadt Genua. Es ist ein Besucher aus dem Norden. Er kommt auf dem Landweg. Allein, auch sein Weg wird ihn schließlich über das Meer führen. Denn wie viele Besucher der Stadt fährt er bis zum Leuchtturm von Porto, verlässt dort die Kutsche und besteigt ein Boot. Er tut gut daran, denn Genua hat nur zwei kurze in beide Richtungen befahrbare Straßen. Beide sind Sackgassen. Er sieht vor sich die Bucht, deren knieförmige Gestalt der Stadt wahrscheinlich einst den Namen „Genua“ gegeben hat. Er sieht Hafen und Arsenal, dahinter zum Gebirge ansteigend die Stadt. Er hat den schon von Petrarca gerühmten erstaunlichen Anblick einer über einen Kilometer langen geschlossenen Fassade aus weißem und schwarzem Marmor vor sich, mit der die Stadt sich dem Meer zuwendet; dies in Gestalt einer ununterbrochenen Reihe schmaler zinnenbekrönter Turmpaläste, nur zwei Achsen breit, jedoch vier oder fünf Geschosse hoch, ein Anblick, den die ehedem rivalisierenden Städte, das versunkene Amalfi, das verlandete Pisa, das verbaute Neapel, 1646 nicht mehr zu bieten haben. Er sieht vom Wasser aus einen von Grund auf modernisierten inneren Festungsgürtel. Ende Januar 1646 sieht er jedoch auf den Bergen bereits ein gewaltiges äußeres Verteidigungssystem, die Gipfel besetzt mit einer Kette modernster Forts, oberirdisch wie unterirdisch untereinander verbunden. Sie begegnen mit Erfolg der konstanten Bedrohung durch den Herzog von Savoyen, der sein Ziel einer Annexion Liguriens in der Tat erst beim Wiener Kongress erreichen wird.1
II. Genua hat bis zum 19. Jahrhundert nur ein Zentrum: die Hafenregion mit der Portikusstraße des 12. Jahrhunderts von über einem Kilometer Länge. Der Besucher legt hier an. An der Hauptmole des Hafens, dem molo imperiale, liegt das Haupttor der Stadt. Er betritt sie vom Wasser aus.2 Eine moderne Stadtplanung gibt es erst seit etwa 1550 und dies nur peripher, die Strada Nuova am oberen Rand der Stadt. In das mittelalterliche Gefüge greift die Planung nur Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 137
punktuell und zögernd ein.3 Ein ungefähr rektangulärer Platz in unmittelbarer Nähe des molo imperiale wird damals ausgebrochen. Der Besucher, von der Mole durch das Stadttor kommend, erblickt ihn nach wenigen Schritten zu seiner Rechten. Es ist ein neuralgischer Punkt. Er kann noch das Tor der karolingischen Stadt, er kann dahinter das frühmittelalterliche, das römische, das ligurische Genua erahnen, während er selbst auf dem Terrain des mittelalterlichen Borgo steht, der erst 1155 Teil der Stadt geworden war. Er sieht ein theatrum urbanen Lebens. Er sieht die eben erst errichtete neue Börse. Er sieht im Erd- oder Botteghengeschoss der Paläste eine Reihe von Banken. Die Durchdringung von privatem und öffentlichem, von wirtschaftlichem und kirchlichem Leben mag er an der den Platz beherrschenden Kirche San Pietro dei banchi bemerken, die, ein Überbau in des Wortes wahrster Bedeutung, auf einer Basis vermieteter Botteghen ruht.4 Der Besucher wendet sich ab und geht in die andere Richtung. Genua hat kaum Straßen. Eine Ausnahme gibt es seit jeher: den prähistorischen Pfad, der vom Hügel von Sarzana seinen Ausgang nimmt, parallel zur Küste und zum Hafen verläuft, dabei eine Reihe von Bachtälern überquert, aus denen Fußwege, Schleifwege und schließlich schmale Gassen geworden waren, alle mit dem einen Ziel: Meer und Anteil am Hafen! Erst das Quattrocento hat ihn zur Via San Luca auf eine Breite von maximal vier Metern geweitet, befahrbar nur in Ausnahmefällen und nur in eine Richtung.5 Der Besucher geht auf ihm. Er stößt auf einen Platz, der keine zwanzig Jahre vorher ausgebrochen worden war. Er steht vor der Kirche San Luca. Die Beengtheit des Platzes mag ihn verwundern. Sie kommt nicht von ungefähr. Die Kirche, ius patronatus der altadeligen Familienverbände Spinola und Grimaldi und deren kirchlicher Mittelpunkt, ist, wie er auf einer mittelalterlichen Marmortafel an der Fassade lesen kann, eine Gründung des Jahres 1188.6 Oberto Spinola, Verteidiger der Existenz und der Rechte der Republik, achtmal Konsul, als Kriegsherr mit dem altrömischen Titel eines „Vaters des Vaterlandes“ ausgezeichnet, Sieger über die Korsen vor Korsika, über die Sarazenen bei Ventimiglia, über die im tyrrhenischen Meer konkurrierende Seerepublik Pisa und im östlichen Mittelmeer Sieger über die Flotte des Saladin, des Wiedereroberers Jerusalems, hat sie gestiftet. Der Name Oberto Spinola ist 1646 längst ein Mythos, Symbolname für die vergangene Größe des genuesischen Seeimperiums im Mittelmeer, mit Stützpunkten von Spanien bis Ägypten, ins Heilige Land und ans Schwarze Meer: Genua, eine führende Seemacht, siegreicher Rivale Amalfis und Pisas und ewiger Rivale Venedigs. Es ist kein Mythos allein. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dem Besucher die immense Bedeutung der Namen Spinola und Grimaldi für die politische Gegenwart Genuas geläufig; geläufig, dass sie seit der Verbannung der Fieschi als die zweite und dritte Familie der Republik nach den Doria gelten.7 Kaum dürfte dem Besucher von 1646 allerdings bewusst sein, dass in der Kirchenstiftung des Jahres 1188 sich mehrere historische Prozesse spiegeln. Zum einen: der Feudal adel Liguriens, der nicht in die karolingische civitas auf dem Hügel, sondern in den burgus 138 | Rudolf Preimesberger
davor strebt; in den burgus mit dem freien Zugang zum Meer und der ungehemmten Möglichkeit bewaffneten Fernhandels, einem die Bucht fast ausfüllenden ansteigenden Areal, das erst 1155 unter dem Druck der Italienpolitik Friedrich Barbarossas ummauert und Bestandteil der von Reichsitalien sich lösenden civitas geworden war.8 Zum anderen: der darauf fußende historische Aufstieg Genuas zu einer der führenden und schließlich zur führenden Finanzmacht Europas. Die Rolle Genuas für den enormen Finanzbedarf der spanischen Monarchie dürfte dem Besucher bewusst gewesen sein. Es dürfte ihm bekannt gewesen sein, dass seit dem berühmten Abfall des Andrea Doria von Frankreich im Jahr 1528 und dem Bündnis mit Karl V. sämtliche Kriege der spanischen Monarchie mit riesenhaften genuesischen Darlehen, den sogenannten asientos, geführt wurden. Er dürfte auch um die enorme geopolitische und strategische Bedeutung Genuas für die spanische Monarchie als Beginn der berühmten, über Mailand, das Veltlin und das Rheintal führenden Landbrücke zu den spanischen Niederlanden und den dortigen Kriegsschauplätzen gewusst haben. Es dürfte ihm der Name des 1630 verstorbenen Ambrogio Spinola bekannt gewesen sein. Spinola, seit 1602 in spanischen Diensten in den Niederlanden, nach der Eroberung Ostendes Oberbefehlshaber, dann Hauptunterhändler im zwölfjährigen Waffenstillstand von 1609, 1620 in der Pfalz gegen die protestantische Union, 1625 der Eroberer von Breda – und Hauptheld in Diego Velázquez’ Gemälde zu diesem Ereignis –, zu Ende seines Lebens wegen seiner konziliatorischen Politik bei Philipp IV. in Ungnade gefallen, Gouverneur von Mailand und während der Belagerung von Casale im mantuanischen Erbfolgekrieg verstorben. Nicht mehr bewusst ist dem Besucher von 1646 wahrscheinlich der unglaubliche Partikularismus im genuesischen Gemeinwesen, die Stärke der einander bekämpfenden und sich verbündenden Familienverbände; nicht mehr bewusst, dass Oberto Spinola 1188 die Kirche auf dem Terrain seines Schwiegervaters Oberto Grimaldi gestiftet hatte, inmitten der sozialen und baulichen Organisation einer adeligen Personengemeinschaft, für die man wenig später den Begriff des albergo prägen sollte. Sie ist autark, der Stadt gegenüber festungsartig abgeschlossen, durch ein Tor zu betreten, mit Wohntürmen, Bad, Brunnen, Ofen und – einer Kirche. Diese ist eine genuesische Sonderform der Eigenkirche, bei deren Gründung Sicherheitsaspekte im Vordergrund stehen. 1189 bestätigt der Bischof, die Spinola könnten im nahegelegenen San Siro nicht ungefährdet die Messe besuchen oder begraben werden. 1194 richteten die rivalisierenden della Volta im Garten von San Siro immerhin ein Katapult gegen sie auf.9 Es lag in der Natur der Kirchengründung von 1188, dass sie nach kirchenrechtlicher Unabhängigkeit zu streben hatte. Bereits 1197 erreicht man von Papst Cölestin III. die Exemption von San Siro. 1485 gibt der genuesische Papst Innozenz VIII. Cibò die Erlaubnis, an San Luca eine Collegiata, ein Weltpriesterkolleg mit einem Probst an der Spitze, Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 139
zu errichten. 1589 bestätigt Papst Sixtus V. das entscheidende Privileg: San Luca ist eine Gentilizpfarre für alle Mitglieder der Häuser Spinola und Grimaldi, unabhängig davon, wo diese innerhalb der Mauern Genuas wohnen; zusammen mit ihren Abhängigen ein nach Hunderten zählender Personenverband, der hier seinen religiösen Verpflichtungen wie dem kontrollierten Sakramentenempfang nachzukommen hat. Die Spuren des hochmittelalterlichen albergo kann der Besucher 1646 in der bis heute fortbestehenden Massierung von Palästen erkennen, die allesamt die Namen Spinola oder Grimaldi tragen, mit dem Palazzo Grimaldi Spinola di Pelliceria an der Spitze. Eines ist ihnen gemeinsam: Sie überragen die Kirche San Luca in ihrer Mitte. Der Neubau der Kirche stammt wahrscheinlich von dem lombardischen Architekten Carlo Mutoni. Er ist erst 1626 bis 1628 errichtet worden; die Weihe erfolgt durch ein Familienmitglied, Vincenzo Spinola, Bischof von Brugnato. Die Entscheidung für einen Neubau hat mit dem für die genuesische Kirchenarchitektur charakteristischen Modernisierungsschub als Folge der Visita apostolica des Francesco Bossio vom Jahr 1582 zu tun. Damals waren die Spinola und Grimaldi bereits mit der Forderung nach einem Neubau konfrontiert worden. Sie sind ihr spät nachgekommen.10
III. Der Besucher betritt San Luca. Das Innere bietet ihm keine Überraschung. Es ist ein langgestreckter Kuppelbau. Zentralbau und Längsbau sind in ihm übereingebracht. Er sieht unter der Kuppel einen im Jahr 1646 noch provisorischen Hochaltar, dessen Gestalt wir nicht kennen. In dem kurzen Kirchenschiff, in dem er steht, sieht er zur Rechten einen Seitenaltar mit dem überlebensgroßen Kruzifix des Florentiners Francesco Fanelli, der schon 1609 von Giovan Domenico Spinola gestiftet worden war,11 zur Linken aber, auf der liturgisch würdigeren Evangelienseite, einen Altar mit einem Gemälde der Geburt Christi, etwa vier Meter hoch (Abb. 1). Er steht er vor einem Spitzenwerk der modernen genuesischen Malerei.12 Ist der Besucher vom Januar 1646 ein Protestant, so verwundert er sich wahrscheinlich über Dreierlei: Zum einen über die Rolle und Größe des Bildes über einem Seitenaltar, vielleicht auch über die besondere Pracht und ostentative Kapitalverschwendung in den modernen genuesischen Kirchenbauten überhaupt; zum zweiten wohl darüber, dass man in dem provisorischen Sakramentstabernakel über dem Hochaltar die konsekrierten Hostien verwahrt und erklärt, in ihnen sei der Leib Christi in „permanenter Realpräsenz“ dauernd gegenwärtig. Noch mehr verwundert er sich bei längerer Beobachtung aber wohl darüber, dass man hier die Kommunion auch außerhalb der Messe empfangen kann. Es kommt ein Priester in Chorhemd und Stola, nimmt den Speisekelch aus dem Tabernakel über 140 | Rudolf Preimesberger
1 Giovanni Benedetto Castiglione, Anbetung der Hirten, 1645, Genua, San Luca
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dem Hochaltar, setzt ihn auf die Mensa des Hochaltars und macht eine kurze Adoration. Er trägt den Speisekelch zu dem Seitenaltar der Evangelienseite mit der Darstellung der Geburt Christi, setzt ihn auf dessen Mensa, macht nochmals eine kurze Adoration und spendet dem Kommunikanten, der ihn dort kniend erwartet hat, die Eucharistie. Der Besucher be2 Giovanni Benedetto Castiglione, Anbetung der Hirten, 1645, obachtet mit anderen Worten Genua, San Luca (Detail) den Sonderritus der communio extra missam, den die Reformorden wie Jesuiten oder Theatiner propagierten, um die Häufigkeit des Kommunionempfangs zu fördern.13 Nur wenige Schritte entfernt hatten die Theatiner, die den Riesenkomplex von San Siro 1575 von den Benediktinern übernommen und die Kirche von Grund auf neu errichtet und 1610 eingeweiht hatten, den ersten Seitenaltar der Evangelienseite zu einem Altar für die communio extra missam gemacht; dies mit einem Weihnachtsbild des Pomarancio und mit zwei Engelliturgen in Marmor von der Hand Giuseppe Carlones, die dort die Altarmensa tragen.14 Dieselbe räumliche Konstellation, dasselbe Thema des Altargemäldes, dieselbe Zweckbestimmung in San Luca, fast dieselben Engelliturgen, jedoch nicht zu Füßen der Altarmensa, sondern im Gemälde! Was ist die Folge? Mit einem Blick, ob in Zustimmung, Gleichgültigkeit oder Ablehnung, versteht der Besucher die Anbringung eines Weihnachtsbildes an dieser Stelle. Es ist da, weil hier der eucharistische Leib Christi ohne Messe gespendet wird, das heißt: ohne den erinnernden und unblutig wiederholenden Bezug auf das Kreuzesopfer auf Golgatha, dessen Bild seinen Platz über dem gegenüberliegenden Altar der Epistelseite hat. Es ist da, weil das Weihnachtsgeschehen eucharistisch gedeutet ist, weil Christus im Stall von Bethlehem und im Sakrament des Altars, alles andere als zum ersten Mal, hier in eins gesehen sind. Beobachtet der Besucher den Ritus der communio extra missam, so wird er auch eine Besonderheit des Weihnachtsbildes spontan verstehen: Vier Engel zeigt das Gemälde, darunter einen, der mit gefalteten Händen adoriert (Abb. 2). Er ist begleitet von einem Engelputto. In der zeitgenössischen Terminologie ist dies kein putto antico, sehr knapp gesagt also kein kleiner Erwachsener, sondern ein putto moderno frei nach François Duquesnoy und Nicolas Poussin und, wiederum sehr knapp gesagt, folglich ein in seinem thematischen Decorum, sprich: seiner Kindlichkeit, betonter Putto.15 Seiner frühkindli142 | Rudolf Preimesberger
chen Natur, seinem Wesen oder seinem Modus entsprechend, adoriert er nicht, sondern betrachtet von oben kindlich und ehrfürchtig. Nicht weniger als zwei der vier Engel sind Engelliturgen. Sie tragen das Rauchfass, das Schiffchen und den Löffel für den Weihrauch in Händen. Anders als in San Siro sind sie Bestandteil des Altarbilds und der in ihm gezeigten Handlung. Sie beweihräuchern das Kind und die Krippe, als ginge es um die Inzension einer in der Monstranz auf dem Altar zur Adoration exponierten Hostie, als ginge es um die Inzension des Altars am Beginn der feierlichen Messe. Was hier gesehen und unter günstigen Umständen folglich auch verstanden werden konnte, ist die nachreformatorisch zugespitzte Variante des uralten Theologumenons von der Identität des inkarnierten mit dem eucharistischen Christus. Sehr früh, schon beim Verfasser des Johannesevangeliums, ist die Lehre vom sakramentalen Charakter der Menschwerdung Christus selbst in den Mund gelegt; dies in den Worten, er selbst sei das „Brot des Lebens, das vom Himmel herabkommt“ (Johannes 6, 48–51). Schon die frühe Exegese deutet Bet-lehem als domus panis, das „Haus des Brotes“. Alle die Gemeinplätze von der Eucharistie als dem „Brot vom Himmel, das alle Wonne in sich birgt“, von dem „Brot der Engel“ und so weiter konvergieren in dem einen Theologumenon von der Identität des inkarnierten mit dem eucharistischen Christus, historisch erschienen als das Kind in der Krippe von Bethlehem, sakramental gegenwärtig in der Gestalt des Brotes. Ungleich stärker und handgreiflicher als ältere symbolisch strukturierte Weihnachtsdarstellungen, wenn man will: in einer argumentatio ad hominem, zeigt das Gemälde seinen spezifisch eucharistischen Gehalt. Dass er dem fremden Betrachter vom Januar 1646 aufgefallen sei, ist natürlich eine Konjektur. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber fiel er den über die Stadt verstreuten Mitgliedern der Gentilizpfarre Spinola-Grimaldi auf, spätestens dann, wenn sie einmal im Jahr bei der bindend vorgeschriebenen und kontrollierten Osterkommunion ihren religiösen Pflichten nachzukommen hatten; mit Sicherheit den Mitgliedern des Weltpriesterkollegs an San Luca, die mit dem Probst an der Spitze ihren täglichen Dienst in der Kirche zu versehen hatten; mit Sicherheit dem die Kirche besuchenden Laien, wenn er ein devoto oder Mitglied einer der zahlreichen genuesischen Bruderschaften war, er also zu einem Zielpublikum öffentlicher oder halböffentlicher religiöser Bilder gehörte; mit großer Sicherheit dem Stifter und Auftraggeber des Gemäldes, der es vor der beschränkten und der breiten Öffentlichkeit zu verantworten hatte. Er ist merkwürdigerweise bisher unbekannt geblieben, weil er mit der mutmaßlichen Stifterin des Altaraufbaus, Vittoria Spinola, nicht zwingend identisch sein muss.16 Ein Wort zu Castigliones Technik: Zwei Engelliturgen sind es, die mit der Inzensierung beschäftigt sind, einer Tätigkeit, die innerhalb der weiten Grenzen des biblischen verisimile zwar nicht unmöglich, kein Adynaton ist, vom Standpunkt eines streng biblischen Historienbildes aber dennoch eine Lizenz darstellt. Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 143
Um eine solche geht es in der Tat. Es geht, kurz gesagt, um eine allusive Vorwegnahme der Gegenwart von 1646 im Gemälde. Denn was bezeichnet prolepsis oder anticipatio anderes als die „Vorwegnahme eines Ereignisses durch ein attributives Adjektiv oder Partizip, das dieses als bereits eingetreten annehmen lässt“; was anders bedeutet sie – im narrativen Sinn – als den „in die Mitte einer langen ‚narratio’ eingelegten Ausblick auf den Erzählausgang und den heutigen Zustand der Erzählungslandschaft“.17 So auch hier: Die Engel im Gemälde nehmen eine liturgische Realität der Gegenwart von 1646 im Kirchenraum vor dem Gemälde vorweg, nämlich die Inzensierung des in der Monstranz exponierten Allerheiligsten und die Inzensierung als Eröffnungsritus in der Messe. Es geht um eine echte prolepsis, die das geschichtliche Ereignis an die Gegenwart bindet: die künftige Verehrung des sakramentalen Christus schon bei seiner Geburt. Ob Scaligers Unterscheidung zwischen „weicher“ und „harter“ Prolepse hier greift, ob Castiglione, ob seine Beurteiler dafür den daraus gewonnenen Terminus des dolce anacronismo im Mund führten, bleibe dahingestellt.18 Ob prolepsis oder anacronismo, eines ist sicher: Die historische Distanz des Historienbildes ist hier unterlaufen; nicht durch die Engel, sondern durch zwei Details, die Bestandteil des Bildes sind und die zugleich der Tendenz nach aus ihm herausfallen. Die Rede ist von den pointiert zeitgenössisch dargestellten silbernen liturgischen Geräten in den Händen der Engel, von Rauchfass und Schiffchen; beide fatte con amore und brillant gemalt in einem pastosen Weiß, fast wie von Bernardo Strozzi, beide von besonderer dinglicher Treue, mit besonderer Sorgfalt ritratte dal naturale, fast Porträts, zwei kleine Stillleben im Gemälde, die sich bei sorgfältigerer Analyse auch als Beispiele einer Ästhetik des Details erweisen könnten.19 Das Rauchfass, in der längst verblassten mittelalterlichen Symbolik Sinnbild für das Fleisch Christi, für Apostel und Prediger, ist am deutlichsten in die Bildfläche gesetzt. Es besetzt exakt die Grenzlinie zwischen dem mittleren und dem oberen Drittel der Malfläche. Die rechte Hand des Engels hingegen, die es hält, besetzt exakt die vertikale Mittelachse des Gemäldes. Die visuelle Pointe oder argutezza dieser Anbringung ist leicht zu durchschauen. Nur der Umstand, dass der Engel das Rauchfass beim Inzensieren hin und her zu schwenken hat, lässt es nach links ausschwingen. Hinge es ruhig in der Hand des Engels, so besetzte es genau die senkrechte Mittelachse des Gemäldes.
IV. Wir wissen nicht, ob der Besucher vom Januar 1646 nicht ein Libertin des 17. Jahrhunderts war, der nicht den religiösen Gegenstand, sondern den diletto im Gemälde suchte. 144 | Rudolf Preimesberger
War er ein an moderner italienischer Malerei interessierter dilettante, dann wusste er, dass Grechetto, Greghetto, wohl der „kleine Grieche“, der Rufname Giovanni Benedetto Castigliones war und dieser, 1609 in Genua geboren, seine Ausbildung zunächst in dem nach Art einer Akademie eingerichteten studio des Giovanni Battista Paggi, seit 1627 von Sinibaldo Scorza und Andrea de Ferrari erhalten hatte.20 Der Besucher wusste dann auch um den qualitativen Sprung: Castiglione war zwischen 1627 und 1632 nach Rom aufgebrochen, wo er seit 1632 als Mitglied der Accademia di San Luca geführt wird und in einer Reihe von Sitzungen nachgewiesen ist. Er war dort auf den Personenkreis um Nicolas Poussin, auf Pietro Testa, Pier Francesco Mola, Salvatore Rosa und wohl auch auf Pieter van Laer und andere bamboccianti gestoßen. Der erste schriftliche Beleg, der ihn als Fachmaler und Spezialisten einer Gattung mit den Worten „der, der die Reisen Jakobs oft malt“ ausweist, stammt von 1635, sein erstes überliefertes Werk von 1633.21 Gemeint ist hier der biblico viaggio patriarcale, der sich vor allem durch Jacopo Bassano als Gattung in Spannung zur biblischen Historie konstituiert hatte. Castiglione ist der erste, der ihn systematisch und konstant thematisiert.22 Im Rom der dreißiger Jahre war es vor allem in Anlehnung – und Kritik – an Poussin zu einer Transformation seiner Bildwelt gekommen. „Er beflisse sich sehr der antichen manier und machte viel pilden […] aus den alten Historien in Landschaften“ schreibt Joachim von Sandrart.23
V. 1639 ist Castiglione wieder in Genua. Das Gemälde für San Luca, von ihm 1645 signiert und datiert, ist nicht allein der Ausgangspunkt einer ganzen Reihe kleinerer Variationen gewesen, wie der vorzüglichen Version auf Kupfer aus dem Louvre, die er 1659 datiert hat, oder, weniger befriedigend, der reduktiven Variante im Palazzo Bianco, an der der Bruder oder der Sohn beteiligt gewesen sein dürfte.24 Für Castigliones Laufbahn ist es ein Durchbruchsbild! Erstmals konnte er in das höhere Fach, das große Altarbild für eine Kirche, wechseln, obwohl er Aufträge der genuesischen Nobilität für Galeriebilder im größeren Stil schon vorher erhalten zu haben scheint, von den Spinola, Raggi, Balbi, Doria, Durazzo, Invrea und Lomellini. Sein Sozialverhalten war dem nicht immer förderlich. „Stravaganza e fierezza“ schreibt Nicola Pio ihm zu, dass er „in patria più temuto che amato“ gewesen sei, und berichtet in anekdotischer Form von einem Vorfall des Jahres 1647, der ihn wieder nach Rom fliehen ließ.25 Das Gemälde in San Luca ist etwa vier Meter hoch. „Grande e maestosa“ ist die erste überlieferte Charakteristik, die bei dem 1612 geborenen Raffaele Soprani in seiner 1674 postum veröffentlichten Vitensammlung genuesischer Künstler überliefert ist: „Parlerò Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 145
dalle sue opere fatte, & esposte in publico, e per prima rappresentamisi la Nascita del Bambino Giesù, colorita in tela ad olivo, grande, e maestosa, posta nella Chiesa dell’Evangelista San Luca nella Citta di Genova: & essendo questa ornata di Gloria d’Angeli in varie attitudini disposti, con comitiva di Pastori, San Giuseppe, e la Vergine Madre, che oltre la divotione recano una tal allegrezza, che ogni riguardante ne resta consolatissimo“.26 Soprani fügt als Ausdrucksqualität und Wirkung des Gemäldes „allegrezza“ hinzu, wohl zu wenig, um die Begriffe auf die Aufzählung der „modi“, die Annibale Carraccis Galleria Farnese in sich vereine, zu beziehen: auf „maestà, gravità, grazia und leggiadria“. „La tavola della Natività di Nostro Signore è del Grechetto, ed è in genere di storia la più bell’ opera, che di lui s’abbiamo,[…]“ schreibt Giuseppe Ratti.27 „In genere di storia“! Castiglione, sechs Jahre zuvor aus Rom zurückgekehrt, löst die Aufgabe einer storia sacra mit lebensgroßen Figuren an einem öffentlichen Ort auf römischem und auf akademischem Niveau. Er konstruiert das Gemälde natürlich als ein Drama, und wie im guten Drama ist keine Figur zuviel! Keine wiederholt sich. Jede spielt ihre eigene Rolle. Jede hat ihr offitium, hat Amt, Pflicht und Aufgabe, um gemeinsam mit den anderen die Handlung oder storia zustande zu bringen. Der wirkungsästhetische Kunstgriff, die Beschränkung der Figurenzahl nach dem Muster einer Tragödie, ist alt und aktuell zugleich. Abgezählte elf Figuren – die Heilige Familie macht drei, dazu vier Hirten und vier Engel –, genau wie schon Leon Battista Alberti es empfohlen hatte, um den größten Fehler der Kunst, die Langeweile des Betrachters, sein taedium, zu vermeiden. Mehr als das! Mit der regelhaften Beschränkung der Figurenzahl beantwortet Castiglione zugleich eine aktuelle Frage: Wenige oder viele Figuren im Gemälde? Soll das gute Historienbild der strengen knappen Tragödie ohne jede Nebenhandlung folgen, oder dem breit erzählenden Epos, das die Episode zulässt? Man weiß, dass die Frage damals aktuell ist. Man weiß, dass sie just in der Zeit, in der Castiglione in Rom war, an der dortigen Lukasakademie, an deren Sitzungen er teilnahm, öffentlich diskutiert wurde: in der berühmten Kontroverse zwischen Andrea Sacchi, dem Anhänger des tragischen Handlungskonzepts mit wenigen Figuren im Gemälde, und Pietro da Cortona, dem Vertreter der reich ausgeschmückten epischen Handlung mit vielen, auch überflüssigen und nur schmückenden Figuren und einem Kranz von Nebenhandlungen rund um die Haupthandlung, wenn diese nur der Haupthandlung „incatenate“, also „verkettet“, sind, wobei beide Seiten bei ihrer Argumentation sich desselben Grundtexts der europäischen Kunsttheorie bedienten, der Tragödientheorie des Aristoteles in seiner Poetik.28 Es ist kaum als ein Zufall, sondern eher als ein Programm zu verstehen, wenn Castiglione in seinem ersten großen religiösen Historienbild an einem öffentlichen Ort hohen Rangs, der Gentilizkirche im Herzen Genuas, die zudem dem Patron der Malerei, dem Hl. Lukas, geweiht ist, diesem aktuellen Gattungsdiskurs der römischen Lukasakademie 146 | Rudolf Preimesberger
folgt und er zum einen ein Muster an Beschränkung der Figurenzahl nach dem Vorbild einer Tragödie malt und zum anderen eine einzige Handlung konstruiert, ungestört von jeder Nebenhandlung oder Episode. Eine Handlung wie aus einem Guss! Denn nicht allein die Personen, auch Esel, Hund, die zwei Enten und der Truthahn, sogar Korb, Laterne, Efeu sind eng an sie geknüpft. Für sich genommen ist die Handlung natürlich hochkonventionell: Betrachtung, Verehrung, Anbetung des Kindes von Bethlehem; Erahnen, halbes Erkennen und Erkennen seiner in der Inkarnation verhüllten göttlichen Natur. Ein Psychodrama! Dies in der üblichen zentripetalen Form! Maria und das Kind sind der links gelegene Mittelpunkt eines Bogens, an dem sich die Figuren orientieren. Alle sind ihm zugewandt. Alle reagieren auf das Kind. Die uralte Formel, etwas Bedeutendes in seiner Bedeutung zu steigern, indem man es sich in den Ausdrucksregungen der Umstehenden spiegeln lässt, ist hier einmal mehr angewendet. Mannigfaltigkeit ist das ästhetische Postulat, das auch hier demonstrativ eingelöst ist. Es herrscht varietà der Affekte und ihrer Bekundung, mit der immerhin acht der zehn handelnden Figuren auf das Neugeborene blicken. Die drei Hirten rechts sind – als Mann, Jüngling und Knabe – in kunstvoller varietà der Lebensalter, im kunstvoll gedehnten Moment der einen Handlung, die sich in der Zeit entwickelt, zugleich in kunstvoller Mannigfaltigkeit ihrer Affekte gezeigt. Der bärtige Hirte betet das Kind bereits mit gefalteten Händen an. Sein Gesicht zeigt einen einfachen und ungemischten Affekt. Der Jüngling hinter ihm, als letzter angekommen, zieht noch den Hut. Er reagiert auf das, was er sieht und hört, mit einem stärkeren Affekt. Unter „Bewunderung mit Erstaunen“, „l’admiration avec étonnement“ wird Charles Le Brun ihn später kategorisieren und katalogisieren. Den stärksten Affekt im Bild hat Castiglione durch das Mittel des Kontrasts noch zusätzlich verstärkt, indem er ihn sich in der kindlichen Physiognomie des Hirtenknaben mit dem Truthahn im Arm mimisch spiegeln lässt: das Erschaudern, ja Erschrecken beim Anblick des Numinosen, „la frayeur“ bei Le Brun. Spätestens hier, und nicht allein an der sublimen antiken Trümmerarchitektur, zeigt sich, wie sehr die Handlung als eine Tragödie konstruiert ist. Beide Momente des sich anbahnenden Umschwungs der Handlung können an der Figur des Knaben abgelesen werden. Sie ist Träger einer Peripetie, wie Aristoteles und alle seine italienischen Nachfolger es nennen. Diese ist jedoch nicht allein durch ein äußeres umstürzendes Ereignis, sondern durch eine Erkenntnis, Erkennung oder anagnorisis hervorgerufen: das plötzliche Erkennen der Göttlichkeit des Kindes. Es ist ein attraktiver Gedanke, sich vorzustellen, dass Castigliones Verwandlung des Hirtenstücks in eine Tragödie sich einer rhetorischen Technik, der der Übertragung in die andere, schwierigere Gattung, der metabasis eis allo genos verdanke; so als habe er die Standesklausel demonstrativ durchbrochen. Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 147
3 Pier Francesco Mola, Anbetung der Hirten, um 1640/43, Wien, Kunsthistorisches Museum
Fast sieht es ja so aus, als hätte Nicolas Poussins paradigmatisch konstruiertes Drama des plötzlichen Erkennens der Göttlichkeit des Kindes in dem Epiphanie-Gemälde der Dresdner Galerie von 1633 hier eine Rolle gespielt; jenes Gemälde, das Poussin, damals zum senatore vecchio der Accademia di San Luca geworden, mit der Signatur „Accad[emicus] Rom[anus] Nicolaus Pusin faciebat Romae 1633“ versah.29 Man muss Pier Francesco Molas um 1640/43 in Rom entstandene Anbetung der Hirten (Abb. 3) zum Vergleich heranziehen,30 um zu sehen, was auf Seiten Castigliones unter „sublimer Plötzlichkeit“, was unter anagnorisis und Peripetie, was unter einem Psychodrama zu verstehen ist. Wie sehr man das Drama der Erkennung im Gemälde auch als eine „Offenbarung an die Hirten“ im Wortsinn lesen kann, zeigen Handlungsrolle und Gestus der Jungfrau, die das Neugeborene zu enthüllen scheint. Enthüllen und Offenbaren sind im Italienischen bekanntlich vom selben Wort bezeichnet: eine „rivelazione“ des Tuchs oder Schleiers. Joseph, in Gestalt eines – man ist versucht zu sagen: kynischen – Philosophen mit Stock und im traditionellen Braun, ist eine wohl aus Poussin gewonnene Togafigur, dominant in der Mittelachse des Gemäldes herausgehoben, zur Seite gewendet, aber mit der Handlung auf das engste verflochten. Seine aktive Handlungsrolle wird doppelt 148 | Rudolf Preimesberger
klar, wenn man sie etwa mit dem schon genannten Weihnachtsgemälde Pier Francesco Molas vergleicht. Dort ist Joseph die nachdenklich betrachtende Reflexionsfigur zuseiten der Handlung. Ganz anders bei Castiglione! Joseph steht nicht stumm am Rande der Handlung, sondern in ihrer Mitte. Nur durch ihn kommt Sprache und dialogische Struktur ins Gemälde. Er allein macht aus der Anbetung der Hirten ein Sprechdrama. Er spricht zu ihnen und zeigt. Joseph in der Rolle des Vermittelnden. Warum? Die Antwort steht bekanntlich bei Matthäus. Das Geheimnis der Inkarnation wird nicht allein Maria in der Verkündigung geoffenbart. Auch Joseph ist Träger besonderer Offenbarung. Ihm erscheint des Nachts der Engel und spricht die Worte: „Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen, denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen […]. Joseph tat, wie ihm befohlen […] und gab ihm den Namen Jesus“ (Matthäus 1, 20–25). Es ist diese biblische Handlungsrolle des Wissenden, die der Figur im Gemälde zugrunde liegt. In der Tat ist ihr Handgestus nicht allein zeigend, sondern explikativ. Er lässt sich meines Erachtens als ein das Wort begleitendes „indicare“ im Sinne von „anzeigen, entdecken, verraten, bekannt machen“ dekodieren. Joseph „erklärt“ dem hinzugekommenen Hirten, was ihm selbst geoffenbart wurde. Jean-Honoré Fragonard scheint den Gestus so verstanden zu haben. Denn in seiner Zeichnung von 1761 zeigt er die rechte Hand Josephs voll geöffnet, wodurch sie unwillkürlich der Semantik des rationes profert – „er trägt Gründe vor“ – angenähert ist.31 Joseph also in der Rolle des erklärend Vermittelnden. Warum? Eine Antwort könnte in der Lektüre der Lukasperikope liegen, in der das Kind in der Krippe ein „Zeichen“ für die Hirten ist, das es „wiederzuerkennen“ und zu deuten gilt. Der Engel spricht zu ihnen: „Er ist der Messias, der Herr. Und dies soll euch zum Zeichen sein. Ihr werdet finden ein Kind in der Krippe […]“ (Lukas 2, 11–12). Ein Zeichen, das der Erklärung bedarf! Sollte es in Castigliones Konstruktion der Josephshandlung um die Erklärungsbedürftigkeit eines signum gehen? Denn das Zeichen der ersten Ankunft des Erlösers in seiner Inkarnation, betonen die Exegeten, sei das schwer zu verstehende signum der humilitas; erst das seiner zweiten Ankunft am Ende der Zeiten werde das leicht zu verstehende Zeichen der maiestas sein.32 Dem sei wie immer! Die heilsgeschichtliche Aufwertung Josephs, die im 15. Jahrhundert begonnen hatte, ist im 17. noch immer modern. Sie ist ein Anliegen etwa der Jesuiten und der habsburgischen Höfe beider Linien, der spanischen wie der deutschen. Sie wird zu einem Aufblühen des Josephskults im Norden, der Weihe des Königreichs Böhmen an ihn und der Benennung des übernächsten Kaisers mit dem Namen Joseph führen. „Geht alle zu Joseph, und was er Euch sagt, tuet“ (Genesis 41, 55). Das Gemälde scheint dies zu spiegeln. Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 149
VI. Was ist die invenzione des Gemäldes? Nach den vielzitierten Worten Tassos, die Nicolas Poussin wiederholt hat, gehört es zum Wesen der künstlerischen invenzione, dass sie nicht den Gegenstand „neu erfindet“, ihm aber „una nuova disposizione“ und „una nuova espressione“ verleiht, so dass er, obwohl altbekannt, dem Betrachter „wie neu und nie gesehen“ erscheine.33 Was ist die „nuova disposizione“ im Gemälde? Wie in einen inneren Rahmen eingelassen und zurückgesetzt erscheint die storia sacra der Geburt und Anbetung des Kindes, eingefügt in die noch kaum klar benannten künftigen Gattungen des Tierstücks und des Stilllebens: Hund, Truthahn, zwei Enten, Esel, Korb, Stroh, die Laterne auf dem Boden unter der Krippe umgeben es. Im theoretischen Disput haben sie, um ein größeres Problem nur kurz zu berühren, die schlechtesten Karten, sind sie die niedrigsten, ja die angefeindeten Gattungen. Gerade in Castigliones römischen Tagen ist der Gattungsdisput heftig. Er ist verschärft durch den Erfolg der bamboccianti bei den römischen Sammlern. Kernargumente der Gegner finden sich etwa in Testas Düsseldorfer Skizzenbuch: Das unbeseelte Objekt, das nichts ausdrücken könne; die falsche imitatio dessen, der ohne Auswahl nur Sichtbares nachahme; er sei kein Poet, sondern ein kunstloser Prosaiker. In Testas drastischen Worten: Wer auf Grund der Nachahmung unbeseelter und tölpelhafter Dinge den Titel eines Malers verdienen wolle, mache sich lächerlich, so wie wenn einer mit Nachttopf und Pfanne die Krone auf dem Parnass zwischen Vergil und Tasso anstrebte: „[…] e qui si fa ridicolo chi per l’imitazione di cose disanimate e goffe degli artefici vole il titolo di Pittore, come se uno che con il canto dichiarando che sia il cantaro e la padella pretendesse la corona in Parnaso tra Virgilio e Tasso […].“34 Nicht weniger drastisch sind Salvatore Rosas Worte von der Tiermalerei als einer „baronata“ oder Schurkerei. Und – in der sehr italienischen polemischen Wortwahl Andrea Sacchis in seinem Brief an Francesco Albani: Stillleben und Tierstück, da von Norden kommend, seien überhaupt eine „gotische Plage“.35 Seit seinem ersten bekannten Werk, einem Viaggio di Giacobbe von 1633,36 ist Castigliones Position erkennbar anders, gekennzeichnet durch die Tendenz, niedrige und hohe Gattungen zu verbinden und zu versöhnen, Tierstück, Stillleben, Sittenbild an die höhere und höchste Gattung, das Historienbild, ja die storia sacra, heranzuführen und ihnen, wenn man will, von daher Rechtfertigung und Begründung zu geben. Die Beispiele sind bekannt. Ein Gemälde wie Il Sacrificio di Noe des Palazzo Bianco in Genua zeigt die storia sacra, der das alles seine Existenz im Bild verdankt – Gott in der Wolke, der, vom Dankopfer des Noah bewegt, seinen Bund mit den Menschen ankündigt – in den Hintergrund gerückt.37 Die Betonung des Marginalen ist vollkommen. Zu beobachten bleibt das bekannte Phänomen der falschen Perspektive eines „verkehrten Historienbilds“. 150 | Rudolf Preimesberger
Von der Geschichte des Problems her gesehen, ist dies eine Art Rückkehr. Castiglione zelebriert etwas wie die Herkunft und die Frühzeit einer Gattung. Denn das Prinzip beruht ja auf der nördlichen Sonderform des „inverted stillife“, einer „pikturalen Häresie“ in Victor Stoichitas Worten, die in Opposition zur Norm steht. Der Initiator des „verdoppelten Bildes“ ist Pieter Aertsen. An paradoxe Bildstrukturen wie die seines Christus und die Ehebrecherin mit dem Marktstillleben im Vordergrund oder seines prototypischen Küchenstilllebens von 1552 mit den symbolisch aufgeladenen toten Gegenständen im Vordergrund und der sie rechtfertigenden biblischen Szene samt Motto im Hintergrund sei hier kurz erinnert.38 Das vergleichbare Prinzip der Verbindung und Durchdringung der hohen und der niedrigen Gattungen, die vergleichbare Marginalisierung des Bedeutenden, eine vergleichbare Bedeutungssteigerung des Marginalen mag man in dem Gemälde Castigliones, in dem Christus den Tempel reinigt und vom Hintergrund her die Händler und die Tiere aus dem Tempel dem Betrachter entgegentreibt, bemerken.39 Sollte die Struktur des Weihnachtsbildes von San Luca sich vor diesem Hintergrund besser verstehen lassen? Hoch und niedrig, hohe und niedrige Gattung in analoger Verbindung?
VII. Was aber ist die invenzione in der invenzione? Wohl der halbnackte Hirte mit den Zügen eines Faun, Pan oder Silvanus, bekränzt mit dem Lorbeer Apolls. Das Auftreten dieser dezidiert antikischen Figur in einem Altarbild der Geburt Christi ist überraschend und nicht ohne Irritation. Gemessen an Standarddarstellungen der Geburt Christi ist dies zweifellos eine absichtsvolle Abweichung vom Gewohnten, der consuetudo, und eine Abweichung von dem der Sache durch Gewohnheit zugeordneten treffenden Ausdruck, der proprietas. Es ist eine nicht nur spekulative Frage, ob dies im päpstlichen Rom, ob dies in der Kirche eines observanten Ordens, ob dies in einer regulären Pfarrkirche denkbar gewesen wäre, oder ob es mit dem besonderen, ja dem Ausnahmestatus der genuesischen Gentilizkirche San Luca und deren Eigentümern und Benutzern, die zur gesellschaftlichen Spitzengruppe der Republik zählten, ursächlich zusammenhängt. Die absichtsvolle künstlerische Abweichung vom Gewohnten heißt bekanntlich licentia oder parrhesia. Als künstlerische Freiheit in Gestalt einer licenza del fingere hat Castiglione sie offensichtlich ergriffen. In der Dichtungstheorie rechtfertigt sie sich aus drei Zielen: dem damit erzielten dramatischen Effekt, der Aussagekraft oder der Unterhaltung. Kriterium der inneren Stimmigkeit der Fiktion und damit auch Grenze der künstlerischen Freiheit ist die verisimilitudo oder Wahrscheinlichkeit. Man kann sich fragen, ob und inwieweit Castiglione sie in der seinem Gemälde inserierten Kunstfigur respektiert Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 151
oder überschritten hat. Denn seit jeher wird der künstlerischen Lizenz ja konzediert, dass sie einen unernsten, einen epideiktischen Charakter habe und dass sie mehr auf den ästhetischen Reiz als auf die Glaubwürdigkeit abziele; auf das Schöne, aber nicht Überzeugende, das apithanon, das Aristoteles allein schon in der metrisch gebundenen Form der Poesie gegenüber der Prosa gesehen hatte.40 Man weiß es: Von licenza del fingere spricht man, wenn historische Gegebenheiten um der größeren Geschlossenheit oder Wirkung des Werks, wenn sie um einer Idee willen umgeformt oder der Aussageabsicht des Dichters unterworfen werden. Lässt Castigliones Kunstfigur des Hirten sich in dieses poetologische Korsett schnüren? Soviel ist sicher: Sie ist Bestandteil des „inneren Rahmens“ des Gemäldes; genau genommen ist sie dessen Hauptbestandteil. Sie ist in der storia und zugleich vor der storia. Auf eine ganze Reihe von Sinneserfahrungen ist im Gemälde angespielt: auf das Gesicht in der starken Rolle fixierender Blicke – und halbironisch im Auge des Esels –, auf den Geruch im ästhetischen „als ob“ des Weihrauchs, auf nichts aber so pointiert wie auf das Gehör in Gestalt der Hirtenmusik, die das Gemälde laut erfüllen müsste, wäre die Malerei nicht ihrem Wesen nach stumm, ein tacens opus. Das Holzblasinstrument, das der Hirte mit Hingabe und aufgeblasenen Backen – die ihn nicht verschönern – bläst, ist bukolisch. Es ist ein der „Süße“ des Jesuskindes und des Geburtsthemas angemessener Dulzian, eine dulciana oder dolciana oder ein Fagott, wie das Instrument erstmals von Afranio degli Albornesi 1539 in Ferrara genannt worden war. Es ist ein modernes Instrument aus Ahorn-, Kirsch- oder Birnholz. Dulziane wurden in mehreren Stimmungen gebaut, insgesamt acht führt Michael Praetorius im zweiten Band seines Syntagma musicum von 1618–20 unter „fagotto“, „dolcesuono“ oder „dolciano“ auf: „Daher sie dann vielleicht wegen ihrer Libligkeit stiller und saenfter an Resonnz seind als die Pommern und deshalb Dolcianen quasi Dulcisonantes genennet […]“.41 Eine Sonderstellung unter den Dulzianen nimmt von Anfang an der 1592 erstmals so genannte Choristdulzian ein, der seinen Namen der Tatsache verdankt, dass er die Bassstimme des Chors verstärkte. Die italienische Bezeichnung fagotto chorista besagt, dass das Instrument als Unterstützung in Form eines basso continuo für den Kirchenchor Verwendung fand und als Orgelersatz diente. Es spielte eine tragende Rolle in der Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts. Es ist just jene Situation, die für San Luca zu erschließen ist. So wie heute hatte die Kirche auch 1645/46 zwar vier kleine Musikemporen, aber keine große Orgel. Erst 1690 wurden zwei kleine Chororgeln in den beiden vorderen coretti aufgestellt.42 Zu rekonstruieren bleibt für die Kirchenmusik in San Luca im 17. Jahrhundert der übliche a capella Chor, gestützt von einem Choristfagott als basso continuo. Das Instrument, das der Hirte in Händen hält, ist, gemessen an der Illustration bei Praetorius, in der Tat ein Choristfagott. Im Gemälde scheint es nur zu ertönen, in der Wirklichkeit vor dem Gemälde aber war es tatsächlich zu hören. Eine Pointe scheint mir 152 | Rudolf Preimesberger
jedoch darin zu bestehen, dass das stumme Instrument im Gemälde zu sehen war, das laute Instrument der Wirklichkeit aber nicht, da es unsichtbar aus einem der coretti ertönte. Für das Gemälde bedeutet die Einfügung des zeitgenössischen Instruments – von dem man sich am liebsten vorstellen würde, es sei ein Porträt – eine prolepsis der Gegenwart, oder besser gesagt einen dolce anacronismo in des Wortes wahrster Bedeutung. Sieht man von der offenbar schnatternden Ente ab, so bietet der Hirte im Gemälde dem Neugeborenen ein Solokonzert für Dulzian oder Fagott. Er ist damit sehr modern. Denn während Bartolomeo de Selma y Salaverde schon 1638 Phantasien a basso solo, darunter eine ausdrücklich für Fagott solo publiziert hatte, setzt die Literatur für das Fagott als Soloinstrument erst mit den neun Sonaten für Fagott von dem am Wiener Hof tätigen Giovanni Antonio Bertoli ein, die just im Jahr 1645 bei Vicentini in Venedig gedruckt wurden: Compositioni musicali fatte per sonare col fagotto solo.43 In demonstrativer – fast hörbarer – Weise gibt die dulciana in der Hand des bekränzten antiken Hirten bei der Geburt Christi den Ton an. Warum? Einmal mehr liegt es nahe, an das Rom unter Papst Urban VIII. Barberini zu erinnern, an dem Castiglione bis 1639 unmittelbar partizipiert hatte und weiter partizipierte, an die Bemühung um die Erforschung der antiken Musik und ihrer Tonarten als Vorbild für die Gegenwart, um daraus eine neue Dichtung und eine neue Malerei zu gewinnen, fähig, je nach gewählter Tonart auf die verschiedenen Gefühle des Rezipienten zu wirken. Für die Malerei verknüpft sie sich, um ein großes Thema wenigstens kurz zu berühren, vor allem mit dem Namen Nicolas Poussin. Es zählt zu den Grundtopen der Poussinforschung und -interpretation, dass er damit experimentiert habe, Malerei und Musik synästhetisch zu verbinden. Man weiß von seinem Programm, je nach der Gefühlslage des Gegenstands, den er darzustellen hatte, in verschiedenen Tonarten oder „modi“ der antiken Musik zu malen. Es zählt zu ihren Grundtopen, dass er in seinem berühmten Modus-Brief von 1647, gestützt auf Giuseppe Zarlino, fünf Tonarten oder „modi“, applikabel auf Musik und Poesie, nicht minder auf die Malerei, skizziert habe: den dorischen, „stark, schwer, streng“ und „voller Weisheit“, den „schärferen“ und „vehementeren“ phrygischen Modus, den „trauervollen“ lydischen und den hypopolideischen, angemessen den „göttlichen Dingen“ wegen seiner „Sanftheit“ und „Süße“ und so weiter. Es wäre ein naheliegender Gedanke, den antiken Hirten, der Ton und Tonart des Weihnachtsgemäldes mit seiner dulciana angibt, vor dem Hintergrund dieses damals aktuellen Projekts musikalisch fundierter Ausdrucksmalerei zu sehen; attraktiv der Gedanke, Castiglione sei davon berührt gewesen. Anders als die aus Rhetorik und Dichtung überlieferten Stillehren ist Poussins Moduslehre allerdings eher „schemenhaft“ überliefert. Soviel lässt sich sagen, dass sie das Gesamt der Gemäldekomposition betraf und die Funktion hatte, eine „union générale“ zu konstituieren, und diese als „expression générale“ dem Betrachter den Eindruck des Hauptsujets zu vermitteln hatte, ihm das unmittelbare Erfassen der Gesamtheit einer Stimmung, des Modus also, ermöglichen sollte.44 Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 153
VIII. Auf Castigliones Gemälde übertragen, impliziert dies die Frage danach, ob und wie und wo in ihm der Forderung der Moduslehre nach einem einheitlichen Charakter der Komposition, der sich ganzheitlich und momentan dem Betrachter mitteile, in erkennbarer Weise nachgekommen sei. Das Instrument in der Hand des Hirten, man mag es dolciana oder fagotto nennen, erfüllt diese Rolle wohl ebenso wenig wie die Schalmei des Schäfers in dem Weihnachtsbild Pier Francesco Molas. Kein Modus also? Eines ist sicher: Es ist eine auffallend antikische, und es ist eine auffallend bukolische Figur, die bei der Geburt Christi im Gemälde den Ton angibt. Warum bukolisch? Die Antwort könnte einfach und argut zugleich sein. Der Verfasser der Weihnachtsperikope selbst, der Arzt Lukas, nicht Jude, sondern Grieche, der als einziger der vier Evangelisten das Leben Mariens mit Worten „malte“, ist ein Bukoliker gewesen, und der Zufall hat es gefügt, dass sein Symboltier das Rind ist, ein bous, von dem die ganze Dichtungsgattung der Bukolik, die „Dichtung der Rinderhirten“, ihren Namen hat. Mehr als ein Zufall hat es gefügt, dass die lukanische Weihnachtsperikope selbst ein Muster sakraler Bukolik ist. Sie spielt unter Hirten, die des Nachts bei ihren Herden wachen – ein bukolisches Motiv – als die doxa oder gloria, vom Evangelisten als Plötzlichkeit des Lichts gedacht, sie umstrahlt, sie sich fürchten, sie aber die freudige Botschaft des Engels erfahren, sie sich aufmachen zum Stall von Bethlehem – einem bukolischen Ort – wo ihnen in der Krippe ein Kind zum paradoxen Zeichen dafür wird, dass dies der Messias und Sohn Gottes sei. Die Hirtendichtung, an der die Erzählung des Lukas, auf ihre Gattung und ihre Kunstmittel hin gesehen, partizipiert, ist bekanntlich hellenistisch. Theokrit hatte sie mit seinen Idyllen, den eidilia, begründet.45 Vergil war ihm gefolgt. Seine 42–39 v. Chr. entstandenen Hirtengedichte oder Bucolica bestehen aus zehn Eklogen. Die vierte Ekloge fällt aus den übrigen heraus. Vergil selbst bezeichnet sie als „sakrale Bukolik“. Denn in ihr geht es – in weltberühmten Versen – um die Geburt eines erlösenden Kindes. Es geht um ein neues Zeitalter, um die neue Ordnung und Versöhnung in einer erneuerten Welt: Nun ist gekommen die letzte Zeit nach dem Spruch der Sibylle./ Neu entspringt jetzt frischer Geschlechter erhabene Ordnung./ Schon kehrt wieder die Jungfrau, Saturn hat wieder die Herrschaft./ Schon steigt neu ein Erbe herab aus himmlischen Höhen./ Sei nur dem neugeborenen Knaben, mit dem die eisernen Menschen/ Enden, und allen Welten ein goldenes Alter erblühet,/ Gnädig sei ihm […]
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ultima Cumaei venit iam carminis aetas;/ magnus ab integro saeclorum nascitur ordo./ iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna,/ iam nova progenies caelo demittitur alto./ tu modo nascenti puero, quo ferrea primum/ desinet ac toto surget gens aurea mundo,/ […] fave […] Schon das frühe Christentum hatte die Verse als Prophetie des Weihnachtsgeschehens verstanden: Vergil, ebenso wie die Sibylle, ein Prophet der Geburt des Erlösers! Es war Laktanz, der diese christliche Interpretation Vergils dem Kaiser Konstantin nahe brachte, der seinerseits die Kirche des Ostens darauf verpflichtete, fußend auf der Überzeugung, dass auch Vergil, eingehüllt in die Worte sakraler Bukolik, die Geburt des erlösenden Kindes erahnt habe, dass der Erlöser auch den Heiden im Kleide der Poesie offenbart worden sei. Die Kontamination der antiken Bildlichkeit vom Goldenen Zeitalter mit dem jüdischmessianischen Vorstellungskreis, wie sie Vergil in der vierten Ekloge vollzogen hatte, wird im Mittelalter nicht aufgegriffen, vielleicht wegen der Angriffe einiger Kirchenväter wie Gregor von Nazianz, Tertullian und Hieronymus, sehr wohl aber in der frühen Neuzeit. Sie ist Bestandteil der offiziellen Bibelexegese des 17. Jahrhunderts auf altkirchlicher Seite. Wie selbstverständlich hat der führende Exeget Cornelius a Lapide sie in seinen Kommentar zu Lukas aufgenommen.46 Wir wissen nicht, ob der Besucher von 1646 in dem bekränzten Hirten mehr sehen konnte und wollte, als den passend/unpassenden Hinweis des Malers, dass die Geburt Christi in der Antike spiele. Wir wissen deshalb auch nicht, ob er den Efeu links an der Säule beachtete. Wenn er es tat, dann sah er dort eine Allusion auf den Text der vierten Ekloge. Er sah just jene Pflanze, von der Vergil als der „ersten bescheidenen Gabe der Erde an den Knaben“ spricht: Doch, o Knabe, als erste bescheidene Gabe entsprießen/ dem Erdreich rankender Efeu […] at tibi prima, puer, nullo munuscula cultu/ errantis hederas passim […] Der Efeu, so lässt sich wohl erschließen, erscheint deshalb in Castigliones Gemälde. Und dies nicht vor dem fremden Besucher allein, der ihn bemerkt haben mag oder nicht, sondern vor einem elitären Publikum, das mit den Namen Spinola und Grimaldi und mit der Erinnerung an das Weltpriesterkolleg an San Luca nur stellvertretend bezeichnet ist, Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 155
dem aber die Bukolik, insbesondere die sakrale Bukolik Vergils, fester Bestandteil seiner Bildung und seiner Lektüre war. Bukolik, es sei daran erinnert, ist die von Hirten handelnde und von Hirten gesprochene Dichtungsform, ihr konstitutives Merkmal der mehr oder weniger stark ausgeprägte Allegorismus. Als Gattung ist sie deshalb von der Darstellung der Wirklichkeit dispensiert und stattdessen der mehr oder weniger verhüllten Behandlung anderer Themen gewidmet, so wenn Vergil die poetisch-pastorale zur politisch-geschichtlichen Welt in Beziehung setzt. Der literarische Hirte steht nicht für den Hirten der Wirklichkeit, sondern häufig für die Gestalt des Dichters oder andere Personen. Es ist eine vermeintlich urtümliche Gattung. Obwohl sie in Wahrheit jünger ist als Epos, Lyrik und Tragödie, wurde sie im Gefolge der Vergilkommentare dennoch als älteste Gattung angesehen. Die in Castigliones Tagen einflussreichste neulateinische Poetik, die des Scaliger von 1561, eröffnet die Reihe der großen literarischen Gattungen der Antike mit der Hirtendichtung als dem vetustissimum genus unter dem Titel Pastoralia, abgeleitet vom lateinischen pastor, der allerdings den Schafhirten bezeichnet.47 In der Tat ist die Terminologie der Hirten- und Schäferdichtung von verwirrender Komplexität. Bei all dem ist aber eines sicher: Die Gattungsbezeichnung der „Bukolik“, abgeleitet vom griechischen boukolos, dem Rinderhirten, wird schon in den spätantiken Vergilkommentaren des Donatus und Servius als Bezeichnung für Vergils gattungsprägende Eklogen gebraucht. Dass gerade der Rinderhirte oder boukolos sich in der Antike besonderer Wertschätzung erfreute, ist noch die Überzeugung Scaligers. Warum ist dies von Bedeutung? Der Hirte in Castigliones Gemälde ist allem Anschein nach kein Schäfer. Man muss nur Pier Francesco Molas Gemälde heranziehen, um die zwei verschiedenen Traditionen, um den Unterschied zwischen dem lateinischen pastor oder Schäfer mit dem symbolisch aufgeladenen gefesselten Lamm zu seinen Füßen und dem griechischen boukolos, der ein Rinderhirte ist, zu bemerken. In der Tat deutet alles an der Gestalt des halbnackten Hirten darauf hin, dass er inmitten einer bukolischen – und in ihrem Gattungscharakter als bukolisch erkannten – Erzählung, dass er inmitten eines bukolischen und in seinem Gattungscharakter als bukolisch erkannten Gemäldes, dass er inmitten einer Kirche des bukolischen Rinderevangelisten Lukas einen boukolos darstellt. Was ist der Status des Hirten im Gemälde? Er ist mit Lorbeer bekränzt. Deutlich, ja scharf akzentuiert sind an ihm die ledrigen, immergrünen Blätter mit den blauschwarzen steinfruchtartigen Beeren des laurus nobilis oder alloro dargestellt. Der Lorbeer Apolls, der Dichtung und Musik, dessen Blättern auch die Kraft der Weissagung innewohnt, dürfte hier gemeint sein. Der Status der Figur ist damit verdeutlicht: Es ist ein mit dem Lorbeer Apolls bekränzter boukolos. Die der Dichtungsgattung der Bukolik per se innewohnende Semantik des poetischen, dichtend singenden, musizierenden Rinderhirten wird hier aufgerufen. 156 | Rudolf Preimesberger
Was bedeutet der Status des Hirten für das Gemälde? Ist der lorbeerbekränzte Rinderhirte, der die beiden Enten zu seinen Füßen als antikische xenia für das Neugeborene herbeigebracht hat und für es musiziert, nur ein besonders bukolisch kostümierter Teilnehmer an dem Geschehen? Oder spielt er, der vom Eingang des Gemäldes her die storia sacra rahmt, sie auf seinem Instrument musikalisch begleitet und untermalt, eine 4 Filippo Parodi, Immacolata, um 1690, Genua, San Luca, Hochaltar darüber hinausgehende Rolle? Spielt er eine doppelte Rolle, entfernt vergleichbar etwa dem Apostelevangelisten Matthäus in Raffaels Transfiguration, der zuseiten der Handlung diese ergriffen betrachtet und in seinem aufgeschlagenen Buch aufzeichnen wird? Ist die Rolle des lorbeerbekränzten boukolos zugleich die einer Verkörperung? Ist er der verkörperte Bukoliker? Eine Verkörperung der Gattung Bukolik? Ist seine Bedeutung zugleich die eines an den Rand der storia gesetzten Inbegriffs, oszillierend zwischen historischer Figur und Allegorie? Soll man in ihm etwas wie den verkörperten bukolischen Modus des Gemäldes vermuten? Dass an der klar erkennbaren semantischen Spannung zwischen dem dezidiert antiken boukolos und dem dezidiert modernen Musikinstrument, das er in Händen hält, ein Riss zu beobachten ist, wurde schon angedeutet. Es ist ein Riss durch die Semantik der einen Figur, und man mag auch darin die wie zufällig erscheinende Analogie zu der der Gattung Bukolik selbst inhärenten Spannung zwischen „antik“ und „modern“ sehen, oder wie immer man der Polysemie der Figur verbal begegnen mag. „Una figura tutta sforzata, difficile e misteriosa“ – „Eine ganz überdrehte, schwierige und geheimnisvolle Figur“ ins Bild zu setzen, hatte schon Paolo Pino den Malern vorgeschlagen.48 Castiglione ist ihm gefolgt. Sicher ist eines: Der Besucher von 1646 stand in einer Kirche, von der er nur wusste, dass sie dem Heiligen Lukas geweiht ist. Er sah jedoch kein Bild des Evangelisten, der als einziger das Leben Mariens in Worten – und in der Legende sie selbst auch im Bild – gemalt hatte und so zum Patron der Maler geworden war. Erst von 1681 an sollte Domenico Piola zusammen mit dem Quadraturisten Antonio Haffner mit seinen Fresken den Raum wenigstens zur Hälfte in eine Lukaskirche verwandeln. Zur Hälfte! Deutlich betonen die Fresken die dienende Rolle des Evangelisten und die dominante Rolle Mariens. Mehr als Giovanni Benedetto Castigliones Anbetung der Hirten | 157
deutlich zeigen sie die Tendenz, die Kirche in eine lukanische Marienkirche zu verwandeln.49 Es war insofern konsequent, dass die Ausstattung der Kirche ihren Abschluss mit einer Mariengruppe Filippo Parodis über dem Hochaltar fand (Abb. 4). Sie zeigt Maria, die man 1645 zur Monarchin der Republik erklärt hatte, nach genuesischer Sitte als Immaculata Conceptio.50 Doch auch der Hochaltar ist nicht rein 5 Domenico Piola, Predigt des Heiligen Lukas, Entwurfszeichnung, Genua, Palazzo Rosso marianisch. Es ist klar zu sehen, dass die Verehrung des größten Engels nicht Maria, sondern dem eucharistischen Christus in dem Sakramentstabernakel zu Füßen der Gruppe gilt. Auch der Hochaltar ist also eine Abbreviatur der Inkarnation. In der anderen Gattung ein dem Gemälde Castigliones analoges Thema! Domenico Piola zeigt in der Kalotte der Apsis Lukas, der das Bild Mariens und Jesu malt. Es ist die übliche Darstellung mit Maria als himmlischer Erscheinung. An der Wand der Apsis hingegen zeigt er den Evangelisten in Griechenland predigend. Der Inhalt der Predigt ist das Evangelium nach Lukas, sein Evangelium. Es ist eine Verkündigung besonderer Art. In der Entwurfszeichnung ist die Predigt des Lukas eine reine Bildpredigt (Abb. 5). Anstelle aller Worte zeigt der Malerevangelist mit hocherhobenen Armen das Bild Mariens und Jesu, das er selbst gemalt hat und nur mit verhüllten Händen berührt. Das Bild anstelle des Evangeliums! Man muss dazu bedenken, dass Lukas, anders als die beiden Apostelevangelisten Johannes und Matthäus, kein Augenzeuge des Lebens Jesu ist. Daher die Ansicht, die auch die der Legenda aurea ist, alles, was er berichte, habe er aus dem Munde Mariens vernommen. Nur deshalb – so der Umkehrschluss – habe er als einziger der Evangelisten das Leben Mariens mit Verkündigung, Heimsuchung und Geburt überhaupt schildern können.51 Erst in dem ausgeführten Fresko wird Lukas zu einem Rhetor des Wortes (Abb. 6). Das deiktische Moment tritt nun zurück, Gestus und mit diesem die Rede treten hervor. Die Predigt ist nun eine Wortpredigt. Der Gestus der bis in Kopfhöhe hocherhobenen Rechten ist mit attentionem poscit oder sinnverwandt zu dekodieren. Das Bild Mariens und Jesu – es ist offenkundig die ihm zugeschriebene Ikone Salus populi romani aus S. Maria Maggiore in Rom – hält er einem Buch vergleichbar in seiner Linken. Ein Rhetor mit dem Bild in der Hand. Ein statuarisch posierter und autoritativ wirkender Rhetor im Rang eines Evangelisten als Rhetor des Bildes. Wie immer man es 158 | Rudolf Preimesberger
verbalisieren mag, der anschauliche Bestand des Freskos deutet in die Richtung einer Lektüre wie „Verkündigung des Bildes durch das Medium des rhetorisch geformten Wortes“ und sinnverwandter Formulierungen. Warum? Erst unter radikal veränderten historischen Bedingungen, erst im Jahr 1751, kam es in Genua zur Gründung einer Akademie; dies durch die Initiative und unter der Protektion des aufgeklärten Patriziats. Promotor war der Politiker und Historiker Giovanni Francesco Doria, der Briefpartner Muratoris und Verfasser der Schrift Relazione sulla decadenza della nobiltà di Genova. Die Gründung stand in einer lokalen Tradition. Allem Anschein nach war sie das „Revival“ einer Reihe genuesischer Akademien oder scuole del nudo des 17. Jahrhunderts, beginnend mit dem nach Art einer Akademie eingerichteten studio Giovanni Battista Paggis, Castigliones Lehrers. Raffaele Soprani, 6 Domenico Piola, Predigt des Heiligen Lukas, nach 1681, Genua, San Luca der Vasari der Genuesen, erwähnt in der Vita des Luciano Borzone eine Akademie, und Giuseppe Ratti berichtet im Rückblick von 1768/69 dasselbe von einigen Malern der Familie Piola, mit Domenico Piola, dem Maler von San Luca, an der Spitze.52 Ob die Erinnerung an Anläufe dieser Art für das Verständnis der Anbetung der Hirten Castigliones von Bedeutung ist, hat wohl offen zu bleiben, und offen insofern auch die Frage danach, ob sich mit ihm die explizite Absicht der Begründung eines neuen Kanons genuesischer Malerei verband oder nicht.
