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German Pages 359 [360] Year 1902
DAS ARABISCHE REICH UND SEIN STURZ.
VON
J. W E L L H A U S E N .
BERLIN. VERLAG VON GEORG REIMER.
1902.
Vorwort. Die alten Ueberlieferungen über die Zeit der Umaijiden sind bis jetzt am zuverlässigsten, weil noch unvermischt und unausgeglichen, bei Tabari zu finden, in der Glanzpartie seines Werkes, welche seit fast zwei Jahrzehenden in der zweiten Serie der Leidener Ausgabe gedruckt vorliegt. Er hat uns vor Allem den echten Abu Michnaf in sehr umfangreichen Stücken erhalten und damit den ältesten und besten arabischen Prosaisten, den wir besitzen. Abu Michnaf Lüt b. Jahia b. Said b. Michnaf gehörte zu den Azd von Kufa, und die lange Genealogie deutet darauf hin, dass er väterlicherseits von vornehmer Abkunft war. Wahrscheinlich war Michnaf b. Sulaim, der Führer der Azd in der Schlacht von Qiffin, sein Ahn, und dessen Söhne Muhammad und Abdalrahman seine Grossoheime. Wann er geboren ist, wissen wir nicht; bei dem Aufstande des Ibn Asch'ath A. H. 82 stand er schon in männlichem Alter. Er war befreundet mit Muhammad b. Säib alKalbi (Tab. 2, 1075. 1096), und dessen Sohne, dem bekannten Ibn Kalbi, verdanken wir hauptsächlich die Fortpflanzung seiner Schriften und Traditionen: nach ihm citirt sie Tabari in der Regel. Er erlebte noch den Sturz des Chalifates von Damaskus; seine letzten Angaben bei Tabari beziehen sich auf das Jahr 132. Abu Michnaf führt partienweise andere Ueberlieferer, ältere oder gleichzeitige, als seine Autoritäten an, z. B. Amir alScha'bi, Abu 'lMuchäriq alRäsibi, Mugälid b. Said, Muhammad b. Säib alKalbi. Grösstenteils hat er den Stoff aber nicht von fachgenössischen Vorgängern übernommen, sondern ihn selber ex vivo ore gesammelt, durch Erkundigung nach den verschiedensten Seiten, bei allen möglichen Leuten, die aus erster Hand Bescheid wissen konnten oder selber dabei gewesen waren. Der Isnad, die Filiation der Gewährsmänner, ist bei ihm noch Wahrheit und nicht bloss literarische Form. Seine Zeugenreihe ist immer ganz kurz und schrumpft durch allmähliche Verringerung der Distanz endlich ganz zusammen, sie wechselt stets bei den verschiedenen Ereignissen und den einzelnen Traditionen darüber, so dass eine ungeheure Menge sonst ganz unbekannter Namen vorgeführt wird. Die Zeugen sehen den Wald vor Bäumen nicht, sie
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Vorwort.
erwähnen die grössten Kleinigkeiten, lassen nichts anonym, stellen die Personen handelnd nnd redend in den Vordergrund, in der Haupsaehe wiederholen sie mit geringen Varianten immer das selbe. Der Fortschritt wird dadurch sehr verlangsamt. Aber die Fülle des Details wiegt diesen Nachteil auf. Der frische Eindruck der Ereignisse und das erste Gesage darüber kommt zum Niederschlag. Die Lebendigkeit der Erzählung wird erhöht durch ihre populäre Form; alles ist Dialog und Scene. Einige veranschaulichende Beispiele finden sich in meiner Abhandlung über die Chavärig und über die Schia (Göttingen 1901), namentlich p. 19 ss. und p. 61 ss. Mommsen hat einmal gesagt, für Nichtgelehrte bedürfe es keines Beweises, dass die Geschichten, welche damit anfangen, dass der Erzähler sie von den Beteiligten selber habe, in der Regel nicht wahr seien. Man muss aber doch wünschen, dass die Nichtgelehrten von ihrem gesunden Menschenverstände keinen allzu ausgedehnten Gebrauch machen. Es wäre ein historischer Verlust, wenn Abu Michnaf nicht geschrieben hätte. Und wie sollte er anders verfahren, als er verfahren ist? Urkundliche Quellen lieferten ihm keine grosse Ausbeute; er hat sie benutzt, wenn sie ihm zur Hand waren, freilich ohne sie beflissen aufzusuchen und systematisch zu Grunde zu legen. Am häufigsten citirt er Lieder und Verse zur Beglaubigung seiner Erzählung. Die Hauptcontrole, die er ausübt, liegt jedoch darin, dass er eine Menge von Varianten, von Berichten verschiedenen Ursprungs über die selbe Sache, zusammenstellt, so dass man sie vergleichen und abmessen kann, was daran sicher oder unsicher ist. Er erreicht dadurch zugleich, dass die Nebensachen, weil sie nur einmal vorkommen, zurücktreten und die Hauptsachen, weil sie sich überall wiederholen, allmählich herausspringen. Die nicht parallelen Traditionen setzt er in eine passende Folge, so dass ein fortschreitender Zusammenhang entsteht. Ohne einige Auswahl und Abstimmung ist es bei dieser musivischen Arbeit allerdings nicht abgegangen. Es zeigen sich keine Widersprüche in wichtigen Punkten. Die Traditionen greifen zu einem Consensus in einander. Das Bild ist im Ganzen und Grossen fest und einheitlich, und zwar nicht bloss in Bezug auf die Tatsachen, sondern auch in Bezug auf die Charaktere. Ueber dem scheinbar chaotischen Stoff waltet trotz Allem der Plan des Schriftstellers und die Gesamtanschauung, die er sich gebildet hat. Doch umspannt er keinen grösseren Zeitraum und verkettet ihn nicht pragmatisch und chronologisch. Eine durchgeführte Chronologie fehlt ihm; er gibt nur zerstreute Daten an, öfters bloss Wochentage ohne Monat und Jahr. Er reiht die Ereignisse nicht an einem durchgehenden Faden auf, sondern beschreibt sie einzeln und unabhängig von einander, in grösster Breite, ohne alle Straffheit. Im Fihrist werden zweiundzwanzig Monographien von ihm mit ihren Titeln aufgezählt. Charakteristisch für Abu Michnaf ist es, dass er nicht bei den Anfängen des Islam einsetzt, sondern erst bei den Eroberungen, uud
Vorwort.
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hauptsächlich über einen Zeitraum berichtet, in dem er selber mitten inne steht, von der Schlacht bei Qiffin an. E s hängt damit zusammen, dass sein Interesse auch auf den Ort beschränkt ist, wo er selber lebte, auf das Iraq und dessen Hauptstadt Kufa. Ausserhalb dieser zeitlichen und örtlichen Grenzen weiss er nicht besonders gut Bescheid. Da nun Kufa und das Iraq der Sitz der Opposition gegen die Reichsregierung war, so kommt hauptsächlich diese bei ihm zur Darstellung. Die Themata, die er mit besonderer Liebe und Ausführlichkeit behandelt, sind die charigitischen und schiitischen Erhebungen unter Mustaurid und Schabib, unter Hugr, Husain, Sulaiman und Muchtär, und der Aufstand der Iraqier unter Ibn Asch'ath. E r gibt die k uf i s c h e Tradition wieder, seine Sympathien sind auf Seiten des Iraq gegen Syrien, auf Seiten Alis gegen die Umaijiden. Jedoch von einer Tendenz ist dabei nicht viel zu merken, wenigstens nicht von einer solchen, welche die Tatsachen positiv verfälscht. Nur scheint er gelegentlich etwas zu verschweigen was ihm nicht passt, z. B. dass Aqil bei Qiffin gegen seinen Bruder Ali gefochten hat. In der Abhandlung über die religiös-politischen Oppositionsparteien des alten Islam habe ich mich vorzugsweise an Abu Michnaf gehalten. Dagegen für die arabische Reichsgeschichte, die den Gegenstand des vorliegenden Buches bildet, liefert er nicht so reiche Ausbeute. Hier ist nicht die kufische Tradition die beste Quelle, sondern die medinische. Sie ist die alte Haupttradition. Sie reicht in ihren Ursprüngen höher hinauf als die kufische, aber ihre uns einigermassen ausreichend erhaltenen Repräsentanten sind jünger als Abu Michnaf und blühen erst in der Zeit, als die Schriftgelehrsamkeit von Medina nach Bagdad auszuwandern begann. Es sind vornehmlich Ibn Ishaq, ein Freigelassener, Abu Ma'schar, ebenfalls ein Freigelassener, und Vaqidi. Sie sammeln nicht mehr den Rohstoff aus erster Hand, die Traditionen sind ihnen durch gelehrte Vermittlung zugekommen und werden von ihnen gesichtet, redigirt und verschmolzen. Namentlich aber bringen sie sie in einen grösseren und strafferen Zusammenhang und unterwerfen sie zugleich einer durchgehenden Zeitrechnung. Aus den losen Erzählungen über einzelne grosse Ereignisse wird eine fortlaufende Historie; als ihren Schöpfer darf man Ibn Ishaq ansehen. Bezeichnend für ihn und seine Nachfolger ist die Form der Annalistik, welche dann durchschlägt.. Die Chronologie setzt wissenschaftliche Forschung und Vergleichung voraus, die medinischen Gelehrten haben es daran nicht fehlen lassen und es zu Ergebnissen gebracht, die der Prüfung in bemerkenswertem Grade Stand halten. Vielleicht haben sie sich hie und da an Aufzeichnungen christlicher, namentlich syrischer Geistlichen halten können, z B. für die Datirung von Erdbeben und anderen Naturereignissen. Man sieht, wie das Bestreben, die Ereignisse in das Zeitnetz einzufangen, Fortschritte macht; Ibn Ishaq wird von seinen Nachfolgern durch die Vollständigkeit der Chronologie überboten (Vaqidi p. 15 s.). Abu Ma'schar scheint für nichts anderes
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Vorwort.