Anmerkungen 1 Luciano Grossi Bianchi und Ennio Poleggi, Una città portuale del Medioevo. Genova nei secoli X–XVI, Genua 1980; Ennio Poleggi und Paolo Cevini, Genova (Le città nella storia d’Italia), Genua 1981. 2 1128–2000 Il porto di Genova, Genua 1971; Ennio Poleggi und Giancarlo Timossi, Porto di Genova. Storia e attualità, Genua 1977; Poleggi/Cevini 1981 (wie Anm. 1), S. 133–160. 3 Ennio Poleggi, Strada Nuova. Una lottizzazione del Cinquecento a Genova, Genua 1968; Poleggi/ Cevini 1981 (wie Anm. 1), S. 87–119; Fiorella Caraceni Poleggi, Una strada rinascimentale. Via Garibaldi a Genova, Genua 1992. 4 Fiorella Caraceni, Piazza, chiesa e loggia dei Banchi, Genua 1976. 5 Poleggi/Cevini 1981 (wie Anm. 1), S. 65–85.
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6 Ezia Gavazza, Chiesa di San Luca, Genua 1976, S. 3; Nadia Pazzini Paglieri, in: Liliana Pittarello (Hg.), Luoghi del Seicento Genovese. Spazi architettonici, spazi dipinti, Genua 1992, S. 61–64. 7 Giovanni Forcheri, „Gli Spinola“, in: Dibattito su quattro Famiglie del Grande Patriziato Genovese. Atti del Convegno, Genua 1991, Genua 1992, S. 49–57; Rebecca Müller, Sic hostes Janua frangit. Spolien und Trophäen im mittelalterlichen Genua, Weimar 2002, S. 109 f. 8 Poleggi/Cevini 1981 (wie Anm. 1), S. 23–38; Colette Dufour Bozzo, La porta urbana nel Medioevo. Porta Soprana di S. Andrea in Genova, Rom 1989; Müller 2002 (wie Anm. 7), S. 68 f. 9 Müller 2002 (wie Anm. 7), S. 111–114. 10 Gavazza 1976 (wie Anm. 6); Pazzini Paglieri 1992 (wie Anm. 6). 11 Letizia Lodi, in: Pittarello 1992 (wie Anm. 6), S. 67; Maria Clelia Galassi, in: La scultura a Genova e in Liguria, 3 Bde., Genua 1987–1989, hier Bd. 2, S. 46–70. 12 Giovanni Benedetto Castiglione, master draughtsman of the Italian Baroque, hg. von Ann Percy, Ausst. Kat. Philadelphia Museum of Arts, Philadelphia 1971, S. 29, 52, Anm. 58; Lauro Magnani, in: Il genio di G. B. Castiglione detto il Grechetto, Ausst. Kat. Accademia Ligustica Genua 1990, S. 118–120; id., in: Genova nell’età barocca, hg. von Ezia Gavazza und Giovanna Rotondi Terminiello, Ausst. Kat. Palazzo Ducale, Genua 1992, S. 147 f., Kat. Nr. 54. 13 Dasselbe Argument in Rudolf Preimesberger, „Berninis Cappella Cornaro. Eine Bild-Wort-Synthese des 17. Jahrhunderts? Zu Irving Lavins Bernini-Buch“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49, 1986, S. 190–219, hier S. 212; Hendrik Luicke, „De Communione extra Missam. Eine liturgiegeschichtliche Untersuchung“, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 33, 2004, S. 517–534. 14 Franco Boggero, Chiesa di San Siro, Genua 1977, S. 28 f.; Letizia Lodi, in: Pittarello 1992 (wie Anm. 6), S. 41. 15 Anthony Colantuono, The tender infant. Invenzione and figura in the art of Poussin, Thesis (Ph. D.) Johns Hopkins University 1986, Ann Arbor 1987, S. 37–40 unter Bezug auf den Traktat Orfeo Bosellis; vgl. Elizabeth Cropper und Charles Dempsey, Nicolas Poussin. Friendship and the Love of Painting, Princeton 1996, S. 49–51, 112. 16 Luigi Alfonso, Tomaso Orsolino e altri artisti di „nazione lombarda“ a Genova e in Liguria dal sec. XVI a XIX, Genua 1985, S. 221. Der Altar wurde erst 1650 von Vittoria Spinola in Auftrag gegeben, Letizia Lodi, in: Pittarello 1992 (wie Anm. 6), S. 68. 17 M. Braun, Art. „Prolepsis“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 196–201. 18 Luigi Grassi, Art. „Anacronismo“, in: id. und Mario Pepe, Dizionario dei termini artistici, Turin 1994, S. 36 f. 19 Wolfram Pichler, „Detaillierungen des Bildes. Zur Einleitung in den Band“, in: Edith Futscher et al. (Hg.), Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur. Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag, München 2007, S. 9–41; Georges Didi-Huberman, „Die Frage des Details, die Frage des pan“, in: ibid., S. 43–86. 20 Dazu und zum Folgenden Magnani 1990 (wie Anm. 12), S. 14, 118–120; der erste Gebrauch des Übernamens „Il Grechetto“ oder „Greghetto“ ist für das Jahr 1643 nachgewiesen, ibid., S. 25, Anm. 21; zu dem zwischen 1627 und 1631 beginnenden Romaufenthalt s. ibid., S. 25, Anm. 10; mit der Abreise nach Neapel wahrscheinlich nach dem Karneval 1635 findet die erste römische Periode ihren Abschluss, dazu ibid., S. 16. Nach der neapolitanischen Periode sind zahlreiche Werke Castigliones von Werken Poussins der späten dreißiger Jahre entnommen, die er direkt in dessen Werkstatt gesehen haben kann. Daraus folgt, dass er möglicherweise schon 1636 nach Rom zurückkehrte, wo er bis 1639 blieb. Spätestens am 25. Februar 1639 ist er zurück in Genua. 21 Das künstlerische Umfeld in Rom ist schwer zu bestimmen, von daher die Bedeutung des Viaggio di Giacobbe von 1633 in New Yorker Privatbesitz mit seinen stilistischen Bezügen zu Nicolas Poussin, Pietro Testa, Agostino Tassi und v. a. Claude Lorrain, Magnani 1990 (wie Anm. 12), S. 59 f., Nr. 1.
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22 Dazu umfassend Min-Ling Tsai, Giovanni Benedetto Castigliones biblico viaggio patriarcale – genere minore oder istoria? Pastorale Motivik als Mittel der Darstellung der Gattungsproblematik, ungedr. Diss. Freie Universität Berlin, Berlin 2007. Es ist mir eine angenehme Verpflichtung, Frau Professor Tsai auch an dieser Stelle für eine lange Reihe fruchtbarer Gespräche über die von ihr in einem weiteren thematischen Rahmen abgehandelte Gattungsproblematik im Werk Castigliones meinen Dank auszusprechen. Die dringend erwünschte Drucklegung ihres Textes steht bevor. 23 Joachim von Sandrarts Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675. Leben der berühmten Maler, Bildhauer und Baumeister, hg. und kommentiert von Arthur Rudolf Peltzer, München 1925, S. 202. 24 Die Serie von Zeichnungen, Ölskizzen, anderen Exemplaren und Kopien ist zusammengestellt bei Ann Percy, in: Philadelphia 1971 (wie Anm. 12), S. 29, 52, Anm. 58; zu dem Exemplar aus dem Besitz Ludwigs XIV. s. Timothy J. Standring, „L’adoration des bergers, 1659, de Giovanni Benedetto Castiglione au musée du Louvre“, in: Revue du Louvre 52/2, 2002, S. 43–54; zu der Kupfertafel aus dem Besitz der Prinzessin Brignole Sale s. Sibylle Luig, in: Pracht und Pathos. Meisterwerke der Barockmalerei aus dem Palazzo Bianco in Genua, hg. von Roberto Contini, Ausst. Kat. Staatliche Museen zu Berlin 2003/04, S. 86 f., Kat. Nr. 14. 25 Nicola Pio, Le vite di pittori, scultori et architetti (Cod. ms. Capponi 257), hg. und mit einer Einleitung von Catherine und Robert Enggass, Città del Vaticano 1977, S. 177. 26 Raffaele Soprani, Vite de’ pittori, scultori, ed architetti genovesi, Genua 1674, S. 224. In dem einleitenden „Discorso breve della nobiltà dell pittura“ (unpaginiert), in dem Soprani die Frage, ob die Malerei in Genua zu den „arti permesse alla nobiltà, o fra quelle, che le sono vietate“ zähle, erwähnt er die Akademien in anderen italienischen Städten, wobei er die florentinische besonders hervorhebt. 27 Giuseppe Ratti, Instruzione di quanto può vedersi di più bello in Genova in pittura, scultura ed architettura ecc., Genua 1766, S. 133. 28 Melchiorre Missirini, Memorie per servire alla Storia della Romana Accademia di San Luca, Rom 1823, S. 112 f.; Elizabeth Cropper, The Ideal of Painting. Pietro Testa’s Düsseldorf Notebook, Princeton 1984, S. 118; Hubert Locher, „Das Staunen des Betrachters. Pietro da Cortonas Deckenfresko im Palazzo Barberini“, in: Werners Kunstgeschichte, Worms 1990, S. 27 ff.; Jörg Martin Merz, Pietro da Cortona. Der Aufstieg zum führenden Maler im barocken Rom, Tübingen 1991, S. 258 ff.; Rudolf Preimesberger, „Eine Peripetie in Stein? Bemerkungen zu Alessandro Algardis Relief der Begegnung Leos des Großen mit Attila“, in: Festschrift für Hermann Fillitz. Aachener Kunstblätter 60, 1994, S. 410–414; Hubert Locher, „Albertis Erfindung des Gemäldes“, in: Kurt W. Forster und Hubert Locher (Hg.), Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1999, S. 75–107, bes. S. 97–99. 29 Christopher Wright, Poussin. Paintings. A Catalogue Raisonné, London 1985, S. 167, Nr. 63. 30 Laura Laureati, in: Pier Francesco Mola 1612–1666, hg. von Manuela Kahn-Rossi, Ausst. Kat. Museo Cantonale d’arte Lugano 1989, S. 169, Nr. I.18. 31 John Bulwer, Chirologia: or the naturall language of the hand. Composed of the speaking Motions, and discoursing gestures thereof. Wheterunto is added Chironomia: Or the art of Manuall Rhetoricke. Consisting of the naturall expressions, digested by art in the hand, as the chiefest instrument of eloquence, by historicall manifestos, exemplified out of the authentique registers of common life, and civil conversation. With types or Chyrograms: Along wih’d for illustrations of this argument, London 1644; zu den Handgesten „indico“ und „rationes profert“ s. Sprechende Hände, hg. von Bernd Evers, Ausst. Kat. Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin 2006, S. 21, 23; zu Fragonards Zeichnung s. Pierre Rosenberg und Barbara Brejon de Lavergnée (Hg.), Saint Non, Fragonard, Panopticon italiano. Un diario di viaggio ritrovato 1759–1761, Rom 1986, S. 245. 32 R. P. Cornelii Cornelii a Lapide e Societate Jesu S. Scripturae … Commentarii in IV Evangelia, 2 Bde., Ausgabe Antwerpen 1732, hier Bd. 2, S. 53.
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33 A. Hügli, Art. „Invention, Erfindung, Entdeckung“, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 544–574; Luigi Grassi, Art. „Invenzione, Invenzioni“, in: Grassi/Pepe 1994 (wie Anm. 18), S. 433–435; Oskar Bätschmann, „Leon Battista Alberti über inventum und inventio“, in: G. Schröder (Hg.), Anamorphosen der Rhetorik, München 1997, S. 231–248; M. Kienpointner, Art. „Inventio“, in: Gert Ueding, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, S. 561–587; Oskar Bätschmann, Art. „Erfindung und Entdeckung“, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart und Weimar 2003, S. 87–90. 34 Cropper 1984 (wie Anm. 28), S. 104–107. Testa hat die bamboccianti im Sinn, deren Erfolg bei den römischen aristokratischen Sammlern in Kontrast zu seinen eigenen Schwierigkeiten stand, ibid., S. 104. 35 Ibid., S. 106. 36 Magnani 1990 (wie Anm. 12), S. 59 f., Nr. 1. 37 Luigi Tagliaferro, in: Genua 1990 (wie Anm. 12), S. 63 f.; Sybille Luig, in: Berlin 2003/04 (wie Anm. 24), S. 72, Nr. 7. 38 Victor I. Stoichita, Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, S. 15–22 (französ. Originalausgabe L’Instauration du tableau, Paris 1993). 39 Lauro Magnani, „Le Christ chassant les marchands du Temple de Giovanni Benedetto Castiglione, au musée du Louvre“, in: Revue du Louvre 53/3, 2003, S. 50–59, 117, 119. 40 M. P. Schmude, Art. „Licentia“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 253–258. 41 Ermanno Briner, Reclams Musikinstrumentenführer. Die Instrumente und ihre Akustik, Stuttgart 1998, S. 123–135; Paolo Tognon, „Le origini storiche del fagotto. Il fagotto-chorista (la dulciana)“, in: Hortus musicus 8, 2001, S. 81–85; K. G. Feller, Art. „Aufführungspraxis“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, Freiburg 1957, Sp. 1054 f. 42 Pazzini Paglieri 1992 (wie Anm. 6), S. 64. 43 G. Gourdet, Art. „Fagott“, in: Das neue Lexikon der Musik, Bd. 2, Stuttgart und Weimar 1996, S. 11. 44 Zur Moduslehre s. u.a. Cropper 1984 (wie Anm. 28), S. 40–141; Jennifer Montagu, „The Theory of the Musical Modes in the Académie Royale de Peinture et de Sculpture“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 55, 1992, S. 233–248; Cropper/Dempsey 1996 (wie Anm. 15), S. 144, 154, 238; Bernhard Stumpfhaus, Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin, Berlin 2007, S. 192–216. 45 Dazu und zum Folgenden s. W. Schmid, Art. „Bukolik“, in: Theodor Klauser (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 2, Stuttgart 1954, Sp. 786–800; zu dem Sonderfall der Weihnachtspastorale ibid., Sp. 789; Renate Böschenstein, Art. „Bukolik/Idylle“, in: Manfred Landfester (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 13, Stuttgart und Weimar 1999, Sp. 561–568; Klaus Garber, Art. „Bukolik“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin und New York 1997, S. 287–291; zum Nachwirken der vierten Ekloge s. Annabel Patterson, From Virgil to Valéry, Berkely 1987. 46 Cornelius a Lapide (wie Anm. 32), S. 44–55. 47 S. Anm. 45. 48 Paolo Pino, „Dialogo di pittura“ (1548), in: Paola Barocchi (Hg.), Scritti d’arte del cinquecento (= La letteratura italiana. Storia e testi 32), 3 Bde., Mailand und Neapel 1971–1977, hier Bd. 1, S. 761. 49 Ezia Gavazza, Lo spazio dipinto. Il grande affresco Genovese nel ‘600, Genua 1989, S. 352–357 zu den Zeichnungen; Pazzini Paglieri 1992 (wie Anm. 6), S. 64–67. 50 Paola Rotondi Briasco, Filippo Parodi, Genua 1962, S. 58 f.; Lauro Magnani, in: La scultura a Genova 1987–1989 (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 126; Letizia Lodi, in: Pittarello 1992 (wie Anm. 6), S. 68. 51 F. Trenner, Art. „Lukasbild“, in: Marienlexikon, Bd. 4, St. Ottilien 1992, S. 183–186. 52 Dazu und zum Folgenden s. Franco Sborgi, Pittura e cultura artistica nell’Accademia Ligustica a Genova 1751/1920, Genua 1974, S. 7 f.
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Karl Schütz
Gemäldegalerie und Kunstakademie in Wien im 18. Jahrhundert Die Wiener Kunstakademie wurde 1692 von dem vielseitigen und umtriebigen Künstler Peter Strudel gegründet.1 Sie verdankte ihre Entstehung dem Zusammenwirken einer privaten Initiative und der Beteiligung und starken Förderung durch den Kaiserhof. Dennoch war der Lehrbetrieb der Akademie so auf ihren Gründer fixiert, dass sie nach seinem Tod 1714 zunächst zu bestehen aufhörte.2 Erst gute zehn Jahre später, 1726, wurde die Kunstakademie durch den vom Hof beschäftigten Maler Jakob van Schuppen neu begründet. 1669 in Fontainebleau geboren und bei Nicolas de Largillière ausgebildet, kam van Schuppen 1716 über Lothringen nach Wien und wurde 1723 kaiserlicher Kammermaler. Van Schuppen wurde von Kaiser Karl VI. zum Präfekten und Direktor der Akademie ernannt und dem Oberbaudirektor Graf Gundakar Althann unterstellt. Damit wurde die Akademie zu einer öffentlichen, vom Hof unterhaltenen Anstalt. Entsprechend van Schuppens französischer Herkunft und Schulung sind die Statuten der Wiener Akademie fast wörtlich nach denen der Pariser kopiert. Gundakar Graf Althann, unter dessen Patronat die Akademie stand, war als Oberbaudirektor gleichzeitig für die 1720 begonnene Neugestaltung der kaiserlichen Gemäldegalerie in der Stallburg durch den Architekten Claude le Fort du Plessy verantwortlich.3 1720 waren als erstes die Seitenkabinette vollendet, wie der erste, entsprechend datierte Band eines damals angefertigten Bildinventars der Galerie von Ferdinand à Storffer beweist. Ferdinand Astorffer, wie er eigentlich hieß (mit der extravaganten Schreibung seines Namens, die er durchgehend verwendete, versuchte er sich einen Pseudo-Adelstitel zuzulegen) verfügte über keine akademische, sondern nur eine handwerkliche Ausbildung und wurde vom Hof als „Hofvergolder und Spalliermacher“ beschäftigt und protegiert. Zwanzig Jahre später, 1750, wurde er Jakob van Schuppen trotz dessen heftiger Proteste als Unterdirektor der Akademie zur Seite gestellt. Die Deckfarbenminiaturen der drei Pergamentbände des Stofferschen Inventars geben, obwohl in den gegenseitigen Größenverhältnissen nicht immer den Originalen entsprechend, die Anordnung wieder, in der sich die Bilder samt ihren einheitlich gestalteten Rahmen in den Täfelungen an den Wänden der Stallburg befanden (Abb. 1).4 Das Einzelobjekt war dem Gesamteindruck untergeordnet, die Anordnung symmetrisch, große und kleine Bilder als dekoratives Flächenmuster auf der Wand verteilt, die Kombination verschiedener Bilder insgesamt ohne Rücksicht auf kunsthistorische Zusammenhänge, die einzelnen Gemälde im Format verändert, beschnitten und angestückt. Gemäldegalerie und Kunstakademie in Wien | 163
Nach den Galeriekabinetten wurden ab 1720 die Galeriesäle gestaltet, für die van Schuppen zwei programmatische allegori sche Deckenbilder, Minerva eilt den von Hass und Neid verfolgten Künsten zu Hilfe und Aufnahme der Malerei in das Reich Apollos schuf (Abb. 2).5 Die Themen erscheinen aufs erste konven tionell und verleihen dem seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten Gedanken der den freien Künsten ebenbürtigen Stellung der bildenden Künste Ausdruck. Günther Heinz erkannte den aktuellen Zusammenhang mit der gleichzeitigen Akademiegründung durch van Schuppen.6 Dessen Reform der Künstlerausbildung zielte gegen die traditionelle handwerkliche Ausübung der Künste und rief 1 Ferdinand à Storffer (eigentlich Astorffer), Neu eingerichtes den erbitterten Widerstand der Inventarium […], Bd. 1, fol. 11, 1720, Wien, Kunsthistorisches Wiener Zünfte hervor. Heinz Museum, Gemäldegalerie vermutet, dass das Verhältnis der Akademie zur Galerie enger war, als bisher angenommen und die damit eingeschränkt öffentlich zugängliche Galerie Ausbildungsfunktion für die angehenden Künstler hatte. Die Neueinrichtung der Galerie war 1728 abgeschlossen, sie wurde durch ein Erinnerungsbild festgehalten, das die Überreichung des Inventars der Galerie durch Graf Althann an Kaiser Karl VI. zeigt (Abb. 3). Damit wurde allerdings nicht van Schuppen beauftragt, sondern jener Künstler, den man für den besten und bedeutendsten innerhalb des damaligen österreichischen Herrschaftsgebiets hielt, nämlich Francesco Solimena, der führende Maler Neapels, das sich von 1708 bis 1735 unter österreichischer Herrschaft befand und von Vizekönig Raymund Graf Harrach regiert wurde. Der kaiserliche Baudirektor Graf Althann überreicht dem Kaiser das Inventar der Galerie, dazu verkündet allegorisch überhöhend die fliegende Fama den Kunstsinn des Kaisers.7 Die Porträts der beiden Protagonisten, des Kaisers und seines Ministers, wurden erst an Ort und Stelle von Johann Gottfried Auerbach eingefügt, indem er die ursprünglichen, weniger porträtähnlichen, 164 | Karl Schütz
aber malerisch lebendigeren Köpfe Solimenas übermalte. Offenbar entsprachen die starr aus dem Bild blickenden Porträts des heimischen Hofmalers eher dem Bedürfnis nach imperialer Repräsentation, die nicht nur das Dedikationsbild, sondern die gesamte Neuaufstellung der Galerie ausstrahlt. 1759 wurde Martin van Meytens nach einem neuen Statut der Akademie zum Rektor bestimmt, eine Stelle, die er bis zu seinem Tod 1770 bekleidete.8 In seinen großen Staatsporträts zeigt sich die Abhängigkeit von der französischen repräsentativen Bildnismalerei, in seiner 2 Ferdinand à Storffer (eigentlich Astorffer), Neu eingerichtes InvenTechnik hingegen bleibt die tarium […], Bd. 3, fol. 3, 1733, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie Subtilität seiner ursprünglichen Ausbildung als Emailmaler und Miniaturist spürbar. Charakteristisch für seine Werke ist die Verbindung von Genauigkeit der Beobachtung mit Virtuosität der Oberflächengestaltung, die seinen besonderen Sinn für Präzision erkennen lassen. Die Kunstakademie geriet unter van Meytens in eine Krise,9 wofür nicht zuletzt die rückwärtsgewandte Kunstauffassung des Hofmalers und sein trocken pedantischer Unterricht verantwortlich gemacht wurden. Zugleich erwuchs der Akademie 1766 in der privaten Gründung der Kupferstecherakademie durch Jacob Matthias Schmutzer Konkurrenz, vor allem durch deren modernes Konzept mit der Konzentration auf Naturstudium und Landschaftsmalerei. Letztere war in der Wiener Akademie durch keine eigene Professur vertreten, im Gegensatz zu Dresden etwa, wo Joseph Rosa die entsprechende Stelle innehatte. Die Neugründung wurde von Staatskanzler Wenzel Anton Fürst Kaunitz als Protektor unterstützt, während der Aufklärer Joseph von Sonnenfels als Akademiesekretär fungierte. Eine Verbindung zur Gemäldegalerie ergab sich insofern, als Schmutzer 1769 durch Fürsprache von Kaunitz für die Akademiemitglieder und preisgekrönten Schüler die Erlaubnis erwirkte, die damals noch nicht allgemein zugängliche kaiserliche Galerie in der Stallburg besuchen und dort kopieren zu dürfen.10 Gemäldegalerie und Kunstakademie in Wien | 165
Nach Jahren einer gewissen Stagnation sowohl in der Entwicklung der Kunst am österreichischen Hof wie in den der bildenden Kunst gewidmeten Institutionen kam es ab etwa 1770 zu einer raschen Folge tiefgreifender Veränderungen. Das lag an Kaiser Joseph II. selbst, der förmlich darauf brannte, möglichst rasch die Ideen der Aufklärung durch Gesetze und Verordnungen von oben her in den habsburgischen Ländern durchzusetzen. Seit dem Tod seines Vaters 1765 vorläufig Mitregent Maria Theresias, beschränkte er sich aber auf die militärischen Angelegenheiten und die Außenpolitik und zeigte 3 Francesco Solimena, Karl VI. und Gundakar Graf Althann, 1728, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie für die Kunst kein großes Interesse. Die eigentlich treibende Kraft in künstlerischen Angelegenheiten war Staatskanzler Kaunitz, der neben seinen politischen Aufgaben großen Anteil an Kunst, Kultur und Wissenschaft nahm. Als Protektor der Kunstakademie griff Kaunitz entschieden in ihre Führung ein und traf alle programmatischen und personellen Entscheidungen selbst. Nach dem Tode van Meytens unterstützte Kaunitz den naheliegenden Plan einer Vereinigung der beiden Akademien, wie er zuerst von Abbé Johann Marcy, Ehrenmitglied der Kupferstecherakademie und als Direktor des Physikalischen Kabinetts zugleich mit der Situation der kaiserlichen Sammlungen wohlvertraut, vorgeschlagen wurde. In seinem Vortrag vor Maria Theresia betonte Kaunitz vor allem wirtschaftliche Argumente: „Der gute Geschmack, sowohl in der Erfindung als in der Zeichnung breitet sich bis auf das Mechanische und alle Handwerke aus. Es entstehen davon ganz neue Zweige der Handlung. Die Industrie wird belebt, viel Geld, so vorhin um Manufacturen […] außer Landes gegangen, bleiben darin, und noch mehr fremdes kommt hinein. Frankreich ist hievon ein überzeugendes Beispiel.“11 Kaunitz arbeitete einen Statutenentwurf einer Akademie der schönen Künste und der schönen Wissenschaften aus, die aus zwei Hauptklassen bestehen sollte, wobei die Klasse der schönen Wissenschaften wiederum aus einer poetischen, historischen und philoso166 | Karl Schütz
phischen Klasse gebildet werden sollte. Aus Kostengründen gelangte der Plan nicht zur Durchführung.12 Es hat den Anschein, als wäre hier zum ersten Mal die Kunstgeschichte in einer Akademie vertreten gewesen. Jedenfalls sollte den Akademiemitgliedern der freie Eintritt in die kaiserliche Gemäldegalerie ermöglicht werden.13 Während sich Kaunitz mit seiner bekannten Vorliebe für alles Französische am Vorbild der Akademie in Paris orientierte, trat gleichzeitig um 1770 eine kulturpolitische Wendung Richtung Rom ein, die mit der Reise Kaiser Josephs II. nach Italien ihren äußeren Ausdruck fand, seinem Besuch am Hof des jüngeren Bruders Pietro Leopoldo in Florenz und der gemeinsamen Reise der beiden Brüder nach Rom 1769, die von Pompeo Batoni im Auftrag Maria Theresias in einem Porträt festgehalten wurde.14 1772 wurde Anton von Maron, der von 1733 bis 1808 lebte, als Berater bei der Neuorganisation der Akademie nach Wien berufen, nachdem er bereits 1771 aus Rom neue Vorschläge zur Verbesserung des künstlerischen Unterrichts an der Akademie vorgelegt hatte.15 Maron berief sich dabei auf die Vorschläge seines Lehrers und Schwagers Anton Raphael Mengs, der in Rom eine deutsche Nationalakademie gründen wollte und schließlich während seines Aufenthalts am spanischen Hof einen Organisationsentwurf für die Akademie San Fernando in Madrid lieferte.16 Die Vermittlung zwischen Staatskanzler Kaunitz, dem Protektor der Akademie, und Maron war durch Graf Joseph von Sperges, den Leiter des Dipartimento d’Italia in der österreichischen Verwaltung, engster Berater von Kaunitz in Kunstsachen und zukünftiger Präses der Wiener Akademie, hergestellt worden. 1770 hatte Maron vom großherzoglichen Hof in Florenz den ersten habsburgischen Porträtauftrag erhalten, ein Bildnis des zweijährigen nachmaligen Kaisers Franz, das heute als verloren gilt.17 Zur gleichen Zeit malte Maron für Kaiserin Maria Theresia das Bildnis der Großherzogin Maria Ludovica mit drei Kindern (Abb. 4).18 Damit war über den Florentiner Hof die Beziehung zum kaiserlichen Hof in Wien hergestellt, aus der sich in der Folge Marons Position als in Rom residierender Hofmaler des Kaiserhauses ergab. Maron behielt auch in späteren Jahren sein lebhaftes Interesse an der Akademie und der Künstlerausbildung. Seit seiner Aufnahme in die Accademia di San Luca in Rom übte er dort verschiedene Ämter aus, unter anderem führte er seit 1779 als direttore dei forestieri die Aufsicht über die auswärtigen Studenten, zugleich arbeitete er die Grundlagen des österreichischen Romstipendiums für junge Künstler aus, das bis zur Gegenwart weiterlebt.19 Als Maron 1772 für einige Monate nach Wien kam, legte er nicht nur Vorschläge für eine Reform der Akademie vor, sondern bereitete auch Bildnisse Kaiserin Maria Theresias, Kaiser Josephs II., Erzherzog Maximilians und Erzherzogin Maria Elisabeths vor. Er fertigte dafür Kopfstudien an, die er mit nach Rom nahm, um dort die Bilder auszuführen.20 Gemäldegalerie und Kunstakademie in Wien | 167
1773 entstand in Rom das repräsentative große Porträt Maria Theresias als Witwe, das später im Marmorsaal des Oberen Belvedere Platz fand (Abb. 5).21 Im darauffolgenden Jahr malte Maron das ganzfigurige Bildnis Josephs II., das ebenfalls im Marmorsaal als Gegenstück zum Bildnis Maria Theresias Aufstellung fand.22 Traditionsgebundene Tätigkeit als Hofmaler mit der Hauptaufgabe, repräsentative Bildnisse des Herrschers und seiner Familie herzustellen war der eine, fortschrittliche Akademiereform im Sinn der Aufklärung der andere Beweggrund für Maron, nach Wien zu kommen. Eine dritte Aufgabe, die Maron in den wenigen Wochen seines Aufenthalts in Wien im Herbst des Jahres 1772 entfalten konnte, ist bis jetzt wenig beachtet worden, nämlich eine Art von Konsulententätigkeit als Bilderkenner für 4 Anton von Maron, Großherzogin Maria Ludovica mit drei Kindern, die kaiserliche Gemäldegalerie. 1770, Wien, Schloss Schönbrunn Diese Tätigkeit fällt nicht zufällig mit der Berufung von Joseph Rosa als Direktor der Gemäldegalerie nach Wien zusammen. Wenige Tage vor der Bestellung Joseph Rosas zum Galeriedirektor wird Maron mit weitgehenden Vollmachten beauftragt, „dass er die in der allhiesigen kaiserlich königlichen schazcammer oder zu Presburg oder in anderen kaiserlich königlichen schlößern und gebäuden vorfindige bilder und gemählde nach gutdünken ansehen, untersuchen und ohne weitere anfrage in die kaiserlich königliche gallerie transportieren laßen könne.“23 Die Spur seiner Tätigkeit findet sich in dem 1773 von Johann Primisser verfassten Gemäldeinventar der Ambraser Sammlung, wo mehrfach bei Zuschreibungen die Meinung Marons zitiert wird.24 168 | Karl Schütz
Joseph Rosa wurde 1726 in eine traditionsreiche Künstlerfamilie in Wien geboren und besuchte die Wiener Akademie.25 Bereits als etwa Zwan zigjähriger wurde er Mitarbeiter des damals in Wien tätigen vielseitigen Dekorationsarchitekten, Entwerfers von Bühnenprospekten wie von Hochaltären Giuseppe Galli-Bibiena. Rosa folgte ihm 1747 als Mitarbeiter nach Dresden und blieb auch dort, als Galli-Bibiena 1754 nach Berlin wechselte. Als Landschaftsmaler setzt Joseph Rosa in der Tierdarstellung und Hirtenidylle die Tradition seiner Vorfahren fort, wobei er sich besonders an das Werk des Johann Heinrich Roos anlehnt und Einzelmotive oft wörtlich zitiert, im Übrigen aber den barocken malerischen Vortrag zugunsten einer rokokohaften Idylle und später eines kühlen Klassizismus glättet. Sein bedeutendstes Werk als Landschaftsmaler war ein kaiserlicher Auftrag zur Ausstattung von drei Räumen, den bis heute nach ihrem Schöpfer benannten Rosa-Zimmern in Schloss Schönbrunn, die zwischen 1761 und 1769 aus fünfzehn wandfüllenden Bildern verschiedener Größe entstanden (Abb. 6).26 Seit 1765 gehörte Joseph Rosa der Dresdner Akademie als Professor für Landschaftsmalerei an. Christian Ludwig von Hagedorn, der Generaldirektor der Akademie, zählte Rosa zu den Lehrern, die „zum ersten Rufe der Akademie beigetragen“ 5 Anton von Maron, Kaiserin Maria Theresia, 1773, Wien, Kunsthistorisches Museum, haben.27 Der Dresdner Künstlerkreis wie auch die Gemäldegalerie fortschrittliche Einrichtung der Dresdner Gemäldegalerie scheinen die Kunstauffassung Rosas wesentlich geprägt zu haben.28 1769 nahm Rosa sechs Monate Urlaub von der Akademie, um die Landschaftsbilder für Schloss Schönbrunn zu vollenden. Hier wurde der entscheidende Kontakt zum Wiener Hof, vor allem zu Staatskanzler Fürst Kaunitz, geknüpft, der schließlich zur Bestellung Rosas zum Direktor der Gemäldegalerie führte.29 Am 27. September 1772 quittierte Rosa auf eigenen Wunsch den Dienst an der Akademie in Dresden, eine Woche später wurde er in Wien zum Galeriedirektor bestellt.30 Wir haben keine Belege dafür, welche Rolle dabei Maron zukam, dem der Wiener Hof sowohl als Bildnismaler wie als Kunstkenner und Kunstpädagogen hohe WertschätGemäldegalerie und Kunstakademie in Wien | 169
zung entgegenbrachte. Gemeinsam mit dem neubestellten Galeriedirektor Rosa hat Maron schließlich die Depots der Wiener Galerie durchgesehen und 43 Bilder für die Schausammlung ausgewählt.31 Das enge Einvernehmen der beiden wird auch aus einem Detail wie der Aufnahme eines Bedienten Marons als Galeriediener deutlich.32 Nicht mehr die Ausstattung der verschiedenen kaiserlichen Schlösser mit Bildern, sondern die Einrichtung der Galerie stand im Vordergrund des Interesses jener aufgeklärten Kreise am Hof, die Maron den Auftrag zur Durchsicht des Bildbestandes der Schlösser erteilten und Rosa zum Galerie 6 Joseph Rosa, Landschaft mit Ruinen, 1761, Wien, Schloss direktor bestellten. Schönbrunn Die Entwicklung der kaiser lichen Gemäldegalerie von einem fürstlichen Privatkabinett in repräsentativ dekorativer spätbarocker Einrichtung zu einem nach historischen Gesichtspunkten geordneten öffentlichen Museum, die sich im Jahrzehnt von 1772 bis 1782, von der Berufung Joseph Rosas als Galeriedirektor bis zur Neueinrichtung der Galerie durch Christian von Mechel vollzog, verläuft parallel zur gleichzeitigen Entwicklung der Wiener Kunstakademie unter dem aufklärerischen Prinzip der systematisierten Erlernbarkeit der Künste. In diesem Konnex ist wohl die gleichzeitige Bestellung eines neuen Leiters der kaiserlichen Gemäldegalerie zu sehen. Es war kein Zufall, dass man dafür einen Maler wählte, der bereits Erfahrung als Akademieprofessor aufzuweisen hatte. Akademie wie Gemäldegalerie in Dresden waren gegenüber Wien fortschrittlich, Rosa war mit beiden Kunstinstituten vertraut. Damit muss er den Verantwortlichen in Wien für die Direktion der Gemäldegalerie geradezu prädestiniert erschienen sein.
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Anmerkungen 1 Manfred Koller, Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie, Innsbruck 1993. 2 Walter Wagner, Die Geschichte der Akademie der bildenden Künste in Wien, Wien 1967, S. 21. 3 Eduard von Engerth, „Zur Geschichte der kaiserlichen Gemälde-Galerie“, in: Kunsthistorische Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, Gemälde, Beschreibendes Verzeichnis, 3 Bde., Wien 1881– 1886, hier Bd. 1; Alfred Stix, Die Aufstellung der ehedem kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien im 18. Jahrhundert, Wien, Prag und Leipzig 1922; Alphons Lhotsky, Festschrift des Kunsthistorischen Museums zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes, 3 Bde., Wien 1941–1945, hier Bd. 2 [= 2. Teil, 1. Hälfte]: Die Geschichte der Sammlungen. Von den Anfängen bis zum Tode Kaiser Karls VI. 1740; Debora J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780 (= Schriften des Kunsthistorischen Museums 2), Wien 1995; Karl Schütz, „‚…mehr zum Unterricht noch, als nur zum vorübergehenden Vergnügen…’. Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien zur Zeit der Aufklärung“, in: Herbert Lachmayer (Hg.), Mozart. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Wien 2006, S. 227–232; Karl Schütz, „Aufstellungen der Wiener Gemäldegalerie im 18. Jahrhundert“, in: Museen und fürstliche Sammlungen im 18. Jahrhundert/Museums and Princely Collections in the 18 th Century. Internationales Kolloquium des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig und des Instituts für Kunstgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Braunschweig, 3.–5. März 2004, Braunschweig 2007, S. 44–50; Gudrun Swoboda, Die Wege der Bilder. Eine Geschichte der kaiserlichen Gemäldesammlungen von 1600 bis 1800, Wien 2008. 4 [Ferdinand Astorffer], Neu Eingerichtes Inventarium der Kayl.-Bilder Gallerie in der Stallburg, welches nach denen Numeris und Maßstab ordiniret und von Ferdinand à Storffer gemahlen worden, 3 Pergamentbde. mit Deckfarbenminiaturen, Bd. 1, 1720, Bd. 2, 1730, Bd. 3, 1733, Wien, Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums. 5 Beide Deckenbilder, nach französischer Art an die Decke geklebte Leinwände, die durch Miniaturkopien im Storfferschen Inventar (wie Anm. 4), Bd. 3, fol. 1 und 74 überliefert sind, wurden bereits um 1780 bei der Übersiedlung der Gemäldegalerie ins Obere Belvedere von der Decke abgenommen. Dabei wurde anscheinend ein Bild zerstört, das zweite mit der Darstellung der Aufnahme der Malerei in das Reich Apollos zerriss in zwei Teile. 1913 wurde es im Hinblick auf eine Anbringung in den neu erbauten und zur musealen Nutzung bestimmten Räumen der Neuen Burg restauriert, jedoch nicht verwendet und befindet sich bis heute im Depot der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums, Leinwand, 520 x 405 cm, ursprüngliche Maße ca. 470 x 435 cm, Inv. Nr. 6284. Jüngst tauchten modelli der Bilder im Wiener Kunsthandel auf. 6 Günther Heinz, „Die Allegorie der Malerei von Jacob van Schuppen“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 25, 1972, S. 268–275; s. auch Pierre Schreiden, „Jaques Van Schuppen. L’Influence française à Vienne dans les arts plastiques au cours de la première moitié du XVIIIe siècle“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 35, 1982, S. 1–106, hier S. 51. 7 Die Galerie Kaiser Karls VI. in Wien. Solimenas Widmungsbild und Storffers Inventar (1720–1733), hg. von Sabine Haag und Gudrun Swoboda, Kunsthistorisches Museum, Wien 2010. 8 Birgitta Lisholm, Martin van Meytens d. y., Malmö 1974. 9 Peter Prange, „Die Wiener Kunstakademie zwischen Reform und Stagnation. Zur Ausbildung von Malern in den Jahren 1766 bis 1812“, in: Andreas Tacke (Hg.), Herbst des Barock. Studien zum Stilwandel. Die Malerfamilie Keller (1740–1904), München und Berlin 1998, S. 339. 10 Wagner 1967 (wie Anm. 2), S. 32. 11 Zit. nach ibid., S. 37. 12 Lhotsky 1941–1945 (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 436; Wagner 1967 (wie Anm. 2), S. 39; Günther Heinz, „Die figürlichen Künste zur Zeit Josephs II.“, in: Österreich zur Zeit Kaiser Josephs II., Mitregent Kaiserin Maria Theresias, Kaiser und Landesfürst, Ausst. Kat. Stift Melk 1980, S. 181–199.
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13 Wagner 1967 (wie Anm. 2), S. 41. 14 Angelika Vorster, „Das Doppelporträt Josephs II. und Pietro Leopoldos von Pompeo Batoni“, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 2, 2001, S. 105–120. 15 Steffi Roettgen, „‚Antonius de Maron faciebat Romae’. Zum Werk Anton von Marons in Rom“, in: Österreichische Künstler und Rom. Vom Barock zur Secession, Ausst. Kat. Österreichisches Kulturinstitut in Rom; Akademie der bildenden Künste Wien 1972, S. 35–52. 16 Prange 1998 (wie Anm. 9), S. 343. 17 Roettgen 1972 (wie Anm. 15), S. 42. 18 Als Teil der Neugestaltung des Vieux-Laque-Zimmers in Schloss Schönbrunn. 19 Heinz 1980 (wie Anm. 12), S. 184. 20 Am 5. Dezember 1772 war Maron bereits wieder nach Rom zurückgekehrt, wie aus einem Dokument hervorgeht, Roettgen 1972 (wie Anm. 15), S. 43. 21 Zum Porträt Maria Theresias als Witwe haben sich eine 1772 entstandene Porträtskizze in Madrid, Slg. Herzöge von Alba, sowie eine Kompositionsskizze im Kunsthistorischen Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 6948, erhalten, für letztere s. Katalog der Porträtgalerie zur Geschichte Österreichs 1400–1800, bearb. von Günther Heinz und Karl Schütz, Wien, Kunsthistorisches Museum 1976, 21982, Kat. Nr. 144. Das ausgeführte Porträt befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 6201; ibid., Kat. Nr. 145; Wolfgang Prohaska, in: Hermann Fillitz (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, 6 Bde., München, London und New York 1998–2003, hier Bd. 4: Barock, hg. von Hellmut Lorenz, S. 452, Nr. 189. Seinen Platz im Marmorsaal des Oberen Belvedere hatte es seit der zweiten, von J. Rosa besorgten Aufstellung der kaiserlichen Gemäldegalerie im Oberen Belvedere, erstmals dokumentiert durch den Katalog Rosas von 1796, Joseph Rosa, Gemälde der k. k. Gallerie, 2 Bde., Wien 1796, hier Bd. 1, S. 2 f. 22 Die Erstfassung wurde beim Transport nach Wien so beschädigt, dass Maron eine zweite Version anfertigen musste, Roettgen 1972 (wie Anm. 15), S. 44. Sie ist signiert und 1775 datiert und befindet sich heute in der Porträtgalerie Schloss Ambras, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 6200; Wien 1976 (wie Anm. 21), Kat. Nr. 148. 23 Dekret Kaiserin Maria Theresias und Kaiser Josephs II. vom 21. September 1772, publ. v. H. Zimmermann in Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 24, 1903, Regest Nr. 19 366. 24 Zimmermann 1903 (wie Anm. 23), Regest Nr. 19 393; Lhotsky 1941–1945 (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 442. 25 Stammvater der Familie war Johann Heinrich Roos (1631–1685) aus Otterberg in der Pfalz, der in den Niederlanden im Kreis der Italianisanten ausgebildet wurde. Sein ältester Sohn Philipp Peter Roos (1657–1706) erlangte unter seinem Beinamen Rosa da Tivoli internationale Berühmtheit als Maler von Tierherden und Weidevieh in der pittoresken Landschaft der römischen Campagna. Seine Nachkommen haben von ihm die italianisierte Namensform Rosa übernommen. Gaetano Rosa (1690–1770), der jüngere Sohn von Philipp Peter Roos, übersiedelte um 1725 aus Italien nach Niederösterreich oder Wien, wo er als Maler von Schlachtenbildern und schließlich von großen Altarbildern hervortrat. Im Oktober 1726 wurde sein Sohn Joseph geboren, vgl. Hermann Jedding, Johann Heinrich Roos. Werke einer Pfälzer Tiermalerfamilie in den Galerien Europas, Mainz 1998, S. 281–303. 26 Georg Kugler, Schloß Schönbrunn. Die Prunkräume, Wien 1995, S. 80 ff. 27 Zit. nach Moriz Wiessner, Die Akademie der Bildenden Künste zu Dresden von ihrer Gründung 1764 bis zum Tode von Hagedorn 1780. Festschrift zu der Feier des 100jährigen Bestehens am 12. November 1864, Dresden 1864, S. 60; Manfred Altner und Jördis Lademann, „Die Akademie von den Anfängen bis zum Tode Hagedorns“, in: Dresden. Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste (1764–1989), Dresden 1990, S. 44.
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28 Zum Kreis der in Dresden tätigen Künstler s. zuletzt Harald Marx, „La pittura a Dresda durante il regno di Augusto III.“, in: Mengs. La scoperta del Neoclassico, hg. von Steffi Roettgen, Ausst. Kat. Fondazione Palazzo Zabarella, Padua; Staatliche Kunstsammlungen, Dresden 2001, S. 35–56; zur Fortschrittlichkeit der Dresdner Gemäldegalerie s. Harald Marx, „Die Dresdner Gemäldegalerie als ‚école publique’ im 18. Jahrhundert“, in: Dresdner Hefte 46, 1996, S. 49–58. 29 Gerlinde Gruber, „‚En un mot j’ai pensé à tout’. Das Engagement des Wenzel Anton von KaunitzRietberg für die Neuaufstellung der Gemäldegalerie im Belvedere“, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 10, 2008, S. 191–205. 30 Karl Schütz, „Joseph Rosa: Von Wien nach Dresden und zurück“, in: Andreas Henning, Uta Neidhardt und Martin Roth (Hg.), „Man könnt vom Paradies nicht angenehmer träumen“. Festschrift für Prof. Dr. Harald Marx zum 15. Februar 2009, Berlin und München 2009, S. 197–201. 31 Lhotsky 1941–1945 (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 437. 32 Resolution vom 16. Oktober 1772, publ. von Zimmermann 1903 (wie Anm. 23), Regest Nr. 19 369; Lhotsky 1941–1945 (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 419.
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Kunstakademie und Künstlerstreit. Nachrichten von Kollegenkonkurrenz und Kontroversen über sakrale Historienmalerei in Sachsen: Casanova, Schenau, Oeser Streit spielt sich in Sphären ab, die für sich je eigene Rahmenbedingungen und Spielregeln haben. In der Sphäre der Kunst und des Kunstpublikums steckt die Erforschung einer spezifischen Streitkultur noch in den Anfängen. Gut bekannt ist der Wettstreit der Künste, der – konkret gefasst – ein Wetteifern der Künstler um Anerkennung und Geld ist. Seit der Renaissance wird dies als ehrenhafter, emotionsneutraler und edler Wettstreit zum Besten der Kunst stilisiert. Paolo Pino beschrieb 1548 in seinem Dialogo della pittura den Idealfall einer Künstlerkonkurrenz, nämlich „dass es zum Duell eines Wettbewerbs käme, und ein jeder ein Werk erstelle unter der Voraussetzung, dass das beste auch gewinnt […]. Denn so kann man seine Ehre verteidigen, erhalten und vermehren.“1 Die Kunstliteratur der Neuzeit hat diesen Gedanken beherzigt. Ausgeblendet wurden dabei oft die Implikationen niederer Gesinnung, die aus dem edlen Wettstreit einen unedlen Künstlerstreit werden lassen. Geht es um Auftragskonkurrenz, Marktbehauptung oder Prestige, so kann rasch aus einem hehren Paragone ein unehrenhafter Streit werden. Auch im Streben nach Ämtern, zumal wenn sie mit respektablem Salär verbunden sind, prägt nicht immer Fairplay die Einstellung unter den Kollegen. Insofern sind Künstler, wie alle Menschen, bisweilen groß in der Gesinnung, bisweilen klein in den Schwächen und Fehlern, und durchforstet man die Quellenliteratur von den Vitenbüchern über die Kunstpublizistik bis zu Archivalien, so erweisen sich Künstler nicht selten als Streithansel ganz eigener Couleur. Die Kunstgeschichte ist durchzogen von Streitigkeiten unter Künstlern.2 Sie reichen vom kunsttheoretischen Streitgespräch bis hin zu Gewalttätigkeiten, bei denen der Waffengebrauch eine Art Fortsetzung des Kunstdisputs mit anderen Mitteln darstellt. Im Kontext der Kunsttheorie scheint es kein Zufall zu sein, dass in Fragen der Theorieparadigmen der Künstlerstreit auch als Reflex kultursoziologischer Krisen gelten darf. Richtungsstreit in der Kunsttheorie zielt auch auf eine Rückversicherung beim Publikum, und insofern geht es immer zugleich um Normierungen und Definitionshoheit in der Kunst. Keine Frage, dass die Kunstakademien, die in der Regel unter fürstlicher Protektion standen und durch Statuten geregelt waren, sich sui generis als Institutionen mit einem Vorrecht für Leitmaximen ansahen.3 Doch die kleine Welt der Kunstakademien ist nicht immer die der großen Kunstgeschichte. Kunstakademie und Künstlerstreit | 175
Künstlerstreit an einer Kunstakademie scheint ein ziemlich diminuiertes Thema in deren Historiographie zu sein. Liest man sich ein wenig durch die Gesamt- und Einzelstudien zu den europäischen Kunstakademien, dann stellt man unschwer fest, dass ihre Geschicke als Erfolgsgeschichten rekapituliert werden. Selbst alle Akademiekritik und die Sezessionen um 1900 haben die Kunstakademien nicht aus ihrer zentralen Rolle an den Rand gedrängt. Kunstakademien als Streitarenen bleiben noch systematisch zu erforschen. Die folgende Rekonstruktion einer Streitgeschichte an der Dresdner Kunstakademie in ihren ersten Jahrzehnten soll ein wenig den Blick dafür schärfen helfen, dass in manchen Fällen gerade erst der Künstlerstreit kreative Energien für angestrebten Fortschritt oder programmatische Neuorientierungen freisetzt.
I. Als die königliche Kunstakademie in Dresden unter Christian Ludwig von Hagedorn nach dem Siebenjährigen Krieg ab 1763 von Grund auf reformiert und gleichsam neu gegründet wurde, sollte eine Mischung aus verdienten, jedoch nicht zu teuren Künstlern der vergangenen augusteischen Ära und vielversprechenden Neuzugängen eine solide Basis für aufgeklärte Kunstprotektion und merkantilistische Marktstärkung schaffen.4 Während Dresden als Residenzstadt kaum mehr auf kurfürstliche Repräsentation durch Kunst setzen konnte, weil die politischen Ansprüche nun weitaus bescheidener geworden waren, dafür aber die Kunstakademie stärker ins öffentliche Bewusstsein rückte,5 blieb Leipzig als Wirtschaftsmetropole mit einer dichten Verlags- und Wissenschaftsszene eine der vitalsten Städte der deutschen Aufklärung.6 Hagedorn war ein vielgereister Diplomat mit profunden Kenntnissen der deutschen Kunstzentren.7 Über sein europaweites Korrespondenznetzwerk konnte er Informationen über mögliche Kandidaten für die einzelnen Klassen der Akademie einholen, und so gelang es ihm, zahlreiche Künstler nach Dresden zu ziehen, die jung genug waren und Potenzial versprachen. Der Erfolg gab Hagedorn in seiner Berufungspolitik Recht. Die Dresdner Kunstakademie nahm bald eine führende Rolle ein, besonders die Jahresausstellungen fanden ein breites Echo in den Gazetten. Überhaupt ist die Genese der deutschen Kunstkritik ab dem mittleren 18. Jahrhundert ohne die Dresdner Kunstakademie kaum zu denken.8 Unter den ersten, die aus dem Ausland nach Dresden berufen wurden, war Giovanni Battista Casanova.9 Das war kein Zufall. Er war 1738 mit seiner Mutter als Knabe nach Dresden gekommen, hatte bei Christian Wilhelm Ernst Dietrich gelernt, ging dann zur Weiterbildung nach Venedig, von wo er schließlich 1752 zu Anton Raphael Mengs nach Rom als Mitarbeiter im Rang eines sächsischen Hofmalers mit einem Jahresgehalt von 300 Talern beordert wurde. Mit Ausbruch des Siebenjährigen Krieges wurden die Gehaltszahlungen – ebenso wie bei der Familie Mengs – eingestellt. Hagedorn, der Casa176 | Roland Kanz
nova persönlich nicht kannte, konnte hieran anknüpfen. Zuerst holte er Erkundigungen bei Johann Joachim Winckelmann ein, der Casanova als den „besten Zeichner in Rom“ bezeichnete.10 Mit Winckelmann verband Casanova zunächst eine enge Freundschaft, aus der als Gemeinschaftsprojekt die Monumenti inediti antichi erwachsen sollten, die Winckelmann jedoch nach dem tiefen Zerwürfnis allein publizierte. Casanova hatte ihn mit Fälschungen von antiken Gemälden hereingelegt, aber was vielleicht zunächst als Scherz und Denkzettel unter Freunden – Mengs war auch beteiligt – gedacht war, nahm eine dramatische Wende.11 Da Winckelmann diese ihm zum Teil nur in Umzeichnungen bekannten Werke in seiner Geschichte der Kunst 1764 veröffentlichte und bejubelte, hatte er sich vor der antiquarischen Leseöffentlichkeit in ganz Europa in eine missliche Lage gebracht. Er hätte wissen müssen, dass die Gefahr von Fälschungen in Rom hinter jeder Straßenecke lauerte.12 Er machte vor allem Casanova dafür verantwortlich, und diese unversöhnliche Fehde dauerte bis zu Winckelmanns tragischer Ermordung 1768 an. Casanova, der seit Ende 1764 in Dresden weilte, geriet dieser Streit nicht zum Nachteil. Er führte sich als gelehrter Antikenkenner und kunsttheoretischer Apologet von Mengs ein und verkörperte somit die avancierteste Position, die man sich in diesen Jahren von einem Künstler in Dresden erhoffen konnte. Wenn schon nicht Mengs selbst, so hatte man doch wenigstens seinen mutmaßlichen Meisterschüler gewinnen können. Casanovas Vorlesungen zur Theorie der Malerei – die bereits 1765 einsetzten, lange unterbrochen wurden und schließlich 1782 bis 1784 in ein ausgreifendes Kompendium zur Kunsttheorie münden sollten – bekräftigten seinen Ruf als Koryphäe in Antikenfragen und Theorieunterricht.13 Doch zeigte sich daneben, dass er im Akademieleben wenig Freunde hatte, denn er war stets auf seine Stellung bedacht. Aufgrund einer Anklage in Rom wegen Wechselfälschung wurde er dort 1767 in Abwesenheit zu zehn Jahren Galeere verurteilt. Auf der diplomatischen Ebene zog sich diese Causa jedoch noch einige Jahre hin, denn Casanova sah sich betrogen und zu Unrecht verurteilt; letztlich wurde das Urteil nie vollstreckt. Diese Umstände brachten es mit sich, dass unter den Kollegen eine Stimmung gegen Casanova um sich griff, denn der Generaldirektor Hagedorn musste das Kollegium ermahnen, keine Vorverurteilung zu betreiben.14 In dieser Phase um 1770 wurde Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau, von Hagedorn an die Dresdner Kunstakademie berufen. Damit bahnte sich eine Personalkonstellation an, die über lange Jahre eine Atmosphäre der gegenseitigen Missgunst und des Streits über die Akademie legte. Nach diverser Korrespondenz mit Johann Georg Wille in Paris über die Frage, ob Schenau sich eigne, schien für letzteren, der sich gerade in Paris einigermaßen etabliert hatte, die Rückkehr nach Sachsen lukrativ genug zu sein. Schenau stammte aus der sächsischen Provinz – aus Großschönau, weshalb er sich in Paris aufgrund der für Franzosen schwierigen Aussprache seines eigentlichen Namens seinen Künstlernamen mit Bezug auf den Herkunftsort zulegte – und durchlief eine Ausbildung, die lange Zeit von Zufällen und Eigeninitiative geprägt war. 1749 war er nach Kunstakademie und Künstlerstreit | 177
Dresden gekommen und lernte zunächst bei dem unbedeutenden Porträtmaler Johann Christoph Beßler.15 Von Charles-François de Silvestre, dem Sohn des ehemaligen Hofporträtisten Louis de Silvestre, wurde er 1756 bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges nach Paris mitgenommen, wo er nach gewissen Eingewöhnungsschwierigkeiten schließlich in der berühmten Graphikwerkstatt von Wille arbeitete. Wille wurde dann auch zu seinem wichtigsten Förderer. In Paris schulte sich Schenau vor allem an den Werken von Jean Baptist Greuze, dessen gemalte Rührstücke er in eigene Bildthemen umzusetzen verstand. Auch die Gemälde von Jean Baptist Simeon Chardin studierte Schenau fleißig. Wille war es schließlich auch, der Schenau zurück nach Dresden vermittelte, wo er zunächst für die Porzellanmanufaktur in Meißen vorgesehen war. Die Berufung erfolgte 1768, verschleppte sich jedoch, so dass er erst 1770 in Dresden eintraf, dort aber zunächst nur Mitglied der Akademie war, bis er dann aber doch 1773 Leiter der Mal- und Zeichenschule der Meißener Porzellanmanufaktur wurde. Vor allem aber galt Schenau als Importeur französischer Genremalerei, ein Gebiet, auf dem auch Charles Hutin, der erste Akademiedirektor, arbeitete. Goethe erinnerte sich 1817 an Schenau nur noch in Bezug auf die kleinen Genrebilder in der Manier von Greuze.16 Schenau war mit Karrierewünschen nach Dresden gekommen und wollte die weitere Entwicklung nicht einfach nur abwarten. 1772 malte er ein Repräsentationsstück für die kurfürstliche Familie (Abb. 1). Das Bild hatte einen konkreten Anlass, nämlich die Genesung der Kurfürsten-Witwe Maria Antonia, der Gemahlin des 1763 verstorbenen Kurfürsten Friedrich Christian. Der Auftrag war schon kurz nach Schenaus Ankunft ergangen, doch erst 1772 lag das Gemälde vor. Man erkennt sofort, dass Schenau sich empfehlen wollte, denn das Bild ist mit beträchtlichem Pomp inszeniert. In einem großen, nicht weiter definierten Saal hat sich die kurfürstliche Familie um die Mutter und Großmutter versammelt. Sie sitzt recht fidel in der Mitte, umringt von der Familie. Alle haben sich betont 1 Johann Eleazar Zeissig, gen. Schenau, Die kurfürstliche Familie, zufällig eingefunden, und doch 1772, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister 178 | Roland Kanz
weiß jeder, dass die Szene gestellt ist. Links hinter der Witwe stehen der amtierende Kurfürst Friedrich August und seine Frau; alle drei reichen sich die Hand zum Zeichen ihrer Verbundenheit. Ganz rechts steht Prinz Xaver, der nach dem Siebenjährigen Krieg von 1763 bis 1768 Kursachsen verwaltet hatte. Rechts hinter der Witwe weist die Tochter des letzten Königs August III., Prinzessin Elisabeth, auf das hinter der Gruppe auf einer Staffelei stehende Gemälde, das als Bild im Bild eine Allegorie auf die Genesung der Witwe zeigt und so den Anlass der Familienzusammenkunft erklärt. Überfangen ist die Gruppe von einer riesigen Vorhangdraperie, die als ein mächtiger Baldachin 2 Johann Eleazar Zeissig, gen. Schenau, Das Kunstgespräch, 1772, fungiert und die nach wie vor Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister gefragte Repräsentationspflicht manifestiert. Es ist zwar die Darstellung einer absolutistischen Herrscherfamilie, doch ist Schenaus Versuch, so etwas wie Nahbarkeit ins Bild zu bringen, unverkennbar. Ebenfalls 1772 malte Schenau ein Gemälde, das von der Forschung den Titel Das Kunstgespräch erhalten hat (Abb. 2).17 Es gilt als das Bild, mit dem Schenau einigermaßen bekannt ist, vielleicht auch nur den Liebhabern sächsischer Kunst. In einem Salon sitzen zwei Herren an einem Tisch und unterhalten sich angeregt. Es handelt sich links um den Generaldirektor Hagedorn und rechts um den sächsischen Konferenzminister Thomas Freiherr von Fritsch, der von 1763 bis zu seinem Tod 1775 die Leistung vollbrachte, die ruinierte sächsische Wirtschaft nach dem Siebenjährigen Krieg wieder in Fahrt zu bringen. Fritsch war bei wirtschaftlichen Fragen der wichtigste Mann im Staat. Hinter Hagedorn stehen von links nach rechts Anton Graff, Schenau und Adrian Zingg. Man hat immer angenommen, dass hier die führenden Köpfe der Kunstakademie zu einer Audienz geladen wurden, doch das mag nur vordergründig zutreffen. Graff und Zingg waren keine Professoren, und Schenau wollte sich mit diesem Bild gerade eben für eine Beförderung Kunstakademie und Künstlerstreit | 179
empfehlen. Die Identifizierung der stehenden Künstler ist dem Reisetagebuch Daniel Chodowieckis zu verdanken, der das Bild bei einem Aufenthalt 1773 sah: „Man glaubte, ich würde leicht die stehenden Personen erkennen können, aber man täuschte sich: ich erkannte sie nicht. Man sagte nur, es seien die Herren Zingg und Graff, da erkannte ich sie, obgleich Herr Graff gar nicht ähnlich ist. Vom dritten glaubte man auch, ich müßte ihn unfehlbar erkennen, aber man täuschte sich wiederum: ich erkannte ihn nicht und ich war ziemlich in Verlegenheit, als man mir sagte, das sei Herr Schönau, der anwesend war.“18 Bemerkenswert bleibt, dass bei dieser angeblichen Audienz die führenden Köpfe der Akademie fehlen, denn das waren Charles Hutin als deren Direktor und Giovanni Casanova als Professor für Historienmalerei und Kunsttheorie. Schenaus Gemälde zeigt eine Allianz, die für die zeitgenössischen Betrachter eine Botschaft von Inklusion und Exklusion vermitteln konnte. Es geht um die Nähe zur Macht und die Positionen im Gefüge der Akademie.
II. Casanova sah in Schenau vermutlich von Anfang an einen Konkurrenten, den es im Auge zu behalten galt. Hagedorn hat die Verhältnisse im Kollegium sicherlich beobachtet, doch hielt die schwelende Rivalität ihn nicht davon ab, nach dem Tod des ersten Akademiedirektors Charles Hutin im Sommer 1776 die Nachfolge auf zwei Schultern zu verteilen: Casanova und Schenau. Beide sollten alternierend die Geschäfte führen. Es mag sein, dass Hagedorn seiner eigenen Lösung nicht richtig traute, denn er formulierte Ende 1776 ein Memorandum, in dem er die Pflichten und Eigenschaften eines Akademiedirektors festhielt. Er hebt darin den „Geist zur Ordnung“, das „Lob der Rechtschaffenheit“ und die Entsagung von Parteilichkeit hervor. Als ob er die künftigen Kontroversen geahnt hätte, hält er fest: „Steine des Anstoßes hebt er [der jeweils amtierende Direktor, Anm. d. Verf.] ohne Geräusch, und kleinen Unzufriedenheiten gestattet er nicht, wo er es abwehren könne, die Gestalt der Schmähschriften oder des Zwistes.“19 Gerade das, was Hagedorn hierdurch verhindern wollte, trat zehn Jahre später ein. Das neue Kondirektorat begann 1777 mit Casanova, der fortan die ungeraden Jahre amtierte. Vorerst gab es keine Zwistigkeiten. Hagedorn starb 1780, und mit Camillo Graf Marcolini folgte ein versierter Administrator im Amt der Generaldirektion, der die Zügel fester als Hagedorn in die Hand nahm. Schenau leitete in diesem Jahr die Akademiegeschäfte und hatte Marcolini eine Liste mit Vorschlägen zu Gratifikationen, Stipendien, Honoraren, Vorschüssen und Beförderungen vorgelegt. Vermutlich weil Marcolini neu im Amt war und eine bessere Einschätzung gewinnen wollte, wurde Casanova zu Beginn des Jahres 1781 um seine Meinung gebeten. Casanovas umfangreiche und angriffslustige Stellungnahme hat sich erhalten (siehe den Auszug im Anhang). Es handelte sich jedoch 180 | Roland Kanz
nicht um ein offizielles Schriftstück, das bei den Akademieakten landete, denn es fand erst 1929 Eingang in das Hauptstaatsarchiv. Schenau muss sich in seiner Eingabe auch über die Ziele der Ausbildung geäußert haben. Darauf antwortete Casanova mit einer vehementen Programmatik zur Ausbildung. Schenau hatte offensichtlich in seiner Einlassung vor allem gegen das Antikenstudium und das Kopieren vor Gipsabgüssen argumentiert. Damit entferne er sich, so Casanova, vom Wahren der Ideen. Casanova hält dagegen, dass man „die Antique niemals genug studiren kann“. Zur Bekräftigung dieser Maxime führt er Carlo Maratta an, der die Ideologie der akademischen Lehre in einer programmatischen Zeichnung (um 1682) konzentrierte. Nicolas Dorigny besorgte den vor 1711 zu datierenden Kupferstich (Abb. 3), 3 Nicolas Dorigny nach Carlo Maratta, Die Zeichenschule, vor 1711, so dass dieses Blatt und seine Kupferstich Botschaft von Casanova als allgemein bekannt vorausgesetzt werden konnten. Der Stich beinhaltet eine Bild gewordene Kunsttheorie.20 Im Bild und im Paratext unter der fiktiven Atelierszene wird exponiert, was man nicht übertreiben solle und was man nicht genug studieren könne: „Tanto che basti“ („so viel, dass es genügt“) steht bei den Zeichnungen zur Perspektive auf der Leinwand, ebenso am Boden bei der Praxis der Geometrie und abermals bei dem Muskelmann auf dem Podest im Bildmittelgrund, an dem der fiktiv anwesende Leonardo Erklärungen abgibt.21 Die höheren Ziele sind im Hintergrund dargestellt: Über den antiken Statuen steht „mai abastanza“ („niemals genug“), und rechts bei den drei Grazien erscheint „senza di noi ogni fatica e vana“ („ohne uns ist jede Mühe hinfällig/müßig“). Die Botschaft ist eindeutig: Nur das Studium der antiken Statuen kann nie übertrieben werden, denn es führt zu Kunstakademie und Künstlerstreit | 181
Grazie und Schönheit. Der Weg zur eigenen Perfektion führt über das Studium der Alten, das heißt über das Kopieren der antiken Statuen und ihrer Abgüsse. Für die Richtlinien von Akademien war dies allgemein üblich. Bei der Formierung von Lehrstoff in Relation zu Lernphasen ging es um die normative Systematisierung der Unterrichtsstruktur und um die Mechanismen des Ausstellungsbetriebs mit Marktorientierung. Darüber schwebt immer auch eine nobilitierende Wolke der Kunsttheorie, angefangen mit den Überlegungen zur Metaphysik des disegno. Insofern wäre schon im 16. Jahrhundert ein erster „pictorial turn“ auszumachen, denn die Malerei spielt im Zuge der Institutionalisierung der Künstler in den Akademien die führende Rolle. Jedenfalls dominiert sie seither die Theoriehoheit. Wenn man es zuspitzen wollte, dann ließe sich behaupten, dass die Skulptur im Original (zum Beispiel in Rom) oder über das Medium der Abgüsse seit dem 17. Jahrhundert in den Akademien die Rolle einer Hilfswissenschaft zugewiesen bekam – eine prominente Hilfswissenschaft, zentral dienlich auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, nämlich der Historienmalerei. In dieser Klimax dachte auch Casanova. Da Schenau wohl vom Schönen, Erhabenen, Angenehmen und vom Geschmack gehandelt hatte, hielt Casanova dagegen, dass Schenau am liebsten alle Schüler nach französischen Vorbildern von Watteau bis Boucher studieren lassen würde. Mittlerweile sei dies „abgeschmackt“. Die abschätzige Haltung Casanovas lässt sich nachvollziehen, wenn man rekapituliert, dass Schenau eigentlich nicht zum Historienfach zählte und ein Maler der kleinformatigen Genrebilder war. Um 1775 hatte Schenau ein Rezeptionsbild eingereicht, mit dem er seine Ambitionen auf das Historienfach unterstreichen wollte. Freilich kann seine Interpretation von Priamus bittet Achill um die Leiche Hectors, die sich heute in der Hochschule für Bildende Künste Dresden befindet, nicht als großes Versprechen für die Zukunft gelten. Die Komposition wirkt überladen, das Ambiente theaterhaft ausstaffiert und die Figuren agieren linkisch. Immerhin ist aber der Versuch erkennbar, sich den antiken Themen zu stellen, wie es von einem Akademiemaler erwartet wurde. Auch in den Ausstellungen der folgenden Jahre hatte Schenau regelmäßig Bilder mit antiken Sujets präsentiert, die von den Rezensenten mitunter unverblümt kritisiert wurden. Im ersten Jahr als Kondirektor zeigte er 1777 zwei Bilder, Aeneas und Venus sowie Caesar an der Bildsäule Alexanders. Die Besprechung bemängelte „Fehler gegen die Geschichte“.22 Selbst eine Italienreise hatte bei Schenau wenig Eindruck hinterlassen. Chodowiecki konstatierte dies 1782 in einem Brief an Anton Graff anlässlich eines nach einer „höchst elenden“ Zeichnung Schenaus ausgeführten Kupferstichs süffisant, da das Reisegeld hätte gespart werden können.23 Ein weiterer ausführlicher Punkt in Casanovas Gutachten betrifft die Entgegnung auf Schenaus Meinung, dem Casanova-Schüler Joseph Johannes Crescentius Seydelmann sei die Befähigung für das Professorenamt in der Akademie abzusprechen. Indirekt ist zu entnehmen, dass Schenau ihn mit Vorlagezeichnungen zum Galeriewerk beschäftigen wollte, dessen dritter Band in Planung war.24 Casanova verteidigt das Talent Seydel182 | Roland Kanz
manns, der später sogar ebenfalls ins Direktorenamt aufsteigen sollte.25 Stattdessen hatte Schenau seine Künstlerfreunde Anton Graff und Adrian Zingg für ein Professorenamt vorgeschlagen.26 Eine Ernennung beider zu Professoren hätte der Akademie sicherlich weiteres Ansehen eingebracht, doch Casanova blieb starrsinnig und sprach den Kollegen Graff und Zingg seinerseits die Berechtigung für diesen Status ab, weil ihre Gattungen für die vorgesehenen Positionen nicht prädestiniert seien. Aus heutiger Sicht gelten Graff und Zingg als die innovativsten Köpfe dieser Jahrzehnte, doch spiegelt dies nicht ihre Position im Akademiegefüge wider. Erst Jahre später besserte sich die Situation der beiden. Casanovas Gutachten zu Schenaus Vorschlägen belegt, dass beide Direktoren regelmäßig konträrer Meinung waren, ja dass sich ein Konfliktpotential aufstaute, das einen schwelenden Dauerstreit nährte. Jedenfalls folgte der Generaldirektor Marcolini im Wesentlichen den Vorschlägen Casanovas,27 worüber Schenau wenig erfreut gewesen sein dürfte.
III. Das grundsätzliche Problem der Historienmalerei in Dresden war, dass es an kurfürstlichen Aufträgen oder einträglichen Aufkäufen fehlte, das vermögende Bürgertum sich zurückhielt und auch die Gelegenheit der regelmäßigen Akademieausstellungen offensichtlich keinen großen Verkaufserfolg bot. Es gab keinen guten Markt für Historiengemälde, das bürgerliche Käuferinteresse richtete sich auf Porträts, Genrebilder und Landschaften. Im Historienfach waren die Ambitionen eher akademisch, im Sinne einer notwendigen Demonstration, sich dieser Aufgabe stellen zu wollen und zu können. Das wechselhafte Gelingen beider Direktoren in ihren Bemühungen um Historiendarstellungen oder Allegorien spiegelt sich auch in den Rezensionen zu den Akademieausstellungen, die regelmäßig in verschiedenen Journalen gedruckt wurden, um das interessierte Lesepublikum über die Kunstproduktion in Dresden zu informieren. Eine systematische Lektüre dieser Besprechungen lässt erkennen, dass sich die Publikumsgunst zwischen den beiden polarisierte. Die jeweiligen Stärken waren bekannt und wurden öfters repetiert, die Schwächen fallweise herausgestellt. Eine vernichtende Kritik erfuhr Casanova für sein 1781 ausgestelltes Gemälde mit einer Allegorie auf den Tod von Mengs (1779).28 Es war die Ausstellung, die unmittelbar auf Casanovas Gutachten gegen Schenau folgte. Der Kritiker führt mit dem Schachzug ein, man sage, es sei das beste Gemälde „dieses berühmten Italiäners“, nur um dann nichts Gutes daran zu lassen: „Die etwas schwere Zusammensetzung misfiel mir gleich auf den ersten Anblick, doch noch mehr das Kolorit. […] Das Kolorit ist ganz schlecht. Es läßt sich nicht begreifen, wie es möglich sein kan, daß Casanova noch immer malen will, ohne die Gabe dazu zu haben. […] Es ist überall zu wenig Warheit, zu wenig angenehme Manier. […] Kurz das ist seine Sache nicht, und er ist schon zu alt, als daß man hoffen dürfte, er könne Kunstakademie und Künstlerstreit | 183
noch durch Fleiß und freundschaftlichen Rath erlangen, was ihm fehlt. […] Ich kann nicht sagen, daß ich nun von Herrn Casanova noch etwas zu sehen wünschte […].“29 Das war starker Tobak, aber man muss es diesem Kritiker lassen, dass er seinen Verriss durch akribische Beobachtungen untermauern wollte. Würde man vermuten, Schenau habe diese Besprechung lanciert, so wird man feststellen, dass auch er nicht gut wegkommt, wenngleich er deutlich milder kritisiert wird. Im Jahr darauf stellte Schenau sich derselben Aufgabe wie Casanova, wenn auch nur in einer Zeichnung, indem er eine Allegorie auf den Tod Lessings vorstellte. Das neue Sujet von Personendenkmal und Allegorie stellte die Herausforderung dar, ein neues Thema mit den altbekannten Mitteln panegyrischer Bildsprache zu gestalten. Schenau kam dabei deutlich besser weg als Casanova ein Jahr zuvor. Es sei eines „seiner trefflichsten Meisterstücke“, hebt die Besprechung an, und 4 Johann Eleazar Zeissig, gen. Schenau, Auferstehung und Himmelalles wird gelobt, die Bilderzähfahrt Christi, 1786, Großschönau, Pfarrkirche lung, die Figurenverteilung, Licht und Schatten sowie Ausdruck und Erhabenheit in „Stellung und Antlitz der Personen“.30 Casanova dürfte dieses Lob aufmerksam registriert haben. Vorerst war er jedoch in den nächsten drei Jahren, von 1782 bis 1784, mit der Ausarbeitung seiner Vorlesungen zur Theorie der Malerei vollauf beschäftigt.
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IV. Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Gegnerschaft von Schenau und Casanova im Jahr 1786 im sogenannten „Dresdner Gemäldekrieg“.31 Schenau hatte auf der Akademieausstellung ein großes, für seinen Heimatort Großschönau bestimmtes Altarbild mit der Darstellung der Auferstehung Christi ausgestellt (Abb. 4). Er hatte sein eigentliches Gebiet, die eher kleinformatigen Genrebilder, verlassen, um mit einem biblischen Historienbild zu glänzen. Schenau verband zwei ikonographische Bildmotive zu einem Thema, Auferstehung und Himmelfahrt. Zentrale Figur ist Christus, der mit erhobenen Armen in einem breiten Lichtstrahl emporschwebt, umgeben von adorierenden Engeln. Oben, klein und im Gemälde schwer zu erkennen, erwartet ihn Gottvater. Die Soldaten im Vordergrund reagieren erschrocken, geblendet, niedergestürzt, ein dramatischer Tumult, der sich dem Bildbetrachter entgegen bewegt. Schenau hatte sichtlich Mühe, das große Format und die Komposition zu bewältigen. Die Eigenwilligkeit des Bildthemas weist das Gemälde als ambitionierten Versuch aus, die Auf5 Christian Friedrich Stölzel nach Schenau, gabe eines protestantischen Altarbildes als eine Auferstehung und Himmelfahrt Christi, 1792, Kupferstich in Punktiermanier aktuelle Herausforderung für die Historienmalerei zu verstehen. In jedem Fall zog das Bild auf der Akademieausstellung alle Aufmerksamkeit auf sich. Insofern verwundert das große Echo der Rezensenten nicht. Sogleich wurde erkannt, dass es nicht um ein bibelgetreues Thema ging, sondern um eine Verbildlichung von Klopstocks Dichtung des Messias.32 Das Auferstehungsthema hatte bei den Protestanten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewonnen. Klopstock hatte einige Oden auf das Ostererlebnis gedichtet, und besonders Lessing förderte das Interesse mit seiner Schrift Über die Auferstehung von 1777. Aus den Oden Klopstocks lässt sich die Emphase des Emporschwebens bei der Auferstehung begründen. Christus ist bei Schenau nicht als Schmerzensmann mit den Wundmalen und dem Kreuzstab als Siegeszeichen ausgestattet, sondern im Sinne Lessings als lichtgestaltige Inkarnation von Tugend und Vernunft in der Vermittlung von irdischer und himmlischer Sphäre. Kunstakademie und Künstlerstreit | 185
Noch während der Dresdner Ausstellung 1786 spaltete sich das Publikum in Bezug auf Schenaus Bild in zwei Lager, und es entzündete sich sogleich eine in zehn gedruckten Pamphleten ausgetragene Fehde zwischen Anhängern von Schenau, die dessen Gemälde bejubelten, und vehementen Kritikern, deren Parteigängerschaft mit Casanova ein offenes Geheimnis war. Den Auftakt bildet eine Lobschrift auf Schenaus Altarbild, in der in Analogie zu Klopstock die Emphase des Ascensus gefeiert wird.33 Mit dem Verweis auf Johann Caspar Lavaters physiognomische Exegesen des Christuskopfes wird die Göttlichkeit in Schenaus Darstellung unterstrichen, und im Rekurs auf Sebastiano Riccis Gemälde der Himmelfahrt (1702), das zuvor die erste katholische Hofkirche geschmückt hatte und nun in der Gemäldegalerie ausgestellt war, wird die kompositorische Bewältigung des Hochformats gepriesen.34 Diese Lobschrift provozierte eine umgehende Entgegnung, die anonym erschien. Ob hier Casanova selbst zur Feder gegriffen hatte, wurde vermutet, kann aber nicht belegt werden und ist eher unwahrscheinlich.35 Namentlich werden aber die künstlerischen Positionen von Schenau und Casanova in den Schriften gegeneinander ins Feld gebracht, und da deren Gegnerschaft stadtbekannt war, erregte dieses Novum, dass Pamph lete für und wider Schenaus Altargemälde in Umlauf gebracht wurden, beträchtlichen Widerhall.36 Insgesamt zehn Druckschriften inklusive einer kurzen Komödie erschienen 1786. Ein vergleichbarer Fall ist für diese Zeit nicht bekannt. Schon allein deshalb gebührt dieser Kontroverse für die Genese der deutschen Kunstkritik in der Spätaufklärung Aufmerksamkeit, selbst wenn die Texte keine Höhenwanderung der deutschen Kunsttheorie darstellen. In der Gegenschrift wurde nun Schenaus Gemälde zerpflückt. Er habe eine „lebhafte Einbildungskraft, die aber oft von falschen Ideen gerührt wird, wovon seine Auferstehung ein Beweis seyn kann“.37 Kritisiert wird, dass man „auf christliche Altäre dichterische Erfindungen stellt“, obwohl man doch vom „Mißbrauch der Bilder“ wisse, und der Kontrahent warnt davor, „romantische Erfindungen“ in die Kirchen einzuführen, welche die „heiligen Wahrheiten mit Erdichtungen vermengen.“38 Zum Schluss wird dem Lobredner entgegen gehalten: „[…] und wenn Sie, um ihm Anhänger zu verschaffen, eine Religionssache daraus machen wollen, so sind Sie wirklich auf dem rechten Wege, eine Secte zu stiften. Maler der Religion! Ein ganz neuer Titel!“39 Stein des Anstoßes war folglich die Vermischung von Dichtung und Evangelium, ein Vorgang, der ein Streiflicht auf die protestantische Sicht auf religiöse Bildaufgaben in der Spätaufklärung wirft. Ein weiterer Teilnehmer der Kontroverse warf ein, dass die „Philosophie und bürgerlichen Verhältnisse“ eine irrgläubige Betrachtung religiöser Bilder „bey den gereinigten Grundsätzen aller Confeßionen wahrhaftig“ nicht befürchten lassen.40 Neben den diskutierten Fragen künstlerischer Detailkritik in Figurenauffassung, Komposition, Verkürzungen, Farbgebung und Maltechnik drehte sich folglich das Interesse um die sakrale Historienmalerei in ihrer zeitgemäßen Auslegung. 186 | Roland Kanz
Allen kunstbewussten Lesern, auch außerhalb von Dresden, war klar, dass Schenau sich in einen Vergleich mit Mengs’ gefeiertem Hochaltarbild der katholischen Hofkirche begeben hatte (Abb. 6). Schenau konnte dabei nur schlecht abschneiden. Mengs’ Gemälde galt noch immer als meisterhaft, und bislang hatte es keiner gewagt, ein vergleichbares Sujet im großen Format zu bewältigen. Schenau konnte dem Versuch nicht widerstehen, die Figur des triumphierenden Christus mit einer aufschwebenden Dynamik auszustatten, die Vergleiche geradezu herausfordert – bis zurück zu Raffaels Transfiguration. Casanova war es gewesen, der kurz nach seiner Ankunft in Dresden und kurz nach dem Eintreffen von Mengs’ Gemälde eine Beschreibung publizierte, die 1766 erschien.41 Dieser kurze Text zählt zu den interessantesten Beispielen kunstkritischer Analyse und Würdigung in der deutschen Kunstliteratur dieser Zeit.42 Casanova hatte Erfindung und Idee von Mengs’ Werk gelobt, auch die kompositorische Bewältigung des extremen Hochformats von neun Metern Höhe und vier Metern Breite, aufgeteilt in drei Zonen nach dem körperlichen „Gewicht“ der
6 Anton Raphael Mengs, Himmelfahrt Christi, 1751–65, Dresden, Katholische Hofkirche
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Bildfiguren. In der mittleren Bildzone sehe man Christus, der „durch eigene Kraft emporsteiget, man sieht die Geschwindigkeit, mit der der Flug des Gewandes sich in den Lüften beweget, welches zur Erde niederfällt, woraus der Zuschauer erkennet, daß es schwerer sey, als der Leib des Erlösers.“43 Er sei die schwierigste Figur im Bild, zwischen ermatteter Körperlichkeit und steigender Schwerelosigkeit schwebend. Die terrestrischen Figuren würden ihre Betrübnis zeigen, dass sie „vom Körper gezwungen werden, auf der Erde zu bleiben.“ Was hier anklingt, ist eine mit der Vernunft bemessene Bildsituation, die ein religiöses Mysterium in verstandesmäßige Kategorien zu übersetzen versucht. Römischkatholische Bildmuster sakraler Historienmalerei wären in Sachsen schwer zu vermitteln gewesen, das ahnte Casanova instinktsicher, doch mit der kunsthistorischen Rückverankerung in eine lange Kette prominenter Künstler und der „vernünftigen“ Reflexion über das religiöse Sujet ließ sich dieses Gemälde nicht vorrangig als Glaubensbild, sondern vielmehr als Kunstwerk vermitteln. Im Vergleich zwischen Mengs und Schenau war für das Publikum sofort ersichtlich, dass Schenaus akademischer Christus keine solch perfekte Eleganz aufwies. Sein Gemälde geriet denn auch in der Pfarrkirche von Großschönau aus dem Blickfeld und blieb nur durch den Nachstich von Christian Friedrich Stölzel von 1792 im Gedächtnis (Abb. 5). Mengs’ Darstellung des Ascensus im Hochaltarbild konnte dagegen noch 1809 beeindrucken. Der Altphilologe Karl Morgenstern lobte: „Es ist vielleicht das größte aller Altarblätter. In einer Gallerie aufgestellt, würde es colossal erscheinen. […] Das Emporfliegen des Christus ist wunderbar ausgedrückt. Diese parallel gehaltenen Füße haben ganz Haltung und Schwung der Füße eines emporfliegenden Schwans oder anderen großen Vogels. Aber müßte das Emporschweben des Erlösers geradezu fliegen seyn? Wäre ein Schweben, wobey der eine Fuß über den anderen herunterragte, u. wo eine innewohnende Kraft ohne alles Fliegen die Gestalt mächtig zu heben schiene, nicht vielleicht edler, würdiger gewesen? […].“44 Die Kritiken von 1786 entmutigten Schenau nicht, sich weiterhin als Maler sakraler Historienbilder profilieren zu wollen. Für die Kreuzkirche in Dresden führte er 1788 ein Altarbild aus, das die Kreuzigung Christi darstellte; es ist 1897 verbrannt.45 Nach der Zerstörung der Kreuzkirche im Siebenjährigen Krieg, deren Ruine Bernardo Bellotto in einem spektakulären Bild überliefert hatte, war dies nach Abschluss des Neubaus in Dresden der prominenteste kirchliche Auftrag. Stölzel hat auch dieses Gemälde 1792 gestochen (Abb. 7). Schenau selbst sorgte 1791 für eine Beschreibung im Magazin der sächsischen Geschichte,46 die andernorts wieder abgedruckt und mit dem Zusatz kommentiert wurde, die „Composition und das schmelzende Colorit machen eine vortreffliche Wirkung“ und das Altargemälde sei „ein schöner Pendant“ zu Mengs’ Gemälde in der Hofkirche.47
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V. Bislang wurde nicht beachtet, dass der Dresdner Gemäldestreit unmittelbar nach Leipzig ausstrahlte. Rekapituliert man das Konfliktkontinuum zwischen Casanova und Schenau, dann muss im Kontext der sächsischen Kunstakademien davon ausgegangen werden, dass Adam Friedrich Oeser, der Leiter der Leipziger Zeichenakademie, von der Debatte um Schenaus Altargemälde von 1786 nicht nur hörte, sondern sicherlich auch die Pamphlete zu lesen bekam. Ob er selbst in Dresden bei der Ausstellung war, ist nicht gesichert. In jedem Fall wird er aber alle Nachrichten verfolgt haben, welche die dortigen Kollegen betrafen. Das Interesse dürfte allein schon deswegen gegeben gewesen sein, weil Oeser früher selbst Altargemälde für die Katholische Hofkirche in Dresden gemalt hatte. Die älteren Kunstkenner mochten sich daran erinnern, dass Oeser für deren Interimsausstattung anlässlich der Weihe am 29. Juli 1751 mit einem oder mehreren, vermutlich unter Zeitdruck in flüchtiger Technik gemalten Altarbildern beauftragt worden war, für die er 7 Christian Friedrich Stölzel nach Schenau, die recht hohe Summe von 870 Talern erhalten Kreuzigung Christi nach dem Altarbild der Dresdner Kreuzkirche, 1792, Kupferstich 48 hatte. Noch 1782 bemerkte ein anonymer Rezensent der Akademieausstellung von 1781 im Journal Deutsches Museum: „Sein [Oesers, Anm. d. Verf.] Hochaltarblatt, das 15 Jahre lang die hiesige katholische Kirche geziert hat, ist, seitdem Mengsens berühmtes Bild aufgehangen worden, weggekommen, und kein Mensch kan mir sagen, wohin. […] Der Gegenstand seines Gemäldes war die Heilige Dreifaltigkeit: es sol ein flüchtiger Entwurf in Wasser, und von einer grossen, neuen und geschmackvollen Komposition gewesen sein, die sich zur mystischen Idee des Sujets gut geschickt hat.“49 Das angeblich von Oeser stammende Gemälde wurde folglich spätestens 1767 aus der Katholischen Hofkirche entfernt. Kurz nach dem Dresdner Gemäldestreit erhielt Oeser seinen bislang umfangreichsten Auftrag mit etwa dreißig Gemälden für die Leipziger Nikolaikirche, die seit 1786 mit einem programmatisch neuen Konzept im Umbau war.50 Das Bilderprogramm oblag Oeser. Für das Hauptaltargemälde wählte er 1787/88 genau dasselbe Thema wie zuvor Schenau, Kunstakademie und Künstlerstreit | 189
nämlich die Kombination von Auferstehung und Himmelfahrt (Abb. 8).51 Wie bei Schenau sind zwei Aspekte von Interesse, die ein gewisses Dilemma der künstlerischen Aufgabe verdeutlichen, die ein protestantisches Hauptaltargemälde dieser Jahre stellte: Ikonographisch beruht Oesers Gemälde auf den gleichen dichterischen Voraussetzungen mit Bezügen zu Klopstock und Lessing und auf einem neuen Verständnis von Tugendreligion wie dasjenige von Schenau. Dass Oeser hierin Schenau folgte, scheint evident. Die allgemeine Anlage der Komposition ist vergleichbar, wenn auch das Bildpersonal reduziert wurde und eindeutiger lesbar ist. Oeser scheint seine Schlüsse aus dem Dresdner Fall gezogen zu haben, denn er mildert das Tumultartige der Soldaten ab, beruhigt den Ascensus der Figuren und versucht, die Anleihen bei Mengs und Raffael in eine schlüssigere Komposition zu integrieren. Bezeichnend für diese neue Art protestantischer Sakralmalerei ist auch, dass die Bildachse über dem Hauptaltar von einem Ovalbild besetzt ist, das die Personifikation der Religio mit dem Neuen Testament zeigt, über dem im Deckenspiegel ein Tondo mit dem Friedensengel folgt.52 Nicht mehr Gottvater, wie bei Schenau, wird in oder über der Himmelfahrt gezeigt, sondern die Religion. Oe8 Adam Friedrich Oeser, Auferstehung und Himmelfahrt Christi, 1787/88, Leipzig, sers zahlreiche Gemälde zum Leben Christi bilden Nikolaikirche, Hauptaltargemälde seinen eigenständigen Teil im Kontext der Neugestaltung des Innenraums der Nikolaikirche. Das bemerkenswerte architektonische Konzept verbindet sich damit zu einem exemplarischen Programm aufgeklärter Theologie, die mit der Vorbildhaftigkeit des Leben Jesu die Botschaft der christlichen Vernunftreligion verband. Oeser war von dem Konzept, Christus als Verkörperung religiöser Tugenden und des Glaubenslichts zwischen der Welt und Gott – gleichsam als Bild gewordene Klopstocksche Emphase – darzustellen, so überzeugt, dass er 1792 für die St. Jakobi-Kirche in Chemnitz die Komposition mit leichten Abwandlungen wiederholte.53 Auch Oeser konnte kaum vermeiden, dass für die Zeitgenossen der Vergleich mit Mengs’ Hauptaltargemälde in Dresden immer noch nahe lag, weniger in der Gesamtanlage der Bildebenen, weil das Mengssche Trinitätsbild eine katholische Ikonographie 190 | Roland Kanz
bietet, sondern mehr aufgrund der künstlerischen Aspekte des aufschwebenden Christus. Unvermeidlich war es geworden, eine solche Gestalt unter akademischen Gesichtspunkten der Aktdarstellung zu sehen. Der Berliner Maler Daniel Chodowiecki hatte die Nähe der Christusdarstellung zu Mengs moniert und Oesers schlechte Figuren und sein Kolorit kritisiert.54 Aber um Oesers Altargemälde wurde nicht gestritten, gewissermaßen geräuschlos knüpfte er an Schenau an, ohne dass sich damit zwingende Perspektiven für die protestantische Sakralmalerei eröffneten. Erst zwei Jahrzehnte später sollte in Dresden wieder über Sinn und Zweck von Altarbildern gestritten werden, dann aber anlässlich eines weit bedeutenderen Bildes, nämlich Caspar David Friedrichs Kreuz im Gebirge (der sogenannte Tetschener Altar ), ein Gemälde, mit dem – wie Ramdohr 1809 kritisierte – die Landschaft im Begriff war, auf Altäre zu „kriechen“.
Anhang Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 894/2 55 Professor Giovanni Casanova von der Kunst-Akademie. Gutachten über die Verteilung von Stipendien, Gratifikationen u. a. und Urteile über Mitglieder der Akademie und eine Anzahl Schüler 1780. [Erstes Blatt unterschrieben mit:] Giovanni Casanova / Director del’Academia di Dresda. fol. 5r| Giovanni Casanova Prof. der Churfürstl. Akademie ist um sein Gutachten über folgende von dem Hn. Direct. Schenau vorgeschlagenen Artikel ersucht worden, und legt kürzlich seine Meinung an den Tag, obschon die Entscheidung von Sachen, die von dem vereinigten Corps der Academie sollen untersucht und vorgeschlagen werden, nicht tauglich von diesen zwo Personen abhänget. […] Da über dieses der H. Direktor Schenau in seinem Schreiben verschiedene Beobachtungen zu erkennen gegeben hat, erachte ich es meiner Schuldigkeit gemäs, folgende Anmerkungen darüber zu machen. Wahrhaftig, dieses sind Punkte die vor der ganzen Versammlung der Academie vorgetragen werden müssen, dieweil die meisten vom Studiren handeln und man die Gedanken eines Herrn nicht damit belästigen darf, der, ehe er natürlich entscheidet sie untersuchen lässt, um sie hernach zu authorisiren. Es ist gewiß, daß die Funktion einer jeden Academie ist zu untersuchen und zu unterrichten; demnach |fol. 6v| sollten sowohl die Beobachtungen des Hn. Dir. Schenau als auch diese Anmerkungen untersucht werden, damit die Kunstakademie und Künstlerstreit | 191
Partheylichkeit oder die Leidenschaft nicht die Wahrheit verletzen, sondern solche von dem Eifer und der Gerechtigkeit eingegeben werde. Man muß sich sehr verwundern, wie dem Hn. Dir. Schenau das aus dem Munde entwischt ist, was er wider das Studiren der Antique und das Copiren von den Gessi sagt; dieser irrige, von Trugschlüssen angefüllte Vorschlag schickt sich vors erste nicht einmal für den geringsten Mahler, so schlecht er auch seyn mag, geschweige denn für einen solchen, der Professor und Director einer Academie ist, und hernach muss er auch nicht Sr. Excellenz vor Augen geleget werden, denn auf solche Art kann er von dem Wahren entfernte Ideen einflössen. Schon dieses gibt deutlich zu erkennen, wie sehr es nöthig ist, daß die vereinigte Academie Alles das untersuche, was das Studiren betrifft; weil, wenn solche Grundsätze unter die Scholaren ausgestreuet werden, sie schlechterdings schädlich seyn müssen, indem diese mehr als zu sehr zum Leichtsinn geneigt sind: Wenn man die Antique copirt, wird man deswegen nicht zum Copisten, und sie studiren ist nichts anders, als dieselbe copiren; es ist mehr Natur als Auswahl dabey pp. Nun kann man ihm füglich den Horaz und die Estampe des berühmten Carlo Maratta entgegen setzen, welcher sagt, daß man die Antique niemals genug studiren kann. Die Vermischung, welche der H. Dr. Schenau von Genie, Talent, Geist, Kunst, Lehrwerk, System und Studium macht, widerspricht und bildet nur einen verworrenen Ton, um die Ohren zu überraschen, um ein Mittel zu haben, anderen Professeurs der Academie einen Streich beybringen zu lassen, mit der Gefahr, daß wenn solche Vorschläge angenommen würden, der festeste Grund einer Academie einstürzte. Er, der von dem Schönen, dem Erhabenen, und dem Angenehmen redet, wo will er, daß man suche und studire? etwa in den Werken des Vatteau, des Lancret und des Boucher? pp Dieser habe gefallen, es ist Geschmack darinne, sie reitzen, aber sie unterrichten nicht. Ich will mich nicht weiter ausdehnen, um alles Abgeschmackte dieses Vorschlags zu beweisen, und bin gewiß versichert, daß er ihn in einer Versamlung der ganzen Academie nicht würde gethan haben. Der H. Dir. sollte den Hn. Sejdelmann nicht als einen bloßen Copisten oder als Maschine behandeln, ihm nur des Fleisses wegen einen Werth beylegen, und ihn schlechtweg als Zeichner auf die Galerie verbannen, indem er ihn von der Academie entfernt und als Professor Adjunctus vorzuschlagen scheint, so gibt er dennoch zu verstehen, daß er nicht die nöthigen Gaben habe, die diese Charge erfordert, und ich sage, daß H. Sejdelmann gründliche und weise Inventionen und Compositionen wird können sehen lassen, und nicht Colifichets; weil, wenn um fort zu seyn, es genug wäre das zu haben, was man Phoebus nennt, es auch einen Mahler machen würde, wenn unnachahmliche und widersinnliche Sachen gedichtet würden. Fabule und Romanen er|fol. 7r|götzen allein mit allem ihren Verdienste befestigen sie nicht den Grund der guten und gesunden Litteratur. Wenn man eine Universität anlegte, wo man blos über Werke nach der Mode Collegien läse, so würden nur edeliche Demoiselles und galante junge 192 | Roland Kanz
Herrn in dem Hörsale seyn. Was ist denn nun die Ursache warum der H. Prof. Schenau so treuge ist dem Hn. Sejdelmann die Stelle als würklicher Prof. bey der Academie zu bewilligen? Unter dessen zeigt er ganz leicht, daß er diesen Posten denen Herrn Graff und Zingg verschaffen will. Vielleicht besitzen diese Herrn die nöthigen Gaben, das Professorat zu treiben? Er hätte Recht, wenn er in Betracht der Ordnung jedes Instituts den Hn. Sejdelmann als einen Academicus von Verdienst vorschlüge, damit er in ein paar Jahren zum Prof. avancirte. Ich bin versichert, daß wenn Sr. Excellenz der H. General-Director seine Meinung erklären sollten, so würden Sie ihn vorschlagen und die vereinigte Academie mit offenen Armen ihn annehmen; der H. Sejdelmann kann außerdem, da er fähig ist, den Ideen Sr. Excellenz zu dienen, auch in Ansehung des Studirens der Antique und der grossen Meister, der Academie sehr nützlich seyn; ohngeachtet der H. Dir. Schenau sagt, daß solches das Genie der Jugend werde ebenso erwiedere ich, wie ein sehr berühmtes Subjekt sagt: L’Etude est au Genie ce que la taille est au Diamant, elle rapetisse au même temps qu’elle epure. Das Studiren ist dem Genie das was dem Diamant das Schneiden ist, es macht kleiner und zugleich helle. H. Sejdelmann ist gewiß der beste Zeichner nicht allein bey der Churfürstl. Academie sondern ich kann wohl sagen der jetzt in […ur… Wort nicht lesbar] ist also ein würdiger Diener unsers gnädigsten Herrn; und verdient, mit Churfürstlicher Gnade zum Academicus ernannt zu werden nebst die mit diesen Titel verknüpfte Pension um etwa nach Verlaufe des Jahres Professor zu werden, und der Academie in vielen nützlich zu seyn; er würde der einzige zu Besorgung des Vorhabens seyn, das Sr. Excellenz sich vorgenommen, das Werk der Galerie auszuführen. Es ist wahr, daß um das von Deroselben gemachte Verfaren zu befolgen, nur die Bulini von Bartolozzi und Stränge seyn sollten, besonders um eine Auswahl der vorersuchten Stücken zu machen, die zum Nacheifer des Werks le Cabinet du Roi betitelt und eines andern Choix du Cabinet de S. d. S. l’ Electeur de Saxe, antreiben würde; er kann aber über dieses andere junge Leute zu Befolgung nicht so wichtiger Stücken anführen. Was das Ansuchen oder den Vortrag wegen der Herrn Academicus Graff und Zingg betrifft, zu Professor-Stellen avancirt zu werden, will ich diesen meinen Herrn Mitbrüdern ganz gelassen sagen, daß ich Ihnen meine Stimme zu Ehren der Academie nicht geben kann; es hat andern Academien mehr als zu seltsam geschienen, daß Kupferstecher, Landschaft-Mahler pp mit diesem Titel geziret sind; die Theile der Kunst die sie treiben, sind nicht von der Classe, daß sie die Funktion eines Professors verwalten können, weder Rom noch Paris geben ein Beispiel hiervon. Die Ursachen, so angeführet werden, um zu überreden ihnen hierinne zu statten kommen, widersprechen einander. Was den Dienst des Durchl. Herrn anlanget: und im Urtheil muß keine Parteylichkeit seyn:/ so ist nicht zu glauben, daß im Fall H. Schenau oder Casanova krank |fol. 7v| würden; sie Kraft des Professor-Titels fähig wären, ihr Amt bey der Academie zu versehen, wie Schenau und Kunstakademie und Künstlerstreit | 193
Casanova dasjenige eines Hutin, Coudrai, Knöpfler versehen, auch noch anderer, die dann und wann entweder Verhinderung haben, oder krank sind. Das muß ich sagen: Obgleich der Professor-Titel ihnen Anlass geben wird, eine Zulage zum Stipendium zu fordern; so wird er doch niemals die Art zu denken dieser beyden berühmten Schweitzer ändern. […] fol. 8v| Man verzeihe mir, so ich etwa einiger maassen von der Mässigkeit abgewichen bin: Apelles Laocontes nebst der ganzen griechischen und römischen Schule Raphael, Michel Angelo, Tiziano, Correggio, Caracci und Mengs nöthigen mich, sie zu verteidigen, und wollte Gott, daß ich von dem Geiste dieses letztern, meines Lehrmeisters, Eingebungen hätte, damit ich auf dieses Churfürstl. Institut würken könnte, und die Gnade des Durchl. Herrn und Sr. Excellenz des Herrn General-Directeurs verdienen möchte.
Anmerkungen 1 „In questo caso voglio che lui venghi al duello della concorrenzia, e fare un’opera per uno, ma con patto che sia ammessa la più perfetta […]; e così difender, conservar et aggrandir l’onor suo […].“ Paolo Pino, „Dialogo della pittura“ (1548), in: Paola Barocchi (Hg.), Trattati d’arte del Cinquecento fra manierismo e controriforma, 3 Bde., Bari 1960–1962, hier Bd. 1, S. 137. 2 Margot und Rudolf Wittkower, Künstler – Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 21989, S. 197–224. 3 Allgemein zu Kunstakademien s. Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, Mittenwald 1986; Anton W. A. Boschloo et al. (Hg.), Academies of Art between Renaissance and Romanticism, ’s Gravenhage 1989 (= Leids Kunsthistorisch Jaarboek 5/6, 1986/87). 4 Vgl. im Überblick [Autorenkollektiv], Dresden. Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschule für Bildende Künste (1764–1989), Dresden 1990, S. 17–100. 5 Jüngster Überblick bei Harald Marx, Sehnsucht und Wirklichkeit. Malerei für Dresden im 18. Jahrhundert, Köln 2009. 6 Vgl. Detlef Döring und Cecilie Hollberg (Hg.), Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. Essays, Dresden 2009. 7 Zu Hagedorn vgl. Moritz Stübel, Christian Ludwig von Hagedorn. Ein Diplomat und Sammler des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1912; Susannah Cremer, Hagedorns Geschmack. Studien zur Kunstkennerschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert, Diss. masch. Bonn 1989; Rolf Wiecker, Das Schicksal der Hagedornschen Gemäldesammlung, Kopenhagen 1993; Pascal Griener, „La connoisseurship européenne au service de la création artistique allemande: Les lettres de Christian Ludwig von Hagedorn (1755)“, in: Michèle-Caroline Heck, Frédérique Lemerle und Yves Pauwels (Hg.), Théorie des arts et création artistique dans l’Europe du Nord du XVIe au début du XVIII e siècle, Villeneuve d’Asq 2002, S. 333–352. 8 Eine systematische Aufarbeitung jüngerer Zeit fehlt. Vgl. daher immer noch Ernst Herbert Lehmann, Die Anfänge der Kunstzeitschrift in Deutschland, Leipzig 1932. 9 Vgl. Roland Kanz, Giovanni Battista Casanova (1730–1795). Eine Künstlerkarriere in Rom und Dresden, München 2008. 10 Brief vom 18. Februar 1764 von Winckelmann an Hagedorn, vgl. Johann Joachim Winckelmann, Briefe, hg. von Walter Rehm und Hans Diepolder, 4 Bde., Berlin 1952–1957, hier Bd. 3, Nr. 642, S. 22 f.
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11 Vgl. hierzu Kanz 2008 (wie Anm. 9), S. 46–60; Steffi Roettgen, Anton Raphael Mengs 1728–1779, 2 Bde., München 1999–2003, hier Bd. 1: Das malerische und zeichnerische Werk, S. 164–167, Bd. 2: Leben und Wirken, S. 159. 12 Vgl. dazu in erweitertem Zusammenhang Doris Lehmann, „Johann Joachim Winckelmann und die gefälschte Antike: Kritikkompetenz und Streit von Künstlern und Gelehrten um 1760“, in: Uwe Baumann et al. (Hg.), Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst, Göttingen 2008, S. 327–383. 13 Vgl. nun die Edition der unpubliziert gebliebenen Vorlesungen: Giovanni Battista Casanova, Theorie der Malerei, hg. von Roland Kanz, München 2008. 14 Kanz 2008 (wie Anm. 9), S. 72–77. 15 Vgl. Werner Schmidt, Johann Eleazar Zeissig gen. Schenau (1737–1806). Ein Beitrag zur sächsischen Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Diss. masch. Heidelberg 1926, Briefe an Beßler S. 82–92. 16 Johann Wolfgang von Goethe, „Neudeutsche religiös-patriotische Kunst“, in: id., Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausgabe, 24 Bde., Zürich 1948–1954, 3 Erg.-Bde., Zürich 1960–1971, hier Bd. 13, S. 709; zu Goethes eingeschränkter Wahrnehmung und seinem disparaten Urteilsvermögen vgl. Helmut Börsch-Supan, „Goethes Kenntnis von der Kunst der Goethezeit“, in: Goethe und die Kunst, hg. von Sabine Schulze, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main; Kunstsammlungen, Weimar 1994, S. 269–277. 17 Johann Eleazar Zeissig, gen. Schenau, Das Kunstgespräch, signiert und datiert rechts am Globus 1772, Öl auf Leinwand, 80 x 63,5 cm, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, vgl. aber Gemäldegalerie Dresden Alte Meister, Katalog der ausgestellten Gemälde, Leipzig 1992, S. 348, Nr. 3161, dort die Angabe 1777. Die Datierung muss als 1772 gelesen werden, da Daniel Chodowiecki in seinem Tagebuch das Bild erwähnt, vgl. Moritz Stübel (Hg.), Chodowiecki in Dresden und Leipzig. Das Reisetagebuch des Künstlers vom 27. Oktober bis 17. November 1773, Dresden 21920, S. 60 f. Zwei erhaltene Vorzeichnungen betonen den lebendigen Austausch stärker, da die Rolle des Ministers noch nicht so dominant ist, vgl. Bruno Bushart, „Fragen zu Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau“, in: Ars baculum vitae, Festschrift Pavel Preiss, Prag 1996, S. 302–309. Vgl. Harald Marx, „Zu einem Gemälde von Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau (Der doppelte Verlust)“, in: Dresdner Kunstblätter 17/2, 1973, S. 42 ff.; id., „‚den guten Geschmack einzuführen’. Zum 250. Geburtstag von Johann Eleazar Zeissig, genannt Schenau“, in: Dresdner Kunstblätter 32/1, 1988, S. 10–18; Anke Fröhlich, „‚… mit seinen schönen Ideen und sanften Pinseln’. Der Dresdener Genremaler und Akademiedirektor Johann Eleazar Zeissig, gen. Schenau“, in: Dresdner Kunstblätter 51, 2007, S. 180–196; ead., „‚Grazie und erhaben’. Die Werke des Oberlausitzer Malers Johann Eleazar Zeißig, gen. Schenau (1737–1806) im Kulturhistorischen Museum zu Görlitz“, in: Görlitzer Magazin 19, 2006, S. 12–31. 18 Vgl. Stübel 1920 (wie Anm. 17), S. 60 f. 19 Vgl. Kanz 2008 (wie Anm. 9), Dok. 14, S. 201–203. 20 Vgl. Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. von Ekkehard Mai und Kurt Wettengl, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München; Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln 2002, S. 333–337. 21 Vgl. Carl Goldstein, „A New Role for the Antique in Academies“, in: Herbert Beck und Sabine Schulze (Hg.), Antikenrezeption im Hochbarock, Berlin 1989, S. 155–171; Mathias Winner, „‚… una certa idea.’ Maratta zitiert einen Brief Raffaels in einer Zeichnung“, in: id. (Hg.), Der Künstler über sich in seinem Werk, Weinheim 1992, S. 511–570. 22 [Anonym], in: Deutsches Museum, 1778, 1. Bd., S. 278 f. 23 Brief vom 4. März 1782 von Daniel Chodowiecki aus Berlin an Anton Graff in Dresden, vgl. Charlotte Steinbrucker (Hg.), Briefe Daniel Chodowieckis an Anton Graff, Berlin und Leipzig 1921, S. 19: „Schenau ist auch von Rom zurück gekommen, ich habe ein Kupfer gesehen das er gezeichnet hatte und von Geysern [Christian Gottlieb Geyser in Leipzig] gestochen war, die Zeichnung war
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höchst elend, ich fragte Geysern ob er sie vor oder nach seiner Ital. Reyse gemacht hätte – die Antwort war – nach seiner Zurückkunft. Nun dacht ich so hätte der Kurfürst sein Geld doch ersparen können, wenn der Reysende nicht mehr davon profitiren wollte.“ Vgl. Astrid Bähr, Repräsentieren, bewahren, belehren: Galeriewerke (1660–1800). Von der Darstellung herrschaftlicher Gemäldesammlungen zum populären Bildband, Hildesheim, Zürich und New York 2009, S. 166–212. Dresden 1990 (wie Anm. 4), S. 78–81. Seydelmann wurde erst 1782 Mitglied der Akademie und noch viel später, 1796, nach dem Tod Casanovas, zum Professor ernannt. Dafür rückte er aber dann 1797 recht schnell ins Direktorat neben Schenau auf, das 1801 um Joseph Grassi erweitert wurde, vgl. Dresden 1990 (wie Anm. 4), S. 76. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimes Kabinett, Loc. 894, vol. V, fol. 184 ff. [Anonym], „Gedanken über den Zustand der Künste in Sachsen, bei Gelegenheit der Ausstellung vom Jahr 1781. In zween Briefen aus Dresden und Görliz nach Berlin“, in: Deutsches Museum, 1782, 2. Bd., S. 138–163, hier S. 138–141. Ibid. [Anonym], in: Deutsches Museum, 1782, 1. Bd., S. 475–478. So bezeichnet von Ernst Sigismund, Christoph August Kirsch. Ein vergessener Maler des 18. Jahrhunderts, Dresden 1939, S. 38–40, 71 f. Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Messias, 11. Gesang, Vers 1242 ff. [Hans Ernst von Teubern?], Schreiben aus Dresden über das Gemählde des Herrn Professor Schenau Directors der dortigen Mahler-Academie, Dresden 1786, S. 7–9: „Die herrlichen Bilder aus der Messiade haben, wie ich gewiß weis, dem Maler vor Augen geschwebt. Erinnern Sie sich an die Stellen im Eilften Gesang (S. 335 neue Ausg.) Auch die Väter befiel – Süße Betäubung – und S. 447. Stille war erst am verlassnen Grabe. Nicht lange, so wurde deiner Begnadeten Kreiß vor Seligkeit heller, und jauchzte – denn sie sahen den Sohn, nach Todeskämpfen – Auferstanden – nicht mehr, wie am Kreuze, mit sinkendem Haupte, herrlich schwebtest du über den Felsen des offenen Grabes, göttlich, unaussprechlich geschmückt mit Siege, mit Siege. Und so schwebt er auch in diesem Gemählde, sein Haupt etwas gewendet erhaben, |8| daß man von seinen Augen fast geblendet wird, ohne sie jedoch zu sehen; ein Christuskopf, wie ihn Lavater nicht gesehen, nicht studiert hat; die Aerme freudig und ungezwungen erhaben; seine ganze Körperbildung männlich schön, ohne widrige Anatomie; die Schenkel nicht so gleichförmig wie in andern Gemählden des ähnlichen Sujets; die ganze Figur von einer geheimen Schwungkraft erhoben, und das Einförmige der Carnation durch ein leichtes lichtgrünes Tuch von den Achseln herab bis auf die Hüften unterbrochen. Und so schwebt er in einem engen Raume, den die geringe Breite des ganzen Stücks nicht weiter verstattete. Sebastian Ricci hat den Erlöser in der Himmelfahrt auch ganz glücklich erhoben. Aber welchen freyen Raum hatte da seine Figur? Und doch ist sie schwerfällig gegen die jetzt beschriebene. Denn hier |9| müssen erst die bewaffneten Römer den Vordergrund einnehmen. Dreye von ihnen liegen in einer verwickelten Gruppe, und kunstvollen Verkürzungen. Ueber sie stürzt sich einer in der linken Ecke des Gemähldes und scheint der Cneus in der Mesiade zu sein, S. 455.“ Casanova hatte Riccis Gemälde wenig vorher in seinen Vorlesungen als „übertrieben“ kritisiert, da es „wider die Vernunft und alle Sinne“ verstoße, vgl. Casanova/Kanz (wie Anm. 13), Heft XV, fol. 62. Sigismund 1939 (wie Anm. 31), S. 72, Anm. 12. Vgl. [Anonym], „Schriften und Urtheile, welche bey letzter Ausstellung der Gemälde über des Herrn Prof. Schenau verfertigtes Altarstück zum Vorschein gekommen, 1786“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 75, 1787, 1. Stück, S. 139 f.; [Anonym], „Zweites Schreiben über die Ausstellung der Kunstakademie“, in: Magazin der sächsischen Geschichte, 1786, 3. Theil, S. 231–239.