Sinn gehabt zu haben, als für Daten, und auch bei Vaqidi wiegt dies Interesse vor. Ueber das Verhältnis dieser beiden zu einander s. Tab. 2, 1172, 10. 1173, 6. Medina war der Kern der islamischen Gemeinde und des arabischen Reiches. Die centrale Bedeutung der Stadt für die weltgeschichtliche Entwicklung, die von ihr ausging, gab der Tradition, die dort erwuchs, das Gepräge. Sie pflegte naturgemäss zunächst die Erinnerung an die stolze und heilige Zeit der Anfänge, wo der Islam religiös und politisch noch eine ungebrochene Einheit war und die ganze Welt in sich zu vereinigen Miene machte; ihr Hauptthema, auf das Ibn Ishaq sich ausschliesslich beschränkt zu haben scheint, war die Sira mit den Maghäzi, d. h. das Leben Muhammads, die Gründung der Gemeinde durch ihn, und die des Reiches durch ihn und seine Chalifen in der Periode der Eroberungen. Sie behielt aber auch dann das Centrum und das Ganze im Auge, als das Schwergewicht des Reiches sich nach Damaskus verlegt hatte. Sie siedelte zwar nicht selber nach Damaskus über, sondern blieb in Meditia, aber diese Stadt war noch unter den Umaijiden nicht bloss der Sitz der vornehmsten arabischen Gesellschaft, sondern auch der geistige Mittelpunkt der islamischen Kultur, bis Bagdad in dieser Beziehung an ihre Stelle trat Die Geschichte des Reichs zog auch in ihrer profanen Fortsetzung die Aufmerksamkeit der medinischen Gelehrten auf sich, obgleich sie mit der Regierung nicht einverstanden waren; sie kümmerten sich weit mehr um Syrien, als um das Iraq oder gar um Churasan. Gewisse so zu sagen offizielle Angaben wiederholen sich regelmässig bei Abu Ma'schar und Vaqidi, z. B. darüber, wann die Herrscher zur Regierung kamen und starben, wann die Statthalter der wichtigsten Provinzen ein- und abgesetzt wurden, wer in jedem J a h r den Hagg und wer den Sommerfeldzug gegen die Romiier im Auftrage des Chalifen leitete. Diese Angaben bilden den Aufzug der medinischen Annalistik. Der Einschlag schwillt nur bei gewissen Krisen und Hauptaktionen an, für gewöhnlich ist er dürftig. Das gelehrte Interesse ist auf die trockenen E a k t a gerichtet; von Freude am Detail, von einem herzlichen Verhältnis zum Stoff, von innerer Teilnahme an den Personen des Dramas merkt man nicht viel. Sympathien für die Umaijiden und die Syrer waren in Medina nicht zu finden; mehr als Objectivität kann man nicht verlangen. Ohne Zweifel hat es in Syrien selber, d. h. bei den syrischen Arabern, ebenfalls eine Tradition gegeben; sie ist uns aber verloren gegangen Spuren davon findet man bei Baladhuri, vielleicht aiuch bei dem Kalbiten Aväna, der zwar in Kufa wohnte, aber durch seinen Stamm mit Syrien in Verbindung stand und öfters als Berichterstatter über syrische Dinge bei Tabari citirt wird, gewöhnlich nach Ibn Kalbi. Den Geist dieser syrischen Tradition lernt man am besten aus christlichen Chroniken kennen, namentlich aus der Continuatio des Isidor von Hispalis. Die Umaijiden erscheinen da in einem ganz anderen, sehr viel günstigeren Lichte, als wie wir sie zu sehen gewohnt sind.
Vorwort.
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B ei den Arabern haben eben ihre Feinde das letzte Wort behalten, darunter hat ihre Geschichte stark gelitten. Eine Art Mittelstellung zwischen Abu Michnaf und den Medinern nimmt Madáini ein. Er ist gelehrter Historiker, stellt aber sehr ausführlich dar und hat ein ausgesprochen provinciales Interesse für Ba^ra und Churäsan; fast alle Berichte über Ba