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37 [Anonym], Antwort auf das Sendschreiben aus Dresden über das Gemälde des Herrn Professor Schönau, Dresden 1786, S. 11. 38 Ibid., S. 7. 39 Ibid., S. 22 f. 40 [Anonym], Beleuchtung der Antwort auf das Sendschreiben aus Dresden über das Gemälde des Herrn Professor Schenau, Dresden 1786, S. 6. 41 Giovanni Battista Casanova, „Beschreibung des Hochaltarbildes der Hofkirche in Dresden“, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 3, 1766, 1. Stück, S. 132–144. 42 Vgl. Steffi Roettgen, „Anton Raphael Mengs in Dresden und Madrid. Zur Geschichte des Hochaltarbildes in der katholischen Hofkirche“, in: Christoph Rodiek (Hg.), Dresden und Spanien. Akten des interdisziplinären Kolloquiums, Dresden, 22.–23. Juni 1998, Frankfurt/Main 2000, S. 13–23. 43 Casanova 1766 (wie Anm. 41), S. 135. 44 Dorothea von Hellermann, „‚Künstlerneid ist auch in Dresden nicht fremd …’. Die Aufzeichnungen Karl Morgensterns zu seinem Aufenthalt in Dresden im Herbst des Jahres 1809“, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 29, 2001, S. 75–89, hier S. 87. 45 Fröhlich 2006 (wie Anm. 17), S. 22. 46 [Anonym], „Dresdner Merkwürdigkeiten“, in: Magazin der sächsischen Geschichte, 1791, 8. Theil, S. 445 f. 47 [Anonym], „Beschreibung des großen Altar-Gemäldes, 13 Ellen hoch und 7½ Elle breit, verfertiget von Herrn Johann Eleazar Schönau, Professor der Churfürstl. Sächs. Akademie der Künste etc. für die wieder aufgebaute Hauptkirche zu heiligen Creutz in Dresden“, in: Museum für Künstler und Kunstliebhaber, 1792, 3. Bd., 18. Stück, S. 447–449. 48 Wiebke Fastenrath Vinattieri, „Die Katholische Hofkirche in Dresden. Der Bau, die Ausstattung und die Reise des Kurprinzen Friedrich Christian von Sachsen nach Rom (1738–40)“, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 54/55, 2000/01, S. 239–309, hier S. 297. 49 Deutsches Museum 1782 (wie Anm. 28), S. 153. Das Hochaltarbild hatte nicht Oeser, sondern Johann Benjamin Müller geliefert, eine Neffe von Giovanni Battista Grone, der die Decke der Frauenkirche ausgemalt hatte, vgl. Fastenrath Vinattieri 2000/01 (wie Anm. 48), S. 293, 297. Der Rezensent des Deutschen Museums hatte das Gemälde der Dreifaltigkeit, das dem Patrozinium entsprach, vermutlich irrigerweise Oeser zugeschrieben. 50 Vgl. Karl Czok, Die Nikolaikirche zu Leipzig, Leipzig 1992; Heinrich Magirius, „Die Umgestaltung des Innenraums der Nikolaikirche zu Leipzig durch Johann Friedrich Carl Dauthe 1784 bis 1797. Ein Beispiel des Nachlebens oder des Wiederauflebens der Gotik im späten 18. Jahrhundert“, in: Gebaute Vergangenheit heute. Berichte aus der Denkmalpflege, Berlin 1993, S. 121–152; Reinhard Wegner, „Gotik und Exotik im Zeitalter der Aufklärung. Der Umbau der Nikolaikirche in Leipzig“, in: id. (Hg.), Deutsche Baukunst um 1800, Köln 2000, S. 53–63. 51 Vgl. die eingehende Deutung des Gemäldeprogramms bei Timo John, Adam Friedrich Oeser (1717–1799). Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit, Beucha 2001, S. 208–217. 52 Ibid., S. 210. 53 Ibid., S. 211. 54 Daniel Chodowiecki, Journal gehalten auf der Lustreyse von Berlin nach Dreßden, Leipzig, Halle, Dessau etc., 1789, Nachdruck, hg. von Richard Hamann und Edgar Lehmann, Berlin 1961, S. 44. 55 Ich danke Iris Ritschel, Leipzig, für die Unterstützung bei der Transkription.
Kunstakademie und Künstlerstreit | 197
Dorothea und Peter Diemer
Skulptur in den frühen Kunstkammern von Dresden, Ambras, München und Prag – eine Skizze 1 Kunstkammern waren, so wissen wir seit Julius von Schlossers Pionierwerk über die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance von 1908, Sammlungen nördlich der Alpen, an Fürstenhöfen oder von Privatleuten, die alles vereinten, was Mensch und Natur an Bemerkenswertem, an Wunderbarem und Erstaunlichem hervorgebracht haben, Schlagwort naturalia und artificialia.2 Erst mit der Gründung der „modernen“ Museen hat man getrennt zwischen Kunstmuseen und anderen, zwischen Gemäldegalerien, Skulpturen-, Völkerkunde- und Naturkundemuseen. In der Totenrede auf Herzog Albrecht V. von Bayern wird seine Kunstkammer erwähnt als „ein überaus großes Schaugebäude mit bemerkenswerten und sehenswerten Dingen, welche die Natur und die [menschliche] Kunstfertigkeit hervorgebracht haben.“3 Seit Schlosser sieht man in „der“ Kunstkammer vor allem das Kuriose, Skurrile, auf jeden Fall Unwissenschaftliche. Sein Bemühen, deren Andersartigkeit gegenüber „normalen“ Museen seiner Zeit herauszuarbeiten, führte zu diesem krassen Fehlurteil. Theoretisch weiß man es längst besser. Es ist aber nicht übertrieben zu sagen, dass das meiste, was in neuerer Zeit über Kunstkammern geschrieben worden ist, ohne eine genauere Kenntnis dessen auskommt, was diese Sammlungen tatsächlich beinhalteten. Schlossers Wirkung ist ungebrochen, und das normative Schrifttum zum Sammelwesen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert verleitet dazu, systematische Gesichtspunkte überzubewerten. Der Umfang der Kunstkammern an den großen Höfen, von denen hier die Rede ist, war erstaunlich. Das Münchner Inventar zählt 3407 Einträge, aber eine ganze Graphiksammlung ist nur ein „Schrank“, eine Münzsammlung nur eine einzige, freigebliebene Nummer. Dresden und Ambras waren wohl ähnlich, Prag noch größer, genau kann man das nicht zählen. Damit sind die vier größten Kunstkammern ihrer Zeit nördlich der Alpen genannt. Sie sind schon seit dem 17. Jahrhundert zerstreut, durch den Dreißigjährigen Krieg, aber auch durch einen veränderten Geschmack: Zunehmend wollten die Fürsten sich mit dem umgeben und mit dem repräsentieren, was wir heute als Kunst bezeichnen, mit echten Dürers, mit den wertvollsten Kostbarkeiten. Den Inhalt der Kunstkammern des 16. Jahrhunderts müssen wir daher aus Inventaren rekonstruieren, die wir für alle vier Orte besitzen: Dresden hat das früheste, 1587, Ambras folgt 1596, München 1598, Prag 1607/11. Die Verfasser dieser Inventare waren keine Kunsthistoriker, ihr Anlass ein juristischer, Gütererfassung, und so ist es in vielen Fällen schwer oder gar nicht möglich, sich eine Vorstellung zu machen, was mit einer Benennung oder Beschreibung gemeint sein könnte. Skulptur in den frühen Kunstkammern | 201
1 Leonhard Danner, Drahtziehbank aus dem Dresdner Schloss, Ecouen, Musée de la Renaissance
„Skulptur“ aus dem Ganzen einer Kunstkammer auszuwählen, ist ein besonders kleinteiliges Geschäft: Medaillen, Plaketten, ein verrottetes Bronzemännchen, ein antiker Bodenfund, Gipsabgüsse – solche Gegenstände hatte man in der Regel nicht als „Skulptur-Kunst“ aufgehoben, sondern nach historischen, inhaltlichen Gesichtspunkten. Dennoch eignet sich die Frage nach Skulpturen ganz gut dazu, das historische Phänomen Kunstkammer zu beleuchten.
Dresden
2 Giambologna, Mars, ehemals Dresden, Leverkusen, Bayer AG
202 | Dorothea und Peter Diemer
Was Kurfürst August (reg. 1553–1586) als Kunstkammer bezeichnete, hatte einen ganzen Flügel im Obergeschoss des Schlosses zur Verfügung. Diese Institution hatte allerdings mit dem, was man sich anderswo unter einer Kunstkammer vorstellt, nichts zu tun. Achtzig Prozent der Objekte waren Werkzeuge, Geräte und wissenschaftliche Instrumente.4 Die Räume waren eigentlich eingerichtete Werkstätten für verschiedenste Handwerke, selbst die Marmorsammlung (Abb. 1). Das Reißzimmer inmitten dieser Werkstätten, der Zeichenraum, war so etwas wie das studiolo dieses Fürsten, der gezielt sein Land, Bergbau, Vermessung und Verkehrswege förderte. Die Kunstkammer diente ausschließlich seinen technischen, wissenschaftlichen und handwerklichen Interessen; für andere war sie unzugänglich, nicht einmal bei Fürstenbesuchen scheint man sie gezeigt zu haben. Diese wissenschaftsgeschichtlich
bedeutende Sammlung bildet den Grundstock des heutigen Dresdner Mathematisch-Physikalischen Salons. Neben der Kunstkammer gab es im Erdgeschoss das Grüne Gewölbe, schon im 16. Jahrhundert so genannt, in dem man die Schatzstücke und Pretiosen hinter Gittern verwahrte. Im Barock gestaltete man es bekanntlich prunkvoll um. Aber das Grüne Gewölbe war nicht die Kunstkammer – eine Verwechslung, die allerdings häufiger begegnet. „Kunst“ sammelte August nicht. Die Skulpturen, die sein Reißzimmer zierten, standen dort als Fürstengeschenke: kleine, nur von fern an die Originale erinnernde Marmorkopien der Tageszeiten Michelangelos von Cosimo I. aus Florenz und vier 3 Götterpforte, nach Entwurf von Giovanni Maria Nosseni (?), Schloss Bückeburg kostbare Kleinbronzen Giam bolognas, Geschenke von Cosimos Sohn Francesco (Abb. 2).5 Auf diese Situation reagierte ein Hofmann namens Gabriel Kaltemarckt, wohl der Zeichenlehrer des Thronfolgers, nach einer Italienreise.6 Zum Regierungsantritt seines Schülers Christian I. 1586 schrieb er Bedenken, wie eine Kunstkammer aufzurichten seyn möchte. Über diese Schrift ist in neuerer Zeit viel räsoniert worden. Dabei bleibt zu bemerken, dass sie nicht im Druck erschienen ist, kein Traktat, sondern ein handschriftliches Heftchen. Darin wird ein „modern“ klingender Kunstbegriff ausgebreitet: Sammeln sollte ein Fürst die hervorragenden Skulpturen der Antike und die wichtigsten Künstler seiner Zeit. Es folgt eine Liste von Namen, die sich liest wie ein Vasari-Abregé. In der Sache wirbt Kaltemarckt darum, dass, da nun die meisten Skulpturen nicht im Original zu erlangen seien, man wenigstens Abgüsse erwerben solle. Eigentlich wollte der Verfasser wohl sagen, der sächsische Hof solle endlich zur Kenntnis nehmen, dass es anderswo in Kunstkammern Kunst gebe. Ob die Belehrung auf fruchtbaren Boden gefallen ist, wissen wir nicht, Christian starb wenige Jahre später 1591. Eine eigene kulturpolitische Linie scheint er in den ihm bleibenden fünf Jahren nicht entwickelt zu haben. Skulptur in den frühen Kunstkammern | 203
4 Carlo di Cesare del Palagio, Kruzifix, Freiberg/ Sachsen, Dom
5 Kruzifix, Nachguss nach dem Freiberger Kruzifix von Carlo di Cesare del Palagio, Dresden, Skulpturensammlung
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Konkrete Bemühungen, sich Kunstwerke von andernorts durch Abguss verfügbar zu machen, unternahm der 1544 geborene sächsische Hofarchitekt Giovanni Maria Nosseni; er mag Kaltemarckt angeregt haben. Nosseni, ursprünglich ein Steindreher aus Como, zum Kunstintendanten hochgearbeitet, lieferte Entwürfe für Architektur und Festumzüge für Dresden und auswärts.7 Wie wir aus seinem Nachlassinventar wissen, besaß er Abgüsse nach Kleinbronzen Giambolognas und nach weiteren zeitgenössischen Bildhauern. Sie konnten als Vorlagen dienen, wie an der Götterpforte von Schloss Bückeburg zu sehen ist, die wohl von Nosseni nach Vorbildern aus seiner Sammlung entworfen wurde (Abb. 3). So wanderten Giambolognas Modelle in den Norden.8 Als der sächsische Hof nach Nossenis Tod 1620 dessen Sammlungsnachlass übernehmen sollte, stellten die Gutachter irritiert fest, dass bei den rund vierzig Skulpturen keine Originale dabei seien. Man kaufte sie dennoch. Alles, was davon aus Wachs und Gips war, ist verloren. Zwei Bronzen sind erhalten, eine kleine Gruppe eines tanzenden Faun mit einer Nymphe nach Adriaen de Vries und ein Christus am Kreuz nach Carlo di Cesare del Palagio: Von beiden ist erst in den letzten Jahren klar geworden, dass es sich um nicht sonderlich gut „gekommene“ Abgüsse der Originale handelt, die Nosseni hatte herstellen lassen. Beide haben vermutlich erst, als sie in die Kunstkammer übernommen wurden, ihre dilettantische Ziselierung erfahren (vgl. Abb. 4, 5).9 Kopie, Abguss, Replik, von der Kunstgeschichte lange mit spitzen Fingern angefasst, sind ein für das 16. Jahrhundert in allen Kunstgattungen zentrales Phänomen. Bekanntlich holte sich schon König Franz I. von Frankreich in den 1540er Jahren prominente Antiken Roms durch Abgüsse
in Bronze über die Alpen. Aber auch innerhalb Italiens begann man mit dem 16. Jahrhundert, berühmte Bildwerke abzuformen oder zu kopieren, antike und zeitgenössische: Baccio Bandinelli schuf eine originalgroße Version der Laokoongruppe, und es gibt schon zeitgenössische Kopien der Pietà von Michelangelo.
Ambras Aus mehreren Gründen ist die Kunstkammer Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (reg. 1567– 1595) mehr im Bewusstsein als die anderen.10 Ihre Bestände sind zwar bald nach Ferdinands Tod 1595 sukzessive in den kaiserlichen Sammlungen in Wien aufgegangen, aber schon beim Wiener 6 Hans Leinberger, Tödlein, Wien, Kunsthistorisches Museum, Sammlungen Schloss Ambras Kongress wurde sie (erstmals) öffentlich gezeigt. Hier und nur hier hat sich vieles an „typischen Kunstkammerstücken“ erhalten, Schüttelkästen mit künstlichen Käfern, Korallenberge, von der Decke hängende Haie, Bilder von Riesen und „Haarmenschen“, aber auch außereuropäische Objekte. Vor allem aber hat man, als man in den 1970er Jahren am alten Ort die Ambraser Kunstkammer nach Inventarangaben neu einrichtete, dort bevorzugt solche Objekte ausgestellt, die unsere Vorstellung von der „Kunst- und Wunderkammer“ prägen und in Wien nicht sonderlich vermisst werden. Was herausragend gut und teuer ist, blieb in Wien, so zum Beispiel das Salzfass von Benvenuto Cellini. Insofern gibt ein Besuch in Ambras einen nicht ganz richtigen Eindruck vom ehemaligen Wert und Reichtum der Sammlung. Für die Sammlungen des Erzherzogs wie für alle Kunstkammern seiner Zeit gilt, dass die Teile, die dem Fürsten selbst am meisten am Herzen lagen, oft in eigenen Räumen aufgestellt waren. Was Skulptur betrifft, findet man im Ambraser Inventar eine auffällige Einseitigkeit: Die Sammlung besaß an die hundert Kleinbronzen, aber ganz wenig anderes. Dabei wissen wir schon aus Ferdinands jungen Jahren als Statthalter in Prag, dass er sich für „moderne“ italienische Plastik interessierte, Italiener für die figürliche Bauplastik am Belvedere holte und einen italienischen Stukkateur von höchster Qualität sein Schloss Stern stuckieren ließ. Jede Sammlung verwahrte selbstverständlich auch Überkommenes. Hans Leinberger hatte für das Innsbrucker Kaisergrab eine der Ahnenstatuen geschaffen, das ihm zugeschriebene Tödlein in Ambras mag ein Erbstück aus dieser Zeit sein (Abb. 6). Skulptur in den frühen Kunstkammern | 205
7 Giambologna, Merkur, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer 8 Oberitalienisch, frühes 16. Jahrhundert, Venus ohne Arme, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer
Kleinbronzen waren begehrt, seitdem man in Oberitalien im 15. Jahrhundert antike Stücke nachzuahmen begann und auch thematisch eintauchte in die Welt der Naturwesen, Faune und Göttermythen. Die Ambraser Bronzen bieten in ihrer Mischung ein zeittypisches Bild; anscheinend hat sich aber nur weniges erhalten (Abb. 7). Es gab einiges an Genrestücken, wie man sie früher Andrea Riccio zuschrieb und in Padua lokalisierte, heute allgemeiner als oberitalienische Werke kurz nach 1500 führt (Abb. 8). Ambras verwahrte auch Objekte, die echt antik gewesen sein müssen, Bodenfunde („Ain gar klains metalles bildl, ist nit erkäntlich, ob’s mann oder weib“),11 aber auch Antikenimitate. 206 | Dorothea und Peter Diemer
Zu der Sammlung gehören bedeutende Einzelstücke, die man bisher nicht stilkritisch zuordnen kann, obgleich sie von hoher Qualität sind. Ob Ferdinand die Bronzen angeschafft oder geerbt hat und inwieweit man sie für antik hielt, ist schwer zu sagen; das Inventar gibt kaum Beiwörter wie „haidnisch“ oder „antikisch“. Die wenigen im Inventar genannten Steinplastiken lassen vorsichtig vermuten, dass es sich um italienische Kleinplastik handelte. Eine „Leda mit Schwan“, „Lucretia“ und „Venus“, hintereinander im Inventar als Reliefs verzeichnet, waren wohl Versionen einer klassizistischen oberitalienischen Produktion, die man im 20. Jahrhundert Antonio Lombardo zuschrieb. Solche kleinformatigen Marmor- oder Alabasterreliefs mit Helden und Heldinnen des Altertums sind in größeren Mengen entstanden; von fast allen kennen wir mehrere Repliken, sie waren also für Sammler hergestellt. Schlosser hat 1913 erstmals das Phänomen „Sammler-Produktion“ in den Blick genommen.12 Ferdinand sammelte Skulptur wohl nicht aktiv, auch keine Gipsabgüsse und offenbar auch kaum Gemälde nur des „Kunstwertes“ wegen. Das passt ins Bild seiner Persönlichkeit: Ihm waren seine umfangreiche Graphiksammlung, seine Porträtsammlung, die Bücher und seine legendäre Harnisch- und Waffensammlung wichtiger. Das historische Andenken, Geschichte und Herkommen Habsburgs, seine weltumspannenden Beziehungen, die sich in spektakulären exotischen Objekten spiegelten, das waren Ferdinands persönliche Anliegen.
München In München war das Gebäude für Marstall und Kunstkammer in den 1560er Jahren im Bau. Die Sammlung muss damals schon so groß gewesen sein, dass man diesen Raumbedarf einplante.13 Anfänglich hatte man wohl daran gedacht, auch die von Herzog Albrecht V. (reg. 1550–1579) gleichzeitig in großer Menge und mit hohen Kosten aus Italien beschafften Antiken (und Pseudoantiken) mit in der Kunstkammer aufzustellen, aber bald wurde klar, dass sie zu viele und, notabene, für den zweiten Stock zu schwer waren. Albrecht V., der eigentliche Gründer der Münchner Sammlungen, baute ihnen ein eigenes Haus, das heute noch erhaltene Antiquarium (Abb. 9), darüber die bedeutende Hofbibliothek.14 Außer diesen gab es noch die Schatzkammer und die Musikalienverwahrung. Fast dreißig Jahre nach dem Bau des Marstall-Kunstkammer-Komplexes, 1598, datiert das erhaltene Inventar. Der Charakter der Sammlung war ein vollkommen anderer als der der Sammlung in Dresden: Es gab wenig Wissenschaftliches und Technisches, dagegen viel kostbares „Kunsthandwerk“, Gemälde, Graphiken, wertvolle illustrierte Bücher, antike Münzen, Skulpturen, Naturalien, Landeskunde. So gesehen entsprach München eher unserem Bild von „der“ Kunstkammer des 16. Jahrhunderts als die übrigen Sammlungen; all das, was man hier zusammentrug, war Skulptur in den frühen Kunstkammern | 207
9 Antonio Ponzano, Entwurf zur Innenausstattung des Münchner Antiquariums, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. icon. 198c (BStB)
auch im gleichzeitig in München entstandenen Traktat des Hofmanns Samuel Quiccheberg, wie eine allumfassende Sammlung geordnet aufzustellen sei, vorgesehen.15 Umgekehrt funktioniert die Annäherung der Konzepte übrigens nicht, ganz im Gegensatz zur allgemeinen Annahme; man pflegte bei weitem nicht alle Gattungen, die Quiccheberg vorsah, und folgte auch nicht konsequent seinen Ordnungsprinzipien. Man besaß enorm viel Plastik, rund zweihundert Bronzen und nochmals doppelt soviel Skulpturen in den übrigen Materialien zusammen genommen. Holz, Holzschnitzerei, was man für eine typisch nordische Technik halten möchte, gab es, abgesehen von den Bildnismedaillons, nur wenig: einige wohl noch gotische geistliche Bildwerke, dann die üblichen Betnüsse, geschnitzten Kirschkerne, Gliederpuppen. Ein Prunkstück lässt sich mit Wahrscheinlichkeit identifizieren, das Sündenfallrelief in Gotha.16 Gotha ist kein Zufall: 1632 plünderten die Schweden die Münchner Kunstkammer, wobei sich einige deutsche Heerführer im Mitnehmen besonders hervortaten, so die Herzöge von Weimar und Gotha. Elfenbein ist in der Münchner Kunstkammer so selten wie Holz; die große Zeit des figürlichen Elfenbeins wird erst der Barock sein. Mit der Hinwendung zur italienischen Renaissance trat in Süddeutschland das traditionelle Schnitzen in Holz (35 Einträge) zurück gegenüber Stein und Bronze. Stein bildet die bei weitem größte „Abteilung“, rund 150 Einträge, darunter zahlreiche Reliefs, Reliefbildnisse, Bildnismedaillons. Nur den allerkleinsten Teil konnten wir identifizieren, und da man in Stein nicht in dem Maße wie bei Bronze damit rechnen kann, dass es immer wiederkehrende Typen gibt, wird das meiste unbestimmt bleiben. Deutlich ist jedoch der profan-antikische Charakter der meisten Sujets, was auch eine Vorstellung von ihrem Aussehen gibt: Werke des 16. Jahrhunderts. Darunter befinden sich Reliefs, unter ande208 | Dorothea und Peter Diemer
10 Amor und Psyche, München, Bayerisches Nationalmuseum
rem mit Herakles, einer Italienerin, Kleopatra, einem Triton mit Nereide, dem Raub der Deianira, einer bacchischen Szene, dem Urteil des Paris oder mit Amor und Psyche, und ebenso Statuetten. Zwei venezianische Sammlerprodukte sind in München im Bayerischen Nationalmuseum erhalten: zum einen eine Darstellung von Amor und Psyche, nach einem damals berühmten hellenistischen Relief, das als Bett des Polyklet bekannt wurde (Abb. 10).17 Das andere Werk, ein kleines Marmorrelief mit Luna und Pan, wird Antonio Minello zugeschrieben (Abb. 11).18 Offensichtlich war es geschätzt, jedenfalls übernahm Kurfürst Maximilian (reg. 1598–1651) es später in seine Kammergalerie, eine MeisterwerkeGalerie bei seinem Leibzimmer; vor der drohenden schwedischen Plünderung ausgelagert, ist es noch am Ort bewahrt. So kann man vermuten, dass hinter Reliefs im Inventar mit Bezeichnungen wie „Kleopatra“ und „Eurydike“ gleichfalls italienische Sammlerstücke dieser Art standen. An anderem Ort in der Kunstkammer waren nicht-italienische, süddeutsche Reliefs versammelt, die wohl älteren herzoglichen Sammlungen entstammten oder eigens bestellt waren. In München trennte man offenbar zuweilen Stile: Kleinmeisterliche Stücke der süddeutschen Renaissance lagen beieinander, zum Beispiel ein Loy Hering zugeschriebenes Madonnenrelief oder ein Hieronymus des Augsburger Bildhauers Hans Daucher (Abb. 12), ursprünglich in einem Steinrahmen mit „8 Antiquischen köpfl“ gefasst.19 Daneben fand sich eine Gruppe von recht großformatigen Reliefs aus Solnhofener Stein, vom HofbildSkulptur in den frühen Kunstkammern | 209
hauer Hans Ässlinger signiert: ein Kindermord von Bethlehem, ein Parisurteil, die legendäre Schlacht Karls des Großen gegen die Hunnen bei Regensburg und eine Kopie nach Raffaels Disputà (Abb. 13) – insofern ein typisches Kunstkammerstück, als es die Skulptur in Konkurrenz zur Malerei bringt.20 Sie müssen vor Einrichtung der Kunstkammer entstanden sein. Die Frage aber, für welchen nahsichtigen Ort Herzog Albrecht sie in Auftrag gegeben hatte, blieb bisher unbeantwortet. Die gestiegene politische Stellung Bayerns im Reich, verwandtschaftlicher Austausch zwischen den Höfen, der ja überhaupt erst die Einrichtung einer reichbestückten Kunstkammer mit exotischen Werken aus der ganzen bekannten Welt ermöglichte, die politische Propaganda der Höfe – das fasst 11 Zugeschrieben an Antonio Minello, Pan und Luna, München, Bayerisches Nationalmuseum man in München in Mengen von Bildnissen, gemalten, geschnitzten, in Wachs und in Stein, die das langfristige Interesse Habsburgs an Bildnispropaganda veranschaulichen (seit der Heirat Albrechts V. mit der Kaisertochter Anna von Österreich 1546 war Bayern mit Habsburg verschwägert). Kaum etwas davon konnte bisher identifiziert werden. Seltsamerweise finden wir nichts Entsprechendes in Ambras oder in Dresden. Größere Statuen aus Stein standen nicht in der Kunstkammer. Was der Hof in Auftrag gegeben hatte, war ortsfeste Bauplastik, und was man als antik ansah, hatte unter Albrecht V. im Antiquarium gestanden. Sein Sohn Wilhelm V. (reg. 1579–1597) hat ab 1580 das Antiquarium zum Festsaal umgestaltet und mit den größeren Statuen einen Antikengarten geschaffen.21 Vermutlich hat man damals alle Bronzen in die Kunst kammer überwiesen, sie folglich damals wohl großenteils für antik gehalten. Die meisten 210 | Dorothea und Peter Diemer
von ihnen sind verloren. Bronzen aufgrund ihrer Beschreibung Epochen und Künstlern zuzuordnen, ist nicht immer einfach, weil der zeitliche Spielraum so groß ist und die Beschreibungen nicht, im modernen Sinne, problembewusst sind, so etwa „Ein Jupiter tonans mit einem straal“.22 Man besaß tatsächlich einige etruskische Bronzen, mehrere Cistenhenkel (Henkel sind haltbarer als der Topf ) und ein stattliches Kopfgefäß (Abb. 14).23 Man hob antike wie auch einheimische Bodenfunde als historische Dokumente auf. Ein Figürchen, 1507 im Dorf Alma bei Konstanz gefunden, wurde in mutiger Etymologie (nach Aventinus) zum, mit Fickler, „Alten Teutschen Abgott Allman“ der Alemannen; kein Ge12 Hans Daucher, Hieronymus, um 1510, München, Bayerisches ringerer als Kaiser Maximilian Nationalmuseum hatte, wie es scheint, diese Zimelie des humanistischen Germanenpatriotismus zuvor besessen.24 Sie steht hier für ein wesentliches Merkmal von Albrechts Kunstkammer: ihre historische, dokumentarische Ausrichtung, die sich ansonsten vor allem in Bildnissen und schriftlicher Erinnerung niederschlug. Man bewahrte historische Gegenstände nicht ihres „Kunstwertes“ wegen. So zum Beispiel „Ein Altfrenckhisch unformlich Rößl, mit einem Kindl in dem maul, und einer seulen auf dem Ruckhen, von Meßing goßen.“25 In München besaß man sehr viele antikisierende oberitalienische Produkte, Akrobaten- und andere Lampen, Satyrn und Geräte.26 Ob man diese im Inventar als „antikisch“ bezeichneten Bronzen für römisch hielt oder modern in klassischem Geschmack, die Frage ist so vielleicht falsch gestellt: Selbst in Mantua, wo ein Antico wirkte, hat man schon eine Generation später rezente Bronzestatuetten als „antik“ klassifiziert. Seitdem es die Antikenimitate der Renaissance gab, seitdem antike Skulpturen in Italien teuer bezahlte Sammlungsobjekte geworden waren, gab es auch bewusste Fälschungen von Seiten der Skulptur in den frühen Kunstkammern | 211
13 H ans Ässlinger, Disputà nach Raffael, München, Bayerisches Nationalmuseum
14 Etruskisches Kopfgefäß, München, Staatliche Antikensammlungen
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15 Venezianische Fälschung (?), Hathor mit dem Horusknaben, München, Ägyptische Staatssammlung
Hersteller oder gutgläubige Missverständnisse. Es gibt haarsträubende Fälschungen, Götterfiguren zu Dutzenden, darunter auch Ägyptisches, so etwa einen Hathor mit dem Horusknaben, bei dem es sich wohl um eine venezianische Fälschung handelt (Abb. 15).27 Aber wir sollten uns nicht überheben: Eine sandalenlösende Venus hat man bis in die 1930er Jahre in der Münchner Antikensammlung gezeigt, dann leise dem Bayerischen Nationalmuseum überwiesen, und auch das Öllämpchen galt als antik, bis man es Andrea Riccios Werkstatt in Padua zuschrieb (Abb. 16).28 Auch wenn man heute Riccios Œuvre restriktiver sieht, ist es ein hervorragendes Stück. Woher kam der reiche Münchner Bronzenbestand ursprünglich? Zwei mögliche Fährten haben wir gefunden, neben Albrechts „normaler“ Erwerbungstätigkeit: „Ain in metall goßner Oedipus, ainen Sphyngen in der rechten handt uber sich haltendt, in der linggen handt ein Löwenköpfl“.29 Dazu konnte einem beim besten Willen nichts einfallen, bis der Zufall half: In den Inscriptiones sacrosanctae vetustatis, 1534 erschienen, ist eine Statuette abgebildet unter denjenigen Bronzen, die dem frühen, 1535 verstorbenen Augsburger Antikensammler Raymund Fugger gehörten, und die man dergestalt missverstanden beschreiben kann –
16 Werkstatt des Andrea Riccio, Öllampe als Satyrkopf, München, Bayerisches National museum
17 Larenstatuetten aus dem Besitz von Raymund Fugger, Holzschnitt in P. Apian und B. Amantius, Inscriptiones sacrosanctae vetus tatis, Ingolstadt 1534
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denn eigentlich handelt es sich um einen Laren mit Gießgefäß und Opferschale (Abb. 17).30 Raymunds Sohn Hans Jakob Fugger wirkte als eine Art Kultusminister bei Albrecht V., ein gebildeter Mann, den man als eigentliche Kraft hinter dem Aufbau der Münchner Kunstkammer vermutet. Raymunds Antiken kaufte der Hof auf Betreiben des Sohnes schon 1566. Eine Bestätigung dafür, dass sich hinter manchen Inventarnummern Raymunds Antiken verbergen mögen, gibt der Filius Laocoontis: „Ein Statua filiorum Laocoontis, mit Schlangen umb baide arm, auf einem Posament, alles von metall goßen“. Das Inventar übernahm die Überschrift des Holzschnitts bei Apian mit derselben Herkunftsangabe (Abb. 18). Eigentlich handelt es sich wohl um einen Giganten mit Schlangenfüßen, wie in einer antiken Kleinbron18 Filius Laocoontis aus dem Besitz von Raymund Fugger, Holzschnitt ze im Getty-Museum überin P. Apian und B. Amantius, Inscriptiones sacrosanctae vetustatis, liefert.31 Ingolstadt 1534 Die andere Fährte führt nach Italien. In manchen Inventareinträgen erkennen wir Repliken von Erfindungen bekannter oberitalienischer Künstler kurz nach 1500, so etwa Riccios Ziegenmelker, bisher nur in einem Exemplar in Florenz bekannt,32 und den Flötespielenden Pan, von dem wir mehrere Varianten kennen.33 Diese Typen und einige weitere finden sich nachweislich Anfang des Jahrhunderts im Besitz der Gonzaga in Mantua. Mantua war durch Isabella d’Este zu dem vielleicht glanzvollsten Kulturhof der Renaissance geworden. Die gebildete Fürstin scharte Dichter und Künstler um sich, und ihr studiolo wurde zum unerreichten Vorbild dieser privaten, mit Kunstwerken höchster Qualität ausgestalteten Studierzimmer.34 214 | Dorothea und Peter Diemer
19 Schreitender Jüngling, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer
20 Schreitender Jüngling, München, Bayerisches Nationalmuseum
Ein Schlüsselstück für die Mantua-Frage ist der Schreitende Jüngling, denn zwei Versionen sind erhalten, von denen die Wiener (Abb. 19) ein im Naturabguss gewonnenes Tuch umgeworfen hat, die Münchner (Abb. 20) unbekleidet ist. Die Münchner ist im Detail, etwa bei den Augen und Haaren, weniger fein ausgearbeitet. Ist der Münchner ein Abguss der ehemals Mantuaner Figur? Eine Replik aus derselben Form, nur anders ziseliert?35 Auf jeden Fall spricht das Münchner Inventar dafür, dass es eine Abgusskampagne gegeben haben muss: Es kann kein Zufall sein, dass sich einige Mantuaner Bronzen in einer Zweitausführung in München befanden. Skulptur in den frühen Kunstkammern | 215
21 Plutorelief, Mantua, Palazzo Ducale
Eine Zeichnung dokumentiert den von Giulio Romano ausgestalteten Gabinetto de’ Cesari des Palazzo Ducale in Mantua, denjenigen Raum, in dem die berühmte Kaiserfolge Tizians hing.36 Sie gehört zu einem größeren Set von Innenansichten der Gonzagapaläste, die der kaiserliche Antiquar Jacopo Strada 1567 durch einen jungen Künstler am Ort hat anfertigen lassen – dazu gleich mehr. Man erkennt den Wiener Jüngling in einer der Nischen. Wann fand diese Abgussaktion statt? Mantua und Bayern waren seit langem ver schwägert: 1463 hatte Federico I. Gonzaga Margarete von Bayern geheiratet, seit 1549 waren die Herzoginnen Habsburgerinnen und Schwestern. Könnte möglicherweise Ludwig X. – ein Onkel Albrechts V. –, der 1536 in Mantua gewesen war, einen begeis terten Brief nach Hause geschrieben hatte, das sei das Beste, was er je gesehen habe, und der sich daraufhin mit importierten Baumeistern und Stukkateuren in Landshut einen Palast à la Mantua errichten ließ, könnte der auf den Gedanken gekommen sein, auch in der Plastik seine Mantuaner Beziehungen spielen zu lassen?37 Von dessen pfälzischem Vetter Ottheinrich kennen wir eine solche Demarche aus dem Jahr 1539: Ob man 216 | Dorothea und Peter Diemer
ihm, bitte, Tizian-Porträts, Gemälde, Truthähne und, wenn möglich, [Kopien von] Antiken zukommen lassen könne?38 Nun eröffnet ein Blick auf die bei Fickler verzeichneten Gipsplastiken neuen Stoff für Hypothesen: „Ein große viereckhete Tafl von Gypß goßen, darauf Pluto und Cerberus“.39 Die ausgefallene Ikonographie macht es zweifelsfrei, dass damit ein antikes Sarkophagrelief im Besitz der Isabella d’Este gemeint war (Abb. 21). Merkur steht vor Pluto und verlangt im Namen Jupiters die Rückkehr der Proserpina. Es ist ein prominentes Stück: Papst Leo X. soll 500 Dukaten dafür bezahlt haben, Isabella kaufte ihm das Relief 1524 ab und ließ es unter dem Fenster ihres studiolo einmauern. „Ain dafl von Gyps, in holz gefaßt, darauf ein fantasey von einem nackhenden Mann, auf einem stammen vor einem baum sizendt“.40 Auch hier hilft die ausgefallene Darstellung: Es muss ein Abguss 22 Philoktet, Mantua, Palazzo Ducale nach einem weiteren Relief aus Isabellas Sammlung sein, das Philoktet zeigt, der mit einem Vogelflügel seine Wunde befächelt (Abb. 22). Es gehört in die genannte Gruppe venezianischer Reliefs mit Helden und Heldinnen des Altertums. In München, vielleicht auch in Mantua, wird man es für antik gehalten haben. Durch diese beiden eindeutigen Fälle bestärkt, wagen wir eine Identifizierung, die ansonsten doch mutig erschiene. Unter den Münchner Gipsen fand sich: „Ein Cupido auf einer Löwenhaut, von stuckho, auf einem hülzen schwarz angestrichnen Posament mit guldem laubwerckh“.41 Isabella verwahrte im studiolo bekanntlich zwei Schlafende AmorSkulptur in den frühen Kunstkammern | 217
knaben, einen antiken, den man Praxiteles persönlich zuschrieb und der deshalb allerhöchsten Ruhm genoss (Abb. 23), und denjenigen, den der junge Michelangelo im Wettstreit mit der Antike geschaffen hatte. Der Cupido des Praxiteles wird auf einer Löwenhaut liegend beschrieben.42 Die einzige bekannte Abbildung der Skulptur befindet sich in einem Konvolut 23 Zeichnung der Skulpturen des Schlafenden Cupido aus Gonzagavon Zeichnungen nach GonzaBesitz, Windsor, Royal Collection HM Queen Elizabeth II ga-Antiken, entstanden anlässlich ihres Verkaufs nach England 1626; die Antiken wurden wohl beim Brand von Whitehall 1698 zerstört. Selbst der Gipsabguss spiegelte noch die hohe Wertschätzung, die man dem vermeintlichen Praxiteles entgegenbrachte: Man hatte ihm einen besonders verzierten Sockel gegeben, schwarz, mit vergoldetem Laubwerk, was an Mantua denken lässt. Die Beobachtung stützt, umgekehrt, die Identifizierung. Sucht man nun unter den Münchner Gipsen gezielt weiter nach möglichen Mantuaner Typen, so findet man einen Priapus, dessen Verstümmelung seiner Beschreibung im Münchner Inventar entspricht: „[…] ein Truncus dem die schenckhel, und der recht arm ab, an dem linggen arm etliche früchten tragendt, sihet ainem Custodi Hortorum gleich, auf Antiquisch in gyps goßen“ (Abb. 24).43 Man wird dem genauer nachgehen müssen. 24 Zeichnung eines Priapus aus GonzagaBesitz, Windsor, Royal Collection HM Queen Wann entstanden diese Gipsabgüsse prominenElizabeth II ter Antiken Mantuas? Es gibt einen archivalischen Hinweis. Im Verlauf der groß angelegten Antikenkäufe Albrechts V. kam es zu Eifersucht zwischen zwei seiner Agenten, dem aus Mantua stammenden kaiserlichen Antiquar Jacopo Strada, damals in bayerischen Diensten, und einem etwas glücklos agierenden Niederländer namens Nicolò Stopio. Als dieser dem Hof gegenüber zu verteidigen suchte, dass er Köpfe aus Hartstuck, sprich Fälschungen, 218 | Dorothea und Peter Diemer
gekauft hatte, argumentierte er, Herzog Guglielmo Gonzaga habe Brustbilder mit Gips abgießen lassen, die seien in Stradas Hand; Hartstuck sei aber doch immerhin viel besser als Gips.44 Diese rare Quelle zu Abgüssen koinzidiert mit Nachrichten, nach denen Strada es eben in jenen Jahren unternommen hatte, für München eine Totalkopie des Gabinetto de’ Cesari zu organisieren. In einem solchen Auftrag zeigte sich das Interesse Albrechts V. an klassisch gewordenen Kunstwerken der Höfe Italiens. Man erwarb Kopien von Tizians und Bernardino Campis Bildnissen der zwölf Suetonschen Imperatoren – heute sind sie in den Reichen Zimmern der Residenz als Supraporten verbaut – und Strada ließ die zugehörigen Vitenbilder Giulio Romanos und noch einiges mehr kopieren. Das Projekt wurde wohl aufgegeben, als man beschloss, die Antiken nicht in der Kunstkammer aufzustellen. Nahm man damals auch Abgüsse von „Antiken“ oder stammten sie bereits aus der Kunstkammer Ludwigs X.? Wir sehen in München, auf welche Weise nahe verwandtschaftliche Beziehungen unter den Herrscherhäusern die Sammlungen prägten – Bildnisse, Exotika kamen von den Habsburgern –, wie sie erst die Möglichkeit schufen, Wertvolles zu erwerben wie die Antikenabgüsse der Gonzaga. Andererseits bringt, damals wie heute, der Besitz solcher Dinge Prestige, schon indem er diese wichtigen Beziehungen augenfällig macht. Doch finden Bewegungen dieser Art nur statt, wenn das persönliche Interesse des Fürsten dahintersteht.
Prag „Die Kunstsammlungen Kaiser Rudolfs II. (reg. 1576–1608) waren schon zu Lebzeiten ihres Begründers von geheimnisvollen Gerüchten umgeben. Nur wenigen war es gestattet, sie zu sehen, und auch die Erzählungen dieser Auserwählten erhöhten das Interesse und förderten die Phantasievorstellungen der übrigen […] Die Besessenheit, mit der er die großartigsten Kunstwerke zusammentrug und um sich versammelte, gab ihm in den Augen seiner Zeitgenossen beinahe etwas Absonderliches.“45 Erst Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckte man ein zu Lebzeiten Rudolfs verfasstes Kunstkammerinventar, seit 1976 ist es publiziert, allerdings ohne Erläuterungen. Seitdem können, könnten wir wissen, was diese legendär reiche Kunstkammer umfasste. Jedoch gibt der dürre Wortlaut, ähnlich wie in München, nur in den wenigsten Fällen spontan eine konkrete Vorstellung von den Objekten, wenn sie verloren sind. Für Prag galt viel mehr noch als für alle anderen Höfe, dass die „Kunstkammer“ genannte Sammlung, die auf dem Hradschin in einem hundert Meter langen Gang untergebracht war, nur einen Teil der kaiserlichen Sammlungen enthielt: die wissenschaftlichen Instrumente, Naturalien, Pretiosen aus Hartstein, Goldschmiedewerke, Kristallgefäße, Exotisches, Bücher, Kupferstiche, Skulptur in den frühen Kunstkammern | 219
Münzen, alles in erlesener Qualität. Rudolfs Nachlass von 1612 nennt weiterhin 3000 Gemäl de; die Gemäldegalerie war von der Kunstkammer getrennt. Auch großformatige Bronzen, ein Merkur Giambolognas, ein Florentiner Geschenk, oder die bei Adriaen de Vries in Auftrag gegebenen Psychegruppen, standen anderswo in der Burg. Was man heute an Plastik aus der Prager Kunstkammer besitzt, sind fast ausschließlich Bronzen, Spitzenwerke eines Giambologna, eines de Vries (Abb. 25) oder von Jan Gregor van der Schardt.46 Für antike Plastik oder auch antikisierende italienische Renaissancebronzen interessierte sich der Kaiser kaum. Doch der Eindruck, dass in seiner Sammlung die Bronze überwog, trügt. Bei Durchsicht des Inventars finden sich viel mehr in Silber gegossene Stücke, noch mehr aus Wachs und in Hartstuck. Im Gegensatz 25 Adriaen de Vries, Herkules, Nessus und Deianira, Paris, Musée du Louvre zu den bekannten Statuettentypen Giambolognas sind diese Wachs- und Stuckplastiken am Hof Rudolfs II. und für ihn entstanden, durch die Medailleure und Wachsbossierer Antonio und Alessandro Abbondio (Abb. 26) und den Hartstuckspezialisten Giovanni Battista Quadri, den Rudolf eigens nach Prag geholt hatte.47 Hier zeigt sich die krasse Ungleichgewichtigkeit der Überlieferung: Bronzen sind erhalten, die Plastiken aus Silber aber hat man eingeschmolzen, und die aus Wachs und Stuck sind dem Zahn der Zeit anheimgefallen. Eine Auswahl der Sujets aus der Wachsabteilung: „Ein nacket weibl auff irem bett, ist der gulden regen bedeuttend.“ – „Ein Adonis, welcher Dianam abbraciert […]“. – „Ein futral […], darin ein mann ein weib sforzieren will […]“.48 Man hat immer gesehen, 220 | Dorothea und Peter Diemer
dass sich in den erotischen Themen eine Vorliebe des Kaisers spiegelte; die Stücke werden, stellen wir uns vor, selten in seinem ausdrücklichen Auftrag entstanden sein, aber die Hofbildhauer und Kammerdiener wussten seinen Geschmack natürlich zu bedienen. Besagter Hartstuckspezialist Quadri hat in größerer Anzahl Modelle von de Vries in Stuck abgegossen, vermutlich, weil man diese farbig fassen konnte. 26 Alessandro Abbondio, Liegende Athena, Wachs, Wien, Kunst historisches Museum Nichts davon ist erhalten, doch wir denken, dass einige Bronzeabgüsse, die wiederum nach solchen Hartstuckarbeiten gearbeitet waren, bewahrt geblieben sind, im Stil von de Vries, im Detail aber unscharf. Das liest sich so: „Ein nacket weiblin so sich selbst die negel abschneidt, von natürlicher farben, vom B. Quadri“. – „Ein nacket weiblin auf einem bett ligendt, schlaffend, vom gleichen harten zeug […]“. Darunter sind sogar lebensgroße Stücke: „Zwey grosse bilder, lebensgröß, von des B. Quadri harten gebranten zeug, sein zwey weiblein sitzendt, so das hembd uffheben und die bain ubereinander schrenckhen, das eine ist von leibfarber materi.“49 Rudolfs Kunstkammer war nur ganz wenigen Vertrauten zugänglich, und auch in den Räumen waren die Kunstgegenstände nicht, wie in München, wirkungsvoll für den Betrachter ausgestellt, sondern mussten aus Schränken und Etuis erst herausgeholt werden. Es war also eigentlich die Privatsammlung des menschenscheuen, depressiven Kaisers. Umso merkwürdiger, dass Rudolf dort auch ausbreitete, was man als politische Propaganda bezeichnen kann. Adriaen de Vries erhielt, nachdem er 1602 zum Hofbildhauer ernannt wurde, einen Auftrag über allein drei Bronzebüsten.50 Alle drei blieben in der Kunstkammer. Die große von 1603 (Wien, Kunsthistorisches Museum) ist als Gegenstück zur Büste Karls V. von Leone Leoni gestaltet und vielfach allegorisch aufgeladen. 1606 entstand eine kleine Version (Wien, Geistliche Schatzkammer) und 1609 schließlich eine Büste im Relief, die den Kaiser Herkules annähert (London, Victoria and Albert Museum). Die zuletzt genannte Büste war offenbar dafür gedacht, zwischen zwei panegyrischen Reliefs von de Vries Platz zu finden, einer Allegorie auf den Türkenkrieg (1603) und einer Allegorie Rudolfs II. als Beschützer der bildenden Künste (1609) (Abb. 27 a, b, c): ein Arrangement, wie es sich dann auch in den Inventaren findet. Rudolf stilisiert sich zum guten Herrscher in Krieg und Frieden, Utroque Caesar.51 Es braucht keine Psychologen, um die Zusammenhänge mit der politischen Lage zu sehen. Rudolf hatte bis zum früSkulptur in den frühen Kunstkammern | 221
27 a, b, c Adriaen de Vries Allegorie auf den Türkenkrieg, 1603, Wien, Kunsthistorisches Museum Reliefbüste Rudolfs II., 1609, London, Victoria and Albert Museum Allegorie Rudolfs II. als Beschützer der Künste, 1609, Windsor, Royal Collection HM Queen Elizabeth II
hen 17. Jahrhundert alle politische Autorität verloren, die Türkenkriege waren eine Katastrophe, doch er weigerte sich in Verkennung der Realitäten, die von den Brüdern und Adeligen ausgehandelten Friedensverträge zu unterzeichnen. Seit 1606 planten die Brüder offen Rudolfs Sturz. 1608 kam es zu einem Vertrag mit seinem Bruder Matthias, Rudolf unterzeichnete schließlich die von den Brüdern mit der Pforte ausgehandelten Friedensverträge. Wollte er da noch einmal auftrumpfen, ganz heimlich? 222 | Dorothea und Peter Diemer
Kurz danach hatte de Vries noch ein politisches Zimmerdenkmal zu schaffen (Abb. 28), das uns der Inventartext entschlüsselt: „Ein gruppo di bronzo von Adriaen de Fries, ist ein nacket weiblin, helt ein lorberkranz in der hand endtbor, das imperium triumphante bedeuttendt, under ihren füssen ligt ein ander weib mit einem beuttel vol gelt, bedeut die Avaritia“. Man versteht das als Anklage des Kaisers an die Adresse der Fürsten, die die Kontributionen zum Türkenkrieg verweigert hatten, das Imperium tritt sie mit Füßen.52 All diese Bronzen standen und hingen in der Kunstkammer, und kaum einer hat sie gesehen! Eine Behauptung allein für Rudolf II. selbst, allenfalls für die Nachwelt. Gibt es ein Fazit? Wir empfehlen Misstrauen. Nicht nur gegenüber umfassenden Kunstkammer-Thesen. Es hat „die“ Kunstkammer der Kunsthistoriker nicht gegeben, jedenfalls nicht im 16. Jahrhundert. Es gab auch keine Theoretiker des Museums im 16. Jahrhundert, pace Quiccheberg, dessen Buch sich als Leitfaden des Sammlers versteht – neu daran sind der Vorschlag, betuchte Sammler sollten alles sammeln, was sich mit Wissensgewinn sammeln lässt, und die systematische Aufzählung der dafür in Frage kommenden Gegenstände, und er findet, der Münchner Hof sei darin ein Vorbild. Viele Faktoren des Marktes und der Möglichkeiten haben dazu beigetragen, dass sich diese Sammlungen über weite Strecken durchaus ähneln, doch der Impetus dahinter ist individueller als übergreifende Theorien dies gern sehen. Skulptur in den frühen Kunstkammern | 223
Vorsicht auch vor voreiligen Thesen. Das Ambraser und Prager Inventar sind bisher kaum ausgewertet, man hat sich nur die Rosinen herausgepickt. In München zeigt sich, dass genaueres Hinsehen herausbringt, was an persönlichen Vorstellungen und Wünschen hinter Erwerbungen stehen kann. Die „sammelbare“ Skulptur in Kunstkammern, „collectible sculpture“,53 mag sich auf den ersten Blick untereinander ähnlich sehen – historisch gesehen sind die Antikenabgüsse des bayerischen Herzogs aber weit entfernt von Adriaen de Vries’ Werken für Kaiser Rudolf II. Zusammengetragen wurden Skulptur und Malerei vielfach doch nach persönlichen Interessen, wenn man beiseite lässt, was die Leute geschenkt bekamen – die unweigerlichen Weihnachts-, früher Nikolausgeschenke. Am Ende dürfen wir uns das fürstliche Sammeln durchaus lebensnah vorstellen. Sollte man das moderne Konzept der frühen Kunstkammern als Orte kreativ-verspielter Rea28 Adriaen de Vries, Imperium triumphante, litätsbewältigung und -erfindung nicht besser Washington, D. C., National Gallery of Art aufgeben? Albrecht V. hatte es nicht nötig, sich kreativ zu fühlen, bloß weil er mit mehr Engagement sammeln ließ als andere Fürsten. Sein Ratgeber Quiccheberg will im Kern nichts an sich Neues. Er dient dem fundamental humanistischen Anliegen, Wissen zu erwerben und zu vermitteln. Die Vielseitigkeit des Münchner Sammlungsunternehmens war wohl als solche ein moderner Zug. Viel Wirkung konnte davon aber nicht ausgehen, schon weil im Zeichen des Frühabsolutismus die Nachfolger Albrechts die Untertanen auf Distanz brachten und ihr Sammeln rigoros den Zwecken ihrer Repräsentation unterwarfen. Schon vor der schwedischen Plünderung von 1632 war die Kunstkammer ein Relikt der Bildungspolitik geworden. Ihre weitere Überlieferung wäre eher destruktiv als kreativ zu nennen. Dies bringt uns auf die Frage: Wieso kommt es, dass Sammeln mit einem wissenschaftlichen Anliegen, das Aufheben von Gegenständen um ihres Alter- und Quellenwerts wegen, schon der zweiten Generation als alter Hut gilt? Und damit sind wir bei einem Thema, das Ekkehard Mai umtreibt, seitdem wir ihn kennen – lieber Herr Mai, wir danken Ihnen dafür, dass Sie über die Jahrzehnte unbestechlich das Treiben unserer Kulturspaßgesellschaft beobachtet haben.
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Anmerkungen 1 Der hier abgedruckte Text folgt im Wesentlichen dem für das Thema allzu knappen Vortragsmanuskript. Er beruht auf unseren Publikationen zur Münchner Kunstkammer: Dorothea und Peter Diemer et al. (Bearb.), Die Münchner Kunstkammer, vorgelegt von Willibald Sauerländer (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, N. F. Heft 129), 3 Bde., München 2008 [im Folgenden zitiert als Münchner Kunstkammer 2008]; Peter Diemer, „Bemerkungen zur Münchner Kunstkammer“, in: Beket Bukovinská und Lubomír KoneČný (Hg.), München – Prag um 1600 (= Studia Rudolphina, Sonderheft), Prag 2009, S. 155–163; Dorothea und Peter Diemer, „Ausstellungsbericht zu: ‚Ewig blühe Bayerns Land’. Herzog Ludwig X. und die Renaissance (Landshut 2009)“, in: Kunstchronik 62, 2009, S. 387–395. Dementsprechend sind die Anmerkungen auf das Nötigste beschränkt und enthalten unangenehm viele Selbstzitate. 2 Hier kann nur eine kleine Literaturauswahl gegeben werden: Julius von Schlosser, Die Kunstund Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens (= Monographien des Kunstgewerbes, N. F. 11), Leipzig 1908, sowie die 2. durchges. u. verm. Ausgabe, Braunschweig 1978; Rudolf Berliner, „Zur älteren Geschichte der allgemeinen Museumslehre in Deutschland“, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, N. F. 5, 1928, S. 327–352; Oliver Impey und Arthur MacGregor (Hg.), The origins of museums: the cabinet of curiosities in sixteenth- and seventeenth century Europe, Oxford 1985; Ellinoor Bergvelt, Debora J. Meijers und Mieke Rijnders (Bearb.), Kabinetten, galerijen en musea. Het verzamelen en presenteren van naturalia en kunst van 1500 tot heden, Zwolle 2005; Lorenz Seelig, „Literaturbericht zur Münchner Kunstkammer“, in: Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 3: Aufsätze und Anhänge, S. 115–124. 3 Joannes Lonaeus Boschius, „Oratio secunda de serenissimo principe Alberto V.“, in: Albrecht Eder (Hg.), Orationes funebres in exequiis […] Alberto […] celebratis, Ingolstadt 1580, S. 29: „[Albertus] […] habuit […] Theatrum earum rerum, quas memorabiles atque suspiciendas natura vel ars machinata est amplissimum“. 4 Joachim Menzhausen, „Elector Augustus’s ‚Kunstkammer’. An Analysis of the Inventory of 1587“, in: Impey/MacGregor 1985 (wie Anm. 2), S. 69–75; Dirk Syndram, „Von fürstlicher Lustbarkeit und höfischer Repräsentation. Die Kunstkammer und die Dresdner Sammlungen der Renaissance“, in: In fürstlichem Glanz. Der Dresdner Hof um 1600, hg. von id. und Antje Scherner, Ausst. Kat. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg; Metropolitan Museum of Art, New York; Fondazione Memmo, Rom 2004/05, S. 54–69. 5 S. dazu zuletzt Giambologna in Dresden: die Geschenke der Medici, bearb. von Dirk Syndram, Moritz Woelk und Martina Minning, Ausst. Kat. Grünes Gewölbe, Dresden 2006/07; Giambologna. Triumph des Körpers, hg. von Wilfried Seipel, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum Wien 2006, S. 205, Nr. 8, S. 218–221, Nr. 11, S. 257–259, Nr. 25, S. 267 f., Nr. 29. 6 „‚How a Kunstkammer should be formed’. Gabriel Kaltemarckt’s advice to Christian I of Saxony on the formation of an art collection, 1587“, veröff. von Barbara Gutfleisch und Joachim Menzhausen, in: Journal of the History of Collections 1, 1989, S. 3–32. 7 Walter Mackowsky, Giovanni Maria Nosseni und die Renaissance in Sachsen, Berlin 1904; Monika Meine-Schawe, „Giovanni Maria Nosseni: ein Hofkünstler in Sachsen“, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 5/6, 1989/90, S. 283–325. 8 Dorothea Diemer, „Giambologna in Deutschland“, in: Wien 2006 (wie Anm. 5), S. 155–185, hier S. 176–181. 9 Zu der Gruppe Nymphe und Faun s. Jane Bassett, „Adriaen de Vries, master craftsman“, in: Schaumburger Landschaft (Hg.), Neue Beiträge zu Adriaen de Vries. Vorträge des Adriaen de Vries Symposiums vom 16. bis 18. April 2008 in Stadthagen und Bückeburg, Bielefeld 2008, S. 195–213, hier S. 209–212; zum Kruzifixus s. Dorothea Diemer, Hubert Gerhard und Carlo di Cesare del Palagio. Bronzeplastiker der Spätrenaissance, 2 Bde., Berlin 2004, hier Bd. 1, S. 278–280.
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10 Wendelin Boeheim, „Inventar der Ambraser Kunstkammer von 1596“, in: Jahrbuch des Allerhöchsten Kaiserhauses 7, 1888, S. CCXXVI–CCCXIII, Nr. 5556; ibid. 10, 1889, S. I–X, Nr. 5556; Elisabeth Scheicher, Die Kunst- und Wunderkammern der Habsburger, Wien, München und Zürich 1979; ead., „Zur Entstehung des Museums im 16. Jahrhundert. Ordnungsprinzipien und Erschließung der Ambraser Sammlung Erzherzog Ferdinands II.“, in: Hermann Fillitz und Martina Pippal (Hg.), Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Wien, 4. bis 10. September 1983, 9 Bde., Wien, Köln und Graz 1986, hier Bd. 4: Der Zugang zum Kunstwerk: Schatzkammer, Salon, Ausstellung, „Museum“, S. 43–52; Alle Wunder dieser Welt. Die kostbarsten Kunstwerke aus den Sammlungen Erzherzog Ferdinands II. (1529–1595), hg. von Wilfried Seipel, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum Wien/Sammlungen Schloss Ambras, Innsbruck 2001. 11 Nr. 425 des Inventars. 12 Julius von Schlosser, „Aus der Bildnerwerkstatt der Renaissance. Fragmente zur Geschichte der Renaissanceplastik“, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 31, 1913/14, S. 67–136. 13 Zur Münchner Kunstkammer und ihren Beständen jetzt umfassend Münchner Kunstkammer 2008; zum Bau Lorenz Seelig in ibid., Bd. 3, S. 1–27; für eine Edition des Inventars von 1598 s. Johann Baptist Fickler, Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598, hg. von Peter Diemer in Zus.arbeit mit Dorothea Diemer und Elke Bujok (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen, N. F. Heft 125), München 2004. 14 Dorothea und Peter Diemer, „Das Antiquarium Herzog Albrechts V. von Bayern. Schicksale einer fürstlichen Antikensammlung der Spätrenaissance“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58, 1995, S. 55–104. 15 Samuel Quiccheberg, Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, complectentis rerum universitatis singulas materias et imagines eximias […], München 1565, Textabdruck bei Harriet Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“ von Samuel Quiccheberg, Berlin 2000; die München betreffenden Passagen abgedruckt und übersetzt in Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 3, S. 346–363. 16 Fickler Nr. 2988; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 894 (hier wie im Folgenden wird die Nummerierung der Münchner Inventarhandschrift cgm 2133 nachgewiesen und anschließend die betreffende Seite in Münchner Kunstkammer 2008 genannt), Gotha, Schlossmuseum. 17 Fickler Nr. 1343; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 1, S. 438. 18 Fickler Nr. 1359; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 1, S. 441. 19 Zum Loy Hering zugeschriebenen Madonnenrelief s. Fickler Nr. 1784; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 558, München, Bayerisches Nationalmuseum; zum Hieronymus Hans Dauchers s. Fickler Nr. 1785; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 558 f., München, Bayerisches Nationalmuseum. 20 Fickler Nr. 1770, 1772, 1795, 1796; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 553, 554, 562 f., 563 f. Von Nr. 1770 ist eine Abformung in der Berliner Skulpturensammlung erhalten, Nr. 1772 befindet sich im Schlossmuseum von Gotha, Nr. 1796 im Münchner Bayerischen Nationalmuseum. 21 Dorothea und Peter Diemer 1995 (wie Anm. 14). 22 Fickler Nr. 2324; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 701. 23 Fickler Nr. 2307; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 695, München, Staatliche Antikensammlungen. 24 Fickler Nr. 2207; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 672. 25 Fickler Nr. 2552; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 739. 26 Vgl. das ikonographische Register der Bronzen in Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 3, S. 562–564. 27 Fickler Nr. 2388; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 714 f., München, Staatliche Sammlung Ägyptischer Kunst. 28 Fickler Nr. 2352, 2495; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 708, 732, beide München, Bayerisches Nationalmuseum.
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29 Fickler Nr. 2323; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 700 f. 30 Peter Apian und Bartholomäus Amantius, Inscriptiones sacrosanctae vetustatis non illae quidem Romanae sed totius fere orbis summo studio et maximis impensis terra marique conquisitae, Ingolstadt 1534. 31 Fickler Nr. 2316; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 697 f. Eine dem Holzschnitt sehr ähnliche römische Kleinbronze findet sich im J. Paul Getty Museum, Inv. Nr. 92.AB.11, vgl. The J. Paul Getty Museum: Handbook of the Antiquities Collection, Los Angeles 2002, S. 192. 32 Fickler Nr. 2329; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 702 f.; Richard E. Stone, „Riccio, technology and connoisseurship“, in: Andrea Riccio. Renaissance Master of Bronze, hg. von Denise Allen und Peta Motture, Ausst. Kat. Frick Collection, New York 2008/09, S. 81–109, zum Hirten S. 93; Bertrand Jestaz, in: Gonzaga. La Celeste Galeria. Le raccolte, hg. von Raffaella Morselli, Ausst. Kat. Galleria Civica di Palazzo Te, Mantua 2002, S. 361–363, Nr. 151. 33 Fickler Nr. 2415; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 719 f.; Bertrand Jestaz, in: Mantua 2002 (wie Anm. 32), S. 363, Nr. 152. 34 Isabella d’Este, „la prima donna del mondo“. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance, hg. von Sylvia Ferino-Pagden, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum Wien 1994. 35 Fickler Nr. 2210; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 673 f., Wien, Kunsthistorisches Museum bzw. München, Bayerisches Nationalmuseum; Bertrand Jestaz, in: Mantua 2002 (wie Anm. 32), S. 357–359, Nr. 145. 36 Für eine Abbildung der Nachzeichnung von Ippolito Andreasi, die die Figur in ihrer Nische im Gabinetto zeigt, s. Zu Gast in der Kunstkammer, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum, Wien 1991, S. 62. 37 „Ewig blühe Bayerns Land“. Herzog Ludwig X. und die Renaissance, hg. von Brigitte Langer und Katharina Heinemann, Ausst. Kat. Stadtresidenz Landshut 2009; Iris Lauterbach, Klaus Endemann und Christoph Luitpold Frommel (Hg.), Die Landshuter Stadtresidenz. Architektur und Ausstattung, München 1998, dort der erwähnte Brief Ludwigs X. vom 18. April 1536 auf S. 261 abgedruckt. 38 Die Inventare von Ottheinrichs (1502–1559) Sammlungsbesitz sollen, einem gerade anlaufenden Projekt zufolge, von Hanns Hubach (Zürich), Andreas Kühne (München) und Lisa Kirch (Univ. North Alabama) publiziert werden. Zu Ottheinrichs Anfrage in Mantua s. Peter Diemer, „Wenig ergiebig für die Alte Pinakothek? Die Gemälde der Kunstkammer“, in: Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 3, S. 125–224, hier S. 135, Anm. 48. 39 Fickler Nr. 1687; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 1, S. 518; zu den Abgüssen nach Mantuaner Antiken s. Dorothea und Peter Diemer 2009 (wie Anm. 1), S. 391–393. 40 Fickler Nr. 1579; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 1, S. 491. 41 Fickler Nr. 1389; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 1, S. 450. 42 Wien 1994 (wie Anm. 34), Abb. S. 316. 43 Fickler Nr. 2292; Münchner Kunstkammer 2008, Bd. 2, S. 691; zur Zeichnung des Priapus s. Federico Rausa, „‚Li disegni delle statue et busti sono rotolate drento le stampe’: l’arredo di sculture antiche delle residenze dei Gonzaga nei disegni seicenteschi della Royal Library a Windsor Castle“, in: Gonzaga. La Celeste Galeria. L’esercizio del collezionismo, hg. von Raffaella Morselli, Ausst. Kat. Galleria Civica di Palazzo Te, Mantua 2002, S. 55. 44 Dorothea Diemer, „Die Bildhauerei an den Höfen von Prag und München“, in: Bukovinská/ KoneČný 2009 (wie Anm. 1), S. 131–142, hier S. 140. 45 Zur Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. können hier nur wenige Titel genannt werden: Beket Bukovinská, „Die Kunstkammer Rudolfs II., Umriss der Forschungsgeschichte und Bibliographie“, in: Studia Rudolphina 7, 2007, S. 143–167; für die Publikation des Inventars s. Rotraud Bauer und Herbert Haupt, Das Kunstkammerinventar Kaiser Rudolfs II., 1607–1611 (= Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 72, 1976), das Zitat S. XII; Schlosser 1908 (wie Anm. 2); Thomas DaCosta Kaufmann, L’école de Prague. La peinture à la cour de Rodolphe II, Paris 1985; Prag um
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1600. Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II., Ausst. Kat. Kulturstiftung Ruhr, Villa Hügel Essen; Kunsthistorisches Museum Wien 1988/89; Beket Bukovinská, „The ‚Kunstkammer’ of Rudolf II: where it was and what it looked like“, in: Rudolf II and Prague. The court and the city, hg. von Elisˇka Fucˇíková, Ausst. Kat. Prazˇský Hrad, Prag 1997, S. 199–208. Bauer/Haupt 1976 (wie Anm. 45), Nr. 1874–1914, 1920, 1921, 1936–1983, die erhaltenen Stücke dort mit Stern bezeichnet. Ibid.; zu Quadri zuletzt Elisˇka Fucˇíková, „Adriaen de Vries, Prague and the Waldstein Palace“, in: Art bulletin of Nationalmuseum Stockholm 12, 2005, S. 81–90. Bauer/Haupt 1976 (wie Anm. 45), Nr. 2055, 2042, 2024. Ibid., Nr. 1826, 1828, 1832. Lars Olof Larsson, Adrian de Vries. Adrianus Fries Hagiensis Batavus, 1545–1626, Wien 1967, S. 123, Kat. Nr. 39, S. 123 f., Kat. Nr. 44, S. 121, Kat. Nr. 30; Drei Fürstenbildnisse: Meisterwerke der „repraesentatio maiestatis“ der Renaissance, hg. von Martina Minning, Ausst. Kat. Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2008. Adriaen de Vries, 1556–1626, hg. von Frits Scholten, mit Beiträgen von Rosemarie Mulcahy et al., Ausst. Kat. Rijksmuseum, Amsterdam; Nationalmuseum, Stockholm; J. Paul Getty Museum, Los Angeles 1998–2000, S. 172, Kat. Nr. 22, die Reliefs S. 159–161, Kat. Nr. 18, S. 176–178, Kat. Nr. 23. Bauer/Haupt 1976 (wie Anm. 45), Nr. 1978; Thomas DaCosta Kaufmann, „Empire Triumphant. Notes on an Imperial Allegory by Adriaen de Vries“, in: Studies in the history of art 8, 1978, S. 63–75. Zum Begriff der „collectible sculpture“ s. Jeffrey Chipps Smith, German Sculpture of the Later Renaissance, c. 1520–1580: Art in an Age of Uncertainty, Princeton 1994, Kapitel 9: „Small Collectible Sculpture: A Study in the History of Taste“.
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Krzysztof Pomian
Lenoir, Wallraf, Correr What I wish to do in what follows is to show the intervention of macro-history into micro-history, in other words, of political and military events of European significance into the destiny of local cultural institutions. To be more precise, I wish to show the impact of the French Revolution on museums at the grass-roots level, so as to make explicit its double effect, at the same time destructive and constructive, not in order to justify the former by the latter but to unveil their complex relations varying according to time and place.1 As we shall see, the three cases I have chosen illustrate these relations. But they have more in common than that. They allow us to grasp a major shift in the European approach to art and to the past in general, a shift which occurred between the last decades of the eighteenth and the first decades of the nineteenth centuries, and which elevated the remains of the Middle Ages, which had until then been considered as mere curiosities or, at best, as historical monuments, to the rank of artworks. This shift, moreover, replaced the exclusive dominance of the aesthetic attitude by the growing importance of the historical approach.
1. Several museums created in Paris during the Revolutionary era were rooted in the Ancien Régime. Among them were the Muséum Français at the Louvre, the Muséum d’histoire naturelle, the Conservatoire des Arts et Métiers and the Museum of Artillery. The first originality of the Musée des Monuments français was that it had been the pure product of the Revolution.2 Created following the nationalization of the Church’s properties, it was at the beginning a simple warehouse placed in the former monastery of the Petits-Augustins in order to temporarily store objects that had to be sold or otherwise disposed of. Alexandre Lenoir (1761–1839), a student and protégé of Gabriel-François Doyen (1726–1806), a renowned painter and an expert to the Paris municipality on the paintings and silverware of dissolved religious houses, was placed in charge of it.3 Lenoir seems to have understood quite early that he was not exceptionally gifted for the art of painting and he therefore invested his considerable ambition in the transformation of a warehouse into a museum and in the self-promotion which this involved. Already in June 1793, the monuments collected at the Petits-Augustins were set up again and arranged as if they were to be included in a permanent exhibition.4 Lenoir even Lenoir, Wallraf, Correr | 229
obtained permission to open his warehouse to the public on 10 August 1793 to celebrate the first anniversary of the abolition of the monarchy, and the same day the Muséum Français was opened at the Louvre, a significant coincidence. On 28 December of the same year, encouraged by the great number of visitors, Lenoir published an explanatory leaflet of the monuments he was in charge of; a second followed in September 1795.5 Previously, he had published an Essai sur le Muséum de peinture where he proposed to replace the classification of paintings according to schools with a strict chronological order.6 His title of „warden“ was changed into that of „curator“ in 1794 as part of the struggle against vandalism. And on 29 vendémiaire an IV (21 October 1795), he presented to the Comité d’instruction publique a project for a museum of French monuments and succeeded in having it approved at the same meeting.7 Such a development from a warehouse to a museum, an isolated case in Paris, obviously cannot be separated from the personality of Lenoir. The content of the museum suited this exceptional course because it got away from prevailing ideas, including aesthetic norms, of which, as we shall see, Lenoir himself was unreservedly respectful. The Museum of French Monuments exhibited almost exclusively French sculptures, the great majority of them medieval ones: tombstones, recumbent statues, statues and busts. It also exhibited other medieval objects, such as stained-glass windows, columns, capitals, and other architectural items. In this respect it was exceptional, and not only in France. This resulted partly from a lack of French paintings, of foreign works of art from the sixteenth and seventeenth centuries, and of antiques, all of which were taken away from the Petits-Augustins by the administrators of the Louvre,8 who willingly left the French sculptures to Lenoir, particularly when they represented kings, queens, the Virgin or the saints.9 But Lenoir knew how to make a virtue of necessity and how to acquire, often by rather disreputable methods, a great number of objects which came from ecclesiastical or secular buildings destined for demolition. Among his acquisitions were the recumbent statues from the abbey of Saint-Denis. According to a legend which he himself helped to spread, he had saved them at the risk of his life from the destructive fury of the Jacobins. And he knew how to show the objects he had in his museum in a strongly flattering light. But he did not consider them as examples of timeless beauty. Lenoir’s taste remained neoclassical, at least at the beginning.10 He accordingly denied any aesthetic value to the remnants of the Middle Ages. His exhibition was designed to show the barbarism and ignorance of that time.11 Picturesque but distant, exotic, plunged in darkness, the Middle Ages as conceived and imagined by Lenoir were cut off from the present, which had to look on them with a feeling of superiority. But the reactions of visitors were often contrary to Lenoir’s expectations. Actually Lenoir never intended to concentrate his museum on the Middle Ages. Nor did he intend to give pride of place to this era. He admired „the beautiful century 230 | Krzysztof Pomian
of the Renaissance“12 and he took particular care of the rooms devoted to the sixteenth and seventeenth centuries. He did not forget the French kings either, some of whom had been represented in the museum since 1798. But the gaze of visitors was attracted particularly by effigies of famous Frenchmen. They were celebrated also in the Elysium, a garden where, aside the tomb of Heloise and Abelard, cenotaphs and sarcophagi with the remains of illustrious Frenchmen were placed. The frontier was blurred here between the admiration of art and the cult of great men, between works of art and relics, between the museum and the graveyard. Despite their alleged lack of aesthetic value, medieval objects of French origin were interesting to Lenoir because they came from the past—from the past of France. Having told the story of the warehouse at the Petits-Augustins, he gives his version of its transformation into a museum in the following words: „So important a number of monuments of all centuries suggested to me the idea of creating a special, historical, and chronological museum, where one might find each period of French sculpture in a room endowed with a [manifest] character, with an exact physiognomy of the century it must represent, and of sending to other institutions paintings and statues irrelevant to the history of France or to that of French art […].”13 If at the end of this quote Lenoir claims for himself the merit of measures he actually opposed as strongly as he could, he is right in what he says at the beginning. Indeed the project of a „historical and chronological“ museum was his. He succeeded moreover in translating this project into a scenography that used the materials at his disposal to convey an idea of the history of art and of the history of France interspersed with borrowings from sayings and commonplaces of his time, and for that very reason easy to understand for his visitors. This scenography respected the chronology whose importance was stressed by Lenoir, and therefore the monuments were distributed according to their centuries of origin, distinguished from one another by their visible characteristics—the fourteenth century, for instance, was „Asiatic“14—and by great figures that had made them famous. In this scenography, Lenoir tried to apply to the history of art both the cyclical visions of Vasari and Winckelmann and the idea of progress. He also tried to integrate the history of art with the history of France, identified with the history of great Frenchmen, so as to turn the latter into objects of attention and to create at the same time an environment which aroused the emotions of the visitors. They were enthusiastic or scandalized, but seldom indifferent. We are therefore dealing with a „national“ history. Lenoir had used the word „national“ already in 1795 when he applied it to the warehouse he was in charge of, and he used it again in 1816 when he described his museum as a „truly national institution.“15 The Musée des Monuments français was a museum of French national history, which it had to display before the eyes of its visitors. They recognized that it indeed played this role. This does not mean, however, that it might be of concern only to French citizens. Since the RevoluLenoir, Wallraf, Correr | 231
tion, French history had had a universal significance. It determined the future of Europe. Hence it was important for everybody. The merit of having conferred a universal significance on the history of France obviously does not belong to Lenoir; it belongs to the Revolution itself. But Lenoir may be credited with understanding vaguely that the remnants of the past can have a historical value not as instruments of cognition but because they are endowed with an evocative power which makes it possible to bring this past back to life through the agency of imagination. Another merit of Lenoir was that he had succeeded in convincing the Comité d’Instruction publique that one could create a museum with objects which until then had been excluded from it and which, once exhibited, changed their status: instead of being reserved only for the curiosity of antiquaries and scholars, they became worthy to be admired by the general public. Lenoir’s merit, moreover, resided in his portrayal of himself as the hero of a legend which used all the ingredients of a gothic novel with a savage iconoclasm in the background. And his merit was, finally, to have created a museum so ideologically ambiguous that on the one hand it aroused praise, not to say panegyrics, and on the other fundamental criticisms that challenged its very right of existence. This museum, indeed, created by the Revolution to which it owed its collections, exhibited remnants of the French Ancien Régime, of the France of kings and royal heroes. But Lenoir commented upon them in his prolific writings first in a republican spirit, then in an imperial one, and at the end from the perspective of a royalist. The museum was located in a deconsecrated monastery and showed objects which often had been taken straight out of religious houses or had originally had a liturgical function. One could see in them, according to one’s viewpoint, proofs of a victorious dechristianization or, on the contrary, monuments of France’s Christian past. Lenoir’s collections contained only objects related either to the history of France or to that of French art. But these objects with their national character, as far as they originated in the Middle Ages, entered the museum in accordance with a European taste which henceforth was oriented towards that era to an increasing extent. In England „gothick“ had been fashionable since the 1720s, and in the last decades of the eighteenth century similar tendencies were also manifest elsewhere, notably in Germany.16 In a word, Lenoir’s museum, although it was the product of a revolutionary breach with the past, could be, and indeed often was, perceived as a temple of continuity, of tradition, where one could see the present as rooted deeply in the past, a past which was put on display as an object of worship. This last position was adopted primarily by those who had visited the museum in their youth and had preserved a lasting emotional and enthusiastic memory of it. Adult visitors were more divided. Antiquaries were in agreement with Lenoir. Art lovers were frankly hostile to his undertaking. Divergent attitudes with regard to the monarchy, to religion, and to tradition (in general expressed notably in the acceptance or the rejection 232 | Krzysztof Pomian
of the displacement of tombstones from churches to museums) were superimposed on this opposition—which was more an opposition of sensibilities than of well-considered opinions—, sometimes overlapping and sometimes intersecting it. A republican antiquary, an advocate of dechristianization, was an apologist of Lenoir immediately. An art lover, however, monarchist and faithful to tradition, if not to Christianity, was of necessity his enemy.17 It was the character of the monuments collected by Lenoir in his museum, at the same time medieval and funerary, religious and monarchic, that, after having been the principal reason of its success, became the cause of its ruin. Following the signing of the Concordat (16 July 1801), Parisian parishes began to demand the restitution of works of art and of tombstones; similar requests were presented by a number of families and institutions.18 The museum survived however. Its existence was once more jeopar dized in 1811, when Napoleon contemplated assembling tombs of emperors at the abbey of Saint-Denis, returning the tombs of French kings to their original place and adding those of great Frenchmen in order to transform the whole into a French Westminster Abbey.19 But political circumstances quickly became unfavorable to such a project. The Restoration realized to some extent the idea of the Emperor. Louis XVIII’s edict of 24 April 1816 ordered that ancient tombs, statues, and other monuments which had originally adorned the abbey of Saint-Denis be transferred from the Musée des Petits-Augustins to the „royal church.“20 On 18 October of the same year, the building occupied by the museum was allotted to the Ecole royale et spéciale des Beaux-Arts which, under another name, is still there. The removal of objects took several years, but Lenoir’s museum ceased to exist. Born with and of the Revolution, it did not survive it. But in France it became a legend.
2. Even before it became a legend, Lenoir’s museum had aroused great interest outside of France too. It attracted a considerable number of foreign visitors, and was a model for some museums created in the first decades of the nineteenth century. During the brief period when France and Great Britain were not at war, it was visited by numerous English tourists. It was also visited by several Germans and by Danes, one of whom, Rasmus Nyerup (1759–1829) patterned the Danish National Museum he founded in 1807 on the Musée des Monuments français.21 The same model presided over the „Little Gothic House“ opened in her estate of Puławy, in Poland, in 1801 by Princess Izabela Czartoryska (1746–1835), to whom Lenoir offered some relics of cultural heroes.22 However, I shall speak here about two other creators of museums who both had to take up challenges similar to those Lenoir was confronted with: Ferdinand Franz Wallraf Lenoir, Wallraf, Correr | 233
(1748–1824) and Teodoro Correr (1750–1830). The first could learn about the Musée des Monuments français from his acquaintances who visited it. The second most probably never even heard the name of Lenoir. But both realized with a more lasting effect something similar to what Lenoir had done somewhat earlier. On 28 September 1822 Hegel arrived at Cologne on his journey to the Netherlands. Along the way he had visited cathedrals and churches, admired landscapes, and written letters to his wife to share his impressions with her. In Brunswick, he had visited the museum. In Kassel, he had walked through „the Gallery of Paintings of which the most beautiful pieces, having left Paris, went to St Petersburg instead of coming back here. But,“ he added, „there are still enough beautiful canvases, in particular of Dutch masters.“ In Cologne, he went without delay to the Cathedral, still unfinished, which inspired him to a meditation on history: „What it makes vividly appear before our eyes is another state of things, another humanity, another time.“ Then he had lunch with the widow Maria Franziska Hirn (née Pleunissen, d. 1833), a wholesale wine merchant, whose stepson, Heinrich Schiefer (1780–1847), showed Hegel after lunch „his collection of stained-glass windows, probably the richest in existence: around 100 large stained-glass windows and 400 to 500 small pieces.“ Later Hegel could admire, thanks to the introduction of Frau Hirn, „magnificent canvasses“ belonging to the collection of Jakob Johann Nepomuk Lyversberg (1761–1834) and, thanks also to the recommendation of the widow, he was received by Ferdinand Franz Wallraf, who, having shown Hegel his paintings, guided him around the city, and whose collection he revisited the next day so as to see these paintings in full daylight.23 Frau Hirn did things well. She introduced Hegel to three collectors, two of whom played an exceptional role in Cologne during the first decades of the nineteenth century. Lyversberg, a wholesale tobacco merchant and an important figure in local political life, owned a great number of mostly Baroque paintings, among them Italian, French, Dutch and Flemish works; but he also possessed some noteworthy examples of medieval art. The attitude of Lyversberg with regard to the latter proceeded from aesthetic, religious, and at the same time historical motives which were also testified to by the Gothic chapel he had built at his house at the beginning of the century. The Lyversberg collection was celebrated already in 1804 in the journal Europa, edited by the brothers Friedrich (1772–1829) and August Wilhelm (1767–1845) Schlegel. Later it was visited by several great names of German culture, Goethe and Schinkel included. It was dispersed after the death of its owner.24 The destiny of the third collection visited by Hegel was completely different. Accumulated by Ferdinand Franz Wallraf, it eventually formed the basis of the museum of art in Cologne which, unlike Frankfurt, another free imperial city, had not even a municipal collection open to the public. For this reason the biography of Wallraf and the history of his collection must be dealt with in greater detail. 234 | Krzysztof Pomian
Wallraf embarked very early on a career in teaching. In the very Catholic city of Cologne, „holy Cologne“, where the university, with the exception of medicine, was a domain of the clergy, this meant that he had to be ordained. In 1772 Wallraf thus became a priest. Twelve years later, he was deprived of his professorship at the Faculty of Arts because he had presented a project for the modernization of studies. He was named instead as a professor of botany at the Faculty of Medicine, paid with the income of a canonry attached to his chair. His teaching extended progressively to the whole of natural history. When the French entered Cologne on 6 October 1794, Wallraf was rector of the university as elected by the Faculty of Medicine. In this capacity, he benefited also from the income of another canonry. Since his young years, Wallraf had been connected to a group of collectors who subscribed in their way to the values of the Enlightenment, which he shared with them. Following their example, he started, around 1780, to form a cabinet of minerals, books and prints. Its purpose was primarily educational. Over the years, Wallraf acquired the reputation of a connoisseur; he was even charged with cataloguing a collection of coins bequeathed to the chapter of the cathedral. But it was the French occupation that transformed an enlightened and aloof naturalist into a passionate, not to say compulsive collector. From 1794 on, he began to collect monuments of Cologne’s past, victims of the war and of Revolutionary destruction. In 1798, the French closed the University of Cologne. In its place, they did not even open a lycée, but just an école centrale, i.e. a secondary school, where Wallraf was put in charge of the teaching of history. It was for him the beginning of a new period of his life which was more and more dominated by his desire to save everything that could be saved from the past of his native city.25 The year 1802 seems to have been a turning point in his life. The decree of 9 June imposed secularization on Cologne. It eventually provoked the dissolution of 70 monasteries, chapters, and abbeys, and the demolition of 44 abbatial or collegiate churches, parish churches or churches of monasteries out of a total of 85; another ten were turned into warehouses. 30 monasteries out of 65 and 14 chapels out of 30 were also destroyed.26 The liturgical apparatus was literally thrown out on the streets and sold for a price so low that Wallraf could purchase it without restraint. He had no rivals. In this same year 1802 he met Friedrich Schlegel, who taught for some time in the same école centrale.27 He also made the acquain tance of the brothers Sulpiz (1783–1854) and Melchior (1786–1851) Boisserée, scions of a family of city merchants, and of their friend Johann Baptist Bertram (1776–1841). The two brothers began at that time to form their collection of German „primitive“ paintings. In June 1802, Schlegel left Cologne for Paris, where the brothers Boisserée followed him in September 1803 to study German paintings in the Louvre. They returned to Cologne in the spring of 1804. Wallraf stayed in Cologne and tirelessly acquired what he could.28 With the passing of years he succeeded in piling up an enormous and heterogeneous collection. To give an idea of it let me take the risk of being boring and quote the enumerLenoir, Wallraf, Correr | 235
ation of its contents at the time of Wallraf ’s death. It is eloquent in its dryness: 521 manuscripts, 488 documents, 1055 incunabula and other old printed books, 1616 paintings, 3875 drawings, 38 antique marble sculptures, 104 local antiquities, 323 engraved gems, 13 428 books, 107 maps, 9923 minerals and fossils, 38 254 engravings, 3165 woodcuts, 1297 ancient objects, 5598 coins, 96 weapons and pieces of armor. Such an amount of objects could not be classified by one person alone. Nor could it be displayed in such a way as to satisfy the eyes and the intellect at the same time, whatever the interiors at Wallraf ’s disposal. It is therefore understandable that his visitors unanimously lamented the untidiness that reigned in his collection. And the visitors, quite numerous, represented the country’s intellectual elite. After 1815 and the transfer of the 1 Nikolas Salm, Franz Ferdinand Wallraf in the Rhineland to Prussia, the latter’s government too middle of his collection, drawing, c. 1820, Cologne, Wallraf-Richartz-Museum & Fonda was preoccupied with the future of Wallraf ’s coltion Corboud lection. In a letter written in 1815 to the minister Friedrich von Schuckmann, in which he expresses his wish that a collection be opened to the public, Goethe describes Wallraf as a person born with a boundless propensity to possess, without any method or need of order. And he speaks about the unbelievably chaotic state of the collection with the most precious natural objects, works of art, and antiquities piled up, hung up, spread and scattered almost everywhere. This is what we see in a drawing from about 1820 (fig. 1). It shows Wallraf scrutinizing a painting offered for purchase by a man from the lower classes, who is respectfully inclined towards him. Wallraf is sitting in a chair amidst a heap of objects. Vases are placed side by side with an ancient bust, which in turn stands next to medieval suits of armor, while a sword is leaning against the wall, as are numerous canvasses. Helmets, containers, and books are strewn over the floor, a document is weighted by an old key, and a thick volume is used by Wallraf as a footrest.29 Such an image of him went down in history. We have no reason to question it. It merits however an interpretation other than that which refers only to the character of Wallraf. Such an interpretation does not explain everything. Instead, the interpretation should rather be based on the assumption that the untidiness itself is not only a psychological, but also, if not primarily, a historical phenomenon.
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3. At this point it may be illuminating to compare Wallraf with another person who, at the same time and in similar circumstances, formed a huge and heterogeneous collection which, after his death, became a museum. And to whom the same reproach was made of picking up everything within arm’s reach and of having piled up objects without even the semblance of order. I mean Teodoro Correr (1750–1830). He was born in a social setting different from that of Wallraf, namely that of Venetian patricians, every member of which had to follow a cursus honorum leading eventually to positions of responsibility. Initially, he respected the requirements imposed upon him by his birth. But in 1788, he decided to take minor orders; for a patrician, this was the only way to be freed from public duties. At that time, Correr had already for many years been committed primarily to collecting. And he was already interested exclusively in objects related to Venice, present and past. He was not alone in the field. But patriotic collectors before him had concentrated particularly on coins, medals, seals, manuscripts or portraits of doges and their wives. Correr extended his collection to everything.30 After the French invasion of 1797 and the collapse of the old aristocratic regime, he intensified his activities, acquiring plenty of objects which were put on the market in great numbers and at low prices by owners who had lost their previous fortunes. Numerous objects, especially liturgical ones, were put on sale following the secularization, as monasteries and churches were converted into barracks, hospitals, workshops, and, in one case, into a museum. Correr was spoilt for choice, so he did not try to choose, but collected everything. At the end of his life, three lounges and twenty rooms of his house were filled with manuscripts, prints, canvasses, books, engravings, woodcuts, silverware, ivories, seals, coins, weapons, antiquities, natural history items, and objects of numismatics, to quote from his will of January 1830.31 It is easily understandable that Correr could not impose any definite order upon such a mass of objects. This does not seem to have been his priority either. In this respect he was similar to Wallraf. There is not, as far as I know, any image of him amidst his objects. But there is an obituary written immediately after his death by Emmanuele Cicogna (1789–1868), a much younger but no less eminent figure of a small group of antiquaries who in the first decades of the nineteenth century tried to preserve textual and material remains of the Venetian past. In this obituary, having enumerated the types of objects gathered by Correr, and before praising him for the generosity with which he opened his collection to artists and men of letters, the author writes: „We do not ask whether he was among the most judicious and intelligent collectors, whether everything he collected is of the highest value, and whether one sees in his collection the required order. It will be the duty of posterity to distinguish impartially the true from the false, originals from copies, what is good from what is mediocre or ugly, and to distribute the whole in accordance Lenoir, Wallraf, Correr | 237
with the variety of objects.“ In a veiled form, imposed by the rule de mortuis nil nisi bene, it is exactly the same kind of criticism we have already encountered concerning Wallraf.32 This is not the only similarity between the two. Born at two years distance from one another, Wallraf and Correr both belonged to the generation which was educated and started their professional lives during the last decades of the Old Regime. Both began to collect at that time, but the intensity of their involvement in collecting and the very nature of their collections radically changed after the French invasions of their respective cities. Correr was born as a patrician of Venice, Wallraf believed in his descent from an ancient patrician family of Cologne.33 Both were moved primarily by their desire to save what could be saved of their native city’s past which was rapidly disappearing under the blows of Revolutionary violence. In other words, their collections were first and foremost results of rescue operations, stores of objects snatched from the danger of imminent destruction. Because of that, problems of classification and exhibition were secondary for both of them. Most important for them was to put the objects in a safe place. The criticisms they endured and the ridicule that seems to have attached to them resulted from the very contents of their collections in so far as they departed from the usual model. Not only from the neoclassical model still dominant in Venice at the time of Correr, but also from a model we may call „Romantic“ and which, since the beginning of the nineteenth century, had become increasingly fashionable in Germany, as is attested by the spreading renown of the collection of the brothers Boisserée, which had been started, as had that of Wallraf, as an answer to secularization. The collection of the brothers Boisserée, composed exclusively of German and Flemish paintings from the fifteenth century, had an indisputable artistic character, even if it had patriotic and religious dimensions too. To be able to admire it, visitors had to undergo an aesthetic conversion so as to open themselves to the beauty of late medieval painting. They had, in other words, to modify or to enlarge their taste. They were not required, however, to bluntly redirect their curiosity from art to all remains of the past and to recognize the importance of even very humble objects provided they were medieval; to replace, in other words, an exclusively aesthetic stance by a primarily historical one. But this demand was made on them by the objects of Wallraf ’s collection. It was mostly composed, indeed, like that of Correr and like Lenoir’s museum of historical monuments, of objects relating to religious and military history as well as to everyday life. For such a stance to acquire undisputed legitimacy it was necessary that imaginations be educated by a great vogue of historical novels and of Romantic historiography. This happened in different countries at different times: in Britain already at the beginning of the century, in Germany in the 1820s, in France in the following decade and in Italy even later. In his last will, which he made on 9 May 1818, Wallraf left all his collections to the city of Cologne, specifying that they cannot be alienated whatever the circumstances. In 238 | Krzysztof Pomian
return he received a lifetime annuity from the Prussian government. Three years after his death, his collections were installed in the City Hall and entrusted to the care of one of his pupils. In 1856, a tanner millionaire, Johann Heinrich Richartz (1795–1851), bequeathed a quarter of his fortune for the erection of a museum building. It was opened on 1 July 1861.34 Correr made his last will on 1 January 1830. In it he wrote: „As my principal objective is to preserve as far as possible these collections which I started to gather in my early years, after much heart-searching and following counsel given to me, I found that nothing would be more convenient than to create a public institution in honor of my native city and of my family. […] [Therefore] I order and dispose that all my estate […], nothing excepted, be used as the endowment of the public institution which I intend to create and which I put under the tutelage of the city of Venice as embodied in the Municipal Congregation or any other authority that may replace it and represent the city.“ Five years after Correr’s death, the museum was opened in his house, where it remained until its transfer to the Fondaco dei Turchi in 1869. On 30 September 1922, after being closed during the First World War, it was reopened in its present location in the Procuratie Nuove.35 Lenoir’s museum was preying on the minds of people interested in the French national past. It served as an example first for the creation of the Musée de Cluny in 1834, and later for both the Musée des Antiquités nationales in Saint-Germain-en-Laye (1867) and the new Musée des Monuments français at the Palais Chaillot (1882 and 2007), whose collections are composed of plaster casts of French medieval sculpture and of copies of mural paintings and stained-glass windows. But Lenoir has no museum bearing his name. It is true that he was not himself a collector. He was only a custodian of state property.
4. Let me now make some remarks by way of conclusion. As we have seen, what is meant by the notions of order and disorder varies according to historical contexts. In a period of rapid transition from one type of taste to another and even more, from one approach to art to another, what is in disagreement with the old idea of order is treated as disorder only to become order when people learn to understand it and when they discover in it cognitive, aesthetic, and moral qualities they did not previously perceive. The period in which our three heroes lived was one of such a transition. I would even be inclined to say that it was a period of real revolution in European taste which would prove to be as deep and far-reaching as the revolution accomplished by the humanists when they rediscovered the aesthetic, intellectual, and moral values of classical Antiquity. This transition or revolution, if you agree with me, of the last decades of the eigh teenth century and the first decades of the nineteenth had several dimensions clearly Lenoir, Wallraf, Correr | 239
visible in our three examples. The Middle Ages were rediscovered as an era of European art, and works of art from that period were promoted to the status of exemplars, which might and even must be imitated, which, between the fifteenth and eighteenth centuries, had been true only of works inherited from Antiquity. This resulted in the appearance of new trends in painting („troubadour“ in France, Nazarenes in Germany, Pre-Raphaelites in England), of Neo-gothic architecture and furniture, and in a profound change in the very idea of beauty: of the rules of representing the human body, historical events and even landscapes. This was the beginning of the trend which moved all visual arts away from the Neoclassical model and which attained its climax, as it seems, in the 1960s. In its first stages it went hand in hand with the abandonment of a cosmopolitan outlook, which was replaced by a preference for everything national and local. The connection of the two is easy to understand: Antiquity was the common heritage of European elites, of all those who had sufficient means to make their Grand Tour and to share the admiration for the remains of ancient Greece and Rome. The Middle Ages, on the contrary, were characterized by a plurality of states and of peoples, they could be, so to say, found on the spot, and they seemed to be different in each country. Even Christianity could not play the role of the unifying factor, at first because of the split provoked by the Reformation, and later because of the secularization and dechristianization brought about by the Enlightenment and the French Revolution. For the same reason, the rediscovery of the Middle Ages went hand in hand with a new idea of culture as being the property not of privileged elites but of the simple folk, who came to be seen as the true bearers of religiosity, of moral values, and of collective, in particular national identity, and as the real creators of the arts, in particular of cathedrals and cities. Hence the interest in dialects, folktales, proverbs, in the life of the urban lower classes, in peasant dances, songs and costumes, local customs, vernacular architecture, etc. And not least, the rediscovery of the Middle Ages went hand in hand with the replacement of an exclusively aesthetic approach to art and to the past by a historical one. Also in this case the connection is much more than a temporal coincidence. As long as Antiquity was grasped from the inside, as long as students of the past and artists identified themselves with what they considered to be ancient models, they perceived the latter as rooted in human nature itself and therefore as not subject to change, but as eternal. The rediscovery of the Middle Ages was tantamount to a break with this attitude and its replacement by one which consisted in looking at Antiquity from the outside, and therefore turned it into a period of the past, while at the same time being aware that the Middle Ages too belonged to the past, the present being radically different from both. Yet this idea of the substantial difference between different periods of the past and of the difference between these past periods and the present is exactly what we use to call „historicity.“ 240 | Krzysztof Pomian
Wallraf, Correr, and even Lenoir, although he was a prolific writer, were not philosophers of history. They worked not with concepts but with objects they collected and exhibited to the public. But in doing this, without being clearly aware of the meaning of their undertaking, they realized, at their level, the major cultural shift whose nature I have tried to sketch out. For they contributed to the transformation of the museum: devoted until then exclusively to Antiquity, it was now opened also to the Middle Ages; until then a cosmopolitan and an elitist institution, it now became a national and popular one, and instead of showing eternal examples of art it began to see art as a historical phenomenon. In so doing, Lenoir, Wallraf, and Correr inaugurated, as did also some much better known figures, a new period in the history of the museum.
Notes 1 With regard to German museums, a similar position was already held by Valentin Scherer, Deutsche Museen. Entstehung und kulturgeschichtliche Bedeutung unserer öffentlichen Kunstsammlungen, Jena 1913, in his chapter „Verluste und Zuwachs der Sammlungen im Zeitalter Napoleons I.,“ pp. 102 ff. 2 Alain Erlande-Brandenburg, „Alexandre Lenoir et le Musée des Monuments Français,“ in: Le „gothique“ retrouvé avant Viollet-le-Duc, exh. cat. Hôtel de Sully, Caisse Nationale des Monuments Historiques et des Sites, Paris 1979, pp. 75 ff. 3 Edouard Pommier, L’art de la liberté. Doctrines et débats de la Révolution française, Paris 1991, pp. 42 f. 4 Dominique Poulot, Musée, nation, patrimoine 1789–1815, Paris 1997, p. 289. 5 Notice explicative des monuments du dépôt des Petits-Augustins, repr. in Louis Courajod, Alexandre Lenoir, son journal et le Musée des Monuments Français, 3 vols., Paris 1878–1887, here vol. 2, pp. 208 f. 6 Pommier 1991 (note 3), pp. 370 ff; Poulot 1997 (note 4), pp. 208 f. 7 Poulot 1997 (note 4), pp. 288 f. 8 Yveline Cantarel-Besson, eds., La naissance du Musée du Louvre. La politique muséologique sous la Révolution d’après les archives des musées nationaux, 2 vols., Paris 1981, here vol. 1, pp. 22, 34, 100, 141; Marie-Anne Dupuy, Isabelle Le Masne de Chermont and Elaine Williamson, eds., Vivant Denon, directeur des musées sous le Consulat et l’Empire. Correspondance (1802–1815), Paris 1999, p. 104, no. 211, p. 570, no. 596. 9 Yveline Cantarel-Besson, ed., Le Musée du Louvre ( janvier 1797–juin 1798). Procès verbaux du Conseil d’administration du „Musée central des Arts,“ Paris 1992, p. 78. 10 Alexandre Lenoir, Musée des Monumens français ou description historique et chronologique des statues en marbre et en bronze, Bas-reliefs et Tombeaux des Hommes et des Femmes célèbres, pour servir à l’histoire de France et à celle de l’Art, 3 vols., Paris an IX (1800), here vol. 1, pp. 74 f. 11 Lenoir 1800 (note 10), vol. 1, pp. 8, 16, 180 f. 12 Ibid., vol. 1, p. 45. 13 Ibid., vol. 1, pp. 6 f. 14 Ibid., vol. 3, p. 8. 15 Alexandre Lenoir, Notice historique des monumens des arts réunis au Dépôt national, rue des PetitsAugustins […], Paris, an IV (1795); Courajod 1878–1887 (note 5), loc. cit.; Alexandre Lenoir, Musée Royal des Monumens Français ou Mémorial de l’histoire de France et de ses monumens, Paris 1816, p. 5. Lenoir, Wallraf, Correr | 241
16 Georg Germann, Gothic Revival in Europe and Britain: Sources, Influences and Ideas, London 1972. 17 Quatremère de Quincy, „Réflexions critiques sur les mausolées,“ in: Archives Littéraires, 1806, with a comment by René Schneider, Quatremère de Quincy et son intervention dans les arts (1788–1830), Paris 1910, p. 186. 18 Dupuy/Le Masne de Chermont/Williamson 1999 (note 8), p. 64, no. 83, p. 78, nos. 132 f, pp. 96 f, nos. 187–190, p. 120, no. 2244; all these documents date from 1803. 19 Jean-Michel Leniaud, Saint-Denis de 1760 à nos jours, Paris 1996, pp. 47 ff. 20 Ibid., pp. 94 ff. 21 Jørgen Jensen, „Christian Jürgensen Thomsens Museum: en guldaldervision,“ in: Nordisk Museologi 1, 1993, pp. 17–30, here p. 17, English summary p. 29. 22 Zdzisław Żygulski jnr. et al., eds., Muzeum Czartoryskich. Historia i zbiory, Cracow 1998; „Czasy! Ludzie! Ich Dzieła!“ Teatr obrazów księżnej Izabeli Czartoryskiej. Obrazy i miniatury z Domu Gotyckiego i Świątyni Sybilli w Puławach, exh. cat. Muzeum Czartoryskich, Cracow 2001. 23 Briefe von und an Hegel, ed. by Johannes Hoffmeister, 3 vols., 2nd ed., Hamburg 1961, here vol. 2: 1813–1822, nos. 433, 436. 24 Otto H. Förster, Kölner Kunstsammler vom Mittelalter bis zum Ende des bürgerlichen Zeitalters, Berlin 1931, pp. 90 ff, 144, notes 188 and 189; on Heinrich Schiefer and Maria Franziska Hirn, ibid., pp. 98 f, 145, note 200; Gudrun Calov, Museen und Sammler des 19. Jahrhunderts in Deutschland, (dissertation Cologne 1968), Berlin 1969 (= Museumskunde 38), pp. 84 ff. 25 For the preceding, see Förster 1931 (note 24), pp. 79 ff, 82; see also Calov 1969 (note 24), pp. 56 ff. 26 Pierre Ayçoberry, Cologne: Entre Napoléon et Bismarck, la croissance d’une ville rhénane, Paris 1981, pp. 78, 90. 27 William Douglas Robson-Scott, The Literary Background of the Gothic Revival in Germany. A Chapter in the History of Taste, Oxford 1965, p. 132. 28 Calov 1969 (note 24), p. 57; Förster 1931 (note 24), pp. 84 f; Robson-Scott 1965 (note 27), pp. 129 ff. 29 For the preceding, see Calov 1969 (note 24), p. 59 (for Goethe’s letter), p. 60, note 173 (for the state of the collection), pp. 59 f (for the quotes of Jakob Grimm and Schinkel). 30 Francis Haskell, Mécènes et peintres. L’art et la société au temps du baroque italien, Paris 1991 (transl. of the rev. and enl. edition New Haven and London 1980), pp. 697 ff; Giandomenico Romanelli,“‘Vista cadere la patria.’ Teodoro Correr tra pietà civile e collezionismo erudito,“ in: Bollettino dei Musei civici veneziani N. S. 30, 1986, pp. 13–25; Krzysztof Pomian, „Collections privées et collections publiques à Venise, XIIIe–XVIIIe siècle,“ (1995) in: id., Des saintes reliques à l’art moderne. Venise-Chicago, XIIIe–XXe siècle, Paris 2003, pp. 142 ff. 31 Teodoro Correr, Testamento 1 gennaro 1830, Venice 1879. 32 Romanelli 1986 (note 30), pp. 18 f; for similar opinions, see Girolamo Dandolo, La caduta della Repubblica di Venezia, Venice 1855, p. 97; Vincenzo Lazari, Notizia delle opere d’arte e d’antichità della raccolta Correr di Venezia, Venice 1859, pp. v ff. 33 Förster 1931 (note 24), p. 79. 34 Calov 1969 (note 24), pp. 60 f; Ayçoberry 1981 (note 26), p. 316; Otto H. Förster, Das Wallraf-Richartz-Museum in Köln, Cologne 1966, p. 5; Volker Plagemann, Das deutsche Kunstmuseum 1790–1870, Munich 1967, pp. 169 ff, 401. 35 Correr 1879 (note 31); Romanelli 1986 (note 30), pp. 20 ff; Sergio Barizza, „Le sedi del Museo: da Casa Correr, al Fondaco dei Turchi, alle Procuratie,“ in: Bollettino dei Musei civici veneziani N. S. 30, 1986, pp. 291–295.
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Peter Hecht
Der Künstler im Museum: van Gogh als Vorbild Anfang September 1889 dankte Vincent van Gogh seinem Bruder Theo für eine Radierung nach Rembrandt, die dieser ihm zugeschickt hatte, wahrscheinlich eine Reproduktion des Kölner Selbstbildnisses, das 1881 in Paris versteigert worden war (Abb. 1). Van Gogh freute sich sehr darüber und war der Ansicht, dieser Rembrandt gehöre zu einer ganz speziellen Kategorie von Bildern – einer Kategorie, in der die Darstellung des Menschen irgendwie leuchte und tröste. Auch der sogenannte Wanderer aus der Sammlung La Caze im Louvre gehörte nach seiner Auffassung dazu (Abb. 2), und ebenso das Selbstbildnis von Carel Fabritius in Rotterdam (Abb. 3). Und das „je ne sais quoi de lumineux et de consolant“, das alle diese Bilder gemeinsam hätten, gäbe ihnen etwas ganz anderes als das, was man bei Michelangelo oder Giotto finden könne, obwohl Giotto diesem Ideal auch nahe gekommen sei und er in dieser Hinsicht vielleicht Rembrandt und die Seinen mit 1 Jules Jacquemart nach Rembrandt, Selbst bildnis Rembrandts, 1881, Amsterdam, den Italienern verbinde.1 Dabei dachte van Gogh Van Gogh Museum möglicherweise an das bekannte Dante-Bildnis im Bargello, dessen Ausdruck – ich zitiere einen älteren Brief – zwar traurig und melancholisch sei, letztendlich aber gut und zart.2 Vielleicht dachte er aber bei seinem Exkurs über Giotto auch an ein kleines Bild mit dem Tod Mariens, das er kurz zuvor gemeinsam mit Paul Gauguin im Musée Fabre in Montpellier gesehen hatte. Einige Monate später hielt van Gogh nämlich gerade dieses Bild Emile Bernard als Beispiel zeitlos gültiger Empfindung, als Vorbild einer gefühlvollen Ehrlichkeit vor, die seines Erachtens in Bernards eigenen religiösen Arbeiten völlig fehle.3 Ich glaube, diese eine Passage aus van Goghs Brief an Theo von 1889 zeigt bereits, wie kompliziert es ist, den Spuren van Goghs im Museum zu folgen. Eine Reproduktion nach Rembrandt ruft bei ihm zum Teil sehr alte Erinnerungen an Bilder aus Rotterdam, Paris und Der Künstler im Museum | 243
2 Niederländisch, 17. Jahrhundert, Der Wanderer, Paris, Louvre
Montpellier hervor, die er in einer Art und Weise kombiniert, welche den Kunsthistoriker anfangs nur befremden kann. Wie hätten wir denn je erraten können, dass van Gogh bei Giotto und Rembrandt Ähnliches empfand und dass nur wenige Rembrandts ihm mehr bedeuteten als der vielfach in seinen Briefen genannte Wanderer aus der Sammlung La Caze, den man heute kaum mehr zu sehen bekommt, und den auch wohl niemand mehr in einem Atemzug mit dem wunderbaren Selbstbildnis von Carel Fabritius aus Rotterdam nennen würde? Van Goghs Kunstverständnis scheint hier auf Weltbild und Stimmung reduziert, und seine Erfahrung, dass Bilder trösten können, ist eine rein persönliche – fast so persönlich wie die Erkenntnis, dass der sogenannte Wanderer seinem Freund Gauguin ähnlich sehe und sein Bruder Theo ihn an Rembrandts Bürgermeister Six erinnere.4 Wer wissen möchte, wie der Autodidakt van Gogh der Maler wurde, den wir so bewundern, wird sich hier vielleicht denken: Im Museum lassen wir ihn doch besser allein. Das aber wäre schade.
Van Gogh lebte mit und in den Bildern, und was er im Museum erlebte, war ihm nützlich und lieb. Berühmt ist sein Ausdruck vom „Land der Bilder“, nach dem er sich so furchtbar sehnte, als er fast zwei Jahre in Brabant nach der Natur arbeitete. Berühmt ist auch die Aufzeichnung von Anton Kerssemakers, dem Bekannten aus Eindhoven, mit dem van Gogh das Rijksmuseum besuchte und der ihn fast nicht mehr von Rembrandts Judenbraut losreißen konnte. Zehn Jahre seines Lebens würde er gerne gegen vierzehn Tage vor 3 Carel Fabritius, Selbstbildnis, um 1645, diesem Bild tauschen, soll Vincent damals gesagt Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen haben. Und eine Kruste Brot wäre ihm dabei als Essen genug.5 Um so tief empfinden zu können wie Rembrandt in diesem Gemälde, schrieb van Gogh 1885 in einem Brief an Theo über eben diesen Besuch im Rijksmuseum, müsse 244 | Peter Hecht
man mehr als einmal gestorben sein. Wie bei dem Wanderer aus der Sammlung La Caze gilt die Liebe van Goghs auch hier der Empfindung Rembrandts, nicht seiner Technik. Bei der sogenannten Magere Compagnie von Frans Hals, auf die van Gogh damals zum ersten Mal aufmerksam geworden war und die ihn in großes Staunen versetzte, fesselte ihn dagegen gerade die unerhört freche Art der Malerei. Vor allem die Kleidung des Fähnrichs beeindruckte ihn, und er analysierte sorgfältig, wie Hals das stark leuchtende Orange und Blau auf ein Grau setzte, das er aus eben diesen beiden Farben gewonnen hatte: Selten hatte er etwas von größerer Raffinesse gesehen. Dies aber könne man in Worte fassen, meinte van Gogh, während die Worte fehlten, wenn man von der Qualität Rembrandts sprechen wolle. Van Goghs Äußerungen zu Rembrandt drehen sich stets um Kunstbegriff und Kunstgefühl, bei Hals oder auch bei Rubens fasziniert ihn hingegen in erster Linie deren Technik.6 Im Museum in Antwerpen sind es mehr die Köpfe der Bittsteller im Fegefeuer als die Hauptfiguren von Christus und der Heiligen Teresa von Avila, die er in Rubens’ Altar für die barfüßigen Karmelitinnen bewundert. Hinreißend findet er die in hellem Rot skizzierten Köpfe und beim Gedanken an diesen Rubens wünscht er sich auch solch ein blondes Modell.7 Von Rembrandt hingegen bewundert er im Antwerpener Museum zwei kleine Studien, Bilder eines Gassenjungen und eines alten Juden – ob sie nun wirklich von Rembrandt sind oder nicht – und es ist eine Photographie von Rembrandts sogenannter Saskia in Dresden – von van Gogh als „Hurenkopf “ bezeichnet (Abb. 4) –, die ihn gerade in diesen Tagen zu seiner wunderbaren Studie von der Frau mit offenem Haar inspiriert (Abb. 5).8 Das Modell für dieses Bild war ein Stundenmädchen aus ei-
4 Photographie von Braun, Clement & Cie. nach Rembrandt, Saskia als Mädchen, Den Haag, Rijksbureau voor Kunst historische Documentatie
5 Vincent van Gogh, Frau mit offenem Haar, 1885, Amsterdam, Van Gogh Museum
Der Künstler im Museum | 245
nem Antwerpener Café chantant, welches van Gogh während des Malens erzählte, dass ihr ihre Arbeit keine Freude mache und dass der zu ihrer Arbeit gehörende Sekt sie eher traurig stimme. Just diese Widersprüchlichkeit gefiel ihm, diese mit Verdruss gemischte Energie und Lebenslust, und es erschien ihm als modern und als hohe Kunst zugleich, den dazugehörigen Ausdruck zu malen – modern wegen des Sujets und Kunst wegen dieses unverkennbaren Gefühlskonflikts.9 Das brachte van Gogh dem alten Holländer Rembrandt, so wie er ihn verstand, ganz nahe und es hielt ihn weit entfernt von den seines Erachtens oberflächlichen Rubens und van Dyck. Er schreibt seinem Bruder, wie er im Antwerpener Museum an Rubens’ Christus auf dem Stroh vorbei gelaufen sei, lobt aber dessen kräftiges Porträt des Gevartius. An van Dycks großer Beweinung Christi gefällt ihm eine der heiligen Frauen, weil er der Meinung ist, es handele sich bei ihr um ein Bildnis. Das sei gut, weil „einfach wahr“.10 Als van Gogh 1885 von der Technik von Hals und Rubens schrieb, war er schon ein praktizierender Maler und er war sich bewusst, dass er diese Bilder wie ein Maler analysierte. Aber auch in jüngeren Jahren hatte er sich schon immer sooft er konnte Kunst angesehen. In Den Haag, Paris und London, als er noch für den Kunsthandel Goupil arbeitete und er sich vor allem auf die damals moderne Kunst verstand; in Dordrecht, Amsterdam und Brüssel, als er Pfarrer mit oder ohne Diplom zu werden hoffte. Das war die Zeit, in der er von den Bildern des 1795 in Dordrecht geborenen Malers Ary Scheffer schwärmte, über dessen Christus am Ölberg im Museum in Dordrecht er 1877 sagte, den könne man nie vergessen, und das war auch die Zeit, in der er Rembrandts Radierungen in Amsterdam entdeckte.11 Die Liebe zu Scheffer, die van Gogh anfangs mit jedem teilen wollte, war nicht von Dauer, die Liebe zu Rembrandt sollte sich dagegen mit den Jahren noch vertiefen. Wo er auch immer wohnte, in jedem seiner Zimmer hatte van Gogh in seinen jungen Jahren Reproduktionen der beiden damals berühmtesten Bilder Scheffers hängen, den Allegorien mit Christus als Spender von Trost und Belohnung (Abb. 6). Er kannte diese Werke aus seinem Elternhaus, erhielt später seine eigenen Reproduktionen von seinem Bruder Theo zum Geschenk und verschenkte sie auch gerne selbst. Scheffers Arbeiten galten van Gogh dabei kaum als Malerei; er erlebte das Gemalte fast wie eine Predigt.12 Man täusche sich aber nicht: Ihr Maler war zeitlebens ein gefeierter Künstler, und als der Amsterdamer Sammler Carel Joseph Fodor das Original von Scheffers Christus Consolator 1853 auf der Auktion der Gemälde der Herzogin von Orléans erwarb, musste er eine dementsprechend hohe Summe von 60 000 Francs zahlen. Die Bilder von Scheffer, die van Gogh so oft in Dordrecht bewunderte, darunter dessen Christus am Ölberg, hatten der Künstler und seine Erben ab 1857 seiner Vaterstadt Dordrecht geschenkt. Auch in Paris oder London hätte man sich damals noch über eine solche Geste gefreut. Doch in London erhielten die öffentlichen Sammlungen erstmals zwanzig Jahre später zwei Werke 246 | Peter Hecht
6 Nach Ary Scheffer, Christus Consolator, 1842, Bordeaux, Musée Goupil
Scheffers zum Geschenk, die dann 1885 in die Tate Gallery Eingang fanden.13 Dass ein frommer Gedanke noch kein gutes Bild macht, musste van Gogh damals noch entdecken, aber im Januar 1886 schrieb er schon selbstbewusst aus Antwerpen, dass Scheffer kaum ein Maler gewesen sei. Außerdem verrate der schauderhafte Zustand seiner Gemälde mit ihrem schrecklichen Craquelé, dass Scheffer auch nicht viel von seinem Material verstanden habe. Ary Scheffer, den Vincent anfangs so bewundert hatte, hatte nun gänzlich ausgedient.14 Obwohl van Goghs Interesse an Rembrandt anfangs genau wie seine Begeisterung für Scheffer eher religiös als künstlerisch motiviert war, wurde es zeitlebens immer größer. Die Rembrandts, die der junge van Gogh in Paris und Amsterdam kennen gelernt hatte, hatten ihm die Augen für die Kunst und das Leben geöffnet, und man könnte sogar sagen, dass van Gogh das Evangelium auch dann noch durch Rembrandt verstand, als er die Kirche schon längst als gottlosen Schwindel und seine vermeintliche Berufung als hellen Wahnsinn verworfen hatte. In der Zeit, da er noch von einer Anstellung als Pfarrer träumte, benutzte er die Heilige Familie im Louvre, die sogenannte Famille du Menuisier, als Der Künstler im Museum | 247
Ausgangspunkt für den Text einer geplanten Predigt, und von Rembrandts Christus und die Jünger von Emmaus schwärmte er fast wie von einem Bild von Scheffer, als er bei seinem einfachen Frühstück von Brot und Bier daran dachte.15 Später wurden ihm wahrscheinlich andere Gemälde in der schon damals an Rembrandts so reichen Pariser Sammlung wichtiger. Als er sich im Juli 1888 von Arles aus mit Bernard über dessen Entwicklung streitet, und dieser sich geringschätzig über Rembrandt äußert, antwortet ihm van Gogh, er solle sich jetzt erst einmal im Louvre den Geschlachteten Ochsen ansehen und über den Evangelisten Matthäus nachdenken – wobei van Gogh den Matthäus merkwürdigerweise nicht als einen Matthäus interpretiert, sondern sich an das Bild als an ein mehr oder weniger phantastisches Selbst7 Eugène Gaujean nach Rembrandt, Christus an der Geißelsäule, 1881, Amsterdam, Van Gogh Museum bildnis von Rembrandt erinnert.16 Bernard, den van Gogh als jungen Burschen in Paris kennen gelernt hatte und von dessen Talent er anfangs absolut begeistert war, hatte in seinem Brief an van Gogh in Arles anscheinend zustimmend Baudelaires Beschreibung von Rembrandts Welt zitiert. Der Dichter meinte, diese sei „ein trauriges Spital“, und sprach von kummervollen Gebeten, die dort aus dem Dreck aufstiegen.17 Van Gogh war von diesem Unsinn unangenehm überrascht und schrieb seinem Kollegen – mit allem Respekt, wie er sagte –, dass Baudelaire wahrscheinlich kaum eine Vorstellung von Rembrandts Werk habe. Er selbst, schreibt er in seiner Antwort an Bernard, habe gerade eine Reproduktion einer Studie Rembrandts gekauft, die ihm wahnsinnig gut gefalle – eine Radierung nach dem Christus an der Geißelsäule, der 1881 in Paris versteigert worden war und 248 | Peter Hecht
sich heute im Wallraf-RichartzMuseum & Fondation Corboud in Köln befindet (Abb. 7). Man könnte meinen – so van Gogh in seinem Schreiben –, das sei „ein Degas, so wahr und so in seiner Animalität empfunden ist der Körper“. Bernard solle also einmal in die Galerie der alten Holländer im Louvre gehen, wo van Gogh ihm gerne einen Vormittag Gesellschaft leisten würde, um ihm die Wunder und Mysterien dieser alten Meister zu offenbaren. In seinem ausführlichen Brief erklärt er ihm außerdem seine eigene, auf Théophile Thorés Musées de la Hollande basierende Ästhetik und seine Vorliebe für die so- 8 Brief von Paul Gauguin mit einer Skizze des Christus am Ölberg, 8. November 1889, Amsterdam, Van Gogh Museum genannte phantasielose holländische Malerei – wobei er den realistisch-phantastischen Rembrandt als den großen Ausnahmefall unter den Holländern charakterisiert. Nur deswegen habe dieser zum Beispiel auch Christusbilder und Engel gemalt.18 Darauf folgt eine Reminiszenz aus dem Louvre, in der van Gogh beschreibt, wie Rembrandt einst ein Selbstbildnis im Spiegel gemalt haben soll – „alt, zahnlos, runzlig, mit einer baumwollenen Mütze auf dem Kopf “ – und dann, wie im Traum, dasselbe noch einmal, aber auswendig, wodurch der Ausdruck „noch verzweifelter und erschütternder“ geworden sei. Und wie in Trance sei hinter dem Alten noch ein schützender Genius hinzugekommen – „ein überirdischer Engel mit einem leonardesken Lächeln“. Auf diese Weise spielte van Gogh in seinem Plädoyer für Rembrandt mit seinen Erinnerungen, als er Bernard ins Museum schickte. Aber schon einige Tage später revidiert er das Geschriebene in seinem nächsten Brief, in dem er Bernard einen anderen Weg zu Rembrandt empfiehlt. Frans Hals soll ihm jetzt zeigen, worin die Größe der holländischen Malerei besteht und warum diese nüchternen Porträts die eigentliche Kunst der Menschheit seien. Das alles stützt sich deutlich auf Thorés Musées de la Hollande, die van Gogh schon in Holland mehrfach gelesen hatte und die ihm wahrscheinlich auch in der Provence noch Gesellschaft leisteten.19 Der Künstler im Museum | 249
9 Nach Rembrandt, Die Auferweckung des Lazarus, Amsterdam, Van Gogh Museum
Interessant ist, dass van Gogh der Meinung war, Bernard könne im Louvre zu Rembrandt bekehrt werden, und seine eigenen starken Eindrücke von Rembrandt würden sich wie von selbst auch seinem jüngeren Kollegen mitteilen. Das war aber nicht der Fall. Bernard suchte ganz im Gegenteil im Mittelalter nach möglichen Quellen für seine Kunst, und die Korrespondenz zwischen den beiden kam wahrscheinlich zu einem Ende, weil Vincent die daraus entstammenden neuchristlichen Arbeiten einfach verheerend fand.20 Auch in der bekannten Auseinandersetzung mit Gauguin war es vor allem Vincents Erinnerung an Rembrandt, die ihn in seiner Überzeugung bestätigte, dass sogar die Bibel nur realistisch, das heißt auf holländische Manier, zu fassen und ihre Botschaft sichtbar zu machen sei.21
Wahrscheinlich haben hier nicht nur Rembrandts Gemälde und deren Reproduktionen eine große Rolle gespielt, sondern auch und vor allem Rembrandts Radierungen, die van Gogh als jungen Mann in Amsterdam so sehr ergriffen hatten, dass er dieses Erlebnis mit Theo hatte teilen wollen und seinen Bruder zu einem gemeinsamen Tag im Kupferstichkabinett eingeladen hatte. Und jetzt, da er sich krank und isoliert in der Klinik von St. Rémy aufhielt, waren es gerade diese Bilder aus vergangenen Tagen, die ihn dort erreichten – in tiefster Not, als er weder lesen noch schreiben konnte. Das Paket mit den Reproduktionen kam als Geburtstagsgeschenk von Theo am 30. März, wurde aber erst einen Monat später ausgepackt. Dann aber war es die beste Medizin. Der Besitz gerade dieser Bilder in dieser elenden Zeit und Vincents Erinnerung an die damalige Freude in Amsterdam zeigten ihm, dass Kunst im besten Sinne Trost sein konnte, und mit Rem250 | Peter Hecht
10 Vincent van Gogh, Die Auferweckung des Lazarus, 1890, Amsterdam, Van Gogh Museum
brandt als Waffe wurde van Gogh wieder streitbar in seinem Glauben an den Sinn seiner eigenen schöpferischen Existenz.22 Das sind große Worte. Aber van Gogh war von Gauguin während dessen Aufenthalt in Arles mehr verunsichert als gestärkt worden, und die damalige Erkenntnis, dass er nicht ohne Modell oder Vorbild malen konnte, hatte ihn sehr bedrückt. Der idealistische Franzose Gauguin und der holländische Realist van Gogh hatten nicht zueinander gefunden, und Vincents Versuch, ein modernes Historienbild mit Christus am Ölberg zu malen, war hoffnungslos gescheitert. So etwas konnte er nicht. Und die Art, wie Gauguin das später gemacht hatte – mit seiner eigenen Gestalt in der Rolle von Christus – empfand van Gogh als ausgesprochen peinlich (Abb. 8).23 Christus nachzufolgen war schon schwer genug, sich ihm gleich zu stellen aber war in Vincents Augen sicherlich undenkbar. Denn Kirche hin oder her, Christus war für van Gogh der größte Künstler, wie er sagte, weil dieser mit lebendigen Menschen gearbeitet und ihnen das Leben selbst geschenkt habe.24 Und dann – nach der verheerenden Krise in der Klinik von St. Rémy – bekommt van Gogh eine Reproduktion von Rembrandts Auferweckung des Lazarus und findet sein Motiv (Abb. 9). Er versteht, was ihm passiert ist, und übersetzt Rembrandt und die biblische Geschichte des auferweckten Lazarus in seine eigene Realität (Abb. 10). Lazarus, Der Künstler im Museum | 251
das ist Vincent, und – so van Gogh – hätten ihm in St. Rémy seine beiden guten Modelle aus Arles, Madame Ginoux und Madame Roulin, zur Verfügung gestanden, er hätte ein großformatiges Figurenbild mit der Auferweckung des Lazarus gemalt. Die Sonne, die das Leben symbolisiert, leistet dem Auferstehenden, was Christus Lazarus leistete. Christus in Person sehen wir nicht, für ihn benötigte van Gogh also kein Modell. Er hatte sein Problem gelöst.25 Dieses auf den ersten Blick vielleicht etwas garstige Bild ist gewissermaßen van Goghs Lydischer Dankgesang aus Beethovens Streichquartett Opus 132, aber auch dessen spezifische Bedeutung als Dankgesang des Genesenden an die Gottheit hätten wir wohl nicht erraten, wenn wir nicht die Geschichte Beethovens und seine Überschrift zur Partitur kennen würden.26 Ähnliches gilt für van Gogh, denn was würden wir von seinem Lazarus verstehen, wenn wir nichts über seine damaligen Lebensumstände und seine Rückkehr aus wochenlanger Umnachtung wüssten? Hätten wir ohne Kenntnis der ausführlichen Briefe van Goghs jemals diese erinnerungsschwere Umsetzung der Radierung Rembrandts mit seinem künstlerischen Streit mit Gauguin verbinden können, und hätten wir begriffen, wieso gerade ein Geburtstagsgeschenk mit Rembrandt-Reproduktionen ihm soviel Freude bereiten konnte, wenn wir nicht von der frühen, vor allem noch religiös geprägten Begegnung der beiden Brüder mit der Graphik Rembrandts in Amsterdam wüssten? Hier wurde eine Erinnerung geweckt, loderte etwas auf, fing etwas Altes neu zu leben an. Da geht es dem Künstler im Museum nämlich nicht anders als uns: Er nimmt allerhand an Bord, das vielleicht erst Jahre später wieder in anderer Funktion oder anderer Gestalt zum Vorschein kommt – wenn es im Museum wenigstens etwas Bemerkenswertes gibt und es ihm nicht ergeht wie van Gogh in Arles, wo die Sammlung ihn so verdrießlich stimmte, dass er meinte, ein solcher Unsinn gehöre eher nach Tarascon, dem Heimatort von Daudets Tartarin.27 Wenn man van Gogh im Museum folgen und ihn einigermaßen verstehen möchte, sollte man ihn, glaube ich, nicht nur bei seinen eigentlichen Museumsbesuchen beobachten – was seine Korrespondenz übrigens ohnehin nur selten erlaubt. Es ist zwar schön zu wissen, welche Sammlungen er kannte, und dass er sich zum Beispiel in Am sterdam nach gemeinsamer Betrachtung der Rembrandt-Graphik mit Theo auch durch die Dürer-Mappen arbeiten wollte, aber das alles fängt erst richtig zu leben an, wenn man van Goghs spätere Erinnerungen an das Gesehene mit einbezieht und die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf seine Entwicklung als Mensch und Künstler untersucht.28 Dann erst versteht man, warum ein so guter Künstler wie van Gogh von dem Wanderer aus der Sammlung La Caze so gerührt werden konnte, und wieso sein Verhältnis zu Rembrandt anfangs von demselben Kunstbegriff gefärbt war wie seine Liebe zu Ary Scheffer. Die alten Meister waren ihm eine Art Hefe. Er war kein Maler, der Kopien machte, und er hat auch nur selten etwas nachgezeichnet, so zum Beispiel den damals gerade neu erworbe252 | Peter Hecht
nen Rembrandt im Museum in Brüssel, der ihn sicher in erster Linie wegen der extremen Darstellung des Todes faszinierte (Abb. 11).29 Genau wie der Pariser Wanderer ist es ein Bild, das schon lange nicht mehr mit Rembrandt in Verbindung gebracht wird. Wer aber wissen möchte, was Rembrandt für van Gogh bedeutete, dem wird sehr geholfen, wenn er sieht, dass gerade dieses Werk dem Künstler am Anfang seiner Laufbahn 11 Vincent van Gogh, Tote Frau (nach einem Gemälde aus dem Remein nachahmenswertes Vorbild brandt-Umkreis, um 1630), 1880, Amsterdam, Van Gogh Museum war. Van Goghs Deutung des Pariser Matthäus in seiner Korrespondenz mit Bernard ist bei einer Begegnung mit dem Original fast unverständlich – und doch basiert van Goghs Interpretation auf einem Museumsbesuch, genauso wie seine Umsetzung von Rembrandts Auferweckung des Lazarus ohne die Bedeutung, die dieses Blatt aufgrund Vincents früherer Begegnung mit Rembrandt bekommen hatte, nichts zum Dialog mit seinem künstlerischen Gegner Gauguin hätte beitragen können. Van Gogh verfolgte jedoch den Weg nicht weiter, der mit der Auferweckung des Lazarus hätte beginnen können, denn seine Historienbilder waren und blieben seine Porträts – das wurde nochmals in den letzten Monaten in Auvers mit dem Bildnis Gachets deutlich, den er mit der „expression navrée de notre temps“ gemalt haben wollte, dem tieftraurigen, herzzerreißenden Ausdruck seiner eigenen Zeit.30 Auch das hatte er aber von den alten Holländern gelernt, oder besser gesagt, durch das gründliche Studium der Musées de la Hollande von Thoré, dessen Erkenntnisse ihm eine Bibel waren. Das Bildnis war für van Gogh, wie für Thoré, das einzig wirklich bleibende Zeugnis der vergangenen Zeit, und darum wolle er so gerne, schrieb er anlässlich seiner Arbeit am Porträt Gachets, Bildnisse malen, die noch in hundert Jahren lebten und dann vermitteln könnten, was die Menschen seiner Zeit gefühlt hätten. Krass und expressiv müssten diese Bilder sein, aber auch traurig und sanft, klar und intelligent. Wenn sie so gemacht seien, meinte van Gogh, gäbe es moderne Köpfe, die man sich noch lange ansehen und mit denen man vielleicht in hundert Jahren noch ein gewisses Mitleid fühlen werde – „qu’on regrettera peut-être cent ans après“.31 Hier möchte also van Gogh selbst das vermitteln, was die alten Meister ihm im Museum bedeutet hatten – denn das ist genau der Grund, aus dem es der Wanderer Der Künstler im Museum | 253
ihm angetan hatte, und Carel Fabritius und Giotto – dieser große Grübler, der einem, so Vincent, immer noch fast ein Zeitgenosse sei. Man solle die alten Meister nicht nachahmen, aber es so machen, wie sie es in ihrer Zeit gemacht hätten. Und was die Stimmung betrifft, ist der junge Schmied Armand Roulin auch wirklich ein Bruder von Fabritius (Abb. 12, 3).32 Ronald Pickvance hat schon 1987 in seinem wertvollen Beitrag zu van Gogh als Museumsbesucher bemerkt, dass dessen Reproduktionssammlungen und Lesegewohnheiten gründlich rekonstruiert seien, während es damals noch keinen einzigen Beitrag zu van Gogh im Museum gab, geschweige 12 Vincent van Gogh, Bildnis des Armand Roulin, denn zur Entwicklung seines Geschmacks und 1888, Essen, Museum Folkwang der Rolle, die die alten Meister im Werdegang 33 seiner eigenen Kunst gespielt hatten. Ich war selbst überrascht, als ich mich mit van Gogh und Rembrandt beschäftigte, dass van Goghs umfangreiche Rembrandt-Rezeption nicht schon viel früher untersucht worden war und auch in der Ausstellung zu van Goghs Musée imaginaire im Jahr 2003 nicht systematischer behandelt wurde.34 Auch van Goghs lebenslanger Gebrauch der Musées de la Hollande von Théophile Thoré hat noch nicht die Beachtung gefunden, die er verdient, obwohl kein Kritiker so viel von ihm gelesen wurde und er keinem so bedingungslos glaubte. Schon 1873 meinte van Gogh, dass Theo Thoré lesen solle und noch 1888 bezieht er sich in seiner Auseinandersetzung mit Bernard auf ihn. Die Brüder van Gogh diskutierten über Thoré im Museum Van der Hoop – wo damals Rembrandts Judenbraut hing und auch der einzige Vermeer, den man zu Lebzeiten van Goghs in einem Amsterdamer Museum sehen konnte. Van Goghs Liebe zur Judenbraut wird in Thoré starke Nahrung gefunden haben, und dessen lange Ausführungen zur Stimmung dieses Bildes kommen van Goghs späteren Idealen ganz nahe. Die junge Frau strahle, „tranquille et radieuse“, schrieb Thoré, und der Kopf des Mannes überrasche durch seine „tendresse, […] bienveillance, […] volonté“. Die Technik des im Hintergrund scheinbar unvollendeten Bildes sollten sich seine Zeitgenossen zum Vorbild nehmen, schrieb er weiter, denn die Freiheit, die Rembrandt sich dort genommen habe, gebe den Figuren Luft und Raum. So war es gemacht und es war vollkommen – oder, viel besser auf Französisch: „Alors le tableau était fait et parfait“.35 Diese lebendige Art, über die alten Meister zu schreiben, muss van Gogh elektrisiert haben, und so wie diese gemalt hatten, wollte auch er malen. Oder besser gesagt: So wie diese gewesen waren, wollte er auch sein. Van Gogh liebte Thorés Text zur Judenbraut 254 | Peter Hecht
13 Vincent van Gogh, Ernte in der Provence, 1888, Amsterdam, Van Gogh Museum
und war der Meinung, dieser hätte sich hier selbst übertroffen – wie auch in seinem von van Gogh bewunderten Urteil über Vermeer, über Millets Sämann und über Frans Hals.36 Vielleicht hatte Pickvance recht, als er schrieb, man habe van Goghs Beziehungen zu den alten Meistern erst so wenig studiert, weil das alles so außerordentlich kompliziert und unübersichtlich sei. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir Kunsthistoriker es immer noch gewohnt sind, zu fragen, ob gewisse Bilder sich ähnlich sehen und dann am liebsten gleich von Einfluss oder gar von Fortschritt reden. Das geht bei van Gogh nämlich kaum, und wenn doch, dann bringt es uns seine Eigenart nicht viel näher. Er hat es uns schwieriger gemacht. Van Gogh entdeckte im Museum vor allem, welches Bild sich die Alten von der Welt gemacht hatten, und lernte so, die Welt seiner eigenen Zeit zu sehen. Noch in der Provence beim Malen der Ernte (Abb. 13) dachte er an Jacob van Ruisdael und Philips Koninck.37 Man würde es vielleicht nicht immer erraten, aber ich glaube, er hat seine Zeit im Museum gut genutzt.
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Anmerkungen 1 Brief 602 (August 1889), Verzamelde Brieven van Vincent van Gogh, hg. von Johanna van GoghBonger (1914) und Vincent Willem van Gogh (1953), 4 Bde., Amsterdam und Antwerpen 1974 [im Folgenden zitiert als Verzamelde Brieven 1974], hier Bd. 3, S. 444; die Datierung auf den 3. oder 4. September 1889 in De Brieven van Vincent van Gogh, hg. von Han van Crimpen und Monique Berends-Albert, 4 Bde., ’s Gravenhage 1990, hier Bd. 4, S. 1914. Ob es sich bei der Radierung um eine Reproduktion nach dem 1881 in Paris versteigerten Selbstbildnis handelte (heute im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln), ist zweifelhaft, auch der von van Gogh in St. Rémy kopierte Engel (nach der Reproduktion eines damals Rembrandt zugeschriebenen Fragments) ist in diesem Zusammenhang genannt worden, s. Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 443; eine Abb. von van Goghs Engel in Walter Feilchenfeld, Vincent van Gogh: die Gemälde 1886–1890. Händler, Sammler, Ausstellungen, die frühen Provenienzen, Wädenswil 2009, S. 189. 2 Brief 391 an Theo (Dezember 1884), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 2, S. 462 f. 3 Von seinem Besuch in Montpellier am 22. Dezember 1888 berichtet Vincent in Brief 564 an Theo, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 362; seine Bemerkungen über den sogenannten Giotto (jetzt: Pietro da Rimini), „la mort d’une bonne sainte femme quelconque“, finden wir in einem Brief an Bernard, B 21 (November/Dezember 1889), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 4, S. 234; als Nr. 22 in Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker, Vincent van Gogh, Painted with Words, the Letters to Emile Bernard, New York und Amsterdam 2007, S. 342 f., Anm. 16, mit Abb. 4 Bemerkungen zu dem Wanderer aus der Sammlung La Caze, die 1869 dem Louvre vermacht und dort anfangs in eigenen Räumen gezeigt wurde, in den Briefen 428, 444, 564, 597, 601, 602, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 73, 127, 363, 436, 443, 444. Van Gogh erinnert sich noch im Herbst 1885 in Brief 428, welchen Eindruck das Bild schon zwölf Jahre vorher auf ihn gemacht hatte und nennt es bereits in diesem Brief in einem Atemzug mit Fabritius’ Selbstbildnis aus Rotterdam, Rembrandts Bathseba im Louvre (ebenfalls Sammlung La Caze) und dem Fragment von Rembrandts Lektion von Dr Deyman aus Amsterdam. In Brief 444, Anfang 1886 in Antwerpen geschrieben, ist der Wanderer ihm ein Beispiel für Rembrandts Tiefe, die er mit der Oberflächlichkeit von Rubens kontrastiert; für den Vergleich zwischen dem Wanderer und Gauguin und der Bemerkung zu Theo und Six s. Brief 564 (Dezember 1888); zur Sammlung La Caze s. Guillaume Faroult und Sophie Eloy, La Collection La Caze, Paris 2007. 5 Von seinem Heimweh nach dem „Land der Bilder“ spricht Vincent in Brief 133 (Juli 1880), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 195; die 1912 publizierte Aufzeichnung von Kerssemakers ibid., Bd. 1, S. XXXIV. 6 Für Vincents Besprechung von Rembrandt und Hals im Rijksmuseum s. Brief 426 (Oktober 1885), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 66 f. 7 Van Goghs Lob für Rubens’ Altar mit der Heiligen Teresa in den Briefen 436, 439 (Winter 1885), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 107, 113. 8 Die beiden sogenannten Rembrandts, die 1859 an das Koninklijk Museum voor Schone Kunsten in Antwerpen gekommen waren, wurden auch von Vincent schon bezweifelt und von ihm – mit Fragezeichen – Maes genannt, Brief 436, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 107; der Gassenjunge wird jetzt auch vom Museum Nicolaes Maes, der Alte Jude Abraham van Dijck zugeschrieben, s. Catalogus Schilderkunst Oude Meesters, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen 1988, S. 114, 237. Die Photographie nach Rembrandts 1633 datierter Saskia als Mädchen (Gemäldegalerie Dresden) entdeckte Vincent am 27. Dezember 1885, Brief 442, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 120; zum Zusammenhang zwischen seiner Frau mit offenem Haar und der Photographie des Dresdner Bildes s. Peter Hecht, Van Gogh and Rembrandt, Amsterdam und Brüssel 2006, S. 7 f. 9 Brief 442 (28. Dezember 1885), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 119 f.
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10 Van Goghs Bemerkungen zu Rubens’ Christus auf dem Stroh und dem „frechen“ Bildnis sowie sein Lob für van Dycks Beweinung – „wat is dat hooge kunst als de kunst eenvoudig waar is“ – in Brief 443 (Januar 1886), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 123 f. 11 Über seine Bewunderung für den ihm damals noch unvergesslichen Christus am Ölberg von Scheffer berichtete Vincent aus Dordrecht am 21. Januar 1877, Brief 84, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 92. Die Liebe zu Rembrandts Radierungen entwickelte sich auch so früh, wurde ihm aber im Gegensatz zur Begeisterung für Scheffer ein dauerhaftes Erlebnis. In Amsterdam erkannte van Gogh Rembrandts Wirklichkeit in der Landschaft beim Spazierengehen und im täglichen Leben und als er Rembrandts Originale zum ersten Mal studiert hatte, lud er seinen Bruder Theo nach Amsterdam ein und schaute sich die Sammlung auch mit ihm zusammen an, s. die Briefe 95 (19. Mai 1877), 96 (21. Mai 1877), 110 (18. September 1877), 118 (10. Februar 1878), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 116, 117, 140, 161. 12 In Isleworth (1876), Dordrecht (1877), Amsterdam (1878) und Den Haag (1882) hängte van Gogh eine Reproduktion von Scheffers Christus Consolator und manchmal auch von dessen Gegenstück, dem Remunerator, in seinen jeweiligen Stuben auf, s. die Briefe 71, 84, 119, 213, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 64, 92, 161, 402. Er fand es schade, wenn es in einem Haus, in dem er zu Gast war, keine solchen Bilder gab und 1878 bestellte er gleich zwei Paar Reproduktionen der beiden Scheffers zum Verschenken, s. Brief 115 (21. Mai 1877) und die Briefe 136, 138 (9. Dezember 1877 bzw. 9. Januar 1878), van Crimpen/Berends-Albert 1990 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 224, 290, 294 (die Briefe vom 21. Mai und vom 9. Januar nur unvollständig in Verzamelde Brieven 1974). 13 Die Umstände von Fodors Erwerbung des Christus Consolator werden besprochen in Iris Hagenbeek-Fey, Carel Joseph Fodor (1801–1860) en zijn schilderijenverzameling, Amsterdam 1975, S. 21; zur Geschichte der Sammlung Scheffer im Dordrechts Museum s. Ary Scheffer, 1795–1858, hg. von Leo Ewals, Ausst. Kat. Dordrechts Museum 1995, S. 16 f. Die beiden Scheffers für London, darunter eine Replik des damals berühmten Sankt Augustin mit der Heiligen Monika, wurden 1877 der National Collection vermacht und nach dem Tod der Witwe des Stifters 1885 der Tate Gallery überlassen. Seit 1956 befinden sich die Bilder in der National Gallery, s. National Gallery Catalogues: French School, Early 19th-Century […], bearb. von Martin Davies und Cecil Gould, London 1970, S. 129 f. 14 Das negative Urteil über Scheffers Technik in Brief 430 (4. November 1885), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 79; dass Scheffer kaum ein Maler war in Brief 443 (Januar 1886), ibid., Bd. 3, S. 126. 15 In Brief 123 (22. Juli 1878) erwähnt van Gogh, dass er sich in seinem Streben, Volksprediger zu werden, auch schriftlich übe und seinem ersten Predigtentwurf Rembrandts Heilige Familie (Le ménage du menuisier) zu Grunde lege, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 173; zu dem Frühstück mit Brot und Bier und Rembrandts Jünger von Emmaus s. Brief 106 (18. August 1877), ibid., Bd. 1, S. 134 f. Das Bild hatte schon 1875 in Paris einen großen Eindruck auf van Gogh gemacht (Brief 27) und es kommt bis 1889 in seinen Briefen vor (Briefe 596, 597); auch verschenkte er es gerne als Reproduktion (Briefe 107, 596), s. ibid., Bd. 1, S. 28, Bd. 3, S. 435, 436; zu den geplanten Geschenken s. ibid., Bd. 1, S. 135 (für seine Mutter), Bd. 3, S. 435 (für den Pfarrer, der sich während Vincents Krankheit in Arles um ihn kümmerte). Auch seine Schwester Anna bekam 1875 ein Exemplar, s. Brief 53 in van Crimpen/Berends-Albert 1990 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 102 (diese Stelle fehlt in Brief 41, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 38). 16 Brief B 12 in Verzamelde Brieven 1974, Bd. 4, S. 216 f.; ebenfalls als Nr. 12 ausführlich annotiert in Jansen/Luijten/Bakker 2007 (wie Anm. 3), S. 225–235. 17 Die vier Zeilen Charles Baudelaires zu Rembrandt finden sich in dem Gedicht Les Phares aus den erstmals 1857 publizierten Fleurs du Mal und lauten: „Rembrandt, triste hôpital tout rempli de murmures, / Et d’un grand crucifix décoré seulement, / Òu la prière en pleurs s’exhale des ordures, / Et d’un rayon d’hiver traversé brusquement […].“ Bernards Brief ist nicht erhalten und das Geschriebene lässt sich nur aus Vincents Antwort rekonstruieren.
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18 Brief B 12 (s. Anm. 16); für van Gogh und Théophile Thoré (Pseud. W. Burger), Musées de la Hollande, 2 Bde., Paris 1858–1860, s. auch Anm. 19. 19 Brief B 12 (s. Anm. 16), Brief B 13, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 218–220; letzterer ebenfalls als Nr. 13 in Jansen/Luijten/Bakker 2007 (wie Anm. 3), S. 237–247. Van Gogh las die beiden Bände von Thorés Musées de la Hollande spätestens 1873 schon mit Begeisterung und meinte, alles was dieser schreibe, sei einfach „wahr“. Auch Theo las Thoré, und van Goghs Freund und zeitweiliger Schüler aus Eindhoven, Anton Kerssemakers, musste sich ein Exemplar kaufen, als er mit Vincent Amsterdam besuchte, s. u.a. die Briefe 12 (19. November 1873), 14 (20. Februar 1874), 426 (Oktober 1885), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 16, 18 f., Bd. 3, S. 66–68. Zu Thorés Beurteilung der holländischen Malerei und der historiographischen Bedeutung seiner Musées de la Hollande s. Peter Hecht, „Rembrandt and Raphael back to back: the contribution of Thoré“, in: Simiolus 26, 1998, S. 162–178. 20 Das harte Urteil über Bernards religiöse Arbeiten – „du factice, de l’affection“ – in Brief B 21 (Ende November 1889), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 4, S. 233–237; als Nr. 22 in Jansen/Luijten/ Bakker 2007 (wie Anm. 3), S. 335–354. 21 S. v. a. Brief 614 (17. November 1889), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 474–476. 22 Zu diesem letzten, erinnerungsschweren Geburtstagsgeschenk von Theo s. die Briefe 630, 632 (2. bzw. 3. Mai 1890), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 506–508, 511 f. Am 24. April war es Vincent nach wochenlanger Umnachtung noch nicht gelungen, seine Post zu lesen und das Geschriebene zu verstehen, s. Brief 628, ibid., Bd. 3, S. 503. 23 Van Gogh hat zweimal einen „Christus am Ölberg“ gemalt und das Resultat vernichtet, s. die Briefe 505, 540, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 248, 314. Gauguins Bild wurde von ihm verworfen in Brief 614 und nochmals in Brief 615, zusammen mit einem Gemälde des gleichen Themas von Bernard. In Brief 614 meinte van Gogh außerdem, er selbst könne höchstens mit einer Darstellung der Olivenernte den Betrachter vielleicht an das Geschehen im biblischen Garten erinnern, ibid., Bd. 3, S. 475, 478. 24 Brief an Bernard, B 8 (Sommer 1888), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 4, S. 209–212, unter derselben Nummer in Jansen/Luijten/Bakker 2007 (wie Anm. 3), S. 190–203. 25 Brief 632 (Mai 1890), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 511; s. auch Hecht 2006 (wie Anm. 8), S. 51–59. 26 Ludwig van Beethovens Überschrift zum dritten Satz des a-moll Quartetts Opus 132, dem molto adagio, lautet „Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, in der lydischen Tonart“ und den zweiten Abschnitt desselben Satzes überschrieb er „Neue Kraft fühlend“; zur Entstehung von Opus 132 und den ungewöhnlichen Andeutungen s. Alexander Wheelock Thayer, Ludwig van Beethovens Leben, 5 Bde., Leipzig 1917–1923, hier Bd. 5, S. 261–270. 27 Van Goghs Urteil über das Musée Réattu – „le Musée d’Arles est atroce et une blague, et digne d’être à Tarascon“ – in Brief 464, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 178. Alphonse Daudets (1840–1897) Roman Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon (erschienen 1872) beschreibt die Abenteuer des Aufschneiders und Prahlers Tartarin. 28 Brief 118 (10. Februar 1878), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 1, S. 161. 29 Zu dieser Zeichnung, die 2006 während der Vorbereitung der Ausstellung Van Gogh en Rembrandt wiedergefunden und 2007 vom Van Gogh Museum erworben wurde s. Vincent van Gogh, tekeningen, 4 Bde., Amsterdam und Blaricum [Bd. 4: Amsterdam und Zwolle] 1996–2007, hier Bd. 4,2: Arles, Saint-Rémy & Auvers-sur-Oise, 1888–1890, bearb. von Marije Vellekoop und Roelie Zwikker, Nachtrag 3.2, S. 533–536. 30 Vincents Zitat zum Bildnis Gachets in dem nicht abgeschickten Brief 643 an Gauguin, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 528. 31 Van Goghs Bekenntnis zum Porträt in Brief W 22 an seine Schwester Willemien (Juni 1890), Verzamelde Brieven 1974, Bd. 4, S. 183. Thorés Bewunderung für Rembrandt und seine Zeitgenossen
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gründete vor allem auf der Einsicht, dass diese Maler „en images lumineux et justes“ die wirkliche Geschichte ihrer Zeit gemalt hätten, wobei die zahlreichen Bildnisse Rembrandts an hervorragender Stelle stünden, s. z.B. die Schlussbemerkungen in Thoré-Burger 1858–1860 (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 319–326. S. den Anfang dieses Beitrags, einschl. Anm. 1, 4. Ronald Pickvance, „An insatiable appetite for pictures: Vincent the museumgoer“, in: Evert van Uitert und Michael Hoyle (Hg.), The Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam 1987, S. 59–67, bes. S. 59 und Anm. 1. Vgl. Hecht 2006 (wie Anm. 8) und das mehr kaleidoskopische De keuze van Vincent: Van Goghs Musée Imaginaire, hg. von Chris Stolwijk et al., Ausst. Kat. Van Gogh Museum, Amsterdam 2003. Zu Thoré und van Gogh s. Anm. 19; das Zitat zur Judenbraut in Thoré-Burger 1858–1860 (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 8, 10. Dieses Lob für Thoré in Brief 426 (Oktober 1885) nach einem dreitägigen Besuch in Amsterdam, den van Gogh fast ganz dem Rijksmuseum gewidmet hatte, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 66. Pickvance 1987 (wie Anm. 33); die Erinnerung an Ruisdael und Koninck in Brief 496 (Sommer 1888), in dem van Gogh meint, die Camargue sei „absolument à la Ruysdael“ und die Fläche von Crau „absolument comme un Salomon [gemeint ist: Philips, Anm. d. Verf.] Koninck“, Verzamelde Brieven 1974, Bd. 3, S. 230.
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Verena Krieger
Sterben im Museum – Spektakel oder kreativer Akt? Als der deutsche Künstler Gregor Schneider im Frühjahr 2008 in einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift The Art Newspaper erklärte, er würde gerne einen gerade verstorbenen oder einen sterbenden Menschen im Museum zeigen,1 löste dies in Deutschland für einige Wochen einen großen Medienwirbel aus. Teilweise wurde Schneiders Aussage von der Presse auf eine Weise tendenziös wiedergegeben, dass sie suggerierte, er wolle einen Menschen töten, so zum Beispiel Die Welt mit der Headline Deutscher Künstler will Menschen sterben lassen.2 In Pressekommentaren wie Leserbriefen gab es zahlreiche empörte Reaktionen. Man warf Gregor Schneider zynische Geschäftemacherei mit dem Sterben und einen Bruch mit der Menschenwürde vor, einen „kalkulierten Tabubruch“, Provokation als Marketingstrategie und nicht zuletzt einen Missbrauch der 1 Gregor Schneider, Totes Haus u r, Innenansicht Flur mit Treppe, Biennale von Venedig, Kunstfreiheit.3 Selbst Politiker fühlten sich zu 2001 Kommentaren bemüßigt. So erklärte die FDPBundestagsfraktion, das Sterben dürfe nicht „künstlerisch missbraucht“ werden.4 Noch erheblich schärfer waren die Reaktionen des breiten Publikums. Ein Leserbriefschreiber forderte, Schneider solle „zwangsbetreut, entmündigt, aus der Gesellschaft entfernt“ werden, ja es gab sogar Morddrohungen gegen ihn.5 Eine, wenngleich verhaltene, öffentliche Unterstützung erhielt Gregor Schneider zunächst einzig durch den Jesuitenpater Friedhelm Mennekes, der durch seine Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der Kölner Kunst-Station St. Peter bekannt geworden ist.6 Einige Zeitungen und Zeitschriften gaben dem Künstler aber auch Gelegenheit, in Interviews seine Intentionen genauer zu erläutern.7 Dies und auch die Kontextualisierung von Schneiders Idee mit seinen anderen künstlerischen Arbeiten ließ die Stoßrichtung seines Projekts etwas klarer werden. Gregor Schneider ist bekannt geworden durch sein haus u r in Mönchengladbach, ein Haus, dessen Innenräume er über Jahre hinweg umgestaltet hatte zu real erlebbaren Sterben im Museum | 261
Orten des Unheimlichen. Im Jahr 2001 hat er diese Räume nach Venedig transferiert und dort unter dem Titel totes haus u r als deutschen Beitrag zur Biennale ausgestellt (Abb. 1). Seither hat Schneider an seinem Thema – der Gestaltung von Räumen unter dem Gesichtspunkt ihrer psychischen Wirkungen – weitergearbeitet und unterschiedlichste Raumprojekte verwirklicht, so zum Beispiel 2007 im Düsseldorfer K21 die Weiße Folter (Abb. 2) – Räume, deren unheimlicher Charakter primär durch die kalte Sterilität und Pseudofunktionalität ausgelöst wird.8 Ein zweites Großprojekt Schneiders, das größere Medienwirksamkeit erlangt hat, war sein Wunsch, einen begehbaren großen schwarzen Kubus als Nachbau der von den Muslimen verehrten Ka’aba in Mekka zu errichten. Ursprünglich für die Piazza 2 Gregor Schneider, Weiße Folter, 2007 di San Marco in Venedig geplant (2005, s. S. 286, Abb. 8), kam das Projekt nicht zustande, weil man heftige Reaktionen von Muslimen befürchtete. Es wurde dann 2007 in Hamburg verwirklicht, wo es keinerlei Proteste gab (Abb. 3). Der Wunsch, einen Sterbenden auszustellen, ist mithin Schneiders drittes Projekt, das große mediale Resonanz erlangt hat. Auch dieses steht, was oft übersehen wird, im Kontext seiner bildhauerischen Arbeit mit Räumen, denn sein Ausgangspunkt war, wie er erklärte, die Überlegung, dass man, ebenso wie man eine Küche oder ein 3 Gregor Schneider, Cube Hamburg, 2007 Schlafzimmer braucht, auch einen angemessenen und schönen Raum für das Sterben brauche, einen „humanen Raum“, in dem Sterbende begleitet werden und das Sterben ähnlich wie eine Geburt gefeiert werden könne.9 Einen solchen schönen und humanen Raum hat er in Ludwig Mies van der Rohes Villa Lange in Krefeld von 1930 gefunden (Abb. 4), die heute als Museum für zeitgenössische Kunst genutzt wird und in der Schneider selbst auch schon mehrfach ausgestellt hat. Einen dieser Räume schätzt er besonders, er empfindet ihn als einen der „empfindsamsten und künstlerisch anspruchsvollsten“ Räume überhaupt: mit freundlichem Holzboden und lichtdurchflutet (Abb. 5).10 Deshalb hat er einen Nachbau davon anfertigen lassen mit dem Ziel, diesen als Sterberaum anzubieten (Abb. 6). Ungeachtet aller öffentlicher Empörung 262 | Verena Krieger
hat sich mittlerweile sogar ein Interessent gefunden, der seine Bereitschaft erklärt hat, Schneiders Sterberaum zu nutzen; es handelt sich um den an einem Hirntumor erkrankten Künstler Gerd Gerhard Loeffler, der sich vorstellen kann, den Raum in seinen letzten Lebenswochen als „Wohnatelier“ zu nutzen und dies auch öffentlich zu tun.11 In Schneiders Sterbeprojekt, wie ich es der Einfachheit halber nenne, laufen also zwei Linien 4 Ludwig Mies van der Rohe, Haus Lange, Krefeld, 1930, Außenzusammen: einmal seine Ausansicht von Nordosten einandersetzung mit der psychischen Qualität von Räumen, die Gestaltung von Räumen als Ausdruck und Produzenten spezifischer emotionaler Befindlichkeiten und Bedürfnisse und zum anderen eine kritische Beschäftigung damit, wie die moderne Gesellschaft mit dem Tod und dem sterbenden Menschen umgeht, mit der Ausgrenzung des Sterbens aus dem Leben und der damit verbundenen Inhumanität, zu der er nach einer Alternative sucht und nun 5 Innenraum des Museums Haus Lange in Krefeld mit einer Aktion meint, mit seinem Projekt einen von Gregor Schneider, 2000 Ansatz einer solchen Alternative gefunden zu haben. Konkret stellt er sich vor, dass der Raum jemandem zur Verfügung gestellt werden soll, der im Begriff ist, eines natürlichen Todes zu sterben, und dem dort möglichst gute Bedingungen für einen sanften Tod – von der Schmerzlinderung bis zur Hilfe bei spirituellen Problemen – geboten werden sollen. Für interessierte Museumsbesucher soll dabei eine „Besuchsregelung“ eingeführt werden. Schneider selbst sieht dies „weder als Event noch als Skandalisierung oder Kommerzialisierung des Todes“, seiner Ansicht nach ist „die öffentliche Betrachtung durch Zuschauer nicht a priori pietätlos. Sie Sterben im Museum | 263
liegt im Auge des Betrachters.“12 Unter entsprechenden Voraussetzungen könne, so Schneider, der Tod auch als „schön“ wahrgenommen werden13 – dies jedenfalls ist sein Ziel. Ich gebe dies zunächst einmal unkommentiert wieder und möchte mich auch im Folgenden mit Schneiders Sterbeprojekt nicht primär aus einer ethisch wertenden, sondern aus 6 Gregor Schneider, Bau Toter Raum, 2005–07, Photographie von einer analytischen Perspektive 2006 befassen. Denn ich halte Gregor Schneider für einen ernstzunehmenden Künstler und auch sein Sterbeprojekt für eine jedenfalls mit ernsthaften Intentionen verbundene künstlerische Idee, so dass mir eine vorschnelle Verurteilung unangemessen erscheint. Die Aktualität und Vielschichtigkeit des Projekts erweist sich daran, dass es an fundamentale Fragen rührt, die die Funktionsweise und das Selbstverständnis sowohl unserer modernen Lebenskultur als auch der Kunst betreffen. Ich werde mich mit Schneiders Sterbeprojekt deshalb erstens unter kulturhistorischen, zweitens unter kunsthistorischen und schließlich drittens auch kurz unter kunsttheoretischen Gesichtspunkten befassen. Zunächst also ein paar Worte zu den kulturhistorischen Aspekten des Themas. Schneiders Ausstellungsprojekt hat vor allem deshalb so großes Unbehagen und Empörung hervorgerufen, weil es an das Tabu der Nichtöffentlichkeit des Sterbens rührt. Wie wir durch Philippe Ariès’ Forschungen zur Geschichte des Todes wissen, ist dieses Tabu historisch relativ jung. Jahrhundertelang war das Sterben im öffentlichen und halböffentlichen Leben in hohem Maße präsent, „man starb immer öffentlich“.14 Nicht nur waren Kinder selbstverständlich damit konfrontiert, sondern es war bis ins 19. Jahrhundert hinein möglich, dass, wenn der Priester mit dem Glöckchen bimmelnd zum Sterbenden ging, um ihm die letzte Kommunion zu reichen, sich ihm auch Fremde von der Straße anschlossen und ins Sterbezimmer folgten. Erst im 19. Jahrhundert entstand mit der bürgerlichen Öffentlichkeit zugleich die bürgerliche Privatheit,15 die Vorstellung von der Intimität elementarer Vorgänge wie des Liebens oder eben auch des Sterbens. Die Verlagerung bestimmter menschlicher Lebensvorgänge in den geschützten privaten Bereich ist, entgegen einem geläufigen Missverständnis, keinesfalls zwangsläufig mit einer Humanisierung dieser Vorgänge verbunden. Vielmehr hat die feministische Forschung der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet, dass der Bereich des Privaten nicht 264 | Verena Krieger
nur als Schutz nach außen, sondern auch der stabilisierenden Aufrechterhaltung von Gewaltverhältnissen dienen kann. In ähnlicher Weise hat die Intimisierung des Sterbens in der modernen Gesellschaft, seine Verbannung aus dem Lebensalltag in Altenheime und Krankenhäuser keineswegs nur einen Schutz des Sterbenden bewirkt, sondern auch seine Isolation und Ausgrenzung. Philippe Ariès hat daher im öffentlichen Sterben, wie es im Mittelalter und der frühen Neuzeit üblich war, ein wesentliches Merkmal des „gezähmten Todes“ gesehen, also des rituellen Todes, während er den in modernen Gesellschaften üblichen isolierten Tod als „verwilderten Tod“ bezeichnete.16 Allerdings kann man die Integration des Sterbens in den Alltag, wie er in vormodernen Gesellschaften die Regel war oder ist, keineswegs pauschal als humaner als die moderne Sterbepraxis bezeichnen. Denn weder wenn, wie es bis ins 18. Jahrhundert üblich war, die Folterung und Hinrichtung eines Menschen als öffentliches Spektakel inszeniert wurde, wie Michel Foucault es eindrucksvoll beschrieben hat,17 noch wenn Verwandte und Nachbarn das Sterbebett umgaben, um noch im Beisein des Dahinscheidenden das Erbe aufzuteilen, war das sonderlich human. Die Humanität des Sterbens ist also an Nichtöffentlichkeit ebenso wenig zwingend gekoppelt wie an Öffentlichkeit. Seit einigen Jahrzehnten stellt sich die Frage von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit in den modernen bürgerlichen Gesellschaften noch auf andere Weise: Wir leben mit dem Phänomen, das der amerikanische Soziologe Richard Sennett bereits in den 1970er Jahren als „Tyrannei der Intimität“ bezeichnet hat.18 Er konstatierte einen Zerfall der Öffentlichkeit und eine zunehmende Dominanz des Intimen im öffentlichen Raum. Vor allem die modernen Massenmedien tragen dazu bei, dass Lebensäußerungen und -inhalte, die traditionell dem Privaten zugeordnet sind, öffentliche Präsenz erhalten. Dieser neue „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ seit den 1960er Jahren hat eine regelrechte „Karriere“ des Privaten im Öffentlichen bewirkt.19 Die vordergründige Dominanz privater Themen in der Öffentlichkeit geht aber mit einem Verlust an realer Intimität einher, die Kehrseite sind ein allgemeiner Vertrauensverlust, Beziehungslosigkeit und Anonymität.20 Dass auch das Sterben längst der Privatheit entrissen worden ist, möchte ich kurz an zwei Beispielen verdeutlichen, beide sind für uns auch insofern von Interesse, als es sich um Bilder handelt: Das erste Beispiel ist die seinerzeit heftig diskutierte Werbekampagne des italienischen Textilherstellers Benetton im Jahre 1992. Oliviero Toscani hatte hierfür verschiedene Photographien verwendet, die jeweils elementare menschliche Lebensereignisse verbildlichen, so zum Beispiel die Geburt und den Tod eines Menschen.21 Als skandalös empfunden wurden nicht nur die intimen Motive, sondern auch die Art ihrer Präsentation: Bei der Geburt wurde auf die gebräuchlichen Bildformeln verzichtet, indem man statt einer glücklich lächelnden Mutter mit properem Baby ein noch blutiges Neugeborenes mit Nabelschnur in den behandschuhten Händen des Arztes zeigte. Beim Sterben – repräsentiert durch einen im Kreise seiner Familie sterbenden Aidskranken Sterben im Museum | 265
(Abb. 7) – besteht dagegen das schockierende Element darin, dass einerseits klassische Pathosformeln der Trauer erkennbar sind und der Sterbende sogar christusgleiche Züge trägt, dass aber gleichzeitig dem ausgemergelten Gesicht des Sterbenden jedes ideale oder heroische Moment fehlt. Es war vor allem der drastische Realismus, der schockierte, und 7 Oliviero Toscani, Werbeplakat für Benetton (Photographie von Thérèse Frare), Frühjahr/Sommer 1992 natürlich der Umstand, dass es sich um die großformatige Präsentation im öffentlichen Raum von traditionell als höchst intim empfundenen Situationen handelte.22 Was hier stattfand, war ein früher Fall dessen, was Thomas Macho und Kristin Marek als „die neue Sichtbarkeit des Todes“ bezeichnet haben.23 Das zweite Beispiel ist der mittlerweile mehr als einmal vorgekommene Umstand, dass Menschen ihr Sterben – sei es durch Suizid oder Krankheit bewirkt – bewusst und absichtsvoll vor der Öffentlichkeit vollziehen. Ein frühes Beispiel war der Versuch des amerikanischen Schriftstellers, Psychologieprofessors und Drogenexperten Timothy Leary, sein eigenes Sterben live im Internet zu übertragen. Leary starb 1996 im Alter von 75 Jahren an Krebs; er hatte aber geplant, seinem Leben schon kurz vorher freiwillig ein Ende zu setzen und seine weltweite Fangemeinde über das Internet daran teilnehmen zu lassen. Der Plan scheiterte daran, dass er an seiner Krankheit starb, bevor er ihn umsetzen konnte. Was bei Timothy Leary noch eine gescheiterte Utopie war, ist inzwischen Realität geworden. So hat im November 2008 ein amerikanischer Jugendlicher Suizid begangen, indem er Schlaftabletten einnahm und sein langsames Sterben über eine Videokamera ins Internet stellte.24 Es ist nicht der einzige Vorfall dieser Art; in diesem Fall ist bemerkenswert, dass nur wenige von dem Vorgang überhaupt Notiz nahmen und dass niemand – was durchaus möglich gewesen wäre – rettend eingriff, so dass der Junge tatsächlich zu Tode kam. Ein Aspekt des Schrecklichen an diesem Sterben in der Öffentlichkeit ist also der, dass es so unspektakulär geschah. Weit größere Medienresonanz erfuhr die Engländerin Jade Goody, die ihr Sterben an einer Krebskrankheit öffentlich zelebrierte: Als Teilnehmerin der indischen Ausgabe von Big Brother hatte sie gemeinsam mit Millionen Zuschauern von ihrer tödlichen Erkrankung erfahren und nutzte die Monate bis zu ihrem Tod dazu, alle Einzelheiten des Krankheitsprozesses bei Presse und Fernsehen zu vermarkten, erklärtermaßen, um mit dem Geld die Zukunft ihrer Kinder zu finanzieren. Goody schloss nicht aus, dies auch auf den eigentlichen Sterbeprozess aus266 | Verena Krieger
zudehnen: „Ich habe mein Leben vor der Kamera gelebt. Und vielleicht werde ich auch vor der Kamera sterben“. Doch starb sie im März 2009 ohne Anwesenheit von Journalisten.25 Wenn der französische Situationist Guy Debord im Jahr 1967 beschrieben hat, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft eine „Gesellschaft des Spektakels“ sei, in der der kurzfristige Konsum von Ereignissen an die Stelle von sinnerfüllter Zeit getreten sei,26 so hat unsere heutige Eventkultur dies noch radikaler eingelöst als es damals vorstellbar war. Das Spektakel hat sich auch das Sterben längst einverleibt. Einen vorläufigen Höhepunkt im Spektakel um den Tod stellt die Ausstellung Körperwelten des Anatomen Gunther von Hagens dar, die reale Leichen plastiniert der Öffentlichkeit präsentiert.27 Von Hagens präsentiert die Leichname in einer entindividualisierenden Weise, indem er sie ohne Haut zeigt und in typisierten Posen, die häufig an die Haltungen klassischer Statuen erinnern oder traditionelle Ikonographien evozieren wie etwa die des Hl. Bartholomäus (Abb. 8). Damit betreibt er eine Theatralisierung seiner Objekte.28 Dies ist eine Strategie, um die normalerweise beim Anblick von Leichen auftretenden Gefühle von Angst, Grauen und Ekel soweit abzuschwächen – von Hagens selbst spricht von 8 Gunther von Hagens, Ganzkörperplastinat mit Haut, Exponat aus der Ausstellung Körper„Entekelung“29 – dass eine primär sachlich oder welten ästhetisch ausgerichtete Wahrnehmung möglich wird. Die Körperwelten-Ausstellung wirbt „einerseits mit der ‚Faszination des Echten’, achtet jedoch darauf, das diesem ‚Echten’ möglicherweise innewohnende Entsetzen sorgfältig auf ein konsumierbares und genießbares Maß herabzumildern: getreu der Tradition des Schauderns in der Schaubude, die den […] entschärften Schrecken als Genuss anbietet“.30 Von Hagens’ Plastinate stehen damit in der Tradition der ästhetischen Kategorie des Erhabenen und transferieren diese auf die Ebene der Massenunterhaltung, also des Spektakels. Bei Gregor Schneiders Sterbeprojekt verhält es sich insofern ganz anders, als er jedes Moment der Theatralisierung vermeiden will. An die Stelle ästhetisierter Objekte, die Sterben im Museum | 267
9 Bill Viola, The Nantes Triptych, 1992
(wie bei von Hagens) kaum mehr etwas mit den Leichen realer individueller Menschen zu tun haben,31 träte bei Schneider ein realer individueller Mensch, dessen authentisches Sterben in Echtzeit miterlebt werden könnte. Wäre dies nun einfach ein weiteres Event in einer Spektakelkultur, der die Präsentation eines Sterbenden zur flüchtigen Unterhaltung dient? Meines Erachtens ist das nicht zwingend, denn die Präsentation eines Sterbenden im Museum richtet sich an eine unvergleichlich viel kleinere Rezipientengruppe als dies bei Plakatwänden, in Massenausstellungen oder im Internet der Fall ist, sie ermöglicht persönliche Begegnung anstelle medialer Vermittlung. Allerdings ist die Gefahr auch nicht auszuschließen. Denn es stellt sich die Frage, wer denn und vor allem aus welchen Gründen eine solche „Ausstellung“ aufsuchen würde. Welches Motiv mag es geben, einen Sterbenden, den man nicht persönlich kennt, anzusehen? (Diese aus meiner Sicht zentrale Frage ist seltsamerweise in keinem einzigen Interview gestellt worden.) Wenn wir einmal Voyeurismus und Sensationsgier (die vermutlich im Vordergrund stehen würden), außer Acht lassen, so bliebe nur ein ästhetisches Motiv – also der Aspekt der „Schönheit des Todes“, von dem Gregor Schneider selbst ja spricht. Wenngleich also eine Spektakelisierung des Sterbens bei Schneiders Projekt vielleicht nicht zwingend der Fall wäre, so aber jedenfalls seine Ästhetisierung. Ob das wünschenswert oder verdammenswert ist, ist eine andere Frage. Ich komme auf sie zurück. Zunächst komme ich auf meinen zweiten Punkt zu sprechen: die Kunstgeschichte. Dabei muss ich fast alle Aspekte beiseite lassen, die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern zu diesem Thema einfallen können: die Verbildlichung des Todes in Totentänzen und Vanitasstillleben, die große Aufgabe des Grabdenkmals, die Verbindung der abendländischen Malerei mit dem Mumienporträt und die Verschwisterung der Plastik mit der Totenmaske und ihre enge Beziehung zum Reliquienkult, die Darstellungen von Sterbenden vom Pergamonaltar bis zu Ferdinand Hodlers tagebuchartigen Porträts der sterbenden Valentine Godé-Darel (1915); ganz zu schweigen von den Präsentationen von Toten, die in den grausigen Leichen in Francisco de Goyas Erschießung der Aufständischen (Der 3. 268 | Verena Krieger
Mai 1808, s. S. 35, Abb. 11) einen Höhepunkt und in Damien Hirsts Präsentation realer Tierkadaver und eines diamantenbesetzten Totenschädels eine neue Dimension erlangt haben; ich gehe nicht auf die eminente Bedeutung der Leichensektion für die Entwicklung der neuzeitlichen Malerei und für die akademische Ausbildung bis 10 Sophie Calle, Beitrag zur Biennale von Venedig, 2007 zum Ende des 18. Jahrhunderts ein,32 ich verzichte auch darauf, eine Übersicht über die vielfältigen Arbeiten zeitgenössischer Künstler zum – derzeit zunehmend Beachtung findenden – Thema Tod und Sterben zu geben33 und ich bemühe auch nicht den Topos vom Museum als einem Ort, wo tote Objekte gezeigt werden, die dem lebendigen Zusammenhang entrissen wurden. All diese Aspekte nenne ich nur deshalb stichwortartig, um deutlich werden zu lassen, dass die Kunst weit mehr, als die empörten Reaktionen auf Schneiders Projekt unterstellen, mit dem Tod und dem Sterben kontaminiert ist. Das Besondere, das vollkommen Andere und Neue an Schneiders Idee im Gegensatz zur gesamten Kunstgeschichte besteht darin, dass er einen sterbenden Menschen ausdrücklich nicht verbildlichen will,34 dass er nicht sein Abbild, sondern dass er ihn selbst gewissermaßen „live“ im Sterbeprozess präsentieren will. Damit unterscheidet er sich prinzipiell auch von den zeitgenössischen Künstlern, die in ihren Werken Bilder von realen Sterbenden verwendet haben. Zu nennen sind hier vor allem zwei Arbeiten: zum einen die Videoinstallation The Nantes Triptych (1992) von Bill Viola, bei der drei Videofilme wie zu einem Altarbild zusammengestellt sind (Abb. 9). Das linke Video zeigt eine Geburt, das rechte Video zeigt die im Sterben liegende Mutter des Künstlers und das mittlere Bild zeigt einen im Wasser schwebenden Mann; im weiteren Verlauf der Filme kommt schließlich das Kind zur Welt und die alte Frau hört auf zu atmen. Das Ganze ist gedeutet worden als ein „Sinnbild eines universalen Lebens“, das „sowohl die Spanne zwischen Geburt und Tod als auch die Existenz vor der Geburt und nach dem Tod“ umfasst.35 Weniger von einer spirituellen als von einer autobiographischen Auseinandersetzung mit dem Thema getragen ist zum anderen der Beitrag von Sophie Calle zur Biennale in Venedig 2007, bei dem sie in einem Video das Sterben ihrer eigenen Mutter bildlich festgehalten hat (Abb. 10). Sie hatte in den letzten Lebenswochen ihrer Mutter die meiste Zeit an deren Seite verbracht und in den Phasen ihrer Abwesenheit die Videokamera laufen lassen.36 Daneben existieren auch künstlerische Arbeiten, bei denen Sterbende Sterben im Museum | 269
kurz vor und kurz nach ihrem Tod in photographischen Porträts festgehalten wurden, so dass die Prozessualität des Sterbens, der Übergang vom lebenden in den toten Zustand als Abfolge von Einzelbildern erfahrbar wird.37 An einem bildlichen Einfangen des Sterbens ist Gregor Schneider dagegen nicht interessiert. Mit diesem Insistieren auf das Reale im Gegensatz zum Abbild oder zum bildhaften Schein knüpft er unmittelbar an wesentliche Bestrebungen der künstlerischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts an, ja man kann sagen, dass zentrale avantgardistische Prinzipien in seinem Projekt zusammentreffen. Es handelt sich vor allem um vier eng zusammenhängende Ideen, die ich im Folgenden kurz charakterisieren möchte: Das erste Prinzip lautet, Kunst nicht als Produkt, sondern als Prozess zu gestalten. Schon mit der Aufwertung der Skizze im 19. Jahrhundert ist der abgeschlossene Charakter des Kunstwerks relativiert worden. Im 20. Jahrhundert kam die Veränderlichkeit des Werkes hinzu, die auf unterschiedlichste Weisen verwirklicht werden kann – sei es durch die Eigenbeweglichkeit von kinetischen Objekten, wie wir es von Jean Tinguelys Arbeiten kennen; sei es durch Handlungen von Rezipienten bei der interaktiven Medienkunst wie bei The legible City (1988–91) von Jeffrey Shaw, bei der der Besucher auf einem fest installierten Fahrrad mit Hilfe eines Displays virtuell durch eine auf einer Projektionsfläche erscheinende Buchstabenstadt fahren kann – oder sei es dadurch, dass der Entstehungsprozess eines Werks zum Kunstwerk selbst wird wie bei dem in Wien realisierten Projekt Shooting into the corner (2009) von Anish Kapoor, der mittels einer Kanone pigmentiertes Wachs in eine Ecke schießen ließ. Die Kanonenschüsse, das fliegende Wachs und die über Wochen hinweg wachsende und sich ständig verändernde Pigmentfülle in der Raumecke bildeten gemeinsam das Werk. Allen Varianten prozessualer Kunst gemeinsam ist, dass das Kunstwerk nicht als statische Größe präsentiert wird und dass es nicht in nur einem einzigen festgelegten Status rezipierbar ist, ihm vielmehr Bewegung und Veränderung inhärent sind und damit auch das Rezeptionsverhältnis selbst dynamisiert wird. Das zweite, daran unmittelbar anknüpfende Prinzip besteht darin, Kunst nicht als Objekt, sondern als performativen Akt zu verstehen. Über die Prozesshaftigkeit hinaus gewinnt die Kunst damit auch einen inszenatorischen Charakter. Zugleich tritt die Leiblichkeit realer Menschen an die Stelle von Artefakten. Subjekt und Objekt des Kunstprozesses werden identisch. In den Anfängen der Aktionskunst haben sich verschiedene Varianten herausgebildet, die bis heute weiter existieren: Bei der ersten, verbreitetsten Variante treten der Künstler beziehungsweise die Künstlerin selbst als Akteure in Erscheinung, wie Marina Abramovic und Ulay in ihren Performances der siebziger und achtziger Jahre, zum Beispiel in Relation in Space von 1976. Anders verhält es sich bei Bruce Nauman, der für seine Performances Schauspieler, Tänzer oder andere Akteure einsetzte, ihnen Anweisungen gab und sie bei der Umsetzung filmte, wie etwa in Tony sinking into the Floor von 1973. Eine dritte Variante sind Allan Kaprows Happenings, bei denen die Rezipienten selbst als Akteure fungierten, so dass es nur Beteiligte, keine Zu270 | Verena Krieger
schauer gab (zum Beispiel in dem sich über drei Tage hinziehenden Happening Gas, 1966). Allen Varianten performativer Kunst ist gemeinsam, dass das Kunstwerk endgültig seinen Werkcharakter verliert, weil es nicht mehr als materielles Objekt präsentierbar ist, sondern nur im leiblichen Vollzug durch menschliche Akteure realisiert und als solcher erfahren werden kann. Das dritte Prinzip besteht darin, Naturprozesse in die Kunst zu integrieren oder selbst zum künstlerisch-kreativen Akt zu machen. Auf metaphorischer Ebene gibt es eine Analogisierung von Kunst und Natur schon seit der Antike, so hat Platon die geistige Schöpfung mit dem Gebärvorgang verglichen.38 Die Moderne hat diesen Vergleich radikalisiert; Hans Arp, der sowohl naturhaft wirkende Objekte schuf als auch Naturobjekte in seiner Kunst verwendete, hat mit dem Satz „Die Kunst wächst mir wie Zehennägel“ die Vorstellung von der Überlegenheit des menschlichen Schöpfungsaktes über die natürliche Prokreation glasklar verabschiedet. Seither räumen zahlreiche Künstler natürlichen Prozessen einen gewichtigen Einfluss ein, wie Herman de Vries, der umgrenzte Räume, sogenannte Sanctuaria, schafft, in denen Wildpflanzen unkontrolliert wachsen können. Wichtig ist dabei, dass die Integration von Naturprozessen in die Kunst, ja ihre Gleichsetzung mit der Kunst, sich keineswegs nur auf Wachstumsprozesse erstreckt, sondern auch Zerstörungs-, Ausscheidungs- und Verfallsprozesse einschließt. So ist Robert Smithsons Land Art-Projekt Spiral Jetty durch die Witterungsbedingungen ständiger Veränderung und letztlich dem Verfall preisgegeben; das gilt auch für Dieter Roths Arbeiten aus vergänglichen Materialien wie Schokolade, die sich seit Jahren in einem Verfallsprozess befinden, der sich dem Betrachter nicht nur visuell, sondern auch olfaktorisch mitteilt. Und dazu gehört auch die Verwendung von Ausscheidungsprodukten in der Kunst, wie etwa bei seinen Karnickelköttelkarnickeln.39 Das vierte Prinzip schließt die drei anderen in sich ein und ist das Grundprinzip der künstlerischen Avantgarde schlechthin: Es ist die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, das heißt die Überwindung des Scheincharakters der Kunst und ihr Übergang in die Realität. Diese Idee hat die historischen Avantgardebewegungen – Futuristen, russische Konstruktivisten und Surrealisten – dazu bewegt, sich aktiv in das aktuelle politische Geschehen einzumischen, indem sie etwa zugunsten der Revolution Stellung bezogen und sich in ihren Dienst stellten, was für sie in den meisten Fällen nicht gut ausgegangen ist.40 Auch Joseph Beuys steht letztlich in der Tradition der klassischen Avantgarden, insofern sein „erweiterter Kunstbegriff “ die Initiierung und Gestaltung sozialer Prozesse impliziert. Aber auch völlig jenseits des Politisch-Gesellschaftlichen gibt es zahlreiche Ansätze, die Grenze zwischen Kunst und Leben praktisch zu überschreiten, etwa wenn Tracey Emin Aspekte der eigenen Biographie künstlerisch thematisiert in ihrer Arbeit Every One I have ever slept with 1963–1995. Und auf eine wiederum ganz andere, existenzielle Weise verbindet Roman Opalka seine Kunst mit dem eigenen Leben, wenn er seit dem Jahr 1965 auf allmählich immer mehr verblassende Leinwände fortlaufend Sterben im Museum | 271
aufsteigende Ziffern schreibt – ein Kunstprojekt, das erst mit seinem Leben zusammen zu Ende gehen wird. In Schneiders Idee, einen sterbenden Menschen im Museum auszustellen, laufen diese vier Prinzipien zusammen, ja man kann behaupten, dass seine Idee geradezu eine logische Konsequenz und einen (vorläufigen) Kulminationspunkt der avantgardistischen Bestrebungen darstellt: Erstens bestünde im Falle der Verwirklichung dieses Projektes das Kunstwerk nicht allein aus dem nachgebauten Raum von Mies van der Rohe, sondern die Idee des Sterbens im Museum, das gesamte Setting ihrer Durchführung und nicht zuletzt der Sterbeprozess selbst wären gleichfalls seine Bestandteile. Zweitens wäre das Sterben im Museum eine performative Handlung. Träger dieser Handlung wäre der Sterbende selbst, der ja nach Schneiders Vorstellung das Subjekt der gesamten Situation sein, also alle Bedingungen seines Aufenthalts im Museum bestimmen soll. Jede seiner Entscheidungen, seine Kontaktaufnahmen und Kontaktverweigerungen, sein Leiden, sein Dahinscheiden wären so gesehen Elemente einer Performance. Diese wäre in einem fundamentaleren Sinne als jede andere Performance ephemer, das heißt unwiederholbar und als Kunstwerk einzig für den Zeitraum ihres Andauerns erfahrbar. Drittens würde ein elementarer Naturprozess – das Sterben – in das Zentrum einer künstlerischen Arbeit gerückt, mehr noch: es selbst wäre der eigentlich kreative Akt, insofern es uns die Erfahrung vermittelte, dass das Sterben auch jenseits christlicher Auferstehungserwartung ein transformatorischer Akt ist. Und viertens würden hier Leben und Kunst identisch werden, denn das Sterben ist schließlich ein Teil des Lebens. Wenn also Gregor Schneider mit seinem Sterbeprojekt in der Tradition der künstlerischen Avantgarden steht, dann partizipiert er – damit bin ich bei meinem dritten Punkt – an einem Gedankengut, das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat und dessen wichtigste Urheber Richard Wagner und Friedrich Nietzsche sind; einem Gedankengut, welches das gesamte 20. Jahrhundert hindurch nachhaltig auf die Künste gewirkt hat und auch heute noch weiterwirkt.41 Wagner hatte mit seiner Idee des Gesamtkunstwerks erstmals in aller Radikalität das Kunstwerk als reales gesellschaftliches Ereignis gedacht.42 Und Nietzsche hatte Kunst und Leben von der anderen Seite her verschmolzen, wenn er postulierte, dass das menschliche Dasein nur durch eine ästhetische Haltung gegenüber der Welt zu bewältigen sei.43 Eine ästhetische Haltung ist es auch, die Gregor Schneider zum Sterben einnehmen und befördern möchte, wenn er es als sein Ziel beschreibt, die „Schönheit des Sterbens“ wahrnehmbar zu machen. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass die einzige sinnvolle Haltung, die bei einer Verwirklichung seines Projekts mögliche Besucher und Betrachter des Sterbenden einnehmen könnten, eine ästhetische wäre. Diese ästhetische Haltung wäre nichts anderes als eine Bewältigungsstrategie im Sinne Nietzsches, denn das Sterben ist schließlich eine elementare oder die elementare Lebenserfahrung überhaupt, die der 272 | Verena Krieger
Bewältigung bedarf. Gregor Schneider möchte uns also auf dem Feld der Kunst etwas anbieten, was bislang recht und schlecht durch andere gesellschaftliche Instanzen geleistet worden ist – durch die Kirchen, aber auch durch soziale Instanzen wie die Familie –, was diese aber zunehmend weniger leisten und leisten können, seitdem die Säkularisierung der Gesellschaft und der Verlust der Bindungskraft traditioneller sozialer Strukturen wirksam geworden sind. Die mit Schneiders Projekt verbundene enorme Aufwertung der Kunst, der die Aufgabe und die Macht zugesprochen wird, andere gesellschaftliche Instanzen zu ersetzen, ist charakteristisch nicht nur für die Avantgarden, sondern allgemein für die Moderne (einschließlich der Postmoderne). Es ist eine Konsequenz der Autonomisierung der Kunst aus ihren alten Abhängigkeiten und ihrer dienenden Stellung gegenüber Kirche, Fürsten und Wissenschaften, dass sie nun im Gegenzug sich diese Sphären zumindest ideell einzuverleiben sucht. So hat die Romantik die Kunst zum Religionsersatz erhoben, die klassischen Modernen machten sie zum Politikersatz und die Konzeptualisten haben den Weg dafür bereitet, sie zum Wissenschaftsersatz zu erklären. Auch die Bewältigung von Lebenssituationen und Lebenskrisen ist längst ein Metier der Kunst geworden, die damit zum Therapieersatz wurde.44 Das Feld der Kunst wird so immer weiter, ihr werden immer mehr Potenzen zugesprochen und Funktionen abverlangt. Dabei haben die Erwartungen, die an die Kunst gerichtet sind, immer auch einen kompensatorischen Charakter, weil sie die Dysfunktionalität anderer gesellschaftlicher Instanzen zum Ausdruck bringen. Nicht anders verhält es sich bei Gregor Schneiders Sterbeprojekt: Diese Idee konnte nur entstehen, weil weder auf institutioneller noch auf sozialer Ebene gesellschaftlich breit etablierte Formen einer humanen, unterstützenden Bewältigung des Sterbens – einer, nach Ariès, „Bändigung des Todes“ – existieren. Die Kunst soll nun dieses Vakuum füllen – ähnlich wie sie seit rund zweihundert Jahren den durch die Säkularisierung bewirkten Sinnstiftungsverlust kompensieren soll. Eine Konsequenz dieses erweiterten Zuständigkeitsbereiches der Kunst besteht darin, dass sich das Verhältnis von Ethik und Ästhetik grundlegend verändert. Schon lange ist ja die Kunst keine „schöne Kunst“ mehr, und auch die enge Verschwisterung vom „Wahren, Schönen und Guten“ ist spätestens seit Nietzsche obsolet geworden. In der Moderne gehen Ethik und Ästhetik längst getrennte Wege; dabei tritt die Ästhetik jedoch vielfach an die Stelle der Ethik in dem Sinne, dass sie ethische Fragen auf ästhetische Weise beantworten und lösen soll. Gerade weil sich aber die Kunst von ihrer Bindung an ethische Prämissen befreit hat, stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich geeignet ist, ethische Probleme angemessen zu beantworten. Oder anders formuliert: Es ist fraglich, ob eine Ästhetisierung des Sterbens tatsächlich auch dessen Humanisierung bewirkt. Die Entgrenzung der Kunst ist ein utopisches Projekt der Moderne, das von Künstlerinnen und Künstlern seit der Romantik in vielfacher Weise betrieben wird und das immer neu als Movens dient, elementare anthropologische und gesellschaftliche Fragen Sterben im Museum | 273
innovativ zu thematisieren. Erwartet man jedoch von der Kunst reale Umgestaltungen gesellschaftlicher Praktiken, so stellt dies eine Hypertrophierung der Kunst dar, die sie maßlos überfordert und an ihre letztlich eben doch vorhandenen Grenzen führt. Gregor Schneiders künstlerisches Sterbeprojekt als zynisch zu verurteilen, geht nicht nur an der Idee und den damit verbundenen Intentionen vorbei, sondern verkennt auch, dass es als Idee durchaus fruchtbar gewirkt hat, gerade indem es uns an einem entscheidenden Punkt tief berührt und zur Auseinandersetzung angeregt hat. Für seine Wirksamkeit ist seine Realisation also nicht erforderlich.
Anmerkungen 1 Gareth Harris, „An exhibition to die for – literally“, in: The Art Newspaper 190, April 2008. 2 Die Welt online, 18. April 2008, [gelesen am 8. Juli 2009]. 3 Ulf Poschardt, „Tod als Kunst darf nicht bloß Provokation sein“, in: Die Welt online, 19. April 2008, [gelesen am 8. Juli 2009]; Stephan Gerbaulet, „Menschlichkeit bleibt auf der Strecke“, in: Süddeutsche Zeitung, 19. April 2008; Hans-Jürgen Fink, „Auch für Künstler bleibt die Menschenwürde unantastbar“, in: Hamburger Abendblatt, 21. April 2008; Holger Kankel, „Kalkulierter Tabubruch?“, in: Schweriner Volkszeitung, 22. April 2008. Dies ist nur eine kleine Auswahl, die gesamte Presseresonanz ist dokumentiert auf der Homepage des Künstlers [gelesen am 8. Juli 2009]. 4 Presseerklärung der FDP-Bundestagsfraktion vom 21. April 2008: Sterben darf nicht künstlerisch missbraucht werden, [gelesen am 8. Juli 2009]. 5 Uta Baier, „Morddrohungen inklusive“, in: Die Welt online, 24. April 2008, [gelesen am 8. Juli 2009]. 6 Georg Imdahl, „Unterstützung für Schneiders Vorhaben“, in: Kölner Stadtanzeiger, 22. April 2008. 7 Uta Baier, „Gregor Schneider. Künstler will humane Orte für den Tod bauen“, in: Die Welt online, 21. April 2008, [gelesen am 8. Juli 2009]; „Das Sterben als Kunstwerk? Ein Gespräch mit Gregor Schneider von Heinz-Norbert Jocks“, in: Kunstforum international 192, Juli/August 2008, S. 238–245. 8 Gregor Schneider. Weisse Folter, hg. von Julian Heynen und Brigitte Kölle, Ausst. Kat. K20K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2007. 9 Vgl. Kunstforum international 2008 (wie Anm. 7), S. 240. 10 Ibid., S. 240. 11 Dies erklärte er in einem vom Zweiten Deutschen Fernsehen und Arte produzierten Film über Gregor Schneiders Sterbeprojekt (gesendet am 28. Mai 2009 in Arte). 12 Kunstforum international 2008 (wie Anm. 7), S. 242. 13 Ibid., S. 241 f. 14 Philippe Ariès, Geschichte des Todes (1978), München und Wien 1980, S. 30; vgl. auch id., Bilder zur Geschichte des Todes, München und Wien 1984; Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990; Nigel Llewelyn, The Art of Death. Visual Culture in the English Death Ritual c.
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1500 – c. 1800, London 1991; Allan Kellehear, A Social History of Dying, Cambridge und New York 2007. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürger lichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1962, S. 60 ff. Ariès 1980 (wie Anm. 14). Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 81989, S. 9–12. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1977), Frankfurt/Main 1983. Er bezog dies auf eine Entwicklung, deren Anfänge er bereits ins 19. Jahrhundert datiert. Vgl. u. a. Kurt Imhof, „Tyrannei der Intimität?“, in: Zoom K&M, Nr. 12/13, 1999, S. 40–49. Ibid.; vgl. weiterhin Transit 33, Sommer 2007 mit dem Schwerpunktthema „Tod in der modernen Gesellschaft“, hier auch weiterführende Literatur zum Thema. Lorella Pagnucco Salvemini, Toscani. Die Werbekampagnen für Benetton 1984–2000, aus dem Italienischen von Irmela Arnsperger und Friederike Hausmann, München 2002. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich in zwei Verfahren mit Verboten verschiedener Varianten der als „Schockwerbung“ angeprangerten Benetton-Werbekampagnen befasst und kam beide Male zu dem Ergebnis, dass die Werbeanzeigen „das Elend der Welt“ anprangern und durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind (Az 1 BvR 1762/95&1 BvR 1787/95; 1 BvR 426/02). Zur Diskussion um Toscanis Plakate vgl. auch Benetton par Toscani, Ausst. Kat. FAE Musée d’Art Contemporain, Pully-Lausanne 1995. Thomas Macho und Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007. Vgl. „Heftige Diskussionen nach Live-Selbstmord“, in: , 25. November 2008 [gelesen am 8. Juli 2009]. Der Jugendliche hatte sein Selbstmordvideo auf die Seite von justin-tv gestellt. Dieses Live-Video-Portal wurde in San Francisco von Justin Kan gegründet und war zuerst nur darauf angelegt, sein Leben 24 Stunden am Tag ins Internet zu übertragen. Inzwischen hat sich die Website zu einem Netzwerk tausender Channels entwickelt und bietet eine Plattform für Live Videostreams und Menschen, die andere an ihrem Leben teilhaben lassen wollen. [gelesen am 23. März 2009]. Der britische Künstler Mark McGowan und die japanische Schauspielerin Mieko Takanamie haben in einer zweistündigen Performance die letzten zwei Lebens- bzw. Sterbestunden von Jade Goody mit Masken nachgespielt: Mark McGowan, Jade Goody Death Reenactment, zu sehen unter [gesehen am 8. Juli 2009]. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (Paris 1967), Hamburg 1978. Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper, Ausst. Kat. Institut für Plastination Heidelberg; Landesmuseum für Technik Mannheim 1997. Vgl. Katrin Wenzel, Fleisch als Werkstoff. Objekte auf der Schnittstelle von Kunst und Medizin, Berlin 2005, Kap. 4: „Ästhetisierte Präparate: ‚Körperwelten’“ (S. 120–142). Zit. nach ibid., S. 136. Ibid., S. 141 f. Die Leichen werden nicht nur konserviert, sondern erfahren durch Flüssigkeitsentzug und andere konservatorische Eingriffe so starke substanzielle Veränderungen, dass die fertigen Plastinate zu 70 Prozent aus Kunststoff bestehen, vgl. Wenzel 2005 (wie Anm. 28), S. 139. Vgl. Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, hg. von Martin Kemp und Marina Wallace, Ausst. Kat. Hayward Gallery London 2000, S. 69 ff. Eine Übersicht gibt der Ausstellungskatalog Todesbilder in der zeitgenössischen Kunst. Mit einem Rückblick auf Hodler und Munch, hg. von Günther Gercken und Uwe M. Schneede, Ausst. Kat.
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Kunstverein Hamburg; Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1983; Walther K. Lang, Der Tod und das Bild. Todesevokationen in der zeitgenössischen Kunst 1975–1990, Berlin 1995; Birgit Richard, Todesbilder. Kunst, Subkultur, Medien, München 1995; Macho/Marek 2007 (wie Anm. 23); Six feet under. Autopsie unseres Umgangs mit Toten, Ausst. Kat. Kunstmuseum Bern; Deutsches Hygienemuseum Dresden 2008. Werkbeispiele jüngeren Datums sind James Lee Byars, der seinen eigenen Tod in einer Performance mit dem Titel The Death of James Lee Byars in Brüssel 1994 thematisierte, Ron Mueck, der aus Silikon und Acryl eine lebensgroße Nachbildung seines nackten, toten Vaters schuf (Dead Dad, 1997), John Isaacs mit der Wachsplastik eines zerfetzten und gehäuteten Leichnams (A Necessary Change of Heart, 2000) und Maurizio Cattelan, der 2008 im Kunsthaus Bregenz neun Marmorplastiken von in weiße Tücher gewickelten Leichen präsentierte (All, 2007). Kunstforum international 2008 (wie Anm. 7), S. 245. Fabienne Will, „Geburt/Leben/Tod. Zu Bill Violas NANTES TRIPTYCH“, in: Marcus Stiglegger (Hg.), Kino der Extreme. Kulturanalytische Studien, St. Augustin 2002, S. 10–28. Kunstforum international 188, 2007, S. 96; vgl. auch das Interview mit Heinz-Norbert Jocks, „Die Kamera, das bin ich“, ibid., S. 203–213, bes. S. 213. Beate Lakotta und Wolfgang Schels, Noch mal leben vor dem Tod: Wenn Menschen sterben, München 2004; Elisabeth Zahnd Legnazzi, Chiara. Eine Reise ins Licht/A Journey into Light, Zürich 2009. Platon, Theaitet, in der Übersetzung und mit den Erläuterungen Friedrich Schleiermachers, Frankfurt/Main 1979, S. 25. Zum metaphorischen Vergleich der künstlerischen Schöpfung mit dem Gebären vgl. Verena Krieger, „Zur (Un-)Fruchtbarkeit der Liebe im Surrealismus – Die weibliche Gebärfähigkeit als Kreativitätsparadigma“, in: ead. (Hg.), Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Hamburg 2006, S. 123–152. Diese Werke werfen aufgrund ihrer organischen Materialien nicht nur große konservatorische Probleme auf, sondern haben auch Diskussionen ausgelöst, ob es überhaupt angemessen ist, hier konservatorisch oder restauratorisch tätig zu werden, weil dies im Grunde der Idee des Künstlers zuwiderläuft, die ja gerade auf den Verfall des Kunstwerks gerichtet ist, vgl. Heide Skowranek, „Should We Reproduce the Beauty of Decay? A Museumsleben in the work of Dieter Roth“, in: Tate papers, Herbst 2007, [gelesen am 8. Juli 2009]. In Bezug auf die russischen Konstruktivisten vgl. Verena Krieger, Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln, Weimar und Wien 2007, S. 211–231. Vgl. Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, hg. von Harald Szeemann, Ausst. Kat. Kunsthaus Zürich; Städtische Kunsthalle und Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf; Museum Moderner Kunst, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien 1983; Antje von Graevenitz, „Erlösungskunst oder Befreiungspolitik: Wagner und Beuys“, in: Gabriele Förg (Hg.), Unsere Wagner: Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans Jürgen Syberberg. Essays, Frankfurt/Main 1984, S. 11–49; Roger Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim 2004. Richard Wagner, „Kunst und Revolution“ (1849) und „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1851), in: id., Die Hauptschriften, Stuttgart 1956. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, München 1990. Am nachdrücklichsten wird die Rolle des Künstlers als Therapeut durch Joseph Beuys reprä sentiert. Eine scharfe Polemik dagegen: Donald Kuspit, Der Kult vom Avantgarde-Künstler, Klagenfurt 1995.
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Anweisung, Beobachtung und Nachricht. Rollenspiele für eine neue Rezeptionsästhetik Im Vokabular eines kunsthistorischen Aufsatzes fehlt ein Protagonist nur noch selten: der Betrachter. Die Kunstgeschichte hat ihn nicht erst mit der Feier der Rezeptionsästhetik als einer eigenen Fragestellung zum Helden eines Sprechens über die Kunst erhoben, in der das wahrnehmende Subjekt der Autorität der intentionalen Geste des Autors entgegentritt und zur konstitutiven Instanz für den Werkbegriff avanciert. Der Held wird als reiner Rollenentwurf beschrieben. Der kunsthistorische Verweis auf „den Betrachter“ und „die Betrachterin“ soll einer Objektivierung des persönlichen Erlebnisses vor dem Werk dienen. In dieser Konstellation ist jedoch bereits eine signifikante Verschiebung zu beobachten. Denn die Berufung auf einen unbestimmten Rezipienten vermag auch seine Stellvertreterfunktion anzuzeigen. Diese kommt besonders dann zum Tragen, wenn die Möglichkeit einer Differenz angenom- 1 Cécile Wick und Peter Radelfinger, Testreihe Kunst und Qualität, April 2002 bis Juni 2003 men wird zwischen der eigenen, aufgeklärten und kritischen Haltung des Autors und einem idealen, weil unmittelbaren Empfinden eben dieses, vielleicht sogar „impliziten Betrachters“.1 Der „ideale Betrachter“ wird also zu einer Referenz, die aus der Perspektive einer distanzierten Beschreibung und Deutung eine durchaus fiktive Qualität zu entwickeln vermag. Eine der ältesten und spannendsten Konstanten in der Bewertung eines Werkes ist die Rede von seiner unmittelbaren Wirkung auf den unvoreingenommen Wahrnehmenden.2 Man kann diese These illustrieren mit dem Projekt eines Schweizer Künstlerduos, das unter dem Titel Kunst und Qualität 2002 die Betrachter dazu aufforderte, mit schematischen Zeichnungen die Wechselwirkung mit einem Kunstwerk darzustellen (Abb. 1). Mit Hilfe von Zeitungsinseraten konnten Cécile Wick und Peter Radelfinger eine große Anzahl von Visualisierungen zusammentragen. Sie zeigen Vorstellungen der Erleuchtung, des Energieflusses, der Provokation oder der Rührung.3 Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 277
Die Beschwörung einer starken emotionalen Reaktion als ideale Form der Kunstwahrnehmung erlebt eine a-historisch vermittelte Renaissance. So trägt James Elkins in seiner Publikation Painting and Tears nicht nur Zeugnisse von derlei Überwältigungen zusammen, sondern votiert für eine „neue“ Form der Kunstbetrachtung, die erübt werden könne.4 Das deutende Sehen und die Lektüre von erläuternden Texten finden sich gegen die isolierte, längere „reine“ Betrachtung stilisiert.5 Die implizierte Frage einer gesellschaftlichen Relevanz von Kunst, die in der sittlichen Erziehung der Bürger gipfelt und sich in der affektiven Resonanz erfüllen würde, ist eingebunden in historische Traditionen. Die unvoreingenommenen Betrachter, welche nicht über den Status eines Kunstwerkes reflektieren, empfehlen sich sogar als Instanz des Urteils, wie bereits Abbé JeanBaptiste Dubos 1719 feststellte.6 Sie erfüllen das Konzept einer Wirkung, welche in der ungebrochenen Verbindung zur Alltagserfahrung steht und sich auf ein breites Publikum berufen kann. Interessant ist, dass bereits hier eine Ausdifferenzierung von möglichen Betrachtungsparadigmen erfolgt, die im Rollenmodell den Laien gegen den Connaisseur stellt, ebenso wie sich später der gebildete highbrow vom lowbrow absetzte.7 Eine besondere Zuspitzung mag diese Beobachtung also dann entfalten, wenn die Kategorie „Betrachter“ in ein Begriffsfeld gestellt ist, in dem eine ganze Pluralität von Interessen das Profil des Rezipienten und seine Rolle bestimmt und das unbestimmte Abstraktum in die Vorstellung eines Kollektivs überführt wird: „das Publikum“ oder „die Besucher“. Bereits die historischen Begrifflichkeiten, in denen das 18. Jahrhundert diese Gruppenbezeichnungen entwickelte, implizieren die Vorstellung von Adressaten, denen einerseits etwas gezeigt wird und die andererseits als eigenständige Instanz Erwartungen und Bedürfnisse formulieren. Als „Öffentlichkeit“ reagieren die Vertreter spezifischer Gesellschaftsschichten auf die Kunst und treten in die Institution „Ausstellung“ ein. In meinem kurzen Beitrag votiere ich für eine kritische Reflexion über die Rolle, die Künstler, Kuratoren, Ausstellungsinstitutionen, aber auch die Kunstgeschichtsschreibung, den Rezipienten eines Kunstwerkes heute zuweisen. Hinter dem allgemeinen Verweis auf ein Publikum verbergen sich Vorstellungen von Zielgruppen, die eine politische Relevanz aufweisen. Die ältere Idee der Partizipationskunst und innovatives Museumsmarketing scheinen sich in einer neuen Ansprache des Betrachters zu treffen.8 Zielgruppenvorstellung und Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollenspiele verdienen einen geschärften Blick. Ich möchte zur Diskussion stellen, inwieweit der Kunstdiskurs dazu tendiert, erneut einen Typus von Rezipienten zu entwerfen, zu erhoffen und zu instrumentalisieren, der sich vom Insider des Kunstsystems unterscheidet. Als „Unwissender“ demonstriert er eine reine und unmittelbare Reaktion auf die ihm dargebotene Kunst. Er dient als entscheidende Referenz in einer Kunstanalyse, in der der kritische Kunsthistoriker ein mögliches Handlungsfeld nicht mehr selbst einlösen möchte. Damit greife ich eine Diskussion auf, die mit der Referenz auf Nicolas Bourriaud das performative Moment der Kunstrezeption betont, aber die Frage nach der Ausdifferenzierung der Rollen und 278 | Peter J. Schneemann
ihrer Beziehungen untereinander weitgehend ausklammert.9 Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Entwurf von Modellen der Kunstbetrachtung geht über die Strategien der Partizipationskunst, wie sie in den neunziger Jahren eine Blüte erlebte, hinaus. Vielmehr stehen Fragen im Mittelpunkt, die Jacques Rancière in seinen viel beachteten Ausführungen zur Emanzipation des Betrachters aufgeworfen hat. In welcher „Position“ kann die freie, eigenständige und produktive Stimme des Rezipienten gesehen werden?10
1. Anweisungen Die Sprache der Institution Museum grenzt ihr Territorium weiträumig ab. Ein Regelwerk listet detailliert verschiedenste Handlungen auf, um sie mit einem Verbot zu versehen, um sie auszuschließen: „Museum Rules Prohibit“ (Abb. 2). Eine Lektüre der großen Museumsordnung auf dem Platz vor dem Brooklyn Museum in New York ist nicht zuletzt deshalb spannend, weil sich eine Art von Typologie der möglichen Aktivitäten ex negativo entfaltet. Es ist eine Typologie, die die gesellschaftlichen Konnotationen der jeweiligen Handlungen offenlegt. Das Spektrum reicht von der unangebrachten sportlichen Betätigung und den klassischen amerikanischen Freizeitvergnügen („skateboarding, rollerblading, and biking“), über kommerziell ausgerichtete Betriebsamkeiten („engaging in commercial activity“) bis hin zur politischen Kundgebung. Manche Dinge sind prinzipiell mit einem Verbot belegt, andere kennen auch die Option der „Bewilligung“. Diese unterhaltsamen Listen sind von beinahe jedem Museum bekannt – wobei die Unterschiede eine besondere Beachtung verdienen würden. Während New York „barbecuing“ als Endpunkt der Liste setzt, heißt es vor der Tate Modern in London: „no camping“. Die Lektüre dieser verbotenen Tätigkeiten lässt nach den erwünschten Aktivitäten fragen. Das Ergebnis ist zunächst ernüchternd unbestimmt, man findet nur die Anweisung „Enjoy!“. Die Künstlerin Angela Bulloch hat eben solche Anweisungen der Kunstinstitutionen in die Sammlung von gesellschaftlichen Regelwerken ihrer Rules Series eingebunden.11 Im Inneren der Institutionen ist der Besucher an diese Regelwerke gewöhnt, und es gibt explizite und durch Konventionen geprägte Normen. Er weiß, dass konservatorische Gründe die Berührung der Kunstwerke verbieten. Und doch hat das reine Schauen und die nur vorsichtige Annäherung an das Exponat darüber hinausgehende Implikationen der angemessenen Kunstbetrachtung, es wird die Stimme gesenkt, die Betrachtung mit einem Moment des Innehaltens verbunden. Das versunkene Schauen strebt eine stille Zwiesprache zwischen dem Individuum und dem Werk an. Die freie Wahl der Haltung, der Distanz oder Nähe, der parallelen Lektüre und des Vergleichs zwischen Werken ist dabei gegeben. Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 279
Die Interessen von Institutionen, Kuratoren und auch Künstlern, die Beziehung zum einzelnen Werk zu lenken und zu kontrollieren, bilden eine eigene Tradition. „Betrachteranweisungen“ können sowohl durch das Werk selbst und seine Installation im Raum gegeben werden, als auch in Textform präsent sein.12 Die Vorstellung einer idealen „Haltung“ korrespondiert mit der Vorstellung einer idealen Wirkung, die durch eine „falsche“ Annäherung zerstört würde. Zahlreich sind die Äußerungen der Künstler über die grausame Macht der Rezipienten, mit ihrer Reaktion ein Werk in seiner Integrität zu zerstören.13 2 „Museum Rules Prohibit“, 2009, New York, Brooklyn Museum Virulent wurde diese Situation besonders seit dem historischen Moment, in dem ein heterogenes Publikum den gebildeten Sammler als Adressaten im 18. Jahrhundert ablöste.14 Es scheint dabei eine eigene Logik zu entstehen, denn je stärker das wahrnehmende Subjekt Beachtung findet und zum integralen Teil des Werkentwurfs avanciert, desto stärker tritt die Versuchung hervor, dieses mit einer autoritären Geste zu führen. Besonders deutlich fassbar wird dies bei Dispositionen, die dem Rezipienten eine unmittelbare Erfahrung, Raum-, Seh- oder Körpererfahrung, vermitteln, genauer gesagt, durch diese zu einem künstlerischen Werk werden. Nur ungern übergibt hier der Künstler die Macht über sein Kunstwerk ganz dem unbekannten Rezipienten. Bruce Nauman prägte den höchst signifikanten Satz: „I mistrust audience participation“.15 Aus der Perspektive des Rezipienten gilt es in diesem Moment, eine Entscheidung zu treffen – ihm wird vermittelt, dass er das Werk nur dann zu erfahren vermag, wenn er sich dem Regelwerk des Künstlers und des Werkes unterwirft. Eine Lektüre der Konzeption kann nie die umgesetzte Handlung und ihre unmittelbaren empirischen Folgen etwa für den Gleichgewichtssinn ersetzen. Mir erscheint es dabei bedeutsam, dass die „Erfahrungsgestalter“ und ihre Interpreten ihre Strategie immer wieder auf das vereinzelte Subjekt ausrichten.16 Die beschriebenen 280 | Peter J. Schneemann
Erfahrungen sind Erkundungen der eigenen Sinnesorgane und des eigenen Körpers. In aktuellen Ausstellungen und musealen Präsentationen sind „Gebrauchsanweisungen“ inflationär. Ähnlich wie der Besucher im Technikmuseum durch das Display ständig auf die zur Verfügung stehenden Knöpfe, Kopfhörer und Miniaturversuche verwiesen wird, vermag er sich im Museum für zeitgenössische Kunst an Hinweisen zu 3 Pipilotti Rist, Informationstafel zu Pour Your Body Out orientieren, welche Geste er an (7354 Cubic Meters), 2008, Ausstellungsansicht, New York, Museum of Modern Art welchem Ort, zu welcher Zeit durchzuführen habe. Das gängige Verbot, die Objekte zu berühren und ein vermeintliches Möbel „zu benutzen“, wechselt nicht selten in den Imperativ, eben dies nun zu tun. In sehr freundlichen Worten wandte sich die Künstlerin Pipilotti Rist an den Betrachter ihrer großen Installation Pour Your Body Out (7354 Cubic Meters) im Museum of Modern Art in New York, 2008 (Abb. 3): „Pipilotti Rist invites you to remove your shoes when in the area of the iris-shaped sofa. Please feel as liberated as possible and move as freely as you can or want to! Watch the videos and listen to the sound in any position or movement. Practice stretching: pour your body out of your hips or watch through your legs. Rolling around and singing is also allowed.“17 Die Versicherung der Freiheit mutiert hier zunächst zur Form des Imperativs, um dann großzügig eine im Museum ungewöhnliche Bewegung zu gestatten.
2. Beobachtung Die Größe der Projektionsinstallation Pour Your Body Out und ihre Verortung im Museum erlaubten die unterschiedlichsten Blicke auf die Besuchergruppen, die der Einladung folgten. Die Besucher der Ausstellung nahmen sich als Gruppe wahr und begannen, die Disposition zu nutzen, um die Erfahrung des Kunstwerkes als gemeinschaftlichen Prozess zu gestalten (Abb. 4). Parallel zur Ausstellung im Museum of Modern Art zeigte das P. S.1 Contemporary Art Center die Arbeit Take Your Time (2008) von Olafur Eliasson. Ohne dass ein Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 281
4 Pipilotti Rist, Pour Your Body Out (7354 Cubic Meters), 2008, Ausstellungsansicht, New York, Museum of Modern Art
Möbel angeboten wurde oder eine Anweisung nötig gewesen wäre, demonstrierten die Museumsbesucher als Gruppe die gemeinschaftliche Umsetzung einer idealen Form der Betrachtung: Sie legten sich in der Mitte des Raumes auf den Boden. Der monumentale Spiegel, der sich über ihren Köpfen drehte und in den sie auf dem Rücken liegend schauten, zeigte nicht nur ihre eigenen Körper, sondern bot dem Einzelnen die Möglichkeit, sich selbst im Muster der übrigen Körper eingeschrieben zu sehen. Der in den Raum hineintretende Rezipient nahm diese Gemeinschaft wahr, bevor er die eigentliche Werkinstallation erkannt hatte. Hier findet ein Wahrnehmungsprozess statt, den ich als Beobachtung der FremdRezeption bezeichnen möchte. Zahlreiche zeitgenössische Ausstellungssituationen, wie die von Eliasson oder Rist, vermögen den Blick auf spezifische Gruppierungen innerhalb des Publikums zu lenken. Die einen nutzen die existierenden Regieanweisungen und den Raum der Kunst für ihre eigene Performance, die anderen schauen distanziert zu, zeigen Hemmungen, ihre beobachtende Position aufzugeben. An dieser Stelle kann eine Ausdifferenzierung der Rollen konstatiert werden. Die Strategie von Erwin Wurm macht es deutlich: Es sind „Freiwillige“, die die Anweisungen des Künstlers in One Minute Sculptures ab 1997 umsetzten, ihre Gliedmaßen mit einem 282 | Peter J. Schneemann
Stuhl verschränkten, sich in einen Eimer stellten und einen zweiten über ihren Kopf stülpten.18 Andere Besucher standen amüsiert dabei und betrachteten Performances, die von „aktivierten“ Rezipienten für uns aufgeführt wurden – ohne die Menschen, die für uns als Performer fungieren, wären sie nur ein langweiliges Konzept. Die Beobachtung der agierenden Besucher ist dabei durchaus wichtiger als das eigentümliche Körpergefühl, das die eine oder andere Haltung 5 Bruce Nauman, Sketch for Box with Foot Hole, 1967, Crex Collection, Schaffhausen, Hallen für neue Kunst mit dem Stuhl oder mit dem Eimer über dem Kopf uns selbst eröffnen würde. Das heißt, dass die Interaktions-Prozesse der One Minute Sculptures sich grundlegend von denjenigen unterscheiden, die Bruce Nauman durch seine frühen Skulpturen (Abb. 5) oder sogar Franz West mit seinen Passstücken ab 1980 (Abb. 6) herausforderten und gestalteten.19 Denn bei diesen stand die Selbstwahrnehmung des Rezipienten im Vordergrund. Der dänische Künstler Marco Evaristti prä sentierte dem Publikum eine Reihe gewöhnlicher, mit Wasser gefüllter Standmixer, in denen Goldfische schwammen (Abb. 7).20 Die Mixer waren an eine Strom führende Steckdose angeschlossen und kein Schild besagte: „Do not touch!“. So fanden sich in der Tat Besucher, die, so will es die Erzählung, die Mixer in Betrieb nahmen. Der Protest ließ nicht auf sich warten und eine spätere Ausstellung wurde sogar in einem 6 Franz West, Ausstellungsansicht Franz West. ikonoklastischen Akt zerstört. Anwälte mussten Gnadenlos/Merciless, 2001, Wien, Österreichisches Museum für angewandte Kunst sich nun mit Kunst und Tierschutz auseinandersetzen. Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 283
7 Marco Evaristti, Helena, 2001, Kopenhagen, Sammlung Statens Museum for Kunst (SMK)
Evaristtis künstlerische Zielsetzung mag man als zynisch bezeichnen und dies nicht aus Mitleid mit dem Zierfisch im Glas, sondern aus Protest über die Vorstellung vom agierenden Publikum. Dieses würde, so der Künstler, in eine Position gebracht, über Tod und Leben zu entscheiden. Diese scheinbare „Apotheose“ des Rezipienten kehrte sich jedoch in seiner weiteren Verteidigung in das Gegenteil um, in eine hoch problematische Rollenzuweisung. Evaristtis eigentliches Interesse habe der Typologisierung, der Gruppenbildung unter den Ausstellungsbesuchern gegolten: dem Typus des Idioten, der den Schalter betätigt, des Voyeurs, der die Szene beobachtet und schließlich des Moralisten, der den Tierschutz rufen muss: „I was successful. There was the idiot who pressed the button, the media and the art public played the role of the voyeur and the animal right groups were the moralists.“21
3. Nachrichten Die Kunstwelt braucht den Betrachter als Teilnehmer, als Mitarbeiter und vor allem als Zeugen, der die Wirkmacht, die Unwiderstehlichkeit und die Provokation, kurz die Relevanz von Kunst bekundet. Er wird dabei nicht selten zu einem Statisten in einer Inszenierung des Künstlers, beschrieben vom Kritiker, gerahmt von einer Institution, dokumentiert vom Künstler selbst und schließlich vom Kunsthistoriker und dem Katalogbeitrag nacherzählt. Es lohnt sich, nochmals auf Erwin Wurm zurückzukommen, da hier verschiedene „Aggregatzustände“ des Werkes zu differenzieren sind. Zunächst gibt es die Anleitungen, die visuell, zum Beispiel als Zeichnung, und sprachlich das Konzept einer Handlung vermitteln.22 Statisten oder Besucher führen die Anweisung dann aus und beobachten sich gegenseitig. Der nächste Schritt ist jedoch ebenso entscheidend und ist unmittelbar verschränkt mit der Ebene der Interaktion, es ist die Nachricht vom Geschehen. An der Wand hängen Photographien von bereits umgesetzten „Skulpturen“. Es existieren vom Künstler Aufnahmen, die Werkcharakter haben, ebenso wie Polaroids, die die Besucher einer Ausstellung mitnehmen konnten. Diese zählen offiziell nicht zum Werk. 284 | Peter J. Schneemann
Die Ebene der „ephemeren“ Realisation und die der Wirkung muss dokumentiert werden. Der Status dieser Dokumentation ist sehr komplex und hat sich in seiner Bedeutung gegenüber dem Konzept verselbständigt.23 Die Aufgabe der Kunstgeschichte, hier eine „unabhängige“ Beschreibung zu leisten, gerät in Konflikt mit dem Interesse der Künstler, Kontrolle über diesen zentralen Moment ihres Werkentwurfs auszuüben. Hier reicht die Bandbreite vom „Verbot“ einer Dokumentation von reinen Inszenierungen bis zum Verkauf gerahmter, großformatiger Schwarzweißphotographien von Aktionen als eigenständige künstlerische Objekte.24 Zum einen sind sie zu autonomen Kunstwerken geworden, zum anderen aber zeigen sie eine Funktion der Verifikation, des Berichtes und schließlich des Gerüchts an, die sich von dem, was individuell in der Begegnung mit einem Werk stattgefunden hat, loslöst. In der Auseinandersetzung mit Kunst, die sich mit gesellschaftlichen Themenfeldern beschäftigt,25 zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf Virulenz und der messbaren Aufmerksamkeit, die eine künstlerische Geste zu generieren im Stande ist. Je stärker das Modell einer breiten gesellschaftlichen Wirkung verfolgt wird, desto wichtiger ist eine Reaktion, die sich nicht auf Protagonisten der Kunstszene beschränkt. Denn nur sie vermag es, in einem Prozess der Medialisierung politische Debatten auszulösen, die als Zeugnis einer gesellschaftlichen Relevanz dienlich sind.26 Die willkommenen Nachrichten von heftigen Reaktionen zeigen die Tendenz, sich zu verselbständigen. Als Anekdote vom Potential eines Werkes leben sie in den erprobten Diskursräumen der Kunst weiter. Im äußersten Fall bedarf es dabei nicht einmal mehr der Realisation des eigentlichen Werkes. In der Konstellation von Medien, Skandal und Zensur ergibt sich in einigen Fällen eine Situation, in der die Rezeption eine Wirkung antizipiert, die keiner Einlösung mehr durch die reale Konfrontation zwischen Werk und Protestler bedarf. Im Extremfall mag die skandalöse Wirkung von Werken ausgehen, die sich nur als Projekt oder Gerücht manifestieren.27 Sowohl die Reaktionen durch Politik oder Behörde, wie auch die anschließende Diskussion im Kunstbetrieb beziehen sich dabei auf eine imaginierte Wirkung, die zur Projektionsfläche wird. Gregor Schneider plante für die Biennale 2005 eine Skulptur mit dem Titel Cube Venice 2005 (Abb. 8). Als eingeladener Teilnehmer der Biennale von Venedig schlug der Künstler den Bau eines schwarzen Kubus auf dem Markusplatz vor. Mit dürftigen Angaben zur Konstruktion des 12 mal 13 mal 15 Meter großen, fast klassisch minimalistischen Kubus evozierte der Künstler einen Bezug zum islamischen Heiligtum der Ka’aba in Mekka. Während diese eine gemauerte Konstruktion darstellt, wollte Schneider nur mit einem Baugerüst und schwarzem Stoff arbeiten, auch die Dimensionen hätten nicht dem islamischen Heiligtum entsprochen. Die italienischen Behörden reagierten überraschend dezidiert und schnell. In einem Akt der Zensur wurde die Realisierung untersagt.28 Das Verbot wurde in der Presse mit Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 285
8 Gregor Schneider, Cube Venice 2005, graphische Visualisierung, 51. Biennale Venedig, 2005
dem Hinweis auf mögliche Reaktionen der „islamischen Welt“ diskutiert.29 Die Problematik einer Hermetik30 oder, genauer gesagt, des angenommenen Unverständnisses gegenüber Erscheinungsformen zeitgenössischer Kunst, findet sich unmittelbar überführt in das Szenario einer „Gefahr von Terroranschlägen“. Diese Annahme wurde aufrechterhalten, obwohl der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, die Entscheidung der Behörden bedauerte.31 Die Eigengesetzmäßigkeit dieses Verbots zog weitere Konsequenzen nach sich, die in ihrer Sinnhaftigkeit kaum von einer konzeptuellen Planung hätten übertroffen werden können. Denn selbst die Aufnahme des Projektes in den Katalog wurde verhindert. Zu finden ist ein Eintrag im Katalog sehr wohl, der Name des Künstlers und Angaben zur Biographie tauchen auf. Die kleine Porträtphotographie ist, wie der Rest der sechs Katalogseiten, schwarz eingefärbt. Erst im letzten Moment konnte noch eine Videodokumentation in die Ausstellung integriert werden. Schneider übernahm in den zahlreichen Interviews die Rolle des Kämpfers gegen die „Fehlinterpretation“.32 Ich möchte hier nicht die Problematik diskutieren, die sich für den Künstler stellt und unterstelle auch keine Inszenierung. Dennoch lassen sich Aspekte festhalten, die für eine Verschiebung in der Fortschreibung klassischer Wirkungstopoi in der Kunstgeschichte sprechen.33 Das schließlich in Hamburg realisierte Werk (s. S. 262, 286 | Peter J. Schneemann
Abb. 3) musste sich an der Wirkung messen lassen, die es als nicht realisiertes bereits entfaltet hatte.34 Die ihm durch die Rezeption des Konzeptes zugeschriebene ungewöhnliche Potenz stand nochmals zur Diskussion: ein schwarzer Würfel als Auslöser terroristischer Anschläge. Das Kunstobjekt würde sich im 21. Jahrhundert damit noch einmal als Kultobjekt beweisen, das in seiner Umkehrung, in der Verletzung religiöser Gefühle, fundamentalistische Reaktionen heraufbeschwören würde.35 Als „Beweise“ für solch heftige Reaktionen der Öffentlichkeit dienen Blogs, Leserbriefe und die sogenannten „Besucherbücher“. Sie rücken zunehmend ins Zentrum des Interesses als die neuen Trophäen des Künstlers und als Quellenmaterial für den Kunsthistoriker. Die unvermittelte, ungebrochene und authentische Reaktion lässt sich über Zeugnis und Nachricht dann wieder in das Kunstsystem zurücktransferieren. Erinnert sei an Hans Haackes Projekt für das Berliner Reichstagsgebäude mit dem Titel Der Bevölkerung, das am 5. April 2000 zu einer langen Debatte im Bundestag führte. Haacke betonte immer wieder, wie wichtig ihm diese Diskussion war und wandelte deren Status erheblich, in dem er sie zu einem Teil einer Kunstausstellung machte.36 Es ist immer wieder neu zu fragen, wie erfolgreich das Kunstwerk in das Zentrum einer breiten gesellschaftlichen Debatte gestellt werden kann und wann die dokumentierten Reaktionen nur eine Alibifunktion für einen konzeptuellen Anspruch übernehmen.37 Reaktionen der Ordnungskräfte, der Verwaltung und der Politik werden in Dokumentationen stolz als fragwürdige Trophäen eines „Funktionierens“ ausgestellt, während der Insider des Kunstbetriebes „nur“ die konzeptuelle Leistung darin liest.38 Es scheint folgerichtig zu sein, dass man Schneider rät, die Wirkungsgeschichte des noch nicht realisierten Werkes sorgfältig zu dokumentieren. 2006 erschien bereits eine Publikation, die das Werk und vor allem die ausgelöste Kontroverse kommentierte.39 Es lässt sich nun aber auch beobachten, wie das Projekt aus dem öffentlichen Raum des Markusplatzes, während der Biennale ein semiöffentlicher Kontext, wieder in den geschützten Kunstkontext verschoben wird.40 Angereichert mit den Anekdoten einer unheimlichen, unglaublichen Gefahr und Quelle potenzieller Weltveränderung, erzählt von einer kleinen, elitären Insidergruppe. Heute ist auch das Werk Evaristtis als „sculpture-installation“ im Museum zu bewundern. Der Fisch ist in Plastilin konserviert, der Mixer ist nicht mehr angeschlossen. Das Publikum schaut mit Respekt auf das revolutionäre Werk und lauscht der Anekdote. Dabei wäre es doch, ohne den Idioten, ein wirklich schlechtes Werk.
Anmerkungen 1 „Der implizierte Betrachter verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein Werk seinen möglichen Betrachtern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Betrachter nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Werke selbst Anweisung, Beobachtung und Nachricht | 287
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fundiert. Wenn wir davon ausgehen, daß Werke erst im Gesehenwerden ihre Realität gewinnen, so heißt dies, daß dem Verfaßtsein der Werke Aktualisierungsbedingungen eingezeichnet sein müssen, die es erlauben, den Sinn des Werkes im Rezeptionsbewusstsein des Empfängers zu konstituieren.“ Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983, S. 32. Vgl. Gabriele Sprigath, „Die Gefühlswirkung der Kunst – ein Menetekel für die Kunstgeschichtsschreibung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 40/1, 1995, S. 39–58. Die Anzeigen erschienen 2002 im Tages-Anzeiger. Die Abbildung (Abb. 1) stammt aus der Ausgabe vom 11. Januar 2003, o. p. Eine Dokumentation des Forschungsprojektes Kunst und Qualität der Zürcher Hochschule der Künste ist in Vorbereitung. James Elkins, Pictures and Tears. A History of People Who Have Cried in Front of Paintings, New York 2004; vgl. auch Antje Krause-Wahl, Affekt. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse, Bielefeld 2006. Zu einer historischen Verortung dieser Modelle würde auch die Hinzuziehung von Texten wie Susan Sontags „Against Interpretation“ zählen, einem Essay, das 1964 in der Evergreen Review erschien. Felix Thürlemann, „Betrachterperspektiven im Konflikt. Zur Überlieferungsgeschichte der ‚vecchiarella’-Anekdote“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21, 1986, S. 136–155 [wieder abgedruckt in Wolfgang Kemp (Hg.), Der Betrachter ist im Bild, Berlin 21992, S. 169–207]. Vgl. zur älteren Diskussion in Amerika Russell Lynes, „Highbrow Lowbrow Middlebrow“, in: Harper’s Magazine, Februar 1949, S. 19–28 und zuletzt David Halle, „The Audience for Abstract Art. Class, Culture and Power“, in: Michèle Lamont und Marcel Fournier (Hg.), Cultivating Differences. Symbolic Boundaries and the Making of Inequality, Chicago 1993, S. 131–151. Die Art und Weise, wie ein „Insider-Publikum“ das Laienpublikum zwingend benötigt, sprengt das soziologische Modell von Bourdieu, vgl. Pierre Bourdieu, „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“, in: id., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main 1974, S. 159–201. Zur Partizipationskunst vgl. Lars Blunck und Christian Janecke, die die Problematik in spitzer Polemik überzeugend offengelegt haben: Lars Blunck, Between Object & Event. Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe, Weimar 2003; Christian Janecke, „Performance und Bild – Performance als Bild“, in: id. (Hg.), Performance und Bild – Performance als Bild, Berlin 2004, S. 11–113. Nicolas Bourriaud, Esthétique relationnelle, Dijon-Quetigny 2002. Jacques Rancière, „The Emancipated Spectator“, in: Artforum 45/7, 2006, S. 270–281. Vgl. Angela Bulloch, Rule Book, London 2000, S. 60. Vgl. etwa die schriftlichen Betrachteranweisungen Barnett Newmans in seiner zweiten Einzelausstellung bei Betty Parsons, Barnett Newman, „Statement“, April 1951, wiederabgedruckt in id., Selected Writings and Interviews, Berkeley und Los Angeles 1992, S. 178. Peter J. Schneemann, Who’s afraid of the Word. Die Strategie der Texte bei Barnett Newman und seinen Zeitgenossen, Freiburg/Breisgau 1998. Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karrieren im modernen Kunstsystem, Köln 1997. Bruce Nauman über einen seiner Performance Corridors von 1970, vgl. Arts Magazine 44, 1970, 5, S. 26: „It’s another way of limiting the situation so that someone else can be a performer, but he can do only what I want him to do. I mistrust audience participation. That’s why I try to make these works as limiting as possible.“ Vgl. zum Begriff der Erfahrung Oskar Bätschmann, „Der Künstler als Erfahrungsgestalter“, in: Jürgen Stöhr (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 249–281. Text auf der Stellwand in der Ausstellung, New York, The Museum of Modern Art, The Donald B. and Catherine C. Marron Atrium, 19. November 2008 bis 2. Februar 2009; vgl. auch Karen Rosenberg, „Tiptoe by the Tulips“, in: The New York Times, 21. November 2008, S. 28. Erwin Wurm. The artist who swallowed the world, Aust. Kat. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien; Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen 2006.
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19 Abb. 5 (Bruce Nauman): Wasserfarbe auf Transparentpapier, 45,7 x 55,9 cm. Abb. 6. (Franz West) zeigt eine Besucherin der Ausstellung Franz West. Gnadenlos/Merciless, Wien, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, 21. November 2001 bis 17. Februar 2002, mit einem Teil des Werks Tournure, 2001, drei Passstücke, Epoxydharz, 49 x 87 x 4 cm, 50 x 77 x 5 cm, 64 x 93 x 7 cm, Franz West. Passstücke, hg. von Stefan Ratibor und Ealan Wingate, Ausst. Kat. Gagosian Gallery, New York 2008. Erwin Wurms Minutenskulpturen haben einen Vorläufer in den Arbeiten von Franz Erhard Walter. 20 Mixer mit in Formaldehyd konserviertem Goldfisch in transparentem Hartharz; Evaristti installierte seine Arbeit Helena erstmals im Februar 2000 in Trapholt im Museum für Bildende Kunst und Design in Kolding, Dänemark. 21 Dieter Buchhart und Anna Karina Hofbauer, „‚Sollen wir alle Menschen verklagen, die Meeresfrüchte essen?’ Ein Gespräch mit Marco Evaristti“, in: Kunstforum International 162, 2002, S. 270–279, hier S. 273. 22 In From Size L to Size XXL von 1993 gibt Erwin Wurm Anweisungen an Personen, um in acht Tagen so zuzunehmen, dass man zwei Kleidergrößen überspringen muss. Die Anweisungen haben die Form eines Rezeptbuches mit detaillierten Ratschlägen einer extrem kalorienreichen Kost, verknüpft mit einem Bewegungsplan. Das Endergebnis, eine verfettete Person, wird von Wurm als Skulptur bezeichnet, Erwin Wurm, hg. von Camilla Jackson, Ausst. Kat. The Photographers’ Gallery, London; Centre pour l’Image Contemporaine Saint Gervais, Genf 2000/01, S. 3. 23 Barbara Clausen, „Documents between Spectator and Action“, in: Live Art on Camera. Performance and Photography, hg. von Alice Maude-Roxby, Ausst. Kat. John Hansard Gallery, Southhampton 2007. 24 So „verzichtet“ etwa Tino Sehgal auf jegliche photographische oder filmische Dokumentation sowie auf Kataloge, vgl. Heinz Schütz, „Tino Sehgal ‚Achtung Ausstellung – Fotografieren verboten!’ Kunsthaus Bregenz, 17. August bis 24. September 2006“, in: Kunstforum International 182, 2006, S. 370; zum Verkauf von Photographien von Aktionen als künstlerische Objekte s. Santiago Sierra, hg. von Gabriele Mackert, Ausst. Kat. Kunsthalle Wien 2002; Elisa Fulco, „Capitalism Inside Out – Santiago Sierra takes on the art system while making money“, in: artindex 2, Winter 2003, S. 78 f. 25 Nina Möntmann, Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green, Köln 2002. 26 Claire Bishop, „Antagonism and Relational Aesthetics“, in: October 110, 2004, S. 51–79; ead., Participation, London 2006. 27 Vgl. hierzu die Diskussion um Thomas Hirschhorns Theater-Projekt in Paris, in dem angeblich auf das Konterfei von Christoph Blocher uriniert wurde: Pressemitteilung der Pro Helvetia, „Pro Helvetia will Kulturschaffende nicht bestrafen“, 8. April 2005; Claudia Spinelli, „Der Kampf ist nie zu Ende“, in: Die Weltwoche, Nr. 51, 2003; Urs Moser, „Wird Hirschhorn Pro Helvetia zum Verhängnis?“, in: Blick, 9. Dezember 2004; [Anonym], „Mit Steuerfranken bezahlt. Urin über Blochers Haupt“, in: Blick, 6. Dezember 2004; Marc Zitzmann, „Kunst, Kultur, Demokratie. Wirbel um das Centre Culturel Suisse in Paris“, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. Dezember 2004; id., „Fragen eines Ausstellungsbesuchers. Versuch einer Kritik des Pariser Hirschhorn-Events“, in: Neue Zürcher Zeitung, 9. Dezember 2004. 28 Vgl. zu Gregor Schneiders Projekt auch Hans Rudolf Reust, „‚Les infos du paradis’. Ein Blackhole politischer Codes – zu Gregor Schneiders Kuben“, in: Parkett 76, 2006, S. 181–185. 29 Ingeborg de Vries, „Kubus des Anstoßes“, in: die tageszeitung, 15. Juni 2005, S. 14. 30 Gudrun Morasch, Hermetik und Hermeneutik. Verstehen bei Heinrich Rombach und Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 1996. 31 Vgl. Gregor Schneider, Cubes. Art in the age of global terrorism, Mailand 2006, S. 41 f.
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32 Vgl. Schneider 2006 (wie Anm. 31); s. ibid. auch die beeindruckend lange Liste der Zeitungsartikel, die zu dem Projekt Stellung nehmen. Zum Problem des Nicht-Verstehens als Topos der Potenz der Kunst vgl. Peter J. Schneemann, „Das Nicht-Verstehen als Geste der Apologie der Bildmacht“, in: Juerg Albrecht et al. (Hg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich 2004, S. 219–232. 33 Vgl. zu diesem Thema Lars Blunck (Hg.), Werke im Wandel? Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung, München 2005; Christine Resch und Heinz Steinert, Die Widerständigkeit der Kunst. Entwurf einer Interaktionsästhetik, Münster 2003. 34 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Thomas Kellein, Sputnik-Schock und Mondlandung. Künstlerische Großprojekte von Yves Klein zu Christo, Stuttgart 1989. 35 Vgl. auch die Diskussionen um Andres Serranos Photographie Piss Christ, die 1989 einen Skandal auslöste. Die Behauptung, dass die Aufnahme ein Kruzifix in einem Behältnis mit Urin des Künstlers zeige, führte zum Vorwurf der Blasphemie. Piss Christ gehörte zu den Exponaten der Ausstellung Down by Law, Sonderausstellung im Rahmen der Whitney Biennale, New York 2006. 36 In der Ausstellung im Portikus, Frankfurt/Main, 26. August bis 8. Oktober 2000, bezog sich Hans Haacke auf sein umstrittenes Projekt für das Berliner Reichstagsgebäude, dessen Realisierung der Bundestag am 5. April 2000 zugestimmt hatte, vgl. Michael Diers und Kasper König (Hg.), „Der Bevölkerung“. Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichstagsprojekt von Hans Haacke, Köln und Frankfurt/Main 2000. 37 Vgl. für einen komplexen Umgang mit Anekdoten und überhöhten Vorstellungen von der Macht des Künstlers, die Welt zu verändern, vor allem die Arbeiten von Gianni Motti: Heike Munder, Gianni Motti, Zürich 2005. 38 Vgl. etwa die Ausstellung „critique is not enough“. Künstlerische Initiativen für verantwortungsvolle gesellschaftliche Transformation, Shedhalle Zürich 2003; Nina Elter, „Der Pass der Weltbürger“, in: die tageszeitung, 8. Januar 2002, S. 23. 39 Schneider 2006 (wie Anm. 31). 40 Hanno Rauterberg, „Provokation im Quadrat. Hamburg will eine Kunstkaaba“, in: Die Zeit, 16. März 2006, Nr. 12; vgl. weitere Presseartikel zum Thema: Ute Vorkoeper, „Wer hat Angst vorm schwarzen Würfel? Andere Ansichten von Gregor Schneiders ‚Cube Hamburg 2007’ – anlässlich des Artikels ‚Provokation im Quadrat’ von Hanno Rauterberg“, in: Die Zeit, 21. März 2006; Matthias Gretzschel, „Nach dem Freitagsgebet in die Kunsthalle“, in: Hamburger Abendblatt, 10./11. Juni 2006, S. 6; Gareth Harris, „After Venice, now Berlin rejects an installation inspired by the holiest site in Islam“, in: The Art Newspaper 165, Januar 2006, S. 7.
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Walter Grasskamp
Die Welt als Museum? 1987 erschien im Merve-Verlag ein kleines Buch mit dem ebenso rätselhaften wie suggestiven Titel Die Welt als Museum. Es enthielt zwei aus dem Zusammenhang ge nommene Kapitel eines ansonsten nicht ins Deutsche übersetzten Buches des fran zösischen Soziologen Henri Pierre Jeudy, das 1985 in Paris unter dem Titel Parodies de l’auto-destruction erschienen war. In diesen beiden Kapiteln streift Jeudy zwar einschlägige Themen wie Ruinenästhetik, Denkmalschutz und das Museum, aber die im Merve-Titel angeführte Metapher bleibt unscharf und willkürlich, ja, sie kommt im Buch selbst kaum mehr vor. Dagegen wirkt die Diagnose eines um sich greifenden „museographischen Wahns“ ebenso drastisch wie verschwommen und die Kritik der Musealisierung insgesamt recht summarisch. Man legte das Büchlein mit dem Gefühl aus der Hand, einem interessanten Titel aufgesessen zu sein, dem es nicht hatte gerecht werden können. Dazu hätte es gehört, den Begriff der Musealisierung danach zu unterscheiden, ob es um die Erfolgsgeschichte der Institution gehen sollte, also um das Museum selbst, oder um Konservierungsprozesse außerhalb seiner institutionellen Zuständigkeit, die dem Denkmalschutz zuzurechnen sind. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Museumspantoffeln, aber sie werden nicht immer auseinandergehalten. Dann aber stellt sich, wie bei Jeudy, die milde Horrorvorstellung ein, es würden mächtige Geister aus dem Museum heraus die Alltagswelt mit ihren Giften durchseuchen, was ein wenig nach einem Drehbuchkonzept für The Return of the Mummy, Part Three klingt.
Kompensation Jeudy gehörte dann auch zu den Autoren des weitaus ergiebigeren Sammelbandes Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, den Wolfgang Zacharias 1990 herausgab. Mit diesem Buch war ein neuer Stand der Diskussion erreicht, und das nicht nur, weil hier auf Unterschiede geachtet wurde. Mit Hermann Lübbe hatte man einen Autor gewonnen, der bereits Anfang der 1980er Jahre die These aufgestellt hatte, dass Musealisierungsprozesse nicht, wie die Futuristen einst suggerierten, gegen die Moderne gerichtete Zeitfluchten eines feigen Vergangenheitskultes sind, des Passatismus, sondern zur Moderne gehören und sie erst auf Dauer ermöglicht haben. Die Welt als Museum? | 291
Lübbe hatte damit die aus der Münsteraner Ritter-Schule hervorgegangene, vor allem von Odo Marquard vertretene anthropologische Kompensationstheorie auf Museum und Denkmalschutz übertragen und plausibel machen können, dass gerade das Museum eine durch und durch moderne Institution ist, sozusagen das integrierte alter ego der Moderne. Auf deren Zerstörungspotential hatte es in der Tat als eine paradoxe, nämlich bewahrende Entsorgungsanstalt reagiert: Die schockhafte Destruktivität des Industriezeitalters musste die ausschnitthafte Konservierung der Alltagswelt provozieren und machte sie zugleich über die Innovationsgewinne finanzierbar. Dafür hätte man vor nicht allzu langer Zeit – ein aus der Mode gekommener Begriff – die Dialektik ins Spiel bringen können. Wenn man die Modernisierung verantwortlich macht für die kompensatorische Musealisierung, dann sind dafür insgesamt fünf Impulse benannt worden: Neben der Industrialisierung sind es der revolutionäre Vandalismus sowie die Reibungsverluste der Säkularisation gewesen, weiterhin der Krieg mit der durch den Luftkrieg gewachsenen Zerstörungsbedrohung für das einstige Hinterland der Front, die eine Ästhetisierung der Weltsicht provozierten. In ihrem Sinne versuchten die neu begründeten Disziplinen Kunst- und Baugeschichte, Objekte und Gebäude zu bewahren, von denen viele zuvor jedem historischen Wandel wie selbstverständlich zum Opfer gefallen waren – sei es einem Wandel der Herrschaft, wie in der französischen Revolution, oder sei es – in der Neuzeit kaum weniger verheerend – nur einem Wandel des Geschmacks. Als Gegenspieler solcher Zerstörungen ist der Denkmalschutz eine markante Reaktion der Moderne geblieben, seit im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen den Vertretern von Restaurierung und Konservierung in Eugène Viollet-le-Duc und John Ruskin seine Exponenten fand. Aber auch das Museum reagierte, als nunmehr bürgerliche Institution, auf das Innovationstempo der Industrialisierung, und zwar mit einer breiten Auffächerung seiner Zuständigkeiten in Spezialmuseen, auf die – was den falschen Eindruck einer hohen institutionellen Kontinuität beflügelte – auch die vorherigen Feudalsammlungen verteilt wurden. Als die Futuristen dann forderten, Florenz mit einer Mauer zu umgeben, um an deren Toren Eintritt zu erheben, machten sie den fünften Impuls des Denkmalschutzes und des Museumswachstums zum Thema, den Bildungstourismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Für ihn hat Linda Maria Pütter in ihrer Bonner Dissertation von 1998 über Bildungserlebnisse deutscher Schriftsteller in Italien zwischen 1770 und 1830 den passenden Titel gewählt: Reisen durchs Museum. Den literarisch induzierten Italientourismus des 19. Jahrhunderts kann man in der Tat als langen Abschiedsbesuch eines Bürgertums betrachten, das von der industriellen Zerstörung seiner heimischen Alltagswelt profitierte, aber andere dafür intakt bewahrt sehen wollte, und sei es auch nur für den Urlaub. Zunächst wurden italienische Städte solche territorialen Museen, deren Bevölkerung sich als folkloristische Staffage vorführen lassen musste, was den Furor des futuristischen Chefideologen Marinetti vielleicht rechtfertigt. 292 | Walter Grasskamp
Später und bis heute sind dann auch andere Regionen der Erde in die Reichweite dieser versuchten Stillstellung ihrer Alltagswelt geraten, deren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten aber selbst dem ungebildeten Touristen schnell offenkundig werden.
Erbstau War mit Lübbe gerade erst eine neue Perspektive in die Historiographie des Museumswesens eingebracht worden, so traf die Kompensationsthese aber auch schon auf Widerspruch: Man warf ihr vor, sie betrachte die Zerstörungsprozesse der Moderne als Schicksal und das Museum als eine Art Auffangstation, in der aus Müll Sinn generiert werden solle. Diese Kritik an der Verdinglichung der Erinnerung vertiefte Gottfried Fliedl mit seiner 1993 im Tagungsband Ganz aus dem Häuschen erschienenen prägnanten Betrachtung Das Museum als Haus – Die Welt als Museum. Dabei verlieh er der Metapher eine noch radikalere Note, wenn er sie als „das Platzen des Museums“ pointiert: Im Inneren sieht er das Museum vom „Erbstau“ bedroht, von der wachsenden Zahl von Gegenständen, die es in Empfang zu nehmen hat, aber kaum noch aufzunehmen vermag, weswegen es seinen wissenschaftlichen Gründungsaufgaben nicht mehr nachkommen kann, beständig wächst und endlos Ableger bildet (rhizomartig, wie man in den 1980er Jahren noch unfehlbar diskursiert und womöglich aus subversiver Perspektive positiv ausgelegt hätte). Die Museumsmitarbeiter, vor allem die pädagogischen, an die sich Fliedls Ausführungen wandten, würden darüber – eine in der Tat schöne Pointe – zu „Erbstauhelfern und Besichtigungsministranten“. Statt der Grenzen des Wachstums waren nunmehr die Grenzen des Bewahrens ins Blickfeld geraten. Sind diese Grenzen inzwischen erreicht? Museum und Denkmalschutz lassen sich als Rehabilitierung des Vorhandenen gegen den Innovationsdruck der Moderne verstehen und ihre gemeinsame Aufgabe als dessen Rettung, um es mit einem Begriff der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins zu formulieren, der inzwischen auch an Prominenz eingebüßt hat. Weiterhin ist ihnen gemeinsam, dass sie immer nur zu kurz greifen können, also das Ausschnitthafte jeder Rettung: Das Museum kann nicht alles sammeln, was als veraltet ausgeschieden wird, und die Agenten des Denkmalschutzes schaffen nur, was man im kriegszerstörten (und erst recht nachkriegszerstörten) Braunschweig, im Jargon eines um Worte nie verlegenen Städtemarketings, vor Jahren als „Traditionsinseln“ etikettierte. Wenn der Denkmalschutz außerhalb der Museen konservierende Kraft entfaltet, dann eben nicht, indem er die Welt in ein Museum verwandelt, sondern durch die Ausgrenzung von Zonen, in denen dann strenge Gesetze der Konservierung herrschen, während rundherum das Leben weitergeht und damit Zerstörung und Verfall als die letztlich geschichtsmächtigsten Kräfte. Kompensation kann ihren Anlass eben nie aus der Welt Die Welt als Museum? | 293
schaffen, sondern sich nur nebenan, ja eigentlich nur nebenbei, etablieren und auch nur stellenweise behaupten: als Verinselungsphänomen. Das gilt erst recht für die Schnittmenge aus Museum und Denkmalschutz, für das Freilichtmuseum. Allerdings wird diese Strategie unter dem Stichwort „Weltkulturerbe“ längst global propagiert. Man sollte das Museum aber nicht als die für diese partielle Stillstellung der Zeit im Außenraum schuldige Institution ansehen, weil der Denkmalschutz nicht einmal den beiden Grundprinzipien museumsinterner Arbeit folgen kann und will: Im Museum werden – was Krzysztof Pomian wohl als erster angesprochen hat – sowohl der Tauschwert wie der Gebrauchswert der Dinge aufgehoben, tendenziell für immer; im Denkmalschutz wird dagegen der Tauschwert nur beeinträchtigt – das ist als Spekulationserschwerung für Makler und Investoren ja auch sein Sinn gewesen; aber auch dieser kultursozialistische Gedanke hat sich in der Kritik der Musealisierung verflüchtigt. Der Gebrauchswert bleibt dagegen weitgehend erhalten – und das sogar relativ flexibel. Anders als der Denkmalschutz, der sich in die Alltagswelt einmischt, lebt das Museum ohnehin von der Distanz: Es etabliert eine (manchmal nur knappe und inzwischen immer knapper werdende) Zeitdifferenz zwischen seinen Beständen und seinen Kandidaten, aber eine große und geradezu demonstrative Differenz zum aktuellen Alltagsleben außerhalb seiner Mauern. Damit verkörpert es jene Alterität, die Hans Belting (Merkur August 2002) als konstitutiv für diese Institution angesehen hat, denn sie lebt von der Selbstausgrenzung aus dem Alltag, oder, wie man mit Wilhelm Dilthey zu sagen pflegt, aus der Lebenswelt, während der Denkmalschutz auf die moderne Anbindung seiner Traditionsinseln achten muss. Vor diesem Hintergrund ist sozusagen systemtheoretisch zu verstehen, was Boris Groys 1997 in seiner Logik der Sammlung behauptet hat, dass nämlich der museale Blick auf die Welt totalitär sei: „Das Museum wird dann zur Ideologie – und die Ideologien der Moderne können als unterschiedliche Übertragungen des musealen Blicks auf das Ganze der Welt interpretiert werden“.
Melancholie Die metaphorische Angelegenheit blieb allerdings kompliziert, weil Peter Sloterdijk 1989 in seinem Essay Museum: Schule des Befremdens (zuerst veröffentlicht im Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, jüngst auch in den von Peter Weibel herausgegebenen Band Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst aufgenommen) der Metapher eine besondere Wendung gegeben hatte, indem er sie zur Charakterisierung eines plötzlichen Weltfremdheitsanfalles benutzte: „Die Welt erscheint wie ein Film, bei dem die Tonspur, die Sinnspur abgeschaltet ist, so daß von ihr nichts übrigbleibt als das undurchdringliche und marktschreierische Gewimmel der Tatsachen, die von einem lächerlichen Anspruch auf Vorhandensein durchdrungen scheinen. […] Wenn nach der absurden Pause die 294 | Walter Grasskamp
Sprache zurückkehrt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß über einen solchen Zustand gesagt wird, die Welt habe ausgesehen, als sei sie im ganzen museal geworden. […] In den Ekstasen der Langeweile, des Sinnlosigkeitsgefühls und des Überdrusses wird die Welt selbst zur Weltausstellung – alles Bekannte und Sichtbare scheint wie in ein Weltmuseum versetzt, von dem wir uns nicht erinnern können, es betreten zu haben.“ Es ist bestechend, wie präzise und geradezu wörtlich Sloterdijk in dem genannten Essay, aus dem hier nur kurz zitiert worden ist, die Erfahrung der Melancholie getroffen hat, die in der Geschichte der Literatur wie der Kunst – statistisch wie ästhetisch gesehen – nicht gerade unterrepräsentiert ist und daher jedem, der sie erneut gestalten will, ein hohes Maß an Originalität abverlangt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob Sloterdijk zur Schilderung seines Weltfremdheitsanfalles das Museum zu Recht als Metapher heranzieht – ob das Bild von der Welt als Museum tatsächlich so belastbar ist, dass es der Melancholie als Stichwort dienen kann oder ob es dabei gleichsam als Institution falsch zitiert wird. Man könnte ja einwenden, dass das Museum von Beginn an, schon vor seiner Ausformung als öffentliche Institution, eine Einrichtung der Sinngebung war und damit ein, wenn nicht der Gegenspieler der Melancholie. Die herkömmliche Museumserfahrung ist jedenfalls die einer vorgegebenen Interpretation der Dinge: Mit seinen geistigen Gehhilfen der Objektbeschriftung, des Katalogs, der Führung oder des Kopfhörers operiert das öffentliche Museum heute sogar mehr denn je als eine sinnstiftende Institution, auch wenn über den Erfolg und die Hilfsmittel seiner Maßnahmen die Meinungen natürlich auseinandergehen. Als Institution der Sinnstiftung ließe sich das Museum jedenfalls kaum heranziehen, um den Zustand einer Weltentfremdung zu veranschaulichen, die maßgeblich als Sinnverlust erfahren wird. Wenn man also die Welt als melancholisches Museum ausgeben will, dann könnte es sich nur um eines handeln, in dem man vergessen hat, einen handlichen Führer zu verfassen oder Kopfhörer bereitzustellen, es also – um mit Sloterdijk zu sprechen – unterlassen hat, eine Sinnspur anzulegen, die nun fehlt wie im Film die Tonspur. Ist das Museum letztlich untauglich, um als Metapher für eine Welt zu dienen, aus der es sich beharrlich ausgrenzt, so geht das poetologisch natürlich in Ordnung, denn es ist ja gerade die Alterität der Elemente, welche die Metapher funkeln lässt, jener Rest von Unvereinbarkeit, von dem schon die Alltagsweisheit mit dem Spruch zu berichten weiß, dass eben jeder Vergleich hinke. Was freilich nicht ausschließt, dass das Museum auch dem Melancholiker einiges zu geben hat. Denn es ist eine Institution auf der Grenze des Verlustes und der Vergänglichkeit, und damit für diese existenzielle Verstimmung höchst qualifiziert. Es ist jedoch, wenn das Paradox erlaubt ist, ein Ort der heiteren Melancholie, denn hier begegnen wir dem Vergänglichen ausnahmsweise in Form der Nachhaltigkeit, hier wird das sonst nur GreifDie Welt als Museum? | 295
bare begreifbar gemacht, das Ererbte in der Anschauung halbwegs gerecht geteilt und das ansonsten überwiegend Verlorene in sinnlicher Gestalt gegenwärtig – das ist mehr, als alle Kulturen der Welt zuwege gebracht haben, denen die Moderne ihre Museen gewidmet hat – und denen sie genau darin überlegen ist. Daher erstaunt der skeptische Zug, den das Thema um den Beginn der 1990er Jahre angenommen hat, als man das Museum insgesamt in Frage stellte, also den Sinn seiner Sinnstiftungen. Man wäre versucht, dieses Gefühl des Überdrusses einer saturierten Postmoderne zuzurechnen, aber es artikulierte sich bekanntlich schon am Beginn der radikalen Moderne. Schon die Futuristen hatten ja, in ihrer operettenhaft aufgekratzten Kritik am Beharrungsvermögen des Historischen, versucht, das Kind mit dem Bad auszugießen und ihm gleich auch noch die Wanne hinterher zu werfen. Paul Valéry argumentierte dann zwar für die erhaltenswerten Objekte, die er allerdings in der versammelten Vielzahl des Museums untergehen sah. So ist ein museumsfeindlicher Akzent charakteristisch geblieben für die in dieser Hinsicht falsche Selbstdarstellung der fleißig museumsgründenden Moderne. Postmodern erschien die neue Museumsmelancholie eher darin, dass sie einem verschleppten Dilemma der Moderne auf die Schliche gekommen war: Mit ihrer genuinen Kompensationsgeste war die Moderne längst in eine selbstgestellte Falle geraten – in die eines an jede Sinngrenze stoßenden Überflusses der Museumsbestände sowie an die Grenzen der Historisierbarkeit der Lebenswelt in Schutzzonen. Zwar hatte der Massentourismus als übergreifende Kulturpraxis beiden Spielarten der Musealisierung einen neuen, nämlich ökonomischen Sinn gegeben, aber das machte für manchen Kulturanthropologen die neuen Massenkulte der Besichtigung als Kommerzialisierung erst recht fragwürdig. Wenn sich aber ein Missverständnis wie das von der Welt als Museum so lange hält, muss man auch danach fragen, ob ein legitimes Anliegen nur irreführend vorgetragen wird. So darf man im Salon-Vandalismus der Futuristen wie in der institutionsschonenden Wendung, die Fliedl dem Thema mit dem Schlusssatz „Raus aus dem Museum!“ gab, einen durchaus plausiblen Verdacht gegen das Museum vermuten: Wenn man die Kultur einer Gesellschaft als das lebensnotwendige Medium ihrer Selbstverständigung über Veränderungen der Lebenswelt begreift – zumal über problematische von historischem Ausmaß – dann müsste der bildungsselige Museums-Rückblick nicht nur in den Verdacht des Eskapismus geraten, sondern auch in den einer Lähmung der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung. Ob bereits die Museen des Historismus einer solchen Ablenkung der Aufmerksamkeit von den Problemen der Gegenwart Vorschub leisteten, wäre freilich erst noch zu zeigen und zudem gegen die Vermutung zu vertreten, dass es gerade ihre museale Hinwendung zur Vergangenheit war, in der sich die Moderne Rechenschaft darüber abzulegen begann, wie hoch der Preis der Industrialisierung und des allgemeinen Innovationstempos sein würde. 296 | Walter Grasskamp
Erst recht entbehrt heute jeder Argwohn, man könnte sich in den Museen von Veränderungen der Lebenswelt ablenken lassen, die darüber unbegriffen bleiben müssten, der Grundlage. Er ist angesichts der modernen Medienkonkurrenz, in der das Museum steht, überhaupt nicht mehr plausibel – und war es übrigens schon zu Zeiten der Futuristen nicht: Anders als Luthers Thesen, die noch am Kirchentor angeschlagen werden mussten, um ihre öffentliche Wirkung zu finden, hing das museumsfeindliche Manifest der Futuristen nicht an Museumstoren, sondern stand schon in der Zeitung – als Medium der gesellschaftlichen Selbstverständigung über Veränderungen der Lebenswelt hatte das Museum längst Konkurrenz bekommen, nur deshalb konnten die Futuristen es so spektakulär verabschieden.
Weltmetaphern Sloterdijks Vereinnahmung des Museums für seine suggestive Metaphernkaskade und die Prominenz dieser Metapher überhaupt bauen nicht nur auf eine poetische Aufhebung der Alterität, sondern nutzen auch jene Verführungskraft, mit der klassische Weltmetaphern funktionieren. Für diese ist die Vorstellung von der Welt als Buch vermutlich die älteste und faszinierendste, der Hans Blumenberg in seinem Buch über Die Lesbarkeit der Welt 1981 sozusagen die Leviten gelesen hat. In seiner Rolle als pars pro toto ist das Buch freilich nicht singulär geblieben; zuletzt hatte sich die gigantische Rechenmaschine empfohlen, deren (Mit-)Erfinder Konrad Zuse vor vierzig Jahren auch schon der erste gewesen sein soll, der die Metapher von der Welt als Computer prägte. Literarisch hat dieser Vorstellung Douglas Adams mit seinem multimedialen Produkt The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (Buchfassung 1978, deutsch Per Anhalter durch die Galaxis, 1981) eine originelle Geltung verschafft: Diesem HörspielRoman-Film zufolge ist die Erde als ein Computer geschaffen worden, der eine überaus präzise Antwort auf eine weltbewegende Frage gibt, die aber leider in Vergessenheit geraten ist und damit die Antwort sinnlos werden ließ. Eher altmodisch nimmt sich dagegen die Vorstellung von der Welt als Uhr aus, die sich aus der Regelmäßigkeit des kosmischen und irdischen Geschehens herleitete und sich, als Emblem neuzeitlichen Denkens, in regelrechten Weltuhrwerken realisiert hat. Sie ist die sozusagen feinmechanische Variante einer allgemeineren Vorstellung, die in der Welt einen sich gesetzmäßig selbst regulierenden Apparat und damit, in einer übergreifenden Tradition, die Welt als Maschine sieht. Leiden die Metaphern von der Welt als Maschine und der Welt als Uhr daran, dass sie dem Sozialen keinen Raum geben, so hat eine andere, noch heute sehr beliebte Metapher diesen Mangel mehr als ausgeglichen, William Shakespeares berühmte Gleichsetzung aus Was ihr wollt, in der die ganze Welt als Bühne erscheint, womit er einen Gedanken aus Die Welt als Museum? | 297
dem populären Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam aufgegriffen und der Soziologie eine bis heute methodisch ergiebige Metapher für ihre Rollentheorie geliefert hat. Schließlich hat Gustav René Hocke 1957 mit dem Titel seines berühmten Buches über den Manierismus, Die Welt als Labyrinth, eine Vorstellung aufgegriffen, die es – vielleicht mehr als die von der Welt als Museum – verdienen würde, der Melancholie als Emblem zu dienen. Mit der Welt als Buch, als Uhr, als Maschine, als Bühne, als Labyrinth und schließlich als Computer sind, in chronologischer Reihenfolge, sechs der bedeutenden Metaphern genannt, die in unserer Kultur zur Veranschaulichung des komplexen und komplizierteren Weltgeschehens dienen. So fungieren sie als Bezugsrahmen, durch den man die Welt betrachtet, was ja auch wiederum nur eine Metapher ist und die von Blumenberg behauptete Unausweichlichkeit dieser Denkfigur ein weiteres Mal bekräftigt. Ausgeblendet sind dabei all die geographischen Varianten, welche die Welt als Scheibe, Kugel, Birne oder Sphäre zu verstehen versuchen, und jüngere Versuche, wie etwa der, die Welt als Supermarkt auszugeben, womit Michel Houellebecq aufwartete, oder die Welt als T-Shirt zu betrachten, wie der Titel eines Buches von Beat Wyss Zur Ästhetik und Geschichte der Medien vorschlägt, der nicht weniger rätselhaft klingt als eine Formulierung, die einst Günter Anders zum selben Thema verwendet hat: Die Welt als Phantom und Matrize. Noch rätselhafter freilich ist die Formulierung von Hans-Peter Dürr, der einem Vortrag über Naturwissenschaft und Mystik den Titel Die Welt als Knäuel in der Hosentasche gab – der Kernphysiker Dürr, wohlgemerkt, nicht der gleichnamige Ethnologe. Ähnlich gelagerte Varianten solcher Weltmetaphern sind das globale Dorf, in dem Marshall McLuhan zu leben glaubte, weil er als Städter keine Ahnung hatte, wie ein Dorf funktioniert; das Raumschiff Erde, mit dem Buckminster Fuller einst gekonnt Aeronautik und Globalbewusstsein überblendete oder der Weltinnenraum des Kapitals im wiederum sphärischen Zugriff Sloterdijks. Den bedeutenderen Metaphern ist gemeinsam, dass pars pro toto der jeweils letzte Stand der Dinge – Buch, Maschine, Uhr, Bühne, Raumschiff oder Computer –, also bereits relativ komplexe Produkte, dazu dienen sollten, metaphorisch die noch höhere Komplexität der Welt zu vertreten und anschaulich werden zu lassen, indem man sie auf die Dimensionen einzelner Produkte oder Instanzen der Lebenswelt herunterzubrechen, also – im Sinne der Systemtheorie von Niklas Luhmann – zu reduzieren versuchte. Diese Metaphern funktionieren, so lange man ihren spielerischen Charakter im Blick behält, und unter ihnen erweist sich die von der Welt als Museum als die womöglich jüngste, zugleich aber auch als eine eher erfolglose; insgesamt lässt sich nur eine Handvoll exponierter Belege ausmachen. Ernst Robert Curtius, dem wir den Topos vom Topos verdanken, hätte vehement in Frage gestellt, ob das überhaupt für einen ordentlichen Topos reicht. Um die Metapher ist es jedenfalls stiller geworden; sie hat sich nicht etabliert, aus guten Gründen. 298 | Walter Grasskamp
Photographie Man kann letztlich auch nur eine Beziehung erkennen, in der die Rede von der Welt als Museum rundherum als zutreffend erscheint, und das ist die Photographie. Spätestens seit den Paris-Photographien von Eugène Atget gibt es die Welt tatsächlich als Museum, nämlich in der chemisch festgehaltenen Starre eines Augenblicks, der prinzipiell auf jedes Ensemble fallen kann, das sich anschließend verändern mag, so viel es will – im Moment der Photographie wird es für lange Zeit konserviert wie unter einem visuellen Denkmalschutz. Wenn Norbert Kricke in den tableaux pièges von Daniel Spoerri einst die Erfindung einer „dreidimensionalen Photographie“ bewundert hat, dann kann man im Denkmalschutz entsprechend die dreidimensionale Version der Architekturphotographie erkennen, die ja oft genug die einzige Quelle darstellt (wobei im Denkmalschutz freilich eher die neo-historistische Collage überwiegt). Ich stimme daher der Formulierung Susan Sontags aus ihrem 1977 erschienenen Buch On Photography „Wer Photographien sammelt, sammelt die Welt“ nicht zu, denn schon wer photographiert, sammelt die Welt. Dafür kann vor allem, auch wenn es anders benannt war, das aus der 1898 von Albert Kahn gegründeten Stiftung Bourses Autour du Monde hervorgegangene Projekt Archiv des Planeten als Beispiel gelten, für das er im Jahr 1908 Photographen um die Welt reisen ließ und dem die BBC jüngst eine überaus eindrucksvolle Fernsehserie gewidmet hat. Die photographische Welterfassung geschieht freilich, wie im Denkmalschutz, insulär, aber extensiv und stets in verschiedenen Sichtweisen, unter denen sich Eugène Atget am Pittoresken orientierte (was Walter Benjamin dazu verführte, Baudelaire sozusagen durch Atgets Brille zu lesen), Bernd und Hilla Becher am Dokumentarischen, das gleichwohl eine eigene Ästhetik entwickelte, und die street photography am Beiläufigen, das freilich manchmal die stärkste Erinnerungskraft evoziert. Stets aber wird die Welt unter der Hand des Photographen zum Papiermuseum, neuerdings auch auf dem Bildschirm. Die Leinwand war ohnehin schon früh ein Ort, an dem visuelle Musealisierungsprozesse zu finden waren. Darauf hat Birgit Flos im Katalog der Blickle Stiftung Do you really want it that much? – More! von 1999 mit dem Hinweis aufmerksam gemacht, dass ein Film „urbane Territorien zu Stadtmuseen“ werden lassen kann, wenn er außerhalb von Kulissen oder Studios mitten in lebendigen Städten gedreht wird, die sich anschließend ebenso schnell und gründlich veränderten wie die photographierten, und den Film darüber zum musealen Medium werden lassen, zur Versiegelten Zeit, um die gelungene Metapher des Filmregisseurs Andrei Tarkowski zu zitieren – man denke nur an das Wien in Carol Reeds Der dritte Mann von 1949, an das Berlin und Rom in den Nachkriegsfilmen Roberto Rossellinis oder an das beiläufige Auftauchen der New Yorker Twin Towers in vor 2001 entstandenen New York-Filmen. Die Welt als Museum? | 299
Noch in einer weiteren, viel tiefer greifenden Art steht die Photographie in Beziehung zum Museum, weil sie – seit der Pionierarbeit von André Malraux – die Institution gleichsam unterlaufen hat, um mit einem imaginären Museum ein Museum ohne Wände zu etablieren, das freilich nicht die Welt als Museum ausgeben möchte, sondern das Museum nur in ein anderes Medium übersetzt, in das Buch – und inzwischen sogar in recht viele Bücher. Diese Entgrenzung des Museums ist keine metaphorische, sondern eine mediale, und gehört daher, trotz ihrer enormen Bedeutung für das Geschäft des Museums, nur am Rande zum Thema. Allerdings sollte Malraux vielleicht einmal wieder zum Thema werden, denn weder ist noch in Erinnerung, wie sozusagen mäandrierend sich sein Thema entwickelt und über verschiedene Buchausgaben verändert hat, noch ist die durchaus kritische Rezeption präsent, die es in Frankreich erfuhr und von der das 2007 erschienene Buch Museumskrankheit eine Ahnung gibt, das zwei Essays von Maurice Blanchot aus den fünfziger Jahren ins Deutsche überträgt. Dafür bietet das gerade bei Kadmos erschienene Buch Weltkunst. Formpsychologie und Kulturanthropologie in André Malraux’ Kunstschriften von Claudia Bahmer eine ausgezeichnete Grundlage. Freilich gibt es unter den vielen Photographien von Museumsobjekten, die ihren Weg in ein Buch gefunden haben, auch solche (und zum Glück auch Filme) davon, wie diese Objekte einst arrangiert worden sind, und die wachsende Beliebtheit solcher Installationsaufnahmen geben auch dem Thema der Alterität des Museums eine ganz neue Wendung: Wie die Photographie die Welt in verschiedenen Bildsprachen dokumentiert hat – in der des Pittoresken wie der des Dämonischen, Surrealen oder Sachlichen – so haben Museen (und dafür sind Installationsaufnahmen manchmal recht verwunderliche Zeugnisse) ihre Objekte in verschiedenen Zusammenhängen und unterschiedlichem Mobiliar gezeigt. Damit ereilt das Thema der Alterität das Museum als gleichsam internes Motiv, und das nicht nur in der historischen Installationsphotographie, sondern etwa auch in dem aktuellen Plan, im Wiener Kunsthistorischen Museum jenen Kontext der Kunst- und Wunderkammer wieder erstehen zu lassen, aus dem zahllose Exponate entweder im modernen Ausstellungskontext des Museums aufgegangen oder im Depot untergegangen waren. Damit geht die Erkenntnis einher, dass es also auch eine interne Musealisierung geben kann, nämlich die des Museums selbst, das auf Stufen seiner eigenen Genese zurückkehrt – sei es in ausgestellten Installationsphotographien oder historisierenden Installationen. Sie beweisen nebenbei, dass nicht einmal im Museum die Zeit wirklich still steht, womit eine weitere Voraussetzung seiner Metaphorisierbarkeit entfiele. Unter dem Zeitraffer einer nur hundertjährigen Betrachtung wäre nicht nur an den Wänden, nicht nur in Inventar und Mobiliar, sondern auch und gerade im internen Verkehr mit dem Depot in den meisten Häusern eine Unruhe auszumachen, die den Eindruck einer Stillstellung der Zeit widerlegte. Dieser Vortrag wurde für das Kolloquium geschrieben und zuerst im Novemberheft 2009 des Merkur veröffentlicht.
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Die Autoren Oskar Bätschmann (Jahrgang 1943), em. Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Bern. Seit 2009 Professorial Fellow am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich. Sein besonderes Interesse gilt Methodenfragen, der neuzeitlichen Malerei und der Geschichte des modernen Künstlers. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern (1984, 62009), Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem (dt. und engl. 1997) sowie weitere Publikationen zu u. a. Leon Battista Alberti, Giovanni Bellini, Hans Holbein, Nicolas Poussin, Edouard Manet, Ferdinand Hodler und Ilja Kabakov. Zur Zeit bereitet er gemeinsam mit Tristan Weddigen eine kommentierte Ausgabe der Lezzioni Benedetto Varchis vor. Hans Dickel (Jahrgang 1956), Professor für Kunstgeschichte an der Universität ErlangenNürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Autor von u. a. Deutsche Zeichenbücher des Barock. Eine Studie zur Geschichte der Künstlerausbildung (1987), Claes Oldenburg. Lipstick in Yale (1999), Kunst als zweite Natur. Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst (2006), Künstlerbücher mit Photographie seit 1960 (2008). Mitherausgeber von Arkadische Welten. Pablo Picasso und die Kunst des Klassizismus (Ausst. Kat. Weimar 2003), Zeichnen vor Dürer. Die Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Erlangen (2009). Dorothea Diemer (Jahrgang 1950), Privatdozentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Augsburg. Ihr besonderes Interesse gilt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skulptur, der Hofkunst und der europäischen Sammlungsgeschichte. Autorin zahlreicher Buchpublikationen und Aufsätze, darunter Hubert Gerhard und Carlo di Cesare del Palagio. Bronzeplastiker der Spätrenaissance (2004), Mitherausgeberin von Johann Baptist Fickler. Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598 (2004) und Die Münchner Kunstkammer (2008). Peter Diemer (Jahrgang 1945), von 1980 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Kunstgeschichte, verantwortlicher Redakteur der Kunstchronik. Zahlreiche Publikationen zu Kunst und Geschichte insbesondere des Mittelalters und der frühen Neuzeit, zu Hofkunst und zur Münchner Kunstkammer. Mitherausgeber von Johann Baptist Fickler. Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598 (2004) und Die Münchner Kunstkammer (2008). Carl Goldstein (Jahrgang 1938), Professor für Kunstgeschichte an der University of North Carolina at Greensboro (USA). Seine Forschungsschwerpunkte sind die französische und Die Autoren | 301
italienische Kunst des 16. bis 18. Jahrhunderts und die Geschichte der Kunstakademien. Autor von Abraham Bosse. Painting and theory in the French Academy of Painting and Sculpture 1648–1683 (1966), Visual fact over verbal fiction. A study of the Carracci and the criticism, theory, and practice of art in Renaissance and baroque Italy (1988), Teaching art. Academies and schools from Vasari to Albers (1996), The Purposes of Print: Abraham Bosse and Print Culture in early Modern France (im Druck). Walter Grasskamp (Jahrgang 1950), Ordinarius für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in München. Veröffentlichungen zu moderner und zeitgenössischer Kunst, zur Museumsgeschichte, Kunst im öffentlichen Raum, Kunstökonomie, Konsumtheorie und Popkultur, darunter Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums (1981), Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit (1989, 21994), Kunst und Geld. Szenen einer Mischehe (1998), Konsumglück. Die Ware Erlösung (2000), Ist die Moderne eine Epoche? Kunst als Modell (2002), Ein Urlaubstag im Kunstbetrieb. Bilder und Nachbilder (2010). Herausgeber von Unerwünschte Monumente. Moderne Kunst im Stadtraum (1989, 32000), Sonderbare Museumsbesuche. Von Goethe bis Gernhardt (2006). Peter Hecht (Jahrgang 1951), Professor für Kunstgeschichte an der Universität Utrecht. Den Schwerpunkt seiner Forschung bildet die niederländische Kunst des 17. bis 19. Jahrhunderts. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen, darunter De Hollandse fijnschilders (Ausst. Kat. Amsterdam 1989) und Openbaar kunstbezit: met steun van de Vereniging Rembrandt, eine Geschichte der öffentlichen Kunstsammlungen in Holland von 1883 bis 2008 (erschienen anlässlich einer Ausstellung im Van Gogh Museum Amsterdam 2008/09). Mitherausgeber der Fachzeitschrift Simiolus. Roland Kanz (Jahrgang 1961), Professor für allgemeine Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. die deutsche und italienische Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts, die Kunsttheorie der Neuzeit sowie die Brüder Casanova. Autor von u. a. Dichter und Denker im Porträt. Spurengäge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts (1993), Die Kunst des Cappriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock (2002), Giovanni Battista Casanova (1730–1795). Eine Künstlerkarriere in Rom und Dresden (2008), Die Brüder Casanova. Künstler und Abenteurer (2011). Herausgeber von Giovanni Battista Casanova: Theorie der Malerei (2008), Fachherausgeber Kunst der Enzyklopädie der Neuzeit (2005 ff.). Verena Krieger (Jahrgang 1961), Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien, ehem. Mitglied des deutschen Bundestags für „Die Grünen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie insbesondere der modernen und zeitgenössischen Kunst. Veröffentlichungen u. a. Kunst als Neuschöpfung der 302 | Die Autoren
Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne (2006), Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen (2007), (Mit-) Herausgeberin und Co-Autorin von Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft (2008), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas (2010) und Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung (2011). Volker Plagemann (Jahrgang 1938), bis 2003 Senatsdirektor der Kulturbehörde in Hamburg, zuvor von 1973 bis 1980 Leiter der Kulturbehörde in Bremen, ehem. Vorsitzender des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages, ehem. Mitglied des Kulturausschusses der Kultusministerkonferenz. Habilitation 1973 an der Technischen Hochschule Aachen, 1975 an der Universität Hamburg. Seit 1975 Privatdozent an der Universität Hamburg, seit 2001 Honorarprofessor ebendort. Zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Kunst- und Kulturgeschichte der Städte Hamburg und Bremen, zu Kunst- und Kulturpolitik, zur Museumsgeschichte sowie zum Thema der Künstlerreise. Krzysztof Pomian (Jahrgang 1934), Wissenschaftlicher Leiter des Musée de l’Europe, Brüssel. Nach Studium und Promotion in Warschau ging er 1973 nach Frankreich, wo er an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris tätig war. Von 1999 bis 2006 war er Professor an der Nikolaus Kopernikus-Universität, Torun (Polen). Er hat die Ehrendoktorwürde der Maria Skłodowska-Universität Lublin (Polen) und der Universität Genf (Schweiz) inne. Neben der Geschichte Europas und einzelner europäischer Staaten gilt sein besonderes Interesse der Geschichte des Sammelns und des Museums. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören Collectionneurs, amateurs et curieux: Paris, Venise XVIe–XVIIIe siècle (1987, dt. Teilausgabe Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, 1988), L’Europe et ses nations (1990, dt. Europa und seine Nationen, 1992), Des saintes reliques à l’art moderne. Venise – Chicago, XIIe– XXème siècle (2003), Ibn Khaldûn au prisme de l’Occident (2006) und (mit Elie Barnavi), La révolution européenne 1945–2007 (2008). Rudolf Preimesberger (Jahrgang 1936), Emeritus für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien. Zahlreiche Publikationen insbesondere zur Kunst und Kunsttheorie Italiens der Renaissance und des Barock, zu Bernini, Algardi, Raffael, Caravaggio, zu St. Peter und zum Kunstpatronat der Päpste des 17. Jahrhunderts. Sein Interesse gilt insbesondere methodischen Problemen, dem Verhältnis von Wort und Bild, der historischen Kontextualisierung des Kunstwerks, der Mimesis in Malerei und Skulptur, dem Wettstreit der Künste und der Theorie der Skulptur.
Die Autoren | 303
Hans-Joachim Raupp (Jahrgang 1949), Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Zahlreiche Publikationen insbesondere zur niederländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, darunter Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert (1984), Bauernsatiren. Entstehung und Entwicklung des bäuerlichen Genres in der deutschen und niederländischen Kunst, ca. 1470–1570 (1986), Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche-Sammlung (5 Bde., 1995–2010). Peter J. Schneemann (Jahrgang 1964), Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Gegenwart an der Universität Bern. 1993 Dissertation über Modelle und Funktionen der französischen Historienmalerei 1747–1789; 2000 Habilitation mit einer Arbeit über die Historiographie des Abstrakten Expressionismus. Gastprofessur am Nova Scotia College of Art and Design (NSCAD), Sekretär des Comité International d’Histoire de l’Art (CIHA), Präsident der Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz (VKKS), Leiter des SNF-Forschungsprojekts Konstellationen der Kunstbetrachtung in der Moderne und Gegenwart: Wirkungsutopien, Steuerungsstrategien, Spielräume. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Paradigmen der Kunstbetrachtung, Kunstausbildung, Archivprozesse und Display. Aktuelle Publikationen u. a. Kunstausbildung. Aneignung und Vermittlung künstlerischer Kompetenz (2008) und Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im „Bild-Diskurs“ (Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag, 2008). Karl Schütz (Jahrgang 1945), von 1990 bis 2010 Direktor der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien, an der er seit 1972 tätig war. Zahlreiche Publikationen und Ausstellungen, u. a. zu Peter Paul Rubens, Pieter Breughel d. Ä., Albrecht Dürer, der Malerei Antwerpens, Lucas Cranach, zur Interieurmalerei und zur Geschichte und Sammlung der Wiener Gemäldegalerie. Peter Springer (Jahrgang 1944), Emeritus für Kunstgeschichte an der Universität Oldenburg. Zahlreiche Publikationen zur Theorie und Geschichte der bildenden Kunst, darunter zuletzt Hand and Head: Ernst Ludwig Kirchner’s Self-Portrait as Soldier (2002, dt. Ausg. 2004, japanische Ausg. 2010), Das verkehrte Bild: Inversion als bildnerische Strategie (2004), Voyeurismus in der Kunst (2008), Denkmal und Gegendenkmal (2009). Franz Zelger (Jahrgang 1941), Emeritus für Kunstgeschichte an der Universität Zürich, bis 1983 Konservator am Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten in Winterthur. Ausstellungen und Publikationen zur schweizerischen und europäischen Malerei des 17. bis 20. Jahrhunderts, 2004/05 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2007 und 2008 Gastprofessor am Centre Allemand d’Histoire de l’Art in Paris, 2009 Fellow am Collegium Budapest.
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Abbildungsnachweise Raupp Abb. 1–5: Bildarchiv des Kunsthistorischen Instituts der Universität Bonn
Dickel Abb. 1, 5, 6: Aichelburg 1987 (wie Anm. 2), S. 135, 196 f., 192 f.; Abb. 2, 3, 7: Mannheim 1992 (wie Anm. 5), S. 20, 121, 114; Abb. 4, 8, 9, 10: New York 2006 (wie Anm. 4), S. 60, 94, 95, 97; Abb. 11: Werner Hofmann, Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, München 2003, S. 179
Zelger Abb. 1–10: Archiv des Autors
Springer Abb. 1: New York 1998/99 (wie Anm. 1), Abb. S. 14; Abb. 2: Bois et al. 1994 (wie Anm. 5); Abb. 3, 4: L’atelier Brancusi 1997 (wie Anm. 17), Abb. S. 37, 98; Abb. 5, 6: Cappock 2005 (wie Anm. 19), Abb. 3, 18; Abb. 7, 10: Autor; Abb. 8: Santarelli 2006 (wie Anm. 46), Abb. 6; Abb. 9: Pedrocco 2003 (wie Anm. 49); Abb. 11: Jodidio 2007 (wie Anm. 63), Abb. S. 202
Plagemann Abb. 1: ; Abb. 2: Stephan Kemperdick, Rogier van der Weyden, Köln 1999, Abb. 25; Abb. 3: Falk 1968 (wie Anm. 10), Abb. 36; Abb. 4, 10: Rotterdam/ Brügge 1965 (wie Anm. 11), Nr. 9, S. 86; Abb. 5: Grosshans 1980 (wie Anm. 12); Abb. 6: Müller Hofstede 1971 (wie Anm. 12), Abb. 11; Abb. 7, 9: Pevsner 1973 (wie Anm. 14), Fig. 1, Abb. 6; Abb. 8: München/Köln 2002 (wie Anm. 9), S. 319; Abb. 11: Hülsen/Egger 1913 (wie Anm. 22); Abb. 12: Anton Henze, Kunibert Bering und Gerhard Wiedemann (Hg.), Kunstführer Rom, Stuttgart 1994, S. 199 Abbildungsnachweise | 305
Bätschmann Abb. 1, 2: Florenz, Kunsthistorisches Institut (Max-Planck-Institut); Abb. 3, 6: Ernst Steinmann, Michelangelo im Spiegel seiner Zeit, Leipzig 1930, Abb. XIV, XV; Abb. 4, 5: Archiv des Autors; Abb. 7: Sion, Mediathek; Abb. 8, 9: Zürich, Zentralbibliothek
Goldstein All photos: Dan Smith
Preimesberger Abb. 1–6: Bildarchiv Kunsthistorisches Institut der Freien Universität Berlin
Schütz Abb. 1–6: Kunsthistorisches Museum Wien
Kanz Abb. 1, 2: Marx 2009 (wie Anm. 5), S. 456, 457; Abb. 3: München/Köln 2002 (wie Anm. 20), S. 335; Abb. 4: Fröhlich 2006 (wie Anm. 17); Abb. 5, 7: Kulturhistorisches Museum Görlitz; Abb. 6: Roettgen 1999–2003, Bd. 2 (wie Anm. 11), S. 21; Abb. 8: Richard Hüttel, Das Evangelium des Schönen, München 2008, S. 36
Diemer Abb. 1: Hamburg/New York/Rom 2004/05 (wie Anm. 4), S. 57; Abb. 2: Giambologna, gli dei, gli eroi, Ausst. Kat. Museo Nazionale del Bargello, Florenz 2006, S. 212; Abb. 3: Heiner Borggrefe, Schloss Bückeburg, Hannover 2008, S. 49; Abb. 4, 5: Dorothea Diemer 2004 (wie Anm. 9), Bd. 2, Taf. 307, Bd. 1, S. 279; Abb. 6: Innsbruck 2001 (wie Anm. 10), S. 115; Abb. 7, 8: Renaissance master bronzes from the collection of the Kunsthistorisches Museum Vienna, Ausst. Kat. National Gallery of Art, Washington, D. C.; Los Angeles County Museum; Art Institute, Chicago 1986, S. 121, 146; Abb. 9, 17, 18: Photo Bayerische Staats306 | Abbildungsnachweise
bibliothek, München; Abb. 10, 11, 12, 13, 16: Photo Bayerisches Nationalmuseum, München; Abb. 14: Der Mohrenkopfpokal von Christoph Jamnitzer, Ausst. Kat. Bayerisches Nationalmuseum, München 2002; Abb. 15: Photo Ägyptische Staatssammlung, München; Abb. 19, 20: Wien 1991 (wie Anm. 36), S. 60, 61; Abb. 21, 23: Wien 1994 (wie Anm. 34), Abb. 260, 316; Abb. 22: Antonio Paolucci, I Gonzaga e l’antico. Percorso di Palazzo Ducale di Mantova, Rom 1988, S. 22; Abb. 24: Mantua 2002 (wie Anm. 43), S. 55; Abb. 25, 27 a, b, c, 28: Amsterdam/Stockholm/Los Angeles 1998–2000 (wie Anm. 51), S. 145, 160, 173, 177, 180; Abb. 26: Archiv der Autoren
Pomian Fig 1: © 2010 Rheinisches Bildarchiv, Köln
Hecht Abb. 1–13: Archiv des Autors
Krieger Abb. 1: Ursula Zeller (Hg.), Die deutschen Beiträge zur Biennale Venedig 1895–2007, Köln 2007, S. 297; Abb. 2: Düsseldorf 2007 (wie Anm. 8); Abb. 3: Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch, hg. von Hubertus Gaßner, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle 2007, S. 189; Abb. 4: Ludwig Mies van der Rohe & Lilly Reich. Möbel und Räume, hg. von Christiane Lange, Ausst. Kat. Haus Lange Krefeld 2007, S. 33; Abb. 5, 6: Kunstforum international 2008 (wie Anm. 7), S. 243, 240; Abb. 7: Oliviero Toscani al muro. L’arte visiva nella comunicatione pubblicitaria di United colors of Benetton, Ausst. Kat. Museo Nazionale delle Arti e Tradizioni Popolari, Rom 1999; Abb. 8: Körperwelten. Die Faszination des Echten. Ein Führer durch die Ausstellung, hg. vom Institut für Plastination Heidelberg, 52003, S. 73; Abb. 9: Bill Viola, hg. von Kira Perov et al., Ausst. Kat. Los Angeles County Museum et al. 1997–2000, Abb. 51; Abb. 10: Kunstforum international 2007 (wie Anm. 36), S. 96
Schneemann Abb. 1: © Courtesy of the Artist; Abb. 2: Photo des Autors; Abb. 3, 4: Photo des Autors, © 2009 The Museum of Modern Art, New York, Courtesy of the Artist, Luhring Abbildungsnachweise | 307
Augustine, New York und Hauser & Wirth; Abb. 5: Coosje van Bruggen, Bruce Nauman, New York 1988, S. 35, © ProLitteris, Zürich, 2011; Abb. 6: Photo des Autors, © Courtesy of the Artist; Abb. 7: © ME contemporary, CPH; Abb. 8: © Courtesy of the Artist
308 | Abbildungsnachweise
EKKEHARD MAI (HG.)
HOLL AND NACH REMBR ANDT ZUR NIEDERL ÄNDISCHEN KUNST ZWISCHEN 1670 UND 1750
Bis heute steht die Kunst der nördlichen Niederlande im Zeichen ihres »Goldenen Zeitalters« – einer Epoche, in der das Land trotz kriegerischer Auseinandersetzungen eine enorme politische, wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebte. Frans Hals, Jan Vermeer und Rembrandt gelten als deren künstlerische Höhepunkte. Was aber kam danach? Noch immer hält sich hartnäckig das Urteil der unmittelbar Nachgeborenen vom Abstieg und Verfall der eigenen Epoche, das wider besseres Wissen auch auf die Künstler nach dem Tode Rembrandts übertragen wurde. Dieses gilt es zu hinterfragen und zu korrigieren. In den Beiträgen dieses Bandes wird dem Geschmackswandel um 1700 nachgespürt unter Berücksichtigung der höfischen, klassizistischen Internationalisierung in Stil und Thema der Malerei sowie der Theoriebildung und nicht zuletzt den Mechanismen von Markt und Sammlertum.
2006. X, 262 S. MIT 101 S/W-ABB. U. 26 FARB. ABB. AUF 16 TAF. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-07006-9
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
Sabine FaStert / alexiS JoachimideS / Verena Krieger (hg.)
die WiederKehr deS KünStlerS themen und PoSitionen der aK tuellen KünStler /innen ForSchung (KunSt – geSchichte – gegenWart, band 2)
Nachdem die Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert erfolgreich bemüht war, die Fixierung auf das Künstlersubjekt zu überwinden, ist um die Jahrtausendwende die Figur des Künstlers wieder verstärkt in ihren Fokus geraten. Die Künstler/innen-Forschung geht heute von einer theoretisch und methodologisch neu reflektierten Basis aus. Anstatt naiv »das Leben« oder »die Seele« des Künstlers zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen, begreift sie die Verbindung von Biografie, Sozialstatus, psychischer Konstitution, Habitus und Werk als komplexe Konstruktionen, die es in ihrer je spezifischen historischen Situation zu analysieren gilt. Der vorliegende Band gibt – konzentriert auf die Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart – einen Einblick in die aktuelle Künstler/innen-Forschung. 2011. 362 S. Mit 74 S/w-Abb. FrAnz. br. 155 x 230 MM. iSbn 978-3-412-20727-4
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EkkEhard Mai
diE dEutschEn kunst ak adEMiEn iM 19. JahrhundErt künstlEr ausbildung zwischEn tr adition und avantgardE
Ist Kunst lehrbar? Ausgehend von den Kontroversen der jüngsten Zeit lässt Ekkehard Mai in diesem Buch über 200 Jahre Künstlerausbildung in Deutschland vom Ende des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts anschaulich werden. Von den Vorbildern und Frühformen der Kunstakademien, über deren Ausbreitung und Kritik in der Zeit des Klassizismus, stehen dabei vor allem die Künstler, Lehren und Schulen des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt. So entwickelt sich neben der Institutions- vor allem eine Künstler- und Kunstgeschichte, die nahezu alle großen Namen zwischen Peter von Cornelius zu Beginn und Anton von Werner zu Ende des Jahrhunderts umfasst. Dem Wechselspiel zwischen hoher und angewandter Kunst, der Rolle der Kunstausstellungen und der Entstehung der Sezessionen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Das Buch schließt mit dem Bauhaus und den Reformen um und nach 1918. Seit langem wird damit erstmals ein strukturierter Überblick über die Geschichte einer Institution gegeben, die parallel der des Museums maßgeblich Produktion, Begriff und Verständnis von Kunst im bürgerlichen Jahrhundert bestimmte. 2010. 492 S. Mit 101 S/w-Abb. Gb. 170 x 240 MM. iSbN 978-3-412-20498-3
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